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Eigentlich sollte sich Kriminalkommissär Mat-thäi, der auf der Höhe seiner Karriere angelangtist, zum Flug nach Jordanien fertigmachen, umdort ein ehrenvolles Amt zu übernehmen. Da er-reicht ihn ein Anruf aus Mägendorf, einem klei-nen Ort in der Nähe von Zürich: Ein ihm be-kannter Hausierer teilt ihm mit, er habe im Walddie Leiche eines Mädchens, von einem bislangunbekannten Verbrecher grausam verstümmelt,gefunden. Matthäis Abflug ist in drei Tagen fällig,doch er fährt nach Mägendorf und verspricht denEltern des Kindes »bei seiner Seligkeit« nicht zurasten, bis er den Täter entlarvt hat.

Friedrich Dürrenmatt, geboren am 5. Januar 1921in Konolfingen bei Bern als Sohn eines Pfarrers.Studium der Literatur, Philosophie und Natur-wissenschaften in Zürich und Bern. Er schwanktezwischen dem Beruf des Malers und dem desSchriftstellers, für den er sich früh entschied. Ei-ner breiten Öffentlichkeit wurde Dürrenmatt alsErzähler, Hörspieldichter und Dramatiker be-kannt. Er lebte seit 1952 in Neuchâtel, wo er am14. Dezember 1990 starb.

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Friedrich Dürrenmatt

Das Versprechen

Requiem auf den Kriminalroman

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Ungekürzte AusgabeOktober 1978

31. Auflage November 2007Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

Münchenwww.dtv.de

1985 Diogenes Verlag AG, ZürichErstveröffentlichung: Zürich 1958

Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagbild: >Erinnerung an Romanel< (1900)

von Fdlix VallottonGesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany • ISBN 978-3-423-01390-1

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Im März dieses Jahres hatte ich vor der Andreas-Dahinden-Gesellschaft in Chur über die Kunst,Kriminalromane zu schreiben, einen Vortrag zuhalten. Ich traf mit dem Zug erst beim Einnach-ten ein, bei tiefliegenden Wolken und tristemSchneegestöber, dazu war alles vereist. Die Ver-anstaltung fand im Saale des KaufmännischenVereins statt. Publikum war nur spärlich vorhan-den, da gleichzeitig in der Aula des GymnasiumsEmil Staiger über den späten Goethe las. Wederich noch sonst jemand kam in Stimmung, undmehrere Einheimische verließen den Saal, bevorich den Vortrag beendet hatte. Nach einem kur-zen Zusammensein mit einigen Mitgliedern desVorstandes, mit zwei, drei Gymnasiallehrern, dieauch lieber beim späten Goethe gewesen wären,sowie einer wohltätigen Dame, die den Verbandder Ostschweizerischen Hausangestellten ehren-halber betreute, zog ich mich nach quittiertemHonorar und Reisespesen ins Hotel Steinbocknahe beim Bahnhof zurück, wo man mich logierthatte. Doch auch hier Trostlosigkeit. Außer einerdeutschen Wirtschaftszeitung und einer alten>Weltwoche< war keine Lektüre aufzutreiben, dieStille des Hotels unmenschlich, an Schlaf nicht zudenken, weil die Angst hochkam, dann nichtmehr zu erwachen. Die Nacht zeitlos, gespen-stisch. Draußen hatte es zu schneien aufgehört,alles war ohne Bewegung, die Straßenlampenschwankten nicht mehr, kein Windstoß, kein

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Churer, kein Tier, nichts, nur vom Bahnhof herhallte es einmal himmelweit. Ich ging zur Bar, umnoch einen Whisky zu trinken. Außer der älterenBardame fand ich dort noch einen Herrn, der sichmir vorstellte, kaum daß ich Platz genommenhatte. Es war Dr. H., der ehemalige Kommandantder Kantonspolizei Zürich, ein großer undschwerer Mann, altmodisch, mit einer goldenenUhrkette quer über der Weste, wie man dies heu-te nur noch selten sieht. Trotz seines Alters wa-ren seine borstigen Haare noch schwarz, derSchnurrbart buschig. Er saß an der Bar auf einemder hohen Stühle, trank Rotwein, rauchte eineBahianos und redete die Bardame mit Vornamenan. Seine Stimme war laut und seine Gesten wa-ren lebhaft, ein unzimperlicher Mensch, der michgleicherweise anzog wie abschreckte. Als esschon gegen drei ging und zum ersten JohnnieWalker vier weitere gekommen waren, erbot ersich, mich am nächsten Morgen mit seinem OpelKapitän nach Zürich zu schaffen. Da ich die Ge-gend um Chur und überhaupt diesen Teil derSchweiz nur flüchtig kannte, nahm ich die Einla-dung an. Dr. H. war als Mitglied einer eidgenössi-schen Kommission nach Graubünden gekommenund hatte, da ihn das Wetter an der Rückfahrthinderte, ebenfalls meinen Vortrag besucht, ließsich jedoch nicht darüber aus, nur daß er einmalmeinte: »Sie tragen ziemlich ungeschickt vor.«

Am nächsten Morgen machten wir uns auf denWeg. Ich hatte in der Dämmerung — um nochetwas schlafen zu können — zwei Medomin ge-nommen und war wie gelähmt. Es war immer

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noch nicht recht hell, obgleich schon lange Tag.Irgendwo glänzte ein Stück metallener Himmel.Sonst schoben sich nur Wolken dahin, lastend,träge, noch voll Schnee; der Winter schien diesenTeil des Landes nicht verlassen zu wollen. DieStadt war von Bergen eingekesselt, die jedochnichts Majestätisches aufwiesen, sondern eherErdaufschüttungen glichen, als wäre ein uner-meßliches Grab ausgehoben worden. Chur selbstoffenbar steinig, grau, mit großen Verwaltungs-gebäuden. Es kam mir unglaubhaft vor, daß hierWein wuchs. Wir versuchten, in die Altstadt ein-zudringen, doch verirrte sich der schwere Wagen,wir gerieten in enge Sackgassen und Einbahnstra-ßen, schwierige Rückzugsmanöver waren nötig,um aus dem Gewirr der Häuser hinauszukom-men; dazu war das Pflaster vereist, so daß wirfroh waren, die Stadt endlich hinter uns zu wis-sen, obgleich ich nun eigentlich nichts von diesemalten Bischofssitz gesehen hatte. Es war wie eineFlucht. Ich döste vor mich hin, bleiern und mü-de; schattenhaft schob sich in den tiefliegendenWolken ein verschneites Tal an uns vorbei, starrvor Kälte. Ich weiß nicht, wie lange. Dann fuhrenwir gegen ein größeres Dorf, vielleicht Städtchen,vorsichtig, bis auf einmal alles in der Sonne lag, ineinem so mächtigen und blendenden Licht, daßdie Schneeflächen zu tauen anfingen. Ein weißerBodennebel stieg auf, der sich merkwürdig überden Schneefeldern ausmachte und mir den An-blick des Tales aufs neue entzog. Es ging wie ineinem bösen Traume zu, wie verhext, als sollteich dieses Land, diese Berge nie kennenlernen.

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Wieder kam die Müdigkeit, dazu das unange-nehme Geprassel von Kies, mit dem man die Stra-ße bestreut hatte; auch gerieten wir bei einerBrücke leicht ins Rutschen; dann ein Militär-transport; die Scheibe wurde so schmutzig, daßdie Wischer sie nicht mehr reinigen konnten. H.saß mürrisch neben mir am Steuer, in sich versun-ken, auf die schwierige Straße konzentriert. Ichbereute, die Einladung angenommen zu haben,verwünschte den Whisky und das Medomin.Doch nach und nach wurde es besser. Das Talwar wieder sichtbar, auch menschlicher. ÜberallHöfe, hie und da kleine Industrien, alles reinlichund karg, die Straße nun ohne Schnee und Eis,nur glänzend vor Nässe, doch sicher, so daß eineanständigere Geschwindigkeit möglich wurde.Die Berge hatten Platz gemacht, beengten nichtmehr, und bei einer Tankstelle hielten wir.

Das Haus machte gleich einen sonderbarenEindruck, vielleicht weil es sich von seiner prope-ren schweizerischen Umgebung abhob. Es warerbärmlich, troff von Nässe; Bäche flossen anihm nieder. Zur Hälfte war das Haus aus Stein,zur Hälfte eine Scheune, deren Holzwand längsder Straße mit Plakaten beklebt war, seit langemoffenbar, denn es hatten sich ganze Schichtenübereinandergeklebter Plakate gebildet: BurrusTabake auch in modernen Pfeifen, trink CanadaDry, Sport Mint, Vitamine, Lindt Milchschoko-lade usw. An der Breitwand stand riesenhaft:Pneu Pirelli. Die beiden Tanksäulen befandensich vor der steinernen Hälfte des Hauses auf ei-nem unebenen, schlecht gepflasterten Platz; alles

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machte einen verkommenen Eindruck, trotz derSonne, die jetzt beinahe stechend, bösartig schien.

»Steigen wir aus«, sagte der ehemalige Kom-mandant, und ich gehorchte, ohne zu begreifen,was er vorhatte, doch froh, an die frische Luft zukommen.

Neben der offenen Haustüre saß ein alter Mannauf einer Steinbank. Er war unrasiert und unge-waschen, trug einen hellen Kittel, der schmudde-lig und verfleckt war, und dazu dunkle, speckigschimmernde Hosen, die einmal zu einem Smo-king gehört hatten. An den Füßen alte Pantoffeln.Er stierte vor sich hin, verblödet, und ich rochschon von weitem den Schnaps. Absinth. Um dieSteinbank herum war das Pflaster mit Zigarren-stummeln bedeckt, die im Schmelzwasserschwammen.

»Grüß Gott«, sagte der Kommandant auf ein-mal verlegen, wie mir schien. »Füllen Sie bitteauf. Super. Und reinigen Sie auch die Scheiben.«Dann wandte er sich zu mir. »Gehen wir hinein.«

Erst jetzt bemerkte ich über dem einzigen sicht-baren Fenster ein Wirtshausschild, eine roteBlechscheibe, und über der Türe war zu lesen:»Zur Rose«. Wir betraten einen schmutzigenKorridor. Gestank von Schnaps und Bier. DerKommandant ging voran, öffnete eine Holztüre,offenbar kannte er sich aus. Die Gaststube wararmselig und dunkel, einige rohe Tische und Bän-ke, an den Wänden Filmstars, aus Illustriertenherausgeschnitten und an die Mauer geklebt; derösterreichische Rundfunk gab einen Marktbe-richt für Tirol durch, und hinter der Theke stand

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kaum erkennbar eine hagere Frau. Sie trug einenMorgenrock, rauchte eine Zigarette und spültedie Gläser.

»Zwei Kaffee-Creme«, bestellte der Komman-dant.

Die Frau begann zu hantieren, und aus demNebenzimmer kam eine schlampige Kellnerin,die ich auf etwa dreißig schätzte.

»Sie ist sechzehn«, brummte der Kommandant.Das Mädchen servierte. Es trug einen schwar-

zen Rock und eine weiße, halb offene Bluse, un-ter der es nichts anhatte; die Haut war ungewa-schen. Die Haare waren blond wie wohl aucheinmal die der Frau hinter der Theke und unge-kämmt.

»Danke, Annemarie«, sagte der Kommandantund legte das Geld auf den Tisch. Auch das Mäd-chen antwortete nicht, bedankte sich nicht ein-mal. Wir tranken schweigend. Der Kaffee warentsetzlich. Der Kommandant zündete sich eineBahianos an. Der österreichische Rundfunk warzum Wasserstand übergewechselt und das Mäd-chen ins Nebenzimmer gelatscht, in welchem wiretwas Weißliches schimmern sahen, offenbar einungemachtes Bett.

»Gehen wir«, meinte der Kommandant.Draußen zahlte er nach einem Blick auf die

Tanksäule. Der Alte hatte Benzin nachgefüllt undauch die Scheiben gereinigt.

»Das nächste Mal«, sagte der Kommandantzum Abschied, und wieder fiel mir seine Hilflo-sigkeit auf; doch antwortete der Alte auch jetztnichts, sondern saß schon wieder auf seiner Bank

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und stierte vor sich hin, verblödet, erloschen. Alswir aber den Opel Kapitän erreicht hatten unduns noch einmal umwandten, ballte der Alte seineHände zu Fäusten, schüttelte sie und flüsterte,die Worte ruckweise hervorstoßend, das Gesichtverklärt von einem unermeßlichen Glauben: »Ichwarte, ich warte, er wird kommen, er wird kom-men.«

Um ehrlich zu sein, begann Dr. H. später, alswir uns anschickten, über den Kerenzerpaß zukommen — die Straße war aufs neue vereist, undunter uns lag der Walensee, gleißend, kalt, abwei-send; auch hatte sich die bleierne Müdigkeit desMedomins wieder eingestellt, die Erinnerung anden Rauchgeschmack des Whiskys, das Gefühl,in einem Traum endlos sinnlos dahinzugleiten —um ehrlich zu sein, ich habe nie viel von Krimi-nalromanen gehalten und bedaure, daß auch Siesich damit abgeben. Zeitverschwendung. Was Siegestern in Ihrem Vortrag ausführten, läßt sichzwar hören; seit die Politiker auf eine so sträfli-che Weise versagen — und ich muß es ja wissen,bin selbst einer, Nationalrat, wie Ihnen bekanntsein dürfte [es war mir nicht bekannt, ich hörteseine Stimme wie von ferne, verschanzt hintermeiner Müdigkeit, doch aufmerksam wie ein Tierim Bau] —, hoffen die Leute eben, daß wenigstensdie Polizei die Welt zu ordnen verstehe, wenn ichmir auch keine lausigere Hoffnung vorstellenkann. Doch wird leider in all diesen Kriminal-geschichten ein noch ganz anderer Schwindelgetrieben. Damit meine ich nicht einmal denUmstand, daß eure Verbrecher ihre Strafe finden.

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Denn dieses schöne Märchen ist wohl moralischnotwendig. Es gehört zu den staatserhaltendenLügen, wie etwa auch der fromme Spruch, dasVerbrechen lohne sich nicht — wobei man dochnur die menschliche Gesellschaft zu betrachtenbraucht, um die Wahrheit über diesen Punkt zuerfahren —, all dies will ich durchgehen lassen,und sei es auch nur aus Geschäftsprinzip, dennjedes Publikum und jeder Steuerzahler hat einAnrecht auf seine Helden und sein Happy-End,und dies zu liefern, sind wir von der Polizei undihr von der Schriftstellerei gleicherweise ver-pflichtet. Nein, ich ärgere mich vielmehr über dieHandlung in euren Romanen. Hier wird derSchwindel zu toll und zu unverschämt. Ihr bauteure Handlungen logisch auf; wie bei einemSchachspiel geht es zu, hier der Verbrecher, hierdas Opfer, hier der Mitwisser, hier der Nutznie-ßer; es genügt, daß der Detektiv die Regeln kenntund die Partie wiederholt, und schon hat er denVerbrecher gestellt, der Gerechtigkeit zum Siegeverholfen. Diese Fiktion macht mich wütend.Der Wirklichkeit ist mit Logik nur zum Teil bei-zukommen. Dabei, zugegeben, sind gerade wirvon der Polizei gezwungen, ebenfalls logisch vor-zugehen, wissenschaftlich; doch die Störfaktoren,die uns ins Spiel pfuschen, sind so häufig, daßallzu oft nur das reine Berufsglück und der Zufallzu unseren Gunsten entscheiden. Oder zu unse-ren Ungunsten. Doch in euren Romanen spieltder Zufall keine Rolle, und wenn etwas nach Zu-fall aussieht, ist es gleich Schicksal und Fügunggewesen; die Wahrheit wird seit jeher von euch

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Schriftstellern den dramaturgischen Regeln zumFraße hingeworfen. Schickt diese Regeln endlichzum Teufel. Ein Geschehen kann schon alleindeshalb nicht wie eine Rechnung aufgehen, weilwir nie alle notwendigen Faktoren kennen, son-dern nur einige wenige, meistens recht neben-sächliche. Auch spielt das Zufällige, Unberechen-bare, Inkommensurable eine zu große Rolle. Un-sere Gesetze fußen nur auf Wahrscheinlichkeit,auf Statistik, nicht auf Kausalität, treffen nur imallgemeinen zu, nicht im besonderen. Der Einzel-ne steht außerhalb der Berechnung. Unsere kri-minalistischen Mittel sind unzulänglich, und jemehr wir sie ausbauen, desto unzulänglicher wer-den sie im Grunde. Doch ihr von der Schriftstel-lerei kümmert euch nicht darum. Ihr versuchtnicht, euch mit einer Realität herumzuschlagen,die sich uns immer wieder entzieht, sondern ihrstellt eine Welt auf, die zu bewältigen ist. DieseWelt mag vollkommen sein, möglich, aber sie isteine Lüge. Laßt die Vollkommenheit fahren,wollt ihr weiterkommen, zu den Dingen, zu derWirklichkeit, wie es sich für Männer schickt,sonst bleibt ihr sitzen, mit nutzlosen Stilübungenbeschäftigt. Doch nun zur Sache.

Sie haben wohl diesen Morgen über Verschie-denes gestaunt. Vorerst über meine Rede, denkeich; ein ehemaliger Kommandant der Kantonspo-lizei Zürich sollte wohl gemäßigtere Ansichtenpflegen, aber ich bin alt und mache mir nichtsmehr vor. Ich weiß, wie fragwürdig wir alle da-stehen, wie wenig wir vermögen, wie leicht wiruns irren, aber auch, daß wir eben trotzdem han-

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dein müssen, selbst wenn wir Gefahr laufen,falsch zu handeln.

Dann werden Sie sich auch gewundert haben,weshalb ich vorhin bei dieser erbärmlichen Tank-stelle haltmachte, und ich will es Ihnen gleich ge-stehen: Das traurige, versoffene Wrack, das unsmit Benzin bediente, war mein fähigster Mann.Ich habe, weiß Gott, etwas von meinem Berufverstanden, aber Matthäi war ein Genie, und dasin einem größeren Maße als einer eurer Detek-tive.

Die Geschichte hat sich vor nun bald neun Jah-ren ereignet, fuhr H. fort, nachdem er einen Last-wagen der Shell-Kompanie überholt hatte. Mat-thäi war einer meiner Kommissäre, oder besser,einer meiner Oberleutnants, denn wir führen beider Kantonspolizei militärische Rangbezeichnun-gen. Er war Jurist wie ich. Er hatte als Basler inBasel doktoriert und wurde, zuerst in gewissenKreisen, die mit ihm »beruflich« in Berührungkamen, dann aber auch bei uns »Matthäi amLetzten« genannt. Er war ein einsamer Mensch,stets sorgfältig gekleidet, unpersönlich, formell,beziehungslos, der weder rauchte noch trank,aber hart und unbarmherzig sein Metier be-herrschte, ebenso verhaßt wie erfolgreich. Ich binnie recht klug aus ihm geworden. Ich war wohlder einzige, der ihn mochte — weil ich klare Men-schen überhaupt liebe, wenn mir auch seine Hu-morlosigkeit oft auf die Nerven ging. Sein Ver-stand war überragend, doch durch das allzu soli-de Gefüge unseres Landes gefühllos geworden.Er war ein Mann der Organisation, der den Poli-

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zei-Apparat wie einen Rechenschieber handhab-te. Verheiratet war er nicht, sprach überhaupt nievon seinem Privatleben und hatte wohl auch kei-nes. Er hatte nichts im Kopf als seinen Beruf, dener als ein Kriminalist von Format, doch ohne Lei-denschaft ausübte. So hartnäckig und unermüd-lich er auch vorging, seine Tätigkeit schien ihn zulangweilen, bis er eben in einen Fall verwickeltwurde, der ihn plötzlich leidenschaftlich werdenließ.

Dabei stand Dr. Matthäi gerade damals auf demHöhepunkt seiner Karriere. Es hatte mit ihmbeim Departement einige Schwierigkeiten gege-ben. Der Regierungsrat mußte damals langsam anmeine Pensionierung denken und somit auch anmeinen Nachfolger. Eigentlich wäre nur Matthäiin Frage gekommen. Doch stellten sich der zu-künftigen Wahl Hindernisse entgegen, die nichtzu übersehen waren. Nicht nur, daß er keinerPartei angehörte, auch die Mannschaft hätte wohlSchwierigkeiten gemacht. Anderseits bestandenaber oben wiederum Hemmungen, einen so tüch-tigen Beamten zu übergehen; weshalb denn dieBitte des jordanischen Staates an die Eidgenos-senschaft, nach Amman einen Fachmann zuschicken, mit dem Auftrage, die dortige Polizeizu reorganisieren, wie gerufen kam: Matthäiwurde von Zürich vorgeschlagen und sowohl vonBern als auch von Amman akzeptiert. Alles atme-te erleichtert auf. Auch ihn freute die Wahl, nichtnur beruflich. Er war damals fünfzigjährig — et-was Wüstensonne tat gut; er freute sich auf dieAbreise, auf den Flug über Alpen und Mittel-

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meer, dachte wohl überhaupt an einen endgülti-gen Abschied, deutete er doch an, daß er nach-her zu seiner Schwester in Dänemark ziehenwolle, die dort als Witwe lebte — und war ebenmit der Liquidierung seines Schreibtisches imGebäude der Kantonspolizei in der Kasernen-straße beschäftigt, als der Anruf kam.

Matthäi wurde nur mit Mühe aus dem verwor-renen Bericht klug, setzte der Kommandant sei-ne Erzählung fort. Es war einer seiner alten»Kunden«, der aus Mägendorf anrief, aus einemkleinen Nest in der Nähe von Zürich, einHausierer namens von Gunten. Matthäi hatteeigentlich keine Lust, sich noch an seinem letz-ten Nachmittag in der Kasernenstraße mit demFall zu befassen, war doch das Flugbillett schongelöst und der Abflug in drei Tagen fällig. Aberich war abwesend, auf einer Konferenz der Po-lizeikommandanten, und erst gegen Abend ausBern zurück zu erwarten. Richtiges Handelnwar notwendig, Unerfahrenheit konnte allesvereiteln. Matthäi ließ sich mit dem Polizeipo-sten Mägendorf verbinden. Es war gegen EndeApril, draußen rauschten Regengüsse nieder,der Föhnsturm hatte nun auch die Stadt er-reicht, doch wich die unangenehme, bösartigeWärme nicht, welche die Menschen kaum at-men ließ.

Der Polizist Riesen meldete sich.»Regnet es in Mägendorf auch?« fragte Mat-

thäi vorerst unmutig, obgleich die Antwort zuerraten war, und sein Gesicht wurde noch dü-

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sterer. Dann gab er die Anweisung, den Hausie-rer im Hirschen unauffällig zu bewachen.

Matthäi hängte auf.»Etwas passiert?« fragte Feller neugierig, der

seinem Chef beim Packen half. Es galt, eine ganzeBibliothek fortzuschaffen, die sich nach und nachangesammelt hatte.

»Auch in Mägendorf regnet es«, antwortete derKommissär, »alarmieren Sie das Überfallkom-mando.«

»Mord?«»Regen ist eine Schweinerei«, murmelte Mat-

thäi anstelle einer Antwort, gleichgültig gegenden beleidigten Feller.

Bevor er jedoch zum Staatsanwalt und zu Leut-nant Henzi in den Wagen stieg, die ungeduldigwarteten, blätterte er in von Guntens Akten. DerMann war vorbestraft. Sittlichkeitsdelikt an einerVierzehnjährigen.

Doch schon der Befehl, den Hausierer zu über-wachen, erwies sich als ein Fehler, der in keinerWeise vorauszusehen war. Mägendorf stellte einkleines Gemeinwesen dar. Die meisten warenBauern, wenn auch einige in den Fabriken untenim Tal arbeiteten oder in der nahen Ziegelei.Zwar gab es einige »Städter«, die hier draußenwohnten, zwei, drei Architekten, einen klassizi-stischen Bildhauer, doch spielten sie im Dorf kei-ne Rolle. Alles kannte sich, und die meisten wa-ren miteinander verwandt. Mit der Stadt lag dasDorf im Konflikt, wenn auch nicht offiziell, sodoch heimlich; denn die Wälder, die Mägendorfumgaben, gehörten der Stadt, eine Tatsache, die

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kein richtiger Mägendorfer je zur Kenntnis ge-nommen, was der Forstverwaltung einst viele Sor-gen gemacht hatte. Sie war es denn gewesen, dievor Jahren für Mägendorf einen Polizeiposten ge-fordert und erlangt hatte, wozu noch der Umstandgekommen war, daß an den Sonntagen die Städterdas Dörfchen in Strömen annektierten und derHirschen auch nachts viele anlockte. Dies alleserwogen, mußte der stationierte Polizeimann seinHandwerk verstehen, doch war anderseits demDorfe menschlicherweise auch entgegenzukom-men. Diese Einsicht war dem PolizeisoldatenWegmüller, den man ins Dorf beorderte, bald auf-gegangen. Er stammte aus einer Bauernfamilie,trank viel und hielt seine Mägendorfer souveränim Zaum, mit so vielen Konzessionen freilich, daßich eigentlich hätte einschreiten sollen, doch sahich in ihm — auch etwas durch den Personalmangelgezwungen — das kleinere Übel. Ich hatte Ruheund ließ Wegmüller in Ruhe. Doch hatten seineStellvertreter — wenn er in den Ferien war — nichtszu lachen. Sie machten in den Augen der Mägen -

dorfer alles falsch. Wenn auch die Wildereien undHolzdiebstähle in den städtischen Forstgebietenund die Raufereien im Dorfe seit der Hochkon-junktur längst zur Legende gehörten, der traditio-nelle Trotz gegen die Staatsgewalt glomm unterder Bevölkerung weiter. Besonders Riesen hatte esdiesmal schwer. Er war ein einfältiger Bursche,schnell beleidigt und humorlos, den ständigenWitzeleien der Mägendorfer nicht gewachsen undeigentlich auch für normale Gegenden zu sensi-bel. Er machte sich aus Furcht vor der Bevölke-

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rung unsichtbar, hatte er die täglichen Dienstgän-ge und Kontrollen hinter sich gebracht. Unterdiesen Umständen mußte es sich als unmöglicherweisen, den Hausierer unauffällig zu beobach-ten. Das Erscheinen des Polizisten im Hirschen,den er sonst ängstlich mied, kam von vornhereineiner Staatsaktion gleich. Riesen setzte sich dennauch so demonstrativ dem Hausierer gegenüber,daß die Bauern neugierig verstummten. »Kaf-fee?« fragte der Wirt.

»Nichts«, antwortete der Polizist, »ich bindienstlich hier.«

Die Bauern starrten neugierig auf den Hausie-rer.

»Was hat er denn gemacht?« fragte ein alterMann.

»Das geht Sie nichts an.«Die Gaststube war niedrig, verqualmt, eine

Höhle aus Holz, die Wärme drückend, dochmachte der Wirt kein Licht. Die Bauern saßen aneinem langen Tisch, vielleicht vor Weißwein,vielleicht vor Bier, nur als Schatten vor den silbri-gen Fensterscheiben sichtbar, an denen es nieder-tropfte, niederfloß. Irgendwo das Klappern vonTischfußball. Irgendwo das Klingeln und Rolleneines amerikanischen Spielautomaten.

Von Gunten trank einen Kirsch. Er fürchtetesich. Er saß zusammengekauert im Winkel, denrechten Arm auf den Henkel seines Korbes ge-stützt, und wartete. Es schien ihm, als säße erschon stundenlang hier. Alles war dumpf undstill, doch drohend. In den Fensterscheiben wur-de es heller, der Regen ließ nach, und plötzlich

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war die Sonne wieder da. Nur der Wind heultenoch und rüttelte am Gemäuer. Von Guntenwar froh, als draußen endlich die Wagen vorfuh-ren.

»Kommen Sie«, sagte Riesen und erhob sich.Die beiden traten hinaus. Vor der Wirtschaftwarteten eine dunkle Limousine und der großeWagen des Überfallkommandos; die Sanitätfolgte. Der Dorfplatz lag in der grellen Sonne.Am Brunnen standen zwei Kinder, fünf- odersechsjährig, ein Mädchen und ein Bub, das Mäd-chen mit einer Puppe unter dem Arm. Der Kna-be mit einer kleinen Geißel.

»Setzen Sie sich neben den Chauffeur, vonGunten ! « rief Matthäi zum Fenster der Limousi-ne hinaus, und dann, nachdem der Hausiereraufatmend, als wäre er nun in Sicherheit, Platzgenommen und Riesen den andern Wagen be-stiegen hatte: »So, nun zeigen Sie uns, was Sieim Walde gefunden haben.«

Sie gingen durchs nasse Gras, da der Weg zumWalde ein einziger schlammiger Tümpel war,und umgaben kurz darauf den kleinen Leich-nam, den sie zwischen Büschen, nicht weit vomWaldrand entfernt, im Laub fanden. Die Männerschwiegen. Von den tosenden Bäumen fielen im-mer noch große silberne Tropfen, glitzerten wieDiamanten. Der Staatsanwalt warf die Brissagoweg, trat verlegen darauf. Henzi wagte nichthinzuschauen. Matthäi sagte: »Ein Polizeibeam-ter blickt nie weg, Henzi.«

Die Männer bauten ihre Apparate auf.

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