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VO Europa III: Die Zeitalter der Glaubensspaltung, des Absolutismus und der Aufklärung (© Christian Rohr 2004-2009) 1 VO Europa III: Die Zeitalter der Glaubensspaltung, des Absolutismus und der Aufklärung Pädagogische Hochschule der Diözese Linz Sommersemester 2009 Dr. Christian ROHR Das neue Bild des Menschen – Humanismus und Renaissance Humanismus und Renaissance Seit dem 14. Jh. begann man in Italien, sich wieder verstärkt mit der antiken Literatur, Kunst, Wissenschaft und Geschichte zu beschäftigen. Diese Strö- mung nennt man Renaissance (= Wiedergeburt). In allen künstlerischen und wissenschaftlichen Studien stand der Mensch im Mittelpunkt des Interesses und nicht mehr Gott. An die Stelle der Theologie, der sich bisher alle ande- ren Wissenschaften unterordnen mussten, traten viele Einzelwissenschaf- ten. Sie beschäftigten sich mit dem Menschen selbst, seiner Umwelt und seinen schöpferischen Leistungen. Eine Wiederentdeckung der klassisch-antiken Literatur? Im Mittelalter hatte man die wichtigsten klassisch-römischen Schriftsteller sehr wohl gelesen; Autoren wie Vergil und Cicero gehörten das ganze Mit- telalter hindurch zu den wichtigsten Autoren, die man im klösterlichen Schulbetrieb las. Auch hatte man im Zeitalter Karls des Großen und erneut im 12. Jh. versucht, sich die klassisch-antiken Autoren zum Vorbild zu neh- men. Eine „Wiederentdeckung“ der antiken Literatur in lateinischer Sprache war daher nicht wirklich gegeben. Die Humanisten studierten penibel das Latein ihrer antiken Vorbilder und begannen selbst in diesem Stil zu schreiben, ja ihr Stil wurde noch „klassi- scher“ als ein Cicero ihn verwendet hätte. Man nennt diese nicht mehr wirk- lich gesprochene Sprache „Neulatein“. Sie blieb bis ins 17. Jh. die Sprache der Wissenschaft. Viele wissenschaftliche Werke, ob von Johannes Kepler oder Sir Isaac Newton, erschienen zunächst in lateinischer Sprache und wurden erst dann in die modernen Sprachen übersetzt. Daneben verwende- ten die Humanisten aber auch Italienisch als Schriftsprache. Da man sich an den adeligen Höfen in Europa an der italienischen Renaissance orientierte, wurde dort Italienisch im 16. Jh. zur Modesprache. Im Gegensatz zur klassisch-lateinischen Literatur wurde die der antiken Griechen tatsächlich auf weite Strecken wiederentdeckt. Eine maßgebliche Rolle spielte dabei der Umstand, dass nach der Eroberung der oströmi- schen Hauptstadt Konstantinopel durch die Osmanen (1453) viele Gelehrte in den Westen flohen und dabei ihre Bücher mitnahmen. Rasch verbreitete sich die Kenntnis der griechischen Sprache unter den Humanisten. Die Werke zahlreicher klassisch-griechischer Autoren, die als verloren gegolten hatten, fanden Eingang in die gelehrten Humanistenkreise. Die Rückbesinnung auf die römische Sprache und Literatur diente den ita- lienischen Humanisten auch dazu, sich von den bis dahin dominierenden Strömungen in Wissenschaft und Kunst deutlich abzusetzen: So lehnten sieden gotischen Baustil und die gelehrten philosophisch-theologischen Diskussionen an den Universitäten, die Scholastik, vehement ab; aus der Sicht der Italiener zeigte sich darin der „schlechte Einfluss“ der Deutschen und Franzosen auf die Kunst. Die Wiederentdeckung und Weiterentwicklung antiken Wissens – das Beispiel der anatomischen Studien Zahlreiche Erkenntnisse der Antike waren im Laufe des Mittelalters verloren gegangen oder waren von der Kirche als „heidnisch“ unterdrückt worden. Nur in einigen Klöstern und seit dem Spätmittelalter auch auf den Universi- täten bewahrte man die antiken Wissenschaften. Zudem brachte der Kon- takt mit den Muslimen in Spanien und Süditalien naturwissenschaftliche Kenntnisse nach Mittel- und Westeuropa. Renaissance: franz. Wiedergeburt; bezeichnet das Neuauf- leben vor allem von kulturellen Strömungen aus der Antike. Humanismus: eigentlich Menschlich- keit, konkret die Be- schäftigung mit der antiken Literatur, in der mehr der Mensch als Gott im Mittelpunkt des Interesses steht. Die Begriffe Humanis- mus und Renaissance werden seit dem 19. Jh. praktisch deckungs- gleich für die Kultur am Übergang vom Mittelal- ter zur Neuzeit verwen- det. Scholastik: an den spätmittelalterli- chen Universitäten ver- breitete Strömung in der Philosophie und Theo- logie, die mit logischem Denken die Existenz Gottes und die Wahrheit der katholischen Glau- benslehren zu begrün- den versuchte. Man besann sich dabei vor allem auch auf die Schriften des griechi- schen Philosophen Aristoteles, den man zu einem „Vorläufer des Christentums“ hochstili- sierte.
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VO Europa III: Die Zeitalter der Glaubensspaltung, des Absolutismus und der Aufklärung (© Christian Rohr 2004-2009)

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VO Europa III: Die Zeitalter der Glaubensspaltung, des Absolutismus und der Aufklärung Pädagogische Hochschule der Diözese Linz Sommersemester 2009 Dr. Christian ROHR Das neue Bild des Menschen – Humanismus und Renaissance Humanismus und Renaissance Seit dem 14. Jh. begann man in Italien, sich wieder verstärkt mit der antiken Literatur, Kunst, Wissenschaft und Geschichte zu beschäftigen. Diese Strö-mung nennt man Renaissance (= Wiedergeburt). In allen künstlerischen und wissenschaftlichen Studien stand der Mensch im Mittelpunkt des Interesses und nicht mehr Gott. An die Stelle der Theologie, der sich bisher alle ande-ren Wissenschaften unterordnen mussten, traten viele Einzelwissenschaf-ten. Sie beschäftigten sich mit dem Menschen selbst, seiner Umwelt und seinen schöpferischen Leistungen. Eine Wiederentdeckung der klassisch-antiken Literatur? Im Mittelalter hatte man die wichtigsten klassisch-römischen Schriftsteller sehr wohl gelesen; Autoren wie Vergil und Cicero gehörten das ganze Mit-telalter hindurch zu den wichtigsten Autoren, die man im klösterlichen Schulbetrieb las. Auch hatte man im Zeitalter Karls des Großen und erneut im 12. Jh. versucht, sich die klassisch-antiken Autoren zum Vorbild zu neh-men. Eine „Wiederentdeckung“ der antiken Literatur in lateinischer Sprache war daher nicht wirklich gegeben. Die Humanisten studierten penibel das Latein ihrer antiken Vorbilder und begannen selbst in diesem Stil zu schreiben, ja ihr Stil wurde noch „klassi-scher“ als ein Cicero ihn verwendet hätte. Man nennt diese nicht mehr wirk-lich gesprochene Sprache „Neulatein“. Sie blieb bis ins 17. Jh. die Sprache der Wissenschaft. Viele wissenschaftliche Werke, ob von Johannes Kepler oder Sir Isaac Newton, erschienen zunächst in lateinischer Sprache und wurden erst dann in die modernen Sprachen übersetzt. Daneben verwende-ten die Humanisten aber auch Italienisch als Schriftsprache. Da man sich an den adeligen Höfen in Europa an der italienischen Renaissance orientierte, wurde dort Italienisch im 16. Jh. zur Modesprache. Im Gegensatz zur klassisch-lateinischen Literatur wurde die der antiken Griechen tatsächlich auf weite Strecken wiederentdeckt. Eine maßgebliche Rolle spielte dabei der Umstand, dass nach der Eroberung der oströmi-schen Hauptstadt Konstantinopel durch die Osmanen (1453) viele Gelehrte in den Westen flohen und dabei ihre Bücher mitnahmen. Rasch verbreitete sich die Kenntnis der griechischen Sprache unter den Humanisten. Die Werke zahlreicher klassisch-griechischer Autoren, die als verloren gegolten hatten, fanden Eingang in die gelehrten Humanistenkreise. Die Rückbesinnung auf die römische Sprache und Literatur diente den ita-lienischen Humanisten auch dazu, sich von den bis dahin dominierenden Strömungen in Wissenschaft und Kunst deutlich abzusetzen: So lehnten sieden gotischen Baustil und die gelehrten philosophisch-theologischen Diskussionen an den Universitäten, die Scholastik, vehement ab; aus der Sicht der Italiener zeigte sich darin der „schlechte Einfluss“ der Deutschen und Franzosen auf die Kunst. Die Wiederentdeckung und Weiterentwicklung antiken Wissens – das Beispiel der anatomischen Studien Zahlreiche Erkenntnisse der Antike waren im Laufe des Mittelalters verloren gegangen oder waren von der Kirche als „heidnisch“ unterdrückt worden. Nur in einigen Klöstern und seit dem Spätmittelalter auch auf den Universi-täten bewahrte man die antiken Wissenschaften. Zudem brachte der Kon-takt mit den Muslimen in Spanien und Süditalien naturwissenschaftliche Kenntnisse nach Mittel- und Westeuropa.

Renaissance: franz. Wiedergeburt; bezeichnet das Neuauf-leben vor allem von kulturellen Strömungen aus der Antike. Humanismus: eigentlich Menschlich-keit, konkret die Be-schäftigung mit der antiken Literatur, in der mehr der Mensch als Gott im Mittelpunkt des Interesses steht. Die Begriffe Humanis-mus und Renaissance werden seit dem 19. Jh. praktisch deckungs-gleich für die Kultur am Übergang vom Mittelal-ter zur Neuzeit verwen-det. Scholastik: an den spätmittelalterli-chen Universitäten ver-breitete Strömung in der Philosophie und Theo-logie, die mit logischem Denken die Existenz Gottes und die Wahrheit der katholischen Glau-benslehren zu begrün-den versuchte. Man besann sich dabei vor allem auch auf die Schriften des griechi-schen Philosophen Aristoteles, den man zu einem „Vorläufer des Christentums“ hochstili-sierte.

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Besonders die Chirurgie erlebte im späten 15. und im 16. Jh. einen Auf-schwung. Im Mittelalter wurden operative Eingriffe von rein handwerklich ausgebildeten Chirurgen durchgeführt, die im Volk nicht immer einen guten Ruf genossen. Erst mit dem Beginn exakter anatomischer Ausbildung auf den Universitäten verbesserte sich das Wissen der Chirurgen. Sie mussten sich bei ihren Operationen immer mehr mit den Verletzungen infolge des Einsatzes von Schießpulver auseinandersetzen und entwickelten in diesem Zusammenhang auch erste Prothesen. Wie viele andere Wissenschaften geht auch die Anatomie auf die alten Griechen zurück. Bereits Aristoteles sezierte, allerdings nur Tiere. Anatomie im heutigen Sinne wurde seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert im ptolemäischen Alexandrien betrieben. Diese frühe Blüte der Anatomie war allerdings nur von kurzer Dauer. Ab etwa 150 v. Chr. wurden kaum mehr menschliche Leichen seziert, doch erwähnt etwa Kaiser Mark Aurel noch in seiner kurz vor 180 entstandenen Selbstbiografie, dass im Rahmen der Markomannenkriege auch die Leichname von getöteten Germanen für me-dizinische Zwecke aufgeschlitzt wurden. Wenn von römischer Medizin die Rede ist, dann ist damit vor allem der Arzt Galen (ca. 129 n. Chr. – ca. 199 n. Chr.) gemeint. Durch das Sezieren von Tieren wie Ziegen, Schweinen und Affen erhielt Galen für die damalige Zeit erstaunliche Einblicke in die Organe und Funktionsabläufe der Lebewesen und verband seine Erkenntnisse mit denen des Menschen. Die Frage, warum die Sektionen an Menschen im 2. Jh. n. Chr. aufhörten, sind nicht klar zu definieren. Zum einen setzte sich offensichtlich die Mei-nung durch, dass man an Verwundeten Körpern für die praktische chirurgi-sche Arbeit mehr lernen könne als an Leichen. Dies wird einerseits aus der Biografie des Galen als Gladiatorenarzt deutlich, andererseits auch aus den Schriften des griechischen Arztes Celsus (2. Jh. n. Chr.), der sich an einigen Stellen explizit in diesem Sinne äußerst. Moralisch-ethische Gründe spielten offensichtlich keine oder nur eine – nicht belegbare – untergeordnete Rolle. Zudem finden sich im christlichen Schrifttum schon aus der Zeit der Verfol-gungen (etwa bei Tertullian, Anfang 3. Jh.) immer wieder Belegstellen, dass man dort die Sektion von Leichen vehement ablehnte. Mit dem Sieg des Christentums stützte man sich daher auf die Erkenntnisse des Galen, und nahm vorerst keinerlei weitere Sektionen vor. Leichenöffnungen waren im christlichen Mittelalter aber nicht grundsätzlich verboten: 1215 beschloss das 4. Laterankonzil nur, dass Geistliche (und diese stellten bis dahin den Großteil der Mediziner) keinerlei chirurgische Eingriffe und auch keine Leichenöffnungen durchführen durften; doch etwa von der bedeutenden Universität von Montpellier gibt es Belege, dass durchaus auch Geistliche Sektionen durchführten. Im arabischen Bereich waren Sektionen verboten, doch im christlichen Byzanz (v.a. seit dem 9. Jh.) und im Abendland seit etwa 1250 kamen sie durchaus vor. Eine fort-schrittliche Entwicklung bahnte sich in Sizilien an. Kaiser Friedrich II. etwa ordnete 1238 an, es müsse in der Universität Salerno alle fünf Jahre eine öffentliche Sektion abgehalten werden. Ein Chirurg müsse mindestens ein Jahr Anatomie studiert haben, ehe er praktisch arbeite. Auch an der Univer-sität Bologna wurde die Sektion menschlicher Leichen betrieben; sie sollte zunächst vor allem gerichtsmedizinischen Zwecken dienen. Dass man hin-gerichtete Schwerverbrecher der Anatomie zur Verfügung stellte, geschah auch nicht, um die medizinische Wissenschaft zu unterstützen, vielmehr handelte es sich um eine zusätzliche Strafe für den Delinquenten. Da Schwerverbrecher meist eher männlich waren, da außerdem die Justiz mit Frauen in der Regel eher milde verfuhr, kam es zu einem beklagenswerten Engpass an weiblichen Leichen. Man steuerte diesem Mangel, indem man bei der Sektion männlicher Leichen zwanzig Studenten zuließ, bei der von weiblichen Leichen aber dreißig. 1442 erließ die Stadt Bologna die Verord-nung, dass der Universität jährlich zwei Leichen zu liefern seien, nach Mög-lichkeit eine männliche und eine weibliche. Die katholische Kirche hatte keine theologischen Vorbehalte gegen die Anatomie. Die Päpste Sixtus IV. und Clemens VII. erlaubten die Leichensektion in Bologna bzw. Padua aus-

Galen Der aus Pergamon stammende Arzt hinter-ließ ein umfangreiches Schrifttum in griechi-scher Sprache, das auch für das Mittelalter von großer Bedeutung war, nicht zuletzt, weil Galen immer neutral von einem „Schöpfer“ und einem „Gott“ spricht, was für das Christentum einigerma-ßen kompatibel er-schien. Galen unter-nahm seine umfangrei-chen anatomischen Studien zum einen an verletzten Gladiatoren, die er behandelte (also keine Sektion im eigent-lichen Sinne), und zum anderen an Tieren. Der anatomische Teil von Galens Werk beruht somit zum Großteil auf der Anatomie von Tie-ren. Auch noch in Dru-cken zu Galen aus dem 16. Jh. gibt es Abbil-dungen, die Galen beim Sezieren eines Schweins zeigen. Galen galt mit seinem umfassenden System der Medizin und Ana-tomie über einem Jahr-tausend als der unum-strittene Herrscher der Heilkunde. Selbst wenn bei gelegentlichen Sek-tionen am Menschen Unterschiede zwischen Befund und galenischer Lehrmeinung auftraten, war man eher geneigt, an eine Veränderung der menschlichen Kör-pers als an einen Fehler des großen Gelehrten zu glauben.

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drücklich. Mondino de Luzzi (1275-1326), Professor der Medizin in Bologna, führte dort 1315 die Sektion menschlicher Leichen ein. 1316 schrieb er sei-ne Anathomia, ein Lehrbuch der Sektion von gerade 40 Seiten (erste Druckausgabe Padua 1476). Mondinos Werk besaß 200 Jahre lang unum-schränkte Geltung. Anfang des 15. Jh. gehörten Leichenöffnungen zum fixen Bestandteil der Ausbildung auf den Universitäten, wenn auch die Stu-denten nur zuschauen durften. Im 16. Jh. brachte vor allem das bahnbrechende Werk „De humani corporis fabrica“ (1543) von André Vesal (1514-1564) den Durchbruch zu einem „modernen“ Studium der Anatomie. Auf Friedhöfen und Hinrichtungsstätten organisierte er sich Material zur eigenen Präparation, deren Resultate oft gar nicht mit den in den Anatomiebüchern übereinstimmten. Er publizierte dabei eine Vielzahl von Kupferstichen mit sezierten menschlichen Körpern, die den Studenten zum anatomischen Studium dienen sollten. Bei seinen Forschungen bestätigte sich, dass Galen offenbar keine Menschen, sondern Rhesusaffen und Hunde präpariert hatte. Vesal stellte jedoch Galen niemals in Frage, sondern beabsichtigte nur eine Korrektur und Ergänzung. Drei Jahre später, 1546 wurde in der niederrheinischen Stadt Wesel sogar im Auftrag der Stadt der Leichnam einer Frau für anatomische Studien geöff-net; die Frau war eindeutig keine Verbrecherin. Das Buch von Vesal fand sofort zahlreiche Nachahmer. Während Vesals neue Anatomie bei Studenten und fortschrittlichen Professoren begeisterte Zustimmung fand, regte sich – wie immer in solchen Fällen – in den Kreisen der dogmatischen Galenisten Widerstand. Dies schadete seiner Reputation allerdings kaum, zumal Vesal in dem Buch eine Widmung an den römisch-deutschen Kaiser Karl V. (1500-1558) gerichtet hatte. Vielleicht wirkte sich dies auch für seine Berufung als Hofarzt beim Kaiser aus. Vesal lebte jetzt in Spanien und begleitete den Monarchen auf seinen zahlreichen Reisen und Heereszügen und widmete sich dabei besonders der Chirurgie. Später folgte er Karls Sohn Philipp II. von Spanien (1527-1598) als Leibarzt nach Madrid. 1555 gab Vesal noch einmal ein aktualisiertes anatomisches Werk heraus. Ein neues Bild von der Welt? Schon in der Antike war man davon ausgegangen, dass die Erde eine Kugel sein müsse. Dieses Wissen ging auch im Mittelalter nicht ganz verloren: Man verglich die Erde mit einem Apfel oder mit dem Dotter eines Eies. Zu-dem war den Seefahrern schon im Mittelalter aufgefallen, dass man bei einem Schiff, das auf das Meer hinausfährt, nach einiger Zeit nur mehr den Mast des Schiffes sehen könne; die Erde müsse also gekrümmt sein. Weite-re Verbreitung fand die Lehre von der Kugelgestalt aber erst, als die Werke des antiken Geographen Ptolemaios wieder im Westen bekannt wurden. Auf dieser Basis baute der aus Florenz stammende Geograph Paolo dal Pozzo Toscanelli 1474 einen Erdglobus; dieser Globus wurde zum Ausgangspunkt für die Suche des Seeweges nach Indien. Die Astronomen des 15. und 16. Jh. widersetzten sich der kirchlichen Lehre, dass die Erde im Mittelpunkt des Universums stehe. Als Erster vertrat der polnische Astronom Nikolaus Kopernikus (1473-1543) die Theorie, dass die Sonne im Mittelpunkt stehe und dass um sie alles kreise. Dieses heliozentri-sche (= sonnenzentrierte) Weltbild wurde um 1600 von Johannes Kepler (1571-1630) weiterentwickelt, der zahlreiche Jahre in Linz wirkte. Allerdings sträubte sich vor allem die Kirche gegen diese neuen Lehren. Anfang des 17. Jh. musste Galileo Galilei (1564-1642) seine Lehre, dass die Erde um die Sonne kreise und nicht umgekehrt, vor einem päpstlichen Gericht wider-rufen. Die katholische Kirche gab Galilei übrigens erst 1992 offiziell Recht. Baukunst, Malerei und Plastik In der Baukunst wandte man sich von den zum Himmel strebenden goti-schen Bauformen ab. Man beschränkte sich auf die klassischen Grundfor-men Kreis bzw. Halbkreis, Linie, Dreieck und Quadrat. Die bekanntesten Beispiele für Renaissancebauten findet man in Italien, beispielsweise den

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Dom von Florenz oder den Petersdom in Rom. Nördlich der Alpen setzte sich dieser Baustil erst im 16. Jh. durch. In der Malerei und in der Plastik stand erstmals der Mensch und nicht mehr Gott im Zentrum. Künstler wie Leonardo da Vinci (1452-1519), Michelangelo Buonarroti (1475-1564) oder Raffaello Santi (1483-1520) gelang es, den menschlichen Körper naturgetreu und in seiner ganzen Lebhaftigkeit darzu-stellen. Ihre Freskenmalereien, Tafelbilder und Skulpturen gehören bis heu-te zu den Hauptattraktionen der Vatikanischen Museen in Rom und anderer wichtiger Museen. Buchdruck Die vielleicht wichtigste Erfindung für die Geschichte der Frühen Neuzeit stammte aus Deutschland: Um 1445 perfektionierte Johannes Gutenberg in Mainz den Buchdruck mit beweglichen Lettern. Er griff dabei auf schon be-stehende Techniken zurück, verfeinerte und beschleunigte aber die Herstel-lung der Lettern. Durch den Buchdruck wurde es möglich, Schriftstücke in großer Anzahl herzustellen. Die frühen Drucke wurden allerdings noch müh-sam mit der Hand illustriert. Der endgültige Durchbruch gelang dem Buch-druck schließlich während der Reformationszeit am Beginn des 16. Jh.: Besonders Flugblätter konnten in großer Anzahl rasch vervielfältigt werden; das Gedankengut Luthers und anderer Reformatoren verbreitete sich in kürzester Zeit über ganz Europa. Arbeitsfragen zum Text: • Was versteht man unter Humanismus und Renaissance? Gib Beispiele dafür! • Welche neuen Erkenntnisse wurden in den Naturwissenschaften gewonnen? Materialien Mittelalterliches und neuzeitliches Weltbild im Spiegel von historischen Landkarten

a) Gesamtansicht [die Kontinente kennzeichnen] b) Detail Afrika 1) Hereford-Karte (Hereford Cathedral, um 1280/1290) Die Karte wurde vermutlich in der mittelenglischen Stadt Lincoln von Richard of Holdingham angefer-tigt. Nur kurze Zeit später kam sie nach Hereford – daher der Name. Die Welt bzw. das, was man von der Welt kannte, ist als Scheibe dargestellt, umgeben vom Okeanos, dem Ozean rundherum. Darge-stellt sind die drei Kontinente Asien, Afrika und Europa, wobei die Stadt Jerusalem genau im Zentrum liegt. Bei dieser Karte handelt es sich dabei eher um eine „Merkkarte“, auf der man eintrug, was man

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von der Erde wusste, und nicht um ein Abbild des damaligen Weltbildes. Außerdem spielt auch die Symbolsprache eine große Rolle: Das Meer bildet ein O (= Okeanos), in das ein T (= Terra/Land) eingeschrieben ist. OT bildet wieder die Abkürzung für orbis terrarum (Erdkreis). Die Welt bzw. das, was man von der Welt kannte, ist als Scheibe dargestellt, umgeben vom Okeanos, dem Ozean rund-herum. Dargestellt sind die drei Kontinente Asien, Afrika und Europa, wobei die Stadt Jerusalem ge-nau im Zentrum liegt. Im Detailbild ist Afrika dargestellt: links das östliche Mittelmeer in das der Nil mündet, neben den Städ-ten sind auch zum Teil fabelhafte Tiere und Menschen sowie biblische und geschichtliche Bezüge eingetragen (horrea Joseph/Getreidespeicher des Joseph aus dem Alten Testament, castra Ale-xandri/Heerlager Alexanders). Es ist ein typisches Merkmal der antiken und mittelalterlichen Ethno-graphie, dass die Menschen, von denen man fast gar nichts wusste, fabelhafte Züge tragen: Füße, die nach hinten schauen, mehrere Köpfe, Einäugigkeit, Mischwesen aus Tier und Mensch etc. Einen gu-ten Einblick in diese Vorstellungswelten bietet übrigens der zweite Teil des Romans „Baudolino“ von Umberto Eco.

2) Portulankarte zu Westeuropa von Piet-ro Vesconte (Handschrift aus London, Mitte 14. Jahrhundert) Ab dem 14. Jh. wurden für die neu auf-kommende Seefahrt unter Berücksichti-gung der neuen technischen Vorausset-zungen (Kompass, Quadranten, Sextan-ten etc.) Seekarten erstellt, bei denen das Hauptaugenmerk auf dem Küstenverlauf bzw. den Häfen liegt. Charakteristisch sind vor allem die strahlenförmigen Ver-messungslinien, die von so genannten Windrosen ausgehen und den Seefahrern als Navigationshilfen dienten. Die Portu-lankarten – der Name ist abgeleitet vom lateinischen Wort portus (Hafen) – bieten schon ein vergleichsweise naturgetreues Abbild des Küstenverlaufs. Anhand eines Vergleichs mit der Hereford-Karte wird deutlich, dass man im 13./14. Jh. sehr wohl schon in der Lage war, die Erde eini-germaßen zuverlässig abzubilden und dass im Gegensatz dazu die OT-Karten symbolhafte „Merkkarten“ waren.

3) Weltkarte des Heinrich Martellus (Handschrift aus London, um 1490) Die „wiederentdeckten“ Erkenntnisse des antiken Geographen Claudius Ptolemaios spielten bei der Erstellung der Karte ebenso eine Rolle wie die jüngsten Entdeckungsreisen, z. B. die Fahrt des Barto-lomeo Diaz ans Kap der Guten Hoffnung (1488). Amerika war zum Zeitpunkt der Entstehung der Karte noch nicht entdeckt. Interessant ist auch ein Vergleich mit einer der wenigen erhaltenen Weltkarten auf der Basis des Claudius Ptolemaios – siehe dazu die Abbildung zu Kapitel 2.5 (Handschrift aus der Zeit um 1300).

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Arbeitsaufgaben: • Vergleiche die drei Karten: Welche Unterschiede, welche Parallelen fallen dir auf? • Was lassen die drei Karten jeweils über die Weltanschauungen der damaligen Zeit erkennen? • Betrachte das dritte Beispiel: Welche Gebiete der Erde waren damals schon „entdeckt“, welche

nicht? Großmachtpolitik im 16. Jh. – Die Habsburger zwischen Franzosen und Osmanen Das Zeitalter Friedrichs III. Ab der Mitte des 15. Jh. gelang es den Habsburgern endgültig, auch die Herrschaft als Könige bzw. Kaiser des Heiligen Römischen Reiches an sich zu ziehen. Der nur mäßig aktive Kaiser Friedrich III. (1440-1493) glänzte aber nur dadurch, dass er während seiner langen Herrschaft alle seine Fein-de überlebte; schon zu seinen Lebzeiten erhielt er von seinen Kritikern den Beinamen „Erzschlafmütze des Reichs“. Selbst die Wiener Bürger vertrieben ihn mehrfach aus seiner Residenzstadt, sodass er sich hauptsächlich in Wiener Neustadt, Graz und Linz aufhielt. Bekannt ist allerdings sein rätsel-hafter Wahlspruch A.E.I.O.U. Das Zeitalter Maximilians I. Als Kaiser Maximilian I. (1493-1519), der einzige Sohn des Habsburgerkai-sers Friedrich III., die Regierung antrat, waren alle habsburgischen Erbtei-lungen des Spätmittelalters wieder überwunden. 1490 hatte Maximilian 1490 auch Tirol von seinem Cousin Sigismund übernommen. Mit militärischer Gewalt und geschickten Verträgen dehnte er seine Herrschaft auch auf das untere Inntal und die Teile des heutigen Vorarlberg aus, die bis dahin noch nicht unter habsburgischer Herrschaft gestanden waren. Als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches versuchte Maximilian eine vor-ausschauende Reformpolitik: Auf dem Reichstag zu Worms (1495) gelang es ihm, einen „Ewigen Landfrieden“ durchzusetzen. Dadurch wurden die Fehde (= Privatkriege) und die private Blutrache verboten, die oft ganze Landstriche in bürgerkriegsähnliche Zustände verstrickt hatten. Ebenso ver-suchte Maximilian den so genannten „Gemeinen Pfennig“, eine Art allgemei-ne Vermögenssteuer, ein. Das Projekt scheiterte aber bald am massiven Widerstand des Adels und an organisatorischen Problemen.

A.E.I.O.U. Über den Wahlspruch Friedrichs III. wurde schon zu seinen Leb-zeiten gerätselt. Mehr als 300 zeitgenössische und neuzeitliche Auflö-sungen sind bekannt, z. B. All Erdenreich ist Oesterreich untertan. Andere mögen Kriege führen Die Devise „Andere mögen Kriege führen, du, glückliches Öster-reich, heirate!“ (Bella gerant alii, tu, felix Austria, nube!) hat bis heute zu einem Mythos geführt, was die Hei-ratspolitik der Habsbur-ger um 1500 betrifft. Zwei Gegenargumente sind in diesem Zusam-

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Heiratspolitik als „Rechtfertigung“ für kriegerische Eroberungen Mit ihren umfangreichen Erblanden und der Kaiserwürde waren die Habs-burger zu den führenden Dynastien Europas aufgestiegen. Die habsburgi-sche Heiratspolitik orientierte sich um 1500 nach den wichtigsten Fürsten-häusern Europas. So heiratete Maximilian I. zunächst die Tochter des letzten Herzogs von Burgund, Maria. Als 1477 der letzte Herzog von Burgund starb, gelang es Maximilian auf kriegerische Weise, seine Erbansprüche gegen Frankreich weitgehend durchzusetzen. Nach dem frühen Tod Marias heiratete Maximilian nochmals: Durch die Ehe mit Bianca Maria Sforza fiel 1516 das Herzogtum Mailand an die Habsburger. Philipp, der Sohn Maximilians aus erster Ehe, wurde 1496 mit Johanna ver-mählt, der Tochter des spanischen Königspaares Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien. Philipp starb schon 1506, sein ältester Sohn Karl (der spätere Kaiser Karl V.) trat daher 1516 in jugendlichen Jahren das spani-sche Erbe an. Habsburger herrschten somit über ganz Spanien sowie über die neuen Kolonien in Übersee, aber auch über ganz Süditalien, Sardinien und Sizilien. Trotz seines frühen Todes hinterließ Philipp der Schöne zahlreiche Kinder, die jeweils eine entscheidende Rolle in der habsburgischen Heiratspolitik spielten. Der jüngere Sohn Ferdinand und dessen Schwester Maria wurden 1515 noch als Kinder in einer Doppelhochzeit mit dem Geschwisterpaar Anna von Böhmen und Ungarn bzw. Ludwig II., König von Böhmen, Ungarn und Schlesien, verheiratet. Auf diese Weise sollten sich die beiden Herr-scherhäuser im Falle des Aussterbens eines Hauses jeweils gegenseitig beerben. Im Jahr 1526 fiel der böhmisch-ungarische König Ludwig bei Mo-hács (Südungarn) gegen die vorrückenden Osmanen. Somit erbten die Habsburger Böhmen, Schlesien und Ungarn. Diese Länder waren nicht nur wirtschaftlich sehr wichtig: Mit der böhmischen Krone erwarben die Habs-burger auch die lange ersehnte Kurfürstenwürde. Die Osmanen Die Habsburger konnten die ungarische Erbschaft vorerst aber nicht antre-ten, weil fast das gesamte Land von den Osmanen besetzt war. Im Jahr 1529 belagerten die Osmanen schließlich Wien, doch mussten sie aufgrund des anbrechenden Herbstes wieder abziehen. Für über 150 Jahre blieben die Osmanen aber eine ständige Bedrohung im Osten und Südosten des Habsburgerreiches. Nur durch ständige Geldzahlungen konnte der über-mächtige Gegner von neuen Angriffen vorerst abgehalten werden. Zudem genossen die Osmanen die Unterstützung Frankreichs, das an einer weite-ren Ausdehnung der habsburgischen Macht kein Interesse hatte. An dem Bündnis zwischen Frankreich und den Osmanen lässt sich erkennen, dass religiöse Unterschiede im europäischen Mächtespiel der Frühen Neuzeit nur oberflächlich eine Rolle spielten. Die Teilung der habsburgischen Erblande Das Anwachsen der habsburgischen Länder machte 1522 eine Teilung nö-tig: Karl wurde als Karl V. zum König bzw. Kaiser des Heiligen Römischen Reiches bestimmt (1519-1556). Zudem erhielt er Spanien einschließlich Süditalien und den Kolonien, das Herzogtum Mailand und Burgund. Ferdi-nand blieben die österreichischen Länder sowie ab 1526 Böhmen, Schlesien und Ungarn. Es war vorauszusehen, dass besonders Karl an dieser Aufgabe zerbrechen musste, war er doch bei seiner Thronbesteigung im Heiligen Römischen Reich erst 19 Jahre alt. Zudem setzte gerade die Reformation ein, auch soziale Unruhen bahnten sich an.

menhang vorzubringen: Zum einen betrieben alle Herrscherhäuser, aber auch alle Adels-häuser, eine offensive Heiratspolitik. Zum anderen konnten durch dynastische Hochzeiten hergestellte Erbansprü-che nur in wenigen Fällen unkriegerisch durchgesetzt werden. Gerade die Regie-rungszeit Maximilians I. bestätigt dies. Burgund Burgund umfasste im 15. Jh. die heutigen Niederlande, Belgien, Luxemburg und einige Teile Ostfrankreichs. Es war, eingebettet zwi-schen Frankreich und dem Heiligen Römi-schen Reich, das wirt-schaftliche und kulturel-le Zentrum Europas. Karl V. Karl wurde 1500 in Gent im heutigen Bel-gien geboren. Er wuchs vor allem im burgundi-schen und spanischen gebiet auf, und sprach bei seinem Amtantritt im Heiligen Römischen Reich nicht einmal Deutsch. Die Osmanen Das aus Innerasien stammende Volk hatte sich seit dem 13. Jh. der Herrschaft über die heutige Türkei bemäch-tigt. 1389 zerstörten sie das Serbenreich auf dem Balkan, 1453 er-oberten sie Konstanti-nopel und rückten in der Folge nach Mittel-europa vor.

Arbeitsfragen: • Fasse die Zusammenhänge zwischen Heiratspolitik und Eroberungen zusammen (mit Beispielen)! • In welchen Erbangelegenheiten kreuzten sich die Großmachtinteressen der Habsburger und der

französischen Könige?

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Materialien Die Ausdehnung des habsburgischen Besitzes um 1500

Europa im 16. Jahrhundert Stammbaum der Habsburger im 15. und 16. Jh.

Frühkapitalistische Wirtschaftsformen in Europa Wirtschaft im Spätmittelalter Mit dem Aufkommen der Städte im 11. bis 13. Jh. erlebte der Handel einen deutlichen Aufschwung: Die Handwerker erzeugten in den Städten nicht nur Waren für den eigenen Gebrauch und den regionalen Markt, sondern auch

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für den Fernhandel. Im Gegenzug kamen Luxusgüter aus dem Orient oder aus anderen Regionen Europas in die Stadt. Immer mehr verdrängte dabei die Geldwirtschaft die bisher dominierenden Tauschgeschäfte. Es lag daher im Interesse jedes Landesherrn, Gold- und Silbervorkommen abzubauen und zu Münzen zu prägen. Besonders das alte Transitland Tirol erlebte durch den Schwazer Silberbergbau und die Münzprägungen im Hall in Tirol einen großen wirtschaftlichen Aufschwung. Die wirtschaftliche Entwicklung wurde allerdings durch die Pest der Jahre 1347-1352, durch mehrere Hungersnöte sowie eine Verschlechterung des Klimas am Ende des 14. Jh. deutlich gedämpft: Diesen Katastrophen fiel in Europa ein Drittel der Bevölkerung zum Opfer. Dieser Verlust konnte in den meisten Gebieten bis in das späte 15. Jh. nicht völlig wettgemacht werden. Die Regionen, in denen die Pest sich nicht ausgebreitet hatte, erlebten je-doch einen großen wirtschaftlichen Aufschwung, besonders der Norden Burgunds (heute Nordostfrankreich und Belgien) und die Stadt Nürnberg. Die oft wirtschaftlich schwierigen Zeiten am Ende des Mittelalters ließen auch die Kluft zwischen Arm und Reich größer werden: Große Teile der städtischen Bevölkerung gaben im 15./16. Jh. etwa 80 % ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus, sodass an eine Anhäufung von Kapital nicht zu denken war. Zudem verteuerte eine weitere massive Klimaverschlechterung um die Mitte des 16. Jh. die Getreidepreise noch mehr. Das Aufkommen des Banken- und Börsenwesens Seit dem 14. Jh. hatte sich ausgehend von Italien neben der Geldwirtschaft eine weitere Zahlungsform entwickelt: der Wechsel. Dabei verpflichtete sich ein Schuldner, ein aufgenommenes Darlehen an einem anderen Ort in einer anderen Währung zurückzuzahlen. Dabei nahm der lokale Geldwechsler eine Schlüsselstellung ein: Von seinem Wechseltisch (ital. banca) leitet sich der moderne Begriff Bank her. Bei ihm konnte man auf ein Konto Geld ein-zahlen. Darunter verstand man ein Verzeichnis, in dem der Wechsler Ein-zahlungen und Schulden eintrug. Ein Geschäftspartner konnte nun auf die-ses Konto mittels eines Wechsels seine Schulden begleichen. Zudem ge-währte der Bankier auch Darlehen an Kaufleute und Handwerker. Ab dem 16. Jh. begannen von der Stadt Antwerpen im heutigen Belgien aus auch Börsen aufzukommen. Im Gegensatz zu Märkten und Messen ver-steht man darunter die Zusammenkünfte von Händlern, die ihre Waren ver-kauften, ohne diese mitzuführen. Der Aufstieg der Bankiers Im Gegensatz zum Mittelalter waren die Bankiers am Beginn der Neuzeit nicht nur jüdischer Herkunft. Immer mehr wurde deutlich, dass Bankge-schäfte einen großen Gewinn abwerfen konnten, sodass man diese lukrati-ve Berufssparte nicht mehr den Juden allein überließ. Das Augsburger Bank- und Handelshaus der Fugger erreichte als Finan-ziers der römisch-deutschen Kaiser nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Macht. Dem mit den Fuggern konkurrierenden Bankhaus der Welser, die ebenfalls in Augsburg ihren Hauptsitz hatten, wurde im 16. Jh. für einige Zeit sogar die von den Spaniern eroberte Kolonie Venezuela zur Begleichung der Schulden überantwortet. Auch in Italien und Frankreich bestimmten derartige Bankiersdynastien nicht nur das wirtschaftliche, son-dern auch das politische Leben immer mehr mit. Die Bank- und Handelshäuser hatten Beteiligungen an zahlreichen Unter-nehmungen: In Außenstellen des Unternehmens, den so genannten Konto-ren und Faktoreien, wurden Rohstoffe und Fertigwaren an- und verkauft. Die Handwerker und Heimarbeiter (v. a. im Textilbereich) erhielten vom Handelshaus ihre Rohstoffe. Die fertigen Produkte wurden vom Handels-haus in den lokalen Verkauf sowie auf die großen internationalen Messen gebracht; man nennt diese Wirtschaftsform Verlagswesen. Auch die Beteili-gungen der Bank- und Handelshäuser an Mühlen, Bergwerken, ja selbst an Überseeexpeditionen warfen reichen Gewinn ab.

Die ersten Börsen: 1531 Antwerpen 1553 Köln 1558 Hamburg 1585 Frankfurt

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Arbeitsfragen zum Text: • Fasse die wichtigsten Charakteristika der spätmittelalterlichen Wirtschaft zusammen! • Erkläre die Begriffe Wechsel, Bank und Börse! • Welche Rolle konnten die Inhaber von Bank- und Handelshäusern auch in der Politik spielen?

Begründe deine Aussage! Materialien Das Handelsimperium der Fugger Die Familie der Fugger war 1367 als Weber nach Augsburg zugewandert und erlebte dort innerhalb weniger Jahrzehnte einen Aufstieg in die höchsten Bürgerschichten der Stadt. Unter Jakob II. Fugger (1459-1525) wurde ihr Bank- und Handelshaus zum wichtigsten Wirtschaftsimperium Europas. 1511 wurden die Fugger von Kaiser Maximilian I. in den Reichsgrafenstand erhoben. Das Wirtschaftssystem des Frühkapitalismus lässt sich kaum besser erarbeiten als am Beispiel der Fugger. Die Augsburger Weberdynastie schaffte nicht nur innerhalb einer Generation den Aufstieg zum städtischen Patriziat, sondern konnte durch eine geschickte Beteiligungspolitik rasch auch ein über den Textilbereich hinausgehendes Imperium aufbauen. Von besonderer Bedeutung waren dabei die Investitionen in Tirol. Der Habsburger Sigismund der Münzreiche hatte in der Mitte des 15. Jh. Investoren für den Ausbau des Silberbergbaus in Schwaz (Tirol) gesucht. Die Fugger erhielten für ihre Darlehen im Gegenzug das Recht zum Abbau aller Silber- und Kupfervorkommen des Landes – der Beginn des späteren „Kupfermonopols“ der Fugger. Jakob II. Fugger, als jüngster Sohn Jakobs I. Fugger ursprünglich für den geistlichen Stand bestimmt, übernahm zunächst 1485 die Leitung der wichtigen Faktorei in Innsbruck. Er war maßgeblich daran beteiligt, dass Herzog Sigismund völlig bankrott das Land seinem Cousin Maximilian I. übergab (1493). Rasch wurden die Fugger auf diese Wiese zu den wichtigsten Finanziers der immer in Geldnot befindlichen Habsburger. Die Erhebung der Fugger in den Reichsgrafenstand (1511) ist daher nicht nur ein Zeichen der Dankbarkeit Maximilians, sondern auch ein Spiegelbild für den wachsenden politi-schen Einfluss der Fugger. Bei der Königswahl von Maximilians Enkel Karl V. zum römisch-deutschen König (1519) waren die von den Fuggern vorfinanzierten „Schmiergelder“ ganz offensichtlich das die Wahl entscheidende Element.

Die Grafik zeigt allgemein, aber vor allem an den Fuggern orientiert, die zahlreichen wirtschaftlichen Beteiligun-gen eines Bank- und Handelshauses. Zum einen sorgten diese Wirtschaftsim-perien für eine Vernetzung von An- und Verkauf von Waren. Die Gewährung der Nutzungsrechte von Bergwerken und Hütten waren das Produkt der kontinu-ierlichen Darlehen an die Könige und Landesherren, vor allem an die Habs-burger. Durch den Aufstieg der Habs-burger, v.a. durch deren Erwerb von Burgund, Mailand und Spanien konnten sich die Fugger auch eine wichtige Posi-tion im neuen Überseehandel sichern. Wie die Karte veranschaulicht, spannte sich das Wirtschaftsnetz der Fugger über ganz Europa und über die Stütz-punkte in Spanien bis nach Amerika. Die Beteiligungen an Bergwerken im Tiroler und Salzburger Bereich bilden eine der wichtigsten Grundlagen für ihren Reichtum.

Die wirtschaftlichen Verflechtungen einer frühkapitalistischen Handelsgesellschaft (nach Hans-Georg Hofacker, Europa und die Welt um 1500, Berlin 2001, S. 61)

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Die Bank- und Handelshäuser der Fugger in Europa zu Be-ginn des 16. Jh. (nach Hans-Georg Hofacker, Europa und die Welt um 1500, Berlin 2001, S. 64)

Die Fugger als Kaisermacher? „E(hr)w(ürdige) Kais(erliche) Majestät werden ohne Zweifel wissen, wie ich und meine Vettern bisher dem Haus Österreich zu dessen Nutzen und Wohlfahrt in aller Untertänigkeit zu dienen geneigt sind. Deshalb haben wir uns auch mit dem verstorbenen Kaiser Maximilian ... eingelassen und uns ... ver-pflichtet, für E(hr)w(ürdige) Kais(erliche) Majestät die römische Krone zu erlangen, weil eine große Anzahl von Fürsten ihr Zutrauen auf mich und sonst niemand setzen wollten. Wir haben dann den von E(hr)w(ürdiger) Kais(erlicher) Majestät eingesetzten Kommissaren, um den genannten Zweck zu er-reichen, eine beachtliche Summe Geldes vorgestreckt. ... Es ist allgemein bekannt, dass E(hr)w(ürdige) Majestät die römische Krone ohne mich nicht erlangt hätten, wie das auch aus allen Schreiben von E(hr)w(ürdiger) Kais(erlicher) Majestät Kommissaren hervorgeht. Ich habe in dieser Sache nicht an meinen eigenen Nutzen gedacht; denn wäre ich vom Hause Österreich zu Frankreich übergegangen, hätte ich bedeutende Vorteile an Gut und Geld ... gehabt. Was aber E(hr)w(ürdiger) Kais(erlicher) Majestät daraus für Nachteil entstanden wäre, das wird E(hr)w(ürdiger) Kais(erlicher) Majestät nicht verborgen geblieben sein. ... Demnach ist eine untertänige Bitte an E(hr)w(ürdige) Kais(erliche) Majestät, Sie möge meine untertä-nigsten Dienste ... gnädig bedenken und ... veranlassen, dass mir meine ausstehende Summe Geld samt den Zinsen ohne längeren Verzug entrichtet und bezahlt wird.“ (aus einem Brief Jakobs II. Fugger an Kaiser Karl V. vom 24. April 1524, gekürzt; zitiert nach Hans-Georg Hofacker, Europa und die Welt um 1500, Berlin 2001, S. 64 f.) Arbeitsaufgaben: • Versuche anhand der Grafik festzustellen, welche wirtschaftlichen Bereiche mit dem Wirtschafts-

imperium der Fugger in Verbindung standen! • Vergleiche Grafik und Karte: Wo befanden sich die Faktoreien und Bergwerksbeteiligungen der

Fugger? • Welche Rolle spielten die neu eroberten Kolonien in Übersee im Handelsnetz der Fugger? • Analysiere anhand des Textes, in welcher Form die Fugger auch politischen Einfluss gewinnen

konnten! Welches Bild entsteht anhand des Briefes von der Königswahl Karls V.? Die Reformation Martin Luthers und ihre Folgen Der Ablasshandel Die Missstände in der katholischen Kirche, die schon von Jan Hus ange-prangert worden waren, konnten auch durch mehrere Konzilien im Laufe des 15. Jh. nicht gelöst werden. Umstritten war auch der weit verbreitete

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Ablasshandel: Im Mittelalter konnte man einen Ablass in erster Linie auf Wallfahrten erlangen. Dabei musste man vorgeschriebene Gebete und Buß-übungen verrichten, spendete an eine Kirche und erhielt dafür einen Nach-lass an Sündenstrafen. Um 1500 kam es aber auch zum Verkauf von so genannten Ablassbriefen: Durch Geldzahlungen konnte man sich die be-schwerliche Wallfahrt ersparen. Rasch wurde der Handel mit Ablassbriefen zum einträglichen Geschäft. Aus der Sicht der spätmittelalterlichen Fröm-migkeit waren sie eine Art „Versicherungspolizze für die Ewigkeit“.

Der Ablasshandel um Albrecht von Brandenburg Die Hintergründe dieses Ablasshandel werfen ein bezeichnendes Licht auf die Zustände in der Kirche am Beginn des 16. Jh.: Albrecht von Branden-burg. hatte als zweitgeborener Sohn wenig Aussicht auf die Nachfolge als Kurfürst von Brandenburg. Wie viele zweitgeborene Söhne wurde er Geistli-cher und hatte schon im Alter von 23 Jahren die Würde des Erzbischofs von Magdeburg inne. Zudem strebte er das damals unbesetzte Amt eines Erzbi-schofs von Mainz an, womit er auch die Kurfürstenwürde erlangen würde. Die üblichen Gebühren, die für die Verleihung dieses Amtes nötig waren, brachte Albrecht durch einen Kredit beim Augsburger Großbankier Fugger auf. Albrecht erhielt nun vom Papst eine Lizenz zum Ablasshandel in sei-nem Erzbistum verliehen. Die dabei eingenommenen Gelder sollten zu 50 % an die Fugger als Kreditrückzahlung fließen, zu 50 % als Dank an den Papst zur Errichtung des Petersdomes. Als Ablasskommissar wurde der Dominikanermönch Johann Tetzel ausgewählt, der die Ablassbriefe gewinn-trächtig vermarktete. Luthers 95 Thesen Der deutsche Theologieprofessor Martin Luther (1483-1546) wurde zum vehementesten Kritiker des Ablasshandels und allgemein der herrschenden Missstände in der Kirche. Der Überlieferung nach am 31. Oktober 1517 veröffentlichte er in Wittenberg (Sachsen-Anhalt) seine 95 Thesen. Das Ziel Luthers war zunächst eine Reform innerhalb der katholischen Kirche und keine Spaltung. Die Kernaussagen Luthers lassen sich auf drei Punkte zusammenfassen: • Allein der Glaube zählt: Nicht Ablassgelder, sondern nur ein gottgefälli-

ges Leben führe in den Himmel. • Allein die Gnade Gottes bringe Vergebung: Luther nahm dabei die Leh-

ren des katholischen Kirchenlehrers Augustinus (354-430 n. Chr.) auf, wonach der Mensch nicht aus eigener Kraft gut sein könne, sondern nur durch die Gnade Gottes.

• Allein die Heilige Schrift sei maßgeblich: Die Lehre Christi werde allein durch die Heilige Schrift, nicht auch durch die Lehrmeinung der Päpste und das Kirchenrecht offenbart. Daher lehnten die Anhänger Luthers auch die verpflichtende Ehelosigkeit der Priester, den Zölibat, strikt ab, da dies nicht in der Bibel verankert sei. Wegen ihres starken Bezuges auf das Evangelium werden die Lutheraner auch „Evangelische“ ge-nannt.

Als gedruckte Flugschrift fanden die 95 Thesen innerhalb von wenigen Mo-naten rasch Verbreitung im gesamten deutschsprachigen Raum. Zentrum der neuen Lehre wurde die Universität Wittenberg. Aus dem gesamten deutschsprachigen Raum kamen Anhänger nach Wittenberg und brachten Luthers Schriften in ihre Heimat zurück.

Luthers 95 Thesen Die Legende, dass Lu-ther seine Thesen an der dortigen Stiftskirche anschlug, wird heute stark bezweifelt; viel-mehr dürfte er sie an andere gelehrte Theo-logen zur Diskussion ausgesandt haben. Mit 31. Oktober 1517 ist allein ein Brief an den Erzbischof von Mainz, Albrecht von Branden-burg, datiert.

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Politischer Druck auf Luther Der junge Kaiser Karl V. reagierte erst Jahre nach seinem Amtsantritt auf die Diskussionen um eine Kirchenreform, dann aber umso schärfer: Auf dem Reichstag zu Worms (1521) wurde Luther durch das so genannte Wormser Edikt geächtet. Während bei anderen Personen die Ächtung ei-nem Todesurteil gleichgekommen wäre, konnte Luther auf den Schutz sei-ner mittlerweile zahlreichen Anhänger bauen. Besonders Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen verteidigte ihn gegen alle Angriffe des katholischen Habsburgerkaisers. Er „entführte“ ihn 1521 zum Schutz auf die Wartburg bei Eisenach (Thüringen). Auch in Abwesenheit Luthers ließen sich die Anhänger der neuen Lehre nicht von den Drohungen Karls V. einschüchtern. 1529 protestierten sie feierlich dagegen, das Wormser Edikt von 1521 in voller Schärfe anzuwen-den, wonach die Verbreitung von Luthers Schriften untersagt war. Seitdem werden die Anhänger Luthers „Protestanten“ genannt. 1530 unternahm Karl V. am Reichstag zu Augsburg einen weiteren Versuch die Glaubenseinheit zu retten, der jedoch scheiterte: Die Protestanten legten ein noch klareres Bekenntnis zu ihrem Glauben ab, das Augsburger Bekenntnis. Reformation und soziale Unruhen Die Lage der Bauern, aber auch der Ritter hatte sich an der Wende zur Neuzeit zusehends verschlechtert. Im Jahr 1525 erhoben sich die Bauern gegen die Obrigkeit, indem sie Luthers Werk „Von der Freiheit eines Chris-tenmenschen“ in ihrem Sinn interpretierten. Allerdings reagierte Luther scharf auf die Vereinnahmung seiner Lehren. In der Schrift „Wider die mör-derischen und räuberischen Rotten der Bauern“ rief er die Fürsten auf, ge-gen die Bauern hart vorzugehen, damit sie nicht die von Gott eingesetzte Obrigkeit stürzen. Der Bauernkrieg endete somit nach Anfangserfolgen in einer totalen Niederlage der Bauern. Ihre Lage verschlechterte sich weiter, die Leibeigenschaft nahm in der Frühen Neuzeit noch zu. Pattstellung zwischen Katholiken und Protestanten Durch das Augsburger Bekenntnis war die Spaltung der Kirche endgültig besiegelt. Der Protestantismus hatte mittlerweile so viele Anhänger gefun-den, dass sich beide Seiten, Katholiken und Protestanten, die Waage hiel-ten. Im Jahr 1555 wurde zwischen dem Kaiser und den Landesfürsten der so genannte Augsburger Religionsfriede geschlossen; allerdings galt der Religionsfriede nur für die Lutheraner, nicht für die Anhänger anderer Re-formatoren. Nach dem Motto „cuius regio, eius religio“ (Wer das Land re-giert, bestimmt die Religion) gab in Zukunft der Landesfürst vor, ob ein Land katholisch oder protestantisch blieb. Den jeweils andersgläubigen Bewoh-nern blieb die Möglichkeit, entweder zum anderen Glauben überzutreten oder auszuwandern. Durch den Augsburger Religionsfrieden war der Pro-testantismus endgültig zur offiziell anerkannten Glaubensrichtung geworden. Der streng katholische Kaiser Karl V. empfand den Friedensschluss offen-sichtlich als schwere Niederlage: Er dankte 1556 zugunsten seines jüngeren Bruders Ferdinand ab und starb zwei Jahre später in einem spanischen Kloster. Zwingli und Calvin In Zürich bildete sich eine eigene reformatorische Bewegung um den Predi-ger Ulrich Zwingli. In „67 Schlussreden“ entwickelte er Vorschläge zur Re-form der Kirche, die vom Rat der Stadt Zürich im Jahr 1523 angenommen wurden. Zwingli wandte sich gegen Prozessionen sowie gegen die Vereh-rung von Reliquien und Bildern; von Seiten der Stadtverwaltung sollte kon-trolliert werden, ob die Bürger regelmäßig die Messe besuchten und ihre Pflichten in der Armenpflege wahrnahmen. Mehrmalige Versuche zu einer Einigung mit der lutherischen Lehre scheiterten, sodass sich eine eigene reformierte Kirche entwickelte. In Genf wirkte der französische Reformator Jean Calvin (1509-1564). Genf wurde in einen „Gottesstaat“ umgewandelt, in dem die Gemeinde sich selbst

Das Augsburger Be-kenntnis Bis heute wird die luthe-risch-reformierte Kirche als „evangelisch A. B.“ (= Augsburger Be-kenntnis) bezeichnet. Im Gegensatz dazu werden die Anhänger der Schweizer Reforma-toren Zwingli und Calvin als „evangelisch H. B.“ (= Helvetisches Be-kenntnis) bezeichnet. Luthers Bibelüberset-zung Auf der Wartburg fertig-te Martin Luther eine Übersetzung der Bibel ins Deutsche an. In den Augen der damaligen Katholiken war die Ü-bersetzung der Bibel ins Deutsche ein Verbre-chen, weil dadurch nach ihrer Ansicht die Heilig-keit der Bibel verloren ginge. Es handelt sich bei Luthers Überset-zung nicht um die erste Übertragung der Bibel ins Deutsche, aber um eine sehr wirkungsvolle: Sie erschien, illustriert mit Holzschnitten von Albrecht Dürer, 1534 in Druck und war rasch über den ganzen deut-schen Sprachraum ver-breitet. Sie war maß-geblich für die Heraus-bildung der neuhoch-deutschen Sprache. „Täufer“ Neben Luther, Zwingli und Calvin gab es im 16. Jh. noch zahlreiche weitere Reformatoren. Einige von ihnen lehn-ten die Taufe von Klein-kindern vehement ab und führten die Erwach-senentaufe ein. Diese Gruppen, die zumeist von den katholischen

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leitete und ihre Geistlichen wählte. Bilder und Altäre wurden aus den Kir-chen verbannt, Spiel und Tanz verboten. Der Gottesdienst konzentrierte sich auf Predigt, Gebet und Psalmen. Kritik an diesem System wurde brutal unterdrückt, auch Todesurteile waren nicht selten. Calvins Lehren verbreiteten sich auch in Frankreich und England, doch wur-den seine Anhänger in beiden Ländern von der Obrigkeit nicht geduldet. Jahrzehntelang wurden die französischen Calvinisten, die Hugenotten, ver-folgt. Grausiger Höhepunkt war dabei die „Bartholomäusnacht“ (1572), als in einer Nacht etwa 30000 Hugenotten in ganz Frankreich umgebracht wur-den. Die Anhänger Calvins in England, Puritaner genannt, wichen der stän-digen Unterdrückung aus und wanderten ab 1620 in großer Zahl nach Ame-rika aus. Der englische Sonderweg Während sich die Lehren Luthers, Zwinglis und Calvins deutlich von der katholischen Lehre abhoben, bestehen zwischen der anglikanischen und der katholischen Kirche kaum theologische Unterschiede. König Heinrich VIII. von England (1509-1547) spaltete die Kirche in England von der rö-misch-katholischen ab, als der Papst die Ehe mit seiner ersten Gattin nicht annullieren wollte. Heinrich gründete daraufhin eine Nationalkirche, bei der der König von England gleichzeitig Oberhaupt der Kirche ist. Nach Heinrichs Tod brach in England ein Bürgerkrieg um die Rekatholisierung des Landes aus, bis sich schließlich unter seiner zweiten Tochter Elisabeth I. (1558-1603) die anglikanische Kirche endgültig durchsetzte.

und protestantischen Obrigkeiten hart verfolgt wurden, werden unter dem Begriff „Täufer“ zusammengefasst.

Arbeitsfragen: • Welche Faktoren gewährten der Reformation Martin Luthers ihren Erfolg? • Fasse die Unterschiede zwischen Luther und den anderen Reformatoren zusammen! • Häufig spielten in sozialen Konflikten religiöse Argumentationen eine wichtige Rolle. Kennst du

Beispiele aus anderen Zeiten und aus der Gegenwart? Katholiken und Protestanten/Reformierte im heutigen Europa Das 16. Jh. hat auf weite Strecken die Verteilung der Konfessionen in Europa grundgelegt: Die Re-formation Martin Luthers, Ulrich Zwinglis und Jean Calvins brachte die endgültige Aufspaltung Zentral- und Westeuropas in zahlreiche Glaubensbekenntnisse. Rasch wurde der Protestantismus Luthers im gesamten Norden des Heiligen Römischen Reiches, besonders aber auch in Skandinavien verbreitet und hält dort, wie die Tabelle zeigt, bis heute fast eine Monopolstellung inne. Der Augsburger Religi-onsfriede von 1555, der durch den Westfälischen Frieden von 1648 nochmals bestätigt wurde, schuf die Basis dafür, dass es in den einzelnen Ländern des Heiligen Römischen Reiches jeweils eine aus-schließlich zu befolgende Konfession gab: katholisch oder protestantisch. Wer der „falschen“ Glauben-richtung folgte, musste nach den Bestimmungen des Religionsfriedens entweder konvertieren oder auswandern. Eine einzige Ausnahme bildeten die freien Reichsstädte (Nürnberg, Regensburg, Augs-burg, Ulm, Frankfurt, Dortmund, Bremen und andere), die direkt dem Kaiser unterstanden: dort galt weitgehend Religionsfreiheit. So ergab es sich, dass in katholisch dominierten Ländern wie Bayern die meisten Protestanten in der nächstgelegenen Reichsstadt Zuflucht suchten. Städte wie Nürnberg sind bis heute protestantisch dominiert, während das Umland katholisch geprägt ist. Für den Norden Deutschlands gilt Ähnliches mit umgedrehten Vorzeichen. Der habsburgische Raum wurde somit nach dem Augsburger Religionsfrieden rekatholisiert. Dies gilt nicht nur für Österreich, sondern auch für die Erblande der spanischen Habsburgerlinie: Belgien ist bis heute weitgehend katholisch geblieben; die Niederlande, die nach einem langen Unabhängigkeitskrieg 1648 schließlich aus dem Heiligen Römischen Reich herausgelöst wurden, haben trotz einer protes-tantischen Tradition bis heute einen sehr hohen Anteil an Katholiken aufzuweisen. In Deutschland spielt es eine maßgebliche Rolle, ob eine Region in früheren Zeiten einem katholischen oder einem protestantischen Fürstentum angehörte. Es wird deutlich, dass es heute in den nördlichen Bundeslän-dern zum Großteil Protestanten gibt, während Länder wie Bayern bis heute mehrheitlich katholisch geblieben sind. Bemerkenswert ist das im Norden gelegene Bundesland Nordrhein-Westfalen, das bis heute mehrheitlich katholisch geblieben ist: Die Wurzeln dafür liegen in den 1555 katholisch gebliebe-nen geistlichen Territorien dieser Region (Erzbistum Köln, Bistum Paderborn, Bistum Münster). Auch

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Niedersachsen weist auf diese Weise eine starke katholische Minderheit auf. Bei den Angaben für die östlichen Bundesländer ist natürlich zu bedenken, dass während der kommunistischen Herrschaft in der DDR zahlreiche Menschen aus der Kirche ausgetreten sind, sodass die Gesamtzahl der sich zu einer Konfession bekennenden Einwohner deutlich geringer ist. Was die reformierten Kirchen neben der protestantisch-lutherischen Kirche betrifft, so sind deren An-hänger, abgesehen von der Schweiz, heute auf viele Länder verstreut, machen aber selten einen gro-ßen Anteil aus: Die Calvinisten in Frankreich machen dort etwa 1,6% aus; Ähnliches gilt für diverse reformierte Kirchen in den heutigen Niederlanden. In Großbritannien dominiert bis heute die von König Heinrich VIII. begründete anglikanische Staatskirche, doch konnten sich gerade in Schottland und – durch schottische Kolonisten – in Nordirland zahlreiche calvinistisch geprägte Kirchen, v.a. die Presby-terianer, behaupten. Der Anteil der Katholiken in Großbritannien/Nordirland steigt heute wieder stark, sowohl in Nordirland, wo die Katholiken mittlerweile schon fast die Mehrheit erreicht haben, als auch in Großbritannien selbst, v.a. durch Zuwanderung aus der Republik Irland und die deutlich höhere Ge-burtenrate in katholisch-irischen Familien. Land Bevölkerung ges. Anteil Katholiken Anteil Protestanten Österreich 8,1 Mio 78,00% 5,00% Schweiz 7,1 Mio 46,10% 40,00%1 Deutschland – Bayern 10,9 Mio 67,24% 23,88% Deutschland – Nordrhein-W. 16,7 Mio 49,43% 35,18% Deutschland – Niedersachsen 7,2 Mio 19,56% 65,22% Deutschland – Berlin/Brand. 5,9 Mio 6,41% 24,97% Belgien 10,0 Mio 81,00% keine Angabe Niederlande 15,7 Mio 36,00% 26,00%2 Schweden 8,6 Mio 1,68% 89,00% Dänemark 5,3 Mio 0,61% 90,00% Großbritannien und Nordirl. 59,0 Mio 13,10%3 56,80 + 15,00%4 Italien 57,6 Mio 90,00% 0,09% Frankreich 58,8 Mio 81,00% 1,61%5 Quellen: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1999 (übernommen nach Hans-Georg Hofacker, Europa und die Welt um 1500, Berlin 2001, S. 150); Fischer Weltalmanach 2002 (CD-ROM Version). Religiöse Gruppen in Europa im 16. Jh.

Religiöse Gruppen in Europa im 16. Jh.

1 Großteils Anhänger der Reformation Zwinglis und Calvins. 2 Verschiedene reformierte Kirchen, 19% der Gesamtbevölkerung Protestanten. 3 Die meisten Katholiken wohnen in Nordirland, wo sie 47% der Bevölkerung stellen. 4 56,8% der Bevölkerung Großbritanniens und Nordirlands sind Anglikaner, weitere 15% sind verschiedenen reformierten Kirchen zuzuordnen, v.a der presbyterianischen Kirche, die in Schottland sogar Staatskirche ist und auch in Nordirland stark vertreten ist. Unter den Presbyterianern versteht man den Zusammenschluss mehrerer calvinistisch geprägter Reformkirchen, die ihre Glaubensrichtlinien schließlich 1647 in der „Westminster Confes-sion“ festlegten. 5 vorwiegend Calvinisten, nur geringe Zahl an Protestanten.

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Arbeitsaufgaben: • Versuche anhand der große Karte herauszufinden, wo sich im 16. Jh. der katholische Glaube

hielt, wo sich die Lehre Martin Luthers durchsetzte und wo sich weitere Reformatoren (Zwingli, Calvin, Täufer, Sonstige) verbreiteten!

• In welchen Gebieten Europas dominierte weder die katholischen noch die protestantisch-lutherische noch eine der sonstigen reformierten Kirchen?

• Betrachte die Karte: Welche Gebiete wurden nach dem Augsburger Religionsfrieden wieder ka-tholisch bzw. blieben es, welche protestantisch? Vergleiche diese Ergebnisse mit den Angaben der Tabelle, wo sich heute mehrheitlich katholische bzw. protestantische Bevölkerung befindet! Nimm für Deutschland eine aktuelle politische Karte hinzu und gehe nach Bundesländern vor!

Von der katholischen Erneuerung zum Dreißigjährigen Krieg Das Konzil von Trient Viel zu spät erkannte die Führung der katholischen Kirche die weit reichen-den Folgen der Reformation Martin Luthers und anderer Reformatoren. In vielen Teilen Europas waren 90 % der Bevölkerung zum Protestantismus übergetreten. Schließlich kamen die katholischen Bischöfe zum Konzil von Trient (1545-1563) zusammen. Immer wieder wurden die Beratungen für längere Zeit ausgesetzt, ohne dass Ergebnisse erzielt wurden. Außerdem dominierten auf dem Konzil vor allem die italienischen und spanischen Bi-schöfe, wo die Reformation am wenigsten Verbreitung gefunden hatte. Die Schlussdokumente des Konzils brachten keine grundlegenden Verände-rungen innerhalb der katholischen Kirche: Der Ablauf der Messe wurde neu gestaltet, blieb jedoch weiterhin in lateinischer Sprache; er behielt bis zum 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965) Gültigkeit. Weiters wurde ein Verzeichnis (Index) erstellt, welche Bücher in der katholischen Kirche verboten seien; darunter befanden sich auch zahlreiche, damals aktuelle Werke aus den Naturwissenschaften. Für die katholische Erneuerung und die Gegenre-formation hatte die Gründung des Jesuitenordens eine wesentliche Be-deutung. Verschärfte Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten Am Ende des 16. Jh. stritten sich zwei Brüder, die beiden Habsburger Ru-dolf II. (1576-1612) und Matthias (1612-1619), um die Herrschaft im Reich und in den habsburgischen Erblanden. In dieser Situation gelang es dem meist protestantischen Adel, sich immer wieder religiöse Zugeständnisse zu erkämpfen, weil sie die beiden Kontrahenten um die Kaiserkrone gegenein-ander ausspielten. Aufgrund der starken Position des protestantischen A-dels begann die vom Jesuitenorden getragene Gegenreformation in den katholisch verbliebenen Ländern erst gegen Ende des 16. Jh. zu greifen. In den habsburgischen Ländern nahmen 1579 eigene Reformationskommissi-onen die Rückführung der Bevölkerung zum katholischen Glauben in An-griff. Die Protestanten, die in diesen Ländern nach wie vor die Mehrheit stellten, wurden nach den Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens zum Übertritt zum katholischen Glauben oder zur Auswanderung gezwun-gen. Allgemein verschärfte sich nach 1600 der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten: Die protestantischen Länder im Heiligen Römischen Reich verbanden sich schließlich 1608 zur Protestantischen Union, die katholisch verbliebenen Länder 1609 zur Katholischen Liga. Besonders in Böhmen, wo der Anteil der Protestanten und anderer reformierter Gruppen groß war, wurden die Spannungen immer größer, denn die Habsburger schrieben als böhmische Könige die katholische Religion vor. Schließlich wurden in einem Streit auf der Prager Burg drei kaiserliche Beamte aus dem Fenster gewor-fen (Prager Fenstersturz). Die böhmischen Adeligen erkoren den protes-tantischen Kurfürsten Friedrich von der Pfalz zum böhmischen König, nach-dem sie den Habsburger Matthias in diesem Amt abgesetzt hatten. Der

Katholische Erneue-rung: Reformbestrebungen innerhalb der Kirche parallel zur Reformation Gegenreformation: zum Teil gewaltsame Wiedereinführung des katholischen Glaubens nach dem Augsburger Religionsfrieden in den Ländern, in denen ein katholischer Fürst re-gierte. Jesuitenorden Dieser Gemeinschaft, wurde nur wenige Jahre vor dem Konzil von Trient vom spanischen Offizier Ignatius von Loyola (1491-1556) gegründet. Die Jesuiten wurden mit der Durch-führung der Gegenre-formation betraut. Sie legten großen Wert auf hohe rhetorische Bil-dung, um ihre Gegner zu überzeugen. Ihr Wir-kungsbereich lag be-sonders in den Schulen. Prager Fenstersturz Die drei kaiserlichen Beamten überlebten den Sturz, weil sie auf einen Misthaufen fielen. Der Schreiber Fabricius wurde um seiner „Ver-dienste“ sogar geadelt erhielt den Namenszu-

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Dreißigjährige Krieg begann (1618-1648). Dreißig Jahre Krieg Die Heere der Habsburger gingen rasch gegen die böhmischen Protestan-ten vor. Der (Gegen-)König Friedrich von der Pfalz wurde schon 1620 in der Schlacht am Weißen Berg (westlich von Prag) besiegt. Die Habsburger errangen somit gewaltsam die böhmische Königskrone wieder und nahmen in der Folge den protestantischen böhmischen Adeligen viele Rechte. Mit brutaler Unterdrückung führten die habsburgischen Reformationskommissi-onen die Gegenreformation auch in Böhmen durch. Dabei wurde etwa ver-sucht, die Verehrung des „katholischen böhmischen Heiligen“ Johannes von Nepomuk unter der Bevölkerung zu verbreiten; er sollte als „Ersatz“ für den böhmischen Reformator Jan Hus sowie Martin Luther dienen. Der Krieg war mit dem Sieg der Habsburger über die aufständischen Böh-men noch lange nicht vorbei. Die Katholische Liga kämpfte gegen die Pro-testantische Union. Aus machtpolitischen und wirtschaftlichen Gründen grif-fen auch mehrere europäischen Großmächte auf der einen oder anderen Seite in den Krieg ein. Vor allem das protestantische Schweden unterstützte seine Glaubensgefährten. Auch Frankreich unterstützte die Protestanten, obwohl es katholisch war, doch erhofften sich König Ludwig XIII. (1610-1643) und der junge Ludwig XIV. (1643-1715) davon Landgewinne. Um die Söldnerheere zu bezahlen, verpachtete der Habsburgerkaiser Fer-dinand II. (1619-1637) Oberösterreich während des Krieges an Bayern. Die bayerischen Besatzer übten in dieser Zeit eine Schreckensherrschaft aus. Sie beraubten die Bauern, um sich selbst genug Nahrung zu verschaffen. Zusätzlich ließen sie die protestantischen Bauern nach einem Aufstand um ihr Leben würfeln (Frankenburger Würfelspiel). Im Jahr 1626 erhoben sich daher die oberösterreichischen Bauern unter Stefan Fadinger gegen die Bayern. Nach Anfangserfolgen wurde ihr Aufstand aber blutig niederge-schlagen.

Karte: Mitteleuropa im Jahr 1648 Der Westfälische Friede Viele Teile Europas, besonders aber Deutschland, wurden durch die dreißig Jahre Krieg völlig verwüstet. Als alle Seiten nicht mehr die geringste Motiva-tion zum Kriegführen besaßen, einigte man sich schließlich 1648 in einem großen Vertragswerk, dem so genannten Westfälischen Frieden – benannt nach den Städten Münster und Osnabrück in Westfalen, wo die Verträge unterzeichnet wurden – auf eine Neugestaltung Europas. Die wichtigsten

satz „von Hohenfall“. Johannes von Nepo-muk Dieser Heilige war unter dem böhmischen König Wenzel im 14. Jh. von der Prager Karlsbrücke gestoßen worden, weil er das Beichtgeheimnis nicht preisgab. Man findet daher seine Sta-tue noch heute auf vie-len Brücken im böh-misch-österreichischen Bereich. Söldnerheere Beide Seiten setzten alles daran, um ihre Söldnerheere finanzie-ren zu können. Die wichtigsten Söldnerfüh-rer erreichten mit der Zeit nicht nur militäri-sche, sondern auch politische Bedeutung, etwa der böhmische, katholische Graf von Wallenstein (Waldstein). Als er immer mächtiger wurde, verfolgte er of-fensichtlich eigene Plä-ne: die Vermutungen gehen von einem Pakt mit den Protestanten bis hin zum Streben nach der Kaiserkrone. 1634 wurde er unter mysteri-ösen Umständen er-mordet.

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Bestimmungen: • Die Schweiz und das Königreich der Niederlande wurden endgültig

selbstständige Staaten. Bisher hatten sie dem Heiligen Römischen Reich angehört.

• Alle Länder und Städte des Heiligen Römischen Reiches, deren Herr-scher direkt dem Kaiser unterstanden (= die Reichsstände), wurden weitgehend unabhängig. Sie erhielten beispielsweise das Recht, eigen-ständig mit ausländischen Mächten Verträge abzuschließen, sofern die-se nicht gegen das Reich gerichtet waren. Der Kaiser besaß somit kei-nerlei übergeordnete Macht mehr, es war nur noch ein Ehrentitel.

• Die Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens von 1555 wurden bestätigt. Der Landesfürst bestimmte also weiterhin, welche Religion seine Untertanen zu befolgen hatten.

• Frankreich und Schweden erreichten Gebietsgewinne.

Arbeitsfragen zum Text: • Was versteht man unter „katholischer Erneuerung“ und „Gegenreformation“? • Welche Konflikte führten zum Dreißigjährigen Krieg? Ging es während des Krieges tatsächlich

rein um den Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten? • Versuche, die Bestimmungen des Westfälischen Friedens anhand der Karte nachzuvollziehen! Materialien Die Rekatholisierung in Österreich Seit die drei katholischen Landesfürsten von Bayern, Tirol und Innerösterreich (Steiermark, Kärnten, Krain) sich 1579 in München zu einer Geheimkonferenz getroffen hatten – bezeichnender Weise unter Ausschluss Kaiser Rudolfs II. (1576-1612), war die Durchsetzung der katholischen Gegenreformation nur noch eine Sache der Zeit geworden. Erzherzog Karl II. von Innerösterreich beauftragte schließlich 1587 die ersten „Religionsreformationskommissionen“ mit der Wiederherstellung des katholischen Kirchen- und Schulwesens und der Einleitung der Rekatholisierung der Bevölkerung. Karl konzentrier-te sich dabei zunächst auf die Städte, während sein Sohn Ferdinand II. eine landesweite Gegenrefor-mation in Angriff nahm. Ferdinand war in Ingolstadt (Bayern) von Jesuiten erzogen worden. Schon 1596 bei seinem Regierungsantritt zog er die Religionszusagen von 1572/78 an den steirischen Adel zurück; noch 1596 huldigten ihm die steirischen Stände, 1597 die Stände von Kärnten und Krain und mussten dabei versprechen, sich im Sinne des Katholizismus zu verhalten. Unter der Leitung des Seckauer Bischofs Martin Brenner zogen von 1599 bis 1601 die „Religionsre-formationskommissionen“ in Begleitung von hunderten Soldaten durch das Land und führten regel-rechte Feldzüge gegen protestantische Bürger und Bauern durch. Evangelische Predigerhäuser, Kir-chen und Friedhöfe wurden zerstört, lutherisches Schrifttum in großer Zahl verbrannt. Auf dem ge-schilderten Zug der Religionsreformationskommission im Herbst 1599 durch die Obersteiermark dürfte Bischof Martin Brenner von Seckau noch nicht persönlich anwesend gewesen sein, sodass es zu großen Übergriffen der Soldaten gekommen sein dürfte; selbst von Leichenschändungen wird berich-tet. Durch die Verfolgung der Protestanten dürften zwischen 1598 und 1605 etwa 11000 Menschen aus Innerösterreich in andere Teile des Heiligen Römischen Reiches emigriert sein. „Berichte hiermit, dass wir mit den elfhundert Soldaten, die wir bei uns hatten, nicht nur die treulosen und meineidigen Eisenerzer (welche sich anfangs zwar nur durch ihr Gesinde zur Wehr gesetzt, als hätten sie keine Schuld daran), sondern auch die rebellischen Ausseer, dann die Gröbminger, Schladminger, … ja das ganze Ennstal auf einen Schlag reformiert, alle Prädikanten6 verjagt, katholi-sche Priester eingesetzt …, die Bücher der Sektierer7 von Haus zu Haus gesucht und überall unter den Galgen (von denen wir 14 haben neu aufstellen lassen) öffentlich verbrannt haben. Allein in Schladming wurden sektiererische Bücher für über 3000 Taler gefunden und in den Rauch geschickt. … Von allen reformierten Orten sind die vornehmsten Rädelsführer in Ketten nach Graz gebracht

6 Prediger in den reformierten Kirchen 7 Anhänger einer Sekte, hier: Protestanten

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worden. … Schließlich haben wir den Eisenerzern 150, den Ausseern 50 Soldaten auf ihre Unkosten als Stadtwache einquartiert. … Zur Sicherung dieser Reformation haben wir drei Kirchen der Sektierer … nach Wegnahme des Besit-zes bis auf den Grund verbrannt, niedergerissen und gesprengt: welches alles nun eine heilsame und der katholischen Kirche nützliche Verrichtung und eines ewigen lobwürdigen Gedächtnisses wohl wert ist.“ (Bericht der Kommissäre der Religionsreformationskommission über ihre Arbeit in der Obersteiermark, Herbst 1599; zitiert nach Hofacker, Europa und die Welt um 1500, S. 147) Arbeitsaufgaben: • Welches Bild ergibt sich nach dem Bericht von der Durchführung der Gegenreformation in der

Steiermark? Vergleiche auch das allegorische Bild zu Ferdinand II. von Innerösterreich im Haupt-text!

• Was geschieht mit den Schriften der Protestanten, was mit den Rädelsführern? Die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges im Bild Der Franzose Jacques Callot stellte in insgesamt 18 Radierungen die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges dar. Die Bauern waren die Hauptleidtragenden des Krieges, da sich die Söldnerheere durch Plünderungen ihre Nahrungsversorgung sicherten. Immer wieder kam es daher zu Racheaktionen der Bauern.

Jacques Callot, Die Rache der Bauern, Radierung 1633. Die Bildunterschriften Callots lauten (in deut-scher Übersetzung): „Es rotten sich die Bauern wider die Soldaten, von denen sie zu oft erlitten größten Schaden, sie lauern ihnen auf und schlagen jählings los, da liegen schon die Feinde ganz entseelt und bloß, so schrecklich rächen sie sich an den armen Toten fürs Hab und Gut, das sie durch deren Hand verloren.“ (Text zitiert nach Harm Mögenburg, „… wo wir hin nur schaun, ist Feuer, Pest und Tod“. Dreißigjähri-ger Krieg und Westfälischer Frieden, in: Geschichte lernen, Themenheft 65: 1648 (September 1998), Velber 1998, S. 10-18, hier S. 13) Arbeitsaufgaben: • Versuche die Details des Bildes genau zu erfassen • Welche Ziele könnte der Künstler mit dieser Darstellung verfolgt haben? Bevölkerungsverluste im Dreißigjährigen Krieg Die sozialen und demographischen Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges sind vermutlich größer gewesen als nach allen anderen großen Kriegen der Neuzeit. Nur durch die Pestepidemie in der Mitte

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des 14. Jh. wurde die Bevölkerung Europas noch stärker dezimiert. Aus dem Massensterben schlugen in der Folge vor allem die katholische und die protestantische Kirche Kapital, die die Situation ge-schickt nutzten, um alte Feindbilder zu prolongieren und einen „Ausweg“ in Wallfahrten und anderen religiösen Handlungen „anboten“.

Karte: Bevölkerungsverluste im Dreißigjährigen Krieg (erstellt von Thekla Fomiczenko-Beyer nach Franz, Geschichte des deutschen Bauernstandes, S. 178) Arbeitsaufgaben: • Welche Gebiete des Heiligen Römischen Reiches waren in besonderem Maße von den Kriegs-

handlungen betroffen, welche (fast) gar nicht? • Versuche – auch unter Berücksichtigung des Bildes von Jacques Callot – zu ergründen, welche

sozialen Folgen die Kriegshandlungen und Plünderungen des Dreißigjährigen Krieges für die Ge-samtbevölkerung mit sich brachten?

Die Karte zeigt sehr eindringlich, welche Gebiete des Heiligen Römischen Reiches besonders schlimm von den Kriegshandlungen betroffen waren. Zum einen fällt auf, dass der österreichische Raum von den Schlachten und Plünderungen weitgehend verschont blieb; allein das heutige Innviertel (damals noch zu Bayern gehörig) und die angrenzenden Gebiete in Oberösterreich wiesen erhebliche Verluste an Menschenleben auf. Ganz besonders aber waren der Südwesten Deutschlands (Würt-temberg, Pfalz), wo vor allem die Kriege zwischen kaiserlich-katholischen Heeren und Franzosen wüteten, und der Nordosten Deutschlands betroffen. In Mecklenburg und Pommern fielen große Ein-heiten der Schweden ein und plünderten in großem Ausmaß. „Ich bet’ zur heiligen Jungfrau, dass der Schwed’ nicht kommt“, wurde zu einem häufigen Stoßgebet in Deutschland. Die völlige Verwüstung Pommerns fand selbst in Kinderliedern Eingang: „Maikäfer flieg. Dein Vater ist im Krieg. Die Mutter ist in Pommerland. Pommerland ist abgebrannt. Maikäfer flieg.“

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Grundprobleme des Zeitalters des Absolutismus und der Aufklärung Der Gesellschaftsvertrag Der englische Staatstheoretiker Thomas Hobbes erzählt in seinem Hauptwerk „Leviathan“ wie es in grauer Vorzeit in der Gesellschaft zur Übergabe der Macht an einen einzigen Herrscher gekommen sei: Früher seien alle Menschen gleichberechtigt gewesen; jeder konnte bestimmen, was er wollte. Aus dieser Gleichberechtigung sei aber nur Chaos entstanden. Die Menschen hätten daher einen aus ihrer Mitte bestimmt, der in ihrem Namen das Gemeinwesen leitete. Die Nachfahren dieser Führer seien die Könige der Neuzeit, die von Gottes Gnaden dazu berufen seien, diese Ordnung weiter auf-recht zu erhalten und allein alle Gewalten im Staat innezuhaben. Die einstige Abmachung zwischen Volk und Herrscher wird Gesellschaftsvertrag genannt. Thomas Hobbes wurde mit seiner Erzählung vom Gesellschaftsvertrag zu einem der wichtigsten „Ideologen“ des Absolutismus: Der Herrscher sei durch die einstige Übergabe der Macht an ihn dazu berechtigt, ohne irgendeine Einschränkung zu regieren. Doch schon bald wurde dieser Gesellschaftsvertrag vom Engländer John Locke im Sinne der Aufklä-rung neu gedeutet: Der Herrscher habe durch den Vertrag den Auftrag erhalten, im Sinne des Volkes zu regieren. Tue er das nicht, so habe das Volk das Recht, sich einen besseren Regenten zu suchen.

Absolutismus In Frankreich und in anderen Staaten konnte der Herrscher seine Macht gegenüber dem Adel immer mehr ausbauen. War er bei der Steuereintreibung bisher auf den guten Willen der Adeligen angewiesen, die bisher auf ihren Gütern die Steuern einhoben, so übten jetzt Beamte diese Aufgabe im Namen des Herr-schers aus. Die Adeligen verloren damit ihr wichtigstes Druckmittel gegenüber dem Herr-scher. Der Herrscher regierte schließlich ab-solut, d.h. losgelöst von allen Einschränkun-gen.

Parlamentarismus In England konnten die Könige keine absolu-tistische Regierung durchsetzen. Nach jahre-langen Bürgerkriegen und der kurzfristigen Einführung der Republik mussten die Könige schließlich das Parlament als wichtige Kon-trollinstanz akzeptieren. Gesetze regelten die Aufteilung der Macht zwischen König und Par-lament.

Barock Die absolutistischen Herrscher entwickelten gemeinsam mit der Kirche eine Kultur, die zum Inbegriff des weltlichen und geistlichen Prunkes wurde: das Barock. Darunter fiel aber nicht nur die Baukunst oder die Malerei, son-dern auch die Kunst, unwiederholbare Feste zu inszenieren.

Aufklärung Zu Beginn des 18. Jh. begann sich im gebilde-ten Bürgertum eine Gegenbewegung zum Ab-solutismus zu formieren. Der Mensch sollte das Recht haben sich seines eigenen Vers-tandes zu bedienen. Damit verbanden die Bürger auch die Forderung nach politischer Mitsprache und persönlichen Freiheiten.

Aufgeklärter Absolutismus Die Ideen der Aufklärung beeinflussten seit der Mitte des 18. Jh. auch die Regierungspra-xis in Österreich, Preußen und Russland: Die Herrscher strebten nach Reformen im Sinne des Staates und des Volkes, gaben aber da-bei von ihrer absolutistischen Macht nur wenig ab. „Alles für das Volk, aber nichts durch das Volk!“ lautete die Devise.

Thomas Hobbes (1588-1679) studierte zunächst in Oxford und war dann mit Unterbrechungen zeit seines Lebens Hauslehrer der Grafen von Devonshire. Er floh 1640 vor dem englischen Bürgerkrieg nach Frankreich und wurde dort zum Lehrer des im Exil aufwachsenden späteren Königs Karl II. von England. 1651 kehrte er, von Oliver Cromwell geholt nach England zurück, ein Umstand, der ihm spä-ter nach der erneuten Machtübernahme der Royalisten (1660) häufig angekreidet wurde. Auf seinen Reisen durch Frankreich und Italien schloss er zahlreiche wissenschaftliche Kontakte, unter anderem mit Galileo Galilei und René Descartes. Beeinflusst von der Naturwissenschaft suchte er in all seinen Werken eine Herleitung aus der Vernunft und aus wissenschaftlich erzielten Erfahrungswerten. Diese

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Übertragung der naturwissenschaftlich-exakten Methode auf die Staatstheorie ist wohl die Hauptleis-tung von Thomas Hobbes. In seinem Hauptwerk „Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staa-tes“, das erstmals 1651 erschien, beschreibt er ausführlich den einstigen Urzustand der menschlichen Gesellschaft, in der alle Menschen gleich sind, aber nach Krieg, Eigennutz und Macht streben: „Homo homini lupus“ (Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf). Erst der Gesellschaftsvertrag bringe Ordnung in das Gesellschaftssystem. Es entstehe dadurch ein Staat als übergeordnetes System, als „Levia-than“, d.h. als „sterblicher Gott“. Die Menschen würden in der Folge die Ideen ihres Herrschers (als Repräsentanten des Staates) als ihre eigenen Ideen ansehen, auch was die Religion betrifft. Die Brei-tenwirkung von Thomas Hobbes in seiner Zeit sollte zwar nicht überschätzt werden, doch wurden seine staatstheoretischen Werke zum Ausgangspunkt einer naturwissenschaftlich-rationalen Staats-theorie. John Locke (1632-1704) entstammte einem puritanischen Elternhaus und genoss zunächst eine hu-manistische Ausbildung an der Westminster School in London; später studierte er in Oxford Philoso-phie und Medizin. Seine Interessen galten vor allem chemischen Versuchen; mit seinen Experimen-tierreihen begründete er den so genannten Empirismus, wonach Erkenntnis in erster Linie durch na-turwissenschaftlich exakte Versuche erlangt werden könne. neben seiner Tätigkeit als Naturwissen-schafter und Arzt bekleidete Locke auch zahlreiche Ämter in Politik und Verwaltung, bis er nach Ver-wicklungen in zahlreiche Intrigen nach Frankreich und später in die Niederlande fliehen musste. 1689 kehrte er schließlich auf Geheiß des neuen Königs Wilhelm von Oranien nach England zurück. In seinem 1689 erschienenen Hauptwerk „Über den menschlichen Verstand“ sowie im zweiten seiner „Two treatises of government“ (1690, dt. „Über die Regierung“) wandte sich Locke vehement gegen das göttliche Recht des Herrschers. Hingegen würden die Freiheit, Gleichheit sowie die Unverletzlich-keit von Person und Eigentum zu den unverrückbaren Grundrechten eines jeden Menschen gehören. Der Monarch, Oligarch oder eine demokratische Volksvertretung habe die Aufgabe eines obersten Schiedsrichters in der Gesellschaft; daher sei auch eine Trennung zwischen Exekutive (ausführende, regierende Gewalt) und Legislative (gesetzgebende Gewalt) anzustreben – die Ideen Montesquieus wären ohne John Locke wohl undenkbar gewesen. Das Volk habe zudem das Recht, einen gegen das Volk regierenden Tyrannen zu beseitigen, allerdings nur im Vertrauen darauf, dass Gott dieses Vor-gehen rechtfertige. Locke wurde damit zum wichtigsten Wegbereiter der aufklärerischen Staatstheorie.

Das System von Absolutismus und Merkantilismus in Frankreich Auf dem Weg zur unumschränkten Macht Im Spätmittelalter hatte sich der Konflikt zwischen dem Herrscher und den Adeligen zunehmend verstärkt. Wer dabei die Oberhand behielt, hing von zahlreichen Faktoren ab. Die vorläufige „Entscheidung“ darüber fiel im 16. oder 17. Jh.: In Frankreich und in Spanien setzten sich die jeweiligen Könige durch und konnten ihre Macht immer weiter ausbauen. Im Heiligen Römi-schen Reich behielten nach dem Westfälischen Frieden von 1648 endgültig die Reichsfürsten gegenüber dem Kaiser die Oberhand; sie wiederum konn-ten zumeist die Ansprüche der ihnen untergebenen Adeligen abwehren. In England hingegen misslang der Versuch, eine unumschränkte Herrschaft der Könige zu etablieren. Unter Absolutismus versteht man ein System von Herrschaft, bei dem der Herrscher losgelöst (= lateinisch absolutus) von Gesetzen und anderen Verpflichtungen uneingeschränkt regiert. Der Herrscher vereinigt in sich alle drei Staatsgewalten, die gesetzgebende Gewalt (Legislative), die ausfüh-rende Gewalt (Exekutive, d. h. Regierung und Verwaltung) und die Recht sprechende Gewalt (Jurisdiktion). Die theoretische Untermauerung des Absolutismus Die unumschränkte Herrschaft der Fürsten wurde auch durch staatstheore-tische Schriften untermauert. Schon im frühen 16. Jh. riet der Florentiner Staatsmann Niccolò Machiavelli (1469-1527) in seinem Hauptwerk „Der Fürst“ (1513), dass der Herrscher jedes Mittel anwenden könne, um seine Macht zu sichern und auszubauen. Das rechtfertige beispielsweise auch Vertragsbrüche. Berühmt wurde die Devise divide et impera! (Teile und

Hugenottenkriege Zwischen den Anhän-gern des Reformators Calvin in Frankreich, den Hugenotten, und den Katholiken tobte zwischen 1562 und 1598 ein erbitterter Bür-gerkrieg. Den Höhe-punkt bildete dabei die „Bartholomäusnacht“ (24. August 1572), als etwa 30000 Hugenotten in einer Nacht ermordet wurden. 1598 wurden die Hugenotten schließ-lich geduldet.

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herrsche!) – der Fürst solle danach trachten, seine Gegner untereinander zu entzweien. Der französische Staatstheoretiker Jean Bodin (1530-1596) ent-warf in seinem Hauptwerk „Über den Staat“ das Modell eines Staates mit einem uneingeschränkt herrschenden König. Bodin sah in einem gestärkten Herrscher den einzigen Weg aus den chaotischen Zuständen der Hugenot-tenkriege. Der Engländer Thomas Hobbes (1588-1679) entwickelte in sei-nem Hauptwerk „Leviathan“ (1651) die Theorie vom Gesellschaftsvertrag. Die Machtstellung des Königs wurde zusätzlich nach mittelalterlicher Tradi-tion „von Gottes Gnaden“ hergeleitet. Damit war er – zumindest aus seiner Sicht – von der Pflicht befreit, über seine Regierung Rechenschaft vor sei-nen Untertanen ablegen zu müssen. Aus der Betonung des Gottesgnaden-tums erklärt sich auch die enge Verbindung von absolutistischem Herrscher und der Kirche. Besonders in Frankreich, aber auch in anderen Staaten, hatten hohe Geistliche Schlüsselstellungen im Staat inne. Beamte, Kriege, Prachtentfaltung In Frankreich war die Dynastie der Bourbonen aus den Hugenottenkriegen als Siegerin hervorgegangen. Zahlreiche Konkurrenten um den Thron und viele hohe Adelige hatten während der Kriege ihr Leben oder einen Teil ihres Besitzes verloren. Verstärkt wurden königliche Beamte für die Einhe-bung der Steuern eingesetzt, eine Aufgabe, die bis dahin dem landbesitzen-den Adel zugefallen war. In den Generalständen, der Versammlung des Königs mit den Ständen in Frankreich, hatte der König stets die Adeligen zur Bewilligung und Einhebung von Steuern überreden müssen und ihnen dafür Zugeständnisse gemacht. Ab 1614 musste König Ludwig XIII. (1610-1643) die Generalstände nicht mehr zur Steuerbewilligung einberufen, die Adeli-gen hatten ihr wichtigstes Druckmittel gegenüber dem König verloren. Die enge Verbindung zwischen absolutistischem Herrscher und den Spitzen der Kirche war allgegenwärtig: wichtigster Berater Ludwigs XIII. war Kardi-nal Richelieu. Nach dem Tod Ludwigs XIII. leitete ein hoher Vertreter der katholischen Kirche, Kardinal Mazarin, die Regierungsgeschäfte für Ludwig XIV. (1643/61-1715), der als vierjähriges Kind auf den Königsthron kam. Nach dem Dreißigjährigen Krieg entflammten zwar weniger Kriege aus reli-giösen oder sozialen Gründen, doch traten an deren Stelle die so genannten Kabinettskriege. Gestärkt durch die Gebietsgewinne nach dem Dreißigjäh-rigen Krieg strebte Frankreich danach, die „natürlichen Grenzen Galliens“ wiederherzustellen; man spricht dabei von der Réunionspolitik (von franzö-sisch réunion = Wiedervereinigung). Damit waren insbesondere die nicht-französischen Gebiete westlich des Rheins gemeint. So geriet etwa 1681 die Stadt Straßburg unter französische Herrschaft. Im Spanischen Erbfolge-krieg (1701-1714), der nach dem Aussterben der spanischen Habsburger zwischen Frankreich und Österreich ausgebrochen war, erreichte Ludwig XIV. lediglich, dass eine Nebenlinie der Bourbonen in Spanien den Thron bestieg. Das Streben Ludwigs XIV. nach einer Vorherrschaft (Hegemonie) in Europa scheiterte letztlich am Widerstand der übrigen Mächte, die an einem Gleichgewicht der Kräfte interessiert waren. Der neue Herrschaftsstil zeigte sich auch in einer gewaltigen Prunkentfal-tung, was die königlichen Residenzen und die Hofhaltung betraf. Zunächst residierten die französischen Könige in Fontainebleau südlich von Paris. Ludwig XIV. ließ schließlich mit enormem Aufwand das Schloss Versailles westlich von Paris erbauen. Es blieb unerreicht an Größe und Prunk. Der Adel, der politisch entmachtet worden war, hatte entweder repräsentative Aufgaben am Hof inne (Hofadel) oder zog sich auf seine eigenen Besitzun-gen zurück, um sich dort ebenfalls höfischem Prunk sowie seinen grund-herrschaftlichen Aufgaben zu widmen. Das Wirtschaftssystem des Merkantilismus Die große Prachtentfaltung des absolutistischen Hofstaates, aber auch die zahlreichen Kriege und der Beamtenapparat verschlangen gewaltige Sum-men an Geld. Um die Staatskassen zu füllen, entwarf der königliche Finanz-berater Jean-Baptiste Colbert (1619-1683) das Wirtschaftssystem des Mer-

Kardinal Mazarin Der aus Italien stam-mende Mazarin (1602-1661, eigentlich Giulio Mazzarini) wurde nach dem Tod Kardinal Ri-chelieus (1642) leiten-der Minister der Bour-bonen. Kardinal Mazarin war es auch, der als Vormund Ludwigs XIV. den letzten Adelsauf-stand in den Jahren 1648-1653 zum Teil blutig niederschlagen ließ. Die Bewegung der so genannten Fronde, bestehend aus hohen Adeligen und Vertretern der Gerichtshöfe, hatte vergeblich versucht, dem Absolutismus Ein-halt zu bieten Kabinettskriege Im Kabinett, dem engs-ten Beraterstab des Königs wurde versucht, Eroberungskriege durch Erbansprüche oder sonstige Gründe zu rechtfertigen. Dabei wurden diese oft weit hergeholten „Kriegs-gründe“ von Hofhistori-kern aufgestöbert; im Kabinett wurden die Kriege geplant. Haupt-ziel war, das teure ste-hende Heer möglichst effizient zu nützen. Fontainebleau Seit dem frühen 16. Jh. residierten die französi-schen Könige in Schloss Fontainebleau südlich von Paris, bis Ludwig XIV. seine Resi-denz nach Versailles verlegte. Später nutzte Napoleon als Kaiser der Franzosen Fontaine-bleau erneut als Resi-denz. Manufakturen Ludwig XIV. gründete zahlreiche staatliche

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kantilismus, auch Colbertismus genannt. Hauptziel des Staates müsse es sein, seine Finanznot durch neue Einnahmequellen sowie eine effizientere Steuereintreibung abzuwenden. Der Staat solle zur Erreichung dieser Ziele massiv in die Wirtschaft des Landes eingreifen. Der Reichtum eines Landes wurde in dessen Besitz an Geld und Edelmetall gemessen; eine bessere Nutzung der eigenen Rohstoffreserven wurde an-gestrebt. Um eine aktive Handelsbilanz, d. h. mehr Exporte als Importe, zu erreichen, wurden zunächst die Importe durch hohe Schutzzölle und Ein-fuhrbeschränkungen eingedämmt. Innerhalb Frankreichs wurden hingegen alle Zollschranken beseitigt und gute Verkehrswege (Kanäle, Straßen) für den Handel errichtet. Rohstoffe, die in Frankreich nicht verfügbar waren, wurden aus den eigenen Kolonien billig beschafft. Im Mutterland selbst wur-den vor allem teure Luxusgüter für den eigenen Bedarf, aber auch für den Export erzeugt. Um die Produktion so billig wie möglich zu halten, errichtete man Manufakturen. Um die Transportkosten zur und von der Manufaktur zu senken, wurde das Straßen- und Kanalnetz ausgebaut. Weitere Maßnahmen zur Verringerung der Produktionskosten waren die Heranziehung von billigen Arbeitskräften aus Waisen- und Arbeitshäusern, die Verringerung der Feiertage sowie das Niedrighalten der Preise für landwirtschaftliche Produkte. Bald jedoch zeigten sich die Grenzen des Merkantilismus: Als auch andere Staaten Schutzzölle und Einfuhrbeschränkungen erließen, um ihre eigene Wirtschaft vor zu vielen Importen zu schützen, konnte auch Frankreich keine größeren Exportumsätze mehr verzeichnen. Nur für kurze Zeit konnte der Export in die eigenen Kolonien über dieses Absatzproblem hinweghelfen. Im System des Merkantilismus hatte man zudem eine wichtige, nämlich die zahlenmäßig noch immer größte gesellschaftliche Gruppe vernachlässigt: die Bauern. Durch niedrige Agrarpreise profitierten sie nicht vom allgemei-nen Wirtschaftsaufschwung. Viele Bauern zogen in die Städte, sodass die verbliebenen Bauern die wachsende Bevölkerung nicht mehr ernähren konnten: Hungersnöte unter den ärmeren Schichten waren die Folge. Als Ludwig XIV. starb, hinterließ er seinen Nachfolgern einen Staat, der prak-tisch bankrott war.

Gewerbebetriebe, in denen in Handarbeit (lateinisch manu facere = händisch verrichten), aber in Arbeitsteilung Luxusgüter wie Porzel-lan, Seide und Teppiche hergestellt wurden. Im Gegensatz zu den Fab-riken des 19. und 20. Jh. wurden aber noch keine Maschinen einge-setzt. Canal du Midi Der französische Archi-tekt Riquet errichtete zwischen 1666 und 1681 einen etwa 241 km langen Kanal, der quer durch Südwest-frankreich das Mittel-meer mit dem Atlantik verband. Steigungen wurden mit insgesamt 64 Schleusen, Hügel durch Tunnels und Flüsse mit 55 Wasser-brücken überwunden. Entlang des Kanals wurden etwa 100000 Platanen gepflanzt.

Arbeitsfragen zum Text: • Welche Faktoren führten dazu, dass die französischen Könige den Einfluss des Adels immer mehr

zurückdrängen konnten? • Fasse die wichtigsten Charakteristika des absolutistischen Herrschaftssystems zusammen! • Erkläre, wie im Wirtschaftssystem des Merkantilismus die Importe verringert und die Konkurrenz-

fähigkeit von Exportartikeln gesteigert werden sollten! Materialien Das Schloss Versailles – Inbegriff absolutistischer Prachtentfaltung Bis 1661 bestand im Sumpfgebiet von Versailles gerade ein kleines Jagdschloss König Ludwigs XIII., das zum Ausgangspunkt für den größten Palastbau Europas werden sollte. Ab 1661 beauftragte der junge König Ludwig XIV. zunächst den Baumeister Louis Le Vau, seit 1678 Jules Hardouin-Mansart, ein unerreichbares Schloss samt riesigem Garten zu errichten. 1678-1684 wurden die Prunk- und Wohnräume mitsamt dem berühmten Spiegelsaal fertiggestellt, 1710 die Hofkapelle. Die Bauarbeiten zogen sich auch noch durch das gesamte 18. Jh. hin und trieben Frankreich 1788 schließlich (mit) in den Staatsbankrott. Während der Französischen Revolution verfiel das unvollendete Schloss rasch, bis es der „Bürgerkönig“ Louis Philippe 1833/1837 zum Nationalmuseum machte. Schloss und Gar-tenanlagen sind heute als Weltkulturerbe durch die UNESCO geschützt. Besonderes Augenmerk verdienen auch die Gartenanlagen, die mitten im Sumpfgebiet errichtet wur-den. Schon 1661 begann der Gartenarchitekt Le Nôtre mit der Planung und dem Bau von Entwässe-rungskanälen. Die Anlage sollte gleichsam den Absolutismus nicht nur gegenüber den Untertanen,

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sondern auch gegenüber der Natur demonstrieren, ähnlich wie die französische Gartenarchitektur als Ganzes. Die Dimension der Gärten von Versailles wird ein wenig durch das zeitgenössische Gemälde von Pierre Patel (1668) sichtbar. Ebenso zeigt das Gemälde Details aus dem täglichen Hofzeremoniell: Im Vordergrund kommen zahlreiche Kutschen an bzw. verlassen das Schloss.

Bild: Schloss Versailles bei Paris aus der Vogelperspektive (Gemälde von Pierre Patel, 1668, Museum des Schlosses Versailles) Arbeitsaufgaben: • Beschreibe das Gemälde von Versailles möglichst exakt und detailgetreu! • Welche Details des Bildes weisen auf das Repräsentationsbedürfnis des Absolutismus hin? • Welchen Eindruck vermitteln die Gärten im Hintergrund? Wie sah deiner Meinung nach das Ver-

hältnis des Absolutismus zur Natur aus? Die Reglementierung des königlichen Privatlebens in Versailles Louis de Rouvroy Saint-Simon (1675-1755) gehört wohl zu den schonungslosesten Kritikern unter den am Hof zu Versailles angesiedelten Adeligen. Zwischen 1694 und 1752, also über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren, verfasste er Memoiren (wörtlich „Andenken“), die vor allem durch seine Augen-zeugenschaft einen hohen Quellenwert besitzen. Sie werfen ein bezeichnendes Licht auf das Hofze-remoniell am Ende der Regierung Ludwigs XIV. Ein Teil der Memoiren wurde schließlich 1788, am Vorabend der Französischen Revolution, veröffentlicht, die Gesamtausgabe von 1829/1830 umfasst nicht weniger als 21 Bände. In seinen Erinnerungen berichtet er durchaus kritisch über das Hofzere-moniell, das mit dem Aufstehen („Lever“) begann. „Des Morgens weckt ihn [den König] der erste Kammerdiener zu der von ihm bestimmten Stunde und der Reihe nach treten fünf Gruppen von Leuten ein, um ihre Aufwartung zu machen. Zuweilen sind die geräumigen Wartesäle nicht genügend, die Menge der Höflinge zu fassen. Zuerst kommt die ‚vertrau-liche Gruppe’, bestehend aus den königlichen Kindern, den Prinzen und Prinzessinnen von Geblüt, dem ersten Arzt, dem ersten Chirurgen und anderen nützlichen Personen. Dann folgt die ‚große Gruppe’; dabei befinden sich der Großkämmerer, die Kammer-Edelleute ... und verschiedene Diener.

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Man gießt dem König aus einer vergoldeten Schale Franzbranntwein auf die Hände und reicht ihm den Weihwasserkessel; er bekreuzigt sich und betet. Dann erhebt er sich vor der ganzen Gesellschaft aus dem Bette, zieht die Pantoffeln und den ihm vom Großkämmerer und vom ersten Kammer-Edelmann gereichten Schlafrock an und setzt sich auf den Ankleidesessel. In diesem Augenblick wird die dritte Gruppe hereingelassen, die teils aus Günstlingen, teils aus einer Menge von Dienstleuten ... zusammengesetzt ist. Auch die Nachtstuhlinspektoren fehlen nicht. ... Im Moment, da man den König anzukleiden beginnt, nähert sich diesem ... der erste Kammer-Edelmann und nennt ihm die Namen der vor der Tür wartenden Edlen. Diese treten als vierte Gruppe ein, die zahlreicher ist als die vorher-gehenden ... Der König wäscht sich die Hände und entkleidet sich allmählich. Zwei Pagen ziehen ihm die Pantoffeln aus; das Hemd wird vom rechten Ärmel vom Großmeister der Garderobe, beim linken vom Diener der Garderobe entfernt und einem anderen Garderobe-Beamten übergeben, während noch ein anderer Garderobe-Diener das frische Hemd ... herbeibringt, In diesem feierlichen Augen-blick, dem Gipfelpunkt der Handlung, wird die fünfte Gruppe eingelassen, die alles umfasst, was bis-her fehlte. ... Nach alldem erteilt jener [der König] Tagesbefehle.“ (aus den Memoiren von Louis Rouvroy de Saint-Simon, gekürzt; zitiert nach Rohlfes/Völker, Der früh-moderne Staat, S. 136) Arbeitsaufgaben: • Fasse das beschriebene Zeremoniell in seinen zahlreichen Schritten nochmals zusammen! Wie

viele Bedienstete sind zum Ankleiden des Königs nötig? • Kannst du Anhaltspunkte finden, dass der Autor mit einer gewissen Kritik und Ironie auf dieses

Zeremoniell blickte?

Kunst und Religion im Dienste der Macht: Das Zeitalter des Barock in den habsburgischen Ländern

Neuorientierung der Habsburger Durch den Westfälischen Frieden von 1648 änderte sich die Stellung der Habsburger: Die Kaiserwürde war nur noch ein Ehrentitel, denn seit 1648 durften alle Länder im Heiligen Römischen Reich Verträge aller Art mit aus-ländischen Mächten schließen, sofern sie sich nicht gegen das Reich richte-ten. Das Reich bestand somit aus etwa 360 weitgehend unabhängigen Staaten. Die Habsburger blieben aber durch ihre vielen Erblande dennoch sehr mächtig. Es gelang ihnen aber nie, in ihrem Herrschaftsgebiet eine derart absolutistische Macht zu entfalten wie die Bourbonen in Frankreich. Habsburger gegen Osmanen Die Kriege zwischen Habsburgern und Osmanen lassen sich nicht auf die beiden Belagerungen Wiens (1529 und 1683) sowie die Eroberungen der Habsburger in Ungarn nach der zweiten Belagerung beschränken. Seit sich das Osmanenreich nach der Schlacht von Mohács (1526) bis nach Ungarn ausgedehnt hatte und diese Gebietsgewinne ab 1541 durch die Eroberung Ofens (eines Teiles von Budapest) zusätzlich abgesichert hatten, war es zwischen den beiden Nachbarn immer wieder zu kriegerischen Handlungen gekommen: Nach einem Waffenstillstand im Jahr 1547 konnten die Habs-burger die Osmanen nur durch hohe Tributzahlungen in Schach halten. Das Geld für diese „Türkensteuer“ holten sich die Habsburger durch Sonderbe-steuerungen der eigenen Bevölkerung, doch erkauften sie die Steuereintrei-bung durch zahlreiche Zugeständnisse an der meist protestantischen Adel – einer der Gründe, warum die katholische Gegenreformation erst relativ spät in den Habsburgischen Ländern einsetzte. Zwischen 1593 und 1606 brach der Konflikt zwischen Habsburgern und Osmanen neuerlich im so genannten „Langen Türkenkrieg“ Kaiser Rudolfs II, (1576-1612) aus. Er konnte zwar die Vorherrschaft der Osmanen am Balkan und in Ungarn nicht schmälern, doch gelang es den Habsburgern im Frieden von Zsitvatorok (1606), die Tributzahlungen abzuschütteln. Die Habsburger kämpften in Ungarn aber nicht nur gegen die Osmanen, son-dern auch gegen einen protestantischen Adelsaufstand unter dem Sieben-

Eine Seeschlacht ge-gen die Osmanen 1571 konnte eine katho-lisch orientierte „Heilige Liga“ unter dem Kom-mando Don Juans d’Austria einen ent-scheidenden Seesieg über die Osmanen bei Lepanto (vor der West-küste Griechenlands erringen); dadurch wur-de die osmanische Vor-herrschaft zur See im östlichen Mittelmeer gebrochen. Dieser Krieg zeigt aber auch auf, dass es nicht nur die Habsburger waren, die in Opposition zu den Osmanen standen, sondern vor allem auch die Venezianer, die ihre

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bürger Fürsten Stefan Bocskai. Daraus leitet sich der in Österreich weit verbreitete Fluch „Kruzi Türken“ ab – von „Kuruzzen (die calvinistisch-protestantischen Ungarn) und Türken (= Osmanen)“. Mitte des 17. Jh. kam es erneut zu Zusammenstößen im westungarischen Gebiet, etwa 1664 bei Mogersdorf und St. Gotthard an der Raab, wo die Habsburger unter ihrem Feldherrn Raimund Montecuccoli siegreich blieben; dennoch konnte dieser Sieg die erneute Offensive der Osmanen und zahl-reiche Einfälle im Südosten des habsburgischen Herrschaftsgebietes (u.a. in der Steiermark) nicht zum Stoppen bringen. Im Jahr 1683 stießen sie erneut bis Wien vor und schlossen die Stadt ein. Nach zwei Monaten Belagerung brach in Wien eine Hungersnot aus. Doch rechtzeitig für die Wiener kamen zwei Heere zur Unterstützung: eine Armee aus dem Heiligen Römischen Reich und eine unter dem polnischen König Jan Sobieski. Vom Kahlenberg bei Wien aus wurden die osmanischen Truppen besiegt und in die Flucht geschlagen. Der Sieg der beiden Ent-satzheere aus dem Reich und aus Polen bei Wien am 12. September 1683 war zwar in jedem Fall ein Wendepunkt, mit Sicherheit aber noch nicht eine militärische Vorentscheidung zugunsten der Habsburger. Bis zur endgülti-gen Eroberung des historischen Königreichs Ungarn (inkl. der heutigen Slowakei, des westlichen Rumänien und Kroatiens) dauerte es noch mehr als 15 Jahre, bis schließlich im Frieden von Karlowitz (1699) der militärische Status quo besiegelt wurde. Durch die Eroberung Ungarns gelangte Wien ins Zentrum des Habsburgerreichs und wurde in der Folge groß ausgebaut. 1716-1718 kam es erneut zu einem Krieg zwischen Habsburgern und Os-manen. Nach der Eroberung der stark befestigten Stadt Belgrad im Jahr 1717 durch Prinz Eugen fielen damals auch die Gebiete südlich von Belgrad an die Habsburger, sodass das Habsburgerreich damals seine größte Aus-dehnung am Balkan erreichte; die Gebiete südlich von Belgrad gingen aber bald wieder verloren. An der Grenze des Habsburgerreiches wurde ein mili-tärisch organisierter Bereich geschaffen, den bewaffnete Bauern (Wehrbau-ern) verteidigten. Dazu wurde nicht nur die ansässige kroatische Bevölke-rung herangezogen, sondern auch Serben, die aus dem Osmanenreich flohen. Dadurch vermischten sich kroatisch-katholische und serbisch-orthodoxe Bevölkerung. Die Kriege Prinz Eugens zwischen 1716 und 1718 wurden aufgrund der militärisch spektakulären Einnahme der Festung Belgrad im Jahr 1717 bald zum Mythos, doch konnten die in diesem Krieg erworbenen Gebietsgewinne (Banat, Nordserbien und die Walachei) nur bis zum nächsten Krieg der Jah-re 1737-1739 gehalten werden. Die Habsburger hatten dabei weitgehend erfolglos in einen russisch-osmanischen Krieg auf der Seite Russlands ein-gegriffen; allein das Banat (die Gegend um Temesvár-Timişoara im heuti-gen Rumänien) konnte gehalten werden. Der Streit um das spanische Erbe Seit der Teilung der habsburgischen Erblande im Jahr 1522 existierten so-wohl eine österreichische als auch eine spanische Linie der Habsburger. Die spanische Linie starb im Jahr 1700 im Mannesstamm aus. Ihr letzter Vertre-ter, Karl II., galt als völlig unzurechnungsfähig, wohl eine Folge der zahlrei-chen Verwandtschaftsehen zwischen den beiden Habsburgerlinien. Um das Erbe brach zwischen Frankreich und den österreichischen Habs-burgern der Spanische Erbfolgekrieg (1701-1714) aus. Es ging dabei gleichzeitig auch um die Vorherrschaft in Europa. Auf der Seite der Habs-burger führte erneut Prinz Eugen die Truppen an, unterstützt von England, Portugal, Preußen und den Niederlanden. Kaiser Leopold I. (1656/57-1705) plante, seinen älteren Sohn Joseph I. in den österreichischen Ländern und im Reich nachfolgen zu lassen. Der zweite Sohn, Karl, sollte in Spanien eine neue habsburgische Dynastie begründen. Nach dem Tod Leopolds 1705 wurden diese Pläne auch umgesetzt. Die Lage veränderte sich aber, als der noch junge Römisch-Deutsche Kaiser Joseph I. im Jahr 1711 uner-wartet starb. Sein Bruder und Nachfolger Karl VI. (1711-1740) vereinigte damit nicht nur die Herrschaft im Reich und in den österreichischen Län-

Stützpunkte im östli-chen Mittelmeer absi-chern und ausbauen wollten. Friedliche Kontakte Das Verhältnis zwi-schen Habsburgern und Osmanen war durchaus nicht nur von kriegeri-schen Auseinanderset-zungen geprägt, son-dern auch von einem kulturellen Austausch, der bei aller habsburgi-scher Propaganda ge-gen „das Vorrücken der Muslime ins Abendland“ häufig übersehen wird. Von den Osmanen ü-bernahmen die mitteleu-ropäischen Länder bei-spielsweise die Militär-musik. Einzelpersonen wie der aus den spani-schen Niederlanden stammende habsburgi-sche Gesandte in Kon-stantinopel, Oghier Ghislain de Busbecq (1522-1592), trugen maßgeblich zum Kultur-transfer bei: Der leiden-schaftliche Botaniker brachte etwa die Tulpe, den Flieder und den Jasmin nach Europa; das „Nationalsymbol der Niederlande“ stammt somit eigentlich aus dem Osmanenreich. Ob auch die Wiedereinfüh-rung der in Europa da-mals schon ausgestor-benen Rosskastanie auf ihn oder seinen Nach-folger in Konstantinopel, Baron Ungnad, zurück-geht, ist zwar nicht rest-los geklärt, doch zeigt sich auch daran die Transferfunktion dieser Gesandten am Hof des Sultans in Konstantino-pel. Spanischer Erbfolge-krieg Die Kämpfe fanden vor allem in Norditalien, in

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dern, sondern auch die in Spanien und damit auch in den Spanischen Nie-derlanden (= Belgien) und in den Kolonien. England, das sich immer um ein Gleichgewicht der Kräfte in Europa bemüht war, zog sich folglich aus den Kampfhandlungen heraus. In den Friedensschlüssen von Utrecht (Niederlande, 1713) und Rastatt (Deutschland, 1714) wurde das Königreich Spanien mitsamt den Kolonien in Übersee einer Nebenlinie der Bourbonen zugesprochen, doch durften sich die Bourbonen in Frankreich und in Spanien nicht gegenseitig beerben. Österreich erhielt die Spanischen Niederlande (das heutige Belgien) und die Lombardei (das Gebiet um Mailand). Kameralismus – die österreichische Variante des Merkantilismus Karl VI. war noch ein typischer Vertreter des Absolutismus. Er benötigte dafür größere Einnahmequellen und versuchte deshalb den französischen Merkantilismus an die österreichischen Verhältnisse anzupassen. Dieses Wirtschaftssystem wurde Kameralismus genannt; es wurde dabei vor allem versucht, die Wirtschaft durch staatliche Förderungen zu stärken. Karl VI. unterstützte die Gründung von Handelskompanien, die für den Überseehan-del zuständig waren. Diese Handelsgesellschaften mussten aber auf Druck der westlichen Seemächte (England, Frankreich, Königreich Niederlande) bald wieder geschlossen werden. Zudem wurden in Österreich von staatli-cher Seite Seiden-, Porzellan- und Textilmanufakturen gegründet, in denen besonders Luxuswaren produziert wurden, um teure Importe zu vermeiden. Auch die berühmte Augarten-Porzellan-Manufaktur in Wien geht auf diese Zeit zurück. In Vorarlberg versuchte man sogar Seidenraupen zu züchten. Pietas Austriaca – „Österreichische Frömmigkeit“ im Dienste der Macht Neben den zahlreichen Kriegen gingen im 17. und 18. Jh. in den habsburgi-schen Ländern auch viele Seuchen um; mehrmals brach die Pest aus, bei der bis zu einem Drittel der Bevölkerung umkam. Die Kirche schlug aus der Angst vor dem Tod das meiste Kapital: Zahlreiche Menschen, allen voran das Kaiserhaus, gelobten den Bau von Pestsäulen und Kirchen; Wallfahr-ten, etwa nach Mariazell, hatten Hochkonjunktur. In der Barockkultur kam die überschwängliche Freude über die Besiegung der Osmanen und die Überwindung der Pest zum Ausdruck. Ganz beson-ders aber ging es auch um die eigene Repräsentation, egal ob das Kaiser-haus, Adelige oder die katholische Kirche die Auftraggeber waren: Kirchen und Klöster wurden unter oft gewaltigem Aufwand neu erbaut, ebenso herr-schaftliche Schlösser. Führender Baumeister und Architekt des österreichi-schen Barock war Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656-1723), auf den die Karlskirche in Wien, mehrere Adelspalais sowie der Prunksaal der Nationalbibliothek zurückgehen. Weitere wichtige Barockbaumeister in Ös-terreich waren Johann Lukas von Hildebrandt (Schloss Belvedere in Wien), Jakob Prandtauer (Stift Melk/NÖ) und Johann Michael Prunner (Dreifaltig-keitskirche Stadl-Paura). Die Sorge um den Fortbestand der Dynastie Karl VI. hatte die große Angst, dass sein Geschlecht wie in Spanien aus-sterben könnte. Er versuchte daher, durch die so genannte „Pragmatische Sanktion“ (1713) durchzusetzen, dass die österreichischen Erbländer unteil-bar und auch weibliche Erben voll erbberechtigt seien. Er musste allerdings die Anerkennung durch Zugeständnisse an die anderen Mächte in Europa teuer erkaufen. Tatsächlich hatte Karl keinen männlichen Erben: Die älteste Tochter, Maria Theresia, sollte ihm in den habsburgischen Erbländern nach-folgen. Maria Theresia heiratete im Jahr 1736 Franz Stephan von Lothringen. Ge-gen seinen Anspruch auf das habsburgische Erbe und gegen seine geplan-te Wahl zum römisch-deutschen Kaiser erhob sich besonders Karl Albert (Albrecht) von Bayern, der mit einer Tochter Kaiser Josefs I. – und somit einer Cousine Maria Theresias – verheiratet war. Mit Unterstützung Frank-

Deutschland und in den Niederlanden statt. Zu-meist war die Koalition um Österreich sieg-reich. Spanische Bourbonen Bis heute regiert die spanische Linie der Bourbonen als Könige das Land. Eine Unter-brechung der Herrschaft gab es nur zwischen 1931 und 1975: zu-nächst wurde die Repu-blik ausgerufen, nach einem blutigen Bürger-krieg (1936-1939) führte General Franco eine rechtsgerichtete Diktatur ein. Nach seinem Tod sollte der Bourbonen-prinz Juan Carlos die Diktatur weiterführen, doch dieser kehrte zur Königsherrschaft und Demokratie zurück. Barock: von portugiesisch bar-roco = unregelmäßige Perle. Kunststil des 17. und frühen 18. Jh., der sich vor allem durch Farbenpracht und Ver-spieltheit in der Form auszeichnet. Pestsäulen Kaiser Leopold I. gelob-te die Errichtung der Wiener Pestsäule und ließ keine Gelegenheit ungenützt, sich als Vor-bild für die katholisch-österreichische Volks-frömmigkeit darstellen zu lassen, so auch be-tend vor der Wiener Pestsäule am Graben. Karlskirche in Wien Die Karlskirche wurde an 1714 von Johann Bernhard Fischer von Erlach erbaut. Sie ist Sinnbild des Triumphes der katholischen Fröm-migkeit der Habsburger über die muslimischen Osmanen. Auf den bei-

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reichs und Preußens begann Bayern einen Erbfolgekrieg um die habsburgi-schen Länder. Maria Theresia bemühte sich zunächst erfolgreich, die Herr-schaft als Königin von Ungarn und Böhmen zu sichern. Nach einer kaiserlo-sen Zeit (1740-1742) wählten die Kurfürsten Karl Albert zum Kaiser (1742-1745). Damit wurde die rund 300 Jahre ununterbrochene Herrschaft der Habsburger als Kaiser im Heiligen Römischen Reich für kurze Zeit unterbro-chen. Die Herrschaft Karl Alberts war jedoch nur von kurzer Dauer, weil er zulassen musste, dass die österreichischen Truppen große Teile Bayerns besetzten. Allerdings verloren die Habsburger die im Norden gelegene Pro-vinz Schlesien an Preußen. Sie war wegen der großen Kohlevorkommen wirtschaftlich sehr wichtig. Im Jahr 1745 wurde Franz Stephan von Lothrin-gen schließlich doch von den Kurfürsten zum römisch-deutschen Kaiser gewählt.

den Säulen sind die Kriege Karls auf einem gewundenen Band dar-gestellt, ähnlich wie auf antiken Säulen für die römischen Kaiser Trajan und Mark Aurel in Rom.

Arbeitsfragen zum Text: • Fasse die wichtigsten Auseinandersetzungen der Habsburger mit Osmanen und Franzosen zu-

sammen! • Was versteht man unter der „Pietas Austriaca“ („Österreichischen Frömmigkeit“)? Materialien Habsburgische Gebietserweiterungen im 17. und frühen 18. Jh.

Europa um 1740 Arbeitsaufgaben: Versuche anhand der Karte den habsburgischen Besitz um 1740 herauszuarbeiten: • Welche Gebiete kamen durch die Kriege gegen die Osmanen hinzu, welche durch den Spani-

schen Erbfolgekrieg? • Welche Gebiete gingen zwischen 1739 und 1742 verloren?

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Der Absolutismus in Brandenburg-Preußen und Russland Im 17. und 18. Jh. bildeten sich immer klarer fünf Großmächte in Europa heraus, die um die Vorherr-schaft stritten, aber auch Interesse hatten, dass es bei einem Gleichgewicht der Kräfte blieb: Neben Frankreich, England und dem habsburgischen Imperium gewannen um 1700 vor allem Brandenburg-Preußen und Russland an Macht: a) Brandenburg-Preußen Im 17. Jh. stiegen die Hohenzollern zur wichtigsten Dynastie neben den Habsburgern im Heiligen Römischen Reich auf. 1618 hatten die Hohenzollern zu ihrer Herrschaft im Kurfürstentum Branden-burg auch Ostpreußen durch Erbschaft erhalten, weiters Gebiete am Rhein. Der „Große Kurfürst“ Friedrich Wilhelm (1640-1688) baute gegen den Widerstand der Stände einen fürstlichen Beamtenap-parat auf. Somit war vor allem die Finanzverwaltung den Ständen entzogen. In religionspolitischen Fragen nahm Friedrich Wilhelm eine tolerante Rolle ein: „In meinem Reich soll jeder nach seiner Façon glücklich werden!“, lautete seine Überzeugung. Mit Hilfe von niederländischen Einwanderern und von 20000 Hugenotten, die er in Brandenburg-Preußen nach ihrer Vertreibung aus Frankreich aufgenommen hatte (1685), verbesserte er die Landwirtschaft und erschloss neues Ackerland. Die eigene Wirtschaft wurde durch Einfuhrverbote geschützt. Mit dem gestiegenen Steueraufkommen wurde vor allem ein stehendes Heer aufgebaut. Der Nachfolger Friedrich Wilhelms, Friedrich III. (1688-1713), förderte die Künste und erbaute zahlrei-che Schlösser, sodass der Staatshaushalt arg in Mitleidenschaft gezogen wurde. 1701 krönte er sich selbst mit Zustimmung des Kaisers zum „König in Preußen“. Sein Sohn, König Friedrich Wilhelm I. (1713-1740), herrschte zwar ebenso im Sinne des Absolutismus, doch kehrte er zu einer äußerst sparsamen Hofhaltung zurück. Unter großem Aufwand sorgte er sich um eine Stärkung des Heeres und führte den „preußischen Drill“ ein. Er begründete damit das Bild vom preußischen Militarismus. Die Ausprägung des Absolutismus in Brandenburg-Preußen weist einige markante Parallelen, aber auch gravierende Unterschiede zum Absolutismus in den habsburgischen Ländern auf. Wie die Habs-burger konnten die Hohenzollern vom Kurfürstentum Brandenburg aus ihre Machtposition sowohl innerhalb (Besitztümer am Niederrhein) als auch außerhalb (Preußen) nach 1648 deutlich vergrößern. Mit der Königskrönung Friedrichs im Jahr 1701 rückten die Hohenzollern auch rangmäßig nahe an die Habsburger heran. Die wichtigsten Unterschiede betreffen vor allem den militärischen Bereich, wo der „preußische Drill und Militarismus“ für Jahrhunderte sprichwörtlich wurde, aber auch die Religionspoli-tik. Als erster Reichsfürst gewährte Kurfürst Friedrich Wilhelm weitgehende Religionsfreiheit und nahm Religionsflüchtlinge wie die Hugenotten aus Frankreich bereitwillig auf, um sie im Rahmen des Lan-desaufbaus gezielt einzusetzen. Bis heute sind diese französischen Einwanderer im Osten Deutsch-lands auch namentlich fassbar, man denke nur an den letzten Staatskanzler der DDR, Lothar de Me-zière. Die Habsburger verfolgten in den innerhalb des Reiches liegenden Erblanden eine konsequent katholische Politik, in der Toleranz das System der „Pietas Austriaca“ unterlaufen hätte. Hingegen war man bei der Ansiedelung von Protestanten in den neu eroberten Gebieten im Südosten durchaus toleranter. Aus den diversen (erzwungenen) Aussiedelungen von Protestanten aus den habsburgi-schen Ländern rühren die deutschsprachigen Sprachinseln in der heutigen Slowakei (Region um Zips) als auch in Siebenbürgen her. b) Russland In Russland regierte die Dynastie der Romanow als Zaren (1614-1762). Wirtschaftlich hinkte Russland weit hinter Europa nach. Erst unter der Herrschaft Peters I. des Großen (1689-1725) erfolgte eine militärische Ausdehnung und gleichzeitige Öffnung nach Westen. Durch einen klaren Sieg im Nordi-schen Krieg (1700-1721) gegen Schweden übernahmen die Russen die Vormachtstellung im Ostsee-raum. Peter bewunderte besonders den straff organisierten absolutistischen Staat Preußen. Er holte zahlreiche deutsche und andere westliche Berater ins Land und versuchte nicht ohne Gewalt, Russ-land zu europäisieren. Als neue Hauptstadt und als Tor zum Westen wurde 1703 St. Petersburg ge-gründet; das sumpfige Küstenland musste für die Errichtung der Stadt und die zahlreichen Paläste in der Umgebung erst kunstvoll trocken gelegt werden. Schrittweise erfolgte auch die Erschließung und Eroberung Sibiriens. Der Absolutismus in Russland hat andere Wurzeln als in Europa. Dennoch umgab die Öffnung nach Westen unter Zar Peter I. („dem Großen“) diesen russischen Absolutismus mit barock-europäischem Gewand: Die Idee für eine neue Hauptstadt St. Petersburg wurde von preußischen Beratern mitgetra-gen. Zunächst dominierte bei den frühen Barockbauten der deutsche bzw. niederländische Einfluss, bis man zwischen 1725 und 1760 unter dem Architekten Bartolomeo Francesco Rastrelli die Stadt im Stil des italienischen Spätbarock ausbaute. Die Schlösser in der Peripherie der Stadt (Peterhof, Puschkin, Pawlowsk) kommen wohl Versailles von allen europäischen Fürstenresidenzen am nächs-

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ten. Der deutsche Einfluss im neuen Russland manifestiert sich bis heute auch in einer Vielzahl deut-scher Fremdwörter im Russischen, von denen zahlreiche mit der barocken Kultur in Zusammenhang stehen: Landschaft oder Maßstab wurden deckungsgleich ins Russische übernommen – Spiegelbilder der damals aufkommenden Landvermessung; Friseur heißt bis heute auf Russisch „Parikmacher“, also Perückenmacher, ganz im Sinne der barocken Mode. Arbeitsaufgaben: • Vergleiche die Informationen des Kurztextes über Preußen mit der Karte: Welche Parallelen zwi-

schen Österreich und Brandenburg-Preußen ergeben sich, was die Ausdehnung ihrer Territorien betrifft?

• Welche Parallelen und welche Unterschiede kannst du zwischen den absolutistischen Regimes in Frankreich. Österreich, Preußen und Russland erkennen?

Der englische Sonderweg: Die Entwicklung des Parlamentarismus Der Kampf in England zwischen König und Parlament In England war die enge Verbindung von Staat und Kirche seit der Grün-dung der anglikanischen Kirche vorgegeben, weil der König bzw. die Köni-gin ihr Oberhaupt war. Unter Königin Elisabeth I. (1558-1603) setzte sich schließlich der Anglikanismus endgültig durch, nachdem Elisabeth ihre här-teste Widersacherin, die katholische Königin Maria Stuart von Schottland, hatte hinrichten lassen. Die Nachkommen Maria Stuarts, die nach dem Tod Elisabeths als Könige von England und Schottland an die Macht kamen, waren bereits zum Anglikanismus übergetreten. Die Stuart-Könige versuch-ten zwar, eine absolutistische Herrschaft nach dem Vorbild Frankreichs zu errichten, scheiterten aber am Widerstand des englischen Parlaments, das schon seit 1215 durch die „Magna Charta libertatum“ (Große Urkunde der Freiheiten) mit schriftlich festgelegten Rechten ausgestattet war. Die Gesellschaft in England war mehrfach zerrissen: Königstreue standen Parlamentstreuen gegenüber; zwischen Anhängern der anglikanischen Staatskirche, calvinistischen Puritanern und Katholiken kam es immer wie-der zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Eine Republik von religiösen Fanatikern Nach einem Bürgerkrieg zwischen Königstreuen und Parlamentstreuen (1642-1648) setzte sich schließlich das Parlamentsheer unter der Führung von Oliver Cromwell durch. 1649 schaffte Cromwell die Monarchie ab, ließ König Karl I. hinrichten und errichtete eine Republik, den so genannten Commonwealth (= Gemeinwohl). Beeinflusst von puritanischen Fanatikern ging Cromwell vor allem gegen die Katholiken im englisch beherrschten Irland vor. Er ließ zwar anfangs noch ein Rumpfparlament zu, errichtete jedoch 1653 unter dem Titel eines Lordprotektors eine blutige Militärdiktatur. Nach dem Tod Cromwells (1658) fand sich kein geeigneter Nachfolger, so-dass schließlich wieder die Monarchie eingeführt wurde. Die Wiedereinführung der Monarchie König Karl II. (1660-1685), der am Hofe Ludwigs XIV. von Frankreich im Sinne des Absolutismus erzogen worden war, verhalf der anglikanischen Kirche wieder zur Vorherrschaft; die Puritaner wurden verfolgt. Seine Versu-che, absolutistisch zu regieren und auch den Katholizismus wieder öffentlich zuzulassen, scheiterten am Widerstand des Parlaments. Im Jahr 1679 musste er der Habeas-Corpus-Akte zustimmen, in der die persönliche Frei-heit jedes Einzelnen gesichert und Schutz vor willkürlicher Verhaftung zuge-standen wurde. Als Karls Nachfolger Jakob II. (1685-1688) den katholischen Glauben und den Absolutismus in England wieder durchsetzen wollte, holte das Parlament den niederländischen König Wilhelm III. von Oranien ins Land. Jakob II. wurde 1688 in der so genannten „Glorreichen Revolution“ unblutig gestürzt und ins französische Exil geschickt. 1689 gestand Wilhelm in der Declaration of Rights dem Parlament Redefreiheit und das Recht auf

Parlament Seit dem 13. Jh. wurde in England der erweiter-te Rat des Königs als Parliament (von franzö-sisch parler = sprechen) bezeichnet. Das engli-sche Parlament besteht seitdem aus zwei Kammern, dem House of Lords, in dem Adelige kraft ihres Erbrechts vertreten sind, und dem House of Commons, in dem sich neben (ge-wählten) Adeligen auch Abgeordnete der Städte und Grafschaften befin-den. Im Spätmittelalter wurde das Parliament immer mehr zum Kon-trollorgan gegenüber dem König. König gegen Parla-ment Die Diskussion um Lord Stafford, der als „rechte Hand des Königs“ ver-sucht hatte, die Kompe-tenzen des Parlaments zu beschneiden (1640/41), ist sympto-matisch für die Gräben zwischen Königstreuen und Parlamentstreuen, die ab den 1630er-Jahren in England vor-herrschten. Da zu-nächst eine Anklage gegen Lord Stafford auf Hochverrat nach den geltenden Gesetzen

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Steuerbewilligung zu. England war damit zu einer konstitutionellen Mo-narchie geworden: Der Absolutismus war dem Parlamentarismus unterle-gen. Das Schicksal Irlands Irland stand seit 1170 unter englischer Herrschaft. Im 16. Jh. waren die meisten Bewohner Irlands katholisch geblieben. Da die Katholiken die Ein-führung der anglikanischen Staatskirche nicht anerkennen wollten, ging König Heinrich VIII. hart gegen sie vor. Seine Tochter Elisabeth I. intensi-vierte die Politik der „Plantations“ (Ansiedelungen): Anglikanische Siedler aus England und calvinistisch-presbyterianische aus Schottland wurden vor allem im Nordosten Irlands (dem heutigen Nordirland) angesiedelt und er-hielten Land auf Kosten der katholischen Bevölkerungsmehrheit. Unter dem Puritaner Oliver Cromwell kam es erneut zu zahlreichen Zerstö-rungen gegen katholische Kirche und Klöster, doch auch dadurch wandte sich die Bevölkerung nicht vom katholischen Glauben ab. Als der letzte Kö-nig aus dem Hause der Stuarts, Jakob II., nach der „Glorreichen Revolution“ zunächst Zuflucht bei seinen katholischen Getreuen in Irland suchte, kam es dort zu einem Bürgerkrieg, den die Truppen Wilhelms von Oranien schließ-lich gewannen.

ohne Erfolg blieb, schuf man ein eigenes neues Gesetz, das eine Verur-teilung ohne Beweiser-hebung möglich ma-chen sollte. Die radika-len Parlamentarier mo-bilisierten die Londoner Unterschichten zu Mas-sendemonstrationen, damit der König dem Gesetz zustimme. Schließlich wurde Lord Stafford zum Tod verur-teilt. Materialien Konstitutionelle Mo-narchie: Eine Verfassung (Kon-stitution) regelt die Auf-teilung der Macht zwi-schen König und Par-lament.

Arbeitsfragen zum Text: • Fasse die wichtigsten Stationen der Auseinandersetzungen zwischen König und Parlament zu-

sammen! • In welchen Auseinandersetzungen spielten dabei religiöse Konflikte eine Rolle? Materialien Absolutismus gegen Parlamentarismus Nach dem Tod seiner Mutter Maria Stuart in englischer Gefangenschaft (1587) bestieg Jakob I. zu-nächst den schottischen Königsthron. 1603 folgte er der englischen Königin Elisabeth nach und verei-nigte damit die beiden Königreiche von England und Schottland, eine Personalunion, die bis heute besteht. Während seine Erziehung durch den schottischen Humanisten George Buchanan (1506-1582) noch calvinistisch geprägt war, wandte er sich von dessen Ideen vom Herrschaftsvertrag und vom Wider-standsrecht rasch ab und entwarf in der anonym erschienenen Abhandlung „True Law of Free Monar-chies“ (Das wahre Recht der freien Monarchien) einen frühabsolutistischen Herrschaftsanspruch. Die Rechte des seit dem 13. Jh. bestehenden englischen Parlaments sollten auf ein Bitt- und Vorschlags-recht bei Gesetzen eingeschränkt werden. Er selbst als König habe hingegen die Macht und das Recht, Statuten nach seinem eigenen Gutdünken zu erlassen. Interessant ist auch der Hinweis, dass es zuerst den König gegeben habe und dann erst die Stände der Gesellschaft mitsamt ihren Vertre-tern. „ ... Die Könige von Schottland waren schon da, bevor es Stände oder Rangabstufungen innerhalb derselben gab, bevor Parlamente gehalten oder Gesetze gemacht wurden. Sie verteilten das Land, das ursprünglich in seiner Gesamtheit ihnen gehörte, sie riefen Ständeversammlungen durch ihren Befehl ins Leben, sie entwarfen Regierungsformen und richteten sie ein. Daraus folgt mit Notwendigkeit, dass die Könige Urheber und Schöpfer der Gesetze waren und nicht umgekehrt. ... Es entspricht diesen Fundamentalgesetzen, wenn wir Tag für Tag vor Augen sehen, wie im Parlament (das nichts anderes ist als der höchste Gerichtshof des Königs und seiner Vasallen) die Gesetze von den Untertanen lediglich beantragt, aber vom König allein, wenn auch auf ihre Bitte und mit ihrem Rat, gemacht werden. Der König erlässt auch täglich Statuten und Verordnungen mit

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Strafandrohungen ganz nach seinem Ermessen, ohne Beirat des Parlaments oder der Stände, aber kein Parlament hat die Macht, irgendein Gesetz oder Statut zu erlassen, ohne dass sein Szepter dabei mitwirkt und ihnen die bindende Kraft eines Gesetzes gibt. ... Und wie der König ganz offensichtlich oberster Herr des ganzen Landes ist, so ist er auch Herr über jede Person, die darin wohnt, und hat Gewalt über Leben und Tod einer jeden von ihnen. Zwar wird ein gerechter Herrscher keinem seiner Untertanen das Leben nehmen ohne eine klare Gesetzesbestimmung, aber dieselben Gesetze, kraft derer er es ihnen nimmt, hat er selbst oder haben seine Vorgänger erlassen, und so geht alle Gewalt jederzeit von ihm selber aus.“ (True Law of Free Monarchies, 1598, gekürzt; zitiert nach Dickmann, Geschichte in Quellen 3, S. 352) Aus der Declaration of Rights bzw. Bill of Rights Gut neunzig Jahre später und nach dem vielleicht turbulentesten Jahrhundert der englischen Ge-schichte stellte sich die rechtliche Basis für den König ganz anders dar. Nachdem der letzte Stuart-König Jakob II. 1688 vertrieben wurde (und sich für einige Zeit nur mehr im katholischen Irland be-haupten konnte), holte man das niederländische Prinzenpaar Wilhelm III. und Maria II. von Oranien ins Land, allerdings unter der Bedingung, allein den Anglikanismus zu befolgen und die Rechte des Par-laments anzuerkennen. Die vom Parlament entworfene Declaration of Rights (13. Februar 1689, Er-klärung der Rechte), die alle Grundrechte der englischen Bürger zusammenfasste, musste von Wil-helm und Maria vor der Wahl bestätigt werden und wurde als Bill of Rights zu einem der Grundgeset-ze der englischen Monarchie, das bis heute Gültigkeit besitzt. Die Bestimmungen der Declaration bzw. Bill of Rights richteten sich zum einen gegen den Absolutismus, andererseits auch gegen den Katholi-zismus (vgl. die Bestimmung, dass es allein Protestanten erlaubt ist, Waffen zu ihrer Verteidigung zu führen). Die Bill of Rights schuf somit die Grundlage für den Parlamentarismus in Großbritannien. „Die in Westminster versammelten geistlichen und weltlichen Lords und Gemeinen, die gesetzmäßige, vollständige und freie Vertretung aller Stände des Volkes in diesem Königreich, legten am 13. Tag im Februar im Jahr unseres Herrn 1689 Ihren Majestäten ... Wilhelm und Maria, Prinz und Prinzessin von Oranien, eine geschriebene Erklärung vor, welche von oben angeführten Lords und Gemeinen in fol-genden Worten ausgestellt wurde ...: Die angemaßte Befugnis, Gesetze oder die Ausführung von Gesetzen durch königliche Autorität ohne Zustimmung des Parlaments aufzuheben, ist gesetzwidrig. ... Steuern für die Krone oder zum Gebrauch der Krone ... ohne Erlaubnis des Parlaments für längere Zeit oder in anderer Weise, als erlaubt oder bewilligt wurde, zu erheben, ist gesetzwidrig. Es ist das Recht des Untertans dem König Bittschriften einzureichen und jede Untersuchungshaft sowie Verfolgung wegen solch einer Petition ist gesetzwidrig. Es ist gegen das Gesetz, es sei denn mit Zustimmung des Parlaments, eine stehende Armee im Kö-nigreich in Friedenszeiten aufzustellen oder zu halten. Den protestantischen Untertanen ist es erlaubt, Waffen zu ihrer Verteidigung gemäß ihrer Stellung und wie es das Gesetz gestattet zu führen. Die Wahl von Parlamentsmitgliedern soll frei sein. Die Freiheit der Rede und der Debatten und Verhandlungen im Parlament darf von keinem Gerichts-hof oder sonstwie außerhalb des Parlaments angefochten oder in Frage gestellt werden. ... In vollem Vertrauen, dass seine Hoheit der Prinz von Oranien seine diesbezügliche Erklärung erfüllen und sie gegen Verletzung ihrer hiermit zugesicherten Rechte sowie gegen alle sonstigen Angriffe auf ihre Religion, Rechte und Freiheiten schützen wird, beschließen die in Westminster versammelten geistlichen und weltlichen Lords und Gemeinen, dass Wilhelm und Maria ... König und Königin von England sein und als solche erklärt werden sollen ...“ (Declaration of Rights bzw. Bill of Rights, 13. Februar 1689, gekürzt; zitiert nach Dickmann, Geschich-te in Quellen 3, S. 494 f.) Arbeitsfragen: • Fasse die Hauptinhalte der Positionen Jakobs I. zusammen! • Fasse die Bestimmungen zusammen, die als Bedingungen für den Herrschaftsantritt Wilhelms III.

von Oranien vom englischen Parlament vorgelegt wurden! • Vergleiche beide Positionen: Was hat sich am Verhältnis zwischen König und Parlament im Laufe

des 17. Jh. verändert?

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Die Aufklärung: Staatstheorie, Wissenschaft und Kultur Die Aufklärung Schon bald nach der Durchsetzung des Absolutismus entstand als Gegen-bewegung die so genannte Aufklärung. Die Menschen sollten der Allgewalt von Staat und Kirche entzogen und bezüglich ihrer Rechte auf Gleichheit und Selbstbestimmung „aufgeklärt“ werden. Viele Wurzeln der Aufklärung gehen schon auf die Antike und den Humanismus zurück. Träger der Auf-klärung waren zumeist gebildete Bürger. Staatstheorie Angelpunkt der Kritik am absolutistischen System war der Gesellschaftsver-trag, den Thomas Hobbes zur Rechtfertigung der fürstlichen Allmacht he-rangezogen hatte. Der Engländer John Locke (1632-1704) interpretierte den Gesellschaftsvertrag dahingehend, dass er im Falle von groben Fehlleistun-gen des Monarchen auch durch das Volk aufgekündigt werden könne. Der Herrscher müsse sich somit andauernd um das Wohl des Volkes kümmern, da er ansonsten seiner Funktion als „oberster Schiedsrichter“ der politischen Gemeinschaft (= des Volkes) nicht mehr nachkomme. Es sei zudem für die Kontrolle der Macht des Herrschers sinnvoll, Legislative und Exekutive zu trennen. Weiters betonte Locke die Freiheit, Gleichheit und Unverletzlichkeit von Person und Eigentum. Im 18. Jh. mehrten sich besonders in Frankreich die Vertreter der Aufklä-rung. Montesquieu (1689-1755) entwickelte in seinem Hauptwerk „Vom Geist der Gesetze“ (1748) die Lehre von der Gewaltenteilung, wonach Le-gislative, Exekutive und Jurisdiktion getrennt und voneinander unabhän-gig sein müssten, um Machtmissbrauch zu verhindern. Jean-Jacques Rousseau leitete aus dem Gesellschaftsvertrag ab, dass im Zweifelsfalle das letzte Wort, die Souveränität im Staat, beim Volk und nicht beim König liege. Kritik an der Religion Unter den Vertretern der Aufklärung finden sich auch mehrere, die massive Kritik nicht nur an der Kirche, sondern auch am christlichen Glauben übten. In Frankreich reichte das Spektrum der Gotteskritik von harscher Kritik an der Kirche und an der Glaubenspraxis bis hin zur völligen Leugnung eines Gottes: Julien Offray de Lamettrie (1709-1751) ging sogar so weit, im Men-schen eine „Maschine“ zu sehen; alles geistige Leben des Menschen sei vom körperlichen abhängig und daher sei auch Gott eine Erfindung. Seine radikalen Positionen zwangen ihn, Frankreich zu verlassen und nach Preu-ßen zu fliehen. Weiters forderten die Aufklärer religiöse Toleranz gegenüber Andersgläubi-gen und die Respektierung menschlicher Grundrechte, wie beispielsweise der Meinungsfreiheit. Der französische Schriftsteller und Philosoph Voltaire (1694-1778) trat gegen jede Form von religiösem Fanatismus ein. Das brachte ihn in Kontakt mit König Friedrich II. von Preußen, der um die Mitte des 18. Jh. der mit Abstand aufgeschlossenste Herrscher war, was die Ge-danken der Aufklärung betraf. Die Forderung Voltaires nach religiöser Tole-ranz fand schließlich ihre Wirkung in den Toleranzpatenten von 1781/1782, durch die in Österreich die Protestanten, Griechisch-Orthodoxen und Juden ihre Religion frei ausüben durften. Das Interesse an der Natur Auch die Natur rückte während der Aufklärung immer mehr ins Zentrum des Interesses. Während im Zeitalter der Glaubensspaltung Naturkatastrophen zumeist als Strafe Gottes gedeutet wurden, begann man die Welt nun ratio-nal, d. h. vernunftbezogen zu deuten: Privatpersonen beobachteten das Wetter und führten darüber Aufzeichnungen. Als im Jahr 1755 ein verhee-rendes Erdbeben die portugiesische Hauptstadt Lissabon völlig zerstörte, bot dieses Ereignis gelehrten Kreisen für mehrere Jahre Stoff für Diskussio-

Die drei Gewalten im Staat: Legislative: gesetzge-bende Gewalt Exekutive: ausführende Gewalt (Regierung und Verwaltung) Jurisdiktion: richterli-che Gewalt Jean-Jacques Rous-seau Rousseau (1712-1778) stammte aus Genf aus einer calvinistischen Familie und lebte seit 1742 zumeist in Paris. Neben seinen staats-theoretischen Schriften verfasste er auch Werke zur Musik. Johann Jakob Scheuchzer Im 18. Jh. war es selbst für aufgeklärte Gelehrte wie Scheuchzer (1672-1733) nicht denkbar, an der Rolle Gottes als Schöpfer zu zweifeln. Ebenso konnte man sich Funde von ausge-

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nen. Die ausführliche Berichterstattung in Zeitungen und Flugblättern mach-te das Erdbeben außerdem zum ersten gesamteuropäischen Medienereig-nis. Auch Naturwunder aller Art erregten damals großes Interesse und man suchte nach Erklärungen: So führte der Schweizer Gelehrte Johann Jakob Scheuchzer Fossilienfunde im Gestein und urgeschichtliche Knochenfunde auf die biblische Sintflut zurück. Zoologen und Botaniker versuchten die Natur bis ins letzte Detail in Klassen einzuteilen: das System des schwedi-schen Naturforschers Carl von Linné (1707-1778) hat bis heute weitgehen-de Gültigkeit. Aufklärung und Pädagogik Die Aufklärung sah eine ihrer wesentlichen Aufgaben in der Belehrung des Volkes. Damit rückte auch die Pädagogik als eigene Wissenschaft in den Blickpunkt. Jean Jacques Rousseau und andere forderten vor allem eine bessere Schulbildung; die Forderung nach der Einführung der allgemeinen Schulpflicht wurde bald auch von den Regierenden aufgegriffen. Der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) versuch-te die theoretischen Ansätze der Pädagogik in die Praxis umzusetzen: prak-tische „Anschauung“ sei höher einzuschätzen als das „Buchwissen“. Er gründete zu diesem Zweck ein Waisenhaus und eine Versuchsschule. Er ging wie andere Aufklärer davon aus, dass eine gute Erziehung die positi-ven Seiten in einem Menschen besser entfalten lasse. Wissenschaft im Dienste des Staates Gefördert von den Regierungen ihrer Zeit dehnten sich die Forschungen der Gelehrten auf immer neue Bereiche aus. So beschäftigte sich der deutsche Statistiker Johann Peter Süßmilch (1707-1767) erstmals mit Fragen des Bevölkerungswachstums. Der aus Udine stammende Mathematiker, Astro-nom und Landvermesser Johann Jakob von Marinoni gab in Wien den Anstoß zu einer flächendeckenden Kartierung der habsburgischen Länder. Er entwickelte dafür auch Methoden zur Landaufnahme in schwer zugängli-chem Gelände. Es dauerte bis in die 1820er-Jahre, bis diese genauen Kar-ten, der so genannte Kataster, für die gesamte Habsburgermonarchie fer-tiggestellt war. Blatt für Blatt wurde jeder Acker, jedes Haus mitsamt der Anzahl an Bewohnern und jede unbebaute Fläche eingetragen. Mit dieser Landaufnahme sollte ermittelt werden, wie viele Menschen in der Habsbur-germonarchie lebten, wie hohe Steuern sie aufgrund ihres Besitzes leisten mussten und wie viele junge Männer im Falle eines Krieges zum Wehr-dienst rekrutiert werden könnten. Auch in der Ökonomie (= Wirtschaftswissenschaft) kam es zu neues Ansät-zen: Nachdem das System des Merkantilismus bald an seine Grenzen ge-stoßen war, entwickelte der Franzose François Quesnay das Wirtschafts-system des Physiokratismus. Demnach gebe es einen natürlichen Wirt-schaftskreislauf, der aus einer Kette von Tauschhandlungen zwischen den sozialen Klassen besteht. Die in der Landwirtschaft tätigen Menschen, die „produktive Klasse“, erwirtschaftet Güter, die von der „Klasse der Grundei-gentümer“ in Umlauf gesetzt werden. Eine dritte Gruppe, die „unproduktive Klasse“ (Handwerker und Händler), konsumiert die Agrargüter. Die Produk-tion und der Handel mit landwirtschaftlichen Produkten solle daher durch staatliche Wirtschaftsreformen gefördert werden. Im Gegensatz zum Mer-kantilismus wurde im Physiokratismus somit vor allem die Rolle der Land-wirtschaft für den Wohlstand eines Landes betont. Wissenschaft für das Volk Während die Naturwissenschafter des 16. und 17. Jh. ihre Kenntnisse nur einer kleinen wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich machten, strebten die Forscher des 18. Jh. nach einer möglichst großen Breitenwirkung. Zum einen wurden die Bürger ermuntert, selbst zu forschen. Zum anderen ver-fassten zahlreiche Gelehrte auch allgemein verständliche Fassungen ihrer Abhandlungen; Voltaire und andere ließen wissenschaftliche und philoso-phische Inhalte in vereinfachter Form in ihre Briefe an Adelige und Bürger

storbenen Tierarten nur so erklären, dass diese bei der Sintflut umge-kommen seien. Pädagogik: griechisch „Anleitung der Knaben“; die Lehre von Bildung, Erziehung und Unterricht Johann Jakob Mari-noni Durch die Pionierleis-tungen Marinonis (1676-1755) wurde die öster-reichische Landvermes-serkunst (Geodäsie) international führend. Für die Kartierung der habsburgischen Lande wählte man eine mar-kante Linde unweit von Kremsmünster (OÖ); der Baum trug seitdem den Namen „Baum mit-ten in der Welt“. Die Encyclopédie Die beiden französi-schen Gelehrten Jean Le Rond d’Alembert und Denis Diderot gaben 1751-1772 gemeinsam die „Encyclopédie“ her-aus, ein umfangreiches Lexikon, in dem alle naturwissenschaftlichen und philosophischen Errungenschaften der Aufklärung gesammelt waren.

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einfließen. Auch gebildete Frauen gehörten zu den Empfängern solcher Briefe. Öffentliche Vorführungen von physikalischen und chemischen Ver-suchen wurden zu gern gesehenen Attraktionen im bürgerlichen Milieu. Auch wenn die Verbreitung von wissenschaftlichen Ergebnissen immer noch nur eine kleine gebildete Schicht von Bürgerinnen und Bürgern er-reichte, so war dennoch der Anfang zu einer „Volksbildung“ gemacht.

Arbeitsfragen zum Text: • Welche Ideen verfolgten die aufgeklärten Staatstheoretiker? Vergleiche diese mit den Theoreti-

kern des Absolutismus! • In welchen Bereichen der Wissenschaft machte sich der Geist der Aufklärung ganz besonders

bemerkbar? • Auf welche Weise waren die Gelehrten der Aufklärung im Dienste der damaligen Staaten tätig? Materialien Neue Ansätze in der Pädagogik Der deutsche Gelehrte August Ludwig Schlözer (1735-1809) richtete seine historischen Studien nicht nur an ein wissenschaftliches Fachpublikum, sondern er wollte damit „die Geschichtskunde unter den großen Haufen bringen“. Besonders die Erziehung und Bildung von Kindern spielt in seinen Werken eine große Rolle. Sein Ziel war es, die Kinder durch hohe Bildung zu selbstbewussten BürgerInnen zu erziehen. Erstes „Versuchsobjekt“ war dabei seine 1770 geborene Tochter Dorothea, die schon als Kind zahlreiche Fremdsprachen erlernte und mit 17 Jahren an der Universität Göttingen das Doktorat der Philosophie erwarb. Die Prüfung musste sie als Frau allerdings in einem Privathaus ablegen und auch ihre eigene Ernennung zur Doktorin (der ersten des deutschsprachigen Raumes) durfte sie nur durch ein Fenster von außen verfolgen. Die „Vorbereitung zu Weltgeschichte für Kinder“ verfasste August Ludwig Schlözer 1779 für Kinder ab zehn Jahren; sie sollten durch dieses Buch mit der Ge-schichte und den Gedanken der Aufklärung vertraut gemacht werden. „Es ist ein sonderbares Ding um den Menschen. Sein ganzer Unterschied vom Tiere besteht nicht darin, dass er Vernunft hat, sondern dass er Vernunft kriegen kann. Vernunft bringt kein Mensch mit auf die Welt. Ein neugeborenes Kind hat so wenig Vernunft als ein neu ausgekrochenes Hühnchen. Der Unterschied ist nur, dass das Hühnchen schlechterdings nie Vernunft kriegen kann; das Kind aber kann es, je nachdem mit ihm verfahren wird. Keine Nachtigall wird Philomelenmäßig8 singen, wenn sie es nicht von andern Nachtigallen hört und lernt. … Ebenso wird kein Mensch sprechen, weder Deutsch noch Französisch sprechen, wenn er es nicht von anderen hört und lernt; sonst gibt er keine anderen als tierische Töne von sich. Kein Kind wird auf zwei Beinen gehen, wird drei zählen können, wird vernünftig werden, wenn es nicht unter anderen bereits vernünftigen und also reden könnenden Geschöpfen aufwächst. … Erwachsene Leute also kultivieren die jungen, menschliche Eltern machen ihre Kinder menschlich. Die Kultur ist (in gutem Verstande) ansteckend, wie Pest und Pocken (in schlimmem). Sind die Alten klug, so werden es die Jungen; sind jene dumm, so bleiben es auch diese. Kann dann ein Kind stricken und spinnen lernen, wenn im ganzen Lande niemand ist, der stricken und spinnen kann? – Aber auch, sind die Alten Diebe und Räuber, so stehlen auch die Kinder und haben nichts Arges daraus. Und fressen jene gar Menschen, nun so werden die Kinder auch kleine Menschenfresser und haben nichts Arges daraus.“ (August Ludwig, Schlözer, Vorbereitung zur Weltgeschichte für Kinder, Teil 1, § 32, Göttingen 1779, gekürzt; zitiert nach Heese/Schoo, „Er heißt Adam und nicht Herr von Adam“, S. 63) Arbeitsaufgaben: • Welche Fähigkeit unterscheidet aus der Sicht des Autors die Menschen von den Tieren?

8 Philomele, die Tochter des athenischen Königs Pandion, wurde Zeugin einer Schandtat ihres Gatten Tereus, der ihr deswegen die Zunge herausschnitt, damit sie über das Gesehene nicht reden könne. Philomele wurde schließlich von den Göttern in eine Nachtigall verwandelt. Diese Verwandlungssage aus der griechischen Mytho-logie ist in den „Metamorphosen“ des Ovid überliefert, einem der wichtigsten Werke im Lateinunterricht.

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• Welchen Sinn hat aus der Sicht des Autors eine gute Erziehung und Vorbildwirkung seitens der Eltern für deren Kinder? Teilst du seine Meinung?

Die Encyclopédie Kaum ein anderes Werk versinnbildlicht den Geist der Aufklärung mehr als die unter der Leitung der französischen Schriftsteller und Philosophen Jean Le Rond d’Alembert (1717-1783) und Denis Diderot (1713-1784) herausgegebene „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“ („Enzyklopädie oder wohlbegründetes Lexikon der Wissenschaften, der Künste und des Handwerks), das 1751-1772 in Paris erschien. Schon 1777/78 wurde die dritte Auflage des Monumen-talwerks verlegt. Rasch wurde die „Encyclopédie“ als autoritative Sammlung all dessen angesehen, was unter Aufklärung zu verstehen sei: Zu den 22 Lexikonbänden erschienen in den Jahren 1762 bis 1777 insgesamt 13 Tafelbände mit Kupferstichen. Einen besonderen Stellenwert nehmen bei den in der Encyclopédie enthaltenen Abbildungen die technisch-mechanischen Errungenschaften der dama-ligen Zeit ein. Zudem sind in der Encyclopédie zahlreiche Artikel zu den Grundsätzen der Aufklärung publiziert.Neben naturwissenschaftlich-technischen Abschnitten (mit hervorragenden Kupferstichen zu alten Handwerken und damals moderner Technologie) sind auch die philosophischen und politisch-staatstheoretischen Beiträge von großer Bedeutung, nicht zuletzt, wenn sie aus der Feder Diderots, Voltaires oder Rousseaus selbst stammten. Die „Encyclopédie“ wurde nicht nur für eine ganze Gattung an Nachschlagewerken namengebend, sondern fand auch zahlreiche Nachahmer in der Spätzeit der Aufklärung sowie im 19. Jh.: Parallel bzw. sogar etwas früher erschien im deutschsprachigen Raum Johann Heinrich Zedlers „Großes voll-ständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste“ (1731-1754) in 64 Bänden; die „Öko-nomisch-technische Enzyklopädie“ (1773-1858) von Johann Georg Krünitz umfasste gar 242 Bände und die „Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste“ (1818-1889) von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber brachte es immerhin auf 167 Bände. In der Anlage von Enzyklo-pädien spiegelt sich auch das in der Aufklärung populäre Streben nach universaler Gelehrtheit wider, wie es in Deutschland um 1800 Johann Wolfgang von Goethe oder Alexander von Humboldt verkör-perten. Denis Diderot über das Verhältnis des Staates zu Religion und Aberglauben „Soll der Gesetzgeber die Religion als Haupttriebfeder in der Regierungsmaschine benutzen? ... Macht der Gesetzgeber aus der Religion eine Haupttriebfeder des Staates, so gibt er notwendiger Weise den Priestern ein allzu großes Ansehen und dadurch werden sie bald ehrgeizig. In den Län-dern, in denen der Gesetzgeber sozusagen die Religion mit der Regierung verschmolzen hatte, hat man gesehen, wie die Priester, nachdem sie Einfluss gewonnen hatten, den Despotismus9 förderten, um ihre eigene Autorität zu vermehren. Sobald diese Autorität fest begründet war, haben die Priester den Despotismus bedroht und ihm die Knechtung der Völker streitig gemacht. Schließlich wäre die Religion eine Triebfeder, deren Wirkungen der Gesetzgeber nicht immer voraus-sehen könnte und deren Beherrschung ihm nichts gewährleisten kann. Dies genügt wohl als Begrün-dung dafür, dass er die hauptsächlichen Verfassungs- und Zivilgesetze und ihre Vollziehung unab-hängig vom Kult und von den religiösen Dogmen10 macht; doch soll er die Religion achten und lieben und dafür sorgen, dass sie geliebt und geachtet wird. Nie darf der Gesetzgeber die Neigung der menschlichen Natur zum Aberglauben vergessen; er kann damit rechnen, dass es Aberglauben zu allen Zeiten und bei allen Völkern geben wird. Der Aberglau-be wird sich sogar der wahren Religion immer beimischen. Die Kenntnisse und die Fortschritte der Vernunft sind die besten Mittel gegen die se Krankheit unserer Gattung; aber da sie bis zu einem ge-wissen Punkt unheilbar ist, verdient sie viel Nachsicht.“ (Denis Diderot, Encyclopédie, Bd. 9, Paris 1765; zitiert nach Diderot, Philosophische und politische Texte in der „Encyclopédie“, S. 218 f.). Arbeitsfragen: • Welche Gefahren ergeben sich nach Ansicht des Autors beim Zusammenspiel von Staat (Gesetz-

geber) und Kirche? Wie steht der Autor allgemein zur Religion? • Welches Mittel schlägt der Autor zur Überwindung des Aberglaubens in der Bevölkerung vor?

9 Herrschaft eines Despoten (Gewaltherrschers). 10 Feste Lehrmeinungen.

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• Die „Encyclopédie“ betont vor allem die Technik und ihre Bedeutung. Suche Hinweise, dass auch in dieser staatstheoretischen Passage eine „technisierte“ Sichtweise der Welt durchklingt!

Der ausgewählte Text von Diderot gibt eine der „Hauptpositionen“ der französischen Aufklärung zum Verhältnis von Staat und Religion wieder: Beide hätten zur Sicherung der Macht ein enges Bündnis eingegangen, wobei manchmal nicht ganz deutlich werde, ob der Staat die Kirche oder die Kirche den Staat mehr zum eigenen Vorteil ausnutze. Diderot spricht sich daher für eine Trennung von Kirche und Staat aus, gesteht aber der „wahren Religion“ durchaus ihren Nutzen und ihre Existenzberechtigung zu. Interessant ist auch seine Position zum „Aberglauben“, worunter neben dem Aberglauben im heutigen Sinn auch ganz allgemein die barocke Volksfrömmigkeit zu verstehen ist: Der Aberglaube sei wie eine Volkskrankheit, der man nur mit der Vernunft wirkungsvoll begegnen könne. Dies gilt etwa auch für die damals häufigen Diskussionen über Naturkatastrophen und Wetteranomalien: Waren dies einfach Launen der Natur, die man naturwissenschaftlich erklären, wenn auch manchmal nicht vorhersagen konnte – oder war es die Strafe Gottes für irgendein Vergehen? Bei diesen Auseinandersetzungen darf nicht vergessen werden, dass die Aufklärung im 18. Jh. nur eine gebildete Bürgerschicht, also eine kleine Minderheit der Bevölkerung erreichte, während der Großteil der Bevölkerung weiterhin dem „Aberglauben“ (im Sinne der aufgeklärten Gelehrten) verhaftet war. Schließlich kommt in der Textstelle auch die „technisierte“ Weltsicht der Aufklärung sprachlich zum Tragen. Der Staat (Diderot spricht immer neutral vom „Gesetzgeber“) sei eine Maschine, deren Haupt-triebfeder in vielen Ländern die Kirche darstelle. Die ganze Natur, der ganze Kosmos laufe wie ein Uhrwerk nach einem inneren Plan. Bei radikalen Materialisten wie Lamettrie (La Mettrie) führte dies bis zu der Ansicht, dass der Mensch nichts anderes als eine Maschine sei („l’homme machine“), des-sen geistige Fähigkeiten allein von den körperlichen ausgingen.

„Alles für das Volk, aber nichts durch das Volk!“ – Der aufgeklärte Absolutismus in Preußen und Österreich

Aufgeklärter Absolutismus in Brandenburg-Preußen Das Königreich Preußen wurde in der ersten Hälfte des 18. Jh. weiterhin absolutistisch regiert; militärische Disziplin herrschte nicht nur in den Kaser-nen, sondern auch in allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Auch der neue König Friedrich II. (1740-1786) änderte daran nicht viel: Bei seiner Herrschaft schloss er jede Mitsprache des Adels oder der Bürger aus; seine Residenz Sanssouci („Ohne Sorge“) in Potsdam bei Berlin baute er ganz im Stil absolutistischer Fürsten zu einem Prunkschloss aus. Andererseits herrschte in Brandenburg-Preußen seit dem ausgehenden 17. Jh. eine weitgehende Religionsfreiheit. Damit war ein erster Anknüpfungs-punkt an die Ideen der Aufklärung gefunden. Friedrich interessierte sich persönlich für die Aufklärung und stand sogar in einem regen Briefkontakt mit dem französischen Philosophen Voltaire. Unter dessen Einfluss führte Friedrich in Brandenburg-Preußen die allgemeine Schulpflicht ein, sorgte sich um Krankenhäuser und die tolerante Aufnahme Fremder. Bei aller ab-solutistischer Machtfülle wollte er der „erste Diener seines Staates“ sein. Somit verbanden sich in Friedrichs Herrschaft absolutistische und aufkläre-rische Züge. Diese Art der Regierung, bei der nur von oben gelenkte aufklä-rerische Maßnahmen geduldet wurden, bezeichnet man als „aufgeklärten Absolutismus“. Auch die Regierungsweise Maria Theresias (1740-1780) sowie ihrer Söhne Josef II. (1765/80-1790) und Leopold II. (1790-1792) war zugleich aufgeklärt und absolutistisch; ebenso folgte die russische Zarin Katharina II. (1762-1796) dem Beispiel Friedrichs. Der österreichisch-preußische Gegensatz Nach den Kriegen um die Nachfolge Kaiser Karls VI. im Heiligen Römischen Reich und in den habsburgischen Erbländern herrschte zwischen Österreich unter Maria Theresia und Brandenburg-Preußen unter Friedrich II. ein Spannungsverhältnis. Beide waren 1740 an die Macht gekommen und wa-ren ursprünglich auch für eine gemeinsame Ehe bestimmt gewesen. Fried-

Königin Maria There-sia Häufig wird Maria The-resia als „Kaiserin“ be-zeichnet, doch ist dies nicht korrekt. Kaiser des Heiligen Römischen Reiches konnte nur ein Mann werden; die Gat-tin führte nicht den Kai-sertitel – im Gegensatz zu dem seit 1804 be-stehenden Kaisertum Österreich. Hingegen war Maria Theresia in den habsburgischen Erbländern Königin von Ungarn, Böhmen, etc. Der „stille“ Kaiser Im Jahr 1745 übernahm Maria Theresias Gatte Franz Stephan als Kai-ser Franz I. die Herr-schaft im Heiligen Rö-mischen Reich. Er stand damit zwar rangmäßig

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rich II. war für Maria Theresia in vielen innen- und außenpolitischen Berei-chen sowohl Konkurrent als auch Vorbild: zum einen wollte die Habsburge-rin die wichtige Provinz Schlesien zurückgewinnen, zum anderen ahmte sie immer mehr die Reformen Friedrichs nach. Nach dem Ende des Österreichischen Erbfolgekrieges 1748 verbündete sich Österreich mit Frankreich. Auf der anderen Seite rückten Brandenburg-Preußen und England näher zusammen; somit entstanden zwei große Machtblöcke in Europa. Im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) versuchte Maria Theresia nochmals, Schlesien zurückzugewinnen. Friedrich II. konnte sich mit Mühe gegen die österreichischen Armeen behaupten, sodass schließlich Schlesien bei Brandenburg-Preußen blieb. England und Frank-reich bekämpften sich auch in den Kolonien in Nordamerika; daher könnte man erstmals von einem „Weltkrieg“ sprechen. Frankreich verlor dabei alle seine Kolonien in Nordamerika (Louisiana, Québec) an England. Maria Theresias Reformen im Inneren Nach den Niederlagen im Österreichischen Erbfolgekrieg wurde das habs-burgische Heer von Grund auf modernisiert. Zur Ausbildung der Offiziere schuf Maria Theresia die Militärakademie in Wiener Neustadt. Während des Siebenjährigen Krieges war die österreichische Armee der preußischen immerhin schon ebenbürtig. Zur besseren Verwaltung der habsburgischen Erbländer wurden unter Maria Theresia mehrere Reformen durchgeführt. Bisher hatten alle Länder des Habsburgerreiches Verwaltungsstrukturen gehabt, die historisch gewachsen waren. Jetzt wurden diese vereinheitlicht: an die Stelle der einzelnen Länder trat ein einheitlicher, zentralistischer Staat. Im Steuerwesen wurde eine je-weils für zehn Jahre gültige Vorschreibung der Steuer eingeführt. Maria Theresia führte auch die allgemeine Steuerpflicht ein; bisher hatten Adelige und Geistliche keine Steuern zu bezahlen. Auch das Strafrecht änderte sich: So schaffte Maria Theresia unter dem Einfluss von Josef Freiherr von Sonnenfels 1776 die Folter ab; das Straf-gesetz wurde vereinheitlicht. Nach preußischem Vorbild führte Maria There-sia die allgemeine Schulpflicht ein und sorgte sich um Sozial- und Gesund-heitseinrichtungen: staatliche Spitäler, Armenhäuser und Gebärhäuser wur-den errichtet. Im wirtschaftlichen Bereich unterschied sich Österreich wenig von den übri-gen Staaten: Schutzzölle wurden zur Förderung der eigenen Wirtschaft ein-geführt, das Verkehrsnetz ausgebaut. Die Zünfte, die seit dem Mittelalter darüber wachten, dass nicht zu viel Konkurrenz innerhalb eines Handwerks aufkomme, verloren durch Verordnungen zahlreiche Kompetenzen. 1781, kurz nach dem Tod Maria Theresias, wurde im Sinne des Physiokratismus die Leibeigenschaft der Bauern abgeschafft, doch blieben die Bauern wei-terhin von ihrem Grundherrn abhängig. Gebietserwerbungen Maria Theresia umgab sich mit mehreren einflussreichen Beratern, allen voran Kanzler Wenzel Graf Kaunitz, der für eine aktive Außenpolitik sorgte. Er war es auch, der das Bündnis mit Frankreich schloss. Bei der Teilung Polens im Jahr 1772 „erbeutete“ er Galizien und Lodomerien (das heutige Südpolen) für die Habsburger. Am Ende der Regierungszeit Maria Theresi-as brach schließlich 1779 der Erbfolgekrieg um Bayern aus, der aber nach einigen Scharmützeln auf diplomatischem Weg beendet wurde. Österreich erwarb dabei das Innviertel. Joseph II. – Reformen der Kirche durch den Staat Nach Franz Stephans Tod folgte dessen ältester Sohn, Joseph II., als Kai-ser nach (1765-1790). Zwischen 1765 und 1780 regierten Maria Theresia als Herrscherin in den österreichischen Ländern und Joseph II. als Kaiser bzw. Mitregent nebeneinander – oder manchmal auch gegeneinander. Jo-seph II. war in einem deutlich größeren Ausmaß von den Ideen der Aufklä-rung beeinflusst und suchte nach radikalen Reformen. Dieser Gegensatz

über seiner Gattin, doch hatte Maria Theresia als Herrscherin in den habsburgischen Erblän-dern viel mehr reale Macht. An der Seite der stets aktiven Maria The-resia blieben seine Tä-tigkeiten eher unauffäl-lig: Mit der Einführung des Maria-Theresien-Talers schuf er eine Silbermünze, die in manchen Gegenden der Erde bis ins 20. Jh. als Zahlungsmittel diente. Als Förderer der Wis-senschaften und der Künste rief er mehrere Sammlungen ins Leben: ein Naturalienkabinett (der Kern des Naturhis-torischen Museums in Wien), ein physikalisch-astronomisches Kabi-nett und ein Münzkabi-nett. Einige Sammlun-gen machte er auch der Öffentlichkeit zugäng-lich: die Hofbibliothek (heute Nationalbiblio-thek) steht seit seiner Regierungszeit allen Gelehrten offen. Auch der 1752 gegründete Tiergarten Schönbrunn, der älteste öffentliche Tiergarten der Welt, geht auf Franz Stephan zurück. Joseph Freiherr von Sonnenfels Der zum Christentum übergetretene Jude Sonnenfels (1733-1817) wurde zu einem der wichtigsten Berater Maria Theresias und ihres Sohnes Joseph II. Durch das strenge Hof-zeremoniell durfte er allerdings als Jude der Königin Maria Theresia nie persönlich begeg-nen. Jede Kommunika-tion fand schriftlich oder über Boten statt.

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wurde vor allem im religiösen Bereich spürbar. Noch ganz im Sinne ihrer Vorgänger gestattete Maria Theresia der Kirche großen Einfluss auf die Politik und auf das Alltagsleben der Menschen, aber sie wollte die Kirche ganz in den Dienst des Staates stellen: Alles was die Kirche tat, musste dem Staat nützlich sein. Den Juden gegenüber war Maria Theresia aus religiösen Gründen sehr intolerant. So wies sie im Jahr 1745 alle Juden aus Böhmen aus. Erst nach dem Tod seiner Mutter konnte Joseph II. radikale Reformen im religiösen Bereich durchführen. 1781 gestattete er im Toleranzpatent die freie Religi-onsausübung für Protestanten und Griechisch-Orthodoxe, ein Jahr später auch für die Juden. Unter Joseph II. musste sich die katholische Kirche dem Staat völlig unter-ordnen, kirchliche Reformen blieben dem Herrscher vorbehalten; man nennt diese Art der Kirchenpolitik Josephinismus. Von oben verordnete er eine Pfarreform: Überall sollte das Pfarrnetz verdichtet werden, jeder sollte nicht mehr als eine Wegstunde zu Fuß in die Kirche haben. Die Ausbildung der Priester sollte durch die Schaffung von Priesterseminaren verbessert wer-den. Auch die Diözesen, die Tätigkeitsbereiche eines Bischofs, wurden ver-kleinert, um sie besser verwalten zu können: Es entstanden die neuen Diö-zesen St. Pölten, Linz und Innsbruck. Andererseits hob Josef auch zahlreiche Klöster und Orden auf, die keine für den Staat nützlichen Arbeiten verrichteten; darunter fielen alle „beschauli-chen“ Orden, die nicht im Sozialbereich tätig waren, und Klöster mit nur wenigen Mönchen. Wallfahrten, kirchlicher Pomp und aufwändige Begräb-nisse wurden eingeschränkt. Dadurch geriet Joseph II. sowohl mit Papst Pius VI. als auch mit großen Teilen der Gläubigen in Konflikt. Viele der kirchlichen Reformen wurden daher unmittelbar nach Josefs Tod zurückge-nommen.

Kaiser Joseph II. Joseph II. strebte vor allem am Beginn seiner Regierungszeit nach Volksnähe. So reiste er inkognito durchs Land und half einmal einem Bauern sogar beim Pflügen Die Begeben-heit, dass Joseph 1769 beim Dorf Slavikovice in Mähren einem Bauern den Pflug aus der Hand nahm, trug ihm schnell den Ruf eines „Volks-kaisers“ ein.

Arbeitsfragen zum Text: • In welchen Bereichen regierte Friedrich II. von Preußen als absolutistischer Herrscher, in welchen

ließ er die Ideen der Aufklärung einfließen? • Welche innen- und außenpolitischen Herausforderungen hatte Maria Theresia zu meistern? Die Aufhebung von Klöstern durch Joseph II. Im Jahr 1782 begann Kaiser Joseph II. mit der Aufhebung all jener Klöster, die nicht in der Land- und Forstwirtschaft oder im sozialen Bereich tätig waren und damit dem Staat dienlich waren. Die durch die Aufhebung frei werdenden Vermögenswerte wurden dem so genannten Religionsfonds zugeteilt, der zur Finanzierung einer besseren Priesterausbildung und zur Gründung neuer Pfarrkirchen ange-legt wurde. Die Maßnahmen stießen auf derart großen Protest des Papstes, dass dieser 1783 nach Österreich reiste; dieser „erste Papstbesuch“ in Österreich verlief für den Papst freilich erfolglos. „Seine … Majestät haben aus erheblichen Ursachen für gut befunden, alle Klöster nachstehender Orden in den Erbländern aufzuheben und mit den Personen und dem Vermögen dieser Personen Nachfolgendes zu verfügen: 1. befehlen Seine Majestät, dass von nun an alle Ordenshäuser … von männlichem Geschlecht der Karthäuser11, Kamaldulenser-Orden12 und die Eremiten [= Einsiedler] …, dann von weiblichem Ge-schlechte die Karmeliterinnen13, Kapuzinerinnen14 und Franziskanerinnen aufgehoben werden und das gemeinschaftliche Leben der darin befindlichen Personen in denselben aufhören solle. 2. … wird der Commissarius [= kaiserliche Beauftragte] die Schlüssel von allen Kassen, Kirchenschät-zen, Archiven und Vorratshäusern verlangen, all jenes was nicht zum täglichen Gebrauch in der Kir-

11 Einsiedlerorden aus dem 11. Jh., bei dem die Mönche in Einzelhäusern (Kartausen) leben und einer strengen Schweigepflicht unterliegen. 12 kirchliche Reformbewegung aus dem 11. Jh., bei der die Mönche (und Nonnen) nach der Benediktregel, aber abgeschieden als Einsiedler lebten; benannt nach dem ersten Kloster in Camaldoli (Italien). 13 ursprünglich von Kreuzrittern im Hl. Land gegründeter Einsiedlerorden, benannt nach dem ersten Kloster am Berg Karmel. 14 Reformzweig des Franziskanerordens.

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VO Europa III: Die Zeitalter der Glaubensspaltung, des Absolutismus und der Aufklärung (© Christian Rohr 2004-2009)

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che und dem Hause … notwendig ist, versiegeln, über das aber, was zur täglichen Notdurft unversie-gelt gelassen wird, auf der Stelle ein Inventarium [= Verzeichnis] verfertigen. … 6. Ferner ist allen wohl verständlich zu eröffnen …: a) dass diejenigen, welche die Profession [= Ordensgelübde] noch nicht abgelegt haben, … binnen vier Wochen das Kloster verlassen sollen, wobei sie aber ihr … Eigentum und was sie in das Kloster mitgebracht haben, mitnehmen können … b) bleibt es allen Priestern oder in höheren Würden stehenden Geistlichen sowohl als Klosterfrauen frei, sich außer den k. k. Staaten [=Erbländern der Habsburgermonarchie] in fremde Klöster ihres Or-dens zu begeben und zu emigrieren. … d) Eben also würde man derjenigen Absicht behilflich sein, welche den Weltpriesterstand … erwählen wollten … e) Jenen Ordensgeistlichen männlichen Geschlechts, welche nach ihren Ordensregeln Gott in stiller Ruhe und von allen Weltlichen abgesondert dienen wollen, steht zwar frei, ferner nach diesen ihren Ordensregeln ungestört fortzuleben, jedoch haben sie sich ein Kloster eines anderen Ordens zum zukünftigen Aufenthalt wählen. …“ (Aufhebungsdekret Kaiser Josephs II. vom 12. Jänner 1782, gekürzt; zitiert nach Gerhard Winner, Die Klosteraufhebungen in Niederösterreich und Wien, Wien/München 1967, S. 82-87) Arbeitsaufgabe: • Was sollte mit den Mönchen und Nonnen geschehen, die in den aufgehobenen Klöstern lebten?


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