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Disziplin und Desertion - Duncker & Humblot

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Historische Forschungen Band 57 Disziplin und Desertion Strukturprobleme militärischer Organisation im 18. Jahrhundert Von Michael Sikora Duncker & Humblot · Berlin
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Historische Forschungen

Band 57

Disziplin und Desertion

Strukturprobleme militärischer Organisationim 18. Jahrhundert

Von

Michael Sikora

Duncker & Humblot · Berlin

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MICHAEL SIKORA

Disziplin und Desertion

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Historische Forschungen

Band 57

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Disziplin und Desertion Strukturprobleme militärischer Organisation

im 18. Jahrhundert

Von

Michael Sikora

Duncker & Humblot * Berlin

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Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort Ausgezeichnet bei der Verleihung des Werner-Hahlweg-Preises 1996

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Sikora, Michael: Disziplin und Desertion : Strukturprobleme militärischer Organisation im 18. Jahrhundert / von Michael Sikora. -Berlin : Duncker und Humblot, 1996

(Historische Forschungen ; Bd. 57) Zugl.: Köln, Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08543-4

NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin

Printed in Germany ISSN 0344-2012

ISBN 3-428-08543-4

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist im Sommersemester 1994 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen und für die Druck-legung geringfügig überarbeitet worden. Am 2. Juli hat die mündliche Prüfung stattgefunden.

Hinter diesen nüchternen, von der Prüfungsordnung diktierten Worten verbirgt sich eine oft beflügelte, mitunter auch mühsame und verwinkelte Entstehungsge-schichte. An ihrem Anfang stand mein Doktorvater Prof. Dr. Johannes Kunisch, der mich, mit meinen Interessen wohl vertraut, zu diesem Thema angeregt hat. Er hat die Studien durch viele Anstöße gefördert, dem Schüler aber alle Freiheiten ge-lassen. Er hat die Entstehung der Arbeit durch festes Vertrauen in ein gutes Gelin-gen gestützt. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken.

Meine Frau und meine Familie, meine Freunde und Kollegen haben in ganz un-terschiedlicher Form herzlichen Anteil genommen, durch Fragen Klarheit erzwun-gen und durch ihr Interesse und ihren Zuspruch ermutigt. Von vielen Seiten emp-fing ich Tips und Hinweise, die ich gar nicht alle aufnehmen konnte. Ich danke Euch allen.

Mein ganz besonderer Dank gilt jenen, die sich der Mühe einer kritischen Lektü-re des Manuskripts unterzogen haben. Prof. Dr. Jost Dülffer hat das Korreferat übernommen und wichtige Ratschläge gegeben. Lothar Schilling, Daniel Höhrath und meine Frau Marion Schwermer haben die Arbeit mit ganz unterschiedlichen Augen gelesen, mit viel Spürsinn korrigiert und durch ihre Einwände und Hinwei-se bereichert.

Eine solche Arbeit kommt nicht ohne die meist anonymen Dienstleistungen vie-ler Institutionen und ihrer Mitarbeiter aus, von denen ich stellvertretend die Uni-versitäts- und Stadtbibliothek Köln und, in besonders dankbarer Erinnerung, die bis vor kurzem in Düsseldorf ansässige Zentralbibliothek der Bundeswehr nenne. Dank schulde ich überdies der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die mir ein Studienstipendium gewährt und mich in die Promotionsförderung aufgenommen hat. Schließlich bedanke ich mich beim Verlag Duncker & Humblot für die Auf-nahme der Arbeit in die Reihe der „Historischen Forschungen".

Köln, im Februar 1995 Michael Sikora

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Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung 13

1. Interesse und Fragestellung 13

2. Forschungslage 19

3. Quellenlage 24

4. Vorgehensweise 34

I I . Die Ordnung der kriegerischen Gewalt 37

Disziplin als Leitwert des Militärwesens: unbedingte Unterwerfung - Zusam-menhang mit der Kampfweise der Infanterie - Steuerung der Gewalt - Die si-gnifikante Sonderrolle der leichten Truppen - Ordnung und Unordnung in der Schlacht - Das Vorbild der Antike - Moderne Rationalität: das Heer als Maschi-ne - Die repräsentative Ästhetik der Disziplin - Disziplinierung als Umerzie-hung - Sozialdisziplinierung - Kritische Bewertungen - Fazit

I I I . Dimensionen der Desertion 54

1. Flucht und Verweigerung: Desertion im sozialen Kontext 54 Definition und Wortgeschichte - Der zivile Kontext: Flucht und Untreue -Desertion und Landflucht - Die Formierung eines Staatsvolks - Der militär-rechtliche Kontext: Ungehorsam, Meuterei, unerlaubte Abwesenheit - Ver-zweiflungstaten: Selbstverstümmelung und Selbstmord - Melancholie und Heimweh - Die Metapher der Krankheit

2. Umfang und Situationen 69 Probleme der Bewertung: Desertionen in Preußen 1713-1740 - Jährliche Quoten - Eingeplante Verlustraten - Quoten über größere Zeiträume - Der Vergleich mit anderen Formen des Abgangs - Desertion im Krieg: Abhän-gigkeit von äußeren Umständen - Drei qualitative Stufen - Desertion und Kampf geschehen: Quellenprobleme - Festungsbelagerungen - Alltäglichkeit und laisenhafte Zuspitzungen - Massendesertionen - Fazit

3. Auswirkungen 89 Rücksichten im Kleinen und Großen - Provokationen - Deserteure als Infor-mationsquelle - Desinformation

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8 Inhaltsverzeichnis

IV. Verhindern, Verfolgen, Verurteilen 98

1. Überwachung 98 Die Verhinderung der Desertion ein „essentielles devoir" - Überwachung in Garnison und Lager - Ausmarsch als kritische Phase - Überwachung auf dem Marsch - Merkmale verdächtigen Verhaltens - Die Verantwortung der Offiziere

2. Verfolgung: Der Untertan auf Posten 107 Alarm - Im Krieg: bewaffnete Gegenwehr und Unterstützung durch den Gegner - Festungen als Falle für Überläufer - Verfolgung im Frieden - Pässe als Mittel zur Kontrolle - Die Einbindung der Bevölkerung - Belohnungen und Strafen - Ansätze zur Ausdehnung der Kontrolle auf die Dienstpflichti-gen

3. Der Griff über die Grenzen: Auslieferung 119 Vertragliche Regelung in Cartellen - Ihre Häufigkeit und Dauer - Grad der Kooperation - Schutz der eigenen Untertanen - Einbeziehung der Dienst-pflichtigen - Verknüpfung mit Werbeverboten und dem Verzicht auf Grenz-verletzungen - Kostenausgleich

4. Strafrecht zwischen Abschreckung und Abwägung 127 Androhung der Todesstrafe - Abschreckung als Ziel - Kritik - Spielräume in der gerichtlichen Praxis - Abwägung nach den Umständen - Abwägung nach Zweckmäßigkeit - Individuelle und allgemeine Begnadigung - Kritik

5. Die Vernichtung der sozialen Existenz 141 Citation der ausbleibenden Deserteure - Verurteilung in Abwesenheit: Infa-mie und Anschlag am Galgen - Beschlagnahmung des Vermögens - Einbe-ziehung der Dienstpflichtigen - Probleme der Confiscation beherrschen zu-nehmend die gesetzgeberischen Maßnahmen gegen Desertion

6. Exkurs: Leben auf der Flucht 148 Verfolgungsmaßnahmen keineswegs wirkungslos - dennoch viele Desertio-nen erfolgreich - Klagen über mangelhafte Befolgung der Edikte - Überle-ben durch Überlaufen - Widerstand gegen Kontrollen - Überleben auf der Straße - Unterstützung durch Bevölkerung, insbesondere Angehörige -Nachlässigkeit der Behörden - Kirchenasyl - Freiwillige Rückkehr

V. Bedingungen militärischen Lebens und Überlebens 163

1. Angst und Feldflucht 163 Schlachtgeschehen - Angst vor den Offizieren - Disziplinierung program-miert reflexhaftes Verhalten - Subjektive und objektive Wahrscheinlichkeit des Überlebens - Desorientierung - Kampfrausch - Panik - Desertion un-sichtbar - Feldflucht und Feigheit als spezielle Tatbestände - Zerstreuung -Resignation - Überläufer und Gefangene

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Inhaltsverzeichnis

2. Lagern und Marschieren 179

Kampf als Ausnahmesituation - Marschleistungen - Mängel der Kleidung und der Hygiene - Strapazen des Wachdienstes - Zentrale Bedeutung der Verpflegung - Labilität der Transportwege - Einsatzbereitschaft als subjekti-ver Faktor - Dennoch deutlicher Zusammenhang zwischen Versorgungspro-blemen, Belastungen und Desertionen - Desertion zur Selbsterhaltung - Ver-luste durch Krankheit und Desertion mitunter den Kampfverlusten vergleich-bar

3. Reibungen der Truppenbewirtschaftung 190

Sold knapp bemessen - Kompaniewirtschaft - Unterschlagungen - Aber auch Verantwortlichkeit der Kommandeure - Verweigerung von Entlassun-gen - Mißbräuche verursachen Desertionen

4. Zwang und Zerstreuung im Garnisonsalltag 196

Überwachen und Strafen - Militärischer Alltag jedoch vielfältiger - Auch Al-koholgenuß und Glücksspiel veranlassen Desertionen - Beschäftigung gegen Desertion - Mangel an Ausgang und Urlaub - Kritik an „Sklaverei" - Straf-justiz provoziert Desertionen - Gewalt im Dienst - Sonderfall: Autonome Disziplin der leichten Truppen - Disziplinierung unterschiedlich gehandhabt - Bewertung - Halbherzige Versuche der Reglementierung

VI. Die Logik militärischer Macht: Rekrutierung als quantitatives Problem 209

1. Das scheinbare Problem: »Leichtsinn4? 209

Desertion nicht allein auf äußere Umstände zurückzuführen - Motivations-lücke als moralisches Defizit gedeutet - korrespondiert mit Desertionen aus geringfügigem Anlaß - Unlust vieler Soldaten

2. Die Spirale der Truppenvermehrung 212

Die „Militärische Revolution" - Mitte des 17. Jahrhunderts beginnt neuer Rüstungsschub: Truppenvermehrung und stehende Heere

3. Werbungen mit allen Mitteln 216

Formale Abwicklung der Söldnerwerbung - Herkunft und Motive der Rekru-ten - Angebot und Nachfrage - Kooperation mit Einheimischen - Ge-waltsame Werbungen - Konflikte mit der Bevölkerung - Zwischenstaatliche Konflikte - Zielkonflikt mit ökonomischen Interessen - List, Überredung, falsche Versprechungen - Körperliche und moralische Mindestanforderun-gen - Dennoch Anwerbung von Deserteuren - Dennoch planmäßige Zwangs-werbung von Nichtseßhaften und Straftätern - Damit wird Gewalt im Dienst legitimiert - Klagen über den „Abschaum" - Interesse der Kommandeure an zuverlässigen Rekruten - Desertion als Druckmittel in der Hand der Solda-ten

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10 Inhaltsverzeichnis

4. Die Dienstverpflichtung der Untertanen 236

Dienstpflicht der Untertanen auf unklarer Grundlage - Tradition der Landes-defensionen - Stehende Heere den Milizen überlegen - Tendenz zur Dienst-verpflichtung für das stehende Heer - Von der Landesverteidigung zum Für-stenheer - Das preußische Kantonsystem - Gewöhnung der Bevölkerung -Aber auch Landflucht - Mißbräuche - Zwangsverpflichtung besiegter Trup-pen: die Einverleibung der sächsischen Armee durch Preußen - Der Sonder-fall der „Kroaten" - Das Scheitern der ungarischen Insurrektion

5. Fürsten als Kriegsunternehmer: Truppen Vermietung 255

Zwischen Bündnispolitik und Kriegsunternehmertum - Verweigerungen -Versendung nach Ubersee als besonderes Problem - Rekrutierung für Ameri-ka - Desertion in Amerika - Kritik am „Soldatenhandel" - Soldaten als Re-chengröße

VII. „Triebfedern" 262

1. Lebensunterhalt 262

Materielle Anreize entsprechen dem Prinzip der Soldarmee - Unzufrieden-heit und Verführbarkeit wegen zu geringen Soldes - Planmäßiges Erschlei-chen von Handgeldern - Eigentumsdelikte - Unzureichende Invalidenversor-gung - Altersversorgung soll Desertion verhindern

2. Korpsgeist und Zusammengehörigkeit 268

Das Heer im Krieg: Soldaten erleben Geschichte - Zuversicht macht zuver-lässig - Demoralisierung durch Rückzüge - Rivalität statt Feindschaft - Das Regiment als Bezugsgruppe - Esprit de Corps - Patriarchalische Strukturen - Kollektive Ehre - Gemeinsame Herkunft - Dienstdauer: das Regiment als Lebensraum - Die Schlüsselrolle der Unteroffiziere - Andererseits erleich-tert Vertrautheit Konspiration - Einfluß der Überläufer

3. Schicksalsglaube und Bekenntnis 281

Religion als Pfeiler der Disziplinierung - Sakrale Qualität des Eides - Gott-vertrauen - Konfessionelle Einflüsse: Gemeinsamkeit und Verweigerung -Verweigerung aus Gewissensgründen: die Mennoniten - Distanz und Ver-weigerung im Pietismus

4. Inländer und Ausländer 289

a) Kriege der Fürsten 291 Fürstenherrschaft und Untertanen - Konfliktstrukturen: in erster Linie Erbfolgekriege - Distanz und Nähe zum Konflikt - Mißtrauen gegen be-waffnete Untertanen

b) Zur Reichweite patriotischer Appelle 294 „Vom Tode für das Vaterland" - Spuren patriotischer Begeisterung -Skeptische Stimmen

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Inhaltsverzeichnis

c) Bedeutung und Bewertung ausländischer Söldner 297

Quantitativer Anteil ausländischer Söldner - Nicht unbedingt im Wider-spruch zu patriotischer Empfindung - Häufigkeit der Desertionen im Ver-gleich - In Preußen zählten auch bestimmte Inländer als Ausländer -Gleichsetzung der Ausländer mit einem negativen Söldnerbild - Bei-spiele unterschiedlicher Wahrnehmung - Ausländische Veteranen

d) Loyalitäten des Untertanen 305

Landesverteidigung - Regionale Unterschiede - Der Sonderfall der öster-reichischen Militärgrenze - Charisma der Herrscher - Distanz zum Kriegsgeschehen - Trennung von Haus und Familie - Heiratsverbote -Führten zu Desertionen - Uneheliche Kinder - Verheiratung soll Deser-tionen verhindern - Haus und Familie als Motivation und Pfand - Fazit

5. Die Erziehung des Soldatenstandes 325

a) Soldat und Bürger: Abgrenzung oder Annäherung? 326

Fremdheit zwischen Militär und Teilen der Bevölkerung - Ständische Deutung - Kritische Bewertungen der Distanz - Ideen zur Annäherung von Bürger und Soldat - Besserung des Soldatenstandes als systemkon-former Ausweg - Vorschläge zur Verkleinerung der Heere

b) Militärische Tugendlehren 334

Disziplin als Leittugend - Tugendforderungen im Konzept der Ehre ge-bündelt - Offiziersehre, kollektive Ehre, Soldatenehre - Erziehung als verfeinerte Disziplinierung - Statt Drill „Beseelung" der Maschine - For-derung nach menschenwürdigem Umgang - Positive Verstärkung durch Anerkennung von Leistung und Tugend

c) Adel und Offizierskorps 343

Schlüsselrolle der Offiziere als Vermittler des Tugendkonzepts - Adliges Selbstverständnis und eigenständiger Ehrenkodex - Kluft zwischen Offi-zierskorps und Mannschaften: Geringschätzung und Übergriffe - Kritik -Delinquenz der Offiziere: Duelle, selten Desertionen - Kontrolle der Of-fiziere

d) Utopie und Wirklichkeit 350

Erziehung der Soldatenkinder - Die Utopie des sich selbst reproduzieren-den Soldatenstandes und das Ende der Desertionen - Fazit: Grenzen der verfeinerten Disziplinierung - Kein Ausweg aus der doppelten Deklas-sierung der Soldaten

VII I . Ausblick 354

IX. Zusammenhänge 363

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12 Inhaltsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis 377

1. Zeitgenössische Druckschriften und Editionen 377

2. Archivalien 390

3. Forschungen und Hilfsmittel 391

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I. Einleitung

1. Interesse und Fragestellung

Das 18. Jahrhundert war die Zeit der Deserteure. Diese Vorstellung hat sich selbst im Kanon der allgemeinen historischen Bildung festgesetzt. Dieses Bild ist wesentlich geprägt von den Erlebnissen und Erzählungen eines schriftstellernden Tagelöhners und Kleinhändlers aus der Schweiz, Ulrich Bräker, der als junger Mann 1755 selbst auf die Täuschungen eines preußischen Werbers hereinfiel. In seinen Erinnerungen, die unter dem Titel „Lebensgeschichte und natürliche Eben-theuer des Armen Mannes im Tockenburg" bekannt wurden, schilderte er ein-drucksvoll den militärischen Alltag in Preußen. Bei erster Gelegenheit desertierte er. Schon Gustav Freytag stellte in seinen „Bildern aus der deutschen Vergangen-heit" diesen Bericht in den Mittelpunkt seines Kapitels über das preußische Militär. Seither darf Bräker als der Musterdeserteur des 18. Jahrhunderts angesehen wer-den, der bis heute in kaum einer Darstellung fehlt1.

Doch war Bräker in der Tat nur einer von vielen. Ein Zeitgenosse urteilte :

„Die Desertion ist ein allgemeines Uebel bey allen Europäischen Kriegesheeren; und wenn dieses Uebel nicht alle traurige Folgen hat, die es haben könnte; so ist die Ein-schränkung dieser Folgen blos darinnen zu suchen, weil es ein allgemeines Uebel aller Staaten ist"2.

Dieser Einschätzung zufolge nahm die Desertion in zweierlei Hinsicht bemer-kenswerte Dimensionen an. Erstens desertierten demnach so viele Soldaten, daß man ernste Konsequenzen für die militärische Einsatzbereitschaft befürchten mußte. Die möglichen Folgen hoben sich jedoch gegeneinander auf. Daraus müßte man zweitens schließen, daß die Desertion keineswegs allein mit den speziellen Schwierigkeiten einzelner Armeen erklärt werden kann. In der allgemeinen Ver-breitung dieses Phänomens fanden offenbar strukturelle Mängel der damals übli-chen Formen militärischer Organisation Ausdruck. Dem soll in diesem Buch nach-gegangen werden.

Diese Mängel verdienen um so mehr Aufmerksamkeit, als sie im Zusammen-hang ihrer Epoche Fragen von zentraler Bedeutung aufwerfen. Zum einen gilt weithin eine fortschreitende soziale Disziplinierung als charakteristisches Kennzei-chen der Frühen Neuzeit. Dieser Prozeß entfaltete sich allem Anschein nach ge-

1 Trotz einiger Unstimmigkeiten ließ sich die Glaubwürdigkeit des Berichts in wesentli-chen Punkten mit großer Findigkeit nachweisen, vgl. Eckert: Soldatenzeit (1976), S. 15Iff.

2 Justi: Schriften ΙΠ (1764), S. 249; auch zitiert bei Höhn: Revolution (1944), S. 25.

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14 I. Einleitung

rade im Militär in besonders konsequenter Weise. Die zahlreichen Desertionen scheinen dem auf den ersten Blick zu widersprechen. Zum anderen erregte die De-sertion gerade in jener Entwicklungsphase Aufsehen, an deren Ende das revolutio-näre Massenheer und die Durchsetzung der allgemeinen Wehrpflicht stand. Wäh-rend das vorrevolutionäre Heerwesen in mancher Hinsicht die militärische Mobili-sierung der Bevölkerung vorantrieb, signalisieren die Desertionen offenbar gravie-rende Schwierigkeiten und Widerstände. Diese beiden Probleme liegen der Untersuchung als Leitfragen zugrunde und sollen daher noch näher erläutert wer-den. Mit diesen Fragen verbindet sich aber, in einem weitergefaßten Sinn, ein drit-tes Anliegen; die Problemstellung soll bisher eher vernachlässigte Erkenntnismög-lichkeiten der Militärgeschichte erproben.

Gerhard Oestreich hat den Begriff Sozialdisziplinierung geprägt, um damit Zu-sammenhänge zu beschreiben, die er für ein wesentliches Merkmal der Geschichte der Frühen Neuzeit hielt: die sich in einschneidendem Maße intensivierende Kon-trolle, Reglementierung und Beeinflussung menschlichen Verhaltens durch vor-nehmlich obrigkeitliche Maßnahmen. Diese These, darauf ist mittlerweile schon mehrfach in der Forschung hingewiesen worden, steht in Parallele zu vergleichba-ren Konzepten, namentlich Max Webers Modell der Rationalisierung, Norbert Eli-as' Theorie der Zivilisation und Michel Foucaults Deutung frühneuzeitlicher Dis-ziplinierung3.

Die Kategorie der Sozialdisziplinierung ist inzwischen in der Forschung an zahl-losen Stellen aufgegriffen worden, um einzelne Elemente, die als Teil eines sol-chen Prozesses begriffen werden können, zu beschreiben. Die Debatte hat sich rasch in einzelne Felder aufgegliedert. Es zeichnen sich drei Schwerpunkte ab: die Untersuchung und Deutung von Fürsorgemaßnahmen als Instrumente sozialer Kontrolle, die Erforschung von Kriminalität und Gerichtsbarkeit sowie die Frage nach der Reichweite kirchlich-religiöser Verhaltensnormen. Im Zuge solcher Ar-beiten sind auch schon prinzipielle Einwände gegen die Tragfähigkeit dieser These erhoben worden. Sie knüpfen vor allem an das Quellenproblem an: Die Vorstel-lung einer Sozialdisziplinierung ist wesentlich inspiriert worden durch die neuarti-ge Fülle unterschiedlichster Ordnungen und Verordnungen, die in der Frühen Neu-zeit erlassen worden sind, um die Beziehungen und das Verhalten der Menschen zu regeln. Es liegt daher die Versuchung nahe, dergleichen Vorschriften als bare Mün-ze, nämlich als verläßliche Abbildung der darin reglementierten Wirklichkeit zu nehmen. Demgegenüber kommen Detailuntersuchungen zu dem Ergebnis, daß die Durchsetzungskraft solcher Vorschriften und Maßnahmen in der Praxis sehr be-grenzt gewesen sein dürfte. Darauf wird zurückzukommen sein.

3 Um die wichtigsten Zugänge zu rekapitulieren: Die These wurde aufgestellt in Oe-streich'. Strukturprobleme (1969); zur Deutung und Ausgestaltung aus Oestreichs Nachlaß Schulze: Begriff (1987); zur vergleichenden Interpretation Breuer. Sozialdisziplinierung (1986) und Feihof er. Produktion (1987).

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1. Interesse und Fragestellung 15

An dieser Stelle gilt es zunächst zu bedenken, daß bei der Begründung und Ent-faltung der Disziplinierungsthese auch das Militär eine wesentliche Rolle gespielt hat, klassisch formuliert bei Max Weber: „Die Disziplin des Heeres ist aber der Mutterschoß der Disziplin überhaupt"4. In der Diskussion hat dieser Bereich je-doch bis in die jüngste Zeit kaum Niederschlag gefunden. Erst allmählich verdich-ten sich die Beiträge militärgeschichtlicher Forschung zu einer Debatte über den Aspekt der Disziplinierung. Dabei steht außer Frage, daß das Militär ein Zentrum solcher Ordnungsbemühungen gewesen ist.

Wie sich dieses Bild allerdings mit der gleichfalls unbestrittenen Beobachtung verträgt, daß die Soldaten des 18. Jahrhunderts in offenbar außerordentlicher Häu-figkeit desertierten, ist bisher nicht erörtert worden. Beides steht unverbunden ne-beneinander. Diesem Problem möchte ich nachgehen. Dabei soll weniger die Fort-schreibung der Disziplinierungstheorie im Vordergrund stehen, als vielmehr ihre Rückvermittlung auf spannungsreiche und widersprüchliche Wahrnehmungen der Realität. Zwingt das Phänomen der Desertion dazu, die Vorstellung der geordneten und gedrillten Heere zu korrigieren? Oder muß vielmehr die Bedeutung der Deser-tion in ihren praktischen Auswirkungen relativiert werden? So viel darf vorwegge-nommen werden, daß sich beide Aspekte nicht in jeder Hinsicht ausschließen müs-sen, vielmehr auch in einem dialektischen Verhältnis stehen.

Die Fragestellung zielt also auf die Konkretisierung und Überprüfung bestimm-ter Merkmale, die als besonders typisch für die Epoche gelten5. Daran knüpft zu-gleich das zweite Ziel an, der Versuch einer historischen Einordnung. Es stellt in-sofern eine Ergänzung dar, als es nicht den statischen Aspekt epochenspezifischer Merkmale betont, sondern die Rolle dieser Epoche als Phase einer dynamischen Entwicklung. Man muß sich dabei in Stichworten den Gang der europäischen Hee-resgeschichte vor Augen halten.

Über Jahrhunderte hinweg war der bewaffnete Kampf die Sache einer eher klei-nen, privilegierten Kriegerschicht. Das heißt nicht, daß nicht auch bäuerliche Gruppen gekämpft hätten, sei es als Teilnehmer an den Konflikten des Adels, sei es im Zeichen eigener Interessen. Sie hatten aber zunächst keinen Anteil an den Veränderungen der Waffentechnik, der Formen militärischer Organisation und an den Idealen und Interessen, aus denen die epochemachenden Kriege entstanden. Erst der geübte und massenhaft koordinierte Einsatz seiner typischen Waffen ver-lieh dem gemeinen Mann zu Fuß jene militärische Standhaftigkeit, an der die Rit-terheere verbluteten. Das gilt für die englischen Bogenschützen im Hundertjähri-gen Krieg und für die Piken der Schweizer Bauern im Kampf gegen die burgundi-schen Herzöge. Die Entwicklung der Schußwaffen tat ein übriges. Geldwirtschaft

4 Weber: Wirtschaft (1985), S. 686; zum Stellenwert bei Oestreich vgl. u .a. Schulze: Be-griff (1987), S. 286f., 296; zu Foucaults Deutung vgl. Felhofer. Produktion (1987), S. 79ff.

5 Es besteht die Tendenz, die Kategorie »Sozialdisziplinierung' auch auf Prozesse des 19. und 20. Jahrhunderts auszudehnen, was aber an dieser Stelle nicht näher erörtert werden muß.


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