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Dimensionen der Einheiten · Guillotinen auf dem Place de la Concorde exakt ausmessen, durch zehn...

Date post: 18-Oct-2020
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Dimensionen der Einheiten Eine Fingerübung Warum ein Meter ein Meter ist Das Ma aller Elektrizitt Volt, Ohm und die Quantenwelt Herr der Einheiten Ein Interview mit Terry Quinn Gangwechsel Eine Reise durch die Geschwindigkeiten Wre das Auge nicht sonnenhaft... ber das Licht und die Hochzeit der Candela Heft 1: September 2001 4 10 29 34 40 Magazin der Physikalisch- Technischen Bundesanstalt
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Dimensionen der Einheiten

Eine FingerübungWarum ein Meterein Meter ist

Das Maß allerElektrizitätVolt, Ohm unddie Quantenwelt

Herr der EinheitenEin Interviewmit Terry Quinn

GangwechselEine Reise durchdie Geschwindigkeiten

Wäre das Augenicht sonnenhaft...Über das Licht und dieHochzeit der Candela He

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Sep

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ber

2001

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40

Magazin der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt

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Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

sind Sie weiblich, 1,71 m groß, wie-gen 70 kg (was einen body massindex* von 23,9 ergibt) und es ist21.25 Uhr? Oder sind Sie männlich,1,79 m groß, wiegen 82 kg (bodymass index 25,6) und es ist21.26 Uhr? Wahrscheinlich beidesnicht. (Worüber Sie sich nicht grämenmüssen. Es ist nicht immer nötig, „Ja“zu sagen.) Aber auch wenn ich mitmeinen beiden Fragen kein „Ja“ be-kommen habe, so weiß ich doch eini-ges über Sie: Sie sind entweder eineFrau oder ein Mann; Sie sind zwi-schen 1,65 m und 1,95 m groß; Siewiegen mehr als 55 kg und wenigerals 90 kg; es ist später als 8.00 Uhrund früher als 22.00 Uhr. Liege ichjetzt mit den Merkmalen richtig?„Kein Wunder!“ könnten Sie sagen,die Bandbreite war ja auch groß ge-nug gewählt. Aber dennoch zeigt die-se kleine Ansprache, dass ein gewis-ses Wissen über diese Welt und ihreBewohner sich in Zahlen und Inter-vallen ausdrücken lässt. Sie kennendas alles: Körpertemperatur in °C,Geschwindigkeitsüberschreitung inkm/h (nebst nachfolgenden Bußgeldin DM), Stromverbrauch in kWh, ...Und obwohl Sie das alles kennen, istdieses Magazin eben diesen Dingengeschuldet, die Sie kennen – und dochnicht kennen: der Zeit, dem Raum,der Masse, der Geschwindigkeit, derTemperatur, ...

* body mass index: Körpergewicht in kg dividert durch das Quadratder Körpergröße in m

** Sam McBratney, Anita Jeram: Guess How Much I Love You, 1994,dt. im Verlag Sauerländer

An all dies wollen wir einen Maßstab anlegen. Wir wollenberichten, erzählen, zeigen, dass all dies der Betrachtungwert ist, ja, dass es ganze Institutionen gibt, die sich imWesentlichen mit nichts anderem beschäftigen als Maß-stäbe aufzustellen und zu verfeinern, anzulegen und ab-zulesen. Die Physikalisch-Technische Bundesanstalt inBraunschweig und Berlin ist in Deutschland die Institutionfür diese Aufgabe, zu vermessen, was zu vermessen ist, unddies so gründlich und so genau wie nötig und möglich zutun; zugleich ist sie diejenige, von der Sie dieses Magazinjetzt in Händen halten.

Wir wagen mit diesem Magazin den Versuch, über das Ge-naue ungenau zu sprechen. Es wäre schön, wenn Sie unsbei diesem Versuch begleiten und vielleicht sogar Ihre Mei-nung sagen würden. Folgen Sie uns einfach in die Welt desMessens.

Das „Messen-Wollen“ liegt übrigens, so scheint es, in derNatur des Menschen, der sich mitteilen will. Der Menschmacht dabei auch keinen Halt vor dem Unmessbaren. Unddieses „Messen-Wollen“ beginnt früh: In einem der bezau-berndsten Kinderbücher** geht es darum, dass ein kleinerHase seine Liebe zum großen Hasen „ausmessen“ will.„Rate mal, wie lieb ich dich hab“, sagt der kleine zum gro-ßen Hasen. „Oh, ich glaub nicht, dass ich das raten kann“,sagt darauf der große Hase. Aber der kleine und der großeHase versuchen dann doch, die Größe dieser Liebe zu mes-sen, zuerst durch ihre Armlängen, dann durch ihre ausge-streckten Körper, bis sie schließlich beim Vergleichen (undnichts anderes meint „messen“) im Himmel landen: „Biszum Mond und wieder zurück haben wir uns lieb.“ (Diesbringt mich dazu, bevor ich Sie mit den maßstäben alleinlasse, meiner Tochter zu danken, die die Zeichnungen zurGlosse auf der letzten Seite beigesteuert hat.)

Und nun im Namen der gesamten Redaktion: Viel Spaßbeim Schmökern!

Ihr JENS SIMON

Jörn-Uwe Barz Birgit Ehlbeck Jens Simon Björn Helge WysfeldErika Schow

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Eine Finger-übungWarum ein Meter ein Meter, eine Sekunde eine Sekunde und ein Kilogramm ein Kilogramm ist

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Vorwort

Das Maß aller ElektrizitätVolt, Ohm und die Quantenwelt

Die SpurensucherDoppelaufgabe: Sie sindDetektive im weißen Kit-

tel und die Hüter derEinheit Mol

Die Formdes SchallsBilder aus der

Welt der Akustik

Wo die Zeit stillstehtIn Mainflingen bei Frankfurt

treffen sich Schafe undAtomuhren zum Rendezvous:

eine Reportage

Der Menschals homo

metro-logi-

cusEin Interview mitdem Präsidenten

des Internatio-nalen Büros

für Maßund Ge-

wicht:Terry Quinn

Inhaltsverzeichnis

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Kodierungnach

Bedarf

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Alles aufdieserWelt istschwer –Der Tag, andem dasKilogrammkein Dingaus Platin-Iridiummehr seinwird, rücktnäher

Gan

gwec

hsel

Es gibt einen SternFragen eines kleinenJungen zu Sternen,Staub und tiefenTemperaturen

Wäre das Auge nicht sonnenhaft ...

Das LetzteKopf oder Fuß – das ist hier

die Frage

Eine Reise durch dieGeschwindigkeiten

Über die Faszination des Lichts unddie Hochzeit der

Dame Candela

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„Tod den Aristokraten!“, „Es lebe die Nation!“ und „Verräter an die Later-nen!“ hallte es lautstark durch das Land. Schlechte Voraussetzungen fürzwei Männer der Wissenschaft, die eine Herkulesaufgabe schultern woll-ten und die ihr Unternehmen auf ein paar Monate, allerhöchstens ein Jahrschätzten. Schließlich wurden es dann sechs Jahre. Denn die beiden hattennicht mit den revolutionären Wirren und Exzessen gerechnet, denen sie fastselbst, wegen Spionageverdachts, zum Opfer gefallen wären.

Du mußt verstehn!Aus Eins mach Zehn,Und Zwei laß gehn,Und Drei mach gleich,So bist Du reich.Verlier die Vier!Aus Fünf und Sechs,So sagt die Hex´,Mach Sieben und Acht,So ist´s vollbracht:Und Neun ist Eins,Und Zehn ist Keins.Das ist das Hexen-Einmaleins.(J. W. v. G., Faust,Erster Teil, Hexenküche)

Eine Fingerübungoder:Warum ein Meter ein Meter,

eine Sekunde eine Sekunde undein Kilogramm ein Kilogramm ist

Die Astronomen Jean-BaptisteDelambre und Pierre-FrançoisMéchain machten sich im Jahre1792 auf, die Erde zu vermessen.Genauer: Sie sollten, so der Auftragder Gesetzgebenden Versammlungdes revolutionären Frankreichs, eingutes Stück des irdischen Nord-Süd-Umfangs, eines Meridians, be-stimmen; des Meridians, der zwi-schen Barcelona im Süden undDünkirchen im Norden geradewegsdurch Paris verläuft. Aus der Ent-fernung Barcelona – Dünkirchenließe sich dann der Abstand desÄquators zum Nordpol, also dieLänge des Meridianviertels, berech-nen: Dazu mussten Delambre undMéchain zunächst die geografischenBreiten von Barcelona und Dünkir-chen finden – astronomische Rou-tinemessungen für die beiden, nichtder Rede wert. Die Differenz derBreitengrade ergab gleich 9° 40’;da das Meridianviertel gleich 90°umfasst, war per Dreisatz die Sache

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klar – die Erde wäre rundum vermessen. Den zehnmillionsten Teil(1/10 000 000 = 1/107) des Erdmeridianquadranten wollte man schließlichals einheitliches Längenmaß „für alle Zeiten, für alle Menschen“ festlegen.Doch vor dieser einfachen Rechnung lag die eigentliche Messaufgabe. Eineununterbrochene Kette von gedachten Dreiecken musste die Wegstreckebedecken, alle Seitenlängen mussten aus Winkelmessungen errechnet wer-den: 1800 derartiger Winkelmessungen (jede möglichst oft zu wiederholen,um den statistischen Fehler klein zu halten) lagen vor den Astronomen.

Am 19. Brumaire An VIII* kam die Geschichte zu einem vorläufigenamtlichen Endergebnis. Die Messkunst der beiden Astronomen wurde inPlatin gegossen und als „Mètre des Archives“, als verbindliche Längen-einheit in Frankreich festgelegt. Der Meter war geboren. Und mit ihm dasmetrische System, das neben der Länge auch ein Maß für die Fläche undden Raum, ein Maß für das Volumen von Flüssigkeiten und ein Maß für dieMasse festlegte. All das durfte geteilt und vervielfältigt werden mit derZahl 10, so dass zum Meter der Zenti- und Millimeter ebenso gehörte wieder Kilometer.

* Nach Notation des Gregorianischen Kalenders ist dies der 10. Dezember 1799.In der Französischen Revolution wurde 1790 eine neue Jahreszählung einge-führt und diese allerdings mehrfach abgeändert, da man sich nicht einig war, obman den Sturm auf die Bastille (1789) oder die Ausrufung der Republik (1791)als „Kalender-Startpunkt“ definieren sollte. Jedenfalls teilte der Kalender, der biszum 1.1.1806 in Frankreich gültig war, das Jahr in zwölf Monate zu 30 Tagenund jeden Monat in drei Dekaden zu zehn Tagen.

Der Aufwand war enorm, die Ge-fahren waren groß und ein ebensopraktikables anderes Ergebnis hätteman auch einfacher finden können.Warum nicht die Entfernung zweierGuillotinen auf dem Place de laConcorde exakt ausmessen, durchzehn teilen und damit den Län-genmaßstab festsetzen? Warumnicht irgendein Ding hernehmen, eskonservieren und seine Maße alsUrmaße definieren? Aber so rationalwaren die Zeiten, auch wenn sie un-ter der Fahne der Aufklärung segel-ten, denn doch nicht. Das Urmaßder Dinge sollte nicht den Makeldes Willkürlichen tragen – von Will-kür hatte man ohnehin zuviel. DasUrmaß sollte vielmehr universellsein, von allgemeiner Gültigkeit undnicht angekränkelt von physiologi-schen Besonderheiten irgendwel-cher Könige oder Fürsten. Es galtein für allemal Abschied zu nehmenvon Ellen und Füßen, Klaftern undLinien, Ruten und Points.

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Einige hundert Millionen Kilometer entfernt vom Ort dieses Geschehens er-eignet sich – Duplizität der Ereignisse –Folgendes: Zwei Landmesser (nen-nen wir sie, in Ermangelung besseren Wissens, Mason und Dixon) ziehenaus, den Umfang ihres Heimatplaneten (nennen wir ihn Mars) auszumessen,wobei sie die Äquatorlinie ins Visier nehmen. Und so tragen Mason undDixon in das rote Buch der Messkunst am Ende ihrer Expedition ein: „Inder ganzen bekannten Welt gilt von dieser Stunde an ein einheitliches Län-genmaß. Als Marsmeter wird der Umfang unseres Planeten geteilt durch‚acht hoch fünf‘ ein für allemal festgesetzt. Alle Provinzen erhalten einenentsprechend langen Maßstab als Referenz.“

[Viel später sollten Astronauten, den irdischen und den marsiani-schen Meter vergleichend, ein Längenverhältnis beider Maßstäbevon „1 zu 0,6514“ feststellen.]

Die Längeneinheit, die Delambre und Méchain der Erdeabgetrotzt hatten, war, so ließe sich heute sagen, einHightech-Ergebnis, gewonnen mit den besten verfüg-baren Instrumenten. Und tatsächlich trafen die beidenAstronomen die Entfernung von Barcelona bis Dün-kirchen (gemessen an unserem heutigen Wissen) bis aufzwei Kilometer genau. Doch der Anspruch, ein univer-selles Naturmaß zu gewinnen, konnte auf diesem Wegunmöglich eingelöst werden. Schließlich ist die Erdekeine perfekte Kugel und also unterscheidet sich jederMeridian von seinem Nachbarn. Spitz formuliert war(und ist) der Meter damit nicht der zehnmillionste Teildes Erdquadranten, sondern der Meter war schlicht dieLänge des in Paris angefertigten Platinmaßstabs.

[Dieses Resultat hätte man – wie gesagt – auch einfa-cher haben können; allerdings wäre dies dann nicht„universell gedacht“ gewesen und auch Delambre undMéchain wären nicht in die Geschichtsbücher eingegan-gen.]

Alternativen einer Längendefinition waren auch damalsim Gespräch. So wurde die Idee diskutiert, die Längen-einheit aus der Schwingungsdauer eines Pendels abzu-leiten. Den Meter (freilich einen anderen als den, denwir heute kennen) hätte man definieren können als dieLänge eines Pendels, das innerhalb einer Sekunde seineBahn auszieht. Dies hätte den großen Vorteil gehabt,dass sich jedermann zu jeder Zeit die Längeneinheit

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selbst hätte herstellen können – sofern er eine halbwegs gut funktionieren-de Uhr dabei hätte. Zwar wäre diese Definiton sehr gebrauchsfreundlich(überall und einfach verfügbar) und „demokratisch“ (jedem sein Urmaß),aber der Meter wäre dann schwankend gewesen. Die Fallbeschleunigungder Erde, die als einzige Größe zwischen Pendeldauer und Pendellängevermittelt, hätte an jedem geografischen Ort des Pendels für einen etwasanderen Meter gesorgt. Dennoch wäre auch diese Definition nicht „schlech-ter“ ausgefallen als die Ableitung aus dem Meridianbogen. Man hätte sichlediglich auf ein „Ur-Pendel“, aufgestellt an irgendeinem (aber dann festen)Ort, einigen müssen.

Wäre die Geschichte so verlaufen, hätten wir unseren Meter aus der Zeit,aus der Sekunde abgeleitet. Wäre so ein universelles Naturmaß zustandegekommen? Zwar: Eine Sekunde ist eine Sekunde ist eine Sekunde ...Aber: Was ist eine Sekunde?

Mason und Dixon versäumten nicht, in ihr rotes Buch auch die exakteUhrzeit ihrer Marsmeter-Definiton einzutragen:„43 Uhr 61 Minuten 37 Sekunden“.

Dieser Eintrag hatte eine ganze Weile gedauert, da die beiden in Streitverfallen waren, wie denn nun die korrekte Umrechnung in die neue Mars-zeit zu geschehen habe, die erst in diesem Marsjahr in Kraft getreten warund die den Marstag in 64 Marsstunden, diese in 64 Marsminuten und diesewiederum in 64 Marssekunden teilte. Das kalendarische Datum trugen siemit Bleistift, also vorläufig, ein, da die Kalenderreform noch in vollemGange war und derzeit niemand wusste, welches Jahr, geschweige dennwelchen Tag man gerade schrieb.

[Viel später sollten Astronauten, die irdische und die marsianische Sekun-de vergleichend, ein Zeitverhältnis von „1 zu 0,338“ feststellen. Bei derKalenderfrage hätten sie nur weise mit dem Kopf geschüttelt.]

Die Zeit fließt bekanntlich stur undgleichmäßig vor sich hin, durchnichts zu beeinflussen und erst rechtnicht von Menschen, die sich Ge-danken über sie machen und sie inein ebenso gleichmäßiges, natür-liches Korsett zwingen wollen. Dasirdisch erlebbare Zeitmaß ist dabeidie Dauer von Sonnenaufgang zuSonnenaufgang, ein Erdentag. EinErdenjahr ergibt sich damit zwang-los als die Summe von Tagen zwi-schen Sonnenwende und Sonnen-wende. Aber wie den Tag feinerunterteilen? Kehren wir bei dieserFrage kurz zurück zu Delambre undMéchain, bzw. zurück ins revolutio-näre Frankreich. Zwischenzeitlich,der Meter war glücklich geboren,schien auch die Zeit ein Opfer desmetrischen Fiebers zu werden.Warum nicht auch den Tag deka-disch teilen und damit den Sieges-zug der Zehn auch auf Sekunde,Minute, Stunde ausdehnen und etwa100 Sekunden pro Minute spendie-ren und 100 Minuten pro Stunde?Nüchtern betrachtet spricht nichtsdagegen, außer der Tatsache, dassnur schwer zu ändern ist, was seitJahrhunderten besteht und woransich „die Welt“ gewöhnt hat. Undaußerdem: Die gewöhnlicheSekunde (also die, die auch heu-te gilt) ist überaus menschlich,entspricht sie doch in etwa derDauer eines menschlichen Herz-schlags.

Gut sechs Milliarden Herzschlägeoder 200 Jahre später ein „mo-derner“ Versuch, die Zeit in„10 hoch x“ zu teilen: Für denharten Kern der Internetgemeindewird schnell die Nacht zum Tag undder Tag zur Nacht. Kommuniziertwird rund um den Globus – jeder-zeit; Datenpakete kennen keineirdische Uhrzeit und auch der Surferin San Francisco weiß nicht unbe-dingt, wie spät es gerade bei seinemChatpartner in Oslo ist. Was liegt danäher, als eine weltumspannendeInternetzeit zu schaffen, die sich umden lokalen Sonnenstand nichtschert. 1000 „Beats“, so der Vor-schlag, könnten doch das Maß fürden globalen Tag, für eine echteWeltzeit sein. Ein Beat dauert also –in alten Maßen gesagt – eine Minuteund 26,4 Sekunden.

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Ob diese konsequente Fortsetzung des dekadischen Prinzips Erfolg hat,bleibt abzuwarten. Vielleicht beißt sich das dekadische Prinzip an der Zeitauch seine Zähne aus und gibt sich zufrieden mit der Vaterschaft von Meterund Kilogramm. Kilogramm? Ach ja, auch das Kilogramm ist nicht nur inZehnerhäppchen nach Gramm, Milligramm, Mikrogramm, ... zu teilen.Auch das Kilogramm selbst ist mit der Zehn (nicht nur im Namen) auf dasInnigste verbunden. Ins Spiel kommt die Zehn, wie sollte es anders sein,über die Länge. Während unsere mittlerweile wohl bekannten Astronomendurch die Welt reisten, um zu sagen, was ein Meter ist, saß in seinem PariserLaboratorium der Chemiker Lavoisier und experimentierte mit einem klas-sischen Urstoff – mit Wasser. Lavoisier raubte dem Wasser seinen Mythos,ein Element zu sein, indem er es als Zusammengesetztes (er konnte es ausLuft synthetisieren) entlarvte.

Auch auf dem Mars sind die beidenLandmesser Mason und Dixon mitt-lerweile Geschichte. Übrigens eben-so wie die gesamte Marskultur. Op-fer einer interstellaren Kollision.Als die Marssonde Viking 13 im Er-denjahr 2043 auf dem roten Plane-ten aufsetzt, findet sie – ebenso wieihre Vorgängermissionen – kein Le-ben. Aber: In einer Tiefe von 16 Me-tern unter dem Gesteinbrocken „BigJoe“, den schon Viking 1 Ende desletzten Jahrhunderts entdeckt hatte,macht die Viking-13-Besatzung ei-nen bemerkenswerten Fund. In ei-ner nahezu unzerstörten Metallkistefindet sie ein rotes Buch, das mitmathematischen Berechnungen ge-füllt scheint. Die letzte Eintragung –so werden die Hieroglyphenexper-ten der Erde später feststellen – lau-tet „43 Uhr 61 Minuten 37 Sekun-den“. Darunter finden sich, statteiner Unterschrift, die Abdrückezweier kindergroßer Handpaare –an jeder Hand sind vier Finger.

JENS SIMON

Aber Lavoisier wollte mehr. Er wollte ein ein-heitliches (und natürlich universelles) Maß fürdie Masse finden; die Früchte seiner Masse- undGewichtsforschung erlebte Lavoisier, der 1794in den Wirren der Revolution guillotiniert wur-de, nicht mehr. Die Definition der Masseeinheiteinige Jahre später hätte ihn jedoch gewiss mitGenugtuung erfüllt: Das Kilogramm wurde defi-niert als die Masse eines Kubikdezimeters(schon wieder die Zehn!) reinen Wassers.

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Ein Fingerzeig als Nachtrag

Was unsere Viking-13-Astronauten nicht

auf Anhieb erkannten: Die Macht unserer

Finger! Natürlich entwerfen Erdbewohner

mit ihren zehn Fingern ein Zahlensystem,

das auf der Zehn beruht: ein Dezimalsys-

tem. Marsbewohner hingegen mit ihren

acht Fingern entwerfen ebenso natürlich

ein Zahlensystem, das auf der Acht

beruht: ein Oktavsystem. Die in Zahlen

und Maßen konsequenten Marsbewohner

mussten also förmlich den Marstag in

64 (= 8 · 8) Marsstunden, diese Mars-

stunde in 64 Marsminuten und diese

wiederum in 64 Marsminuten, teilen.

Insgesamt macht dies 262 144 Mars-

sekunden auf einen Marstag. In ir-

dischen Maßen gerechnet dauert ein

Marstag hingegen (der Mars dreht

sich etwas langsamer als die Erde)

24 Stunden und 37 Minuten und

32 Sekunden; oder insgesamt

88 642 irdische Sekunden. Die

Dauer eines Marstages in

irdischen Sekunden geteilt

durch die Dauer eines Mars-

tages in Marssekunden ergibt

damit das Verhältnis von

„1 zu 0,338“. Und somit lässt

sich auch leicht die fremd

anmutende Uhrzeit im roten

Buch entschlüsseln. Ein

Erdbewohner würde zur

Marszeit 43 Uhr 61 Minu-

ten 37 Sekunden sagen:

16 Uhr 29 Minuten

9 Sekunden. Aber was

würde er sagen, sollte

tatsächlich dann die

Internetzeit mit ihren

1000 Beats pro Tag

den Takt der Zeit

bestimmen? Aber

diese Frage sei den

Schulbüchern mit

den beliebten

Dreisatzaufgaben

überlassen. Drei?

„Und Drei

mach gleich,

So bist Du

reich. ...

Und Neun

ist Eins,

Und Zehn

ist Keins.“

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Dabei verstehen die Wissenschaftlerder PTB unter Genauigkeit etwasanderes als Normalsterbliche. Inihren Augen ist es eine vage Ange-legenheit, wenn etwa zwei Messun-gen einer 1-Volt-Spannungsquelleum ein zehntausendstel Volt von-einander abweichen. Wenn HansBachmair, Leiter der PTB-Abtei-lung „Elektrizität“, über die Span-nungseinheit Volt oder die Wider-standseinheit Ohm referiert, sospricht er über „Unsicherheiten

Nur wenige Fakten aus dem Schul-unterricht prägen sich für immerein: Die Kriege Alexander des Gro-ßen im Jahre 333 v. Chr. und derSatz „Punktrechnung geht vorStrichrechnung“ gehören wahr-scheinlich dazu. Von den Dingen,die in den Physikstunden gepauktwerden, ist wohl das OhmscheGesetz U = R · I (Spannung istgleich Stromstärke mal Widerstand)am besten im Gedächtnis verankert.Gemeinhin gilt Schulwissen nichtals Ansatzpunkt für aktuelle For-schung – und doch widmen Exper-ten der Abteilung „Elektrizität“ derPTB einen Teil ihres wissenschaftli-chen Lebens dem Ziel, die Gültig-keit des Ohmschen Gesetzes mitbisher unerreichter Genauigkeitnachzuweisen.

zwischen 10–7 und 10–11“. ImKlartext: Es geht um zehnmillions-tel bis hin zu hundertmilliardstelBruchteile (1)*.

„Verbesserungen in der Messtechnikund der technologische Fortschrittin unserer Gesellschaft sind un-trennbar miteinander verbunden“,sagt Bachmair. Trotzdem fällt wederihm noch seinen Mitarbeitern einBeispiel dafür ein, dass dies imtäglichen Leben unmittelbar spür-bar wurde. Denn damit ein Fernse-her ein einwandfreies Bild liefert,reicht es normalerweise, wenn dieWiderstände im Gerät bis aufzehntel Ohm mit den Soll-Wertenübereinstimmen – eine weit größereAbweichung also als diejenigen, mitdenen sich die Forscher der PTBbeschäftigen.

Doch um die Widerstände undSpannungspegel konsumelektro-nischer Geräte überprüfen zukönnen, benötigen TechnikerMessinstrumente, welche dieDifferenz zu den gewünschtenWerten vergleichsweise exakt

erfassen. Diese Messgeräte werdenvon Zeit zu Zeit kalibriert – vonIndustrielaboratorien, die sie mitNormalwiderständen oder elektroni-schen Spannungsnormalen verglei-chen. Die Laboratorien wiederummüssen die Normale immer wiederkontrollieren lassen – von einemanderen Labor, das noch hochwerti-gere Normale besitzt, oder vomjeweiligen metrologischen Staats-institut. So entsteht eine pyramiden-förmige Mess-Hierarchie, an derenSpitze in Deutschland die PTBsteht. „Dabei zieht eine Kalibrie-rung bei uns 10 000 Kalibrierungenin der Industrie nach sich“, erläutertBachmair. Je tiefer die Hierarchie-stufe, umso geringer ist die erzielteMessgenauigkeit. Die möglichstgeringe Unsicherheit bei der Be-stimmung elektrischer Einheiten inder PTB und an anderen metrologi-schen Staatsinstituten ist wichtig,damit beispielsweise Produzentenvon Fernsehgeräten trotz einerAnzahl zwischengeschalteterKalibrierungsschritte die Qualitätvon Bauteilen ausreichend gutmessen können.

Das Maß aller ElektrizitätIn den Labors der Physi-kalisch-Technischen Bun-desanstalt (PTB) gibt es1-Volt-Spannungen, dieso groß sind, wie sie sein

sollten: 1 Volt – und nicht1,000 000 001 Volt. Und dasnicht nur letztes Jahr imMai, sondern auch heuteoder 2004.

Doch die Wissenschaftlerder Abteilung „Elektrizität“finden trotzdem keine Ruhe.

(1) 10–7 bedeutet: 1/107 = 1/10 000 000 (sieben Nullen!) =0,000 000 110–11 bedeutet: 1/1011 = 1/100 000 000 000 (elf Nullen) =0,000 000 000 01

(2) Für die von-Klitzing-Konstante RK gilt: R

K = h/e2, wobei h das

Plancksche Wirkungsquantum und e die Elementarladung ist.

Für den Hall-Widerstand RH gilt: R

H = 1/i · R

K , mit i = 1, 2, 3, ...

(3) Für die Josephson-Konstante KJ gilt: K

J = h/2e

Für die Spannung U gilt: U = n · KJ · f, mit n = 1, 2, 3, ...

f ist die Frequenz der eingestrahlten Mikrowelle.

(4) Für die Stromstärke I gilt: I = n · e · f, mit n = 1, 2, 3, ...f ist die Frequenz der eingestrahlten elektromagnetischen Welle.

* siehe nebenstehenden Kasten

h2e

h e

V

e2

Bild 1: Das Dreiecksverhältnis elektri-scher Einheiten gründet auf Natur-konstanten.

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maßstäbe 11

Lagert sich bei der Herstellungeines Widerstandsnormal-Chips(Bild 3) ein Staubkorn in seinewinzigen Strukturen ein, so funk-tioniert dieser später in der Regelnicht. Deshalb entstehen die Chipsim Reinraumzentrum der PTB: Dortsorgen Luftfilter und Klimaanlagesowie die Schutzkleidung derArbeitenden dafür, dass in jedemLiter Luft nur rund drei Staubkörnervorkommen. Zum Vergleich: Natur-freunde genießen „reine“ Gebirgs-luft mit mehr als tausendmal sovielen Schmutzpartikeln, an beleb-ten Straßenkreuzungen fliegen sogarmillionenfach mehr Staubteilchenherum.

Auch die Quantennormale für dieSpannung werden im Reinraumhergestellt. Wichtige Bestandteiledieser Normale sind supraleitendeMaterialien: Diese haben bei tiefenTemperaturen keinen elektrischenWiderstand mehr, so dass der Stromverlustfrei durch sie hindurchfließenkann. Der Brite und spätere Nobel-preisträger Brian Josephson hattebereits 1962 theoretisch vorausge-sagt, dass messbar quantisierteSpannungen auftreten, wenn zweiSupraleiter durch eine sehr dünneIsolatorschicht miteinander verbun-

Wer verstehen will, wie es denPTB-Experten und ihren Kollegenin den anderen metrologischenStaatsinstituten gelungen ist,elektrische Einheiten mit schierunfassbarer Genauigkeit zu bewah-ren, muss den Physikern gedanklichin eine Welt folgen, in der die NaturSprünge macht. Dort können phy-sikalische Größen nicht jeden be-liebigen Zahlenwert annehmen,sondern treten nur portionsweise –Fachjargon: quantisiert – auf. Unterbestimmten Voraussetzungen lässtsich diese Quantisierung bei einigenMaterialien beobachten.

den werden und eine Mikrowelleeingestrahlt wird. Senden die PTB-Wissenschaftler einen Gleichstromdurch eine solche Anordnung –Fachjargon: Josephson-Element(Bilder 4 und 5) –, so entsteht eineSpannung, die ein Produkt aus derFrequenz dieser Mikrowelle undeinem ganzzahligen Vielfachen derreziproken Josephson-Konstante ist(3)*. Die Josephson-Konstante lässtsich wie die von-Klitzing-Konstanteauf Naturkonstanten zurückführen,die überall auf der Welt gleich sind– und die in fünf Jahren immer nochden gleichen Zahlenwert haben wieheute.

1990 haben sich alle metrologischenStaatsinstitute darauf geeinigt,Widerstands- und Spannungs-kalibrierungen auf diese Quanten-normale zu beziehen. Seither gibt esbei Kalibrierungen in verschiedenenStaatsinstituten keine messbarenUnterschiede mehr. Dies hat denWeg dazu geebnet, dass heute mitoffiziellen Verträgen Kalibrierungengegenseitig anerkannt werden unddamit früher bestehende Handels-hemmnisse beseitigt worden sind.

Zeit der Messung immer exakt dengleichen Wert haben. Der Physik-Nobelpreisträger des Jahres 1985,Klaus von Klitzing, hatte die Quan-tisierung des Widerstandes in einemstarken Magnetfeld und damit denQuanten-Hall-Effekt entdeckt, als erspezielle Silizium-Transistorenuntersuchte (Bild 2).

Bild 2: Schon ein Museumsstück: Andiesem Silizium-Chip entdeckte Klausvon Klitzing den Quanten-Hall-Effekt.

Wissenschaftler und Techniker derPTB stellen solche Materialien her.Wesentlicher Bestandteil der Quan-tennormale für die Widerstands-messung sind Mikrochips auf derBasis von Galliumarsenid. „DieChips sind eng verwandt mitelektronischen Bauteilen, die früherin Handys eingesetzt wurden undsich heute noch in Parabolantennenfinden“, sagt Erich Braun, Leiterdes Fachbereichs „Gleichstrom undNiederfrequenz“. Schicken dieWissenschaftler bei einer Tempe-ratur von rund minus 269 GradCelsius einen Strom durch einensolchen Chip und legen gleichzeitigein Magnetfeld an, das mehr als200 000-fach stärker ist als dasErdfeld, dann beobachten sie einenWiderstand, der ein Bruchteil der sogenannten von-Klitzing-Konstanteist. Diese wiederum setzt sich auszwei Naturkonstanten (2)* zusam-men, die unabhängig von Ort und

Bild 4: Perfekte Falttechnik für dasSpannungsnormal: Rund 14 000Josephson-Kontakte erzeugen 14 Volt.

Bild 3: Ein Chip für ein Ohm – mitsolchen Proben realisiert die PTB dieWiderstandseinheit.

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Lediglich 20 mal 50 Mikrometer(tausendstel Millimeter) groß ist einJosephson-Element, das aus demMetall Niob – bei tiefen Temperatu-ren supraleitend – und dem IsolatorAluminiumoxid besteht. Damitlassen sich Spannungen von einigentausendstel Volt erzeugen. UmSpannungen von 10 Volt zu produ-zieren, schalten die Wissenschaftler14 000 Josephson-Elemente aufeinem Chip hintereinander. DieFertigung eines solchen Bauteils isttechnologisch extrem aufwändig.Das hat seinen Preis: Auf demfreien Markt kostet er rund10 000 Euro.

Quantennormale weiterzuentwi-ckeln: Diese sollen künftig einfa-cher zu bedienen sein und – infernerer Zukunft – auch als Normalfür Wechselströme dienen können.

Kohlmanns Kollege Braun hatderweil einen Wunsch: „Was manmit der Funkuhr bei der Zeit er-reicht hat, das sähe ich auch gernebei der elektrischen Einheit Ohmrealisiert: Jedermann kann sich miteinem kleinen, handlichen Gerätden exakten Wert eines Widerstandsanzeigen lassen“. Bis jetzt gibt esQuanten-Widerstandsnormale anden metrologischen Staatsinstituten,aber auf dem freien Markt sind sienicht erhältlich. Braun und seineMitarbeiter erforschen deshalbbeispielsweise Materialien, beidenen der Quanten-Hall-Effektschon bei vergleichsweise kleinenMagnetfeldern auftreten könnte. DieErzeugung der bisher nötigen Mag-netfelder ist extrem aufwändig undteuer – einer der Gründe, warumQuanten-Widerstandsnormale nichtweiter verbreitet sind.

Für den Quanten-Hall-Effekt gibtes bisher keine befriedigende theo-retische Erklärung. So ist auch nichtsicher, dass die von-Klitzing-Kon-stante – und damit die Naturkon-stanten, die in ihr zusammengefasstsind – den Hall-Widerstand tatsäch-lich richtig beschreibt. Einige Phy-siker sind überzeugt, dass nochnicht genau genug gemessen wer-den kann, um zu entdecken, dassKorrekturwerte angebracht werdenmüssen. Theoretisch jedenfalls istklar, wie die Zweifel zerstreutwerden können: Zunächst müsstendie Wissenschaftler ein Quanten-normal auch für die Stromstärke

realisieren. Anschließend könntensie die Quantennormale für Span-nung, Stromstärke und Widerstandin einem einzigen Experiment zu-sammenführen und überprüfen, obsie analog dem Ohmschen Gesetzmiteinander verknüpft sind (sieheBild 1).

Bild 5: Zum Zersägen designt: Wafer mitsechs Schaltungen für 10 Volt und vierfür 1 Volt

Die gesamte Versuchsanlage – alsodas Josephson-Spannungsnormal –ist derzeit nicht unter 200 000 Eurozu haben. An den metrologischenStaatsinstituten sind die Normaleetabliert und werden durch interna-tionale Vergleiche überprüft. Dochwegen der hohen Kosten sind dieIndustrielaboratorien, die über einsolches Normal verfügen, derzeitweltweit noch an zwei Händenabzuzählen. Die PTB ist daraninteressiert, dass sich das ändert.„Wir haben das Know-how und dieFertigungstechnologie für dieJosephson-Chips auf das Institut fürphysikalische Hochtechnologie(IPHT) in Jena übertragen. DasIPHT wiederum baut die Chips fürdie Firma PREMA Semiconductorin Mainz, die komplette Josephson-Normale kommerziell anbietet“,berichtet Experte Johannes Kohl-mann. Er und einige andere PTB-Wissenschaftler konzentrieren sichinzwischen darauf, die Josephson-

Bild 7: Elektronen einzeln zählen? Ja,mit solchen Transistorstrukturen!

Bild 6: Brückenbau im Nanokosmos –auf dem Weg zu einem Quantennormalfür das Ampere

Tatsächlich gelingt es den PTB-Forschern bereits, nanometer-(millionstel Millimeter)großeStrukturen aus Metallen oderHalbleitern herzustellen (Bilder 6und 7), in denen bei tiefen Tem-peraturen Elektronen als Trägerder kleinstmöglichen elektrischenLadung gleichsam einzeln abgezähltwerden können. Kühlt man dieseBauteile auf nur einige hundertstelGrad über dem absoluten Nullpunktund setzt sie elektromagnetischerStrahlung aus, so fließt ein quan-tisierter Strom (4)*. Doch noch istdie Unsicherheit, mit der er be-stimmt werden kann, vergleichswei-se groß – zu groß, um festzustellen,ob das Ohmsche Gesetz auf derEbene der fundamentalen Natur-konstanten bestätigt wird. Das zuändern ist eine große Herausforde-rung für die Zukunft, findetBachmair: „Schließlich könntenwir dann Grundlagen der Physikentweder stützen oder ins Wankenbringen.“

FRANK FRICK

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Die SpurensucherSie arbeiten ohne Lupe und Karomantel, aberdetektivischer Spürsinn ist mit im Spiele, wenn dieAnalytiker der PTB versuchen, winzige Mengen chemischerSubstanzen immer noch genauer aufzuspüren.

1963: In den USA erscheint ein Buch, das die Öffentlichkeit aufrüttelt. „Silent Spring“ von RachelCarlson schildert die Folgen des massenhaften Einsatzes von DDT: Ein Frühling ohne Vögel ist einstummer Frühling. Das Mittel tötet wahllos Insekten, egal ob schädlich oder nützlich, und damitauch die Nahrung vieler Vögel. Gerade seine breite Wirksamkeit hatte DDT einst berühmtgemacht. 1939 entdeckte Paul Hermann, Chemiker bei der Schweizer Firma Ciba Geigy,dass die seit Jahrzehnten bekannte Substanz mit dem chemischen Namen Dichlor-diphenyltrichlorethan ein ungewöhnlich wirksames Insektizid und für den Men-schen offenbar völlig unschädlich war. Als er dafür 1948 den Medizin-Nobel-preis bekam, hatte man DDT bereits weltweit mit großem Erfolg eingesetzt: Inder Landwirtschaft, wo es beispielsweise der Kartoffelkäferplage in derSchweiz ein Ende bereitete. Auf Kriegsschauplätzen, wo es dieAmerikaner und Engländer benutzten, um Seuchen einzu-dämmen. Über Sümpfe gesprüht sollte das Mittel dieMalaria-Überträgerin, die Anophelesmücke, aus-rotten. So wurden nach dem Zweiten WeltkriegTeile von Griechenland und Sardinien, die jahr-hundertelang malariaverseucht waren, vonder Krankheit befreit. Die Weltgesundheits-organisation (WHO) versuchte bis 1962,mit Hilfe von DDT, die Malaria welt-weit auszurotten – mit guten Erfolgenbeispielsweise in Südamerika undOstasien. Erst in den 60er Jahren brachder Mythos zusammen. Man entdeckte,dass die breite Wirkung ein ökologischerNachteil war. Und man entdeckte, dassDDT extrem schlecht abgebaut wird. Es rei-chert sich über Jahrzehnte in der Umwelt undim Fettgewebe von Tieren und Menschen an.Daraufhin wurde der Stoff in den meisten Ländern verboten – in der Bundesrepublik Deutschlanddurch das DDT-Gesetz von 1972. In der DDR wurde das Mittel dagegen noch bis in die 80er Jahrehergestellt und in großem Umfang als Pflanzen- und Holzschutzmittel verwendet.

Fotos: Zefa, Pasieka (oben); Zefa, A. Inden (unten)

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1998: In der Berliner Zeitung erscheint eine Meldung, die eigentlich nichtüberrascht: In mehreren Trinkwasserbrunnen der Stadt hat man DDT gefun-den. Die Werte liegen zwar mit 50 Nanogramm pro Liter deutlich unter demGrenzwert von 100 Nanogramm, den die deutsche Trinkwasserverordnungfür Pflanzenschutzmittel vorsieht. Aber rund 70 Prozent der Havelfische imBerliner Raum seien inzwischen weiblichen Geschlechts, meldet die Zei-tung. Dass DDT auf viele Tiere ähnlich wie ein Hormon wirkt, weiß manlängst. Immer wieder untersuchen Ärzte, ob es auch beim Menschen dieFruchtbarkeit beeinflusst oder gar Krebs auslösen kann – mit unterschied-lichen Ergebnissen. Aber Tatsache ist: DDT findet sich überall. In derRaumluft vieler Haushalte oder in der Muttermilch sinken die Konzentra-tionen. Anderswo reichert sich der Stoff weiterhin an: in kalten Gegendender Erde, an den Polen und auch in österreichischen Alpenseen. Hier kannes wegen der Kälte nicht verdampfen. Endstation für ein Mittel, das sichweltweit über die Atmosphäre verbreitet und für dessen Nachschub weiter-hin gesorgt ist.

Denn DDT ist die letzte Hoffnung für viele ärmere Länder in ihrem Kampf gegendie Malaria. Die Krankheit ist durch den großen DDT-Einsatz der 60er Jahre zwarzurückgegangen, breitet sich heute aber wieder aus. Ob es an der globalen Erwär-mung liegt (die Anophelesmücke lebt heute in Gegenden, in denen es sie frühernicht gab) oder ob die Mücke ihre Verhaltensweisen geändert hat (sie sticht heutemehr als früher innerhalb von Gebäuden) – das Problem ist riesig. Auf den Inter-netseiten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird die Größenordnung deut-lich: „Malaria tötet alle 30 Sekunden ein Kind“, „weltweit schätzungsweise eineMillion Tote pro Jahr“, „ein Problem für 40 % der Weltbevölkerung“ – mit solchenSchlagzeilen wirbt die WHO für ihre internationale Bekämpfungsaktion „Roll BackMalaria“, die den besonders Betroffenen, den ärmsten Bevölkerungsschichten, mehrWissen, Vorsorge und vor allem bessere Medikamente bringen soll. Diese Maßnah-men seien nutzlos, klagen Wissenschaftler beispielsweise aus Südafrika. Die Medi-kamente seien immer noch zu teuer und führten zudem schnell zu Resistenzen. Inder südafrikanischen Provinz Kwa Zulu-Natal hat sich von 1998 bis 2000 die Zahlder Malaria-Toten auf 28 000 verdoppelt. Seit letztem Jahr wird hier das 1996 ver-botene DDT wieder eingesetzt – zwar nicht großflächig auf den Feldern, sondern inden Häusern. Auch andere Entwicklungs- und Schwellenländer glauben auf dasMittel nicht verzichten zu können. Und deshalb steht der Stoff zwar auf der Listedes „Schmutzigen Dutzend“ – zwölf Stoffe, die die Vertreter von 120 Staaten nochim Jahr 2001 weltweit verbieten wollen. Aber es gilt als sicher, dass für DDT nochlange Zeit Ausnahme- und Übergangsregelungen gelten werden.

2001: Das Ergebnis des dritten internatio-nalen „Key Comparison“ zu Organochlor-Pestiziden erscheint. Das weltweite Pro-blem DDT beschäftigt nicht nur Ärzte undPolitiker, sondern auch die Spezialisten fürgenaues Messen. „Diesmal waren, andersals bei den beiden Pilotstudien, nur nochnationale Metrologie-Institute beteiligt.Das ist bei Schlüsselvergleichen die Re-gel“, erklärt André Henrion aus dem Labo-ratorium „Metrologie in der Chemie“, dasfür die PTB in den Ring gestiegen ist. Indem ehrgeizigen Vergleich der weltweitbesten Analysemethoden bekamen die PTB

Fotos (2): PhotoDisc

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und ihre neun Mitstreiter – Schwesterinstitute aus allen Ecken der Welt, vonKorea bis Canada – jeweils eine Serie von Probenfläschchen ins Haus ge-schickt. Die kleinen Glasröhrchen enthielten Fischöl, in dem die Forscherwinzige Mengen von DDE, einem Abbauprodukt des DDT, ausfindig ma-chen mussten. Es gleicht der Suche nach der berühmten Nadel im Heuhau-fen: DDE findet sich in solchen Materialien in Mengen von (höchstens!)einigen Mikrogramm je Gramm. Bildlich gesprochen ist es, als suchte manin einer Großstadt unter einer Million Einwohnern einen ganz bestimmtenMenschen. Man bewegt sich also im ppm-(parts per million)-Bereich. „Dasist mit den modernen Methoden der instrumentellen Analytik grundsätzlichkein Problem“, sagt Henrion. „Heutzutage erreicht man auch ppb (parts perbillion) und ppt (parts per trillion).“

Henrion und seine Kollegen unterzogen die Fischöl-Proben der üblichenMessprozedur: Es beginnt mit einer aufwändigen Probenvorbereitung. Somusste in diesem Beispiel zunächst das DDE von der Hauptmenge des Öls,das die nachfolgende Messung stören würde, abgetrennt werden. Dannsteckt der Techniker die Röhrchen in eine Art Servierteller: eine rundeScheibe, die sich dreht und Probe für Probe dem Gas-Chromatographenreicht. Von nun an passiert alles automatisch: Die Proben werden erhitzt,die Stoffe gehen in die Gasphase über und strömen durch die feinen Kapil-lar-Rohre des Chromatographen. „Je nach seinen chemischen und physikali-schen Eigenschaften tritt das Gas verschieden stark in Wechselwirkung mitder Innenbeschichtung der Kapillarwand“, erklärt Henrion. Einige strömenschnell weiter, andere halten sich länger auf. „Es ist wie bei einer GruppeMenschen, die durch eine Einkaufsstraße geht. Wenn es viele Boutiquengibt, bleiben die Damen zurück, die Herren sind schneller am Ende der Stra-ße“, sagt Henrion. Jede Substanz hat eine charakteristische Retentionszeit(Aufenthaltszeit in der Kapillare). Das ist das erste Indiz in einer wahrlichdetektivischen Suche. Aber noch fehlt das zweite Indiz: „Wir wissen jetzt,

wann welche Substanz ankommt. Nun brauchen wir einen Detektor, der unssagt, wieviel ankommt“, sagt Henrion. Ein sehr hochwertiger und äußerstempfindlicher Detektor steht gleich in mehrfacher Ausführung in den Labo-ren der PTB: ein Massenspektrometer. Es funktioniert nach einem ähnlichenPrinzip wie eine Zentrifuge: Geladene Teilchen (wie etwa das Molekül-Iondes DDE) werden zunächst beschleunigt. Dann zwingt sie ein Magnetfeldauf Kreisbahnen mit unterschiedlichen Radien; schwerere Ionen landen wei-ter außen als leichtere. So werden die Substanzen gewissermaßen nach derMolekülmasse sortiert. Nach etwa einer Viertelstunde liefert der Computereine Kurve mit einer Reihe von Signalen, ein „Massenchromatogramm“.Die Fläche unter den Signalen ist ein Maß für die Substanzmenge. Wel-ches der Signale zum DDE gehört, wissen die Analytiker genau, denn siehaben vorher eine Probe mit reinem DDE hindurchgeschickt und auf die-se Weise eine Vergleichskurve erhalten. Die PTB-Chemiker ermittelteneinen Wert von durchschnittlich1,535 µg DDE pro Gramm Fischöl.„Damit lagen wir gut im Rennen“,sagt Henrion. Insgesamt wichen dieWerte, die beim britischen Labo-ratory of the Government Chemist(LGC) eintrafen, um maximal zweiProzent voneinander ab – ein sehrbefriedigender Wert bei der Analyseeines so komplexen chemischenStoffs.

Fotos (2): MEV, Peter Horn

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Die Definition der SI-Basiseinheit Mol:

Ein Mol ist die Stoffmenge eines Systems, das aus eben-soviel Einzelteilchen besteht, wie Atome in 0,012 kg desKohlenstoffisotops 12C enthalten sind. Bei Benutzung desMol müssen die Einzelteilchen spezifiziert sein und kön-nen Atome, Moleküle, Ionen, Elektronen sowie andererTeilchen oder Gruppen solcher Teilchen genau angege-bener Zusammensetzung sein.

Das heißt: ein Mol eines Stoffes besteht aus ungefähr6,022 · 1023 solcher Teilchen. Natürlich kann man dieseAnzahl nicht direkt zählen. Die Stoffmenge von 1 mollässt sich aber wiegen: 1 mol Kohlenstoff(-atome) wie-gen genau 12 g.

Internationale Schlüsselvergleiche (Key Comparisons) sind seit zweiJahren gang und gäbe in der Welt der Metrologie. Im Oktober 1999

hatten die 48 Mitgliedsstaaten der Meterkonvention und zweier interna-tionaler Organisationen beschlossen, künftig ihre Messmethoden regel-

mäßig miteinander zu vergleichen. Der zunehmende internationaleHandel macht es immer wichtiger sicherzustellen, dass weltweit ein

Kilogramm wirklich ein Kilogramm ist – oder ein Mol ein Mol, wie indiesem Fall. Denn Henrion und seine Kollegen sind so etwas wie die

nationalen Hüter des Mol, der Einheit der Stoffmenge. In der Reihe dersieben SI*-Basiseinheiten ist das Mol so etwas wie ein bunter Hund –

und auch die jüngste von allen. Erst 1971 ist es in die illustre Rundeaufgenommen worden. „Es ist nicht schwer, von Kilogramm in Molumzurechnen. So gesehen, würde es ausreichen, Konzentrationen in

Masse durch Volumen anzugeben. Aber Mol ist nun einmal die Einheit,mit der Chemiker viel besser arbeiten können“, meint Henrion. Denn inder Chemie gilt: Ein Mol eines Stoffs reagiert mit einem Mol eines an-

deren Stoffs. Wollte man dasselbe in Kilogramm ausdrücken, müssteman mit unendlich komplizierten Zahlen rechnen. Denn ein Mol be-

steht aus einer bestimmten, sehr großen Anzahl von Atomen, Elektro-nen oder anderen Teilchen, die miteinander reagieren. Und weil die

Chemie nicht ohne Mol auskommt, hat die Internationale Konferenzfür Maß und Gewicht, die oberste Instanz für Entscheidungen rund umdie Einheiten, 1971 beschlossen, dass auch das SI nicht ohne Mol aus-

kommt.

Und weil alle diese Basiseinheiten in nationalen Metrologie-Instituten sorgfältig gehütet und ständig weiterentwickelt wer-

den, hat die PTB auch ihre Mol-Spezialisten. Sie hüten nichtnur das Mol – „Bewahren“ steht dafür im deutschen Einheiten-

gesetz –, sondern sie geben es auch weiter. „Das heißt nicht,dass jemand einfach zu uns kommen und sich das Mol abholenkann. Wir liefern Messungen“, erklärt Henrion. Für jeden Stoff

müssen neue Methoden entwickelt werden, die es erlauben,die Stoffmenge – die Anzahl Atome, Ionen oder Moleküle –

möglichst präzise zu ermitteln.

* SI: Internationales Einheitensystem(Système International d’ Unités)

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Henrions Laboratorium ist so etwas wie eine oberste Kontollinstanz in Deutsch-land. Wie bei anderen Messmethoden auch, laufen in der chemischen oder me-dizinischen Analytik die Fäden in der PTB zusammen. Jedes Analyselabor mussvon Zeit zu Zeit überprüfen, ob seine Messgeräte genau genug messen. Dasläuft genauso ab wie der Schlüsselvergleich zwischen den großen Metrologie-Instituten: Das Labor bekommt eine Substanz mit einem genau bekannten Ge-halt und muss nachweisen, dass die eigenen Messgeräte eben diesen Wert auchanzeigen. Das Labor, das diese Referenzmaterialien liefert und auch den genaubekannten Wert festgelegt hat, ist dafür eigens vom Deutschen Kalibrierdienst(DKD) akkreditiert worden. Eine ausreichende Anzahl von qualifizierten Mitar-beitern und eine gute Labor-Ausstattung sind nur einige der Kriterien, die dasLabor dafür erfüllen muss, ehe der DKD, der übrigens auf dem Gelände derPTB angesiedelt, ansonsten aber strikt von ihr getrennt ist, die begehrte Urkun-de schicken kann. Und auch ein akkreditiertes Labor unterwirft sich der Proze-dur der regelmäßigen Überprüfung. Dazu bekommt es Referenzmaterialien mitgenau bekannten Werten, die die Messgeräte zuverlässig anzeigen müssen. Die-se Referenzmaterialien stammen von der PTB, die damit die Spitze der Pyrami-de darstellt. Steigt man diese Pyramide Stufe um Stufe hoch, findet man immerweniger, aber dafür immer genauere Messungen vor. Das Prinzip nennt sich„Rückführung auf die SI-Einheiten“ und dient einem simplen Ziel: auch in denRoutinelaboratorien noch eine möglichst große Genauigkeit zu gewährleisten,ohne dass sich jedes dieser Labore ein Massenspektrometer im Wert von vielenHunderttausend Mark leisten muss.

Mit den internationalen Schlüsselvergleichen hat die Pyramide eine neueSpitze bekommen. Damit ist die PTB zum wahren „Global Player“ ge-worden – und gleichzeitig gut gerüstet für den Kampf gegen andere„Global Player“ wie DDT und andere Schadstoffe. Wer diesen Kampfgewinnt, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie gut das Team zusam-menspielt. „Wir haben im Team die Aufgabe, solche Stoffe mit möglichstgroßer Genauigkeit nachzuweisen“, sagt Henrion. „Damit liefern wir dieGrundlage für Ärzte, die herauskriegen müssen, wie gefährlich der Stoffnun wirklich ist, und Politiker, die letzen Endes entscheiden müssen, wasverboten wird und was nicht.“

Und die Zukunft könnte so aussehen:2010: Die dpa meldet den Durchbruch: Ein Chemieunternehmen hat ei-nen wirksamen und preiswerten Malaria-Impfstoff entwickelt. In eineminternationalen Moratorium ist DDT weltweit verboten worden.

ERIKA SCHOW

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Foto: Zefa, A. Inden

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Akustische Einheiten der TonhöheFrequenz (Hz): Die Anzahl Druckschwankungen oderSchwingungen pro Sekunde, angegeben in Hertz. Jemehr Schwingungen, desto höher der Ton.Wellenlänge (m): Schallwellen sind wie ein bewegtesMuster im Raum. Der Abstand zwischen zwei aufein-anderfolgenden Wellenbergen (Druckmaxima) ist eineWellenlänge, die man in Metern (oder Teilen davon)angibt. Sie ist umso kürzer, je schneller die Wellenber-ge aufeinander folgen, d.h. je höher die Frequenz ist.

Akustische Einheiten der LautstärkeSchalldruckpegel (dB): Schall ist eine regelmäßigeAbfolge von Druckschwankungen, die als Wellendurch den Raum wandern. Je höher der Druck, destolauter der Ton. Weil der Bereich von „gerade nochhörbar“ bis „schmerzhaft laut“ sehr groß ist, beschreibtman den Schalldruck mit einem logarithmischenMaßstab. Das Verhältnis eines bestimmten Schall-drucks zu einem Bezugswert wird in Dezibel (dB)angegeben. Man spricht dann vom Schalldruckpegel.In der physikalischen Forschung wird der Schalldruckauch in Pascal gemessen.Lautstärke (Phon): Wie laut ein Mensch einen Tonempfindet, hängt von der Tonhöhe (und dem Schall-druckpegel des Tons) ab. Deswegen hat man eine

weitere Einheit eingeführt: die Lautstärke in Phon.Bei einer einzigen Tonhöhe, einem Ton mit einerFrequenz von 1000 Hz, sind der dB- und der Phon-Wert gleich. Bei höheren oder tieferen Tönenbraucht man entweder mehr oder weniger dB, umdenselben Lautstärke-Eindruck hervorzurufen.

Einheiten in der physikalischen Forschung:Schallschnelle (m/s): Geschwindigkeit, mit dersich die Luftteilchen um ihre Ruhelage bewegen.Schalldruck und Schallschnelle kennzeichnenzusammen das Schallfeld, das die zeitlichen undräumlichen Eigenschaften eines Schallvorgangsumfassend charakterisiert.Schallleistung (Watt oder dB): Die Energie einerSchallquelle, die pro Zeiteinheit nach allen Seitenabgestrahlt wird.

AußerdemSchallgeschwindigkeit (m/s): Fortpflanzungsge-schwindigkeit, mit der sich die Druckschwankun-gen durch die Luft (oder ein anderes Medium) aus-breiten. Ihr mittlerer Wert beträgt in Luft 340 m/s;das bedeutet, dass ein Zuhörer in 34 m Entfernungvom Konzertpodium den Schall mit einer Verspä-tung von 1/10 Sekunde hört.

Einige wenige Menschen, Synästhetiker, können Tönewirklich sehen. Alle anderen sind auf die Bilder derAkustiker angewiesen. Ihre Messgeräte bilden die Weltdes Schalls in ihren vielen Dimensionen ab – mitgroßer Präzision und in ungeahnter Schönheit.

Die Form des Schalls

Was ist Schall?„It started with a kick“. So etwa beginnen Foot-ball-Spiele – und so entstehen Töne: Irgend einKörper bekommt einen Stoß. Dieser Stoß (oderDruck-Impuls) pflanzt sich fort – ähnlich wie indem Spiel, in dem eine Kugel angestoßen wird undam anderen Ende eine Kugel herausschwingt. DerImpuls wandert durch den schwingenden Körper,geht auf die Luftmoleküle über, pflanzt sich weiterfort und landet schließlich (vielleicht) im mensch-lichen Ohr, wo das Trommelfell zu schwingenbeginnt. Erst jetzt ist das Spiel zu Ende; nun wan-dert der Reiz als elektrisches Signal bis zum Ge-hirn. Aber etwas ist anders als beim Kugelspiel:Der Druck wandert nicht gleichmäßig durch denRaum, sondern schwillt an und ab. Diese Schwin-gung kann man als einen Wechsel von hohem undniedrigem Luftdruck darstellen. Folgen Wellenbergund Wellental ganz regelmäßig aufeinander, dannempfindet das menschliche Ohr einen Ton.Schwankt ihr Rhythmus unregelmäßig, dann stelltdas Ohr ein Geräusch fest.F

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maßstäbe 19

Ultraschall 1 MHz

50 µs

Extrem hohe Töne, für den Menschen nicht zu hören, wohl aber füreinige Tiere – das ist Ultraschall. Er beginnt knapp über der menschli-chen Hörschwelle bei ca. 20 kHz und geht bis etwa 10 GHz hinauf. Hierkommt er sehr nahe an die Wellenlängen von Licht heran. Wegen dieserÄhnlichkeit ist Ultraschall für viele Anwendungen in Technik, Medizinund Chemie ausgesprochen interessant.

In der PTB wird Schall sichtbar: ein Ultra-schallfeld in Wasser, aufgenommen mitder so genannten Schlierentechnik. DasLabor „Ultraschall“ gibt die Einheiten derFeldgröße von Ultraschallfeldern (Schall-leistung in Watt und Schalldruck in Pas-cal) an alle interessierten Nutzer weiter.Das sind vor allem die Hersteller vonMessgeräten, die ihre Geräte kalibrierenund prüfen lassen wollen.

Bereits beim wenige Zentimeter großen Fötus im Mutterleib sind die empfindlichenOrgane des Innenohres genauso groß wie beim Erwachsenen. Ob sich der Embryoäußerlich richtig entwickelt, zeigen moderne Ultraschallgeräte in 3- oder sogar 4-D-Technik (die vierte Dimension ist die Zeit; man sieht also den Embryo während derBewegung). Ultraschall ist ideal, um den Menschen schon so früh im Leben zu ver-messen. Er durchdringt lebendes Gewebe, ohne (bei richtigem Einsatz) Schadenanzurichten. Außerdem lässt er sich ähnlich bündeln wie Licht und damit zur Ortungund Hinderniserkennung nutzen. Ob in der medizinischen Diagnostik, beim Sonar(Echolot) in der Schifffahrt, bei Fledermäusen und Delphinen – überall geht es da-rum, aus der Zeit, die ein Ultraschallsignal braucht, um vom Sender zum Hindernis zugelangen, Abstände zu berechnen und so ein Bild von der Umgebung zu entwerfen.

Eine Luftblase in Wasser wird durch Ultra-schall zum Schwingen gebracht – und fängtplötzlich an, weiß-bläuliches Licht abzu-geben. Hier ist Schall in Licht umgewandeltworden. Das Phänomen der Sonolumines-zenz zeigt, wie nah verwandt Ultraschall-und Lichtwellen sind – und ist ein kleinesWunder. Denn bei der Umwandlung musseine ungeheure Energiebarriere überwun-den werden. Wie das sein kann, untersuchtDetlev Lohse von der Universität Twente inden Niederlanden. Mehr über die Blasen-dynamik zu wissen eröffnet faszinierendeMöglichkeiten z. B. in der Sonochemie:Dabei werden in einer Flüssigkeit mit Hilfevon Ultraschall viele pulsierende Blasengleichzeitig erzeugt. In ihnen können dannspezielle chemische Reaktionen ablaufen.

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Foto: Univ. Twente, Detlev Lohse und Rüdiger Tögel

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maßstäbe20

Hörschall 1000 Hz10 ms

Hörschall: Das menschliche Ohr hört Frequenzen von etwa 15 Hz bisca. 20 kHz (die obere Grenze hängt vom Alter ab; sie sinkt, wenn wirälter werden). 440 Hz hat der Kammerton a’, der klassische Stimmton inOrchestern.

Töne sichtbar zu machen ist auch das Prin-zip der „akustischen Kamera“, die Gerd Heinz

von der Berliner Gesellschaft zur Förderungangewandter Informatik entwickelt hat. EineArt „Linse“ aus vielen kleinen Mikrophonenfängt den Schall auf und ein Computer be-rechnet daraus ein „akustisches Bild“. Man

kann es über ein „normal“ fotografiertesUmrissbild legen und damit den Lärm sicht-

bar machen. Mit der akustischen Kameralässt sich der Lärm der unterschiedlichsten

Maschinen analysieren: von elektrischenHaushaltsgeräten, Motorrädern, Flugzeugen

bis hin zu U-Bahn-Zügen.

Horrorvision eines jeden Geigenbauers:Das Instrument ist fertig – doch einzelneTöne klingen scheußlich. Vielleicht kannjetzt moderne Messtechnik helfen. Mitdem Laser-Doppler-Verfahren lässtsich – über farbliche Codierung –sichtbar machen, welche Teile der Geigemit welcher Stärke (bzw. Amplitude)schwingen. Das Bild links zeigt dieSchwingungsverteilung bei einerFrequenz von 431 Hz. So können dieAkustiker herausfinden, ob womöglichein akustischer Kurzschluss für denschlechten Klang verantwortlich ist.

Let‘s twist again – was sich hier soanmutig bewegt, ist eine Stimmgabel,

dargestellt mit Hilfe der Modalanalyse.Links die Bewegung bei ihrer Grund-

stimmung 440 Hz, rechts der Tanz, densie vollführt, wenn sie ausnahmsweisemit einem sehr harten Gegenstand an-

geschlagen wird und man einen derObertöne (hier rund 7000 Hz) hört. Auf

den Grundton kommt es an: DasSonagramm (rechts) zeigt, dass

sie bei 440 Hz am kräftigstenund auch am längsten

schwingt. Denn eine Stimm-gabel soll einen möglichst

klaren Ton vorgeben, nach demsich Orchestermusiker richten

können – aber auch (beispiels-weise) Techniker, die beim Aus-

wuchten von Autoreifen einenfesten Bezugston brauchen. Sie

gehören zu den Kunden, die sich an diePTB wenden, um die Stimmung dieser

Geräte exakt prüfen zu lassen.

Fotos (2): Gesellschaft zur Förderung angewandter Informatik e. V.

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Infraschall 1 Hz1 s

Infraschallwellen sind zu langsam für das menschliche Ohr: Unterhalb16 Hz bis 20 Hz nehmen wir nur noch ein Brummen wahr. Aber vermut-lich verständigen sich Elefanten und Flusspferde mittels Infraschall überweite Entfernungen hinweg. Und dem Menschen liefert Infraschallwertvolle Informationen über weit entfernte Ereignisse.

Anderes Medium, gleiches Ziel: Auch in der Forschungsanstalt für Wasserschallund Geophysik in Kiel registrieren die Messgeräte jede unerlaubte Sprengung.Diesmal kommen die Schallwellen jedoch durchs Wasser. Töne vom Infraschall biszu 200 Hz durchqueren in 1000 Metern Tiefe die Weltmeere. Auf den Grafiken siehtman einige der Ereignisse, die die Forscher auf diese Weise beobachten (Farbeentspricht der Intensität der Töne). Weil sich die Signale eines Atomtests deutlichvon denen unterscheiden, die auf Erdbeben oder Vulkanausbrüche am Meeresgrund

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zurückgehen, werden auch die KielerForscher einen Platz in dem Netzwerkhaben, das die UNO aufbaut. Zurzeitentwickeln sie eine Messstation, dieunabhängig von jeder Kabelversorgungist und an jeden beliebigen Ort imOzean geschleppt werden kann.

13. Mai 2000, etwa 13.30 Uhr:Im niederländischen Enschede explodierteine Feuerwerksfabrik. Etwa 30 Minutenspäter rattert der Schreiber eines Mess-

geräts auf dem bayerischen Sulzberg an-ders als sonst; für das Infraschallsignal(rechts oben) waren die 625 Kilometer

zwischen den beiden Orten keine Entfer-nung. Die Wellen können den halben

Erdball umrunden. Einmal registriert, lässtsich der Ort ihrer Entstehung bis auf wenige

Kilometer genau ermitteln. Deswegen wirddie Station, die von der Bundesanstalt fürGeowissenschaft und Rohstoffe (BGR) inHannover betrieben wird, mit in das welt-

weite Netz von Lauschanlagen aufgenom-men werden, die im Dienste der VereintenNationen die Einhaltung des Atomwaffen-

Sperrvertrages überwachen sollen.

Nukleare Explosion, Muroroa, 27. Okto-ber 1995 (unten links)

Vulkanausbruch mit drei Eruptionen beiHawaii, 22. Juli 1996 (Mitte)

Seebeben nahe Japan. Bei ca. 20 Hzmischen sich noch andere Laute insBild; vermutlich haben hier einigeMeeressäuger „mitgeredet“ (rechts).

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Fotos: Forschungsanstalt für Wasserschall und Geophysik

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Wo die Zeit stillstehtDas vermeintlich eintönigste, aber zugleich abwechslungs-reichste Radioprogramm der Republik kommt via Lang-welle auf 77,5 kHz aus Mainflingen bei Frankfurt. Von hiergeht jede Minute ein neues, hochaktuelles Zeittelegrammüber den Sender. Wiederholungen in diesem Programm?Ausgeschlossen!*

Hier ist es anders. Anders als erwartet. Kein Empfangsschalter muss pas-siert, keine persönlichen Daten müssen überprüft werden. Der Weg führtauch nicht über teppichverlegte Gänge durch ein chrom- und glasblitzendesGebäude hin ins Allerheiligste, in dem Spezialisten vor riesigen Steuerpul-ten sitzen, eine Galerie von Monitoren mit den aktuellen Computeraus-wertungen im Blick haben und die Technik kontrollieren. Stattdessen: Achtausgetretene, laubverwehte Betonstufen abwärts, durch eine offensichtlicheinst graublau lackierte Blechtür hinein in das Kellergewölbe, Lichtschalterertastet, zehn Schritte weiter die nächste Tür, diesmal mit angeschraubtemSchildchen: PTB Braunschweig, Sendersteuerung, DCF77.

„Jetzt können Sie gleich den Charme der Dampfradio-Ära spüren“, sagtPeter Hetzel und schließt den Kellerraum auf, aus dem heraus das Land mitdem Takt versorgt wird, den es braucht: dem Sekundentakt der Atomuhren.Peter Hetzel, Ingenieur und Laborleiter bei der PTB in Braunschweig, istdafür zuständig, dass die Zeit nicht nur von der PTB gemacht, sondern auchweitergegeben wird. Und einer dieser Wege, die Zeit öffentlich zu machen,beginnt hier, in der Nähe von Frankfurt, in Mainflingen, in einem Keller-raum, ganz ohne die Statussymbole der Hochtechnologie. An der einenWand des vielleicht 25 m2 großen, fensterlosen Raums stehen ein paar alteHolztische mit einigen Werkzeug- und Schraubenkisten, GroßvatersBastelecke im heimischen Keller nicht unähnlich. Gegenüber dann dasEigentliche: Vier laufende Meter Stahlregal, im rechten Einschub ein Uralt-PC mit Bernsteinmonitor und einem 51/

4-Zoll-Laufwerk statt Festplatte,

darüber ein altes, graues Wählscheibentelefon, der Rest des Regals lücken-los gefüllt mit technischen Gerätschaften und Einschüben, unscheinbareFrontpartien in technischem Grau, hier und da ein kleiner Schalter, einDruckknopf, ein Stellrädchen, dort ein Drehzeigerinstrument und irgendwoan einer Stelle im Regal etwas Veränderliches: eine Digitalanzeige fürDatum, Uhrzeit, Wochentag. „So haben Sie sich das bestimmt nicht vorge-stellt“, sagt Peter Hetzel und schaltet den Lautsprecher ein, aus dem eingleichmäßiges, atmendes Geräusch kommt, das an das Pumpen einer Herz-Lungen-Maschine erinnert. Allerdings mit einem eingebauten Aussetzernach jedem 59. Takt. „Was Sie da hören, ist das Zeitzeichen, das wir aufLangwelle 77,5 Kilohertz aussenden. Die Pause bei jeder 59. Sekundekündigt dabei das folgende Zeichen als Minutenmarke an.“

Schon seit Ende der 50er Jahre strahlt die Sendestation MainflingenZeitsignale über Radiowelle aus. Damals war jedoch für das Programmnicht ausschließlich die PTB verantwortlich. Vielmehr teilte sie sich dieAufgaben mit dem Deutschen Hydrographischen Institut (DHI) in Ham-burg. Während die PTB für hochgenaue Uhren – damals noch Quarzuhren –sorgte, um die Trägerschwingung des Radiosignals zu erzeugen, kamen dieZeitzeichen vom DHI, das sich als zuständig für die Zeit betrachtete: Sosollten Schiffe auf See mit diesen Zeitzeichen ihre aktuelle Position und

* Mit normalen Langwellen-Radios kann es zwar nicht empfangen werden –aber mit „Radios für die Zeit“: Funkuhren liefern jedem, der sie haben will,die amtliche Zeit drahtlos ins Haus oder ans Handgelenk.

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ihren momentanen Kurs bestimmen können. Aber auch die öffentlichenRundfunkanstalten konnten dieses Signal für ihre Fernseh- und Radiouhren(„Beim nächsten Ton des Zeitzeichens ist es ...“) verwenden. Allerdingswurde das Verhältnis zwischen PTB und DHI ein wenig durch die Fragegetrübt, was denn nun die wahre gesetzliche Zeit sei: sollte die (Uhr-)Zeitdas Ergebnis des Tickens der allerbesten Uhren, zunächst Quarz-, späterdann Atomuhren, sein (der Standpunkt der PTB), oder sollte sich die Zeitnicht eher aus dem Lauf der Gestirne ableiten lassen (der Standpunkt desDHI). Die Diskussionen wogten hin und her, es wurden feinsinnige Unter-schiede zwischen Zeitmarken (astronomisch bestimmt) und so genanntenZeitmessmarken (per Quarzuhr bestimmt) aufgestellt und das DHI setztesich insofern durch, als die astronomisch bestimmten Zeitmarken währendder 60er Jahre jeweils für zehn Minuten zu Beginn einer jeden Stunde aufSendung gingen. Der Streit löste sich dann allerdings durch den Übergangvon Quarz- auf Atomuhren in Wohlgefallen auf, da auch die auf astronomi-scher Basis definierten Zeitzeichen sich in der Praxis auf das Ticken derAtomuhren abstützten.

„Das bis 1970 verwendete Sendeprogramm mit Zeitzeichen, Zeitmessmar-ken und dem Kammerton a war schon recht kompliziert“, meint auch PeterHetzel, während er mit einem Fingertipp an der Steuereinrichtung die inwenigen Tagen anstehende Umschaltung auf Sommerzeit eingibt. „Derentscheidende Schritt in der Entwicklung des Sendeprogramms auf denheutigen Stand war dann die Einführung eines Zeitcodes im Jahr 1973.“Hetzels Fingertipp etwa wird die codierte Zeitinformation punktgenau zurrichtigen Zeit ändern. Das sechzehnte Sekundenzeichen – die kleinstegesendete Informationseinheit: ein Bit – wird von „kurz“ auf „lang“, voneiner Zehntelsekunde auf zwei Zehntelsekunden Dauer, springen und damitallen funkgesteuerten Uhren die Sommerzeit ankündigen. Und mit diesemund allen anderen 59 Bits verwandelt sich die Zeit(angabe) in nichts ande-res als ein beständig und automatisch sich änderndes Kurz-Lang-Schema:Sieben Bits codieren die Minute, sechs die Stunde, drei den Wochentag und13 das Datum. „14 Bits an Sendeplatz“, so Hetzel, „haben wir noch frei.“Diesen Sendeplatz von 14 Kurz-Lang-Signalen könnte etwa der Zivilschutzdes Bundesverwaltungsamtes gut gebrauchen. So ließen sich Warnhinweisean die Bevölkerung, durchaus regional sortiert, über die Langwelle vonDCF77 versenden. Vor einer drohenden Sturmflut etwa würden alle entspre-chend konstruierten Funkwecker in Küstennähe einen Piepton aussendenund damit die Bürger auffordern, einen lokalen Nachrichtensender perRadio oder Fernsehen einzuschalten. „Aber das ist noch nicht raus“, sagtHetzel. „Eine Studie ist zwar fertiggestellt, aber erst ein Feldversuch wirdzeigen, ob das Ganze auch praktikabel ist.“

Nicht nur den Funkuhrenherstellern würde ein solcher Informationsservicegut ins Geschäft passen. Auch der Betreiber der Sendeanlage in Mainflin-gen, die Deutsche Telekom bzw. zukünftig die Telekomtocher Media Broad-cast, würde ein solches Programm gern „über den Äther“ schicken. Dennlediglich drei „Dienste“ stehen in Mainflingen derzeit auf dem Langwellen-Programm: Die Zeitzeichen der PTB sind einer dieser Dienste. Und auch diebeiden anderen sind höchst technisch. Das Bundesamt für Kartographie undGeodäsie sendet den so genannten ALF-Dienst, der natürlich nichts mit demkatzenfressenden Außerirdischen zu tun hat, sondern für Accurate Posi-tioning by Low Frequency steht und Korrekturwerte der Satellitenpositionenfür das Global Positioning System (GPS) öffentlich macht. Für das dritteProgramm schließlich, die Funk-Rundsteuerung, welche die Auslastung desStromnetzes optimieren soll, ist ein Zusammenschluss mehrerer Energiever-sorgungsunternehmen verantwortlich.

Gebaut wurde die Sendeanlage ab dem Jahr 1949 unter ganz anderenVoraussetzungen. „Früher hatten wir auf dem Gelände sieben oder achtSendedienste mit bis zu 50 Technikern“, stellt Wolfgang Heßler fest, der als

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Zeitzeichen über Radio-Langwelle

Weder das gesetzliche Kilogramm noch den gesetz-lichen Meter hat jeder zu Hause. Hingegen ist diegesetzliche Zeit überall und jederzeit verfügbar:Eine Funkuhr, ausgestattet mit einer einfachenRadioantenne, genügt, um die aktuelle Zeit milli-sekundengenau bei sich zu haben. Auf der Lang-welle des Senders DCF77 kommt sie zerlegt in Bitsdaher: Kurze und lange Sekundenmarken stehen fürbinäre Nullen und Einsen. Während jeder Minuteüberträgt dieses Zeit-Telegramm so die Nummernvon Minute, Stunde, Tag, Wochentag, Monat undJahr.

Zwar ist im Zeitalter der Satellitenkommunikationund des Internet das Radio, zumal die im Alltagkaum wahrgenommene Langwelle, gewiss nicht dermodernste Informationskanal. Doch der Charmedieses „Kanals“, auch gegenüber den präziserenSatellitenticks des GPS-Navigationssystems, liegtdarin, dass er Hindernisse wie Bäume, Beton undMauerwerk durchdringt und nahezu überall empfan-gen werden kann. So kommt die Langwelle auch inGebäuden problemlos an und kann von einer Funk-uhr in die aktuelle Zeit übersetzt werden.

Eigenschaften des Senders DCF77Standort: Mainflingen (50° 01’ 03’’ Nord,

09° 00’ 34’’ Ost),etwa 25 km südöstlich vonFrankfurt/Main

Trägerfrequenz: 77,5 kHzrelative Unsicherheit bezogenauf UTC(PTB) ≤ 2 · 10–12

Senderleistung: 50 kW, davon etwa 35 kWabgestrahlte Leistung

Antenne: 150 m hohe vertikale Rund-strahlungsantenne mit zusätzli-cher Dachkapazität

Sendezeit: 24-h-DauerbetriebModulation: als amplitudenmodulierte

Sekundensignale und in Formeiner pseudozufälligen Umtas-tung der Trägerphase

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Funktechniker zur heutigen, siebenköpfigen Betriebsmannschaft der Anlagegehört. „Auch der Deutschlandfunk war hier und hat mit 700 Kilowatt seinProgramm nach Osten gepustet.“ Dass auf dem 70 Hektar großen Geländefrüher mehr Betrieb war, davon zeugen die großzügigen Gebäudekomplexe derSendehäuser und nicht zuletzt die zahlreichen, weithin sichtbaren Sendemastenund Antennen, von denen die meisten mittlerweile auf Funkstille umgeschaltethaben. Die stillgelegte Technik mutiert in Mainflingen fast zur Idylle, wennsommers der heimische Schäfer seine Tiere auf dem Gelände grasen lässt(Schafe lieben Heidekraut) oder wenn plötzlich neben einem Sendemasten einZwölfender auftaucht. Heßler: „Die Hirsche muss ich ihnen zeigen; das glaubtsonst ja keiner.“

Zwischen den Masten III und IV hängt die 150 Meter lange, T-förmige Anten-ne 2. Im Gegensatz zu ihren Nachbarn im Ruhestand, die aber noch als Reser-veantennen dienen, strahlt sie mit rund 35 Kilowatt die Zeitzeichen der PTB inalle Himmelsrichtungen. Diese Leistung genügt, dass auch in Oslo, Madridoder Athen die Funkuhren das Programm noch empfangen können. Die Reich-weite der Signale beträgt, vom Sendeort Mainflingen aus gemessen, zwischen1500 km und 2000 km. „Die Sendetechnik ist so ausgereift und sicher, dass wireinen nahezu pausenlosen, störungsfreien Betrieb garantieren können“, sagtHeßler und ist offensichtlich stolz auf die Arbeit der kleinen Rumpfmannschaftin Mainflingen. Denn zum Glück arbeitet die Technik weiter, auch wenn dieSteuerzentralen in den Sendehäusern gespenstisch menschenleer sind. DieseSendesicherheit ist sogar vertraglich verbürgt: 99,7 % zeitliche Verfügbarkeitdes Senders pro Jahr garantiert die Telekom der PTB.

Auch das Signal selbst, das die Hauptuhren aller größeren Bahnhöfe synchroni-siert, Ampelanlagen steuert, zeitabhängige Tarife bei den Energieversorgern undden Telefongesellschaften taktet oder auch den Termingeschäften der Börsesagt, was die Sekunde geschlagen hat, darf sich keine Patzer erlauben. „UnserMotto“, so Peter Hetzel, der ein Stockwerk tiefer immer noch mit seinenMitarbeitern im „Uhrenkeller“ werkelt, „unser Motto ist: Lieber abschalten alsetwas Falsches aussenden.“ Tatsächlich sind in den vergangenen 30 Jahrenweder falsche Signale ausgesendet worden, noch kam es zu längeren Unterbre-chungen im Sendebetrieb. Dazu ist die Technik auch zu ausgereift. „Die in derPTB entwickelte Steuerungstechnik hat den großen Vorteil, dass wir da alles bisins Kleinste kennen“, sagt Hetzel. Und auch bei den Atomuhren kann kaumetwas schiefgehen. Der Plural ist hier durchaus angebracht, denn nicht nur eine,sondern vielmehr drei kommerzielle Atomuhren sind in Mainflingen stationiert,die sich wechselseitig kontrollieren, während immer eine von ihnen den Taktfür das gesendete Signal angibt. Kontinuierlich werden Stände und Gänge derUhren von Braunschweig aus überwacht und mit den Werten der „Mutter-uhren“, den so genannten primären Atomuhren, verglichen. Und bei zu großenAbweichungen greifen die Braunschweiger Wissenschaftler und Techniker ein –mittels einer Fernwirkanlage über das öffentliche Telefonnetz.

Sorgen machen sich Hetzel und seine Mitarbeiter gewiss nicht über die Güteder primären Atomuhren, die mittlerweile die Sekunden so identisch (auffünfzehn Stellen hinter dem Komma) produzieren, dass sie wie geklont aus-sehen. Und Sorgen bereitet auch nicht so sehr der Gedanke, etwas Falschesauszusenden. Vielmehr meint Hetzel: „Ärgerlich ist eher, wenn die Sicherungs-mechanismen zu sensibel anspringen und die Zeitaussendung eigentlich unnötig

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unterbrechen.“ In einem solchen Fall würden entweder die Funktechnikerder Sendeanlage, die allesamt im Mainflinger Umkreis wohnen, alarmiertoder ein Zeitexperte der PTB jettet über die A7 und A66 von Braunschweigins Hessische. Der alltägliche Fall ist jedoch ein anderer. Lediglich zwei-,dreimal pro Jahr bekommt der Uhrenkeller in Mainflingen menschlichenBesuch – zum Routinecheck, so wie diesmal, kurz vor der Umschaltung aufdie Sommerzeit.

Für heute ist der Routinecheck im Mainflinger Uhrenkeller erledigt. Einneues, modernes Steuerelement für die Anlage wurde erfolgreich getestet.Aber auch dies: Ein Satz leistungsstarker Batterien, zuständig für dieNotstromversorgung, war defekt und wurde ausgetauscht. Bis ein neuerBatteriesatz in ein paar Wochen geliefert wird, hängt nun eine der Atom-uhren – für den hoffentlich nicht eintretenden Notfall – provisorisch aneinfachen Autobatterien. Peter Hetzel macht das Licht aus. Schließt dieKellertür ab. Und wieder versinkt der Uhrenkeller in seinen Dornröschen-schlaf. Und sendet doch pausenlos nichts als absolute Gegenwart.

JENS SIMON

TAI

UTC

MESZ

TAI Temps Atomique International;von Atomuhren abgeleitete Zeitskala;TAI basiert auf der Definition derSI-Sekunde

UTC Koordinierte Weltzeit(Universal Time Coordinated);TAI plus Schaltsekunden(bis heute: 32 Schaltsekunden seit1.1.1958)

UTC(PTB) Zeitskala der PTB; Beitrag der PTBzur Koordinierten Weltzeit

MEZ Mitteleuropäische ZeitMESZ Mitteleuropäische Sommerzeit

Gesetzliche Zeit der Bundesrepublik Deutschland:MEZ(D) = UTC(PTB) + 1h bzw.MESZ(D) = UTC(PTB) + 2h

Definition der SI-Basiseinheit SekundeDie Sekunde ist das 9 192 631 770fache derPeriodendauer der dem Übergang zwischenden beiden Hyperfeinstrukturniveaus desGrundzustandes von Atomen des Nuklids133Cs entsprechenden Strahlung.

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Alles auf dieser Weltist schwer –nur Atome nicht! Die sind leider viel zu leicht! Dabei wäre es so schön,wenn man einfach sagen könnte: Ein Kilogramm ist gleich der Masse vonx Atomen.

Doch Atome sind eben nicht wie Orangen oder Strohballen. Die lassen sichfantastisch wiegen. Nur nicht für die Ewigkeit! Die Reproduzierbarkeit einersolchen Messung ist alles andere als gewährleistet. Preisfrage: Nach einerWoche Regen ...: ist der Strohballen dann schwerer oder leichter? Wer woll-te schon so das Kilogramm festlegen? Klar, wir nehmen Metall. – Dochselbst beim härtesten Metall kann man nicht sicher sein: Verändert es sichmit der Zeit?

Die Zeit jedenfalls vergeht bereits im unveränderlichem Maß atomarer Pro-zesse, und auch die Länge hält sich an die ewig konstante Lichtgeschwin-digkeit: Meter und Sekunde zum Beispiel sind mithilfe von Naturkonstantenfestgelegt. Weitere vier der sieben Basiseinheiten sind ebenfalls an genaufestgelegte Naturgrößen geknüpft. Der Tripelpunkt von Wasser zum Bei-spiel, an dem Wasser fest (als Eis), flüssig und gasförmig (als Wasser-dampf) vorliegt, hat die festgelegte Temperatur von 0,01 Grad Celsius bzw.273,16 Kelvin. Ein Kelvin ist danach der 273,16. Teil der thermodynami-schen Temperatur des Tripelpunktes von Wasser. Damit kann das Kelvin wiejede Einheit mit den entsprechenden Instrumenten und Messgeräten an je-dem Ort zu jeder Zeit realisiert werden. Wie jede Einheit? Nein – leider istdas Kilogramm gleich der Masse eines kleinen Gegenstands in einem Pari-ser Tresor.

Warum nicht das Kilogramm mit Atomen aufwiegen?

Das Problem liegt im Zählen. Denn für ein Kilogramm – egal ob Metalloder Tomaten – müsste man mit den schnellsten Partikelzählern unvorstell-bar lange (nämlich ca. 108 Jahre!) zählen. Jedes einzelne Partikelchen willschließlich registriert werden. Die Masse eines einzelnen Atoms ist so ge-ring, dass sie nicht durch eine Wägung direkt auf die Masse eines Gewicht-stücks zurückgeführt werden kann. Die Masse eines Goldatoms z. B. beträgtca. 3 · 10–25 kg. Ein wägbarer Körper hingegen besitzt eine zum Zählen zugroße Anzahl von Atomen (mehr als1024 Atome in 1 kg Gold).

So lässt sich das Kilogramm-Prototyp – besser bekannt unter dem NamenPariser Urkilogramm – also nicht ersetzen. ... Aber ersetzt werden muss es,denn leider nagt am primären Messnormal für die Masse der Zahn der Zeit.Und das buchstäblich! Zwar steht der kleine Gegenstand aus einer Platin-Iridium-Legierung gut behütet unter drei Glasglocken im Tresor des Inter-nationalen Büros der Meterkonvention (BIPM) in Sèvres bei Paris. DochMikrogrämmchen für Mikrogrämmchen nimmt das gute Stück im Vergleichmit den nationalen Prototypen ab! – Vielleicht beim Staubwischen? Odereinfach so?

Korrekt muss es natürlich heißen: Die nationalen Prototypen werden schwe-rer, denn schließlich ist das Ding in Paris per definitionem das Kilogramm.Äußerst unbefriedigend finden die Physiker, dass diese wichtige Basiseinheitnach wie vor materiell verkörpert ist, statt wie die meisten anderen durcheine Naturkonstante definiert zu werden. Das sogenannte Pariser Urmeterliegt zwar immer noch im Safe (für alle Fälle), hat aber nur noch musealenWert, und so möchten nicht wenige auch das Urkilogramm gerne sehen.

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Terry Quinn (Präsident des BIPM) schätzt, allzulange wird es nicht mehrdauern, bis es soweit ist. „Vielleicht fünf oder zehn Jahre, dann wird einesder vier vielversprechenden Projekte das Rennen gemacht haben und eineüberzeugende Neudefinition der Basiseinheit Kilogramm präsentieren.“

Was macht die Dinge schwer?

Jedes Ding besteht aus Materie. Diese Materie hat eine Masse und dieseMasse tritt mit anderen Massen in Wechselwirkung. Massen ziehen sich an,so lautet der physikalische Regel- und Merksatz dazu. Doch im gewöhn-lichen Leben, in der wir der Masse der Erde fest verhaftet sind, wird dierelative Bezugnahme schnell vernachlässigt. Und tatsächlich brauchen wirdiese physikalischen Spitzfindigkeiten im Alltag kaum zu beachten.

Wen interessiert schon das Gewicht, das eingekaufte Ware auf dem Mondoder an ähnlich extraterrestrischem Ort hätte. Auch die Neudefinition desKilogramm wird den Alltag nicht im Geringsten revolutionieren. Die Waa-gen in Industrie und Handel werden weiterhin mit Referenznormalen ver-glichen und auf richtige Werte eingestellt. Doch an der Spitze der Pyramidemiteinander verglichener Gewichtstücke wird sich Entscheidendes tun.

Der Tag, an dem das Kilogramm kein Ding aus Platin-Iridium mehrsein wird, ist nicht allzu fern.

Weltweit arbeiten Teams von Physikern daran, das Kilogramm neu zu re-alisieren. Besonders beachtet werden vier Projekte, unter denen die Sachewohl entschieden wird. Mit dabei ist auch tatsächlich ein Experiment, dasversucht, einzelne Atome zu zählen. Vielleicht ist das Kilogramm eines Ta-ges einmal definitiv die Masse von 3,057 441 271 · 10 24 Atomen 197Au.„Au“, Aurum – also Gold. Dass der „Stein der Weisen“ demnächst aus Goldsein soll, klingt zwar poetisch, hat aber in erster Linie praktische Gründe.Der chemisch reine Stoff Gold hat nur ein Isotop und erspart den Forscherndamit etliche Probleme.

Aber wie gesagt: Direktes Zählen ist unmöglich und so nimmt das Experi-ment einen Umweg: Das Gold wird zerstäubt, elektrisch geladen und so einGoldionenstrahl im Vakuum erzeugt. Die Goldionen sammeln sich dann ineinem Kollektor. Ermittelt man die Ladung der gesammelten Ionen, so kannman über ihr Gewicht auf das Gewicht eines einzelnen Ions im Strahl schlie-ßen. So lässt sich das Urkilogramm vermutlich irgendwann in Goldatomenaufwiegen und könnte von da an über diese Zahl der Atome definiert sein.

Auch bei dem Projekt mit dem klangvollen Namen „Avogadro“ geht es umeinzelne Atome. Erinnern Sie sich noch an Textaufgaben aus der Schulzeitvon der Machart: Wieviele Erbsen mit einem Durchmesser von je 0,75 cmpassen in die schuleigene Aula, die 15 m × 5 m × 4 m misst? Nun ist dasVerhältnis Erbse zu Aula kinderleicht zu überblicken, verglichen mit demvon Atomen in einem Körper. Aber genauso lässt sich auch eine AnzahlAtome errechnen.

Wieviele Atome sind in in einem Mol Silizium?

Kein Problem – das weiß man schon. Nur leider nicht genau genug. Die An-zahl ist bis auf sechs Stellen hinterm Komma bekannt. Das ist die Avoga-drokonstante. Wäre sie bis auf die achte Stelle hinterm Komma bekannt,könnte man das Kilogramm ganz plausibel definieren: Als Masse von x Ato-men Silizium. Das Kilogramm über die Avogadrokonstante zu bestimmen,ist gewissermaßen die klassische Variante, nach der man eine Masse errech-net: Masse entspricht dem Volumen geteilt durch die Dichte. Aber beim Be-rechnen der Avogadrokonstante die Messunsicherheit zu verringern klingtwesentlicher einfacher als es ist. Selbst die perfektesten Siliziumkugeln, in

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denen die Gitterstruktur der Atome mit Röntgen-Interferometern vermessenwird, können ungeahnte Hohlräume aufweisen, die man ihrerseits genaue-stens abmessen muss. Und auch die Kontrollversuche, die zum Beispiel dieDichte der Kugeln ermitteln, müssen bei der erforderlichen Messunsicher-heit mithalten können.

Beide Versuche – „Avogadro“ und die „Goldionenzählung“ – bietenden Vorteil, für das Kilogramm tatsächlich der Masse auf den Grundzu gehen.

Wenn es denn gelingt! Überprüft wurde das Goldionen-Experiment zwarschon, doch die größte Schwierigkeit – und das gilt für alle Projekte – liegtin der vorgegebenen Messunsicherheit, die bei 10–8 liegt (für so stabil hältman nämlich das Kilogrammprototyp, das alle 30 Jahre feierlich internatio-nal verglichen wird). 10–8, das heißt auf weniger als acht StelIen hintermKomma genau! Immerhin: 10–2 hat das Team der Goldionenzähler schonerreicht.

Doch dieses Projekt, das ebenso wie das Avogadro-Projekt in der PTB ver-folgt wird, steckt – verglichen mit den anderen Forschungsansätzen – nochin den Kinderschuhen und über Erfolg oder Nichterfolg wird erst in einigenJahren geurteilt.

Gut möglich, dass der Versuch, das Kilogramm an die elektrischenEinheiten zu knüpfen, schneller sein Ziel erreicht.

Die Rede ist von der sogenannten Watt-Waage, mit dem im NIST (nationa-les Metrologieinstitut der USA) und auch im NPL (nationales Metrologie-institut Großbritanniens) eine durch eine Masse bewirkte Gewichtskraft miteiner elektromagnetischen Kraft verglichen wird. Eine stromdurchflosseneSpule lässt sich so einstellen, dass die Kraft, mit der sie an einer Waagen-seite zieht, der Masse eines Kilogramms entspricht. Dann würde das Kilo-gramm über den Strom und die Spannung definiert werden. Am Ende lässtsich die Einheit Kilogramm auf die Planck-Konstante h zurückführen. Einemögliche Neudefinition könnte dann lauten: „Ein Kilogramm ist die Ruhe-masse eines Körpers, die bei einem Vergleich mechanischer und elektri-scher Leistung einen Wert für die Planck-Konstante h von6,626 068 91 · 10–34 J · s ergibt.“

Leider ist es bei dieser Parallelforschung zu diskrepant verschiedenenMessergebnissen gekommen, so dass die Ergebnisse des ebenfalls betei-ligten Schweizer Metrologieinstituts mit Spannung erwartet werden.

Zur Erinnerung: 10–8, diese Messunsicherheit muss erreicht werden.

Vermutlich ein utopisches Ziel für ein Experiment, das in Japan unternom-men wird. Hier dreht sich alles um einen magnetischen Schwebekörper,dessen Kräfteverhältnis zum umgebenden magnetischen Feld das neueKilogramm präsentieren soll. Doch „Schweben“ ist in der Physik stets einproblematischer Zustand. Die ultragenauen Positionsbeschreibungen, diefür eine Messunsicherheit dieser Größenordnung nötig sind, lassen sichschwerlich erstellen, und so traut man dem Unterfangen maximal einenWert von 10–7 zu. Das wird nicht reichen. Da kann das Pariser Prototypschließlich locker mithalten.

Zumindest solange es sich unter den drei Glasglocken in seinem Tresor be-findet! Sollte es plötzlich verschwinden, steigt seine Unsicherheit auf An-hieb ins Unermessliche. Auch das spricht gegen das Kilogrammprototyp:Es passt spielend in eine von diesen braunen Papiertüten, die zu Hundertendurch die Straßen von Paris getragen werden.

BIRGIT EHLBECK

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Der Mensch als homo metrologicusIm Interview:Terry Quinn, Präsidentdes Internationalen Bürosfür Maß und Gewicht(BIPM), Paris

Redaktion: Ist es nicht einSkandal? In Deutschlandkaufen selbst hochrangigePhysiker – Beamte zudem! –Kartoffeln pfundweise stattin der vorgeschriebenenEinheit Kilogramm. Unddarauf angesprochen, gebensie es sogar zu! Wann habenSie Ihr letztes Pint Guinnessgetrunken?Quinn: Ich trinke keinGuinness, sondern Bier, undich genehmige mir das eineoder andere Pint Bier, wennich nach England komme.Das ist also auch eine nachwie vor sehr gebräuchliche Einheit?Ja.Sie haben sicher von dem Unglück mit dem MarsClimate Orbiter gehört. Im September ’99 verschwanddie Raumsonde der NASA in der Marsatmosphäre, weilbei der Konstruktion der Sonde uneinheitliche Maßebenutzt worden waren. Was war Ihr erster Gedanke?Ja, ich habe davon gehört. Ich denke, es ist klar, dassman bei jeder wirklich wichtigen Tätigkeit – sei es inder Wissenschaft, der Medizin oder derUmwelt – dieselben Einheiten ver-wenden muss. Das ist gar keineFrage. Aber das braucht Zeit,denn die Leute brauchen einelange Zeit, um sich an neueEinheiten zu gewöhnen.Als ich nach Frankreichumgezogen bin, hat eslange gedauert, bis mirintuitiv wirklich bewusstwar, dass ich Fieber hatte,wenn ich meine Körper-temperatur maß und sie 38betrug. Ich bin eher an eineTemperatur von 99,8gewöhnt. Es ist also eineFrage der Gewohnheit. Aberbei jeder wissenschaftlichen odertechnischen Tätigkeit ist es natürlichTeil der wissenschaftlichen Sprache, undwenn man mit den Leuten, mit denen manzusammenarbeitet, nicht dieselbe Sprache spricht, dannführt das zu Missverständnissen. Das ist die Ursache fürdas Unglück mit dem Mars Orbiter.

Internationale Physiker undTechniker konstruieren undbauen so ein Wunderwerkder Technik und dannversagt es ...... aufgrund der menschli-chen Schwäche. Einemeiner Tätigkeiten bestehtdaher darin, das SI zufördern, aber ich bin nichtauf dem Markt, wo dieLeute ein Pfund Butter oderKartoffeln kaufen, das sindFreizeitbeschäftigungen.Wir sorgen dafür, dass alleMessungen, die den inter-nationalen Handel undglobale Veränderungenbetreffen, korrekt ausge-führt werden. Und auch inder Medizin ist es sehrwichtig, dass Messergeb-

nisse zuverlässig sind. Ihr Blutdruck, Ihr Cholesterin-spiegel – alle diese Dinge müssen richtig gemessenwerden. Wesentlich für zuverlässige Messungen sindzuverlässige Normale, und das ist meine Aufgabe.Wie geht es eigentlich dem Urkilogramm? Als wir nachParis kamen, waren wir fast so weit, zu denken: Paris –das ist der Eiffelturm, Notre Dame und das Urkilo-gramm ...Nun, ich würde lieber sagen: das Kilogramm und dannder Eiffelturm.

Oder so! Kann man das Kilogramm besich-tigen?

Nein. Wir haben nicht für Besichti-gungen geöffnet, weil wir zu

klein sind. Wir sind keineöffentliche Organisation, und

ich habe nicht die materiel-len Möglichkeiten – Räu-me, ein Museum – undauch nicht das Personal,das Besucher herumfüh-ren könnte.Aber die Öffentlichkeitwäre interessiert und dieStadt Paris möchte es

touristisch erschließen?Oh, nein. Aber die französi-

sche Regierung ist sich derTatsache sehr bewusst, dass wir

hier sind. Wir sind eine zwischen-staatliche Organisation und auf Einladung

der französischen Regierung hier. Wir sindeine diplomatische Organisation wie die UNESCO oderdie OECD. Gegenüber der französischen Regierunghaben wir einen speziellen Status, und die Franzosen

Foto: Erika Schow

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sind sich der Ehre sehr bewusst, die Frankreich dadurcherwiesen wird, dass sich das Weltzentrum der Metrolo-gie hier befindet. Das spiegelt die Tatsache wider, dassdas metrische System in Frankreich geschaffen wurde.Wir dürfen es also auch nicht sehen?Nein, eine Besichtigung ist nicht möglich. Sie könnensich vorstellen, dass es ein sehr wertvolles Objekt ist. Esist der einzige Gegenstand, der eine Maßeinheit verkör-pert. Deshalb müssen wir gut auf ihn aufpassen unddeshalb wird er in einem Safe aufbewahrt, der nur ein-mal im Jahr geöffnet wird. Das gehört zu den offiziel-len Aktivitäten des Internationalen Komitees für Maßund Gewicht, einem Leitungsgremium, das aus 18 Per-sonen besteht. Auch Professor Göbel (Präsident derPTB – Anm. d. Red.) ist Mitglied dieses Gremiums.Einmal im Jahr vergewissern wir uns, dass das Kilo-gramm noch da ist. Und dann öffnen wir den Safenatürlich, wenn wir das Kilogramm für Messungenbenötigen.Wie viele Mitarbeiter haben Sie hier zur Zeit?Wir sind ungefähr 70 Leute.Und alle halten den Atem an, wenn der Safe geöffnetwird? Wegen des Vakuums oder der Luftverschmutzung?Nein. Das Kilogramm ist sehr robust; schließlich ist esaus Platin. Und es befindet sich auch nicht im Vakuum,denn die Massemessungen müssen in Luft durchgeführtwerden, und daher bewahren wir das Kilogramm-Proto-typ in Luft auf. So war das immer.Und wie wird es gehandhabt?Wir fassen es mit einer besonderen Zange an, wenn wires auf die Waagschale legen.Wird das Urkilogramm regelmäßig gereinigt?Nein, wir reinigen es nur, wenn wir es benutzen müssen,und das ist sehr selten. Dann wischen wir es sorgfältigmit Äther und Alkohol ab und entfernen mit einemDampfstrahl die meisten Kohlenwasserstoffe, die sichals Folge menschlichen Atems, Plastik oder Dingen, diees umgeben, ablagern. So bleibt die Masse sehr stabil.Und doch macht man sich ja allgemein Sorgen umdas Prototyp. Deutsche Zeitungen melden, dass esschrumpft, und auch Ernst Göbel vermutet, dass beimReinigen das eine oder andere Atom verlorengehenkönnte.Ja, es kann eine Menge Atome verlieren, bevor man esmerkt. Das könnte sein, ja. Wir können das überprüfen,denn wir haben eines, das wir nicht reinigen, und wirhaben eines, das wir reinigen, und wir können dieMasseänderung sehen. Vor der Reinigung wird jeweilsgewogen. Dann wird geputzt, und die Masse des Proto-typen verringert sich; dann wird es erneut gesäubert,und seine Masse verringert sich noch ein bisschen, siewird nur um einen winzigen Betrag kleiner. Nach eini-ger Zeit verändern aufeinanderfolgende Reinigungsvor-gänge das Prototyp nicht mehr. Dann gehen wir davonaus, dass es sauber ist.Die Wissenschaftler hätten gern genauere Angaben überden Masseverlust. Denn momentan lässt sich ja nichtsagen, welches Prototyp schwerer oder leichter wird.Das stimmt, denn wir wissen durch unsere Vergleichenur, dass es kurzfristig, das heißt innerhalb einigerWochen, keinen nachweisbaren Masseverlust gibt. Aber

im Laufe der Zeit verändert sich das nicht gereinigteKilogramm vielleicht auch. Den langfristigen Masse-verlust kennt man also nicht. Wir würden die Massesehr gerne in Bezug auf Atomkonstanten unterteilen,und es werden derzeit eine Menge Experimente durch-geführt, um das zu erreichen. Denn in gewissem Sinneist es unbefriedigend, dass alle anderen Einheiten aufphysikalische Fundamentalkonstanten bezogen sind undwir daneben das Kilogramm haben, die Masse, dieseskleine Stück Platin-Iridium. Das ganze System wäre vielbesser, wenn das Kilogramm mit einer Naturkonstantenverknüpft wäre. Und zweitens, wir wissen nicht wirk-lich, wie groß diese Drift ist, denn wir können dieKilogramme nur untereinander vergleichen. Niemandweiß es. Vielleicht nimmt die Masse aller Kilogrammeab oder zu.Wann wird das Kilogramm-Prototyp ein Museumsstück?Ich glaube nicht, dass wir die Definition innerhalb dernächsten zehn Jahre werden ändern können. Sie wissensicher, dass es verschiedene Verfahren gibt, die ganzvielversprechend aussehen. Diese Verfahren werden wireine Reihe von Jahren anwenden müssen, um die Massedes Kilogramms zu überwachen und zu sehen, ob siesich verändert, bevor wir die Definition in irgendeinerWeise ändern. Derartige Dinge passieren aber manch-mal schneller, als man denkt – es können auch fünfJahre sein. Das kann sein.Zur Zeit gibt es ja vier wichtige Projekte, mit denenPhysiker versuchen, das Kilogramm neu zu definieren.Was glauben Sie, welches ist das beste, welches wirdzuerst erfolgreich sein?Das ist schwer zu sagen. Experimente werden in derPTB, im NPL in England, im NIST in Amerika und ineinem Schweizer Laboratorium durchgeführt. Es gibtzwei Projekte, die wahrscheinlich oder möglicherweiseerfolgreich sein werden. Das eine Verfahren wird dieWattwaage genannt. Man vergleicht eine elektromagne-tische Kraft mit der Schwerkraft. Das ist kompliziert,aber es sieht so aus, als könne es funktionieren. Bei demanderen Verfahren nimmt man eine Siliziumkugel. Mankann die Anzahl Atome in dieser Kugel zählen, indemman das Volumen der Kugel misst, ihre Abmessungen,und wenn man den Abstand der Atome voneinanderkennt. Den Abstand der Atome voneinander kennen wir,aber man muss zudem sicher sein, dass die Kugel ganzgleichförmig ist. Und auch die Oberfläche muss mangenau kennen. Diese beiden Versuche machen Fort-schritte. Man kann derzeit nicht sagen, welches vonbeiden voraussichtlich das beste ist.Wie lange muss so ein Verfahren reibungslos funktionie-ren, damit man sagen kann, o. k., das ist jetzt das neueKilogramm?Nun, das ist nicht so sehr eine Zeitfrage. Es geht darum,zu einem Experiment zu kommen, von dem jeder sehenkann, dass es richtig ist. So läuft das.Wir beschäftigen uns aber mit mehr als nur mit demKilogramm.Ja, danach möchten wir jetzt fragen. Würden Sie unsbitte einen kleinen Überblick über das BIPM und seineAufgaben geben?

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haben wir in Paris eine große Konferenz, und einemeiner Aufgaben besteht darin, das Programm für dienächsten vier Jahre aufzustellen. Das wird alles detail-liert festgelegt und an die Mitgliedstaaten verschickt,und sie können dann dazu Stellung nehmen und zustim-men: „Dies ist ein gutes Programm, und wir geben dirdas Geld für die Durchführung.“Und woher kommen die Ideen?Einige kommen von uns, einige von den Fachleuten inden nationalen Instituten. Das ist ein umfassenderProzess von Konsultationen und abschließendem Kon-sens. Das betrifft die Programme; im Detail entscheidenwir selbst, wie wir diese Dinge durchführen können.Das weltweite Netz metrologischer Arbeit läuft hierzusammen – können wir Sie eine Art Papst des SInennen?Das würde ich nicht gerne hören.Aber natürlich haben Sie einen guten Überblick überdas SI. Was würden Sie sagen: Wie wird das SI inungefähr 20 Jahren aussehen?In 20 Jahren – nun, ich nehme an, dass sich die Definiti-on des Kilogramm ändern wird. Das System wird nichtsehr viel anders aussehen, denn das SI ist ziemlich gutetabliert. Wir haben die sieben Basiseinheiten, wirhaben alle abgeleiteten Einheiten. Es gibt keinen wirk-lichen Grund, irgendeine von ihnen zu ändern. Alsoglaube ich nicht, dass das SI in 20 Jahren nicht mehrfunktionieren wird.Glauben Sie, dass es ein perfektes System ist?Es ist nicht perfekt. Es entspricht den heutigen Bedürf-nissen. Natürlich können die Bedürfnisse in 20 Jahrenanders sein.Wird das SI eines Tages einen natürlichen, optimalenEndzustand erreicht haben?Es ist unwahrscheinlich, dass die menschlichen Aktivi-täten jemals einen natürlichen, optimalen Stand errei-chen werden. Meiner Meinung nach durchläuft dasSystem einen langsamen Entwicklungsprozess, aber wirwerden Dinge immer in Bezug auf die Masse, Längeund die Zeit, den elektrischen Strom und die Tempera-tur messen müssen. Das ist Teil der Natur. Und daherwerden wir immer Normale der Länge, der Masse, derZeit, der Elektrizität haben. Wie man das genau macht,wird sich mit der Technologie und den Entdeckungen inder Physik ändern. Aber die Struktur des SI, die Basis-einheiten und abgeleiteten Einheiten und all die Vor-sätze, die Milli, Kilo, Mega – ich glaube nicht, dass sichdas sehr schnell ändern wird.In den Sechzigern gab es Änderungen.Da gab es Änderungen, ja. Die Einführung des Mol alsneue Einheit war eine Änderung. Die Änderungen gabes aber in den Definitionen der Einheiten und nicht imSystem selbst.Wer entscheidet, dass etwas geändert wird?Wenn in der Physik etwas Neues entdeckt wird, dannwird darüber diskutiert, die Laboratorien übernehmenes, und irgendwann wird uns klar: Wir sollten die Ein-heit ändern. Und dann gibt es eine Menge Diskussionenüber das genaue „Wie“ einer solchen Änderung undschließlich kommt das Beratende Komitee zu einemUrteil. Das wird dann dem Internationalen Komitee

Die Aufgabe des BIPM im weitesten Sinn besteht darin,ein weltweites Messsystem auf der Grundlage des SI(Système International d’ Unités) sicherzustellen oderaufzubauen. Dies tun wir durch enge Kontakte zu denstaatlichen Instituten wie PTB, NPL, NIST und allenanderen. Die treffen sich hier, um die verschiedenenProjekte und Vergleiche zu diskutieren.Wie oft?Sehr oft. Im vergangenen Jahr kamen ungefähr 500 Per-sonen zu den verschiedenen Treffen. Wir haben zehnBeratende Komitees, jeweils eines für die verschiedenenBereiche der Metrologie. Einige kommen einmal proJahr zusammen, andere treffen sich im Abstand vonzwei oder drei Jahren. Eine umfangreiche und wichtigeArbeit der vergangenen Jahre war eine Vereinbarungüber die gegenseitige Anerkennung, die die staatlichenMetrologie-Institute abgeschlossen haben und worin siefestschreiben, dass sie die Normale der anderen Länderanerkennen. Dann gibt es noch die Arbeit in unserenLaboratorien. Mit internationalen Vergleichen stellenwir sicher, dass die Messungen in den verschiedenenLändern gleich sind. Zum Beispiel führen wir Masse-vergleiche durch und kalibrieren so Massenormale.Ähnlich ist es beim Meter. Das Meter ist nicht mehr alsder Abstand zwischen zwei Strichen auf einem Maßstabdefiniert. Es ist die Strecke, die das Licht in einemkleinen Bruchteil einer Sekunde durchläuft, und dasbedeutet, dass man für die Realisierung ein anderesVerfahren haben muss. Also haben wir stabile Laser,und wir messen die Wellenlänge dieser Laser. ÄhnlicheAufgaben haben wir in vielen Bereichen, z. B. der Zeit.Hier erfüllen wir eine wichtige Aufgabe, denn obwohlalle Institute rund um den Globus Uhren und eine Zeit-skala haben, muss irgendjemand den Durchschnitt alldieser Skalen ermitteln, und wir legen fest, was Weltzeit(UTC, Coordinated Universal Time) genannt wird undwas die Grundlage der Zeit aller Caesium-Uhren ist.Hierbei ist die PTB von großer Bedeutung, weil diePTB eine der besten Primäruhren hat, ein Gerät miteinem Pendel, und zwar einem Pendel, das immerperfekt ist.Das Gelände des BIPM wirkt gar nicht so groß, dass esso viele Laboratorien beherbergen könnte.Wir haben nicht viele Leute in jedem Bereich. Wirmachen wenige, aber sehr spezifische Dinge, und dasträgt dazu bei, dass wir sehr gute wissenschaftlicheKoordinatoren sind. Um wissenschaftliche Arbeitkoordinieren zu können, muss man Wissenschaftlersein, und Wissenschaftler zu sein, bedeutet, in einemLaboratorium zu arbeiten. Deshalb arbeiten wir ineinem Laboratorium, hauptsächlich so, dass wir unsereKoordinierungsaufgaben erfüllen können und dabei dennationalen Instituten auf sehr hohem Niveau helfen.Woran arbeiten Sie persönlich?Ich habe mein eigenes Projekt, das sich mit der Schwer-kraft befasst. Kürzlich habe ich die Gravitationskon-stante gemessen, die sich auf die Anziehungskraft be-zieht, Newtons Gravitationskonstante.Wer entscheidet, welche Projekte ...... hier ausgeführt werden? Das BIPM untersteht denMitgliedstaaten der Meterkonvention. Alle vier Jahre

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vorgelegt, das zustimmt oder nicht.Und dann – und das ist wichtig –wird es der Generalkonferenzder Mitgliedstaaten vorge-legt, die es letztendlichannimmt. Solch eineÄnderung ist die derDefinition des Metersoder des Kilogramms.Alles erfolgt im Kon-sens.Wie ist der Erfolg des SIzu erklären?Es ist ein System, das fürdie Zwecke geeignet ist, fürdie es geschaffen wurde, unddie überwältigende Mehrheitin der Welt wendet es jetzt an.Das besagt nicht, dass es das besteSystem ist, das man sich vorstellenkönnte, aber es ist eins, das funktioniert, und eswird von jedermann benutzt.Ähnlich wie bei der Software „Windows“ von Microsoft:Es funktioniert, weil alle es benutzen?In gewissem Sinn stimmt das immer. Die Leute benut-zen es, weil es funktioniert. Die meisten Messproblemebeziehen sich nicht auf die Einheiten, sondern darauf,wie genau man Dinge in der Praxis tut. Wenn man aufein Messproblem stößt, für das die Einheiten nicht ge-eignet sind, dann muss man vielleicht einen Umwegnehmen. Wir haben kürzlich einen neuen Namen für dieEinheit der Katalyse, das so genannte Katal, eingeführt.Der Grund dafür war, dass in Krankenhäusern Enzym-reaktionen gemessen werden und die Einheit Mol proSekunde, zu kompliziert war, weil sie mit Mol pro Se-kunde pro Kilogramm kombiniert werden musste. InKrankenhäusern, wo Rezepte in Mol pro Sekunde proKilogramm ausgestellt werden, kann hier schnell malein Fehler unterlaufen, weil es drei Ebenen gibt. Alsonennen wir Mol pro Sekunde das Katal und haben nundas Katal pro Kilogramm. Alle klinischen Chemikerwerden das Katal anstelle des Mol pro Sekunde benut-zen.1999 wurde das Katal als neue SI-Einheit angenom-men.Sind noch andere neue SI-Einheiten möglich? Vielleichtsogar neue Basiseinheiten? Ich könnte mir gut irgend-eine Einheit für die Informationsmenge vorstellen – dasBit.Nun, das ist kein Normal, das gehört zur Informations-technik, und insofern haben wir nichts damit zu tun.Ist das SI Alltagsroutine oder beschreibt es die Welt ausdem Blick des Physikers?Beides. Schließlich leben wir alle in derselben Welt. DasSI ist ein Werkzeug, das ziemlich gut zu funktionierenscheint. Es gestattet uns, die Dinge zu tun, die wir tunmüssen, das heißt, es ist ein Baustein für zuverlässigeMessungen. Nicht der einzige – man könnte auch gutund zuverlässig in inches, feet und pounds messen. AberSie wissen ja, wenn man in inches, feet und poundsmisst und dann die Ergebnisse mit irgendjemandemkombinieren muss, der in Meter, Kilogramm und

Sekunde misst, dann muss man höl-lisch aufpassen. Das vermeidet

man am besten.Könnten Sie sich andere

Systeme vorstellen, dieebenso gut wie das SIwären?Ich nehme an, dass manein System schaffenkönnte, das das SI er-setzte, aber man müssteimmer noch die Einheitender Masse, der Länge undder Zeit haben. Man würde

ihnen andere Namen geben.Ich denke, dass das SI pas-

send zur Struktur der physikali-schen Welt geschaffen wurde, so

wie ich sie jetzt verstehe. Wenn unserVerständnis der Welt eine radikale Ände-

rung erfährt, werden wir möglicherweiseunsere Vorstellungen von Einheiten ändern müssen.Aber wir müssen dafür auf Fortschritte in der Physikund Philosophie warten.Kann man das SI als eine Sprache ansehen, mit einemkleinen Vokabular und einer Syntax ...?Ja, ... und wir geben den Basistext dafür heraus, unsereSI-Broschüre – das ist die Grammatik des SI.Es sieht sehr einfach aus mit Multiplikation, Division,dem Faktor 1 ...Ja, es ist einfach.Ist es noch einfacher vorstellbar?Man könnte sicherlich die Basiseinheit für das Licht, dieCandela, streichen, aber die wurde für die vielen Leutein das System aufgenommen, die Einheiten für dasLicht brauchen. Die Candela hat man wirklich nureinbezogen, damit es für diese Leute bequem ist. Wennman wieder von vorn anfinge, müsste man im Prinzipkeine Einheit wie die Candela vorsehen, denn das kannin Watt, als Energie, ausgedrückt werden. Das ist aberso ungefähr die einzige Änderung, die man machenwürde, wenn man wieder von vorn anfinge. Es istvorstellbar, dass man sich irgendwann in der Zukunftdazu entschließt, diese Einheit herauszunehmen, aberzur Zeit ist das nicht dringend erforderlich.Warum ist das Ampere – also die Stromstärke – eine SI-Einheit und nicht die elektrische Ladung? Schließlichlernt man, dass der Strom Ladung pro Zeiteinheit ist.Und da man ja nach den Regeln des SI nicht rückwärtsgehen darf, wirkt es ein bißchen unlogisch, dass dasAmpere die Basiseinheit ist.Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte man ein Systemmit dem Namen M (für Meter), K (für Kilogramm), S(für Sekunde) und X für irgendeine elektrische Einheit,worüber noch keine Entscheidung gefallen war. Daswurde dann über einen sehr, sehr langen Zeitraumdiskutiert, und erst 1930 sagte man schließlich:

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Nehmen wir doch das Ampere als Einheit, denn es stehtin direkterem Bezug zu der elektromagnetischen Kraftals die elektrische Ladung.Fast alle Einheiten sind also durch Naturkonstantenfestgelegt. Wie kommt es, dass gerade das Kilogrammübrig geblieben ist? Es erscheint so grundlegend ...Es ist so schwierig, denn Atome sind so klein. Wennman Atome schnell genug zählen könnte, dann könntees klappen. Wenn man aber Atome zählen möchte, dannmüsste man eine ungeheure Menge davon zählen, bevorman eine signifikante Menge an Material hätte. Wennman 1015 Atome pro Sekunde zählen könnte, würde esimmer noch einhundert Millionen Jahre dauern, bis manetwas Sichtbares hätte. Daher muss man es indirekt überExperimente mit der Wattwaage oder dem großen StückSilizium machen. Man kann die Atome in Silizium zwarnicht zählen, aber man kann sie berechnen, wenn mandie Anzahl pro Volumeneinheit kennt und ein sehrgroßes Volumen hat.Wenn eines Tages alle SI-Einheiten auf Fundamental-konstanten basieren, brauchen wir dann noch einenHeiligen Gral des SI-Systems wie das BIPM?Wahrscheinlich ja, denn während wir vermeintlich nurauf das Kilogramm aufpassen, arbeiten wir auf denGebieten Länge und Zeit, Photometrie, Radiometrie undionisierende Strahlung. Auch weiterhin müssen dieNormale als praktische Realisierungen in allen Labora-torien rund um den Erdball miteinander verglichenwerden. Wir haben ein volles Programm mit Verglei-chen von Laserwellenlängen-Normalen, seitdem wirunser Meter nicht mehr verwenden. Voraussichtlichwerden wir auch ein sehr volles Programm mit Verglei-chen von atomaren Massenormalen haben, sollte unserKilogramm demnächst zum Alteisen gehören. Also, ichdenke, dass das BIPM noch weitere einhundert Jahrebestehen wird.So schnell wird also aus dem BIPM kein Museum ...Aber ein Museumsbetrieb neben den ständigen Aufga-ben wäre auch nicht schlecht.Das hängt davon ab, wieviel Geld mir die Mitglied-staaten geben. Ein Museum ist teuer. Ich würde denLeuten gerne etwas zeigen können, aber das muss gutgemacht werden, sonst bekommen die Leute einenfalschen Eindruck. Insbesondere junge Leute: Wenn diein ein Museum kommen, und alles ist staubig undaltmodisch – das ist schlimmer als überhaupt keinMuseum zu haben. Ich glaube aber irgendwie nicht,dass mir meine Mitgliedstaaten so ein hübsches Muse-um bezahlen werden.Noch sind Sie sehr eingespannt hier im BIPM. Wirhaben gehört, dass Sie in einigen Jahren pensioniertwerden – was werden Sie dann tun?Das habe ich noch nicht genau entschieden, aber ichhabe viele persönliche Interessen, und ich wäre über-rascht, wenn sich nicht etwas Interessantes ergebenwürde.Würden Sie uns einige Etappen aus Ihrer Biographienennen?Ich habe in England Physik studiert, an der UniversitätSouthampton, wo ich 1956 hinging. Nachdem ich mei-nen ersten Grad erlangt hatte – in England ist das der

Bachelor –, ging ich an die Universität Oxford, wo ichmit einer Arbeit über Materialeigenschaften promovier-te. Von Oxford aus ging ich zum National PhysicalLaboratory als junior research fellow, wie man dasdamals nannte. Ich begann, im Bereich Temperatur zuarbeiten und mich für die Temperaturmessung undeinige der mit der Wärme zusammenhängendenFundamentalkonstanten zu interessieren, die Gas-konstante und die Stefan-Boltzmann-Konstante. Dannwurde ich Leiter des Temperaturlabors des NationalPhysical Laboratory. Dann wurde ich versetzt und fingan, mich mit der Masse zu beschäftigen. Ich wurdeLeiter des Masselabors und begann, mich für Waagenzu interessieren. Dann kam ich 1977 zum BIPM, aberich beschäftigte mich weiterhin mit meinen interessan-ten Waagen und den Messungen kleiner Kräfte. So kamich zur Messung der Schwerkraft.Sie sagen das so, als wären Sie einfach nur einer ganzkontinuierlichen Weiterentwicklung gefolgt.Ja, so war es auch.Stetes Forschen sorgt also für weiterführende Verände-rungen ... Das gilt für Ihre wissenschaftliche Lauf-bahn – sehen Sie die Zukunft des SI ähnlich gelassen?Ja, denn so kommen wir zu Neuerungen. Zum Beispielgibt es die neuen PTB-Uhren, die Springbrunnen-Uhren. Das ist ein sehr großer Fortschritt. Für dieBerechnung der Weltzeitskala haben wir mit diesenUhren viel genauere Zeitskalen, und das bedeutet einehöhere Genauigkeit bei Uhrenvergleichen über Satellit.Die meisten Änderungen erwarten wir ohnehin nicht sosehr in der Definition, sondern bei der praktischenRealisierung. Und übrigens auch in der Einschätzungmetrologischer Fertigkeiten. Jedem einzelnen wirdzunehmend bewusst, dass für Industrie und Handelgenaue Messungen benötigt werden. Erst vor einigenJahren war ich bei einem Treffen in der PTB, bei dem –wenn ich micht recht erinnere – einer der leitendenIngenieure von Volkswagen einen Vortrag hielt. Ererklärte, dass die Verbesserungen beim Benzinver-brauch von Autos in den vergangenen 20 Jahren fastausschließlich auf Verbesserungen in der Fertigungs-genauigkeit der Motoren zurückzuführen waren. Undschließlich braucht man neue Messmethoden für dieThemen Umwelt und Weltklima, für die Grundlagen-physik und vieles mehr ... Ich bin davon überzeugt, eswird Messungen geben, so lange die menschliche Rassebesteht.Der Mensch als homo metrologicus?Ein treffender Ausdruck für die Tatsache, dass wir Din-ge tun, die für die Arbeit des Menschen wesentlich sind.Es ist eine große Herausforderung, moderne Technolo-gien, die moderne Physik zu nutzen und kleine sehrspezielle Bereiche immer tiefer zu ergründen und im-mer genauer zu messen. Und dann diese weltweiteGemeinschaft von Leuten, die messen, Metrologengenannt: Wir reden miteinander, wir treffen uns, es isteine sehr nette Gemeinschaft.Vielen Dank.Es war mir ein Vergnügen.

Das Interview führten BIRGIT EHLBECK und ERIKA SCHOW.

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Gangwechsel

Kriechgang – die Kontinente

Mitten im Atlantik, entlang eines riesigen Unterwassergebirges, schiebt sichdie Erdkruste fast unmerklich auseinander. Am Mittelatlantischen Rückenentsteht neuer Meeresboden, der Europa und Amerika voneinander weg-treibt – zäh und fast unvorstellbar langsam: 1,89 Zentimeter im Jahr. In ei-ner Sekunde entfernen sich die beiden Kontinente weniger als einen milli-ardstel Meter voneinander; das entspricht etwa der Breite eines Atoms.

Diesen exakten Wert kennt man erst seit etwa fünf Jahren. Im Jahr 1984 ha-ben Vermessungsingenieure damit begonnen, alle paar Wochen die Ent-fernung zwischen Westport, einem Städtchen bei Boston an der Ostküste derUSA, und Wettzell im Bayerischen Wald zu bestimmen. 1995 hatten sie ge-nug Daten zusammen, um die Geschwindigkeit einigermaßen genau aus-rechnen zu können. „Je langsamer die Bewegung, desto länger muss manmessen“, erklärt Axel Nothnagel, Geodät an der Universität Bonn. „Wirkönnen große Entfernungen wie die zwischen Europa und Amerika mittler-weile mit einer Genauigkeit von fünf bis zehn Millimetern bestimmen. Nachetwa zehn Jahren ist die Längenänderung so groß, dass man die Bewegungtrotz der verhältnismäßig großen Messunsicherheit recht genau bestimmenkann.“

Im Durchschnitt der vergangenen Jahrmillionen waren die Kontinente etwasschneller: Rund zwei Zentimeter müssen sie sich pro Jahr voneinander ent-fernt haben. Auf diesen Wert kamen Geologen, die in den 60er Jahren dasAlter des Gesteins am Meeresboden in verschiedenen Entfernungen vomMittelatlantischen Rücken bestimmt und daraus auf die Durchschnittsge-schwindigkeit der Erdkruste hochgerechnet haben.

Um den winzigen Bewegungen der Kontinente auf die Spur zu kommen,können Forscher heute zwischen drei verschiedenen Messverfahren wählen.Bei Distanzmessungen mit Lasern oder mit dem SatellitennavigationssystemGPS misst man die Zeit, die ein Signal für die Strecke zwischen der Erdeund einem Satelliten benötigt, und berechnet daraus die Entfernung. Die sogenannte „Interferometrie auf langen Basislininen“, abgekürzt VLBI („VeryLong Baseline Interferometry“) ist die genaueste Methode. Sie nutzt nichtdas Licht, sondern eine exotischere Strahlungsquelle: die Radiostrahlungvon Quasaren, uralten Galaxien, die mehrere Milliarden Lichtjahre von derErde entfernt sind. Sie strahlen so hell wie Milliarden Sonnen, sind aber nurwenig größer als das Sonnensystem. Im Teleskop erscheinen sie daher fastpunktförmig. Obwohl sie zu den schnellsten Objekten im Kosmos gehören,stehen sie für den Betrachter auf der Erde scheinbar fest, weil sie so weit

weg sind. „Die Quasare bilden einfestes Bezugssystem im Raum. Dasbrauchen wir, um Längen auf derErde, wo sich alles ständig verän-dert, genau messen zu können“, er-läutert Wolfgang Schlüter von derFundamentalstation Wettzell, dievom Bundesamt für Kartographieund Geodäsie in Frankfurt und derTechnischen Universität Münchenbetrieben wird. In Wettzell steht ein20 Meter großes Radioteleskop, dasdie Strahlung von Quasaren auf-fängt – genauso wie 39 andere Ra-dioteleskope, die weltweit Quasare„abhorchen“. Die Werte werden aufMagnetbändern aufgezeichnet, inspeziellen Computern miteinanderverglichen, und aus den winzigenZeitunterschieden lassen sich dieEntfernungen zwischen den Tele-skopen zentimetergenau berechnen.

Ob man das Schneckentempo der fast unmerklich dahinkriechen-den Kontinente ermitteln, Temposünder im Straßenverkehr ding-fest machen oder das rasante Tempo der schnellsten Objekte imKosmos messen will – überall ist das Licht mit im Spiel. Warumdas so ist, erklärt der Infokasten auf der nächsten Seite – ebenso,warum Zeit-, Längen- und Geschwindigkeitsmessung so eng mit-einander verknüpft sind. Entscheiden Sie selber, ob Sie zunächstdort weiterlesen oder sofort auf die Reise durch die Dimensionender Geschwindigkeit gehen wollen.

Sie wollen starten? Dann bitte einsteigen, anschnallen, eine Handans Steuer und den ersten Gang eingelegt:

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Der Aufwand für diese Messungen ist enorm. Zunächst muss sichergestelltsein, dass die Uhren bei allen Teleskopen gleich gehen, damit die Laufzeit-unterschiede zwischen den Signalen aus dem All so exakt wie möglich be-stimmt werden. Denn je genauer die Zeit, desto genauer kann auch die Län-ge gemessen werden: „Wir müssen den Zeitunterschied zwischen den Sta-tionen besser als 30 Pikosekunden, also 30 Billionstel Sekunden, genau be-stimmen“, sagt Wolfgang Schlüter. „Dann erreichen wir bei der Längen-messung eine Unsicherheit von einem Zentimeter.“ In Wettzell stehen dreiCaesium-Atomuhren, die eine genaue Zeitskala für die Messungen erzeu-gen, und drei Wasserstoff-Maser. Ihre Frequenzen sind sehr stabil, so dasssie die Zeit – zumindest einige Stunden lang – noch genauer als Atomuhrenmessen können.

Ein Beobachtungsprogramm dauert typischerweise einen Tag. Dabei werdennacheinander mehrere Quasare jeweils einige Minuten lang angepeilt.

Mit den 40 Radioteleskopen lässt sich zwar sehr genau messen, aber sie le-gen nur ein relativ grobes Netz über die Erde. Viele kleinere Krusten-bewegungen fallen gewissermaßen durch die Maschen. Wollen Forscheretwa die komplizierten Verhältnisse im Mittelmeerraum oder das schlei-chende Zerbrechen des afrikanischen Kontinents messen, verwenden sie dasSatellitennavigationssystem GPS. Dabei sind die Einzelmessungen wenigergenau, aber das lässt sich durch häufiges Messen ausgleichen: Die Forschersammeln 24 Stunden lang im Abstand von einer halben Minute Signale derGPS-Satelliten und erreichen so ebenfalls Unsicherheiten von unter einemZentimeter.

INFOKASTEN

Die Lichtgeschwindigkeit isteine Naturkonstante, derenWert sich nie mehr ändernwird; das hat man 1983 so fest-gelegt. Beste Voraussetzungen,um mit Hilfe dieser Konstanteneine SI-Basiseinheit festzulegen:

Ein Meter ist die Länge derStrecke, die Licht im Vakuumwährend der Zeit von(1/299 792 458) Sekunden zu-rücklegt.

In dieser Definition steckt Län-ge pro Zeit – also Geschwindig-keit. Und bei jeder Geschwin-digkeitsmessung dreht sich allesum exakte Längen- und Zeit-messungen.

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Straßengang – der menschliche Alltag

Die ersten Geschwindigkeitsmes-sungen im Straßenverkehr warennoch abenteuerlich aufwändig: Endeder 50er Jahre brauchte man füreine Verkehrskontrolle drei Polizis-ten, zwei Streifenwagen, zweiFunkgeräte und zwei Stoppuhren.Ein Polizist saß am Anfang derMessstrecke und gab seinen beidenjeweils mit einer Stoppuhr bewaff-

neten Kollegen am Ende der Strecke per Funk das Startsignal, wenn sich einvermutlich zu schnelles Fahrzeug dem Beginn der Strecke näherte. Außer-dem verständigte er seine Kollegen über Fahrzeugtyp, -farbe und Kennzei-chen, damit die beiden Beamten mit der Stoppuhr auch das richtige Autoerwischten. Selten, so beteuern Polizeiberichte aus den 50er Jahren, hättensich die gemessenen Zeiten um mehr als eine Zehntelsekunde unterschie-den – das ergibt bei einem Tempo von hundert Kilometern pro Stunde undeiner Strecke von 200 Metern eine Unsicherheit von 1,5 km/h. Doch außerder Reaktionsschnelligkeit der Polizisten gab es vermutlich noch andereFehlerquellen. Außerdem konnten nicht mehrere potentielle Temposündergleichzeitig überwacht werden.

Heute legt eine detaillierte Eichordnung fest, dass der Fehler bei Geschwin-digkeiten unter hundert Kilometern pro Stunde maximal drei km/h betragendarf, über 100 km/h dürfen es höchstens drei Prozent sein – „egal, ob es reg-net, schneit oder dichter Nebel herrscht“, betont Frank Märtens. „Der Fehlerwird von der gemessenen Geschwindigkeit abgezogen – zugunsten des Ver-kehrsteilnehmers.“ Märtens und seine Kollegen vom PTB-Laboratorium„Geschwindigkeit und ziviles Beschusswesen“ prüfen neue Geschwindig-keitsmessgeräte für den Straßenverkehr daraufhin, ob sie die Fehlergrenzenauch unter ungünstigen Bedingungen tatsächlich immer einhalten und fürVerkehrskontrollen zugelassen werden können.

Ein Problem der PTB-Forscher war es, dass es für Geschwindigkeiten, an-ders als für Zeit- oder auch Längenmessungen, keine „Normale“ gibt, diebestimmte Werte mit großer Genauigkeit vorgeben. Deswegen haben sie einneues Referenzgerät entwickelt, das Geschwindigkeiten immerhin mit einerGenauigkeit von 0,5 Prozent bestimmt. Es besteht im Wesentlichen aus zweiLichtschranken. „Das Auto durchfährt erst die eine Lichtschranke, dann dieandere, und aus der benötigten Zeit können wir die Geschwindigkeit bestim-men“, erklärt Märtens. Ein altbekanntes Prinzip – aber der Clou steckt in der

Falls Sie bislang noch gar nichtgemerkt haben, dass Sie vor-wärts gekommen sind, dannwird sich das ab sofort ändern.Das Tempo wird jetzt eine Mil-liarde mal schneller – wir sindin der menschlichen Alltags-welt gelandet:

Videokamera, die das Fahrzeugwährenddessen aufnimmt. EinComputer analysiert die Bilderdaraufhin, ob jeweils derselbe Teildes Fahrzeuges die verschiedenenLichtschranken aktiviert hat. Wennnicht, können Fehler, die etwa durchein schief aufgestelltes Gerät oderSchwingungen des Fahrzeuges aus-gelöst werden, korrigiert werden.

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Die Zeit der Stoppuhren, Funkgeräte und reaktionsschnellen Polizisten istalso längst vorbei. Die heutigen Geräte funktionieren nach zwei verschiede-nen Prinzipien: Die klassischen „Radarfallen“ senden Radarwellen aus, dievom Auto reflektiert werden, und nutzen dabei den so genannten Doppler-Effekt: Je nachdem mit welcher Geschwindigkeit das Auto unterwegs ist,verändert sich die Frequenz der reflektierten Radarwelle. Kommt das Fahr-zeug auf den Beobachter zu, verringern sich die Abstände zwischen denWellenbergen; entfernt es sich, dann werden die Abstände größer. Beim Ta-tütata der Feuerwehr kann man das auch hören: Der Ton wird erst immerhöher, und wenn sich das Fahrzeug entfernt, wieder tiefer.

Um auf die geforderte Genauigkeit zu kommen, führt jedes Radarmessgerätheute (bei jedem Fahrzeug) stets mehrere Messungen durch. Dasselbe giltfür die Laserhandmessgeräte. Sie senden nicht Radarwellen, sondern einLichtsignal zum Fahrzeug und messen, wie lange es braucht, um zurückzu-kommen. Da die Lichtgeschwindigkeit bekannt ist, wird die Distanz zwi-schen Messgerät und Fahrzeug ermittelt. Aus teilweise mehreren Hundertsolcher Distanzmessungen, die innerhalb von einer halben bis einer Sekundeausgeführt werden, lässt sich die Geschwindigkeit des Fahrzeuges mit ho-her Präzision berechnen.

Herausreden kann sich ein Tempo-sünder heutzutage kaum noch:„Niemand bezweifelt mehr, dass dieGeräte richtig messen“, sagt FrankMärtens. Er selbst achtet zwar wiealle anderen Autofahrer auf Blitzge-räte und Radarfallen, aber der Ex-perte weiß, dass er dem Auge desGesetzes kaum entkommen kann:„Wenn Sie so ein Gerät neben derStraße sehen, ist es zum Bremsenmeist zu spät“, sagt Märtens. „Miteinigen Geräten sind Messungenerlaubt, wenn ein Auto noch tausendMeter weit weg ist.“ Bei den meis-ten Geschwindigkeitsmessgerätenwird zwar außerdem „geblitzt“.Aber dann geht es nur noch darum,ein Foto vom Fahrer zu schießen.Seine Kenntnisse nützen Märtensauch nur bedingt, die Tricks derBlitzer zu erahnen – beispielsweisehinter welcher Kurve der Apparatlauert. „Wir legen zwar die Kriteri-en fest, nach denen die Messgeräteaufzustellen sind. Wo gemessenwerden darf, regeln Richtlinien derjeweiligen Bundesländer. Aber letzt-lich wählt die Polizei die Messstel-len selbst aus.“

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maßstäbe38

Schnellgang: Geschwindigkeiten im All

Die schnellsten Teilchen im Kosmos sind gerade knapp dem Todentronnen. So schnell sie können, nahezu mit Lichtgeschwin-digkeit, entfernen sie sich von einem Ort, an dem Raum undZeit enden – einem Schwarzen Loch.

Schwarze Löcher gelten als erbarmungslose Weltraum-Staubsauger. Sie ver-schlingen die Gas- und Staubmassen, die als so genannte Akkretionsscheibezunächst noch um ein solches Schwarzes Loch kreisen, bis sie rettungslosdarin verschwinden. Aber einen Teil dieser Materie speien die kosmischenNimmersatts förmlich wieder aus. Senkrecht zur Ebene der Akkretionsschei-be schießen aus einem Schwarzen Loch geladene Teilchen in eng umgrenz-ten Strahlen, so genannten Jets, nahezu mit Lichtgeschwindigkeit hervor.Bei Schwarzen Löchern im Zentrum von aktiven Galaxien wie etwa Quasa-ren, die bis zu mehreren Milliarden Sonnenmassen schwer sind, können die-se Jets Millionen Lichtjahre weit ins All hinein reichen.

Die Geschwindigkeit der Materie im Jet lässt sich anhand heller Zonen, sogenannter Jet-Knoten (auch „Plasmonen“ genannt), bestimmen, die im Lau-fe der Zeit nach außen wandern. Kennt man die Entfernung des Jets von derErde und die Winkelgeschwindigkeit des Knotens am Himmel, lässt sichseine Geschwindigkeit leicht ausrechnen. Das Ergebnis: Die Knoten entfer-nen sich mit bis zu 40facher Lichtgeschwindigkeit (c) von ihrem Ursprung.Schneller als Licht – ein Messfehler? Keineswegs. Die Überlicht-Jets zeigenfast genau in Richtung Erde. Laut Relativitätstheorie verlangsamt sich beidieser Bewegungsrichtung der Verlauf der Zeit so stark, dass für einen Be-obachter auf der Erde ein Jet schneller als das Licht erscheint. Für einen Be-trachter, an dem die Jets unter einem größeren Winkel vorbeifliegen, wäredie Welt wieder in Ordnung: Von einem solchen Blickwinkel aus betrachtet,bewegen sich die Teilchen in den Jets etwas langsamer als die ultimativhöchste Geschwindigkeit.

Aber auch der Beobachter auf der Erde könnte sich geirrt haben: Statt40facher Lichtgeschwindigkeit könnten die schnellsten Überlicht-Jets auchnur 20 · c schnell sein. Das liegt daran, dass Entfernungen im Weltraum nurungenau bekannt sind. Die am weitesten entfernten Quasare sind vielleichtneun, vielleicht auch zwölf Milliarden Lichtjahre entfernt. Ihre Fluchtge-schwindigkeit – da sich das Weltall ausdehnt, entfernen sich Himmelskörperum so schneller, je weiter sie entfernt sind – lässt sich dagegen ziemlich ex-akt messen, da man dafür die Entfernung nicht braucht.

Von nun an wird der Turbo ein-gelegt: Das Tempo steigt nocheinmal um den Faktor eine Mil-liarde. Seien Sie auf sonderbareEreignisse gefasst, wenn Sie ausdem Fenster blicken: Im Reichdes Allerschnellsten regieren dieGesetze der Relativitätstheorie:

Alles andere als schwarz: In solchenJets schießen die Materieteilchen mitungeheurer Geschwindigkeit aus einemSchwarzen Loch heraus.

Foto: Hubble

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maßstäbe 39

Die Information steckt im Licht, das die Quasare aussenden. Genau wie dieRadiowellen einer Radarfalle, die ein Auto reflektiert hat, ist das Licht einesQuasars, der sich von der Erde entfernt, durch den Doppler-Effekt verändert.Diesen Doppler-Effekt kann man indirekt messen: Er verändert die Frequenzder Spektrallinien, die viele chemische Elemente aussenden: Die Wellenlän-gen werden größer, das ausgesendete Licht verschiebt sich in Richtung Rot.Diese Rotverschiebung lässt sich ziemlich genau messen. „Bis auf drei odervier Stellen hinter dem Komma“, sagt Thomas Krichbaum vom Institut fürRadioastronomie in Bonn. Bei einigen Quasaren, die fast am Rande dessichtbaren Universums liegen, ist die Rotverschiebung so stark, dass Emis-sions-Linien aus dem fernen Ultraviolett bis ins sichtbare Licht verschobensind. In Geschwindigkeiten übersetzt bedeutet dies: Die Quasare rasen mit80 bis 90 Prozent der Lichtgeschwindigkeit von der Milchstraße weg. „Dassind reale Geschwindigkeiten“, betont Krichbaum, im Gegensatz zu denscheinbaren Überlichtgeschwindigkeiten der Jets.

Möglicherweise gibt es sogar noch ältere Objekte als Quasare, die sich mitLichtgeschwindigkeit von uns entfernen. Die kann man aber erst gar nichtsehen; sie liegen an der Grenze des sichtbaren Universums. UTE KHESE

Foto: Canada-France-Hawaii Telescope

Foto: Canada-France-Hawaii Telescope

Doch stop!! Bevor Sie jetzt ver-suchen, ihre rasende Fahrt dort-hin zu lenken, lenken Sie bittezurück zur Erde und treten Siedort kräftig auf die Bremse! DieReise durch die Dimensionender Geschwindigkeit ist zuEnde.

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„Grauer Winterhimmel, trüber Sinn? Lichttherapie hilft.“ So wirbt eineFirma im Internet für ihre Geräte, die Schluss machen sollen mit derwinterlichen Müdigkeit, der Lustlosigkeit und dem Heißhunger nachSüßem. Seasonal affected Disorder (SAD) heißt die Krankheit, die nachSchätzungen 5 bis 20 Prozent der Bevölkerung regelmäßig befällt, so-bald die Tage kürzer werden. Oft wird sie auch Winterdepression ge-nannt. Aber im Gegensatz zu einer echten Depression nehmen die be-troffenen Menschen nicht ab, sondern essen gerne und viel. Inzwischenist SAD als leichte Depression anerkannt, und die Krankenkassen finan-zieren in bestimmten Fällen die nötige Therapie: die tägliche Licht-dusche, die man problemlos auch im Büro einnehmen kann. Ein gele-gentlicher Blick ins Lichttherapiegerät – insgesamt eine halbe bis zweiStunden pro Tag, je nach Helligkeit des Geräts – reicht schon aus, umdie innere Uhr auf Sommer zu stellen. Bereits nach wenigen Tagen füh-len sich die meisten Winterdepressiven deutlich besser.

Wäre das Auge nichtsonnenhaft ...

Das Licht überwindet mühelosalle Dimensionen: Es hilft uns,

die größten Entfernungen zumessen und ist doch auf ato-

marer Ebene entstanden. Unddie Einheit der Lichtstärke ist ein

wahrhaft „menschliches“ Maß.

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„Mehr Licht!“

Es ist kein Zufall, dass diese vergleichsweise harmlose Therapie sodurchschlagende Erfolge hat. Schätzungsweise 90 % aller Sinnes-eindrücke nehmen wir über unsere Augen auf. Licht ist der wich-tigste Reiz für viele innere Vorgänge des Körpers: Helles Licht ak-tiviert die Bildung der „Gute-Stimmung-Hormone“ Serotonin undNoradrenalin. Ohne Licht könnten wir nicht leben. „Mehr Licht!“sollen Goethes letzte Worte gewesen sein. Der Dichter war Zeit sei-nes Lebens fasziniert von dem Thema. Seine Farbenlehre – undnicht etwa seine literarischen Arbeiten – betrachtete er als sein ei-gentliches Lebenswerk. „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, die Son-ne könnt’ es nie erblicken“, schreibt er in der Einleitung zum di-daktischen Teil der Farbenlehre, die im Jahr 1800 veröffentlichtwurde. Goethe versucht darin, das Licht ganzheitlich, zum Beispielüber die Wirkung auf den Menschen, zu beschreiben. Heute klin-gen viele seiner Thesen seltsam – zum Beispiel jene, dass Farbenaus Wechselwirkungen zwischen den „nichtfarbigen Entitäten“Finsternis, Trübe und Licht entstehen. Wie modern wirkt dagegen –obwohl rund 140 Jahre früher formuliert – Isaac Newtons Vermu-tung, Sonnenlicht bestehe aus verschiedenen Farbanteilen, die beiÜberlagerung weißes Licht ergeben. Bis ins 20. Jahrhundert habendie Physiker diskutiert, wer von beiden denn nun Recht hat. Heutestehen sie auf der Seite von Newton, der überhaupt als Begründerder modernen, analytischen Naturwissenschaft – weg vom Men-schen – gelten kann. Aber das Staunen darüber, wie eng dasmenschliche Auge mit der Sonne verknüpft ist, hat überlebt.Richard Feynman, der geniale amerikanische Nobelpreisträger,schreibt in seinen „Vorlesungen über Physik“: „Und so ist das gan-ze Universum verknüpft. Die atomaren Bewegungen eines entfern-ten Sterns haben noch genügend Einfluss bei dieser großen Entfer-nung, um die Elektronen in unserem Auge in Bewegung zu setzen,und so wissen wir von den Sternen.“

Dimensionen des Lichts

Ob in einer Lampe oder auf der Sonne – der Ursprung von Lichtliegt im Inneren eines Atoms. Wenn Energie (in Form von Strah-lung) auf ein Atom trifft, hebt sie Elektronen auf höhere Energie-niveaus. Beim Herunterfallen wird die Energie wieder abgestrahlt.Diese Strahlung kann Licht sein. Und weil es nach den Gesetzender Quantenphysik genauso richtig ist, Licht als Teilchen (Photo-nen) zu betrachten, kann man auch sagen: Ein Elektron sendet ge-nau ein Photon aus. Obwohl sie in der unvorstellbar kleinen Atom-welt entstehen, können die Lichtteilchen riesige Entfernungen zu-rücklegen (nicht umsonst nehmen wir das Licht zu Hilfe, um großeEntfernungen zu messen – auf der Erde oder im All): In rund500 Sekunden, etwas mehr als acht Minuten, fliegen sie von derSonne bis zur Erde. Im Auge eines Menschen gelandet, bewirkensie Veränderungen auf zellulärer Ebene: Nerven werden aktiviert,elektrische Reize zum Gehirn geleitet und von dort aus verschiede-ne Körper-Reaktionen gesteuert. So kann auch Licht, das nicht vonder Sonne stammt, sondern von einer Lampe, so komplexe Vorgän-ge in Gang bringen wie die „Austreibung“ einer Winterdepres-sion – vorausgesetzt, das Licht ist hell genug und hat zudem dierichtige „Farbe“.

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Erst die Farbe macht das Licht

Eigentlich ist das, was die Elektronen bei ihrem „Sturz“ ins tiefere Energie-niveau abstrahlen, elektromagnetische Strahlung. Nur wenn sie für denMenschen sichtbar ist (bei Wellenlängen zwischen 360 und 830 Nanome-tern), nennen wir diese Strahlung Licht. (Kürzere Wellenlängen heißen UV-Strahlung, noch kürzere Röntgenstrahlung, und schließlich beginnt die ra-dioaktive Strahlung. Oberhalb von 830 Nanometern sprechen wir von Wär-mestrahlung und schließlich von Radiowellen.) Den Begriff „Licht“ hat derMensch also von der Empfindlichkeit seiner eigenen Augen abgeleitet. EineBiene hätte hier eine ganz andere Meinung: Sie kann kein Rot, aber dafürUV-Strahlung sehen; eine (für den Menschen) gelbe Blume erscheint fürsie in „ultraviolettes Licht“ getaucht.

Auch für uns Menschen ist Farbe nicht immer gleich Farbe – und doch er-staunlich konstant. Der Physiker Feynman schweift bei diesem Thema in dieMedizin ab, erklärt die Physiologie des menschlichen Auges und die Eigen-tümlichkeiten des Farbensehens: Zum Beispiel können wir Farben nur se-hen, wenn es hell genug ist. Bei Dunkelheit funktionieren die Zapfen nicht,die Sinneszellen, die fürs Farbensehen zuständig sind, und wir sehen allesmit den Stäbchen – und dann sind alle Katzen grau. Ist es aber hell, dannspielt es kaum eine Rolle, wie hell – Rot bleibt immer Rot. Ein Umstand,der für Physiker und Mediziner äußerst erstaunlich ist. Eigentlich müsste einschwarzes Autodach in der Mittagssonne heller aussehen als ein weißerSchirm bei Regenwetter. Wenn sich die Zusammensetzung des Lichts än-dert, müssten sich auch die Farben der beleuchteten Objekte ändern; siemüssten ständig schillern und flimmern. Unsere Fähigkeit, das zu verhin-dern, nennen die Wissenschaftler „Farbkonstanz“ – und rätseln, wie siefunktioniert. Sie nehmen an, Farbe sei gar keine physikalische Eigenschaft,sondern ein psychisches Ereignis. Erst das Gehirn macht die Farbe. Daswürde auch erklären, warum Hermann von Helmholtz, Mediziner und Phy-siker im 19. Jahrhundert, es nie geschafft hat, einen Apparat wie dasmenschliche Auge zu konstruieren, obwohl – oder gerade weil – es physika-lisch betrachtet so unvollkommen ist. Helmholtz so ll einmal gewettert ha-ben, er würde jeden Optiker sofort hinauswerfen, der ihm ein optisches Ge-rät in der Qualität des menschlichen Auges konst ruiere.

490 nm 550 nm 650 nm

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Wie Farben entstehen

Das menschliche Auge hat drei Arten von Zapfen (Sinneszellen für die Farbwahrneh-mung) – je eine für die Farben Rot, Blau und Gelb. Reagieren zwei oder alle drei Typen

gleichzeitig, dann erzeugt das Gehirn eine Mischfarbe. Das lässt sich mit Lampen undfarbigen Gläsern nachahmen. Durch additive Mischung lassen sich alle Farben herstellen

(übrigens mit vielen anderen Mischmöglichkeiten als den oben dargestellten; viele Wege führennach Rom bzw. zur gleichen Farbe). Die Mischfarben sind dabei immer heller als die Grundfarben –

bis hin zum reinen Weiß.

Um Farben zu messen, werden keine Einheiten definiert, sondern genormte Vergleichsfarben verwen-det, die in Farbtafeln dargestellt sind. Als Messgerät dient ein Colorimeter oder gelegentlich auch das

eigene Auge. Das Bild in der Mitte zeigt das klassische Farbdreieck. Jede Farbe entspricht einem be-stimmten Punkt im Koordinatensystem.

Wandert man einmal rund um das Farbdreieck, dann erhält man das sichtbare Farbspektrum, in das unten auf derSeite die Empfindlichkeit des menschlichen Auges eingetragen ist.

„Wir Menschen stammen aus dem Urwald“

Das Auge hat noch mehr interessante Eigenschaften: Es kann ganz verschie-dene Mischungen von Wellenlängen als ein und dieselbe Farbe empfinden.Dabei hat es erklärte „Lieblingsfarben“: Am empfindlichsten ist es für hell-grüne Farbtöne. Das ist übrigens – Goethe lässt grüßen – der Bereich, indem die Sonne auch am stärksten strahlt. „Wir Menschen stammen eben ausdem Urwald“, sagt Georg Sauter, Physiker in der PTB. „Zuerst haben sichdie Pflanzen auf die Sonne eingestellt. Ihr Chlorophyll ist für hellgrünesLicht am empfindlichsten – so können sie nämlich am meisten Sonnenlichtfür die Photosynthese nutzen. Also sind die Pflanzen im Urwald grün. Umin diesem Lebensraum möglichst viel zu erkennen, sind auch die Augen desMenschen in diesem Bereich am empfindlichsten.“

Sauter ist in der PTB zuständig für die Photometrie, die Messung von Licht.Hier spielt überall das menschliche Auge mit hinein. Um Licht zu messen,kann man nicht einfach einen Apparat konstruieren, der Strahlung misst.„Wir benutzen Empfänger mit einer Empfindlichkeit wie ein menschlichesAuge“, sagt Sauter. Ein solcher Empfänger, ein Photometer, ist ein zylindri-scher Kasten, etwas größer als ein Laib Pumpernickel. Bevor es auf dielichtempfindliche Diode in seinem Inneren trifft, muss das Licht ein Filter-paket passieren, das nur die Anteile durchlässt, die das menschliche Augeauch sehen würde – und zwar in dem Maße, in dem das Auge empfindlichist. Weil besonders viel hellgrünes Licht hinein darf, sieht man ein hellgrü-nes Schimmern, wenn man durch das Filter in ein Photometer hinein blickt.

Photometer braucht man auch, um das nationale „Ur-Licht“ oder Licht-Nor-mal zu erzeugen und weiterzugeben. Die Erzeugung beginnt in einem ganzanderen Feld der Physik (und auch in einem anderen Labor der PTB): Manlässt das Auge weg, man lässt sogar die optische Strahlung weg und beginntmit der Einheit der elektrischen Heizleistung, gemessen in Watt. In einemKryoradiometer wird die elektrische Leistung einer Heizquelle dazu benutzt,die optische Strahlungsleistung eines Lasers genau einzustellen (zu kalibrie-ren). Der Laser sendet nur bestimmte Wellenlängen (oder Farben) aus –„einzelne Stücke aus dem Regenbogen“, wie Sauter es nennt. Um sie ineinen breiteren Bereich zu „übersetzen“, kommt eine Silizium-Diode insSpiel. Und am Ende der komplizierten Kette von Kalibrierschritten steht einPhotometer. Es bewertet optische Strahlung so wie das menschliche Augeund misst in Candela oder einer verwandten Einheit. „Jetzt haben wir einenNorm-Empfänger, der Licht messen kann – aber das Norm-Licht selber ha-ben wir noch nicht“, sagt Sauter. Auch diese Kalibrierkette beginnt beimKryoradiometer. Der nächste Schritt ist ein Empfänger, der die Farbvertei-lung und damit die Temperatur eines Schwarzen Strahlers messen kann.Dann wird an dem Schwarzen Strahler eine Lampe kalibriert, die Strahlungmit einer ganz bestimmten Farbverteilung abgibt. „Beide zusammen – Nor-mal-Photometer plus Normal-Lampe – ergeben die bekannte Lichtstärke“,erklärt Sauter. „So arrangieren wir gewissermaßen die Hochzeit der DameCandela. Danach nehmen wir sie in Dienst.“

alle Angaben in nm700 bis 780

750 nm

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Noch mehr Dimensionen des Lichts

Die Dame Candela dient nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Lam-penindustrie – und damit einem der größten deutschen Wirtschaftszweige.„Rund zehn Prozent der elektrischen Energie wird in Deutschland für Be-leuchtung gebraucht“, erläutert Sauter. „Da lassen sich riesige Mengen En-ergie sparen, wenn eine Lampe ein bisschen verbessert wird.“ Um ihre Lam-pen überprüfen zu lassen, wenden sich die Hersteller regelmäßig an diePTB. Dort schrauben Sauter und seine Kollegen eine solche Lampe (imAlltagsdeutsch würde man Glühbirne sagen) neben einer Normal-Lampeder PTB in eine Messapparatur und richten ein Photometer erst auf die eine,dann auf die andere. Für solche Kalibrierungen sind die wirklichen Ur-Lam-pen, die nationalen Normale, allerdings zu schade. Diese Kostbarkeiten,23 Spezial-Glühlampen von der Form einer normalen „Glühbirne“, nur et-was größer und mit einem ganz speziellen Wolframdraht versehen, dürfenden Tresor nur einmal im Jahr für 20 Minuten verlassen. So lange dauert es,bis sie mit anderen Glühlampen verglichen sind, die dann als Transfernor-male den alltäglichen Kalibrier-Dienst versehen. Auf diese Weise quasi inWatte gepackt, können die Lampen sehr lange halten. Und das ist gut so:Denn niemand würde diese Lampen, die 1960 in Japan entstanden sind, heu-te nachbauen. „Das war so unglaublich kompliziert, das wäre heute viel zuteuer“, sagt Sauter. „Und wenn doch einmal eine kaputtgeht?“ „Dann gibt esnur noch 22 nationale Normale“, sagt Sauter trocken.

Eine Lampe kalibrieren – das bedeutet feststellen, wie sehr ihre Eigenschaf-ten von denen einer bekannten Lampe abweichen. Das simple Prinzip wirdin diesem Labor kompliziert. „Licht hat so viele Eigenschaften wie kaumeine andere physikalische Größe“, sagt Sauter. „Es entsteht irgendwo imRaum, breitet sich in den Raum aus, kann mit der Zeit stärker oder schwä-cher werden, hat eine Farbe und so weiter.“ Deshalb geht es hier nicht umeine einzige Größe, sondern um insgesamt elf. „Da bringen selbst die Leutevon den Lampenfirmen ab und zu etwas durcheinander“, sagt Sauter.

Kalibrier-Alltag: Im Labor wird unter-sucht, ob die vordere Lampe andersleuchtet als die Normal-Lampe vomselben Typ (obere drei Bilder).Nicht alltäglich: Diese Lampe – einesder 23 nationalen Normale für die Ein-heit der Lichtstärke – leuchtet nur für20 Minuten pro Jahr (unteres Bild).

Elf Licht-Größen

Lichtstärke: gibt die Intensität des Lichts an, das voneiner Lampe in eine bestimmte Richtung ausgesendetwird (Candela, abgekürzt cd).

Lichtstrom: gibt an, wieviel Licht eine Lampe insge-samt nach allen Richtungen aussendet(Lumen, abgekürzt lm).

Beleuchtungsstärke: gibt an, wie stark eine Flächebeleuchtet wird, d. h. welcher Lichtstrom auf einenQuadratmeter trifft (Lux, abgekürzt lx).

Lichtstärkeverteilungskörper:Candela/Lumen, abgekürzt cd/lm

Lichtmenge: Lumen-Stunden, abgekürzt lm · h

Lichtausbeute: Lumen pro Watt, abgekürzt lm/W

Belichtung: Lux-Sekunden, abgekürzt lx · s

Leuchtdichte:Candela pro Quadratmeter; abgekürzt cd/m2

Farbwertanteile (Farbort):Koordinaten eines Punktes x, y in der Farbtafel

(ähnlichste) Farbtemperatur: Kelvin, abgekürzt K

Farbwiedergabe-Index:Werte 1 bis 100; ohne Abkürzung

1 Lumen1 m3

1 Lux

cd

lm

lx

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Der Grund dafür sind nicht nur die vielfältigen Eigenschaften des Lichts,sondern auch die große Bedeutung, die Lampen in unserem Alltag spielen.So müssen hier ganz verschiedene Probleme gelöst werden. Wenn ein Her-steller von Bremsleuchten sich an die PTB wendet, möchte er ganz andereFragen beantwortet haben als ein Hersteller von Computerbildschirmen.Eine Lampe, die in einer Wohnung leuchten soll, darf die menschliche Hautnicht unnatürlich aussehen lassen – ein schwieriges Problem. Soll dagegeneine Lampe in einer riesigen Fabrikhalle nur einige Maschinen schwach be-leuchten, spielen Helligkeit und Farbe eine untergeordnete Rolle. Aber siedarf keineswegs kaputtgehen, weil ein Austausch zum Beispiel in 40 MeterHöhe sehr teuer wäre.

Bei einem Lichttherapiegerät kommt es wiederum darauf an, dass es hellgenug strahlt und sein Licht einen bestimmten Teil des Sonnenspektrumsenthält. Denn nur so kann es direkt auf die menschliche Seele wirken unddas Gemüt in der dunklen Jahreszeit wieder aufhellen.

ERIKA SCHOW

Die vermutlich komplizierteste Kerze der Welt

Das lateinische „candela“ bedeutet Wachskerze. Eine Candela entsprichtetwa der Lichtstärke eines gewöhnlichen Teelichts. Das würde man nichtvermuten, wenn man die Definition der SI-Basiseinheit liest: „Die Candela(cd) ist die Lichtstärke in einer bestimmten Richtung einer Strahlungsquel-le, die monochromatische Strahlung der Frequenz 540 · 1012 Hertz aussen-det und deren Strahlstärke in dieser Richtung 1/683 Watt durch Steradiantbeträgt.“Man hätte auch einfach eine spezielle Lampe beschreiben und dann festset-zen können: „Jede Lampe, die genauso hell ist, hat die Lichtstärke von einerCandela.“ Doch diese Definition wäre abhängig von der technischen Ent-wicklung und würde sich mit jeder neuen Normal-Lampe ändern. Die obigeDefinition gilt seit 1979. Sie liefert eine theoretische Grundlage, indem sieeinen Umrechnungsfaktor zwischen der Strahlstärke und der Lichtstärkeangibt – also zwischen einer radiometrischen Einheit, die sich rein physika-lisch messen lässt, und einer photometrischen Einheit, für deren Messungman die Empfindlichkeit des menschlichen Auges einbeziehen muss. Dieanderen Angaben sind – allerdings unentbehrliches – Beiwerk: Steradiantbezeichnet den Raumwinkel und damit den Öffnungswinkel des Lichts.Und weil nur bei der genannten Frequenz der monochromatischen Strah-lung das menschliche Auge bei Tag und Nacht hellempfindlich ist, ist dieseFarbe oder Frequenz angegeben. So konnte man es geschickt vermeiden,auch noch die komplizierten Empfindlichkeitskurven des Auges mit in dieDefinition aufzunehmen. Monochromatische Strahlung gibt es zwar beiLasern, aber die leuchten nicht in einen Raumwinkel. Die Definition istauch gar nicht als Bauanleitung gedacht. Denn zur Realisierung der Candelahat das Internationale Komitee für Maß und Gewicht, die weltweit oberste„Einheiten-Instanz“, genaue Vorschriften erlassen, nach denen die PTB undalle anderen metrologischen Staatsinstitute ihr jeweiliges „Ur-Licht“herstellen – bzw. die „Hochzeit“ der Dame Candela arrangieren.

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maßstäbe46 Foto: dpa

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Es gibt einen Sternund der heißt nach unserem Sohn. Tatsache! Ja, der Stern heißt nach ihm undnicht er nach dem Stern. (Ein Kind „Beteigeuze“ oder „Rigel“ zu rufen, fän-den wir albern). Eine amerikanische Firma vermittelte die Eintragung in dasSternenregister und der Pate kam mit einer Urkunde als Taufgeschenk. Auf derUrkunde, die jetzt im Kinderzimmer hängt, steht in goldenen Buchstaben bei-der Name (ist ja derselbe), das Datum der Benennung (ist sinnigerweise derGeburtstag unseres Sohnes), sowie die frühere Bezeichnung des Himmelskör-pers (ist eine Nummer). Beigefügt ist der kopierte Computerausdruck einerSternenkarte, auf der der betreffende Stern rot umkringelt ist und halbwegs be-kannte Sternbilder in der Nähe namentlich vermerkt sind. Ein eigener Stern!Unser Kind würde sich nie verlassen fühlen! Ein schönes Geschenk – dachtenwir ...

Inzwischen ist unser Sohn im besten Fragealter. Natürlich hatten wir ihm von„seinem“ Stern erzählt. Es begann mit einer ganz harmlosen Frage: „Mama,gibt es auf meinem Stern einen Hund?“ „Nein“, sagte ich wie aus der Pistolegeschossen. „Eine Katze?“ – „Nein!“ Nachdem wir alle Tiere und sogar meinFahrrad und das Auto durchhatten, war ich immer noch arglos und ahnte nicht,was sich da eigentlich ankündigte. Am nächsten Tag sollte es weitergehen ...„Mama, sind da Blumen auf meinem Stern?“ „Nein“, sagte ich und dachte anSaint-Exupery. „Bäume oder ein Haus?“ „Auch nicht!“ Die nächste Fragefolgte mit zwingender Logik: „Mama, was ist denn da eigentlich auf meinemStern?“ Ich dachte nach. „Staub!“ (Das war vielleicht nicht ganz richtig – undich sollte es bald besser wissen –, aber zumindest befindet sich diese gewöhn-liche Materie in unmittelbarer Nähe der meisten Sterne.) „Staub?“ Damit hatteer nicht gerechnet. Er sprang auf und krabbelte unters Bett. „Hier ist auchStaub!“ tönte es dumpf hervor. Drei Tage war er zufrieden mit der Vorstellung,mit seinem Stern etwas zu teilen: den Staub.

Der nächste Vorstoß kam aus einer anderen Richtung. Beim Zubettgehenzeigte er auf sein Dachfenster und fragte „Mama, ist mein Stern da oben?“„Ja! Da oben ist dein Stern und leuchtet zu dir.“ Die nächste Frage sah ichvoraus: „Fällt er da nicht runter?“, fragte er ängstlich. „Nein, der kann nichtrunterfallen. Der Mond fällt ja auch nicht runter!“ Meinen Sohn überzeugtedas zwar zunächst, aber ich geriet ins Grübeln: Nicht mehr lange unddiese Art von Antworten würde nicht mehr ausreichen.

Bevor wir dazu kamen, ein Kinderbuch zum Thema zu besorgen,hatte die Sache den Jungen weiter beschäftigt. Diesmal warPapa dran. „Papa, wie kalt ist es im Himmel?“ Papa hattezumindest schon mal was von der Hintergrundstrahlunggehört und antwortete korrekt: „Ich glaube, 3 Kelvin.“„Kevin aus dem Kindergarten?“, kam die prompte Reakti-on. Und da mein Mann sachliche Erklärungen schätzt undwenig von übertriebener pädagogischer Einfühlung undvermeintlich kindgerechter Aufbereitung klarer Fakten hält,erläuterte er die Temperaturunterschiede zwischen Erde und Allund ließ auch nicht aus, dass die Einheit Kelvin im wissenschaftlichenGebrauch allgemein üblich sei, im Alltag aber in Celsius gemessen werde.Das reichte! Für mehrere Wochen kam keine einzige Frage in der Richtungund das Thema geriet in Vergessenheit.

Doch nicht für unseren Sohn. Eines Tages wurde ich Zeuge, wie er in seinerSpielgruppe einen anderen Jungen belehrte: „Die Sonne strahlt den an!“ KeinZweifel: Hier konnte es nur um den Mond gehen. Am nächsten Samstaggingen wir in eine Buchhandlung und kauften das Buch „Ich entdecke ... dasUniversum“. Noch am selben Abend lasen wir alle gemeinsam das Kapitel F

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über die Entstehung des Universums. Jeden Abend lasen wir nun in dem Buch,und wenn wir uns abwechselten, störte es den kleinen Frager nicht, dieselbeLektion, die gestern von Papa vorgetragen wurde, am nächsten Tag noch ein-mal von Mama präsentiert zu bekommen. So erreichte unser Kenntnisstand eingemeinsames Niveau. Raumtemperatur und Angaben zum Wetter machten wirnur noch in Kelvin („Nein, bei 274 Kelvin musst du heute einen Schal neh-men!“). Unser Sohn konnte frei aus dem Buch zitieren.

Als ich einmal übers Wochenende verreist war, geriet ich überraschend insHintertreffen. Unser Sohn empfing mich schon an der Wohnungstür. „Ich habden Saturn gesehen. Papa und ich waren im Planetarium!“ Ich war sprachlos.

An diesem und den nächsten beiden Abenden fühlte ich mich ausgeschlossen.Das Gespräch drehte sich um die Mission der europäischen Sonde Huygenszum Saturnmond Titan, die sich auf ihrem Weg durch unser Sonnensystem imApril 1998 auch der Venus bis auf 287 km genähert hatte. Am dritten Abendglich ich mein Informationsdefizit durch Hilfe aus dem Internet aus.

Und ich hatte Glück. Als mein Mann eines Sonntag nachmittags erklärte, dassGrundlage der Temperaturmessung eine Skala von Fixpunkten sei, und er denEispunkt von Wasser als wichtigsten Punkt auf dieser Skala bezeichnete,mischte ich mich ein. „Nein, das ist seit 1968 nicht mehr richtig. Dieser Punktist viel zu sehr vom Druck abhängig. Wesentlich genauer lässt sich mit demTripelpunkt arbeiten, der die Temperatur bezeichnet, bei der Wasser in dreiAggregatzuständen gleichzeitig vorliegt: als Wasser, Eis und Wasserdampf.Die Temperatur beträgt dann genau 273,16 Kelvin beziehungsweise 0,01 GradCelsius.“ Vater und Sohn sahen sich an.

Am nächsten Abend zielte mein Mann mit der Frage nach mir „Lässt sich derabsolute Nullpunkt erreichen?“ Ich hatte weder mit der Frage noch mit demWettstreit gerechnet, der über Nacht eröffnet worden war. Diesmal rettete michdas Telefon und die anschließende Planung des nächsten Tages: Im Kindergar-ten gab es Läuse und er wurde für die nächsten drei Tage geschlossen. Natür-lich blieb ich mit unserem Sohn zuhause und nutzte die Situation, um meineKenntnisse aus dem Internet zu erweitern.

„Der absolute Nullpunkt gilt gemäß seiner Definition als unerreichbar.Schließlich bezeichnet man als Wärme die thermische Bewegung der Teilchen.Am absoluten Nullpunkt, an dem ja keine Wärme mehr festgestellt werdenkann, kann es auch keine Bewegung der Teilchen mehr geben. Weil Teilchensich aber immer etwas bewegen, kann man sich dem Nullpunkt nur beliebigweit nähern.“

Diese Information servierte ich zusammen mit dem Abendessen. Mein Sohnfragte zwar: „Warum bewegen die sich denn immer?“ bestand aber nicht aufeiner Antwort, sondern strich lieber seinen Kartoffelbrei glatt, um auf derFläche Krater nachzubilden und schließlich mit der Gabel eine Mondlandungzu simulieren. Doch auch mein Mann musste eine Mußestunde gefundenhaben und hatte seinerseits unter dem Stichwort „absoluter Nullpunkt“ imInternet gesurft. „Wusstest du, dass es für die Werte unter 0,65 Kelvin eineneue Skala gibt, die die ITS-90 nach unten ergänzt?“ Was die ITS-90 war,wusste ich zwar – nämlich die 1990 zuletzt festgelegte InternationaleTemperaturskala, die Schmelz-, Erstarrungs- und Tripelpunkte verschiedenerSubstanzen verzeichnet, – aber die PLTS-2000 war meiner Aufmerksamkeitentgangen. „Aber mit welcher Substanz können denn diese Temperaturenrealisiert werden?“ Natürlich wusste er Bescheid: „Nur mit flüssigem undfestem Helium, weil ...“

Mit dieser Diskussion hatten wir uns von seinem Interessengebiet entschiedenzu weit entfernt, fand unser Sohn und führte zum Thema zurück: „Warum istder Himmel eigentlich blau?“ „Weil kleine Partikel in der Luft das Sonnenlicht

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auffangen und in verschiedene Richtungen streuen. Das nennt man diffuse Re-flexion“, sagten mein Mann und ich fast gleichzeitig. Doch so einfach war es nunnicht mehr. „Wenn jetzt eine Rakete hier startet“, sagte unser Sohn und zeigte aufseinen Kartoffelbrei, der sich inzwischen in Cape Canaveral verwandelt hatte,„dann fliegt die und fliegt und fliegt“, und die Gabel in seiner Hand knallte gegenden Lampenschirm, „und dann ist es ja nicht mehr blau“, endete er schließlichüberraschend die imaginäre Expedition und kehrte mit seiner Gabel zum Tischzurück. „Du meinst, irgendwann ist es einfach nur dunkel?“ „Ja“, er sah michgespannt an.

„Also, das ist die Erde“ sagte ich und nahm ein Brötchen aus dem Brotkorb(wieviel Prozent unseres Hausstands hatten sich in letzter Zeit in kosmische Ob-jekte verwandelt?), „in der Mitte gibt es einen Kern, der zieht mit seiner Kraft

alles an, was sich auf der Erde befindet.“ „Die Schwerkraft.“ „Genau! Aber dieSchwerkraft zieht auch alles an, was zur Erde gehört – auch die Luft und die

Luftteilchen ...“ „Die Luft auch?“ kam es ungläubig zurück „Aber die hatdoch gar kein Gewicht.“ „Doch die Luft hat auch ein Gewicht und ge-

horcht dem Gravitationsgesetz in einem gewissen Maße. Sie umgibtdie Erde wie eine Hülle.“ Ich legte beide Hände um das Brötchen.„Das ist die Atmosphäre. Die Atmosphäre schützt uns vor UV-Strah-len und hält auch die Wärmestrahlung fest, die von der Sonnekommt. Wenn wir die Atmosphäre nicht hätten, würde sich die Erdeschnell abkühlen.“ „So wie mein Stern?“, fragte das Kind. „Nein, einStern ist sehr heiß, sonst würde er ja nicht leuchten. Aber der PlanetMars ist ziemlich kalt“, übernahm mein Mann das Wort, und auch dasBrötchen, mit dem er langsam kreisförmig um die Lampe flog: „Der

Mars wird gerne mit der Erde verglichen, weil er von der Sonne nichtviel weiter entfernt ist als unsere Erde. Ein Marstag dauert auch etwa

24 Stunden, und auf den beiden Hemisphären des Mars wechseln sich dieJahreszeiten in dem vertrauten Ablauf ab. Doch da der Mars 687 Tage

braucht, um die Sonne zu umkreisen, dauern Frühling, Sommer, Herbst undWinter jeweils doppelt solange. Vielleicht gab es ja vor unzähligen Jahrenwirklich mal Leben auf dem Mars. Heute ist es dafür wohl viel zu kalt. Bis zuminus 111 Grad Celsius! So kalt kann es vor Sonnenaufgang sein. Im Sommerwird es nicht wärmer als höchstens 26 Grad – mittags am Äquator. Die Strah-lungswärme der Sonne wird schnell wieder abgegeben, weil dem Mars dieschützende Atmosphäre fehlt.“ Der Junge hatte aufmerksam zugehört und schobnun seine Gabel wieder in den Kartoffelbrei. Doch der hatte inzwischen seineWärme nahezu restlos abgegeben, und ich stellte die Teller zusammen.

Wochen später hatten wir die Situation nicht mehr unter Kontrolle. Unser Sohnwar nur noch am Computer zu begeistern, lud – gewisse Wörter konnte er schonlesen bzw. erkennen – galaktische Szenarien auf den Bildschirm und hatte mitOmas Hilfe mehrere einschlägige Magazine bestellt. (Apropos Oma! Hatte siedoch glatt versucht, dem Kind weiszumachen, das Sandmännchen streue gesam-melten Sternenstaub! Als sie zur Antwort bekam, „Aber Oma, den Staub kannman doch nicht sammeln, der schwebt doch zwischen den Sternen“, beschwertesie sich beleidigt, das Kind sei „altklug“!) Die Wochenenden verbrachten wir imPlanetarium; mehrere Teleskope waren auf unserem Balkon einsatzbereit instal-liert, damit keine Wolkenlücke am Nachthimmel versäumt würde. Zum Schlafenließ sich der kleine Astronom nur noch bei schierer Erschöpfung überreden. Wirwaren ratlos.

Ausgerechnet in unserem Urlaub in Florida (Sie wissen schon: Cape Cana-veral!) nahm der Spuk ein überraschendes Ende. Gleich am ersten Tag ver-schwand unser Sohn im Kinderbecken des Hotelpools (ca. 298 Kelvin) undsagte, als ich ihn später abtrocknete, einfach nur: „Schön warm hier, Mama!Super!“ Schön warm hier! Ich drückte ihn an mich und war irgendwie froh.

Cape Canaveral besichtigten wir aber doch noch und schickten Oma eine Karte.BIRGIT EHLBECK

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Foto: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR)

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War es der Wunsch nach etwasmehr Menschlichkeit in der Wissen-schaft oder doch eher die Erinne-rung an landesfürstliche Gepflogen-heiten – immerhin waren sie ja da-bei, neuen Raum zu erobern –, dieeine Gruppe von Wissenschaftlernim September 1999 dazu bewog,sich an die alten Maße zu erinnern?Mutig rechneten sie – im Gegensatzzu ihren Kollegen im Navigations-Team – in Fuß und Meile und nah-men es gelassen, dass ihr Satellit,der Mars Climate Orbiter, in der At-mosphäre des roten Planeten ver-glühte.

Wie im Großen, so im Kleinen:Selbst in der aseptischen Welt derChip-Herstellung menschelt es.Nicht mehr als hundert Staubteil-chen dürfen in manchem Reinraum-zentrum herumfliegen – pro Kubik-fuß Luft. Welcher Herrscher hat hierdie Welt mal wieder vom Kopf aufdie Füße gestellt? Oder hat sich dajemand an die Kopffüßler seinerKindheit erinnert? Wie auch im-mer – vielleicht sollte man in Zu-kunft allen Eltern gewisse Sprücheuntersagen.

ERIKA SCHOW

Das Letzte„Wer’s nicht im Kopf hat, muss es halt in den Beinen haben“ – liebe Eltern,bevor Sie dies das nächste Mal zu Ihren Kindern sagen, überlegen Sie ge-nau, welche Folgen es haben könnte. Von diesem Moment an wird Ihr Kindaufhören, Kopffüßler zu zeichnen. Es wird überlegen, dass Sie natürlichRecht haben: Es gibt wichtigere Körperteile. Wie alle Kinder vor ihm wirdes seine Figuren fortan mit einem respektablen Bauch versehen – Vati ent-scheidet doch so gerne aus dem Bauch heraus – und auch den unteren Teildes Körpers nie wieder vergessen. Nach Abschluss des Reifungsprozesseswird es endgültig wissen, wo man die Prioritäten setzen muss. Es wird sichmit Begeisterung denjenigen zuwenden, die mit ihren Füßen einen kleinenBall über den Rasen treiben, Geisteskämpfer dagegen für reichlich überflüs-sig halten. Geben Sie es zu – wollten Sie nicht auch schon mal Politikeroder Journalisten in eine möglichst einsame Dachkammer verbannen?

Wie lange schon treibt dieser scheinbar harmlosen Spruch sein Unwesen?Gab es ihn schon zu der Zeit, als die Menschen begannen, ihre verschiede-nen Körperteile – nur den Kopf nicht – für das Maß aller Dinge zu halten?Heute findet man hier und da bei einer ägyptischen Ausgrabung oder in ei-ner alten Mauer gewisse Füße, Unterarme – die „Braunschweiger Elle“am ehemaligen Rathaus könnte, so ist zu befürchten, in der Stadt bekanntersein als das Meter-Normal in der PTB – und womöglich auch Bauchum-fänge. Sie lassen sich in der Regel jeweils auf einen stolzen Landesfürstenzurückführen, der seinen Untertanen großzügig die Maße seines eigenenKörpers zur Verfügung stellte, damit sie beim Abmessen von Bindfädenoder Pflastersteinen stets seiner gedachten.

Nach der Französischen Revolution war die Zeit dieser Herrscher vorbei.Abgesehen von vereinzelten Adeligen, die mit Fußtritten (oder Regen-schirm-Schlägen) ins Licht der Öffentlichkeit treten, haben Landes-fürsten und ihre Körperteile heute weitgehend ausgedient. Es ist der Siegder Wissenschaft über den Körperkult. Schön brav benutzen wir alle dasInternationale Einheitensystem (SI) mit seinen sieben Basiseinheiten, mitdenen alle anderen Einheiten streng logisch verknüpft sind – alles nachdem metrischen System unterteilt, kein Platz mehr für menschliche Eigen-arten. Doch Hand aufs Herz: Wenn Sie lesen, dass ein Meter genau dieLänge der Strecke ist, die Licht im Vakuum während einer Dauer von(1/299 792 458) Sekunden durchläuft, denken Sie nicht auch mit leiserWehmut an die gute alte Zeit der fürstlichen Schweißfüße?

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Auszüge der maßstäbe im Internet unter www.ptb.de

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ISSN 1618-1999


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