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Die Wassermenschen von Taa

Date post: 06-Jan-2017
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Transcript

1.

Xenon, der Fischer und Jäger, lag schon seit Stunden

auf der Lauer. Unten, in der kleinen Bucht, schaukelte

sein Boot, mit dem er zu der namenlosen, kleinen Insel

gekommen war. Den ganzen Tag und die halbe Nacht

war er unterwegs gewesen, aber er hatte die Richtung

nicht verloren Xenon wußte sich nach den Sternen zu

richten.

Die Felldecke, mit der er sich zu schützen versuchte,

war naß und klamm. Noch war die Sonne nicht

aufgegangen, und es war kalt und feucht. Draußen auf

dem Meer, nach Westen zu, tanzten weiße

Schaumkronen. Im Nordwesten stand eine dunkle

Wolkenbank über dem Horizont.

Das bedeutete Sturm.

Xenon verfluchte seinen Entschluß, zu der

namenlosen Insel gekommen zu sein, denn wenn sich

das Wetter tatsächlich veränderte, saß er hier fest, ein

oder zwei Tagesreisen von seiner größeren Heimatinsel

entfernt, die dem Festland vorgelagert war. Im Mond

des Hirsches gab es nur selten Stürme, aber wenn sich

der Wettergott dazu entschloß, den Menschen Wind zu

schicken, dann konnte es sehr gut ein Orkan werden.

Xenons Schiff war klein, drei Manneslängen maß es

vielleicht. Genauso hoch war auch der Mast, an dem

das Segel nun festgebunden wartete, zur Rückreise

vom Wind aufgebläht zu werden. Mit viel Geschick

hatte Xenons Vater das Boot selbst gebaut und dabei

nicht versäumt, einen besonders schweren Kiel aus

Metall an der Unterseite anzubringen. Kentern konnte

das Boot nicht, wohl aber sinken, wenn es voll Wasser

schlug.

Er fröstelte, als die Sonne hinter ihm über den

Felsenklippen aufging.

Die Felsklippen glühten auf, als die ersten Strahlen

sie berührten, aber es blieb noch immer kalt. Vielleicht

hätte Xenon Holz gesammelt und Feuer angezündet,

aber der Schein der Flammen würde seine Beute

verscheuchen.

Und ohne Beute wollte er nicht heimkehren. Er hatte

den Mund reichlich voll genommen, als sie vor fünf

Tagen abends am Lagerfeuer im Hafen saßen und sich

gegenseitig ihre Erlebnisse berichteten.

An diesem Abend kreiste der Weinkrug

unermüdlich und wurde immer wieder neu angefüllt.

Sie hatten auch allen Grund dazu, denn wenige Tage

zuvor war ein Schiff gestrandet, dessen Ladung aus

kostbaren Gewürzen und besten Weinen bestand, die

von den Wellen an den Strand gespült wurden. Viele

der Amphoren waren nicht zerbrochen und lagen im

weichen, feuchten Sand.

Das Schiff selbst war auf die Klippen gelaufen, die

vor der Insel tückisch unter dem Wasser auf ihr Opfer

warteten. Vielleicht war es sogar ein Piratenschiff von

der Schlangeninsel gewesen, aber das würde niemand

mehr erfahren, denn es gab keine Überlebenden. Alle

waren in der dunklen Nacht ertrunken.

Und dann, als die Männer trunken waren, hatte

einer von ihnen behauptet, schon einmal einen

Fischmenschen erlegt zu haben.

Er war ausgelacht worden, denn die Fischmenschen

waren nur eine Sage. Noch nie hatte jemand einen

Fischmenschen mit eigenen Augen gesehen, wenn auch

viel über sie berichtet wurde.

In die Zange genommen, erklärte der Mann, er sei

zu der Insel ohne Namen gefahren, weit im Westen,

zwei oder drei Bootstage bei ungünstigem Wind, weil

dort die Fischmenschen lebten. Und dort sei vor seinen

Augen eine ganze Herde von ihnen aus dem Wasser

gestiegen, um Fleisch zu jagen. Es gäbe wilde Ziegen

dort, und auch Kaninchen, behauptete der Fischer, den

alle für einen Lügner hielten.

Xenon lauschte andächtig, denn auch er hatte schon

von den sagenhaften Fischmenschen gehört, aber nie so

richtig an sie geglaubt. Und nun erzählte ein Mann

seines Dorfes, er habe schon einen getötet.

»Ich lag in einer Felsspalte und konnte sie genau

sehen. Sie haben Schwimmhäute zwischen Fingern und

Zehen, und sie sind fast nackt. Bewaffnet waren sie

auch, mit Speeren und Lanzen, während ich nur eine

Keule bei mir hatte. So mußte ich warten, bis einer von

ihnen so unvorsichtig war sich meinem Versteck zu

nähern.«

»Und dann?« lallte einer der Betrunkenen.

»Dann habe ich ihn erschlagen.«

Xenon hatte gefragt:

»Wenn du ihn erschlagen hast, warum hast du ihn

dann nicht als Beweis mitgebracht? Niemand würde

sich so etwas entgehen lassen. Wer soll dir deine

Geschichte glauben?«

»Du bist ein Dummkopf«, hatte der Fischer

erwidert. »Wie soll ich den erschlagenen

Fischmenschen mitbringen, wenn sie selbst ihn kurz

darauf fanden und ich froh sein konnte, nicht von

ihnen entdeckt und getötet zu werden? Sie nahmen die

Leiche und stiegen zurück ins Meer, aus dem sie

gekommen waren. Aber glaubt mir, die Geschichte ist

wahr.«

Man hatte vor Vergnügen gejohlt und

weitergetrunken, bis die Frauen kamen und ihre

Männer ins Bett zerrten.

Xenon hatte keine derartigen Probleme, denn er

besaß weder Weib noch Kinder. Einsam lebte er in

seiner Hütte, aber er war ein guter Fischer und Jäger.

Der Bericht von den Fischmenschen ließ ihm keine

Ruhe mehr. Schon am anderen Tag ließ er sich von

dem Mann, der die Geschichte aufgebracht hatte, die

namenlose Insel beschreiben und die Lage der

geschützten Felsbuchten erklären.

Sein Interesse blieb nicht unbeachtet. Und so kam es,

daß er zwei Tage später sein Boot mit Lebensmitteln,

Trinkwasser und einigen Werkzeugen ausrüstete und

vor aller Augen in See stach. Er hatte versprochen,

einen erlegten Fischmenschen mitzubringen.

Und nun hockte er über den Klippen und wartete.

Der Wind hatte schon ein wenig aufgefrischt, aber

allmählich wurde es wärmer. Unten in der Bucht

schaukelte das Boot immer stärker, aber es lag sicher

vertäut zwischen den Felsen im tiefen Wasser. Rechts

und links waren weitere Buchten.

Xenon überprüfte den Köcher mit den Pfeilen. Die

Spitzen bestanden aus scharfen Fischgräten, die tiefe

Wunden rissen. Er verließ sich lieber auf seinen Bogen

als auf einen Speer oder auf eine primitive Keule. Er

wollte aus der Entfernung töten, denn er war nicht

gerade ein Held.

In einer der Buchten kräuselte sich plötzlich das

Wasser. Nur eine schmale Einfahrt trennte es vom

offenen Meer, deshalb war das Wasser so ruhig und

fast unbewegt. Aber nun waren auf einmal Wellen

vorhanden, die sich kreisförmig nach allen Seiten

verbreiteten und gegen die Ufer schlugen.

Was konnte die Wellen verursacht haben?

Xenon legte den Bogen und die Pfeile griffbereit

neben sich und beugte sich dann weiter vor, um besser

sehen zu können. Die Sonne war inzwischen

weitergestiegen, aber ihre Strahlen konnten die

Buchten an der Westseite der Insel, die steil und felsig

war, noch nicht erreichen.

Ein Delphin!

Enttäuscht rutschte Xenon in sein Versteck zurück.

Natürlich war auch ein Delphin eine willkommene

Beute, aber heute wollte er einen größeren Fang

machen. Er wollte einen Fischmenschen erlegen, nicht

mehr und nicht weniger. Sie sollten ihn im Dorf

bewundern und seinen Mut anerkennen. Was nützte

es, als guter Fischer und Jäger zu gelten, wenn man nur

Delphine, wilde Ziegen und Kaninchen erlegte? Die

jungen Frauen sahen einen nicht einmal an deswegen.

Trotzdem beobachtete er den Delphin, nur nicht

mehr so angespannt wie vorher.

Der große Fisch, mehr als eine Mannslänge

messend, zog seine Kreise in der Bucht. Es sah ganz so

aus, als suche er etwas. Oder er paßte auf etwas auf,

das Xenon nicht sehen konnte, weil es unter der

Wasseroberfläche verborgen lag. Einmal sprang er

sogar hoch in die Luft und drehte sich um sich selbst,

ehe er wieder zurückfiel.

Xenon duckte sich noch tiefer, obwohl es ihm egal

sein konnte, ob ein Fisch ihn jetzt sah oder nicht.

Immerhin tauchte der Delphin weg und blieb

verschwunden.

Xenons Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.

In der Bucht beruhigte sich das Wasser wieder. Alles

war so ruhig und still wie vorher. Der Delphin mußte

davongezogen sein. Oder etwa nicht?

Xenon beugte sich weiter vor, um besser sehen zu

können.

Seine Geduld wurde belohnt.

Wieder kräuselte sich das Wasser, aber diesmal war

es nicht der Delphin, der die erneute Unruhe

verursachte. Mindestens zwei Dutzend große Fische

durchbrachen die Oberfläche und erzeugten durch ihre

schnellen Bewegungen einen solchen Wirbel, daß

Xenon nicht mehr in der Lage war, Einzelheiten zu

erkennen. Erst als einer der Fische zum Land

schwamm – und aus dem Wasser kam, erkannte er die

Wahrheit.

Der Fisch war kein Fisch, sondern ein Mensch.

Er war etwa dreiviertel Mannslänge groß und nackt.

Seine Haut war bleich, wie seine Haare, die ihm bis zur

Schulter herabfielen. Mehr konnte Xenon auch nicht

sehen, denn die Entfernung war zu groß. Aber er

zweifelte keine Sekunde mehr an dem Bericht des

betrunkenen Fischers und wußte, daß die

Fischmenschen keine bloße Sage waren. Nur mußte es

sich bei den von ihm beobachteten um junge

Fischmenschen handeln, denn die erwachsenen waren

größer.

Sie spielten.

An der schmalen Einfahrt des natürlichen

Hafenbeckens tauchten ein halbes Dutzend Delphine

auf. Ihre Formation ließ darauf schließen, daß sie die

Bucht gegen das offene Meer abgrenzten. Zum ersten

Mal kam Xenon der phantastische Gedanke, die

Delphine könnten mit den Fischmenschen eine Art

Vertrag geschlossen haben.

Er verwarf ihn sofort wieder. Immerhin sah er

verwundert zu, wie die jungen Gestalten sich im

Wasser tummelten, auf die flachen Felsen kletterten

und wieder in das feuchte Element zurücksprangen.

Sie waren durchaus unbekümmert und arglos. Das

Boot in der Nebenbucht schienen sie nicht entdeckt zu

haben, sonst müßten sie wissen, daß jemand auf der

Insel war.

Xenon widerstand der Versuchung, eins der jungen

Wesen mit dem Pfeil zu erlegen. Wenn schon, dann

wollte er auch ganz sichergehen. Vielleicht brauchte er

die Jungen nicht zu fürchten, wohl aber die Alten. Und

niemand wußte, wie lange sie sich außerhalb des

Wassers aufhalten konnten.

Erst recht wußte niemand, wie gefährlich sie sein

konnten.

Natürlich gab es auch darüber Geschichten, von

denen man nicht wußte, ob man sie ernst nehmen sollte

oder nicht. Fischer erzählten, ihre Boote seien von

Fischmenschen gekapert und ausgeraubt worden.

Außerdem stand fest, daß die besten Fischgründe nach

dem ersten Auftauchen der Wassermenschen plötzlich

unergiebig wurden. Also waren sie zumindest

schädlich.

Xenon tat nur ein gutes Werk, wenn er sie tötete.

Alles, was fremd war, mußte getötet werden – so

dachte Xenon, denn er war ein Mensch.

Aber wie?

In seinem Eifer, die jungen Fischmenschen zu

beobachten, war er unvorsichtig gewesen. Er hatte sich

zu weit aus seiner Deckung hervorgewagt. Plötzlich

hörte er ein helles Zirpen und Pfeifen, und von einer

Sekunde zur anderen verschwanden die seltsamen

Wesen unter der Wasseroberfläche.

Die Delphine hingegen blieben.

Sie schwammen Kreise in der Bucht, und dann

tauchte einer nach dem anderen unter und kehrte nicht

mehr zurück.

Xenon nahm Bogen und Pfeile und machte sich an

den Abstieg.

Die ganze Insel war kahl, die Vegetation nur

spärlich. Sie reichte nur für die paar wilden Ziegen und

Kaninchen, die auf ihr lebten. Dann gab es noch die

dornigen Büsche mit den roten Früchten, die bitter

schmeckten, aber den Durst löschten. Sonst wuchs

nichts.

Die Felsen waren teils glatt, teils zerklüftet. An

einigen Stellen gab es natürliche Zisternen, in denen

sich das Regenwasser sammelte. Die Fischer erzählten,

daß sie schon manchem Schiffbrüchigen das Leben

gerettet hatten.

Eine solche Zisterne fand Xenon beim Abstieg.

Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, denn

Wasser war selten auf den Inseln. Vorsichtig legte er

Bogen und Köcher auf einen flachen Stein und kletterte

in den engen Schacht, um zum Wasserspiegel zu

gelangen. Der lag mindestens drei Mannslängen unter

ihm.

Er trank durstig und hastig. Der Anblick der

sagenhaften Fischmenschen hatte ihn stark erregt – und

unvorsichtig gemacht. Er unterschätzte sie, weil er sie

nicht für intelligente Lebewesen hielt. Für ihn waren

sie Tiere, die es zu erlegen galt. Außerdem waren sie

schädlich, wie jedermann wußte. Und hinzu kam, daß

er geprahlt hatte. Ohne einen toten Fischmenschen

würde er nicht zurückkehren, hatte er verkündet.

Er wollte sein Wort halten.

Als er keinen Schluck mehr herunterbringen konnte,

begann er wieder an den Wänden der Zisterne

emporzuklettern. Er sah nach oben und konnte den

Himmel sehen, und gegen die Helligkeit gewährte er

die Schatten, die sich bewegten und deren fahle

Gesichter zu ihm herabsahen.

Der Atem stockte ihm, und er blieb auf einem

winzigen Felsvorsprung stehen. Er war waffenlos. Sein

Bogen lag am oberen Rand der Zisterne. Er hatte nur

sein kurzes Messer, das er zum Ausnehmen der

erbeuteten Fische benutzte. Als Waffe war es nutzlos.

Eine melodisch klingende Stimme sagte, kaum

verständlich und in einem fremden Dialekt:

»Komm herauf, wir tun dir nichts.«

Sie können sprechen! dachte Xenon erleichtert und

entsetzt zugleich. Sie verstehen unsere Sprache! Das ist

doch nicht möglich!

Aber er kletterte weiter.

Als er den Rand des Brunnens erreichte, halfen ihm

zwei der fremdartigen Geschöpfe, festen Fuß zu fassen.

Abseits sah Xenon seinen Bogen neben dem gefüllten

Köcher liegen. Sie standen um ihn herum, mindestens

zwei Dutzend halbnackter Gestalten, nur mit

Lendenschürzen bekleidet, die aus Fischhaut

hergestellt waren.

»Was suchst du hier?«

Wieder dieser unbekannte Dialekt, den Xenon

jedoch halbwegs verstand. Man sprach ihn in den

Ländern des Westens, dort, wo die Welt zu Ende war.

»Ich bin ein Fischer von der großen Insel im Osten«,

sagte er, weil ihm nichts anderes einfiel. »Der Wind

trieb mich hierher.«

»Der Wind«, sagte der Fischmann, »kommt aus der

anderen Richtung. Du lügst.«

Sie trugen keine Waffen, wie Xenon sehen konnte.

Wenn er an seinen Bogen herankam, konnte es ihm

vielleicht gelingen, einige von ihnen zu töten und dann

zu fliehen. Er mußte es versuchen, ehe sie ihn

umbrachten.

»Ich lüge nicht. Gestern kam der Wind von Osten.

Ich war froh, diese Insel zu erreichen. Wer seid ihr?«

Die Frage war berechtigt, denn sie sahen zwar aus

wie Menschen, aber sie waren keine.

Sie waren überdurchschnittlich groß, schlank und

feingliedrig. Zwischen Fingern und Zehen waren die

Ansätze von Schwimmhäuten zu erkennen. Die

Brustkörbe waren ungewöhnlich umfangreich und

ließen auf große Lungen schließen. Die Haare waren

fast weiß und hingen herab bis zu den Schultern. Sie

stachen kaum von der blassen Haut ab.

Die Ohren waren nur sehr klein und kaum als solche

zu erkennen. Dicht dahinter konnte Xenon schmale

Schlitze erkennen. Sie erinnerten ihn an die Kiemen der

Fische. Jetzt, an der Luft, waren sie geschlossen.

Sonst unterschieden sie sich nicht von gewöhnlichen

Menschen.

»Wir sind das Volk der Tainu, und wir sind

friedfertig. Die Menschen jagen und töten uns, weil wir

fremd für sie sind. Auch du bist auf der Suche nach

uns, um uns zu töten, deine Waffen beweisen es. Es

sind nicht die gewöhnlichen Waffen der Fischer. Was

haben wir dir getan?«

Xenons Mut kehrte allmählich zurück. Die

Fischmenschen schienen in der Tat harmlos und damit

dumm zu sein. Er hatte erwartet, von ihnen sofort

getötet zu werden, und nun sprachen sie mit ihm.

Vielleicht kam er noch einmal mit heiler Haut davon.

Aber er konnte nicht nach Hause zurückkehren, ohne

sein Versprechen eingelöst zu haben.

»Ich wollte keinen von euch töten. Ich wollte mich

nur überzeugen, ob es euch gibt. Es gibt viele

Geschichten, aber niemand glaubt an sie. Ich wollte es

genau wissen, darum kam ich hierher. Kann ich nun

gehen?«

»Du kannst gehen und deinem Volk berichten, daß

wir in Frieden leben wollen. Nimm deine Waffen.«

Sie öffneten den Kreis und gaben den Weg frei.

Xenon war viel zu überrascht, um ihnen zu danken.

Mit wenigen Schritten war er bei seinem Bogen, nahm

ihn auf und hing sich den Köcher mit den Pfeilen um.

Nur einen einzigen Blick warf er noch zurück, dann

hastete er davon.

Er wagte den offenen Angriff nicht, auch wenn die

Fischmenschen unbewaffnet waren.

Sein Plan war, ein Stück von der Insel fortzufahren

und dann, wenn es dunkel geworden war,

zurückzukehren. Diesmal würde er in einer anderen

Bucht ankern und sich abermals auf die Lauer legen.

Bei seinem Boot angelangt, sah er zurück. Von den

Fischmenschen, die ihn bei dem Brunnen überrascht

hatten, war nichts zu sehen. Die Insel war so verlassen

wie vorher. Sie schien unbewohnt zu sein.

Aber er hörte das Plätschern von Wasser. Es mußte

aus der anderen Bucht kommen, die von der seinen nur

durch ein hohes Riff getrennt war. Spielten dort noch

die Jungen der Fischmenschen?

Er löste die Verankerung des Bootes und ließ es frei

in der Bucht treiben, nur noch ein einziges Tau verband

es mit dem Ufer, so daß er es leicht heranziehen

konnte. Und wenn ihm sein Vorhaben gelang, mußte

das sehr schnell geschehen. Einmal im Boot, konnten

ihm die Fischmenschen nicht mehr viel anhaben, dafür

würden schon Pfeil und Bogen sorgen.

Er kletterte an den Felsen hoch, die beide Buchten

trennten. Vorsichtig kroch er bis zum höchsten Rand

vor, bis er, nur von einigen Büschen in der Sicht ein

wenig behindert, das andere Hafenbecken sehen

konnte.

Seine Vermutung erwies sich als richtig.

Sieben oder acht junge Fischmenschen tollten in

dem glasklaren Wasser und zeigten ihre erstaunlichen

Kunst im Tauchen. Xenon konnte ihre weißen Körper

tief in den Fluten versinken sehen, bis hinab zum

Grund, wo sie länger blieben, als es je ein Mensch

ausgehalten hätte. Sie schienen unter Wasser zu atmen,

aber Xenon war sich nicht sicher.

Er hätte leicht einen oder zwei von ihnen aus seinem

Versteck töten können, aber dann wäre er ohne Beweis

nach Hause zurückgekehrt.

An der engsten Stelle zur Bucht standen wieder die

Delphine. Es schien wahrhaftig so zu sein, daß sie auf

die spielenden Fischmenschenkinder aufpaßten. In

diesen Gewässern gab es gefährliche Raubfische.

Die Delphine störten Xenon nur wenig. Er hatte

schon genug von ihnen gefangen und ihr

wohlschmeckendes Fleisch verkauft. Sie waren

harmlos, darum hatte er auch keine Angst vor ihnen.

Vorsichtig zog er sich zurück. Er hatte seinen

ursprünglichen Plan geändert.

Hastig zog er sein Schiff ans Ufer, sprang hinein und

löste die Halteleine. Der Wind war stärker geworden,

und die Wolkenwand zog nun südwärts. Mit einem

Orkan war nicht mehr zu rechnen, und wenn, dann

würde er an ihm vorbeiziehen.

Er legte die Segel bereit, so daß er sie schnell und

ohne Umstände aufziehen konnte. Dann nahm er das

Ruder und steuerte das Boot aus der Bucht. Dicht am

Ufer bleibend, verließ er sie. Die Wellen gingen bereits

recht hoch, und es war schwer, das Schiff in der Gewalt

zu behalten. Immer wieder drohten die Wogen, es

gegen die Felsen zu schleudern, was seinen Untergang

bewirkt hätte.

Aber dann wurde das Wasser wieder ruhiger. Xenon

hatte die Einfahrt zur Nachbarbucht erreicht. Noch

einige Ruderschläge, und er wurde mit den

Dünungswellen regelrecht hineingeschoben.

Die Delphine tauchten sofort unter.

Er griff nach dem Bogen und legte einen Pfeil auf

die Sehne.

Drei junge Fischmenschen waren an der Oberfläche.

Sie hatten das Boot noch nicht gesehen und waren

arglos. Vielleicht verließen sie sich auf die Delphine,

oder sie glaubten einfach nicht an eine Gefahr.

Xenon zielte sorgfältig, ehe er den Pfeil von der

Sehne schnellen ließ. Er traf sein Ziel mit tödlicher

Sicherheit, und noch ehe das getötete Junge in die Tiefe

sinken konnte, war er mit dem Boot heran und zog

seine Beute über Bord. Hastig sah er sich nach einem

zweiten Opfer um, aber die anderen Fischmenschen

waren getaucht. Er nahm das Ruder und begann mit

aller Kraft zu paddeln, um aus der Bucht

herauszukommen.

Als er hundert Manneslängen vom felsigen Ufer

entfernt war, zog er das Segel auf. Mit einem Satz war

er dann beim Ruder, um das Boot richtig in den Wind

zu legen. Es nahm sofort Fahrt auf und schoß davon,

zuerst nach Norden, und dann, als er das Kap

umrundet hatte, mit doppelter Geschwindigkeit nach

Osten.

Die Wogen gingen hoch. Brecher über Brecher

schlug gegen die niedrigen Aufbauten und begannen,

das Schiff mit Wasser zu füllen. Xenon befestigte das

Ruder und begann zu schöpfen. Wenn das Boot vollief,

war er verloren.

Er blickte zurück.

Die namenlose Insel verschwand immer wieder

hinter den hohen Wellenbergen, die ihn langsam

einholten und unter ihm hinwegrollten. Er lenkte ein

wenig mehr in südöstliche Richtung. Die Brecher

hörten fast ganz auf. Auf den riesigen und langen

Wogen ritt er seiner Heimatinsel entgegen, dessen

höchste Bergspitze er manchmal als winzigen Punkt

am Horizont erkennen konnte. Der Himmel im Osten

war wolkenlos und blau.

Dann sah er plötzlich die Delphine.

Ihre Rückenflossen durchschnitten die

Wasseroberfläche wie scharfe Messer. Sie bildeten eine

Formation und begannen, das Boot regelrecht

einzukreisen. Xenon befestigte das Ruder wieder und

griff nach Pfeil und Bogen. Wenn die Fische die

Verbündeten der Wassermenschen waren, durfte er sie

nicht zu nahe herankommen lassen. Aber sein Boot war

zu schwer, um von ihnen umgeworfen werden zu

können.

Es fiel Xenon nicht leicht, alle Seiten gleichzeitig im

Auge zu behalten. Die Delphine aber waren überall.

Manchmal sprangen sie in die Höhe, als wollten sie

sehen, was er in seinem Boot hatte.

Links schlug etwas gegen die Bordwand, und als er

hinüberrutschte, um nach der Ursache zu sehen,

schwangen sich auf der rechten Seite zwei kräftige

Fischmänner über den Holzrand und fielen ins Boot.

Sie waren sofort wieder auf den Beinen und entrissen

Xenon den Bogen, um ihn ins Meer zu werfen.

Xenon war so überrascht, daß er sich nicht rühren

konnte. Fassungslos setzte er sich auf die Ruderbank,

den Pfeil noch in der Hand. Vor ihm lag der tote

Fischmensch. Seine Füße berührten ihn fast.

»Du hast ein Kind ermordet«, sagte der eine der

Wassermänner. »Dafür wirst auch du sterben müssen!«

Er griff mit starker Hand nach dem vor Angst

zitternden Xenon, während der andere ihm den Pfeil

abnahm und über Bord warf. Der Köcher folgte

unmittelbar danach.

Inzwischen waren drei weitere Fischmenschen an

Bord geklettert. Ohne ein Wort zu sagen, nahmen sie

den Leichnam des Jungen und stiegen ins Wasser

zurück. Es war wie ein Spuk, als sie lautlos in die Tiefe

sanken.

Xenon wollte aufspringen, aber er wurde

festgehalten.

»Hör unser Urteil!« sagte der Sprecher von vorhin.

»Du bist zu uns gekommen, um uns zu töten – und du

hast auch einen von uns getötet. Dafür werden wir dich

mit uns nehmen, hinab bis zum Grund des Meeres.

Dort sollst du leben, wenn du nicht ertrinkst.«

Xenon wehrte sich mit verzweifelter Kraft, als sie

ihn ergriffen und zum Rand des Bootes schleppten,

aber es nützte ihm nichts. Überall im Wasser sah er die

Köpfe der Fischmenschen, die seiner Hinrichtung

zuschauten. Wenn noch ein kleiner Funke Hoffnung in

ihm gewesen war, so erlosch er jäh. Gegen diese

Übermacht hätte er nicht ankämpfen können, selbst

wenn er bewaffnet gewesen wäre.

Er holte noch einmal tief Luft, als sie ihn über Bord

stießen. Er sank eine Manneslänge in die Tiefe, dann

brachte ihn die Kraft seiner Arme wieder an die

Oberfläche. Ehe er richtig atmen konnte, waren sie an

seinen Beinen und zogen ihn hinab in das unendliche

Blau des nassen Himmels.

Er öffnete die Augen und konnte sie sehen. Sie

umschwammen ihn mit grazilen Bewegungen, so als

tanzten sie. Zwei von ihnen waren an seinen Beinen

und zogen ihn immer tiefer.

Als seine Lungen zu bersten drohten, ließ er die Luft

aus.

Und dann atmete er tief ein, bis seine Lungen mit

Wasser gefüllt waren. Für einen winzigen Augenblick

war ihm so, als könne er wirklich im Wasser atmen,

aber dann kreisten rote Ringe vor seinen Augen, und er

verlor das Bewußtsein.

Sein letzter Gedanke war: so also ist es, wenn man

ertrinkt ...

Sie ließen ihn los und schwammen davon.

Auf der großen Insel aber warteten die Fischer

vergeblich auf Xenons Rückkehr. Einige Tage später

fanden herumstreifende Jäger sein Boot. Es war auf den

flachen Strand einer Bucht gespült worden, aber Xenon

war nicht in ihm. Dafür fanden sie ein Stück Fischhaut,

das ungewöhnlich glatt war und eine dreieckige Form

besaß.

Sie nahmen es mit ins Dorf und zeigten es herum.

Der Mann, der damals am Lagerfeuer die Geschichte

von den Fischmenschen erzählt hatte, rief:

»Ich habe es euch doch gesagt, aber ihr wolltet mir

nicht glauben! Die Wassermenschen tragen es, sie

kleiden sich damit. Xenon ist von ihnen ermordet

worden. Sie sind Bestien und gehören ausgerottet.«

Und zum ersten Mal in ihrem Leben begannen die

Fischer wirklich an die Geschichte von den sagenhaften

Fischmenschen zu glauben.

Das Mädchen mochte siebzehn Sommer alt sein und

war alles andere als eine Schönheit. Obwohl klein von

Statur, wirkte sie ihrer Dürre wegen

hochaufgeschossen. Ihr etwas spitzes Gesicht erinnerte

an das einer Maus, und so hatte sie sich auch daran

gewöhnt, von den meisten ihrer Freunde so genannt zu

werden.

Die »Maus« Yina besaß ein außergewöhnliches

Talent: Sie konnte Gedanken lesen. Dem neuen König

des myranischen Reiches, Dragon, hatte Yinas Gabe

schon oft geholfen, und so war es auch kein Wunder,

daß das Mädchen im Königspalast wohnte und ein

eigenes Gemach besaß.

Sie hätte wirklich allen Grund gehabt, glücklich und

zufrieden zu sein, denn sie gehörte zu Dragons Gefolge

und besten Freunden. Sie hatte alles, was sie sich

wünschen konnte, und Sorgen hätten ihr fremd sein

müssen.

Aber es waren auch nicht Sorgen, die Yina

bedrückten. Es war etwas ganz anderes, das sie bis vor

kurzem noch nicht gekannt hatte. Es begann mit einem

flüchtigen Gedanken, dann schien sich das Herz

zusammenkrampfen zu wollen. Alles wurde schwer,

unsagbar schwer, das Leben schien unerträglich zu

werden und die ganze Welt unbeschreiblich häßlich

und leer.

Das alles geschah öfter als nur einmal am Tag, aber

am schlimmsten waren die einsamen Nächte, wenn sie

in ihrem Bett unter den kostbaren Decken lag und den

Schlaf herbeiwünschte, der lange nicht kommen wollte.

Sie hielt die Augen geschlossen und sah Bodo vor sich,

den jungen Jäger, der nach dem Sieg über die »Horden

der Nacht« wieder in das Land der Wolfsmenschen

zurückgekehrt war.

Immer wieder fragte sie sich, ob die Schuld an

diesem Entschluß nicht bei ihr selbst lag. Als er ihr

seine Liebe zeigen wollte, hatte sie ihn aus

jungfräulicher Scheu zurückgewiesen, obwohl auch sie

ihn liebte, wie sie noch nie einen Menschen geliebt

hatte.

Und dann war er davongegangen, und vielleicht

würde sie ihn niemals mehr wiedersehen. Der Gedanke

raubte ihr den Schlaf, und wenn er endlich kam,

quälten sie schreckliche Träume. Sie sah Bodo, von

Wölfen gerissen, tot am Boden liegen.

Heute war es besonders schlimm gewesen. Müde

und unausgeschlafen hatte sie den Tag damit

verbracht, durch die Säle und Gänge des Palastes zu

schleichen und den Menschen aus dem Weg zu gehen.

Die Zwillinge Kim und Kano, vierzehnjährige Knaben

und Gedankenleser wie sie selbst, hatten sie aufgespürt

und geneckt. Sie kannten ihren Kummer und hatten

kein Mitleid mit ihr. Schließlich hatte sie sich in ihr

Gemach geflüchtet, um allein zu sein.

Dumpf brütete sie vor sich hin und wünschte, bald

zu sterben. Das Leben schien jeden Sinn verloren zu

haben, wenn sie niemanden fand, mit dem sie sich

aussprechen konnte. Einen Augenblick dachte sie

daran, sich Dragon zu offenbaren, aber dann verwarf

sie den Gedanken wieder. Der neue König von Myra

hatte selbst genug Sorgen.

Er wollte seinem Reich eine neue und liberale

Rechtsordnung geben, damit das Volk nach der

Herrschaft der Tyrannen aufatmen und frei leben

konnte. Das Heer wurde bis auf fünftausend Mann

entlassen. Davon kampierten viertausend unter der

Führung Parthos außerhalb der Stadt. Tausend

Urgoriten, Dragons Leibwache, sicherten den Palast

und Myra.

Nein, Dragon konnte sie mit ihren Sorgen nicht

belästigen.

Vielleicht täte es ihr gut, für ein paar Tage einsam zu

sein und niemanden zu sehen. Der einzige Ort, der für

ein solches Vorhaben in Frage kam, war die Küste des

Meeres, nicht weit von Myra entfernt. Dort gab es nur

vereinzelte Fischerdörfer, die sie meiden konnte.

Außerdem würde sie dank ihrer Gabe immer

rechtzeitig vor der Annäherung von Menschen

gewarnt.

Ja, das Meer war genau das Richtige für sie. Sie

würde auf den Klippen sitzen und Trost in der

Unendlichkeit des Ozeans finden. Die Wellen würden

ihr Grüße von Bodo bringen, und wenn der Wind sich

drehte, konnte sie die Grüße zu ihm zurückschicken.

Die Bucht der großen Steine ...

Es war eine einsame Gegend, unfruchtbar und kahl.

Darum gab es dort auch keine Ansiedlungen, obwohl

die Bucht ein guter Hafen gewesen wäre. Sie lag nach

Südwesten und war gegen die Nordwinde durch

riesige Felsbrocken geschützt, die ein richtiges Kap

bildeten.

Als ihr die Bucht der großen Steine einfiel, atmete

sie erleichtert auf. Sie würde den Weg finden. Einen

ganzen Tag würde sie wandern müssen, um den Platz

zu erreichen.

Als es bereits dunkelte, huschte sie aus ihrem

Zimmer und schlich in die Vorratskammer des

Palastes. Hastig stopfte sie zwei verschlossene Krüge

mit leichtem Wein, Brot, getrocknetes Fleisch und

einige Früchte in den mitgebrachten Sack und kehrte in

ihr Gemach zurück. Sie mußte noch warten, bis die

Palastwachen müde und unaufmerksam geworden

waren, ehe sie sich auf den Weg machte. Niemand

sollte sie sehen.

Wieder kam ihr das Gedankenlesen zu Hilfe.

Vor wenigen Tagen erst hatte sie durch die

Gedanken eines alten Palastbediensteten, der schon zu

König Zogors Zeiten hier war, von der Existenz eines

geheimen Ganges erfahren. Er führte vom Palast aus

unter der Stadt her bis in die Nähe der Küste. Da um

diese späte Stunde alle Stadttore bereits geschlossen

waren, blieb ihr ohnehin keine andere Wahl, als den

Geheimgang zu benutzen.

Angezogen saß sie auf ihrem Bett und verspürte

zum ersten Mal seit Wochen Erleichterung. Der

Gedanke, bald mit sich und der Einsamkeit der Natur

allein sein zu dürfen, machte sie beinahe glücklich.

Gegen Mitternacht packte sie ihr Bündel, nachdem

sie sich eine wärmende Decke übergeworfen hatte, und

verließ ihr Zimmer. Im Palast schlief schon alles, nur

die Wachen standen gegen die Wände gelehnt und

dösten vor sich hin. Es fiel Yina leicht, ihnen

auszuweichen.

Der Gang begann in der Bibliothek. Wenn sie den

alten Mann richtig verstanden hatte, mußte das dritte

Regal zur Seite geschoben werden, nachdem man

vorher eine unauffällige Sperre gelöst hatte.

Ohne Zwischenfall gelangte sie endlich in die

Bibliothek. Die Fackel im Tonkrug brannte noch, aber

sie würde bald verlöschen. Yina nahm sie und ging

zum dritten Regal, um die Sperre zu suchen. Tastend

glitten ihre Finger über das polierte Holz, bis sie

endlich gegen ein kleines Hindernis stießen. Das mußte

die Sperre sein.

Vorsichtig drückte sie dagegen, und als nichts

geschah, druckte sie fester. Der Riegel rutschte ein

wenig zur Seite und stieß gegen einen Vorsprung.

Yina stellte die Fackel in den Tonkrug zurück und

legte ihr Bündel auf den Tisch, um nun beide Hände

frei zu haben. Dann stemmte sie sich mit aller Kraft

gegen das Regal, bis es sich zu bewegen begann. Einige

der darin befindlichen Schriftrollen kippten um, eine

fiel sogar auf den Boden, aber Yina kümmerte sich

nicht darum. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem

dunklen Spalt, der sich immer mehr vergrößerte, bis er

breit genug war, sie durchzulassen.

Aufatmend trat sie zurück, nahm ihr Bündel und die

Fackel und zwängte sich an dem Regal vorbei in den

finsteren Gang. Dann schloß sie den Eingang wieder,

und erst jetzt fiel ihr ein, daß sie ja nicht wußte, wie

man ihn von innen her wieder öffnen konnte. Der

Schreck über die Unterlassungssünde fuhr ihr so in die

Knochen, daß ihre Beine zitterten und sie sich setzen

mußte. Die Fackel in ihrer Hand schwankte hin und

her.

Der Boden war kalt und feucht. Von der Decke

fielen vereinzelt Wassertropfen, platschten in sumpfige

Pfützen oder spritzten von Steinen ab. Yina erschrak,

als ihr die Fackel einfiel. Wenn sie erlosch, würde es

dunkel um sie sein. Sie hatte nichts bei sich, mit dem

sie Feuer oder Licht machen konnte.

Hastig erhob sie sich, um ihren Weg fortzusetzen. In

der einen Hand hielt sie das Bündel, in der anderen die

Fackel. Solange es noch möglich war, wollte sie die

Ausmaße des Ganges studieren, um sich später auch in

der Finsternis zurechtfinden zu können.

Er war etwa anderthalb Manneslängen hoch und

eine halbe breit. Wenn sie die Arme ausstreckte, konnte

sie die Wände berühren. Das würde eine große Hilfe

sein, wenn es dunkel wurde.

Der Boden war naß. Immer wieder wich sie den

Pfützen aus, aber die Feuchtigkeit drang bereits durch

ihre Schuhe. Sie fror erbärmlich und begann bereits,

ihren Entschluß zu bereuen, aber dann dachte sie an

die Einsamkeit der Bucht und an ihr gedankliches

Zusammensein mit dem fernen Geliebten. Vielleicht

war es ihr sogar möglich, seine Gedanken aufzuspüren.

Die Hoffnung gab ihr die Kraft, weiterzugehen,

außerdem fiel ihr noch rechtzeitig ein, daß sie ja gar

nicht zurückkonnte, weil sie nicht wußte, wie die

Geheimtür von innen geöffnet wurde.

Es mußte Yinas Schätzung nach kurz vor

Sonnenaufgang sein, als die Fackel endgültig erlosch.

Damit verschwand auch der letzte Rest von Wärme.

Sie befestigte mit klammen Fingern den Beutel am

Gürtel ihres Gewandes, um die Hände frei zu haben,

damit sie beiderseits die Wände abtasten konnte. Ohne

eine Pause zu machen, ging sie weiter. Der Gang schien

kein Ende nehmen zu wollen.

Eine lange Zeit war es stets fast unmerklich bergab

gegangen, aber nun war es Yina, als müsse sie ebenso

unmerklich nach oben steigen. Immer noch war der

Boden glitschig, aber das Schlimmste war vorbei. Am

tiefsten Punkt des Ganges hatte sie fast knöcheltief

durch Wasser waten müssen, jetzt aber wurde es

allmählich trockener.

Dafür wurde die Decke niedriger.

Bald mußte sie sich gebückt weitertasten. Auch

enger wurde der Gang, und bald war er so schmal, daß

sie die Wände mit den Schultern allein spüren konnte.

Sie bekam Angst, daß der Gang im Nichts endete

und sie vor einer undurchdringlichen Wand stehen

würde. Dann mußte sie umkehren und versuchen,

gedanklichen Kontakt mit den Zwillingen

aufzunehmen, damit sie aus der tödlichen Falle befreit

wurde. Sie betete, daß die Götter ihr diese Blamage

ersparten.

Tapfer ging sie weiter.

Plötzlich schlugen ihr Zweige ins Gesicht. Ruckartig

blieb sie stehen, denn Zweige und Pflanzen konnte es

hier unten nicht geben.

Unten?

Sie war seit einer guten Stunde nur bergan

gestiegen. Wie tief befand sie sich noch unter der

Oberfläche? Wo war sie überhaupt?

Sie zögerte, aber dann streifte sie die Zweige beiseite

und ging weiter, dem dämmerigen Punkt entgegen,

der dicht vor ihr durch das Dunkel schimmerte. Der

Punkt wurde immer größer, bis er sich als Ausgang

einer Höhle entpuppte, die an einem steilen Berghang

lag.

Erschöpft sank sie auf dem kleinen Plateau nieder

und sah sich um.

Der Berg – sie kannte ihn – erhob sich mitten in der

Ebene, die zum Meer führte. Sie hatte ihm niemals

besondere Beachtung geschenkt, wenn sie ihn sah. Und

niemand würde an seinem Hang den Ausgang des

geheimen Ganges vermuten, der vom Palast hierher

führte.

Sie sah hinab in die Tiefe. Der Abhang war steil und

glatt. Er lag über der Ebene, durch die eine

Karawanenstraße führte. Etwa fünfzig Manneslängen,

schätzte Yina, würde sie klettern müssen, ehe sie den

sicheren Grund erreichte.

Ehe sie mit dem Abstieg begann, stärkte sie sich

durch ein Stück Fleisch, etwas Brot und einen Schluck

Wein. Besonders der ungewohnte Wein gab ihr neuen

Mut. Sie hatte es ja schon halb geschafft. Der Weg zur

Küste des Meeres, das sie bereits vor sich in der

Dämmerung schimmern sah, war ein Kinderspiel

gegen das, was sie hinter sich hatte. Sie brauchte nur

noch die Karawanenstraße zu kreuzen, dann war sie in

Sicherheit.

Abermals befestigte sie den Beutel am Gürtel, um

die Hände frei zu haben. Ihre tastenden Füße fanden

immer wieder einen Halt, als sie in die Tiefe kletterte,

und fast schien es ihr, als hätten einst geschickte Hände

winzige Stufen in die Felswand gemeißelt.

Endlich erreichte sie die Ebene. Als sie

zurückblickte, sah sie nur die aufsteigende Wand, aber

keine Stufen. Nur ein Verrückter wäre auf den

Gedanken gekommen, dort oben könne es eine Höhle

geben.

Obwohl sie müde und erschöpft war, hielt sie sich

nicht länger auf. Noch bevor es richtig hell wurde,

hatte sie die Straße überquert und wanderte durch

mannshohes Gras und sumpfige Schilfwälder. Die

Küste war nicht mehr fern, und als die Sonne am

höchsten stand, hörte sie die Brandung des Meeres.

Zwischen diesem Punkt und der Bucht der großen

Steine gab es keine Ansiedlung mehr. Sie würde

keinem Menschen begegnen, höchstens einem Fischer

oder einem einsamen Jäger. Auf ihre Fragen würde sie

schon zu antworten wissen, denn sie konnte ihre

Fragen schon vorher in ihren Gedanken lesen.

Als sie das Meer erreichte, stand die Sonne nur noch

eine Handbreit über dem Horizont. Sie wollte die

Bucht noch vor Anbruch der Nacht erreichen, also

wanderte sie weiter, obwohl ihre Beine sie kaum noch

zu tragen vermochten. Die bleierne Müdigkeit drohte

sie zu überwältigen, und die Versuchung, sich einfach

zwischen die Felsen in den Sand zu legen, wurde

immer größer.

Aber sie ging weiter.

Endlich, es war bereits finster geworden, stand sie

auf dem schmalen Kap, das sie noch von der ersehnten

Bucht trennte. Erleichtert blickte sie hinab in das

phosphoreszierende Wasser, das an den Nachthimmel

mit seinen vielen tausend Sternen erinnerte. Sonst

konnte sie nichts sehen, denn der Mond schien nicht.

Sie änderte ihren Entschluß, auf dem Kap zu

bleiben. Sie wollte die unmittelbare Nähe des Wassers

spüren und riechen. Sie wollte die Sterne über sich

sehen und mit ihren Gedanken Bodo suchen, der

vielleicht gerade jetzt in diesem Augenblick an seinem

Lagerfeuer saß oder mit den wilden Wölfen kämpfte.

Sie tastete sich durch das Gestrüpp, bis sie den Sand

unter den Schuhsohlen fühlte.

Dann erst, wenige Mannslängen vom Wasser

entfernt, sank sie zu Boden. Der Sand war noch warm

und trocken. Die Flutlinie war weit genug entfernt.

Hungrig aß sie von den Vorräten, dann trank sie den

Wein. Sie trank mehr, als sie gewohnt war, aber sie war

glücklich, ihr Ziel erreicht zu haben. Im Palast würde

man sie vielleicht vermißt haben, vielleicht aber auch

nicht. Man war es gewohnt, daß sie in letzter Zeit gern

allein war.

Später lag sie auf der Decke lang ausgestreckt und

sah hinauf in das Gewimmel der Sterne. Es war warm,

und die Luft war voller Gerüche. Morgen würde sie

versuchen, Kontakt mit den Zwillingen aufzunehmen,

damit sie Dragon unterrichten konnten. Die Freunde

sollten sich keine Sorgen um sie machen.

Bodo!

Warum hatte sie nur seine Liebe zurückgewiesen?

War es wirklich nur die Angst vor dem ersten Erlebnis

gewesen, oder konnte es andere Gründe für ihre

Handlungsweise geben? Einmal würde es doch

geschehen müssen, und was nun, wenn es ein anderer

als Bodo war?

Nein, das würde sie nicht ertragen können. Sie hatte

schon zu viele Frauen gesehen, die vergewaltigt

worden waren. Vielleicht war auch das der Grund für

ihre Weigerung in jener Nacht, da Bodo ihr seine Liebe

zeigen wollte.

Und nun war sie allein, ganz allein. Nur die

Sehnsucht war bei ihr.

Als sie sich konzentrierte, waren viele Gedanken in

ihrem Gehirn. Aber die von Bodo fehlten. Vielleicht

schlief er noch, oder er war tot. Oder sie konnte sie

einfach nicht finden.

Die Müdigkeit ergriff immer mehr von ihr Besitz.

Die Wellen plätscherten in ewig gleichbleibendem

Rhythmus gegen die nahen Klippen der Bucht. Das

Geräusch schläferte Yina noch mehr ein, als es die

Müdigkeit und Erschöpfung bereits taten. Sie schloß

die Augen und streckte sich. Zur Vorsicht nahm sie die

zweite Decke und kroch darunter. Nach Mitternacht

würde es kühl werden.

Noch einmal suchten ihre sehnsüchtigen Gedanken

Bodo, aber sie fanden ihn nicht. Dann, endlich, schlief

sie ein.

Sie wußte, daß sie allein war.

Aber als sie im Morgengrauen erwachte, war sie

nicht mehr allein.

2.

Die Schwarze Wellenreiterin gehörte zu den

schnellsten Seglern der Bruderschaft des Großen

Meeres, einer gut organisierten Piratenbande, deren

Oberhaupt – und das wußten nur wenige Eingeweihte,

der König der Schlangeninsel selbst war.

König Jellis, Erster Kapitän der Bruderschaft, bezog

seine Einkünfte in erster Linie durch Piraterie. Er

schreckte auch nicht davor zurück, seine Leute an

friedlichen Küsten landen zu lassen und Städte und

Märkte auszurauben.

Er hatte die Schwarze Wellenreiterin mit dem

Auftrag in See stechen lassen, die Lage im Königreich

Myra nach dem Umsturz zu erkunden. Er hoffte, daß

das geschwächte Reich ein lohnendes Objekt für einen

großangelegten Überfall sein könnte. Mit dem Auftrag

hatte er seinen besten Mann betraut: Kapitän Jaggar

von der Totenküste.

Jaggar war ein dunkelhäutiger und listenreicher

Piratenkapitän, aber niemand hätte ihm nachsagen

können, daß er falsch oder hinterhältig wäre.

Nördlich von Myra hatte Jaggar drei Männer an

Land setzen lassen. Es war mit ihnen verabredet

worden, daß sie nach einem halben Mond wieder

abgeholt werden sollten. Und das war heute

geschehen.

Da die Nacht bereits angebrochen war, umschiffte

die Wellenreiterin noch einige gefährliche Kaps und

ging in einer weiten Bucht vor Anker. Am anderen

Morgen wollte Jaggar die Heimreise zur

Schlangeninsel antreten.

Sie fanden einen guten Ankerplatz in tiefem Wasser.

Die Küste war steil und felsig. Riesige Steinblöcke

rahmten die Bucht wie einen Hafen ein. Jaggar fühlte

sich hier absolut vor jedem Angriff sicher.

Er ließ die drei Männer zu sich kommen und fragte

sie aus.

Was er zu hören bekam, erfreute ihn nicht sehr.

»Und seid ihr sicher, daß alles wahr ist, was ihr

gehört habt?«

Der Anführer der Spione beteuerte:

»Wir haben viele Leute gefragt, und sie bestätigten

alle, daß der neue König ein wahrer Held sei. Er hat

eine Armee von mehr als fünftausend Kriegern. Es

wäre schwer, sie zu besiegen.«

»König Jellis wird über die Nachricht nicht gerade

erfreut sein.«

»Hätten wir euch belügen sollen, Kapitän?«

Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte

Jaggar die Beherrschung verlieren, aber dann lächelte

er nur milde.

»Natürlich nicht, du hast richtig gehandelt, und es

ist ja auch nicht eure Schuld, wenn sich die Lage zu

unseren Ungunsten verändert hat. König Jellis, unser

Erster Kapitän, muß sich damit abfinden. Es gibt noch

andere Küsten, an denen wir reichliche Beute machen

können. Ich danke euch, ihr könnt euch zur Ruhe

legen. Wir werden eine friedliche Nacht verbringen.«

Damit behielt er recht. Obwohl ständig zwei Männer

Wache hielten, bemerkten sie nichts. Am Strand

bewegte sich nichts, die weite Bucht blieb wie

ausgestorben. Wenn wirklich jemand die Spione

verfolgt hatte, so mußte er ihre Spur verloren haben.

Es war eine klare Nacht, in der die Sterne wie blanke

Diamanten funkelten. Als sie verblaßten und der

Morgen graute, war der Strand besser zu erkennen.

Einer der beiden Männer, die Wache hielten, legte die

flache Hand vor die Augen. Angestrengt sah er zum

Ufer hinüber, das kaum fünfzig Manneslängen entfernt

war. Er schüttelte den Kopf. »Siehst du auch etwas?«

fragte er seinen Gefährten.

Der schaute ebenfalls in die Richtung, dann nickte

er.

»Dort liegt jemand im Sand«, sagte er dann

befremdet. »Wir sollten es dem Kapitän melden.«

»Bleib hier, ich gehe und wecke ihn.«

»Paß auf, daß er dich dafür nicht auspeitschen läßt«,

warnte der Zurückbleibende gutmütig.

Kapitän Jaggar war durchaus nicht erfreut, als er

geweckt wurde. Als er jedoch erfuhr, daß am Strand

ein Mensch lag und schlief, wurde er überraschend

schnell munter.

»Nimm drei Männer und rudere zum Strand.

Nehmt den Kerl gefangen und bringt ihn zu mir. Ich

muß wissen, was er dort tut. Kein vernünftiger Mensch

legt sich nachts in den kühlen Sand, um zu schlafen. Es

kann sich nur um einen Spion handeln, der unser Schiff

gesehen hat. Aber dann frage ich mich, warum er so

unvorsichtig ist ... Na, wir werden es bald wissen.«

Das Ruderboot näherte sich vorsichtig dem

schmalen Sandstreifen. Es war die einzige Stelle, an der

man gefahrlos landen konnte. Der Kiel knirschte, als er

den Boden berührte, aber der Schläfer wachte nicht auf.

Ruhig und reglos lag er unter der Decke, als sei er tot.

Vielleicht war er das sogar?

Die vier Männer hielten ihre Waffen bereit, als sie

auf die Gestalt zuschlichen.

Sie erreichten den leichtsinnigen Schläfer, und

während drei der Männer ihre langen Dolche erhoben,

um sofort zustechen zu können, zog der vierte

vorsichtig die Decke zurück.

Er erstarrte mitten in der Bewegung, als er das

Mädchen erblickte.

Schön war es nicht, aber jung.

Die Piraten ließen verblüfft ihre Dolche sinken. Alles

hatten sie vermutet, nur kein Mädchen, das noch ein

halbes Kind war.

Aber auch Mädchen waren eine begehrte Beute für die

Bruderschaft des Großen Meeres.

»Na schön, dann wollen wir sie mal aufwecken«,

flüsterte der Anführer der vier Piraten, stellte sich über

die wertvolle Beute und bückte sich langsam ...

Yina erschrak fast zu Tode, als etwas gegen ihre

Beine stieß. Sie öffnete die Augen und starrte in das

breit grinsende Gesicht eines bärtigen Mannes, der

über ihr stand und sich zu ihr hinabbeugte.

Unwillkürlich wollte sie aufspringen, aber die Beine

des Unheimlichen hatten sie eingezwängt. Nur den

Oberkörper konnte sie ein wenig aufrichten, das war

alles.

»Hübsch langsam, schönes Kind«, sagte der Fremde

spöttisch in einem Dialekt, den Yina schon gehört

hatte. »Wo hast du denn deinen Liebsten gelassen?

Man schläft doch nicht allein am Strand.«

Bodo! durchzuckte es Yina. Wenn doch nur Bodo

hier wäre! Er würde ihr helfen und sie aus den Klauen

dieses Unmenschen befreien. Sie hatte in den

Gedanken der vier Männer schon längst gelesen, daß

sie Piraten waren und daß sie vorhatten, sie aufs Schiff

zu bringen. Ins Land der Schlangen würde man sie

verschleppen, zu König Jellis, der junge Mädchen liebte

und hohe Belohnungen für gefangene Sklaven zahlte.

»Ich bin aber allein!« erwiderte sie trotzig.

»Fein, dann komm mit, damit wir dich unserem

Kapitän vorstellen können. Aber versuche nicht zu

fliehen, das würde dir schlecht bekommen. Steh

langsam auf. Deine Sachen kannst du mitnehmen.«

Einen Augenblick lang dachte Yina daran, ihnen zu

verraten, wer sie war und sie vor der Verfolgung durch

König Dragon zu warnen, aber dann besann sie sich

rechtzeitig, daß sie keinen größeren Fehler machen

könnte. Für die Piraten würde die Beute dadurch nur

noch wertvoller werden. Und auf keinen Fall durfte

einer von ihnen erfahren, daß sie ihre Gedanken lesen

konnte.

Vorsichtig erhob sie sich, nahm Decken und Beutel

und sah den bärtigen Piraten an.

»Ich bin bereit, aber versprecht mir, daß mir

niemand ein Leid zufügt.«

Der Pirat grinste abermals.

»Ein Leid? Was verstehst du darunter? Es gibt

Dinge, die der eine als Leid und der andere als Freude

bezeichnet. Wenn du das meinst, dann sei beruhigt. Du

stehst unter dem Schutz unseres Kapitäns, den Mann

von der Totenküste.«

Sie wußte, daß er nur bedingt die Wahrheit sprach.

Sie ließ sich von den Männern in die Mitte nehmen,

und dann erst sah sie auch das Schiff.

Die schwarzen Segel stachen scharf gegen den

immer heller werdenden Himmel ab. Der schmale Bug

verriet Schnelligkeit und ein sicheres Gleiten durch

hohe Wellen. An der Reling standen die Piraten und

johlten, als sie das Mädchen sahen.

Yina stieg ins Boot und setzte sich auf eine der

Ruderbänke. Sie wußte, daß jeder Fluchtversuch

sinnlos geworden war. Sie mußte sich darauf verlassen,

daß die Piraten Rücksicht auf ihre Jugend nahmen –

oder daß sie ihnen zu häßlich war.

Nach wenigen Ruderschlägen erreichten sie das

Schiff. Eine Strickleiter hing an der Bordwand. Der

Bärtige nickte Yina zu.

»Hinauf mit dir!« befahl er rauh. »Ich bleibe dicht

hinter dir, damit du weich fällst.«

Gröhlendes Gelächter belohnte ihn für seinen

vermeintlichen Scherz. Er kümmerte sich nicht darum,

sondern kletterte hinter Yina die Strickleiter hoch,

nachdem er ihr die Decken abgenommen hatte.

Allerdings achtete er mehr auf die Röcke des

Mädchens, die ihr nur bis zum Knie reichten, als auf

alles andere.

»Sie ist gut gebaut!« rief er den wartenden Piraten

zu, die ihn offensichtlich um seine Vorrangstellung

beneideten und mit entsprechenden Fragen oder

Hinweisen keineswegs sparten.

Yina hatte sich noch nie in ihrem Leben so erniedrigt

gefühlt, aber schließlich war sie lange genug in

Begleitung des Heeres durch die Lande gezogen. Sie

kannte die Männer zur Genüge, aber dies hier waren

keine Soldaten, sondern Piraten.

Kräftige Arme streckten sich ihr entgegen und zogen

sie über die Reling. Sie schlug die Augen nieder, als sie

die Blicke bemerkte, mit denen man sie musterte. Dann

wurde sie rot im Gesicht, denn sie las in den Gedanken

der Piraten.

Der Mann, der sie gefangengenommen hatte, sprang

an Bord und scheuchte seine Gefährten fort.

»Geht aus dem Weg, ihr tollen Hunde, sie gehört

dem Kapitän, oder wollt ihr, daß ich euch das Fell über

die Ohren ziehe? Los, macht Platz!« Er warf ihnen

Yinas Decken zu. »Nehmt vorerst das, sie riechen noch

nach ihr ...«

Er stieß Yina vor sich her und hielt sie fest, als sie an

den Kajütniedergang gelangten. Die Treppe war

schmal und steil.

»Ich gehe vor«, sagte er und zwängte sich an ihr

vorbei. »Du weißt ja – damit du weich fällst.«

Es war ihr inzwischen egal, was er tat, wenn er sie

nur nicht dabei berührte. Fast fühlte sie Erleichterung,

wenn sie daran dachte, bald vor dem Kapitän zu

stehen, denn die Piraten schienen vor ihm Respekt zu

haben. Vielleicht war er nicht so grausam, wie sie

annehmen mußte. Seine Gedanken hatte sie in dem

mentalen Chaos noch nicht finden können.

Der Bärtige klopfte gegen die Tür am Ende des

Ganges und stieß sie auf. Er schob seine Gefangene vor

sich her in den Raum.

»Es ist ein Mädchen«, sagte er, obwohl Jaggar das

auch selbst sehen konnte. »Wie gefällt dir das?«

Jaggar saß hinter einem schweren Tisch am

Kopfende der großen und fürstlich ausgestatteten

Kabine. An den Wänden hingen Waffen aller Art, aber

auch kostbare Teppiche und Schmuckgegenstände. Auf

dem Tisch lagen Schriftrollen und ein Messer, dessen

Griff mit Perlen geschmückt war. Daneben stand ein

Krug Wein und ein Becher.

»Wer ist sie?« fragte Jaggar und betrachtete sie von

oben bis unten. »Sie sieht im Gesicht aus wie eine

Maus.«

Yina zuckte zusammen. Wenn schon ein Fremder

die Ähnlichkeit feststellte, mußte schon etwas an dem

Vergleich wahr sein.

»Aber sie hat eine gute Figur«, bestätigte der Bärtige.

»Das ist nicht unwichtig.«

»Hm«, knurrte Jaggar, halb belustigt. »Ich will nicht

hoffen, daß du die Regeln vergessen hast. Also, wer ist

sie?«

»Das weiß ich nicht, du mußt sie fragen.«

Jaggar gab ihm einen Wink.

»Laß mich mit ihr allein, ich will nicht gestört

werden.«

»Natürlich nicht, Kapitän«, grinste der Bärtige und

verschwand.

Jaggar stand auf, kam auf sie zu und ging an ihr

vorbei, um den Riegel vorzuschieben. Dann setzte er

sich wieder und sah sie an.

»Komm etwas näher. Wie heißt du?«

»Yina.«

»So, Yina? Seltsamer Name. Und warum hast du

allein am Strand geschlafen? Wer hat dich dorthin

geschickt?«

»Niemand, ich wollte nur allein sein.«

»Wo wohnst du?«

Sie las in seinen Gedanken, daß er keine Ahnung

hatte.

»Im nächsten Dorf. Meine Eltern sind Fischer, arme

Leute. Ich helfe ihnen bei der Arbeit, bis mich ein Mann

heiraten will.«

Er glaubte ihr. Aber schon kam die nächste Frage:

»Was ist mit diesem neuen König, Dragon heißt er

wohl? Du mußt mir die Wahrheit sagen, sonst geht es

dir schlecht, hörst du? Was ist mit ihm? Ist er wirklich

ein so großer Held, wie mir berichtet wurde?«

»Man hat dir die Wahrheit gesagt. Er ist ein Held

und sehr tapfer. Sein Heer ist gut gerüstet und auf

jeden Angriff vorbereitet.«

Obwohl Jaggar eine ähnliche Antwort erwartet

hatte, war er sichtbar enttäuscht und unzufrieden.

Wahrscheinlich hätte er seinem Ersten Kapitän lieber

eine andere Botschaft überbracht.

»Wer sagt dir, daß jemand einen Angriff auf Myra

plant?«

»Seid ihr nicht Piraten?«

»Nun, so würde ich es nicht gerade nennen. Wir

sind Untertanen des König Jellis, des Beherrschers der

Schlangeninsel.«

Yina schwieg. Sie hielt es für besser, ihm jetzt nicht

zu sagen, daß zwischen den Piraten und Jellis‘

Untertanen kein Unterschied bestand.

»Zieh deinen Rock etwas höher«. sagte Jaggar

plötzlich. »Ich möchte wissen, ob mein Bootsmann

recht hat.«

Sie zögerte, aber als sie bemerkte, daß sich sein Blick

verfinsterte, gehorchte sie. Sie zog den Rock bis über

die Knie hoch.

»Weiter!« befahl Jaggar und betrachtete wohlgefällig

ihre Beine. »Sei nicht so zimperlich, ich tu dir nichts.«

Widerstrebend gehorchte sie und war froh, der

Nacht wegen doppeltes Unterzeug angezogen zu

haben. So kam sie sich nicht so nackt vor, obwohl sie

den Rock so weit emporhob, wie es ging.

Er grunzte befriedigt.

»Na schön. Der Kerl scheint recht zu haben. Ich

werde es mir noch überlegen, ob ich dich behalte oder

auf dem Sklavenmarkt verkaufe. Bis dahin geschieht

dir nichts. Auch vor meinen Männern bist du sicher.

Ich werde dich in einer Zelle einsperren lassen. Den

Schlüssel behalte ich. Sobald wir auf See sind, werde

ich mich um dich kümmern.«

Er schlug mit einem Stock, der an seinen Sessel

gelehnt hatte, gegen die Tür, nachdem er den Riegel

zurückgeschoben hatte. Der Bärtige erschien sofort, als

habe er nur auf das Zeichen gewartet.

»Bring sie in die Zelle im Achterschiff und sperr gut

ab. Den Schlüssel bekomme ich. Gib ihr noch Wasser

und Brot. Wer sie belästigt, baumelt am Mast. Alles

klar, Bootsmann?«

Yina warf Jaggar einen dankbaren Blick zu. Dann

folgte sie dem Bärtigen. Noch während er sie

einsperrte, hörte sie das Geräusch der Ankerketten.

Das Schiff verließ die Bucht und ging auf Westkurs.

Yina fühlte sich für den Augenblick sicher und

versuchte, sich auf Kim und Kano zu konzentrieren. Es

mußte ihr jetzt gelingen, einen Gedankenkontakt

herzustellen, sonst war sie verloren. Von der

Schlangeninsel konnte sie niemand mehr zurückholen

– außer vielleicht Bodo.

Aber Bodo war im fernen Land der Wolfsmenschen.

Es war sehr schwierig, die vielen Gedanken der

Mannschaft, die auf sie einströmten, zu ignorieren.

Auch aus der Stadt Myra selbst empfing sie die

Gedanken der Bürger, und langsam und behutsam

tastete sie sich zum Palast vor.

Dann hatte sie Kano!

Der eine der Zwillinge hatte den Palast verlassen,

dessen dicke Mauern die Gedanken stark

abschwächten. Er wanderte durch den Park und

überlegte, wem er heute einen Streich spielen könnte.

Flüchtig dachte er dabei auch an Yina, die er in ihrem

Gemach vermutete. Man hatte sie also noch nicht

vermißt.

Kano! dachte Yina angestrengt.

Verstehst du mich? Kannst du meine Gedanken

lesen? Ich muß dir etwas Wichtiges mitteilen! Gib mir

Antwort, Kano! Kano!

Aber Kano hatte einen der Palastwächter entdeckt,

der ihm den Rücken zuwandte und die Mauer

beobachtete. Der war das richtige Opfer für ihn.

Vorsichtig schlich er sich noch ein Stück näher an ihn

heran und versteckte sich in den Büschen. Dann nahm

er einen Stein und warf ihn so geschickt, daß er den

Wächter an der Schulter traf.

Yina, die alles durch Kanos Augen verfolgen konnte,

verzweifelte bald, weil der Zwilling sie nicht hörte.

Kano! Nun hör doch endlich! Hier ist Yina! Ich bin

in großer Gefahr!

Der Palastwächter zuckte erschrocken zusammen

und wirbelte herum, das Schwert zum Streich erhoben.

Aber er sah niemanden. Langsam schritt er auf die

Büsche zu, in denen Kano verborgen war.

Nun wurde dem Jüngling doch angst und bange, als

er das blanke Schwert sah. Reumutig stand er auf und

zeigte sich dem Wächter, der verblüfft das Schwert

sinken ließ, als er Kano erkannte.

»Was machst du denn hier?« fragte er.

Kano grinste.

»Kim sucht mich, und da habe ich mich versteckt.«

Der Wächter schien nicht gerade mit besonderen

Geistesgaben ausgestattet zu sein, denn er fragte

harmlos:

»Hast du keinen Fremden im Park gesehen? Mir war

eben, als habe jemand einen Stein nach mir geworfen.«

»Das kann nur Kim gewesen sein«. erwiderte Kano

schnell.

»Na fein, Kano, dann ist er ja in der Nähe, und du

wirst ihn leicht finden. Und wenn du ihn gefunden

hast, dann sage ihm, daß ich König Dragon über den

Vorfall Meldung erstatten werde, wenn er sich noch

einmal wiederholt.

Man darf die Palastwachen nicht von ihren Pflichten

ablenken. Hast du das verstanden! «

»Ja«, murmelte Kano kleinlaut.

Jetzt hielt Yina die Gelegenheit wieder für günstig.

Kano! Ich brauche den Kontakt mit dir, ich bin in

Gefahr: So antworte doch endlich! Kano!

Diesmal klappte es. Kano spürte das flüsternde

Drängen in seinem Gehirn und wußte sofort, daß nur

Kim oder Yina ihn rufen konnte. Er zog sich von dem

Palastwächter zurück, um ungestört zu sein. Mitten

zwischen den Büschen setzte er sich auf den steinigen

und warmen Boden und dachte angestrengt zurück.

Bist du es, Kim?

Aber es war nicht Kim, der ihm antwortete:

Hier ist Yina, du Dummkopf! Piraten haben mich

verschleppt und nehmen mich mit zur Schlangeninsel.

Der Kapitän des Schiffes heißt Jaggar, und bis jetzt

haben sie mir noch nichts getan. Bitte Dragon, daß er

mir hilft.

Kano holte tief Luft, ehe er sich vergewisserte:

Träumst du mal wieder schlecht, Yina? Bist du denn

nicht in deinem ‚Zimmer‘?

Ich bin in einer Schiffskabine eingesperrt, und durch

die kleine Luke kann ich nur noch die höchsten Gipfel

unserer Berge erkennen. Aber auch sie werden bald ins

Wasser tauchen, und dann kann ich dir nicht mehr

sagen, wo ich bin. Noch aber könnt ihr mich finden.

Bitte Dragon, mich zu befreien.

Kano zweifelte noch etwas:

Maus, ich beginne dir zu glauben. Aber vorher

werde ich in deiner Kammer nachsehen, ob das nicht

wieder einer deiner verrückten Streiche ist. Oft genug

bin ich darauf hereingefallen.

Yina wollte heftig reagieren, aber dann entsann sie

sich, daß Kano recht hatte. Sie hatten schon oft genug

ihre dummen Scherze getrieben.

Gut, dann überzeuge dich, aber dann geh sofort zu

Dragon. Ich werde mich mit ihm unterhalten – mit

deiner Hilfe. Beeile dich, wir haben nicht mehr viel

Zeit.

Kano stand auf und schlenderte durch den Park

zurück zum Palast. Ohne sich besonders zu beeilen,

ging er zum Gemach der Gedankenleserin und fand

das Zimmer leer.

Natürlich konnte sie sich noch immer versteckt

haben, aber dann entsann er sich der Dringlichkeit

ihrer Gedankenimpulse. Aus ihnen hatte ehrliche

Angst gesprochen, soweit er das beurteilen konnte.

Also auf zu Dragon, der für ihn so etwas wie ein

Onkel war.

»Na, glaubst du mir nun endlich? fragte Yina ihn.

Ja, schon gut, ich glaube dir. Ich gehe jetzt zu

Dragon.

Die Unterhaltung zwischen Dragon und Yina fand

über Kano statt und war nur sehr kurz.

»Was ist geschehen, Maus?«

Sie zögerte, aber dann blieb sie bei der Wahrheit.

»Ich wollte zwei oder drei Tage mit mir allein sein,

darum ging ich zur Küste, zur Bucht der Großen

Steine. Morgens überraschten mich die Piraten im

Schlaf und schleppten mich auf ihr Schiff. Sie hatten

den Auftrag zu spionieren. Sie wissen nun, daß ein

Überfall auf Myra sinnlos ist.«

»Dann sollte man sie entkommen lassen, Maus. Aber

natürlich werden wir dich vorher befreien. Ich werde

drei schnelle Schiffe nachschicken. Beschreibe mir die

Berge, wie du sie siehst, dann weiß ich, wo sich das

Schiff etwa befindet. Schwarze Segel, sagst du?«

»Schwarz, und darüber die Flagge des Königs der

Schlangeninsel.«

Sie beschrieb die drei verbliebenen Bergspitzen.

Dragon schätzte den Winkel auf einer Karte ab, ehe er

einem Boten den Auftrag gab, zum Hafen zu eilen und

den Kapitänen dreier Schiffe den Befehl zum

Auslaufen zu überbringen. Jedem von ihnen gab er

eine entsprechende Botschaft mit, außerdem sollte

Kano mitfahren und Kontakt mit Yina halten.

Die drei Schiffe liefen aus und bekamen günstigen

Wind in die Segel, aber sie waren naturlich nicht so

schnell wie die Wellenreiterin. Es war ihnen nicht

möglich, den Piraten einzuholen, der inzwischen voll

auf Südkurs gegangen war und nicht zu kreuzen

brauchte. Trotzdem gaben die Kapitäne noch nicht auf.

Kano stand in Kontakt mit Yina.

Das Schiff ist sehr schnell. Die Bugwelle reicht fast

zur Luke meiner Kabine, Kano. Es ist, als ob wir flögen.

Dann werden wir dich nie einholen können, Maus.

Versucht es wenigstens, sonst bin ich verloren.

Wer soll dir schon etwas tun wollen? So schön bist

du nun auch wieder nicht.

Du bist widerlich, Kano.

Ich bin nur ehrlich! Aber sei beruhigt, ich werde

alles versuchen, dich zu retten, schon um Bodo einen

Gefallen zu tun.

Kleiner Giftzwerg!

Warte nur, Maus! Kim und ich werden dir die Haare

lang ziehen, wenn wir dich befreit haben.

Ja, wenn! dachte Yina bei sich und blieb mit Kano in

Kontakt, um die gutgemeinte Rettungsaktion weiter

verfolgen zu können. Aber wenn sie die hochgehende

Bugwelle sah, verlor sie die letzte Hoffnung, daß die

Aktion noch gelingen könnte. Immerhin befand sie sich

in der Zelle in relativer Sicherheit, denn sie stand unter

dem Schutz des Kapitäns, über dessen Pläne es

allerdings kaum einen Zweifel gab. Selbst dann, wenn

er die Absicht hatte, sie auf dem Sklavenmarkt zu

verkaufen, würde er nicht auf das Vergnügen

verzichten wollen, sie erst einmal für sich zu haben.

Vielleicht würde sogar der bärtige Bootsmann noch

Ansprüche anmelden, denn schließlich war er es ja

gewesen, der sie entdeckt und gefangengenommen

hatte.

Sie schauderte zusammen, wenn sie daran dachte.

Ich sehe nur noch den mittleren Berg, dachte sie zu

Kano.

Ich sehe noch alle drei, also sind wir noch weit von

dir entfernt. Wir holen nicht auf. Der Kapitän will

aufgeben.

Das darf er nicht! Dragon wird ihn bestrafen.

Weil er etwas Sinnloses unterläßt, Maus? Ich glaube

nicht, daß er das tun wird. Aber ich werde versuchen,

ihn umzustimmen. Es könnte ja auch sein, daß Jaggar

den Kurs wechselt und wir ihm den Weg abschneiden.

Du mußt es uns nur rechtzeitig mitteilen.

Wie soll ich wissen, ob er den Kurs wechselt? Ich

habe keine Ahnung von der Seefahrt.

Kannst du gut sehen? Dann achte auf die Segel.

Wenn sich ihre Stellung ändert, teile es mir mit.

Ich kann nur das Meer sehen, nicht die Segel.

Doch, wenn sie umschwenken, wirst du sie sehen

können. Dann achte auf den Lauf der großen

Meereswellen. An ihnen kannst du eine Kursänderung

feststellen. Wie laufen sie jetzt?

Schräg auf uns zu, von Nordwesten, der Sonne nach

zu urteilen.

Gut, dann laß sie nicht aus den Augen.

Yina blieb ununterbrochen an der Luke stehen, aber

die Wellen kamen immer von Nordwesten. In

Wirklichkeit kamen sie natürlich nicht schräg auf das

Schiff zu, sondern wurden von ihm überholt. Dadurch

entstand der falsche Eindruck, sie kämen auf das Schiff

zu. Aber das änderte nichts daran, daß die Schwarze

Wellenreiterin ihren bisherigen Südkurs unverändert

beibehielt.

Der mittlere Gipfel sank unter den Horizont, und

damit versank auch Yinas letzte Hoffnung, sie könne

doch noch gerettet werden.

Aber erst dann, als es nach vielen Stunden wieder zu

dunkeln begann, erhielt sie die Gewißheit, daß sie

verloren war, wenn sie es nicht verstand, sich selber zu

helfen.

Kano teilte ihr mit:

Der Kapitän hat sich endgültig zur Umkehr

entschlossen, obwohl ich Kontakt mit dir halte. Er

fürchtet Dragons Zorn nicht, weil er davon überzeugt

ist, ihn von der Richtigkeit seiner Handlungsweise

überzeugen zu können. Maus, nun bist du auf dich

allein angewiesen, ich kann nichts mehr für dich tun.

Das Schiff der Piraten ist zu schnell für uns.

Yina antwortete:

Ich mache niemandem einen Vorwurf. Ich werde

mir selbst zu helfen wissen. Auf Wiedersehen, Kano.

Grüße Dragon.

Abends, wenn die Sonne untergeht, suche Kontakt

mit mir. Jeden Abend, hörst du, Maus? Vielleicht

können wir etwas für dich tun.

Gut, ich werde es nicht vergessen. Aber Schluß jetzt.

Jemand ist vor der Kabinentür ...

Damit brach der Kontakt vorerst ab.

Die drei Schiffe Dragons wendeten und fuhren

schräg gegen den Wind nach Myra zurück.

3.

In ihrer eigenen Sprache nannten sich die

Fischmenschen: die Tainu.

Issola war achtzehn Jahre alt und die Tochter der

gegenwärtigen Tainula Ismena, der Mutter des

gesamten Stammes, der auf und unter der namenlosen

Insel lebte, die dem Fischer und Jäger Xeno zum

Verderben geworden war.

In der Runde der Seemütter, dem sogenannten

Talatta, genoß Ismena höchstes Ansehen, abgesehen

von der Tatsache, daß sie nun für ein volles Jahr die

Regierungsgeschäfte zu führen hatte. Die Regierung

war die Angelegenheit der Frauen. Sie war für alle

kommunalen Probleme zuständig, auch für die

Erziehung der weiblichen Kinder. Weitere zehn

erfahrene Seemutter standen ihr mit Rat und Tat

hilfreich zur Seite.

Diese schwere Verantwortung hatten die weiblichen

Tainu dem Umstand zu verdanken, daß sie

ausnahmslos Gedanken lesen konnten, während die

Männer diese Gabe nicht besaßen. Diese offensichtliche

Überlegenheit wurde jedoch von den Frauen nicht

ausgenutzt. Die Männer waren für den Kampf da, für

die Jagd und das Handwerk, sie besorgten den

Fischfang und waren für den Schutz des Stammes

verantwortlich. Völlig gleichberechtigt lebten sie mit

den Frauen zusammen, und in Eheangelegenheiten

kam es sogar vor, daß sie dominierten. Außerdem

erzogen sie die Söhne.

Obwohl die feinfühlige Issola die Bestrafung des

Mörders Xeno als gerecht empfand, entfernte sie sich

angewidert von der Gruppe ihrer Artgenossen, als der

Fremde ertränkt wurde.

Sie schwamm nach Osten, der Großen Insel

entgegen. Sie wollte mit sich allein sein, denn ihre

eigene Mutter war es gewesen, die das Todesurteil

über den Fremden gesprochen hatte.

Sie waren böse, die Landmenschen, von Natur aus.

Sie töteten die Tainu, wo immer sie sie fanden. Die

Tainu aber wollten nichts anderes als in Frieden leben –

auf einer für sie dunklen Welt, die nicht ihre Heimat

war.

Hier draußen war das Meer tief und unheimlich,

aber Issola verspürte keine Angst. Das Wasser war ihr

vertrautes Element, mehr jedenfalls als das kalte,

stürmische, trockene und ungewohnte Land. Nur wenn

die Sonne schien, konnte sie sich dort wohl fühlen, aber

die kalte Nacht bedeutete Krankheit oder gar den Tod.

Heiße Trockenheit war jedoch genauso gefährlich.

Sie ließ sich nur dann ertragen, wenn Wasser

vorhanden war, in dem man sich abkühlen konnte. Das

Meer jedoch war ihr eigentliches Lebenselement. Bis zu

einer Stunde konnte Issola tauchen, ehe sie wieder Luft

einatmen mußte. Die ein wenig verkümmerten Kiemen

reichten nicht mehr ganz aus, den gesamten Luftvorrat

aus dem Wasser zu filtern.

Die Weilen gingen hoch, als sie an die Oberfläche

kam. Keine Küste war mehr in Sicht, weder im Westen

hinter ihr noch vor ihr im Osten. Schwarze Wolken

hatten sich vor die Sonne geschoben und ließen die

Welt dunkel und unfreundlich erscheinen.

Sie holte Luft und ließ sich wieder nach unten

sinken, wo es still und ruhig war. Hier merkte man

nichts mehr vom Sturm, der die Oberwelt heimsuchte

und viele Schiffe der Menschen versinken ließ.

Issola überquerte ein Riff, dessen oberster Gipfel nur

zwanzig Meter unter der Meeresoberfläche lag. Es war

so, als könne sie fliegen, frei von jeder Erdenschwere

und dem eigenen Gewicht. Das Wasser war das

natürliche Element aller Wesen, die sich nicht an die

Fesseln der Schwerkraft gewöhnen wollten.

Sie entdeckte märchenhafte Grotten voller

nahrhafter Pflanzen und Tiere. Fischschwärme stoben

zur Seite, wenn sie mitten durch sie

hindurchschwamm. Wenn oben die Sonne schien, war

es hier viel heller, aber auch das trübe Dämmerlicht

genügte, sie ein Paradies entdecken zu lassen.

Sie begann die Hinrichtung zu vergessen,

derentwegen sie davongeschwommen war.

Auf der Ostseite fiel das Riff steil in die unbekannte

Tiefe, aber Issola folgte dem zerklüfteten Hang, bis es

so dunkel geworden war, daß sie kaum noch etwas

erkennen konnte.

Mutter, dachte sie intensiv. Vielleicht kannst du

meine Gedanken hören. Wenn ja, dann bitte ich dich,

mir nicht böse zu sein, weil ich geflohen bin. Ich hasse

den Tod, auch den Tod meiner Feinde. Ich werde zu

ihnen schwimmen und versuchen, mit ihnen zu reden.

Es ist gut, daß du mich ihre Sprache gelehrt hast,

vielleicht wird es uns eines Tages allen nützen. Ich will

ihnen sagen, daß wir in Frieden leben wollen, im

Wasser, nicht auf ihrem Land. Verzeih mir, Mutter ...

Issola erhielt keine Antwort.

Ihre Mutter Ismena, die Tainula, hörte sie nicht.

Trotzdem schwamm sie unbeirrt weiter nach Osten,

unter sich den scheinbar bodenlosen Abgrund, der

zwischen den Inseln und dem Festland lauerte. Der

Graben zog sich ungefähr von Norden nach Süden,

und selbst Issola hatte es noch nicht gewagt, bis zu

seinem Grund hinabzutauchen.

Nach einer Stunde wurde die Atemluft knapp, und

sie mußte wieder hoch zur Oberfläche, die sie zugleich

haßte und liebte. Zu ihrem Erstaunen mußte sie

feststellen, daß eine starke Strömung, vielleicht eine

Folge des Sturmes, sie weiter nach Osten geführt hatte,

als sie zuerst vermutete. Die Große Insel lag bereits

hinter ihr im Westen, und sie trieb weiter auf das nicht

mehr ferne Festland zu.

Dort, so wußte sie, wohnten mehr Menschen als auf

den Eilanden des Engen Meeres.

Aber sie wollte ja zu den Menschen, sie wollte ja mit

ihnen reden und versuchen, ihrem Volk den Frieden zu

bringen. Die ständige Verfolgung durch die Menschen

mußte aufhören, wenn der Stamm der Tainu nicht

aussterben wollte. Es gab nur noch

zweitausendvierhundert von ihnen.

Sie schwamm die ganze Nacht durch, und als sie

einmal wieder auftauchte, sah sie weit vor sich die

felsigen Klippen der Küste steil in den roten

Morgenhimmel hinaufragen.

Nun kamen ihr doch die ersten Zweifel.

Wie überhaupt sollte sie mit den Menschen

sprechen, ehe sie von ihnen getötet wurde? Schon

einmal hatte es eine Tainula versucht, aber sie war nie

zurückgekehrt. Später fand man ihre Leiche im Meer

treibend. In ihrem Rücken stack noch der Pfeil eines

Jägers.

Issola beschloß, sich die Sache noch einmal gut zu

überlegen. Ohne Schwimmbewegungen ließ sie sich

auf die Küste zutreiben, wobei sie feststellte, daß der

Sturm nachgelassen hatte. Sie mußte eine ruhige Bucht

finden, wo sie an Land gehen konnte.

Sie sah kein einziges Schiff in den immer noch

hochgehenden Wogen des abflauenden Sturms, aber

darüber konnte sie nur froh sein. Schiffe bedeuteten

Fischer, und diese waren die schlimmsten Feinde der

Tainu.

Vielleicht waren die Menschen auf dem Festland

anders.

Vom Meer aus war es schwer, die verborgenen

Buchten zwischen den Felsen zu entdecken. Die Küste

sah überall gleich aus. Wie eine Wand, die ständig

wuchs, wirkten die Klippen, gegen die eine gischtende

Brandung anstürmte. Issola wußte, wie gefährlich diese

Brandung auch für sie sein konnte, aber sie ließ sich

entschlossen weitertreiben.

Wenn es hier überhaupt eine Bucht gab, so fand sie

diese auch.

Das Wasser war noch immer sehr tief, stellte sie

beim Abtauchen fest. Es würde besser sein, möglichst

weit unter der Oberfläche zu bleiben, damit sie nicht in

die Brandung geriet. Vielleicht gab es einen

Unterwassertunnel, der unter den Klippen

hindurchführte.

Wenig später sah sie unter sich Grund.

Der Hang kam steil nach oben, flachte aber dann in

zehn Metern Tiefe jäh ab. Issola konnte die Sonne über

sich sehen. Sie war höhergestiegen und hatte die

letzten Wolken vertrieben. Jede Einzelheit des

Meeresbodens war nun wieder deutlich zu erkennen.

Dann stieg der Boden weiter an, nicht sehr stark,

dafür jedoch felsig und voller Klippen.

Sie begann, nach der Lücke zu suchen, und tauchte

auf.

Bereits die erste Woge warf sie gegen den

unvermuteten Felsen, ehe sie etwas dagegen tun

konnte. Das scharfe Gestein ritzte die Haut ihres Beines

auf. Das Wasser färbte sich blutigrot. Noch bevor sie

tauchen konnte, war die nächste Woge heran, ergriff sie

mit Riesenkräften und hob sie dabei halb aus dem

Wasser. Sie sah die Klippe auf sich zu rasen und

streckte abwehrend beide Arme aus, um den Aufprall

abzumildern.

Sie verspürte einen furchtbaren Schmerz, als ihr

Kopf gegen den Felsen schlug, und verlor sofort das

Bewußtsein.

Sie besaß jedoch noch genügend Geistesgegenwart,

vorher tief Luft zu holen.

Ihr letzter Blick galt der ruhigen Bucht, die hinter

den Klippen lag, aber das Schiff mit den schwarzen

Segeln, dessen Anker gerade eingezogen wurde, sah sie

nicht mehr.

»Da schwimmt etwas im Wasser«, sagte einer der

Piraten und deutete in Richtung der Brandung. »Direkt

bei der Ausfahrt.«

Die Männer, die neben ihm an der Reling standen,

blickten angestrengt in die angegebene Richtung. Einer

knurrte:

»Wird ein toter Fischer sein, den können wir auch

nicht mehr lebendig machen. Wir können froh sein,

daß wir unsere Leute rechtzeitig an Bord holen

konnten, ehe der Sturm noch schlimmer wurde.«

»Wir müssen es dem Kapitän sagen«, meinte der

erstere pflichtbewußt.

Jaggar überwachte das Auslaufen aus dem

natürlichem Hafen und war im ersten Augenblick recht

ungehalten, als er dabei gestört wurde.

»Was sollen wir mit einer Leiche?« fuhr er den

Piraten an, der ihm die Mitteilung überbrachte.

»Niemand lebt mehr, der in der Brandung treibt.«

Aber dann packte ihn doch die Neugier, und er

folgte dem Mann zum Vorderdeck. Das Wasser in der

Bucht war ruhig und klar. Man konnte bis hinab zum

Grund sehen.

Jaggar schirmte die Augen gegen die

regenbogenfarbenen Brecher ab, die hinter dem

treibenden Körper gegen die Klippen klatschten. Er

beugte sich weiter vor, um besser sehen zu können,

dann sagte er:

»Das ist kein Fischer, das ist überhaupt kein Mann.

Es ist ein Mädchen, dazu noch unbekleidet. Los, ihr

faulen Hunde, holt sie an Bord. Vielleicht ist noch ein

bißchen Leben in ihr, dann haben wir wenigstens was

davon ...«

Drei Piraten warfen ein Netz in die Fluten. Da der

Wind noch von den Uferfelsen abgehalten wurde, trieb

die Schwarze Wellenreiterin nur langsam auf die

Ausfahrt der Bucht zu. Die Segel hingen schlaff am

Mast.

Jaggar sah interessiert zu, wie die Männer den Fund

an Bord zogen und auf die Planken legten. Er hatte sich

nicht getäuscht. Es war ein Mädchen – aber kein

gewöhnliches Mädchen.

»Ein Fischmensch!« stieß er hervor und kniete dann

neben Issola nieder, um sein Ohr gegen die zarte Brust

zu legen. »Und sie ist auch nicht tot, nur bewußtlos.

He, laß deine schmutzigen Finger von ihr! Wir werden

sie heil zur Schlangeninsel bringen, und ich ich wette,

wir erhalten eine gute Prämie dafür. Ein lebendiges

Fischmädchen – das hat noch keiner vor uns geschafft.«

»Wir sollten sie töten, sie sind böse und Dämonen«,

sagte einer der Piraten abergläubisch.

Jaggar fuhr ihn an:

»Halt den Mund. Dummkopf! Sie bringt viel Geld.

Für einen toten Fischmenschen zahlt der Erste Kapitän

keinen einzigen Krug Wein. Für ein lebendiges

Fischmädchen aber ...«

»Der Kapitän hat recht«, knurrte einer der Männer,

die neugierig auf den schlanken Körper herabsahen,

»Wir werden eine fürstliche Belohnung erhalten. Sie

wird im Krokodilteich um ihr Leben kämpfen müssen.

So etwas hat die Schlangeninsel noch nicht gesehen.«

»Richtig!« Jaggar erhob sich wieder. »Bringt sie in

die Kajüte neben der Gefängniszelle und stellt eine

Wache davor. Sobald sie zu sich kommt, möchte ich

geholt werden. Ich will versuchen, mit ihr zu reden.«

»Wird gemacht, Kapitän«, knurrten die Piraten und

schleppten Issola in die Kajüte. Die offenen Luken

waren zu klein, um sie entkommen zu lassen, aber

wenigstens war es nicht so stickig in dem kleinen

Raum.

Sie legten das Mädchen auf das Bett – und gingen.

Ihre Angst vor Jaggar war zu groß, als daß sie es

gewagt hätten, seine Befehle nicht zu befolgen.

Jaggar hatte inzwischen genug damit zu tun, das

Schiff aus der Bucht zu dirigieren. Kaum geriet es in

die Brandungswellen, setzte auch der Wind ein und

füllte die Segel. Das Schiff ging auf Kurs und passierte

die enge Ausfahrt. Rechts und links ragten die

gefährlichen Klippen aus den Wogen, und dann hatten

sie es geschafft. Einmal im offenen Wasser, war die

Schwarze Wellenreiterin frei und manövrierfähig. Sie

legte sich schräg und nahm Geschwindigkeit auf.

Jaggar übergab dem Steuermann das Ruder und

befahl ihm, in südlicher Richtung in der Nähe der

Küste zu bleiben. Dann begab er sich zu seiner

Gefangenen.

Issola stöhnte und wälzte sich unruhig auf dem Bett

hin und her. Es sah ganz so aus, als erlange sie

allmählich das Bewußtsein zurück. Jaggar zog einen

Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Er tat

nichts, um dem Mädchen zu helfen, und er hätte auch

gar nicht gewußt, was er tun sollte. Niemand wußte,

was ein Fischmensch brauchte und was gefährlich für

ihn war. Konnten sie überhaupt auf dem Land leben?

Ihre Augenlider zitterten, blieben aber noch

geschlossen.

Eigentlich ist sie ganz hübsch, dachte Jaggar, und so

sehr unterscheidet sie sich auch nicht von unseren

eigenen Mädchen. Aber sie hat Kiemen, und zwischen

den Fingern und Zehen sind Schwimmhäute. Jellis

wird mit mir zufrieden sein, wenn ihn auch die

Nachrichten über Myra vielleicht nicht so sehr erfreuen

werden.

Sie schlug die Augen auf und blickte ihn

verständnislos an.

»Verstehst du unsere Sprache?« fragte er mit rauher

Stimme.

Es dauerte einige Sekunden, ehe sie nickte. Ihre

Stimme klang fremdartig und ein wenig ängstlich:

»Ja, ich verstehe sie. Wer bist du? Wo bin ich?«

»Ich fischte dich aus dem Meer, du mußt gegen die

Klippen geschleudert worden sein. Ich bin Jaggar, der

Kapitän dieses Schiffes, und ich nehme dich mit zur

Schlangeninsel. Eigentlich sollte ich dich gleich hier

töten lassen.«

Sie sah ihn mit ihren großen Augen verständnislos

an.

»Töten? Warum? Was habe ich euch getan?«

»Eh ... nichts, aber du bist ein Fischmensch.

Deshalb.«

»Ist das Grund genug, jemanden umzubringen?«

Jaggar wirkte ein wenig ratlos. Er war ein rauher

Bursche, ein Pirat, manchmal auch ein Mörder. Aber er

tat es für seinen König und die Bruderschaft. Was er

auch tat, es war Gesetz. Und nun fragte ihn dieses

gefangene Fischmädchen, ob es richtig sei, sie zu töten.

»Ihr seid Räuber, das weiß doch jedermann. Ihr

fangt uns Menschen die Fische weg. Harmlose Fischer

zieht ihr unter Wasser, bis sie ertrinken. Wir wehren

uns nur, wenn wir euch töten.«

»Und warum lebe ich noch?«

Jaggar grinste, aber es wirkte nicht lustig.

»Ich bringe dich unserem König als Geschenk mit,

denn einen lebenden Fischmenschen haben wir noch

nie gefangen. Außerdem bist du ein Mädchen.

Sicherlich möchte König Jellis wissen, ob die Mädchen

der Fischmenschen soviel Freude spenden können wie

unsere eigenen Mädchen.« Er betrachtete sie von oben

bis unten. »Ich bin überzeugt, daß dem so ist.«

»Ich verstehe dich nicht«, gab sie zu.

Er schüttelte den Kopf.

»Wirklich nicht? Du bist doch kein Kind mehr, wie

ich sehe.«

»Meine Mutter ist zugleich die Mutter des Stammes

der Tainu.«

»Fleißige Mutter«, erkannte Jaggar spöttisch an. Er

zuckte die Achseln. »Na, vielleicht habe ich dich auch

falsch verstanden.«

Sie sah ihn ratlos an.

»Wird man mich später töten?«

Er nickte.

»Ganz bestimmt wird man das. Ich nehme an, man

wird dich in den großen Kampfteich werfen. Unsere

Gefangenen enden sehr oft dort. Sie haben jedoch eine

Chance, sonst wäre das Ganze ja sinnlos. Wer drei

Krokodile tötet, ist frei. Aber ich kann dir versichern, es

ist noch nie jemandem gelungen. Vielleicht hast du

mehr Glück.«

»Krokodile?«

Sie kannte keine Krokodile, und Jaggar beschrieb ihr

die Tiere ausführlich. Er schloß:

»Sie sind ewig hungrig, und wenn wir keine

Gefangenen mehr haben, opfern wir ihnen einen alten

Sklaven, der zur Arbeit nicht mehr taugt.«

Sie wandte sich voller Ekel ab.

»Ihr Landmenschen seid grausam und blutrünstig.

Und ich hatte gehofft, daß es einmal Frieden zwischen

euch und uns geben könnte. Deshalb kam ich zu euch.«

»Ich fürchte, da bist du bei mir an der falschen

Adresse. Vielleicht hätte dieser neue König von Myra

mehr Verständnis für dich, er ist ein Held, aber ein

Weichling. Man sagt, er hätte sogar Sklaven

freigelassen.«

Sie blickte ihn fragend an.

»Wie heißt dieser neue König, und wo ist Myra?«

»Dragon ist sein Name. Ihm müssen böse Geister

zur Seite stehen, sonst hätte er niemals seine Gegner

besiegen können. Und Myra ist das Land, an dessen

Küste wir jetzt vorbeifahren.«

»Ja, vielleicht hätte ich besser Dragon begegnen

sollen«, murmelte Issola resignierend. »Du scheinst

grausam und ungerecht zu sein.«

Jaggar tippte ihr mit dem Zeigefinger auf die Brust.

»Das würde ich nicht noch einmal sagen, sonst

verzichte ich auf die mir zustehende Belohnung. Was

soll ich dir zu essen bringen lassen!«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Den wirst du schon bekommen. Wir fangen dir ein

paar Fische.«

»Ich brauche Wasser. Das Leben auf dem Land ist

anstrengend für mich.«

»Ich lasse dir einen Eimer voll bringen.« Er stand auf

und ging zur Tür. »Versuche nicht zu fliehen. Hier auf

dem Gang steht ein starker Bursche, dem ich erlaubt

habe, mit dir zu machen, was er will – sobald du dein

Gefängnis verläßt. Bleibst du aber in der Kajüte, bist du

sicher. Hast du mich verstanden?«

Sie nickte wortlos und drehte sich auf die andere

Seite.

Jaggar ging hinaus und schloß die Tür. Er gab dem

Wächter einige Anweisungen und befahl ihm,

aufmerksam zu sein. Inzwischen sollte die

Gefängniszelle hergerichtet werden.

Den ganzen Tag über fuhr die Wellenreiterin nach

Süden, immer in Sichtweite der Küste. Dann begann es

zu dunkeln, und man hatte noch immer keinen

geeigneten Ankerplatz gefunden. Jaggar kannte die

Bucht der Großen Steine. Er wollte sie noch vor

Mitternacht erreichen. Von dort aus erst wollte er

endgültig die Heimreise antreten.

Er konnte noch nicht ahnen, daß er am anderen Tag

eine zweite Gefangene machen würde.

Erst als die drei Schiffe abdrehten und die

Verfolgung aufgaben, kam Yina das Aussichtslose ihrer

Lage voll zu Bewußtsein.

Sie warf sich auf das primitive Lager, nachdem die

Schritte des Mannes vor der Tür verklungen waren.

Wahrscheinlich war es nur einer der Piraten gewesen,

der sich davon überzeugt hatte, daß die Tür noch

verschlossen war.

Ganz ruhig lag sie da und versuchte, Jaggars

Gedanken zu finden, um mehr über seine wahren

Absichten zu erfahren. Mehrmals hörte sie die

Gedanken anderer Piraten, und zu ihrem Schrecken

befaßten sich viele dieser Gedanken mit ihr.

Auch Jaggar beschäftigte sich mit ihr, aber in einer

anderen Art und Weise. Er überlegte, wie seine

Gefangene ihm den größten Vorteil bringen könnte.

Zugleich jedoch dachte er noch an eine zweite

Gefangene, die wertvoller war.

Yinas Neugierde war erwacht.

Eine zweite Gefangene? Wer konnte das sein?

Und dann fing sie fremde Gedanken auf, aber sie

begriff nicht – ... Mutter, Ismena, verzeih mir, ich habe

es gut gemeint. Aber die Menschen des Landes haben

mich gefangen und entführen mich. Ich bin auf einem

Schiff mit schwarzen Segeln, und wir fahren nach

Süden, der Mittagssonne entgegen. Ich soll sterben.

Wenn du mich hörst, dann antworte. Bitte, Mutter,

antworte ...

Die Menschen des Landes ...

Yina war nicht hübsch, aber sie war klüger als die

meisten Mädchen ihres Alters. Sie verstand zu denken

und zu kombinieren. Wenn die Gefangene von den

Menschen des Landes sprach, mußte sie selbst etwas

anderes sein.

Ein Mensch des Wassers?

Sie lauschte weiter. Es kam keine Antwort, aber ein

zweiter Notruf der Unbekannten, mit der sich Yina

sofort verbunden fühlte. Es war ihr klar, daß die

andere Gefangene ebenfalls eine Gedankenleserin sein

mußte, sonst hätte sie niemals diesen Notruf aussenden

können. Und ihre Mutter war ebenfalls eine

Gedankenleserin.

Die Fischmenschen ...! Waren sie intelligent?

Konnten sie sogar die Gedanken lesen?

Yina schloß die Augen und versuchte, sich auf die

unbekannte Gefangene zu konzentrieren. Jagger und

seine finsteren Pläne waren für den Augenblick

vergessen.

Tochter von Ismena, kannst du mich hören? Dann

antworte mir! Ich empfange deine Gedanken und

deinen Hilferuf, aber ich bin selbst eine Gefangene auf

diesem Schiff. Vielleicht können wir uns gegenseitig

helfen. Antworte, wenn du mich verstehst.

Und dann, fast wider Erwarten, erhielt sie die

Botschaft:

Ich höre dich. Wer bist du?

Ich bin Yina. Die Piraten haben mich gefangen und

wollen mich als Sklavin verkaufen. Sie sind böse, sehr

böse. Wir müssen versuchen, ihnen zu entkommen.

Wollen wir einander vertrauen? Aber wer bist du, daß

du Gedanken hören kannst?

Alle weiblichen Tainu können Gedanken hören.

Den Namen hatte Yina noch nie zuvor gehört, und

als sie fragte, erfuhr sie, daß sich die Fischmenschen so

nannten. Damit wurde ihr erster Verdacht bestätigt. In

ihr waren keine Vorurteile, und selbst von der Natur

benachteiligt, verspürte sie sofort eine große Sympathie

für Issola, die ebenfalls einer verfolgten Minderheit

angehörte.

Wie müssen versuchen, daß man uns zusammen in

einem Raum einsperrt. Dann finden wir bestimmt eine

Gelegenheit, gemeinsam zu fliehen. Ich bin eine

schlechte Schwimmerin gegen dich, aber im Wasser

kannst du mir helfen. Ich meinerseits werde versuchen,

den Kapitän bei guter Laune zu halten. Ich glaube, es

gibt gewisse Dinge, die ihm gefallen würden, und ein

scheinbar williges Mädchen ist auch einem

Piratenkapitän lieber als eine widerspenstige Sklavin.

Issola, selbst ebenfalls unerfahren in diesen Dingen,

gab ihr recht. Sie fügte hinzu:

Die Piraten wissen nichts von meinen

Lebensbedingungen. Es ist heiß in meinem Gefängnis,

wenn auch zum Aushalten. Wenn es bei dir kühler ist,

wird man mich zu dir bringen, wenn ich Erschöpfung

vortäusche. Mein Gefängnis ist nicht verschlossen,

deines aber doch. Es ist sicherer, also wird man mich

zu dir bringen.

Das sah Yina sofort ein. Sie versprach, in Kontakt zu

bleiben. Sie selbst stand auf und klopfte gegen die Tür.

Wenig später wurde sie geöffnet. Ein Matrose sah sie

lüstern an.

»Was ist, mein Schatz? Möchtest du Gesellschaft

haben?«

»Wenn der Kapitän es erlaubt – du kannst ihn ja mal

fragen.«

»Verfluchte Katze!« zischte er wütend.

Sie achtete nicht darauf.

»Ich habe Hunger und Durst, und dann möchte ich

mit dem Kapitän sprechen.«

Er hob die Hand, als wolle er sie schlagen, aber dann

tat er es doch nicht.

»Gut, du Biest, ich werde dafür sorgen, daß man dir

etwas bringt. Aber freu dich nicht zu früh. Wir werden

schon unseren Spaß mit dir haben, wenn es soweit ist.«

»Vergiß nicht, dem Kapitän meine Bitte

auszurichten.«

Der Mann verschwand. Rasselnd schloß sich die

Tür. Das Schloß schnappte zu.

Yina legte sich wieder aufs Bett und wartete.

Die erhoffte Wende kam, als Issola das Bewußtsein

verlor.

4.

Der Wächter vor der Tür hörte das qualvolle Stöhnen

der Gefangenen und warf einen hastigen Blick in die

Kabine. Das Fischmädchen wälzte sich auf ihrem Lager

hin und her, als habe es unerträgliche Schmerzen.

Der Pirat wußte nur zu genau, welchen Wert die

Gefangene besaß, aber nur lebendig. Er schloß die Tür

wieder und rannte den Gang entlang, bis er auf einen

anderen Matrosen stieß.

»Los, lauf zum Kapitän und sage ihm, daß die

Gefangene stirbt. Beeile dich ...«

Dann kehrte er auf seinen Posten zurück.

Jaggar studierte die Seekarten und sah ungehalten

auf, als der Mann ohne Ankündigung in seine Kabine

kam und den Auftrag des Wächters erfüllte.

»Stirbt, sagst du?«

»Sie scheint Schmerzen zu haben.«

»Gut, ich sehe nach.«

Jaggar schob den Wächter beiseite und betrat Issolas

Kabine. Er ging zum Bett und sah auf die Gefangene

hinab. Ihr Gesicht war noch blasser als vorher.

Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Sie stöhnte.

»Na, was ist mit dir? Hast du Durst oder Hunger?«

Issola wälzte sich auf den Rücken und öffnete die

Augen. Sie blickte angstvoll in Jaggars

braungebranntes Gesicht, in dem so etwas wie ehrliche

Besorgnis zu lesen war. Natürlich galt diese Besorgnis

weniger der Gefangenen selbst als vielmehr dem

eventuellen Verlust, den er durch ihren Tod erleiden

würde.

»Heiß, trocken – mir ist schlecht.«

»Ich werde dich in den Raum nebenan bringen

lassen, da ist es kühler. Außerdem kann er

verschlossen werden. Allerdings wirst du dann nicht

mehr allein sein. Vertrage dich mit der anderen

Gefangenen, ich brauche euch beide gesund und

lebendig.«

»Wenn es nur kühler dort ist ...!«

Jaggar nickte und ging zur Tür, um dem Wächter

den Befehl zu geben, die Gefängniszelle zu öffnen. Er

selbst nahm dann Issola in seine kräftigen Arme und

hob sie hoch. Ein merkwürdiges Gefühl durchrieselte

ihn, als er den schmächtigen Körper des Mädchens an

seiner Brust spürte, und für eine Sekunde tat sie ihm

leid, denn er wußte, was ihr bevorstand, wenn er sie

lebendig zur Schlangeninsel brachte.

Er trug sie das kurze Stück über den Korridor und

betrat Yinas Zelle.

»Ich bringe dir Gesellschaft – ein Fischmädchen.

Kümmere dich um sie, sie scheint krank zu sein.

Vielleicht findest du auch heraus, was sie hat. Gib mir

dann Bescheid. Ich will sie gesund.«

Yina schauspielerte nicht schlecht. Verwundert

hockte sie auf einem Stuhl neben dem Lager und

starrte Issola staunend an. Dann sagte sie:

»Ein Fischmensch! Wo habt ihr sie gefangen?«

»Das spielt keine Rolle. Tu, was ich dir befohlen

habe, es kann nur gut für dich sein.«

Behutsam legte er Issola auf das Bett, betrachtete sie

eine Weile und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch

einmal um.

»Ich komme bald vorbei, und dann möchte ich

wissen, was wir für sie tun können.«

Die Tür schloß sich knarrend.

Yina wartete, bis die Schritte des Kapitäns

verklungen waren, dann zog sie den Stuhl näher ans

Bett und beugte sich über Issola.

»Sprichst du meine Sprache?«

»Ja, aber wir können auch denken, dann hört uns

niemand.«

»Wir sind sicher, wenn wir nicht zu laut sprechen.

Was ist, bist du wirklich krank?«

»Sehr wohl fühle ich mich nicht. Es war heiß in

meiner Kabine. Meine Haut ist ausgetrocknet. Ich

brauche Wasser viel Wasser, damit ich schwimmen

kann. Aber frischer Fisch würde auch genügen. Wenn

ich das kühle, nasse Fleisch auf der Haut spüre, wird

mir besser werden.«

»Fisch? Das verstehe ich nicht.«

»Es ist ganz einfach. Fischfleisch besteht zum

größten Teil aus Wasser, es trocknet nicht so schnell

aus und hält länger an, als würde ich mich mit Wasser

überschütten. Aber ich glaube nicht, daß die Piraten

meinen merkwürdigen Wunsch erfüllen werden, der

nur der erste Schritt zur Rettung ist.«

»Das laß meine Sorge sein, Issola.«

»Wer bist du eigentlich? Hast du schon mal etwas

von einem König Dragon gehört? Der Pirat erzählte

mir von ihm und behauptete, er sei ein Schwächling,

weil er Menschenleben schone.«

»Dragon ...!« In Yinas Augen kam ein fast

schwärmerischer Ausdruck. »Er ist der beste Mensch,

den ich kenne. Ich gehöre zu seinem Gefolge. Leider

scheiterte der Befreiungsversuch, weil die Schiffe, die

uns verfolgten, nicht schnell genug waren.«

»So kennst du Dragon also ... Glaubst du, daß er

unserem Volk helfen würde und könnte?«

»Wie meinst du das?«

Jssola berichtete ihr von den ständigen

Verfolgungen durch die Menschen. Sie schilderte die

Geschehnisse seit ihrer unerlaubten Entfernung vom

Stamm und erklärte ihr ihre Absichten. Sie schien

davon überzeugt zu sein, daß man mit den Menschen

ein Abkommen schließen könne, das beiden Seiten den

Frieden sichere.

Yina schüttelte voller Zweifel den Kopf.

»Die Menschen sind sehr wandelbar, und man weiß

nie, was sie im nächsten Augenblick tun werden, aber

vielleicht kann Dragon ein Gesetz erlassen, das die

Verfolgung deines Stammes unter Strafe stellt. Wenn

ich jemals wieder frei sein werde, spreche ich mit ihm.«

»Wir werden beide frei sein. Aber unternehmen wir

den ersten Schritt. Yina. Besorge mir frische Fische.«

Yina nickte und ging zur Tür. Sie klopfte gegen das

halbmorsche Holz und trat zurück, als sie Schritte

hörte.

Es war Jaggar selbst.

»Nun, wie geht es ihr? Habt ihr miteinander

sprechen können?«

»Sie versteht mich«, bestätigte Yina. »Und sie hat

einen merkwürdigen Wunsch geäußert. Eigentlich

würde sie nur dann schnell wieder gesund, wenn man

sie ins Meer würfe, aber sie wäre auch mit einem Korb

frisch gefangener Fische zufrieden. Man müßte ihren

ganzen Körper damit bedecken, damit die Trockenheit

verschwindet und die Wunden heilen.«

»Fische? Verrückt!«

Yina versuchte, es ihm zu erklären. Der

mißtrauische Jaggar überdachte das Gehörte eine Weile

und sah wohl ein, daß Fische keinen Schaden anrichten

konnten. Schließlich versprach er, die Fische besorgen

zu lassen.

»Wir werden einfach ein Netz hinter dem Schiff

herschleppen. In einer Stunde können wir mit dem

Fang die ganze Kabine anfüllen. Bis dahin muß sich

das Fischmädchen mit einem Eimer Wasser begnügen.«

Ohne ein weiteres Wort ging er.

Als sich die Tür geschlossen hatte, drückte Issola

Yinas Hand.

»Danke, Yina. Du hast mir sehr geholfen. Nun

wollen wir uns den zweiten Schritt überlegen.«

»Mir ist da auch schon eine Idee gekommen, Issola.

Der Kapitän selbst hat sie mir gegeben. Man hat dich

mit einem Netz gefangen, und eben sprach er wieder

von einem Netz. Jaggar muß also davon überzeugt

sein, daß du niemals aus einem Netz entkommen

kannst. Wenn ich ihn dazu überreden kann, dich

später, wenn es dir besser geht, mit einem Netz ins

Wasser zu lassen ...«

»Ich kann nicht aus einem Netz entkommen, denn

ich habe kein Messer, mit dem ich es zerschneiden

könnte ...«

»Du wirst dann nicht allem sein«, versprach Yina.

»Ich komme mit.«

»Wie willst du das machen?«

»Ich weiß noch nicht. Wir haben noch viel Zeit zum

Überlegen.« Sie sah Issola forschend an. »Du hast mir

von den Delphinen berichtet und sie deine

Wasserbrüder genannt. Kannst du dich mit ihnen

verständigen und sie herbeiholen?«

»Sie sind keine Gedankenleser, wenn es auch mir

manchmal gelingt, ihre Gedanken zu hören. Aber ich

verstehe sie nicht immer. Doch ich weiß, daß sie

unserem Schiff folgen. Wahrscheinlich wurde mein

Hilferuf doch aufgefangen, und das Talatta, die Runde

der Seemütter, hat entsprechende Hilfsmaßnahmen

eingeleitet.«

»Sehr gut. Die Delphine würden dir also helfen?«

»Sie sind meine Wasserbrüder – natürlich.«

»Dann können wir jetzt nichts anderes tun, als

abwarten, bis man die Fische bringt. Bis dahin wird es

dunkel sein. Morgen sehen wir dann weiter. Jetzt ruhe

dich aus, ich halte Wache.«

Kein Tainu wußte, was vor mehr als zweitausend

Sommer geschehen war, nur die alten Sagen

berichteten in unklarer Form von den rätselhaften

Ereignissen.

Als Atlantis vor zweitausend Sommern unterging,

kam es zu schweren Erschütterungen des

Dimensionsgefüges zwischen den zeitlich

nebeneinander existierenden Parallelwelten. Es

entstanden Dimensionsrisse, die für begrenzte Zeit und

manchmal auch in regelmäßigen Abständen das

Überwechseln von einer Welt zur anderen

ermöglichten. Dieses Wechseln geschah dann zumeist

unfreiwillig.

Das Volk der Tainu wußte nichts von diesen

Dimensionsrissen, aber die Überlieferung berichtete in

abgewandelter Form von ihnen. So hatten sie einst, vor

undenklichen Zeiten, auf einer paradiesischen

Wasserwelt gelebt, die sie Taa nannten. Die

Grottenstadt Agaia war ihre wahre Heimat gewesen.

Sie lag in dem warmen, flachen Meer der Welt

Taa – eine der vielen Inseln, die aus den Fluten ragten.

Hier waren die Urmütter und die Urväter glücklich

gewesen. Sie hatten keine Feinde besessen und im

Überfluß gelebt.

Bis eines Tages die Katastrophe über sie

hereinbrach.

Eine riesige Flutwelle überschwemmte alle Inseln,

zertrümmerte die Wohnhöhlen unter Wasser und

tötete fast alle Tainu. Lediglich etwas mehr als tausend

Männer und Frauen entgingen diesem Geschick, weil

sie sich zu dieser Zeit schwimmend im offenen Meer

aufhielten. Ein gewaltiger Strudel packte sie und zog

sie in die Tiefe – aber sie ertranken nicht. Denn nach

einer Stunde fanden sie sich auf einer ihr unbekannten

Welt wieder.

Das Wasser war tief und dunkel, nicht so warm und

sonnendurchflutet wie auf Taa. Aber es war Wasser.

Und es gab eine riesige Insel, wie die Tainu sie noch nie

zuvor gesehen hatten. Sie nannten sie die Große

Felseninsel, und da es viele geschützte Buchten und

Unterwassergrotten gab, wählten sie sie als neue

Heimat.

Doch dann begegneten sie den Landbewohnern, den

Herren der neuen Heimat. Obwohl sie sich ihnen

friedlich näherten, wurden sie von ihnen verfolgt und

erbarmungslos gejagt. Selbst auf dem Meer waren sie

nicht mehr sicher, denn dort schleppten die Fischer

große Netze hinter ihren Booten her, um die

Fischmenschen zu fangen und zu töten.

Die damalige Stammesmutter schlug vor, weiter

nach Süden zu ziehen, wo man einige unbewohnte

kleinere Vulkaninseln entdeckt hatte, die einer

größeren Insel vorgelagert waren, die man später die

Vogelinsel nannte.

Taa – das war die Welt des Hellen Wassers, aber

Aotaa, von den Landbewohnern Erde genannt, war die

Welt des Dunklen Wassers.

Viele hundert Sommer blieben sie auf den

unbewohnten Inseln und lebten in den Grotten der

zerklüfteten Küsten. Selten nur kamen Fischer, die

nichts von ihrer Existenz ahnten, wenn sie sich auch

die schlimmsten Schauermärchen über die

Wassermenschen erzählten.

Inzwischen, so wurde weiter in der Überlieferung

berichtet, war das Volk der Tainu wieder größer

geworden. Sechstausend von ihnen hatten auf der Erde

eine neue Heimat gefunden, und sie lebten friedlich in

den klaren Fluten der Vulkaninseln.

Dann wurden sie abermals entdeckt und

beschlossen, weiterzuziehen. Doch bevor es dazu

kommen konnte, brach abermals eine unerwartete

Katastrophe über den unglücklichen Stamm herein.

Der bislang ruhige Vulkan der größten Insel brach aus

und vernichtete die Grottenstädte. Nur jene Tainu, die

gerade im freien Meer waren, überlebten.

Unter ihnen befand sich die Stammesmutter.

Sie gab den Befehl, der Sonne entgegenzuziehen,

und von den 2800 Überlebenden verloren während der

Wanderschaft, die fast einen Sommer dauert, weitere

vierhundert ihr Leben.

Dann erreichten sie die namenlose Insel.

Viertausend Delphine hatten den Zug begleitet und

beschützt.

Die namenlose Insel war unbewohnt, aber auch

hierher kamen die Fischer, und unerbittlich jagten sie

die Tainu, die sich kaum noch an der Oberfläche des

Meeres sehen lassen konnten, Aber im Osten war das

Festland. Wohin sollte man noch fliehen?

Also blieben sie.

Eines Tages mußte es Frieden zwischen ihnen, den

Kinder des Hellen Wassers, und den Bewohnern des

Landes geben – das war ihre einzige Hoffnung.

Mehrmals war es den Tainu gelungen, einen

einsamen Fischer zu fangen und mit ihm zu sprechen.

So erfuhren sie, daß es die Angst allein war, die ihr

Leben bedrohte. Die Menschen hielten sie für Dämonen

und Fischräuber. Sie töteten aus Furcht und

Aberglauben. Hinzu kamen die phantastischen

Berichte über die »Weltentore«, die es im Meer oder an

den Küsten geben sollte. Sie wurden in

Zusammenhang mit den Fischmenschen gebracht.

Aber niemand wußte, was ein Weltentor eigentlich

war. Es wurde nur erzählt, daß in ihnen Menschen

spurlos verschwunden und niemals wieder

aufgetaucht waren. Auch daran sollten die

Fischmenschen nicht unschuldig sein.

Die gefangenen Fischer wurden anfangs immer

wieder freigelassen, aber wenn sie ihre Geschichte

daheim erzählten, glaubten ihnen die Menschen nicht.

Man hielt sie für Aufschneider und lachte sie aus. Die

Tainu waren und blieben böse Dämonen, die vernichtet

werden mußten.

Nun schlugen die Tainu zurück.

Sie nahmen Fischer, die Jagd auf sie machten,

gefangen und verurteilten sie. Manche wurden auf

einsamen Inseln einfach ausgesetzt aber jene, die einen

Tainu getötet hatten, wurden ertränkt.

Dadurch wurde nichts besser.

Keiner wußte einen Rat.

Bis zu jenem Tag, an dem Issola aufbrach, um mit

den Menschen zu sprechen.

Denn sie hatte Yina gefunden.

Zwei Männer brachten den Korb mit den Fischen,

stellten ihn mitten in die Zelle und verschwanden

wieder. Jaggar schloß die Tür.

»Du kannst in den Fischen baden«, sagte er spöttisch

zu Issola. »Aber ich sehe mir das an.«

»Können wir ein Messer haben?« fragte Yina.

Er betrachtete sie mißtrauisch.

»Du wirst doch nicht auf dumme Gedanken

kommen, he?«

»Hast du Angst vor mir?«

Er zuckte die Schultern und zog den Dolch aus dem

Gürtel.

»Du scheinst dich ja gut mit Fischmenschen und

ihren Gewohnheiten auszukennen, Mädchen.« Er gab

ihr den Dolch. »Du wirst eine gute Sklavin abgeben.«

Yina schuppte die Fische ab und gab sie Issola, die

sie sorgfältig so auf ihren Körper legte, daß alles von

ihnen bedeckt wurde. Dann lag sie ganz ruhig, als sei

sie eingeschlafen.

»Und was soll der Unsinn?« erkundigte sich Jaggar,

als Yina ihm den Dolch zurückreichte.

»Die Fische spenden nicht nur Feuchtigkeit, sondern

sie heilen auch die Wunden. Du wirst sehen, Issola

wird bald wieder ganz gesund sein. Allerdings wäre

richtiges Meerwasser besser. Ihre Haut trocknet sonst

allmählich aus. Wenn wir ein Bassin auf dem Schiff

hatten.«

»Die ist kein Luxussegler!« fuhr Jaggar sie wütend

an.

»Ich weiß, ihr seid nur Piraten«, erwiderte sie kühl.

Er hob die Hand, als wolle er sie schlagen, ließ sie

jedoch wieder sinken.

»Eine schlagfertige Antwort«, erkannte er an. »Aber

sei das nächste Mal vorsichtiger mit deinen

Bemerkungen.« Er schwieg eine Weile, betrachtete die

ruhig daliegende Issola und wandte dann seine

Aufmerksamkeit wieder Yina zu. Draußen dunkelte es

bereits. »Wir sollten sie ein wenig allein lassen. Komm

mit in meine Kabine, ich habe mit dir zu sprechen.«

Er wartete keine Antwort ab. An der Tür blieb er

stehen, bis Yina ihm folgte. Das Mädchen ahnte, daß

ihr nun eine Entscheidung bevorstand. Von ihrem

Verhalten hing nun alles ab.

Jaggar verschloß die Zellentür, vor der kein Posten

stand. Er verschloß auch die Tür seiner Kabine,

nachdem Yina eingetreten war.

»Setz dich dorthin«, befahl er und deutete auf sein

Bett. Er ging zum Schrank und holte einen Krug mit

Wein. Zusammen mit zwei Bechern stellte er ihn auf

den Tisch und setzte sich auf den Stuhl dahinter. »Ich

habe mich bisher noch nicht entschließen können, ob

ich dich behalten oder verkaufen soll. Was wäre dir

lieber?«

»Werde ich denn gefragt?«

Er grinste breit.

»Ein wenig schon, die Entscheidung liegt an deinem

Verhalten. Hast du schon einen Mann gehabt?«

»Ich bin noch jung, erst siebzehn Sommer alt. Nein.«

Er schmunzelte befriedigt.

»Dann bist du mehr wert, als die andern, die ich

bisher verkaufen konnte. Trotzdem möchte ich dich

behalten. Du bist nicht schön, aber dafür besitzt du

Verstand. Außerdem ...«

Sie wußte, was er dachte und wollte. Er wollte sie

haben, und zwar jetzt. Selbst dann, wenn er danach

keinen so hohen Preis mehr erzielte.

»Ich kenne die Gefühle der Männer nicht«, sagte sie

vorsichtig. »Ich weiß auch nicht, was für einen Mann

schöner ist: Wenn er sich einfach nimmt, was er haben

will, oder wenn er freiwillig das bekommt, was er gern

haben möchte.«

Er überlegte, dann erfaßte er den Sinn dessen, was

sie meinte.

»Freiwillig? Du würdest dich mir freiwillig

hingeben?«

Sie erwiderte:

»Vielleicht würde ich es wirklich tun, aber nicht

schon heute. Du müßtest mir ein wenig Zeit lassen. Es

kommt alles so plötzlich und überraschend. Selbst

wenn du ein Piratenkapitän bist, bist du doch ein

Mann. Ich glaube schon, daß ich dich möchte. Es war

schon immer mein Wunsch, das erste Mal nicht dazu

gezwungen zu werden.«

Er nickte und schenkte ein.

»Ich verstehe dich, und mir wäre es auch lieber.

Komm, trink mit mir.«

»Ich bin keinen Wein gewöhnt.«

»Lüge nicht, in deinem Gepäck war Wein.«

»Er galt nur der Stärkung. Aber ich habe betrunkene

Männer gesehen. Sie sind widerlich. Ich möchte dich

nie so sehen.«

Nun lachte Jaggar laut auf.

»Das wirst du nicht so schnell erleben, ich bin

einiges gewöhnt.« Er stand auf und setzte sich neben

sie. Dann gab er ihr einen Becher. »Keine Angst, ich

will dich nicht betrunken machen. Und vielleicht höre

ich wirklich auf dich und nehme dich nicht mit Gewalt,

wie es mir zustände. Es ist einiges wahr an dem, was

du gesagt hast. Selbst erfahrene Frauen wissen das oft

nicht. Ja, wahrscheinlich werde ich dich doch

behalten.«

Sie nippte an dem Wein. Er war sauer und warm.

Das Licht der Öllampe flackerte und erleuchtete

kaum den Raum.

Jaggar lehnte sich zurück und legte den Arm um sie.

»Aber ein wenig kennenlernen sollten wir uns schon

jetzt, kleine Yina.« Und er dachte: Ich werde sie schon

soweit bringen – heute noch! Und laut fügte er hinzu:

»Du beginnst mir wirklich zu gefallen.«

Yina trank ihm zu, wie sie es bei den Soldaten

Dragons gesehen hatte.

»Du auch, Kapitän Jaggar. Aber das ändert meinen

Entschluß auch nicht. Ich möchte nachdenken, und ich

werde dir sagen, wann ich bereit bin. Ich verspreche

dir, daß du es nicht bereuen wirst.«

Zimperliche Ziege, dachte Jaggar, ohne zu ahnen,

daß sie seine Gedanken lesen konnte. Trink erst mal,

dann sehen wir weiter.

»Du meinst, du wirst dann alles tun, was ich von dir

verlange?«

»Ja, das verspreche ich dir.« Beim zweiten Glas

wurden Jaggars Gedanken konkreter. Yina wurde klar,

daß er sich nicht mehr lange beherrschen würde,

obwohl er sich sehr zurückhaltend benahm. Es wurde

Zeit, daß sie mit ihrem Vorschlag herausrückte, ehe es

zu spät dazu war.

»Weißt du, dieses Fischmädchen ist doch sehr

wertvoll für dich. Du willst, daß sie gesund wird, nicht

wahr?«

»Natürlich will ich das. Sie bringt eine gute

Belohnung. Aber lassen wir das jetzt. Ich möchte ...«

»Aber sie wird sterben, trotz der Fische, das hat sie

mir verraten. Und sie will auch lieber sterben als den

Krokodilen geopfert werden.«

Jaggar stellte den leergetrunkenen Becher auf den

Boden vor dem Bett zurück.

»Was sagst du da? Sie will sterben? Und die Fische

helfen nicht, behauptest du?«

»Sie bringen ein wenig Feuchtigkeit, aber sie heilen

nicht die Wunden. Nur das vorbeiströmende

Meerwasser könnte die Wunden schließen und heilen.

Aber wie sollte das möglich sein? Man kann sie nicht

einfach ins Wasser werfen, dann würde sie

entkommen.«

Er nickte und betrachtete sie forschend. Er

vermutete eine List.

»Man könnte sie festbinden.«

»Sicher, das wäre eine Möglichkeit, aber zu riskant.«

»Warum?«

»Wenn ein großer Raubfisch kommt, ist sie

verloren.«

»Richtig, daran habe ich nicht gedacht. Was schlägst

du vor?«

»Ich habe keinen Vorschlag«, erklärte sie

scheinheilig, denn sie hatte den seinen längst aus

seinen Gedanken lesen können. »Soll sie doch sterben,

wenn sie es will.«

Er schüttelte den Kopf.

»Ein Netz! Wir werden sie in ein Netz legen, das

sorgfältig verschlossen werden muß, dann schleppen

wir sie hinter dem Schiff her. Sie hat dann Wasser

genug. Wie lange kann sie es ohne Luft aushalten?«

»Eine Stunde etwa. Das würde sicher genügen. Und

du meinst, daß ein Netz sicher genug ist?«

»Bestimmt.« Wieder sah er sie an. »Du versuchst mir

zu helfen. Warum das?«

Sie lehnte sich gegen ihn.

»Das sagte ich dir doch schon: Ich will nicht, daß du

mich mit Gewalt nimmst, sondern erst dann, wenn ich

dazu bereit bin. Das kann schon morgen sein ...«

Er begann zu überlegen, ob es nicht doch besser sei,

noch einen Tag zu warten. Dann stieß er sie sanft

zurück.

»Vielleicht hast du recht, Yina. Komm, gehen wir zu

dem Fischmädchen und sehen nach ihr. Ob sie es bis

morgen aushält? Es ist schon dunkel.«

»Ich weiß es nicht. Fragen wir sie.«

Yina atmete auf, als sie draußen auf dem Gang

waren und Jaggar die Tür zum Gefängnis aufsperrte.

Issola lag nun auf dem Bauch, der Rücken war mit

Fischen bedeckt. Sie atmete ruhig, als schliefe sie.

Jaggar hielt die Lampe so, daß er sie genau

betrachten konnte.

Yina erschrak, als sie seine Gedanken las. Dieser

Piratenkapitän war anscheinend unersättlich, was

Frauen anbetraf. Das Fischmädchen reizte ihn. Nur der

Gedanke daran, was sie ihm heil und gesund

einbringen konnte, hielt ihn von seinem Vorhaben ab.

»Achte auf sie, Yina.« befahl er mit rauher Stimme.

»Morgen werden wir sehen, wie es ihr geht. Vielleicht

machen wir es wirklich so, wie wir es besprochen

haben. Und was dich angeht, so werde ich mir

ebenfalls morgen deine Antwort holen.«

Die Tür schloß sich.

Yina atmete erleichtert auf und setzte sich auf den

Bettrand.

Issola sagte, ohne sich umzudrehen:

»Ich habe eure Unterhaltung verfolgt. Du bist klug

und gut, Yina. Ich vertraue dir. Morgen werden wir

fliehen.«

»Du wirst im Netz sein ...«

»Damit werden wir zusammen fertig.«

»Wie soll ich dir folgen können? Ich werde in der

Kabine bleiben müssen und ...«

»Nein, Jaggar wird dich mit an Deck nehmen, wenn

du ihm klarzumachen verstehst, daß es besser so ist.

Du mußt dann versuchen, das Seil zu zerschneiden, mit

dem das Netz am Schiff befestigt ist, und dann springst

du hinter mir her. Halte dich am Netz fest, wenn wir

versinken. Kannst du tauchen?«

»Nur ein wenig. Ich weiß nicht, wie lange ich die

Luft anhalten kann.«

»Die Wasserbrüder sind in der Nähe. Sie wissen,

was sie zu tun haben. Ich kann mit ihnen sprechen,

sobald ich in ihrer Nähe und unter Wasser bin.« Sie

seufzte. »Morgen sind wir frei, das verspreche ich dir.«

»Wenn du doch nur recht hättest ...!«

Die beiden Mädchen ruhten nebeneinander auf dem

breiten Bett. Das Schiff lag nur wenig schräg vor dem

Wind und schwankte kaum.

»Gute Nacht, Yina«, flüsterte Issola.

»Gute Nacht, meine Freundin«, erwiderte Yina, und

zum ersten Mal seit ihrem Abschied von Bodo fühlte

sie sich wieder glücklich.

5.

Die Tainula, Issolas Mutter Ismena, hatte einen der

Notrufe ihrer Tochter zwar aufgefangen, aber es war

ihr unmöglich gewesen, Kontakt mit ihr aufzunehmen.

Immerhin wußte sie, was geschehen war.

Sie berief die Runde der Seemütter ein und

berichtete. Dann fragte sie:

»Was können wir tun? Issola geriet in die Hände der

Landmenschen, und wenn wir ihr nicht helfen, wird

man sie töten. Das Schiff, das sie entführt, fährt der

Mittagssonne entgegen. Dort gibt es eine große Insel,

die sie Schlangeninsel nennen. Einmal dort, ist es zu

spat für einen Befreiungsversuch. Wir müssen sofort

handeln.«

Sie saßen um einen runden Tisch in einer nur

dämmerig erleuchteten Halle, deren Wände und

Decken aus nacktem Felsen bestanden. Der einzige

Zugang lag unter Wasser. Trotzdem war die Luft in der

Grotte frisch und gut. Einige schmale Risse in der

Decke stellten die Verbindung zur Oberfläche der Insel

her.

»Wir schicken die Wasserbrüder hinterher«, schlug

eine der Frauen vor. »Wenn es Issola gelingt, über Bord

zu springen, ist sie gerettet.«

»Wie soll sie ins Wasser springen können, wenn sie

gefangen ist?« erkundigte sich Ismena voller Bitterkeit.

»Das ist kein guter Rat.«

»Dann sollen unsere Männer hinter dem Schiff

herschwimmen«, schlug eine andere vor.

»Sie sind zu langsam«, lehnte Ismena ab. »Sie

können das schnelle Schiff niemals einholen. Die

Wasserbrüder aber können es.«

Die Situation war ausweglos.

In dem kleinen Hafenbecken der Grotte kräuselte

sich das Wasser. Der Kopf eines Tainu-Mannes wurde

sichtbar. Er schwamm zum Ufer und blieb dort stehen.

»Darf ich näher kommen?« fragte er fast

unterwürfig, denn die Männer hatten nichts mit den

Regierungsgeschäften zu tun und es war ihnen

verboten, die Halle des Talatta zu betreten »Ich habe

wichtige Nachrichten.«

»Komm her!« forderte Ismena ihn auf. Sie wartete,

bis der Mann sich auf den feuchten Fels gesetzt hatte.

»Was ist? Du weißt, wir sind einer wichtigen

Angelegenheit wegen zusammengekommen, und we

...«

»Meine Nachricht hat damit zu tun«, unterbrach sie

der Mann. »Die Wasserbrüder erfuhren von dem

Unglück, das Issola heimsuchte. Jemand muß es ihnen

mitgeteilt haben. Jedenfalls sind hundert von ihnen

nach Süden geschwommen, um das Schiff mit den

schwarzen Segeln zu verfolgen.«

Ismena lehnte sich zurück und sah ihre

Ratgeberinnen an.

»Was jetzt? Was wollen sie tun, die Wasserbrüder?

Selbst wenn sie das Schiff mit den schwarzen Segeln

einholen, werden sie hilflos hinterherschwimmen, ohne

etwas zu erreichen. Es kann ihnen höchstens passieren

daß man Jagd auf sie macht – die Landmenschen sind

grausam und unersättlich. Sie töten alles, was im

Wasser lebt.«

»Weil sie selbst auf dem Lande leben«, sagte eine

der Seemutter weise.

Ismena nickte zustimmend.

»Issola wollte das ändern, nun ist sie verloren. Sie

wird genauso sterben wie alle anderen, die es wagten,

Kontakt mit den Landbewohnern aufzunehmen.« Sie

sah den Mann an. »Hundert, sagst du?«

»Hundert. Tainula.«

Sie nickte langsam.

»Nun gut, mehr können wir nicht tun. Vielleicht

kann meine Tochter wirklich in einem günstigen

Augenblick das Schiff verlassen, dann ist sie gerettet.

Möglich auch, daß die vielen Delphine die gierigen

Landbewohner von ihrer Gefangenen ablenken. Sie

kann einfach über Bord springen und in die Tiefe

sinken. Die Wasserbrüder werden sie heil zu uns

zurückbringen.« Ihr Blick verfinsterte sich. »Ich habe

gute Träume«, schalt sie sich selbst. »Viel zu gute

Träume!«

»Was wäre unser Leben ohne gute Träume«, sagte

eine der Seemütter wie zum Trost. »Und was wäre es

ohne Hoffnung?«

Ismena nickte ihr zu.

»Du hast recht, meine Freundin. Wir werden Issola

wiedersehen, daran will ich fest glauben.«

Sie beendete die Sitzung, nachdem der Tainu wieder

im Hafenbecken verschwunden war.

Der Morgen graute.

Und damit nahte für Yina und Issola die

Entscheidung.

Als Jaggar in die Gefängniszelle kam, lag das

Fischmädchen ganz ruhig auf dem Rücken. Die

inzwischen in der Hitze halbverfaulten Fische hatten

die beiden Mädchen noch während der Nacht durch

die kleine Luke geworfen.

»Na, was ist mit ihr?« fragte Jaggar, fast ein wenig

besorgt.

»Sie ist sehr krank, aber die Fische haben ihr

geholfen, die Nacht zu überleben. Nun fehlt ihr nur

noch das Wasser. Sie ist ein Fischmensch, vergiß das

nicht.«

»Willst du mich lehren, was ich zu vergessen habe

und was nicht?« fuhr der Pirat das Mädchen an. Dann

wurde seine Stimme wieder besänftigender. »Ist ja

schon gut, du hast recht. Wir sollten sie ins Wasser

lassen. Schließlich ist es ihr Lebenselement. Und nur

gesund bringt sie einen guten Preis.«

»Natürlich, nur gesund!« bestätigte Yina trocken.

Er schien die Bemerkung überhört zu haben.

»Eine Herde Delphine folgt unserem Schiff«, sagte

er. »Man behauptet, sie seien gut Freund mit den

Fischmenschen.«

»Daran kann etwas Wahres sein«, gab Yina

unbefangen zu. »Beide leben schließlich im Meer.« Sie

warf ihm einen fragenden Blick zu. »Hast du Angst vor

Delphinen?«

Nun wurde Jaggar sichtlich ungehalten.

»Werde nicht zu frech. Mausgesicht!« warnte er.

»Sonst werde ich meine Pläne ändern, und das dürfte

für dich nicht sehr erfreulich sein. Ich kann notfalls gut

auf dich verzichten – ich meine, in der Art und Weise,

wie wir es gestern besprachen. Was immer auch

geschieht, ich werde dich besitzen. Es kommt auf dein

Verhalten an, wie das geschieht. Merk dir das! Und

nun weck sie auf! Ich habe die Segel reffen lassen, wir

treiben nur noch mit dem Wind dahin. Meine Männer

haben das Netz vorbereitet.«

Yina sah ein, daß sie beinahe zu weit gegangen

wäre.

»Du willst es also wirklich tun?« erkundigte sie sich,

scheinbar besorgt. »Und wenn sie nun doch flieht?«

»Wie denn? Das Netz wird fest zugeknotet. Sie kann

nicht heraus.«

»Und die Delphine?«

»Die können keine Netze aufknoten.«

Aber ich kann es, dachte Yina und beugte sich über

Issola.

Sie rüttelte das zarte Fischmädchen, das längst wach

war, aber so tat, als läge sie in tiefem

Erschöpfungsschlummer. Sie reckte sich und schlug die

Augen auf. In ihnen stand Erschrecken, als sie Jaggar

erkannte, aber dann lächelte sie plötzlich.

»Du wirst mich nur tot besitzen«, flüsterte sie. »Bald

werde ich sterben. Es dauert nicht mehr lange.«

»Das könnte dir so passen!« fauchte Jaggar sie an.

»Wenn du schon stirbst, dann im Kampfteich der

Krokodile – und erst dann, wenn ich mein Vergnügen

mit dir gehabt habe. Yina hat mir verraten, wie du zu

retten bist. Das Netz ist bereit. Wir werden dich ins

Meerwasser tauchen, wo du zu Hause bist. Los, steh

endlich auf!«

Issola kam mit den Beinen auf den Boden und erhob

sich.

»Ein Netz? Ich werde ertrinken, wenn ich länger als

eine Stunde unter Wasser bin.«

»Du wirst auf keinen Fall ertrinken Daran habe ich

kein Interesse.« Jaggar grinste. »Ganz im Gegenteil, ich

möchte dich gesund und munter. Schon meinetwillen.«

In diesem Augenblick begann Yina ihn zu hassen.

Auf Deck warteten bereits die Piraten. Jaggar hatte

Yina erlaubt, mitzukommen, als sie ihn darum bat.

Nicht im Traum dachte er daran, daß sie über Bord

springen würde.

Einige der rauhen Gesellen hatten das Netz

vorbereitet, in das Issola steigen sollte. Sie tat es mit

offensichtlichem Mißbehagen. Da sie den Schurz aus

Fischhaut verloren hatte, war sie völlig nackt. Die

Piraten betrachteten sie mit Wohlgefallen, und Yina las

ihre Gedanken.

Sie schauderte zusammen.

Aber auch Issola konnte die Gedanken der Piraten

lesen. Noch während sie in das festgeknotete Netz

kletterte, warf sie einen Blick in Richtung des Hecks.

Sie sah die Flossen der Delphine, die dem Schiff

unbeirrt folgten.

Und sie dachte zu Yina:

Das Seil, an dem das Netz befestigt ist, muß

durchschnitten werden. Wenn dir das gelingt, sind wir

gerettet. Springe einfach über Bord und versuche, das

absinkende Netz zu erreichen. Oder schwimm den

Delphinen entgegen, ich werde sie verständigen. Jaggar

wird genug mit den Segeln zu tun haben. Bis er sie

aufgezogen hat, sind wir weit genug entfernt.

Außerdem muß er dann gegen den Wind kreuzen, was

Zeit kostet. Wir bleiben in Kontakt.

Yina erwiderte kurz:

Keine Sorge, es wird gelingen.

Sie war nur deshalb so zuversichtlich, weil sie etwas

gesehen hatte, das ihr neuen Mut gab. Das Netz war an

einem Seil befestigt, das durch zwei Rollen lief.

Daneben lag eine Axt.

Auf Jaggars Geheiß hievten drei Piraten das Netz in

die Höhe und schoben es über die niedrige Reling.

Dann ließen sie los.

Issola und das Netz sausten der Meeresoberfläche

entgegen, platschten ins Wasser und versanken. Dann

erst, als sich das Seil straffte, kam das Netz wieder an

die Oberfläche, aber das Fischmädchen versuchte,

unter Wasser zu bleiben. Yina las ihre Gedanken:

Herrlich, das kühle Wasser: Es gibt neue Kraft,

neues Leben! Wann kannst du mir folgen? Yina, ich

will dich nicht zurücklassen! Du mußt mit mir

kommen ...

Yina stand neben Jaggar. Sie antwortete:

Ich werde kommen. Zwei Mannslängen von mir

entfernt hegt eine Axt. Ich werde das Seil kappen und

über Bord springen. Aber noch steht Jaggar neben mir,

und er paßt auf. Und vergiß nicht die anderen Piraten.

Sie lassen mich nicht aus den Augen.

Wir haben eine Stunde Zeit. Übersturze nichts!

Gut. Aber sei vorbereitet!

Ich warte auf dich.

Jaggar sagte:

»Hoffentlich ertrinkt sie nicht. Es wäre schade.«

Yina antwortete nicht. Fasziniert sah sie hinüber zu

den Delphinen, mehr als zweihundert Mannslängen

entfernt. Nur sie bemerkte, daß sich die großen Fische

zu einer Formation ordneten und das Schiff einzuholen

begannen. Die Wellenreiterin machte nur wenig Fahrt.

Die Segel waren an den Masten festgebunden, nur am

Fock blähte sich ein geringer Rest und hielt das Schiff

notdürftig auf Kurs.

Issola mußte bereits Kontakt zu ihren

Wasserbrüdern aufgenommen haben, aber Yina konnte

sich nicht darauf konzentrieren. Jaggar packte sie am

Arm.

»Komm, wir gehen in meine Kabine. Ich habe noch

einiges mit dir zu besprechen.«

Ich will sie jetzt haben, dachte er dabei, und Yina

konnte seine Gedanken deutlich hören.

Die Sekunde der Entscheidung war gekommen.

Sie durfte nicht mehr länger warten.

Die meisten Piraten standen an der Heckreling und

starrten auf das nachschleifende Netz. Jaggars rechter

Fuß war neben der auf dem Deck liegenden Axt,

unmittelbar unter dem Seil, welches das Netz hielt. In

seinen Gedanken war kein Argwohn, nur der feste

Entschluß, endlich das Mädchen für sich zu gewinnen,

ob mit oder ohne Gewalt.

An Issola dachte er nicht mehr.

Yina nahm ihren ganzen Mut und ihre ganze Kraft

zusammen, als sie handelte.

Sie riß sich von Jaggar los und stieß ihn zur Seite,

dann bückte sie sich, ergriff die Axt und schwang sie

hoch. Als sie, mit der scharfen Schneide voran, das Seil

mit einem Schlag kappte, hatte sich Jaggar von seiner

Überraschung erholt. Mit einem wütenden Ruf, der die

anderen Piraten alarmierte, stürzte er sich auf Yina.

Sie warf die Axt den heraneilenden Piraten entgegen

und hechtete mit einem Satz über die Reling, die kaum

höher als ihre Brust war. Ihr Magen krampfte sich

zusammen, als sie in die Tiefe stürzte und das Wasser

auf sich zukommen sah. Ergeben schloß sie die Augen

und versuchte, mit den Beinen voran einzutauchen.

Ganz gelang es ihr nicht, und sie verspürte einen

scharfen Schmerz im Rücken, als sie aufschlug und

sofort versank.

Nur ihre Geistesgegenwart und hastige

Schwimmbewegungen brachten sie rechtzeitig an die

Oberfläche zurück. Das Heck des Seglers hatte sie

bereits passiert, aber es gelang ihr trotzdem mit letzter

Kraft, noch das Netz zu erreichen und sich daran

festzuklammern. Es sank nur langsam in die Tiefe.

Sie holte zum letzten Mal Luft, dann schlug das

Wasser über ihr zusammen.

Sie nahm Gedankenkontakt auf:

Issola, ich halte es nicht mehr lange aus!

Die Antwort kam sofort:

Nicht mehr lange, die Wasserbrüder kommen

bereits. Stör mich jetzt nicht!

Trotz ihrer Todesangst hörte Yina auch weiterhin

die Gedanken des Fischmädchens, als es mit den

Delphinen in einer zirpend klingenden Sprache redete.

Sie verstand jedes Wort, obwohl ihr die seltsame

Sprache absolut fremd war.

»Kommt her, wir müssen zurück zur Oberfläche.

Meine Freundin ertrinkt sonst. Sie gehört zu den

Landmenschen, aber sie hat mir das Leben gerettet!«

Die Antwort war verschwommen und nicht klar,

aber Yina verstand ihren Sinn. Wir kommen, hieß es.

Wir kommen sofort, Tochter der Tainula.

Und sie kamen wirklich!

Das Netz war gut zehn Mannslängen in die Tiefe

gesunken, und als Yina die Augen öffnete, sah sie den

milchigen Schimmer der Sonne schräg über sich – und

dunkle Schatten, die aus allen Richtungen auf sie

zugeschossen kamen. Die Lungen drohten ihr zu

bersten, und in den Ohren war ein dumpfes Brausen.

Langsam ließ sie die Luft aus.

Die Delphine ergriffen mit ihren Mäulern das Netz

und begannen daran zu ziehen. Langsam nur,

unendlich langsam, zerrten sie es nach oben. Das

Wasser wurde heller, durchsichtiger. Yina konnte

weiter sehen und erkannte Issola, die frisch und

munter in ihrem Netz zappelte. Ihre Gedanken

erreichten sie:

Bald haben wir es geschafft, meine Freundin! Nur

noch wenige Augenblicke, und du kannst wieder

atmen.

Und Jaggar? Sein Schiff! Er wird umkehren ...

Bis dahin sind wir in Sicherheit, wir werden

schneller sein als er. Viel schneller, du wirst sehen.

Die Luft ...!

Gleich sind wir oben, Yina!

Die letzte Luft entwich ihren gequälten Lungen, als

Yinas Kopf die Oberfläche des Wassers durchbrach. Sie

atmete mehrmals tief durch, dann sah sie zurück zu

dem schwarzen Segler. Er war gerade dabei zu wenden

und die Segel herabzulassen. Der Wind begann sie zu

füllen.

»Schnell, hol mich aus dem Netz!« bat Issola

dringend. »Hast du die Axt dabei?«

»Ich konnte sie nicht mitnehmen.«

»Dann versuche es mit den Händen, bitte.«

Die Delphine umkreisten das Netz, während andere

es hielten, damit es nicht wieder versank. Noch nie war

Yina den großen Fischen so nahe gewesen, aber sie

verspürte keine Furcht vor ihnen.

Sie begann die Knoten zu lösen, aber ihre Finger

waren klamm und steif. Der schwarze Segler ging auf

Gegenkurs und kam schräg näher. Er konnte nicht

direkt auf sie zusegeln, weil der Wind gegen ihn stand.

Er mußte kreuzen, und das kostete ihn Zeit.

Zuviel Zeit.

Yina löste drei Knoten, dann gelang es Issola durch

die entstandene Lücke zu schlüpfen. Die Delphine

ließen das Netz los, das langsam in die Tiefe sank und

bald verschwand. Issola schwamm zu Yina und

umarmte sie mit einer Innigkeit, die das Mädchen fast

erschreckte.

»Du hast mein Leben gerettet, ich danke dir. Mein

Volk wird dich wie einen der Unsrigen empfangen und

aufnehmen. Wie soll ich dir nur jemals danken?«

Yina sah in Richtung des allmählich näher

kommenden Schiffes.

»Indem du mir hilfst, möglichst schnell diesem

Jaggar zu entkommen. Er ist nicht schlecht, aber er ist

ein Mann – und er will mich haben.«

Issola lachte ein silberhelles Lachen.

»Er will dich haben, dieser Narr? Er wollte auch

mich haben, er will alle Mädchen haben, die ihm unter

die Augen kommen. Aber er wird uns nicht kriegen,

Yina! Die Wasserbrüder werden uns zu meinem Volk

bringen.«

Und wieder sprach sie in der zirpenden Sprache.

Die Delphine formierten sich. Einige von ihnen

tauchten in die Tiefe hinab, und als sie zurückkehrten,

sah Yina zu ihrer Verblüffung, daß sie das Netz wieder

mit hochbrachten.

»Wir müssen einige Stricke davon lösen, damit uns

die Wasserbrüder ziehen können«, sagte Issola und

begann sofort mit der Arbeit.

Der schwarze Segler war noch einige hundert

Mannslängen entfernt.

»Sie kommen schnell näher«, warnte Yina besorgt.

»Nicht schnell genug, sie müssen noch einmal,

vielleicht sogar öfter, gegen den Wind kreuzen. Komm,

hilf mir lieber.«

Es gelang ihnen, zwei lange Seile loszuknüpfen. Das

Netz sank wieder nach unten, aber die beiden

Mädchen hielten die Seile fest, jedes eines von ihnen.

Issola gab die Anweisungen, die Yina widerspruchslos

befolgte. Sie knüpfte zwei Schlingen, die sie zwei

Delphinen um den übergangslosen Hals legte. Issola tat

dasselbe. Dann schlang sie das andere Ende des Seiles

um ihren Körper und hielt sich mit den Händen fest.

Issola gab das Kommando, und als die Schwarze

Wellenreiterin nach der letzten Wende genau auf sie

zusteuerte und nur noch fünfzig Mannslängen entfernt

war, zogen die Delphine an.

Yina glaubte noch, das wutverzerrte und

enttäuschte Gesicht Jaggars zu sehen, als die Gischt ihr

die Sicht nahm.

Sie hätte nie in ihrem Leben geglaubt, daß Delphine

so schnell schwimmen konnten. Das Wasser rechts und

links raste an ihr vorbei, und der Segler, der sie noch

immer verfolgte, fiel hoffnungslos zurück, obwohl der

auffrischende Wind die Segel voll aufblähte und der

Bug steil in die Luft ragte.

Yina spürte, daß sie den ständigen Zug am Körper

und in den Armen nicht mehr lange aushalten konnte.

Sie rief Issola, die dicht neben ihr war, zu:

»Langsamer, ich bekomme kaum noch Luft. Die

Arme sterben mir ab.«

Issola drehte sich um und sah nach dem Segler,

dessen Mastspitzen über die Wogen ragten. Der Rumpf

war nur noch selten zu sehen.

»Gut, wir haben es geschafft, sie holen uns nicht

mehr ein.« Wieder zirpte sie und verständigte sich mit

den Fischen, dann fuhr sie fort: »Wir werden es

machen wie unsere Männer. Sie reiten auf den

Wasserbrüdern. Mit dem Seil können wir uns auf ihren

Rücken festbinden.«

Die Delphine hielten an und bildeten einen

schützenden Kreis um die beiden Mädchen. Zwei

besonders kräftige Tiere boten sich als Transportmittel

an.

Yinas Finger waren fast noch klammer geworden,

aber sie folgte Issolas Beispiel und knüpfte eine Art

Zügel, der um den Kopf des Fisches gelegt wurde. Die

Rückenflosse diente als Lehne und Halt.

Issola lachte Yina zu.

»Nun, was sagst du jetzt? Wir werden auf den

Wasserbrüdern über das Meer reiten, so schnell wie

der Wind und von keiner Gefahr bedroht. Immer nach

Norden, bis wir die große Insel sichten. Dann ist es

nicht mehr weit bis zu meinem Volk und der

namenlosen Insel.«

»Warum bekam sie keinen Namen, Issola?«

»Weil wir immer unsere Heimat verlassen mußten,

wenn wir ihr einen Namen gaben. Darum gaben wir

ihr keinen Namen.«

Sie sprach wieder mit den Delphinen. Die Formation

bildete sich, und dann begann der Ritt, den Yina nie in

ihrem Leben vergessen sollte.

Nun, da sie auf dem Rücken des Tieres saß, konnte

sie weiter über das Meer sehen. Der schwarze Segler

hatte während der Pause ein wenig aufgeholt, aber er

war viele tausend Mannslängen entfernt und bildete

keine Gefahr mehr.

Ringsum war nichts als Wasser, kein Land war zu

sehen. Die Sonne stand genau in ihrem Rücken und

wärmte Yinas durchfrorenen Körper wieder auf.

Issola schien schon mehr als einmal auf dem Rücken

von Delphinen geritten zu sein. Sie hielt sich kaum fest

und saß sicher im »Sattel«. Sie blieb stets dicht neben

Yina, um sich hin und wieder mit ihr unterhalten zu

können, obwohl das Brausen des vorbeirauschenden

Wasser die Worte fast verschluckte.

Die Mastspitzen des schwarzen Seglers

verschwanden unter dem Horizont.

Obwohl es noch nicht Abend war, versuchte Yina,

Kontakt mit Kano oder Kim aufzunehmen. Wieder

meldete sich Kano.

Gestern hast du es nicht versucht, dachte er

vorwurfsvoll. Wir machen uns Sorgen um dich. Du

lebst also noch?

Issola konnte natürlich die Gedanken von Yina und

Kano ebenfalls hören und nahm so an dem nur kurzen

Gespräch teil. Die beiden Mädchen hatten vereinbart,

ihr Geheimnis vorerst noch nicht preiszugeben. Zuerst

mußte der Rat der Seemütter abgewartet werden.

Politische Entscheidungen durften nicht ohne sie

getroffen werden, schon gar nicht, nachdem Issolas

erster Versuch gescheitert war.

Ich lebe und bin wieder frei. Bald werde ich zurück

sein.

Frei? Wie ist das möglich? Unsere Schiffe konnten

dich nicht einholen. Wer befreite dich? Oder haben

dich die Piraten laufenlassen, weil du ihnen nicht

schön genug warst?

Ich habe mich selbst befreit. Und damit du es nur

weißt: Der Kapitän der Piraten wollte mich zu seiner

Frau machen.

Haha! Aber sicher nur für ein paar Stunden!

Ekel!

Sie brach den Kontakt ab.

Issola sagte:

»Er war aber nicht gerade freundlich zu dir. Er ist

dein Freund?«

»Einer meiner Freunde, und wir streiten uns immer.

Es ist nicht böse gemeint. Aber nun weiß man im Palast

wenigstens, daß ich nicht mehr in der Gewalt der

Piraten bin. Sie wissen, daß ich eines Tages zu ihnen

zurückkomme – und ich hoffe, dann werden sie eine

Überraschung erleben.«

»Dafür werden wir schon sorgen«, versprach Issola.

»Ich hoffe nur, dein König Dragon ist so gut, wie du

ihn mir geschildert hast.«

»Er ist es, glaube mir. Doch bevor ich zu ihm gehe,

muß ich dein Volk kennenlernen. Wie lange wird es

dauern?«

»Die Sonne wird einmal untergehen. Wenn sie

morgen am höchsten steht, sichten wir unsere Insel.«

»In der Nacht wird es kalt sein.«

»Daran ist nichts zu ändern, aber wenn die

Wasserbrüder langsamer schwimmen, werden wir

nicht mehr naß. Mir macht es ja nichts aus, aber dir.«

Sie kamen gut voran, dann wurde es dunkel. Wie

angekündigt, verlangsamten die Fische ihr rasendes

Tempo und zogen nur noch gemächlich und fast

spielerisch dahin. Die Wogen hatten sich geglättet, und

nur selten wurde Yina von einem Wasserspritzer

getroffen. Das Kleid begann im Wind zu trocknen.

Die ersten Sterne wurden am wieder klaren Himmel

sichtbar.

Um Mitternacht wurde Yina so müde, daß sie sich

kaum noch wachhalten konnte. Ununterbrochen

unterhielt sie sich mit Issola, um nicht einzuschlafen.

Sie wäre dann unweigerlich aus den Schlingen

gerutscht und ins Wasser gefallen.

Endlich hatte Issola ein Einsehen.

»Wir werden ein wenig ruhen«, sagte sie und sprach

dann mit den Delphinen. »Ich habe ihnen befohlen,

eine richtige Plattform zu bilden und ganz eng

nebeneinander zu schwimmen. Dann kannst du nicht

herabfallen. Wenn die Sonne aufgeht, sind wir frisch

und munter und können die Reise fortsetzen.«

Yina war für die Pause dankbar, und als sie rings

um sich herum die Rücken der treuen Delphine sah,

entspannte sie sich und schloß die Augen.

Es dauerte keine zehn Minuten, und sie war

eingeschlafen.

Morgens weckte sie Issola.

»Yina, laß dir etwas einfallen – wir müssen fliehen!«

sagte das Fischmädchen ruhig und ließ den

ausgestreckten Arm kreisen. »Sie haben uns

umzingelt.«

Nun sah Yina es auch.

Mindestens zwanzig Fischerboote hatten einen

großen Kreis um sie herum gebildet, der ständig

kleiner wurde. Zwischen den Booten waren

Hängenetze gespannt, die bis zu zwanzig

Manneslängen in die Tiefe reichten.

Es sah ganz so aus, als gäbe es nun kein Entkommen

mehr.

6.

Dragon, der noch immer auf das Eintreffen von Amee,

der Königin von Urgor, wartete, um die Hochzeit mit

ihr zu feiern, sorgte sich um die kleine

Gedankenleserin.

Seitdem er von Kano erfahren hatte, was mit Yina

geschehen war, und seitdem die drei ausgesandten

Schiffe von ihrer erfolglosen Jagd auf den schwarzen

Segler zurückgekehrt waren, war diese Sorge noch

größer geworden.

Er konnte sich vorstellen, welches Schicksal Yina

bevorstand.

Eines Tages, so wußte er, würde er sich um die

Piraten der Schlangeninsel kümmern müssen, sonst

würde es niemals Frieden für Myra geben. Entweder

würde er ein Abkommen mit ihnen schließen, oder er

würde Krieg mit ihnen führen.

Aber zuerst Yina!

Vielleicht würde sie sich klug verhalten und so

vorerst ihr Leben retten. Immerhin konnte sie die

Gedanken ihrer Gegner lesen und war so von ihren

Absichten stets unterrichtet. Danach konnte sie sich

richten und entsprechend handeln.

Trotzdem galt es zu überlegen, wie man sie befreien

konnte.

Einen Augenblick lang dachte er daran, sich selbst

mit einer Schar von Getreuen einzuschiffen und

unerkannt zur Schlangeninsel zu fahren, um dort

Nachforschungen anzustellen, aber dann dachte er

auch an die bevorstehende Ankunft Amees. Er zögerte.

Und das war gut so. Er saß in seinem Gemach und

verspürte wenig Lust, es in dieser trüben Stimmung zu

verlassen. Die Lage in Myra hatte sich weitgehend

beruhigt. Die Verträge mit den Amazonen waren

abgeschlossen worden. Im Augenblick gab es nicht

mehr viel zu tun. Es klopfte an der Tür. Dragon stand

auf, um nachzusehen, denn es war bereits später

Nachmittag. Zu dieser Zeit gab es keine Geschäfte

mehr, wenigstens keine dringenden.

Es war der Zwilling Kano. »Kann ich

‚reinkommen?« Dragon machte eine einladende

Bewegung und schloß die Tür. Sie setzten sich.

»Du hast noch immer keine Nachricht von Yina?

Vielleicht ist sie tot.«

»Sie ist quicklebendig und frei – das hat sie mir eben

mitgeteilt, aber mehr wollte sie auch nicht sagen. Sie

meint, wir würden noch alles rechtzeitig erfahren.«

»Hm«, machte Dragon verwundert. »Das klingt aber

recht geheimnisvoll. Immerhin ist sie frei, das ist die

Hauptsache.« Er wirkte sichtlich erleichtert. »Ich hatte

mir große Sorgen um unsere Freundin gemacht.«

»Das ist aber noch nicht alles.« Er beugte sich zu

dem Jungen. »Noch nicht alles? Was gibt es denn sonst

noch?«

»Ihre Gedanken waren nicht allein, ich konnte noch

andere auffangen und ein wenig hören. Jemand muß

bei ihr sein – ein anderes Mädchen.«

»Vielleicht auch eine Gefangene, mit der zusammen

sie fliehen konnte.«

»Sicherlich, aber ihre Gedanken waren merkwürdig,

fast fremd.«

»Was soll das heißen, fremd?«

»Nun ... eben anders. Und noch eine Menge anderer

Gedanken kamen hinzu, aber von denen verstand ich

keinen einzigen. Sie waren wie Nebengeräusche in

einem Saal. Jemand spricht, die anderen murmeln

dazwischen.«

»Ja, ich verstehe, was du meinst. Yina ist also nicht

allein.«

»Nein.«

»Und hat sie dir gesagt, wo sie jetzt ist?«

»Nein.«

Dragon überdachte das Gehörte, mußte aber

zugeben, daß er nicht schlau daraus wurde. Wichtig für

ihn war nur, daß Yina frei war. Die näheren Umstände

ihrer Flucht würde er noch früh genug erfahren. Er

verstand nur diese Geheimnistuerei nicht.

»Na schön, dann versuche bald wieder Kontakt mit

ihr aufzunehmen. Sage ihr, daß wir sie im Palast

erwarten. Wir werden ihr einen prächtigen Empfang

bereiten und ihre Befreiung gebührend feiern.«

»Ich werde es ihr sagen.« Kano erhob sich. »Darf ich

jetzt gehen? Ich suche Kim, der sich im Palast versteckt

hat.«

Dragon lächelte.

»Wenn ich an deiner Stelle wäre, wurde ich mal auf

der Ostzinne nachsehen.«

Kano stürmte aus dem Zimmer.

»Wir sind verloren«, jammerte Yina und verlor alle

Hoffnung. »Sie haben die vielen Delphine bemerkt und

wollen sie einfangen. Sie werden auch uns schon

gesehen haben.«

»Sicher haben sie das. Um so wertvoller wird die

Beute. Warte hier, ich werde versuchen, eine Lücke

zwischen den Netzen zu finden. Die Delphine werden

bei dir bleiben.«

Ehe Yina antworten konnte, schlüpfte Issola aus den

Schlingen ihres Haltetaus und verschwand in dem

dunklen Wasser. Ihr blasser Körper wurde nach

wenigen Sekunden von der Tiefe verschluckt.

Yina wartete und beobachtete die Fischerboote. Sie

kannte die tiefen Schleppnetze aus eigener Erfahrung.

Mehrere Boote ließen sie ins Wasser hinab, bildeten

eine Linie und zogen das gemeinsame große Netz

hinter sich her. In besonderen Fällen formten sie einen

Kreis und fingen so alles, was sich darin befand – falls

es nicht in größere Tiefen abtauchte.

Aber Yina konnte keine zwanzig Mannslängen tief

tauchen.

Die Delphine wurden ebenfalls unruhig. Sie spürten

die Gefahr, die sich ihnen unaufhaltsam näherte. Aber

sie hatten von Issola einen Befehl erhalten, und sie

befolgten ihn auch.

Yina konnte nun auch die Männer in den Booten

besser erkennen. Es waren Fischer von Myra, bärtige

und harte Männer, die von dem lebten, was das Meer

ihnen gab. Die Herde Delphine mußte für sie ein

Vermögen bedeuten, auch wenn sie nur die Hälfte der

Tiere erbeuteten und abschlachteten.

Aber Delphine und auch Issola konnten tiefer

tauchen, als die Netze im Wasser hingen.

Yina drohte keine Gefahr, wenn sie gefangen wurde,

aber man würde Fragen stellen. Aber ob Gefahr für sie

oder nicht, Yina wollte das Volk der Tainu

kennenlernen. Sie hatte nun ebenfalls eine Mission,

und sie würde diese Mission unter allen Umständen

erfüllen.

Issola tauchte urplötzlich wieder auf. Sie schwang

auf den Rücken des nächsten Delphins.

»Ich glaube, wir können es noch schaffen«, sagte sie

ein wenig atemlos von der Anstrengung. »Für die

Wasserbrüder und mich ergibt sich kein Problem, wohl

aber für dich. Du wirst sehr lange die Luft anhalten

müssen. Die Netze haben sich noch nicht völlig

geschlossen, das geschieht erst dann, wenn die Boote

näher zusammenrücken. Doch dann liegen die

benachbarten Netze nur übereinander, man könnte mit

einigem Geschick noch immer durchschlüpfen. Es ist

aber besser, wir versuchen es jetzt sofort.«

»Und wie?«

»Du bleibst, wo du jetzt bist. Und halte dich nur gut

an dem Tau fest, wenn der Wasserbruder taucht. Selbst

dann, wenn du meinst, ersticken zu müssen, halte fest!

Bleibe ganz ruhig, ich werde bei dir sein. Hinter den

Booten tauchen wir kurz wieder auf, damit du Luft

holen kannst, dann tauchen wir noch einmal, um der

Reichweite der Speere zu entgehen. Danach sind wir

außer Gefahr.«

Yina hatte Angst, aber sie wollte sich keine Blöße

geben. Fest klammerte sie sich an das Tau. Sie nickte

und begann tief einzuatmen und die Lungen

vollzupumpen.

Ich bin bereit, Issola!

Das Fischmädchen nickte nur zurück und gab den

Delphinen in deren Zirpsprache einen kurzen Befehl.

Als das Wasser über Yinas Kopf zusammenschlug

und die gesamte Herde wegtauchte, blieb ihr keine Zeit

mehr zum Denken. Sie behielt die Augen offen, um

sehen zu können, und weit vor sich in der blauen

Unendlichkeit sah sie das Netz schimmern.

Unter ihr war es dunkel, schwarz und tief.

Das Anhalten der Luft fiel ihr leichter als das erste

Mal, als sie mit Issola und dem Netz in der Tiefe

versank. Ihre Angst begann sich zu verflüchtigen, als

sie das Netz erreichten und sie immer noch genügend

Luft in den Lungen hatte.

Die Tiefe betrug etwa zehn Mannslängen, und über

sich sah Yina die Schatten zweier Boote gegen den

milchigen Himmel. Issola, die allein und ohne Delphin

schwamm, glitt behende durch die noch immer breit

klaffende Lücke zwischen den Fangnetzen; die

Delphine folgten ihr.

Dann waren sie alle durch.

Nun begann sich bei Yina Atemnot bemerkbar zu

machen, aber ihr Fisch tauchte noch immer nicht auf.

Er erhöhte seine Geschwindigkeit, um die

voraneilenden einzuholen. Hinter ihnen verschwand

das Netz im Blau des Meeres.

Yina ließ die letzte Luft aus den Lungen und

entsann sich Issolas Rat, nicht aufzugeben. Krampfhaft

hielt sie sich fest. Das Wasser wurde allmählich heller.

Jetzt tauchen wir auf, für wenige Sekunden.

Einatmen!

Yina antwortete nicht. Sie starrte nur auf die heller

werdende Oberfläche und wartete, bis ihr Kopf aus

dem Wasser kam. Hastig und fast verzweifelt pumpte

sie die lebenspendende Luft in die Lungen. Die Boote

waren noch ganz nah. Sie konnte die wütenden Rufe

der Fischer hören, dann versank sie abermals in der

Tiefe.

Dicht unter der Oberfläche raste die Herde davon,

und als sie wieder auftauchte, waren die Boote weit

entfernt. Einige langschäftige Speere fielen ins Wasser.

Das Heulen der enttäuschten Fischer war sogar bis

hierher zu vernehmen.

»Nun?« Issola kletterte wieder auf ihren Delphin

und lachte. »Wie haben wir das gemacht?«

»Ich bin froh!« erwiderte Yina nur.

»Du hast dich tapfer gehalten«, lobte das

Fischmädchen. »Du bist sehr mutig.«

»Ich habe viel Angst gehabt.«

»Nur die Mutigen und Tapferen kennen die Furcht,

Yina. Wer sie nicht verspüren kann, der ist ein

Dummkopf. Und wer die Gefahr nicht kennt, kann

auch nicht mutig sein.«

Die Fischerboote blieben schnell zurück und

verschwanden bald unter dem Horizont. Die Sonne

stieg höher und begann abermals Yinas Kleid zu

trocknen. Die Kälte wich aus den Gliedern und machte

einer wohligen Wärme Platz.

»Wie lange noch?« fragte sie.

Issola deutete nach Norden.

»Die höchste Spitze der großen Insel schwebt bereits

über dem Wasser. Daneben kannst du die Berggipfel

des Landes sehen, das du Myra genannt hast. Es dauert

nicht mehr lange.«

Zum ersten Mal kamen Yina Bedenken. Obwohl sie

festes Vertrauen zu Yina hatte, fürchtete sie doch ein

wenig die eigentlichen Fischmenschen, über die man

sich so schreckliche Geschichten erzählte. Würde man

ihr Glauben schenken und ihr vertrauen? Hatte Issolas

Wort genügend Gewicht, sie vor dem Tode zu

bewahren?

Issola hatte ihre Gedanken gehört.

»Du machst dir überflüssige Sorgen, meine

Freundin. Du hast mir das Leben gerettet, und das

genügt meinem Volk, dich ebenfalls als Freund

anzuerkennen. Dir wird nichts geschehen, und sobald

du es wünschst, werden wir dich zum Ufer deines

Landes bringen.«

»Ich will die Aufgabe, die du dir selbst gestellt hast,

erfolgreich zu Ende führen – mit dir gemeinsam.«

»Das werden wir auch tun. Die Runde der

Seemütter wird uns anhören, dann wird Ismena die

Entscheidung fällen. Ich kenne meine Mutter. Sie wird

uns helfen, denn niemand will den Frieden mehr als

sie.«

Das Wetter war noch besser geworden. Kein

Wölkchen stand am Himmel, und der Wind war fast

völlig eingeschlafen. Nur noch eine weitrollende

Dünung zeugte von dem vergangenen Sturm. Sie

kamen schnell voran.

Yina behielt die Bergspitzen im Auge und sah sie

allmählich größer werden. Dann tauchten die ersten

Landstreifen auf, fielen rechts ab und machten der

Küste der großen Insel Platz. Aber die Delphine ließen

auch die Große Insel rechts liegen und zogen

nordwestwärts weiter.

Yina hatte schon von dem unbewohnten Eiland

gehört, dem sich die Fischer nur ungern näherten, weil

es dort die geheimnisvollen Fischmenschen geben

sollte. Selten hatte sie jemand zu Gesicht bekommen.

»Ich habe zum ersten Mal mit meiner Mutter

sprechen können!« jubelte Issola plötzlich. »Du hast es

nicht bemerkt, weil du zu sehr mit deinen eigenen

Gedanken beschäftigt warst. Es wird alles zu unserem

Empfang vorbereitet.«

»So weiß man also schon ...?«

»... daß du mit mir kommst? Natürlich weiß man es,

und es gibt niemanden, der sich nicht darüber freuen

würde. Du bist der Beweis dafür, daß ich recht hatte,

daß es Frieden mit den Landmenschen geben kann,

wenn man nur will.«

»Wenn beide Seiten wollen!« berichtigte Yina

glücklich.

»Natürlich – das ist immer die Voraussetzung«, gab

Issola zu.

Die namenlose Insel tauchte am Horizont auf.

Zum letzten Mal setzten die ermüdeten Delphine

ihre letzten Kraftreserven ein, um das Ziel schneller zu

erreichen. Die felsigen Klippen stiegen steil aus der

schwachen Brandung empor und verbargen die

dahinterliegenden Buchten. Überall im Wasser vor der

Insel war Bewegung zu erkennen. Schwarze oder auch

weiße Punkte, die eine Wellenspur hinter sich

herzogen. Es waren die Männer der Tainu, die der

kleinen Flotte entgegenkamen, um sie zu begrüßen.

Gedanken des Willkommens strömten auf Issola

und Yina ein.

Alle Tainu wußten bereits, was geschehen war.

Sie hatten für alles gesorgt.

Vom Meeresboden herauf war eine riesige Muschel

geholt worden, deren eine Hälfte genug Platz bot, Yina

und einen gehörigen Luftvorrat aufzunehmen. Ein

kräftiger Tainu hielt sie, als sie unter die Muschel

tauchte und sofort wieder atmen konnte. Dann sank

die Muschel langsam an den Felsen der Insel entlang in

die Tiefe, bis sie auf der Höhe eines Grotteneingangs

anlangten.

Wenig später stand Yina in der Unterwasserhöhle

auf trockenem Boden.

Issola war ihr gefolgt und nahm ihre Hand.

»Die Runde der Seemütter«, erklärte sie schlicht und

deutete auf die elf Tainu, die sich von ihren Plätzen

erhoben hatten und ihnen entgegenblickten. »Die erste

dort ist Ismena, meine eigene Mutter.«

Ismena schloß ihre gerettete Tochter zuerst in die

Arme, dann wandte sie sich Yina zu und streckte ihr

die Hände entgegen.

»Willkommen bei uns, Yina«, sagte sie mit dunkler

Stimme. »Du hast Issola gerettet, und sie hat dich

gerettet. Ihr seid Freunde für das ganze Leben, und

damit bist auch du der Freund der Tainu. Du darfst

bleiben, so lange du willst. Es ist besser, wenn du alles

über uns weißt, bevor du zu den Landmenschen

zurückkehrst. Du bist unser Gast.«

Yina bedankte sich mit wohlgesetzten Worten und

begrüßte auch die anderen Seemütter. Dann berichtete

Issola ausführlich und schloß mit den Worten:

»Meine Aufgabe ist erfüllt. Ich habe Kontakt mit

einem Landmenschen hergestellt. Den Rest der Mission

wird Yina übernehmen. Bald wird Friede zwischen uns

und den Bewohnern des Landes sein. Wir haben

endgültig die neue Heimat gefunden.«

»Wir alle hoffen, daß du recht hast«, entgegnete

Ismena vorsichtig.

Issola selbst brachte Yina in ihr Gemach, das für den

Besuch vom Land extra hergerichtet worden war,

damit es den besonderen Ansprüchen eines die Wärme

und Trockenheit gewohnten Menschen entsprach.

Yina hätte niemals geglaubt, daß eine Höhle, deren

Eingang unter dem Wasserspiegel lag, so bequem und

wohnlich sein könnte.

Es war ein großer, trockener Raum, in dessen Mitte

ein Feuer brannte. Der Rauch zog senkrecht nach oben

durch Felsspalten ab. So kam es also, daß die Fischer

die Insel für einen halbtätigen Vulkan hielten und ihn

nicht nur der Wassermenschen wegen fürchteten.

An den Wänden aufgeschichtet, sah Yina noch mehr

Holz, das trocken und zu handlichen Stücken

verarbeitet auf seine Bestimmung wartete. Über dem

Feuer hing ein Kessel mit brodelndem Wasser. Es

stammte aus einer der zahlreichen Zisternen der Insel.

Einige Gegenstände erregten die Aufmerksamkeit

Yinas, nachdem Issola sie verlassen und ihr eine gute

Nacht gewünscht hatte. Es waren Gegenstände aus

Eisen, frisch geschmiedet und künstlerisch bearbeitet.

Ihren Zweck konnte Yina nur erraten. Jedenfalls stand

für sie fest, daß die Tainu Erze abbauen und diese

verarbeiten konnten.

Sie legte sich auf das Lager aus Ziegenfell, das an

der Innenwand aufgeschichtet worden war. Die

Wärme des Feuers tat ihr gut, und es dauerte auch

nicht lange, bis sie eingeschlafen war.

Diesmal wurde sie nicht von bösen Träumen

heimgesucht.

Das Feuer glimmte noch, als Issola kam, um sie zu

wecken.

»Sie greifen uns an«, stieß sie aufgeregt hervor.

»Eine große Anzahl von Booten mit tiefhängenden

Netzen liegen vor unseren Grotten, und Taucher

versuchen, die Höhlen zu erreichen. Sie tragen lange

Speere und Harpunen. Mehrere unserer Männer haben

schon den Tod gefunden. Wir müssen fliehen ...«

Yina begriff nur langsam, was Issola ihr mitzuteilen

hatte. Sie hatte von ihrer triumphalen Rückkehr nach

Myra geträumt und von dem Lob, das Dragon ihr

zollte. Die Zwillinge hatten sich vor ihr verbeugen und

sie um Vergebung für alle Streiche bitten müssen, die

sie mit ihr angestellt hatten.

Und nun kehrte die rauhe Wirklichkeit zu ihr

zurück.

»Fischer? Vom Festland?«

»Vielleicht auch von der großen Insel, wir wissen es

nicht. Jedenfalls gehören sie zu deinem Volk. Vielleicht

kannst du uns helfen.«

Daran zweifelte Yina allerdings. Sie war nur ein

kleines, unbedeutendes Mädchen. Kein Fischer würde

auf sie hören. Man würde sie vielleicht sogar töten,

weil sie mit den Fischmenschen gemeinsame Sache

machte.

Trotzdem sagte sie:

»Ich kann es versuchen. Bring mich nach oben.«

Unterwegs auf dem Pfad zum Grottenausgang, der

unter der Oberfläche des Meeres versteckt lag,

begegneten sie den Männern der Tainu. Alle trugen

Waffen.

Es wurde Yina klar, daß sie unter allen Umständen

das bevorstehende Gemetzel verhindern mußte, das

beiden Seiten eine hohe Anzahl von Verlusten bringen

würde.

Die Muschel lag bereit.

Issola half ihrer Freundin darunter und sorgte mit

kräftigen Schwimmstößen dafür, daß sie allmählich

nach oben stiegen. Die in der Muschel befindliche

Atemluft half dabei mit.

Ein wenig abseits des eigentlichen Kampfplatzes

erreichten sie die Meeresoberfläche. Yina sah die vielen

Boote, die vor der Küste lagen und die Netze hielten.

Pfeile schwirrten von ihnen zur Insel herüber, richteten

aber keinen Schaden an.

Es gelang Issola, die Muschel so umzudrehen, daß

sie wie ein kleines Boot wirkte. Es trug Yina, ohne zu

versinken.

»Sei vorsichtig!« warnte das Fischmädchen. »Es sind

deine Leute, du solltest mit ihnen reden können. Ich

kann dich leider nicht begleiten, denn man würde mich

sofort töten. Wenn sie dir etwas antun wollen, spring

ins Wasser, wir passen auf.«

»Danke. Issola. Ich will alles versuchen, und wenn

ich Dinge rede, die gegen euch gerichtet sind, so

bedenke, daß ich es nur für euch tue. Vielleicht muß ich

lügen, damit sie mich anhören.«

»Wir vertrauen dir«, gab Issola zurück und versank

in den Fluten.

Yina aber begann mit den Händen zu paddeln und

näherte sich den Fischerbooten, in denen die Männer

sie bereits bemerkt hatten. Als Yina ihnen zuwinkte,

ließen sie die bereitgehaltenen Waffen sinken und

sahen ihr gespannt entgegen.

Hilfreiche Arme zogen sie aus der Muschel, die

kippte und versank.

»Wen haben wir denn da?« wunderte sich ein älterer

Fischer mit weißem Bart. »Das ist doch ein richtiges

Mädchen, eine von uns?« Er wandte sich an Yina: »Hat

diese verfluchte Brut von Fischmenschen dich

gefangengenommen? Wir sind gerade dabei, sie

auszurotten.«

Yina setzte sich auf eine Ruderbank.

»Warum wollt ihr sie töten? Sie haben mich gut

behandelt.«

»Dämonen sind sie, böse Geister und Teufel! Für sie

ist auf der Erde kein Platz.«

»Aber doch im Wasser, in dem wir nicht leben

können.«

Der alte Fischer war für einen Augenblick sprachlos

und überdachte das Gehörte, dann fragte er:

»Du verteidigst sie noch, obwohl sie dich fingen und

wir dich retteten?«

Yina entschied sich, ihre Taktik zu ändern. In

diesem Fall war die Wahrheit am besten.

»Sie haben mich aus den Händen von Seeräubern

befreit und würden mich ans Land gebracht haben,

wenn ihr mit eurem Krieg nicht dazwischengekommen

wäret. Nun schickten sie mich zu euch, um den Frieden

anzubieten.«

»Frieden zwischen uns und denen?« rief einer der

anderen Fischer empört. »Sie haben viele von uns

ermordet, und dafür sollen sie büßen. Jetzt wissen wir

endlich, daß es sie wirklich gibt.«

»Sie haben nur jene bestraft, die einige von ihnen

töteten. Ich weiß es, denn sie haben es mir selbst

berichtet.«

»Sie haben gelogen.«

»Nein, das haben sie nicht, ich weiß es. Sie sind

friedlich, wenn man sie in Ruhe läßt.«

Der alte Fischer betrachtete sie voller Zweifel.

»Woher willst du das alles wissen? Nur weil du eine

gewisse Zeit bei ihnen warst?«

»Ja. Und nun rufe deine Freunde zurück. Man wird

euch nicht verfolgen – das ist die Botschaft, die ich zu

überbringen habe.«

Der alte Mann lachte.

»Eine Botschaft hast du zu überbringen? Eine

Gefangene überbringt eine Botschaft! Man hat dich

dazu gezwungen, gib es nur ruhig zu.«

»Nein, ich kam freiwillig, und ich werde auch

wieder zu ihnen zurückkehren. Und noch etwas: Ihr

wißt, daß unser neuer König Dragon heißt. Er ist mein

Freund, und ich gehöre zu seinem Gefolge. Er will

nicht, daß man weiterhin die Fischmenschen verfolgt.«

»Dragon ...? Ja, wir hörten von ihm. Er soll viele

Sklaven freigelassen und den Fischern Hilfe

versprochen haben.« Er betrachtete sie genauer. »Du

willst zu seinem Gefolge gehören?«

»Ich gehöre dazu! Ich werde ihm von eurem

Überfall berichten, und das wird sich nicht günstig für

die Fischer an unserer Küste auswirken, glaube mir.«

»Kleines Mädchen, du sprichst große Worte ...!« Er

sah seine Kollegen an, fragend und um Rat bittend.

Dann fuhr er fort: »Ich kann die anderen nicht

zwingen, den Angriff zu beenden. Aber ich werde

dafür sorgen, daß es vorerst der letzte sein wird.

Warten wir ab, wie die Schlacht ausgeht. Ich befürchte

allerdings, schlecht für deine Freunde, die

Fischmenschen. Wir haben uns gut vorbereitet.«

Yina war längst freigelassen worden und konnte

sich an Bord des Bootes bewegen, wie sie wollte. Ab

und zu bemerkte sie im Wasser vor der Küste

Bewegung oder einen Wirbel. Auch Blut stieg aus der

Tiefe auf und verteilte sich an der Oberfläche. Einige

Leichen trieben in der Brandung.

»Dragon wird den Frieden zwischen uns und den

Fischmenschen zum Gesetz machen«, sagte sie zu den

Fischern. »Ihr könnt die Netze einziehen, sie nützen

nichts. Die Tainu tauchen darunter hinweg, wenn sie es

wünschen.«

»Tainu?«

»So nennen sie sich. Sie sind ein friedliches Volk.«

Der alte Fischer schwieg. Nachdenklich sah er

hinüber zu der unbewohnten und fast kahlen Insel, um

deren Besitz seine besten Freunde nun das Leben

ließen.

»Laß dich doch von der da nicht einwickeln!« rief

ihm einer der Männer zu und warf seine Harpune

einem gerade auftauchenden Tainu in die Schulter.

Entsetzt sah Yina zu, wie der Fischmensch sofort stark

zu bluten begann und tauchte. Der Fischer zog das Seil

mit der Harpune ein, er wollte seine Beute mit nach

Hause nehmen.

Aber er hatte kein Glück.

Ehe jemand es verhindern konnte, wurde er mit

einem plötzlichen Ruck nach vorn gerissen, ließ das

Seil zu spät los und verlor außerdem den Halt.

Mit einem Aufschrei fiel er ins Meer.

Sofort waren drei oder vier Tainu zur Stelle, die ihn

unter Wasser zogen und mit ihm verschwanden, ehe

einer der Fischer dem Unglücklichen helfen konnte.

Der alte Mann, mit dem Yina gesprochen hatte, griff

nach einem Wurfspeer.

»Da hast du deine friedlichen Fischmenschen!« rief

er ihr zu und beugte sich über den Bordrand, um nach

einem lohnenden Ziel auszuspähen. »Sie morden

kaltblütig ...«

»Sie wehren sich nur«, gab Yina hoffnungslos

zurück. »Seht ihr das denn nicht endlich mal ein?

Sollen sie sich einfach abschlachten lassen, nur weil ihr

sie für Dämonen haltet?«

Der Alte drehte sich zu ihr um. Einen Augenblick

lang sah es so aus, als wolle er sie mit seinem Speer

durchbohren, aber dann gab er seinen Leuten einen

Wink.

»Werft sie über Bord, ich will sie nicht mehr sehen.«

Widerstandslos ließ sich das Mädchen packen und

zum Bordrand zerren. Sie hatte keine Ahnung, ob man

ihr einige Speere nachschleudern würde oder nicht, auf

jeden Fall holte sie tief Luft, als man ihr einen Stoß gab

und sie ins Wasser fiel. Sie ließ sich ohne Bewegung

nach unten sinken und sah über sich den Schatten des

Bootes weitergleiten.

Zwei Tainu kamen herbei und packten ihre Arme.

Dicht unter der Oberfläche dahinschwimmend,

brachten sie Yina so weit vom Boot weg, daß ihr keine

Gefahr mehr drohte, dann tauchten sie mit ihr auf.

Ein dritter Tainu brachte die gesunkene Muschel,

und wenig später stand Yina wieder im

Grotteneingang. Issola empfing sie mit einer

Umarmung.

»Ich habe alles durch deine Gedanken verfolgen

können. Du hast es versucht, aber sie hören nicht auf

dich. Draußen geht der Kampf weiter. Aber die Fischer

sind schlechte Taucher. Bisher ist es noch keinem

gelungen, in unsere Grotten zu gelangen. Aber sie

haben andere Pläne. Sie wissen nun, wo wir wohnen

und daß unsere Höhlen auch von der Insel her

anzugreifen sind. Einige Boote sind bereits gelandet,

und die Männer gehen an Land. Sie werden die

Luftspalten finden und von dort aus eindringen.«

»Und was werdet ihr tun?«

»Wir werden versuchen, sie daran zu hindern«,

erwiderte Issola einfach. »Komm, ich bringe dich zu

meiner Mutter. Sie möchte mit dir reden.«

Diesmal nahmen sie einen anderen Weg als gestern,

und zum ersten Mal konnte Yina die noch im Bau

befindliche eigentliche »Stadt« der Tainu sehen. Es war

eine riesige Grotte. Das Land selbst, auf dem die ersten

primitiven Holzhütten standen, umgab ein dunkles,

ruhiges Wasserbecken, das zugleich den Eingang

darstellte. Die Wände zu kleineren Nebengrotten

waren durchbrochen worden, um mehr Platz zu

schaffen.

Nur Frauen waren zu sehen. Sie trugen Waffen

herbei und legten sie an den Rand des Wasserbeckens.

Ab und zu tauchte darin ein Mann auf, nahm sich, was

er brauchte, und verschwand wieder.

Ein gewundener Gang führte zu einer abgelegenen

Wohngrotte, die ziemlich hoch über dem

Wasserspiegel liegen mußte, denn es war warm und

trocken in ihr.

Ismena, die Stammesmutter der Tainu, erwartete die

beiden Mädchen bereits. Sie bot ihnen einen Platz auf

einem Fellager an.

»Du hast viel für uns gewagt«, sagte sie nach der

Begrüßung zu Yina. »In deiner Seele ist die Wahrheit,

und Gedanken könnten niemals eine Lüge verbergen.

Wir wissen, daß du es gut mit uns meinst. Sobald die

Fischer in ihre Heimat zurückkehren, werden wir dich

zur Küste von Myra bringen. Issola und ich werden

dich begleiten.«

»Ihr wollt mitkommen?« wunderte sich Yina

erschrocken. »Man würde euch töten, denn noch ist

kein Friede geschlossen worden.«

»Eigentlich hat es auch nie einen richtigen Krieg

gegeben. Du hast doch einen Gedankenkontakt im

Palast, wie Issola mir berichtete. Lasse durch ihn

deinem König sagen, daß er uns erwarten soll, an der

Küste, in einer Bucht, die ihm und dir bekannt ist.«

Die Bucht der großen Steine, dachte Yina sofort.

Natürlich, dort soll Dragon uns erwarten ...

»Ja, ich kenne eine solche Bucht. In ihr fingen mich

die Piraten, und Dragon kennt sie auch. Ich will noch

heute versuchen, über Kano mit Dragon zu sprechen.

Ich weiß, wie wichtig es ist.«

»Ja, es ist wichtig«, bestätigte Ismena ernst.

Auf der Insel entdeckten die Angreifer mehrere

Bodenspalten, die ihnen groß genug erschienen. Die

Mutigsten von ihnen zwängten sich hinein und

kletterten in die darunter befindlichen Höhlen. Zu ihrer

Überraschung fanden sie dort niemanden, nur

verlassene Feuerstellen und einige notdürftige Lager

aus Ziegenfell.

Immer mehr Fischer kamen ihnen nach. Sie suchten

nach einem Ausgang, der nicht unter Wasser lag, und

nach Gängen, die zu den anderen Grotten führten.

Aber dann mußten sie feststellen, daß es keine solchen

Gänge gab.

Als sie umkehren wollten, um ihr Glück woanders

zu suchen, hörten sie Schreie von oben aus der

Erdspalte. Waffen klirrten, Männer fluchten und riefen

um Hilfe. Dann wurde es plötzlich still.

»Verdammt, sie haben uns in eine Falle gelockt!«

sagte einer der Fischer wütend. »Nichts wie ’raus hier!«

Doch dazu war es zu spät.

Zuerst kam nur Sand und kleines Geröll von der

Decke her auf sie herab, dann richtige Felsbrocken. Die

größten von ihnen blieben in der Spalte, knapp zwei

Mannslängen über dem Boden, stecken und

verstopften ihn. Es wurde dunkler in der Grotte.

Zwei Fischer halfen einem dritten, damit er die

Decke erreichte. Das Poltern draußen hatte aufgehört.

Die Tainu zogen sich ins Wasser zurück, nachdem sie

sicher sein konnten, daß die Eingeschlossenen nicht

entfliehen konnten. Die anderen Teilnehmer des

Unternehmens saßen bereits wieder in ihren Booten

und ruderten aus Leibeskräften, um sich möglichst

schnell von der Insel zu entfernen. Sie wunderten sich,

daß sie noch am Leben waren, obwohl eine große

Übermacht der Fischmenschen sie überfallen hatte.

Einer der Tainu überraschte Ismena die

Erfolgsmeldung.

»Es sind etwa zwanzig Landmenschen gefangen.

Was soll mit ihnen geschehen?«

Ismena sah Issola und Yina fragend an.

»Sollen wir sie töten?« drängte der Tainu. »Sie haben

die Strafe verdient, denn viele unserer Männer mußten

heute sterben.«

»Das Morden muß endlich aufhören«, sagte Ismena

nachdenklich. »Yina, was schlägst du vor? Sollen wir

sie töten? Sollen wir sie festhalten, bis du mit König

Dragon gesprochen hast? Oder sollen wir sie einfach

jetzt freilassen, wenn sie uns versprechen, an ihre

Küsten zurückzukehren?«

Issola antwortete an Yinas Stelle:

»Warum reden wir nicht mit den anderen

Landmenschen in den Booten? Wir erzählen ihnen, daß

wir Gefangene haben und sie freilassen, wenn sie alle

abziehen und den Angriff einstellen. Damit zeigen wir

ihnen unseren guten Willen.«

»Der erzwungene Friede ist kein guter Friede«, gab

Ismena zu bedenken.

»Besser ein schlechter Friede als keiner, Mutter.«

»Was meinst du, Yina?«

Yina nickte Issola zu.

»Wir können erst dann von hier fort nach Myra,

wenn die Fischer abgezogen sind. Darum stimme ich

Issolas Vorschlag zu. Ich selbst will versuchen, mit den

Männern in den Booten zu sprechen.«

»Ich lasse dich nicht noch einmal zu ihnen«, sagte

Issola entschlossen. »Du wirst von der Insel aus mit

ihnen reden, im Schutz unserer Männer. Sie haben alle

Angreifer vom Land vertrieben, du bist sicher dort. Die

Felsen am Ufer bieten genügend Deckung gegen ihre

Speere und Pfeile.«

Ismena war einverstanden. Diesmal wählte Issola

einen Ausgang, der nur eine Mannslänge unter dem

Wasser einer stillen Bucht lag. Sie brauchten die

Muschel nicht. Yina hielt nur wenige Sekunden die

Luft an, dann schwamm sie neben Issola an der

Oberfläche.

Einige Tainu näherten sich von Land her. Issola rief

ihnen einige Worte in der melodischen und

vokalreichen Sprache der Tainu zu, dann kletterte sie

über die Uferfelsen und half Yina, festen Fuß auf der

Insel zu fassen.

Sie folgten einem schmalen Pfad, bis sie die Boote

vor der Küste sehen konnten. Die Männer in ihnen

machten keinen sehr unternehmungslustigen Eindruck

mehr.

Yina entdeckte das Boot mit dem alten Fischer.

Sie winkte, um ihn auf sich aufmerksam zu machen.

Einige Pfeile von den anderen Booten schwirrten

harmlos vorbei. Die Entfernung war zu groß, aber sie

reichte noch zur Verständigung aus.

»He, ich bin‘s!« rief Yina, so laut sie konnte. »Ich

muß euch etwas mitteilen!«

»Verräterische Hexe!« brüllte jemand zurück, aber es

war nicht der Alte. »Wir werden dich verbrennen,

wenn wir dich erwischen.«

»Was hast du uns zu sagen?« rief der alte Fischer,

und Yina konnte ihn nur verstehen, weil sie seine

Gedanken hörte. »Wo sind unsere Männer geblieben?«

»Gefangen. Es geht ihnen gut, und sie sind in

Sicherheit. Die Tainu hätten sie alle töten können, aber

wir werden sie freilassen, wenn ihr wegfahrt und nie

mehr zurückkehrt. Das ist das Angebot der

Fischmenschen. Wir erwarten eure Antwort.«

»Wer beweist uns, daß du die Wahrheit sprichst?‘ »

»Die Tat wird es beweisen. Zieht ab, und ihr könnt

eure Männer mitnehmen. Laßt zwei leere Boote am

Strand zurück. Sobald ihr weit genug entfernt seid,

lassen die Tainu ihre Gefangenen frei. Ich verspreche

es.«

Es folgte eine Beratung der Fischer. Yina verfolgte

sie aufmerksam durch Gedankenlesen. Der alte Mann

hatte einen schweren Stand gegen seine Gefährten,

aber er setzte sich durch – und er meinte es ehrlich.

»Einverstanden!« rief er schließlich zur Insel

herüber. »Wir bringen zwei Boote zum Strand und

entfernen uns dann. Sobald die Gefangenen zu uns

herauskommen, gehen wir auf Heimatkurs.«

Wieder sprach er die Wahrheit.

Issola gab den Tainu einige Anweisungen, dann

sagte sie zu Yina:

»Sie holen die Gefangenen aus der Höhle.

Hoffentlich machen die keine Schwierigkeiten, denn sie

sind noch bewaffnet.«

Aber alles ging gut. Die Tainu entfernten die

blockierenden Felsen aus dem Erdspalt und ließen die

Fischer einzeln herausklettern. Die Waffen blieben in

der Grotte zurück.

Sie warfen Issola und Yina erstaunte, wütende und

fragende Blicke zu, aber als sie die beiden leeren Boote

am Strand erblickten, begannen sie das Wunder zu

begreifen. Sie rannten zum Strand, kletterten in die

Boote und ruderten hastig davon, den anderen Booten

nach, die draußen auf dem Meer auf sie warteten.

Wenig später wurden die Segel gesetzt, und die

kleine Flotte entfernte sich schnell in westlicher

Richtung.

7.

Dragon sah auf, als Kano eintrat. »Hast du Nachricht

von Yina? «

»Eine Nachricht von Yina, ja.« Der Zwilling setzte

sich. »Sie hat eine merkwürdige Bitte geäußert.«

»Berichte!«

»Du sollst dich morgen mittag zur Bucht der Großen

Steine begeben und nur einige Vertraute mitbringen

Dort sollst du Yina erwarten.«

»Bucht der Großen Steine? Ausgerechnet dort?

Seltsam.«

»Finde ich auch. Kennst du die Bucht?«

»Natürlich kenne ich sie. Wenn wir reiten, brauchen

wir erst morgen Vormittag aufzubrechen. Du kommst

mit, Kim auch. Benachrichtige Partho, er soll uns

begleiten. Sonst hat Yina nichts verlauten lassen?«

»Nein, kein Wort. Hoffentlich ist das alles keine

Falle.«

Dragon lächelte.

»Ich dachte immer, du könntest Gedanken lesen?«

Kano zuckte die Schultern.

»Kann ich auch, aber ich bin eben von Natur aus

mißtrauisch.«

Dragon blieb ein wenig nachdenklich in seinem

Gemach zurück. An eine Falle glaubte er nicht, denn

nur wenige Menschen kannten die Bucht der Großen

Steine. Außerdem hätte Yina mit Sicherheit eine

entsprechende Gedankenbotschaft geschickt. Wer hätte

das schon kontrollieren sollen?

Außer ihr, Kano und Kim gab es keinen Menschen,

der noch Gedanken lesen konnte.

Oder doch?

Gegen Abend kam Partho, Dragons

Oberbefehlshaber und Chef der Leibwachen. Er mochte

die kleine »Maus« ebenfalls recht gern und war froh,

daß sie den Piraten entkommen war.

»Ich werde die Reittiere bereitstellen lassen, Dragon.

Ist es vielleicht nicht doch besser, wenn wir einige

Krieger mitnehmen?«

»Yina hat es ausdrücklich verboten.«

»Die Maus hat doch nichts zu verbieten, Dragon.«

»In diesem Fall müssen wir tun, worum sie bittet.

Sie wird ihre Gründe haben.«

»Die möchte ich aber gern kennenlernen.«

»Da bist du nicht allein, mein Freund. Wir sehen uns

morgen. Ich verlasse mich auf dich.«

»Keine Sorge, es wird bestens für alles gesorgt.«

Das ganze Unternehmen blieb geheim, auch darum

hatte Yina gebeten, und als Dragon einige Stunden

später im Bett lag und zu schlafen versuchte, gelang es

ihm nicht. Immer wieder mußte er über das

merkwürdige Verhalten Yinas nachdenken.

Es dämmerte bereits, als er endlich einschlief.

Auf dem Landwege, so rechnete sich Yina aus,

wären es bis zur Bucht der Großen Steine vier

Tagesmärsche gewesen, aber Issola versicherte ihr, daß

sie nur wenige Stunden für die Strecke benötigen

würden.

Nach dem Abzug der Fischer wurde in einer Bucht

ein kleines und ungewöhnlich leichtes Boot gefunden.

Issola gab einigen Tainu Anweisung, es für die

bevorstehende Reise vorzubereiten. Dann nahm sie

Yina beiseite und hielt ihr die offene Hand hin, in der

ein kleiner Metallgegenstand lag.

»Das ist eine Pfeife«, erklärte das Fischmädchen.

»Mit ihm kannst du die Delphine herbeirufen. Sie

hören den Ton auf große Entfernungen und kommen

sofort. Solltest du jemals auf dem Meer in Not geraten,

brauchst du nur hineinzublasen. Die Wasserbrüder, die

ihr Menschen Delphine nennt, werden kommen.«

Yina nahm die Pfeife und verbarg sie in ihrem Rock.

»Danke, Issola. Es wird mir schwerfallen, von dir

Abschied zu nehmen. Aber es muß wohl sein.«

»Wir sehen uns bald wieder«, versprach Issola

überzeugt.

Die letzte Nacht brach an, aber noch lange bevor der

Morgen graute, kamen Ismena und Issola, um die

Gedankenleserin zu wecken. Sie brachten noch einige

warme Ziegenfelle mit, einige Vorräte und Krüge mit

frischem Wasser. Niemand begleitete sie, als sie zum

Boot gingen, und jetzt erlebte Yina zum ersten Mal die

Wirkung der Delphinpfeife.

Issola blies hinein, und bereits Sekunden später

erschienen drei der großen Fische und ließen sich

willig die Zügel anlegen, die noch am Abend zuvor

von den Tainu angefertigt worden waren. Die anderen

Enden der Leinen wurden am Bug des Bootes befestigt.

»Sie werden uns ziehen?«

»Sehr schnell sogar, du wirst sehen«, sagte Issola.

»Wenn du öfter an unser Ziel denkst, kann ich ihnen

stets die Richtung angeben. Ob dein König am

vereinbarten Treffpunkt sein wird?«

»Er wird dort sein. Kano sagte es mir.«

Sie kletterten ins Boot, und dann mußte Yina sich

festhalten, um nicht herauszufallen. Die Delphine

zogen an. Die Bugwelle rauschte bis zum Bordrand

empor, obwohl die See völlig ruhig und glatt war. Es

wehte kaum ein Windhauch.

Allmählich verblaßten die Sterne, und als Yina sich

umdrehte, konnte sie die Insel schon nicht mehr sehen.

Sie waren schneller als jedes Schiff auf dem Meer und

jeder Reiter auf dem Land. In zwei Stunden legten sie

leicht einen Tagesritt zurück.

Als die Sonne aufgegangen war, hielt Issola die

Delphine an und tauschte sie gegen andere aus. Dem

Boot folgte eine ganze Herde von ihnen, und immer

wieder kamen neue hinzu.

Sie aßen und tranken von den mitgenommenen

Vorräten.

»Dort drüben siehst du bereits die Küste von Myra«,

meinte Ismena. »Die Große Insel ist rechts von uns. Ich

hoffe nur, daß uns niemand sieht. Der Anblick dürfte

für Landmenschen recht ungewohnt sein.«

Yina nutzte die Gelegenheit, Kontakt mit Kano

aufzunehmen.

»Du bist schon wach?« wunderte sie sich, als es

endlich klappte.

»Wir reiten bald los, in drei Stunden, wo bist du?«

»Auf dem Weg zur Bucht der Großen Steine.«

»Das kann ich mir denken. Willst du mir nicht

endlich verraten, was das alles bedeuten soll?«

»Du wirst es früh genug erfahren!«

»Maus!«

»Ratte!«

Es war wie üblich. Aber der Gedankenkontakt war

so klar, als sprächen sie miteinander. Kim mischte sich

ebenfalls noch ein:

»Mäuschen, wir sehen uns bald wieder! Ich bin

sicher, du reißt nicht so schnell wieder aus. Partho hat

versprochen, dich zu versohlen.«

»Der wird keine Zeit dazu haben«, prophezeite Yina

belustigt. »Kommst du mit?«

»Dragon, Partho, Kano und ich – die Elite des

myrianischen Reiches.«

Yina hatte »laut gedacht«, damit ihre beiden

Begleiterinnen wenigstens die eine Seite verstehen

konnten. Den Rest konnten sie sich zusammenreimen.

Immerhin wußten sie nun, daß der König selbst

unterwegs war, um mit ihnen zu reden.

Erneut zogen die Delphine an.

Sie erreichten die Bucht, als die Sonne ihren höchsten

Stand erreichte. Partho, der sichernd vorangeritten

war, winkte Dragon zu.

»Nichts zu sehen. Hier hat sich auch niemand

versteckt. Alles leer und verlassen. Auch ein Schiff

kann ich nicht sehen. Ich war oben auf den Klippen.«

»Reiten wir hinab zum Sandstrand«, schlug Dragon

vor.

Dort angelangt, stiegen sie von den Pferden, die

sofort im kargen Strandhafer zu weiden begannen.

Sie setzten sich auf einer Düne in den warmen,

trockenen Sand.

»Dort drüben ist etwas im Wasser«, stellte Dragon

plötzlich fest und beschattete die Augen, um besser

sehen zu können. »Ich kann es nicht erkennen, aber ein

Segler ist es nicht. Sieht mehr nach einem Boot aus,

aber es hat keine Segel. Und seht ihr auch die weiße

Bugwelle? Das ist unmöglich, kein Mann kann so

schnell rudern.«

Alle vier starrten in die angegebene Richtung, bis

Partho sagte:

»Ihr könnt ja ruhig behaupten, ich sei verrückt, und

vielleicht würde ich es sogar selbst glauben, aber wenn

mich nicht alles täuscht, kommt dort ein Boot, das von

Fischen gezogen wird.«

»Du bist verrückt!« entfuhr es Kim.

»Kim!« warnte Dragon.

Sonst sagte er nichts. Er hatte genug damit zu tun,

das zu begreifen, was er nun sah.

Partho war keineswegs verrückt oder einer

Sinnestäuschung zum Opfer gefallen.

Von drei Delphinen gezogen und von einer riesigen

Herde begleitet, bog das kleine Boot in die Einfahrt der

Bucht ein und kam schnell näher. In dem Boot saßen

drei Gestalten, von denen nun eine aufstand und der

Gruppe am Strand zuwinkte.

»Das ist Yina!« sagte Partho verblüfft. »Ich träume!«

Dragon ging als erster zum Strand hinab, nachdem

er seinen Begleitern einen Wink gegeben hatte.

Er begann einiges zu begreifen, denn er hatte schon

von den Fischmenschen gehört, ohne allerdings recht

an sie glauben zu wollen. Nun verstand er auch Yinas

Geheimnistuerei. Wenn es diese Fischmenschen

wirklich gab, hatten sie allen Grund, Furcht vor den

Menschen zu empfinden.

Die Zügel wurden gelöst, die Delphine kehrten in

tieferes Wasser zurück, wo sie sich mit den anderen

formierten und warteten.

Yina kam durch das seichte Wasser an Land

gewatet.

»Dragon, ich bin froh!« Sie drehte sich um. »Das

sind Ismena und ihre Tochter Issola. Sie hat mich aus

der Hand der Piraten befreit. Beide sind

Fischmenschen – und meine Freunde.«

Partho hatte sein Schwert gezogen und kam

langsam näher. Die Zwillinge warteten noch ab.

Dragon gab seinem Hauptmann einen Wink.

»Steck das Schwert ein, Partho. Wir haben Gäste,

sehr willkommene Gäste.« Er verneigte sich vor den

beiden Tainu. »Seid willkommen in Myra. Wollt ihr

das Boot nicht verlassen?«

Ismena stieg als erste aus, dicht gefolgt von Issola.

Ihre Gesichter drückten noch immer Furcht aus, aber

sie vertrauten Yina, die nun Partho und die Zwillinge

begrüßte. Dragon führte die beiden Fischmenschen zur

Düne und bat sie, Platz zu nehmen. Ehe er eine Frage

stellte, ließ er Yina berichten.

Sie hörten alle zu, ohne sie zu unterbrechen. Partho

ließ die beiden Fischmenschen nicht aus den Augen,

aber aus seinem Mißtrauen wurde allmählich

Neugierde. Besonders Issola gefiel ihm gut.

Er ahnte noch nicht, daß sie seine Gedanken lesen

konnte, und als er es wenig später erfuhr, wurde er

richtig verlegen.

Yina schloß ihren Bericht:

»Dragon, Ismena ist die Stammesmutter der Tainu

und damit ihre Führerin. Sie ist zu dir gekommen, um

den ewigen Frieden zwischen ihrem und unserem Volk

zu erbitten. Kannst du ihr helfen?«

Dragon überlegte keine Sekunde.

»Der Friede zwischen dem Volk von Myra und dem

Volk der Tainu wird zum Gesetz«, sagte er. »Niemals

mehr wird ein Fischer einen Tainu töten, wenn er nicht

selbst mit dem Tode bestraft werden will. Auch die

Delphine werden unter Schutz gestellt werden und

dürfen nicht mehr gejagt werden. Ist es das, was du

willst, Ismena?«

Sie streckte ihm beide Handflächen entgegen, die er

mit den seinen berührte.

»Ja, es ist der Friede zwischen unseren Völkern, den

die Tainu seit vielen Hunderten von Sonnen suchten.

Es wird die Zeit kommen, in der die Landmenschen

unserer Hilfe bedürfen, und wenn sie den jetzt und

hier geschlossenen Frieden gehalten haben, werden wir

ihnen die erhoffte Hilfe nicht versagen. Wir haben viele

gemeinsame Feinde.«

Dragon nickte. »Ihr habt mein Wort, Ismena und

Issola, daß von nun an Friede zwischen uns herrschen

wird. Und bald werden wir eure Abordnung offiziell in

meinem Palast empfangen. Wir freuen uns darauf.«

Kano und Kim hatten Holz gesammelt und ein

Feuer angezündet. Das war alles, was sie im

Augenblick tun konnten, aber sie hatten festgestellt,

daß auch die beiden Fischmenschen Gedanken lesen

konnten.

Partho sah ununterbrochen Issola an, der seine

heimlichen Gedanken allmählich peinlich wurden.

Dragon bemerkte es und sagte trocken:

»Partho, kannst du immer nur an das eine denken?«

Der Hauptmann sah Dragon verblüfft an.

»Seit wann kannst du Gedanken lesen?«

»Das ist nicht nötig, Partho, dein Gesichtsausdruck

genügt.«

Issola erhob sich lächelnd.

»Er ist ein Mann, König Dragon, und ich bin, so

glaube ich, nicht gerade häßlich. Zürnt ihm also nicht.

Seine Gedanken sind ehrlich, das ist die Hauptsache.

Lebt wohl – und vielen Dank für den Frieden, den ihr

uns geben wollt.«

Auch Ismena verabschiedete sich und stieg ins Boot.

Issola pfiff die Delphine herbei, die sich willig

einspannen ließen und das kleine Schiff aus der Bucht

zogen.

Yina, die bewegt Abschied von ihrer Freundin Issola

genommen hatte, stand ein wenig abseits und winkte,

bis die Tainu um das Kap bogen.

Gesenkten Hauptes kehrte sie zu Dragon und den

anderen zurück.

»Nun bin ich wieder bei euch«, sagte sie einfach.

Dragon schloß sie in die Arme.

»Und du hast etwas Großes vollbracht, Maus. Du

hast bewirkt, daß zwei Völker Frieden schlossen. Das

werden wir dir nie vergessen. Ich werde das neue

Gesetz noch heute ausarbeiten und morgen verbreiten

lassen. Todesstrafe für jeden, der einen Tainu umbringt

oder auch nur fängt. Die Delphine werden vom Fang

ausgeschlossen werden. Für mich ist jeder ein Freund,

der den Frieden will.«

Partho nahm Yina vor sich aufs Pferd, als sie

aufbrachen.

Etwas zögernd meinte er:

»Sie ist sehr hübsch, deine neue Freundin. Sie würde

mir schon gefallen.«

Yina sagte mit ausdruckslosem Gesicht:

»Sie hat schon einen Tainu für sich ausgewählt,

Partho. Außerdem ist sie Gedankenleserin. Ich auch,

daher weiß ich, was du gedacht hast, als du sie ständig

anblicktest. Du solltest dich schämen.«

Der Hauptmann war so verblüfft, daß er eine Stunde

lang schwieg.

ENDE

Während die Tainu, bislang von allen Landbewohnern

gnadenlos verfolgt und gejagt, im Schutze Myras endlich

eine neue, relativ sichere Wohnstätte gefunden haben,

entbrennt auf der Schlangeninsel, dem Reich König Jellis‘

und der Bruderschaft, ein Streit der Mächtigen und der

Angriff gegen Myra wird vorbereitet.

Mehr zu diesem Thema berichtet Hugh Walker im nächsten

Dragon-Band. Der Roman trägt den Titel:

DER SCHLANGENGOTT


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