1.
Xenon, der Fischer und Jäger, lag schon seit Stunden
auf der Lauer. Unten, in der kleinen Bucht, schaukelte
sein Boot, mit dem er zu der namenlosen, kleinen Insel
gekommen war. Den ganzen Tag und die halbe Nacht
war er unterwegs gewesen, aber er hatte die Richtung
nicht verloren Xenon wußte sich nach den Sternen zu
richten.
Die Felldecke, mit der er sich zu schützen versuchte,
war naß und klamm. Noch war die Sonne nicht
aufgegangen, und es war kalt und feucht. Draußen auf
dem Meer, nach Westen zu, tanzten weiße
Schaumkronen. Im Nordwesten stand eine dunkle
Wolkenbank über dem Horizont.
Das bedeutete Sturm.
Xenon verfluchte seinen Entschluß, zu der
namenlosen Insel gekommen zu sein, denn wenn sich
das Wetter tatsächlich veränderte, saß er hier fest, ein
oder zwei Tagesreisen von seiner größeren Heimatinsel
entfernt, die dem Festland vorgelagert war. Im Mond
des Hirsches gab es nur selten Stürme, aber wenn sich
der Wettergott dazu entschloß, den Menschen Wind zu
schicken, dann konnte es sehr gut ein Orkan werden.
Xenons Schiff war klein, drei Manneslängen maß es
vielleicht. Genauso hoch war auch der Mast, an dem
das Segel nun festgebunden wartete, zur Rückreise
vom Wind aufgebläht zu werden. Mit viel Geschick
hatte Xenons Vater das Boot selbst gebaut und dabei
nicht versäumt, einen besonders schweren Kiel aus
Metall an der Unterseite anzubringen. Kentern konnte
das Boot nicht, wohl aber sinken, wenn es voll Wasser
schlug.
Er fröstelte, als die Sonne hinter ihm über den
Felsenklippen aufging.
Die Felsklippen glühten auf, als die ersten Strahlen
sie berührten, aber es blieb noch immer kalt. Vielleicht
hätte Xenon Holz gesammelt und Feuer angezündet,
aber der Schein der Flammen würde seine Beute
verscheuchen.
Und ohne Beute wollte er nicht heimkehren. Er hatte
den Mund reichlich voll genommen, als sie vor fünf
Tagen abends am Lagerfeuer im Hafen saßen und sich
gegenseitig ihre Erlebnisse berichteten.
An diesem Abend kreiste der Weinkrug
unermüdlich und wurde immer wieder neu angefüllt.
Sie hatten auch allen Grund dazu, denn wenige Tage
zuvor war ein Schiff gestrandet, dessen Ladung aus
kostbaren Gewürzen und besten Weinen bestand, die
von den Wellen an den Strand gespült wurden. Viele
der Amphoren waren nicht zerbrochen und lagen im
weichen, feuchten Sand.
Das Schiff selbst war auf die Klippen gelaufen, die
vor der Insel tückisch unter dem Wasser auf ihr Opfer
warteten. Vielleicht war es sogar ein Piratenschiff von
der Schlangeninsel gewesen, aber das würde niemand
mehr erfahren, denn es gab keine Überlebenden. Alle
waren in der dunklen Nacht ertrunken.
Und dann, als die Männer trunken waren, hatte
einer von ihnen behauptet, schon einmal einen
Fischmenschen erlegt zu haben.
Er war ausgelacht worden, denn die Fischmenschen
waren nur eine Sage. Noch nie hatte jemand einen
Fischmenschen mit eigenen Augen gesehen, wenn auch
viel über sie berichtet wurde.
In die Zange genommen, erklärte der Mann, er sei
zu der Insel ohne Namen gefahren, weit im Westen,
zwei oder drei Bootstage bei ungünstigem Wind, weil
dort die Fischmenschen lebten. Und dort sei vor seinen
Augen eine ganze Herde von ihnen aus dem Wasser
gestiegen, um Fleisch zu jagen. Es gäbe wilde Ziegen
dort, und auch Kaninchen, behauptete der Fischer, den
alle für einen Lügner hielten.
Xenon lauschte andächtig, denn auch er hatte schon
von den sagenhaften Fischmenschen gehört, aber nie so
richtig an sie geglaubt. Und nun erzählte ein Mann
seines Dorfes, er habe schon einen getötet.
»Ich lag in einer Felsspalte und konnte sie genau
sehen. Sie haben Schwimmhäute zwischen Fingern und
Zehen, und sie sind fast nackt. Bewaffnet waren sie
auch, mit Speeren und Lanzen, während ich nur eine
Keule bei mir hatte. So mußte ich warten, bis einer von
ihnen so unvorsichtig war sich meinem Versteck zu
nähern.«
»Und dann?« lallte einer der Betrunkenen.
»Dann habe ich ihn erschlagen.«
Xenon hatte gefragt:
»Wenn du ihn erschlagen hast, warum hast du ihn
dann nicht als Beweis mitgebracht? Niemand würde
sich so etwas entgehen lassen. Wer soll dir deine
Geschichte glauben?«
»Du bist ein Dummkopf«, hatte der Fischer
erwidert. »Wie soll ich den erschlagenen
Fischmenschen mitbringen, wenn sie selbst ihn kurz
darauf fanden und ich froh sein konnte, nicht von
ihnen entdeckt und getötet zu werden? Sie nahmen die
Leiche und stiegen zurück ins Meer, aus dem sie
gekommen waren. Aber glaubt mir, die Geschichte ist
wahr.«
Man hatte vor Vergnügen gejohlt und
weitergetrunken, bis die Frauen kamen und ihre
Männer ins Bett zerrten.
Xenon hatte keine derartigen Probleme, denn er
besaß weder Weib noch Kinder. Einsam lebte er in
seiner Hütte, aber er war ein guter Fischer und Jäger.
Der Bericht von den Fischmenschen ließ ihm keine
Ruhe mehr. Schon am anderen Tag ließ er sich von
dem Mann, der die Geschichte aufgebracht hatte, die
namenlose Insel beschreiben und die Lage der
geschützten Felsbuchten erklären.
Sein Interesse blieb nicht unbeachtet. Und so kam es,
daß er zwei Tage später sein Boot mit Lebensmitteln,
Trinkwasser und einigen Werkzeugen ausrüstete und
vor aller Augen in See stach. Er hatte versprochen,
einen erlegten Fischmenschen mitzubringen.
Und nun hockte er über den Klippen und wartete.
Der Wind hatte schon ein wenig aufgefrischt, aber
allmählich wurde es wärmer. Unten in der Bucht
schaukelte das Boot immer stärker, aber es lag sicher
vertäut zwischen den Felsen im tiefen Wasser. Rechts
und links waren weitere Buchten.
Xenon überprüfte den Köcher mit den Pfeilen. Die
Spitzen bestanden aus scharfen Fischgräten, die tiefe
Wunden rissen. Er verließ sich lieber auf seinen Bogen
als auf einen Speer oder auf eine primitive Keule. Er
wollte aus der Entfernung töten, denn er war nicht
gerade ein Held.
In einer der Buchten kräuselte sich plötzlich das
Wasser. Nur eine schmale Einfahrt trennte es vom
offenen Meer, deshalb war das Wasser so ruhig und
fast unbewegt. Aber nun waren auf einmal Wellen
vorhanden, die sich kreisförmig nach allen Seiten
verbreiteten und gegen die Ufer schlugen.
Was konnte die Wellen verursacht haben?
Xenon legte den Bogen und die Pfeile griffbereit
neben sich und beugte sich dann weiter vor, um besser
sehen zu können. Die Sonne war inzwischen
weitergestiegen, aber ihre Strahlen konnten die
Buchten an der Westseite der Insel, die steil und felsig
war, noch nicht erreichen.
Ein Delphin!
Enttäuscht rutschte Xenon in sein Versteck zurück.
Natürlich war auch ein Delphin eine willkommene
Beute, aber heute wollte er einen größeren Fang
machen. Er wollte einen Fischmenschen erlegen, nicht
mehr und nicht weniger. Sie sollten ihn im Dorf
bewundern und seinen Mut anerkennen. Was nützte
es, als guter Fischer und Jäger zu gelten, wenn man nur
Delphine, wilde Ziegen und Kaninchen erlegte? Die
jungen Frauen sahen einen nicht einmal an deswegen.
Trotzdem beobachtete er den Delphin, nur nicht
mehr so angespannt wie vorher.
Der große Fisch, mehr als eine Mannslänge
messend, zog seine Kreise in der Bucht. Es sah ganz so
aus, als suche er etwas. Oder er paßte auf etwas auf,
das Xenon nicht sehen konnte, weil es unter der
Wasseroberfläche verborgen lag. Einmal sprang er
sogar hoch in die Luft und drehte sich um sich selbst,
ehe er wieder zurückfiel.
Xenon duckte sich noch tiefer, obwohl es ihm egal
sein konnte, ob ein Fisch ihn jetzt sah oder nicht.
Immerhin tauchte der Delphin weg und blieb
verschwunden.
Xenons Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.
In der Bucht beruhigte sich das Wasser wieder. Alles
war so ruhig und still wie vorher. Der Delphin mußte
davongezogen sein. Oder etwa nicht?
Xenon beugte sich weiter vor, um besser sehen zu
können.
Seine Geduld wurde belohnt.
Wieder kräuselte sich das Wasser, aber diesmal war
es nicht der Delphin, der die erneute Unruhe
verursachte. Mindestens zwei Dutzend große Fische
durchbrachen die Oberfläche und erzeugten durch ihre
schnellen Bewegungen einen solchen Wirbel, daß
Xenon nicht mehr in der Lage war, Einzelheiten zu
erkennen. Erst als einer der Fische zum Land
schwamm – und aus dem Wasser kam, erkannte er die
Wahrheit.
Der Fisch war kein Fisch, sondern ein Mensch.
Er war etwa dreiviertel Mannslänge groß und nackt.
Seine Haut war bleich, wie seine Haare, die ihm bis zur
Schulter herabfielen. Mehr konnte Xenon auch nicht
sehen, denn die Entfernung war zu groß. Aber er
zweifelte keine Sekunde mehr an dem Bericht des
betrunkenen Fischers und wußte, daß die
Fischmenschen keine bloße Sage waren. Nur mußte es
sich bei den von ihm beobachteten um junge
Fischmenschen handeln, denn die erwachsenen waren
größer.
Sie spielten.
An der schmalen Einfahrt des natürlichen
Hafenbeckens tauchten ein halbes Dutzend Delphine
auf. Ihre Formation ließ darauf schließen, daß sie die
Bucht gegen das offene Meer abgrenzten. Zum ersten
Mal kam Xenon der phantastische Gedanke, die
Delphine könnten mit den Fischmenschen eine Art
Vertrag geschlossen haben.
Er verwarf ihn sofort wieder. Immerhin sah er
verwundert zu, wie die jungen Gestalten sich im
Wasser tummelten, auf die flachen Felsen kletterten
und wieder in das feuchte Element zurücksprangen.
Sie waren durchaus unbekümmert und arglos. Das
Boot in der Nebenbucht schienen sie nicht entdeckt zu
haben, sonst müßten sie wissen, daß jemand auf der
Insel war.
Xenon widerstand der Versuchung, eins der jungen
Wesen mit dem Pfeil zu erlegen. Wenn schon, dann
wollte er auch ganz sichergehen. Vielleicht brauchte er
die Jungen nicht zu fürchten, wohl aber die Alten. Und
niemand wußte, wie lange sie sich außerhalb des
Wassers aufhalten konnten.
Erst recht wußte niemand, wie gefährlich sie sein
konnten.
Natürlich gab es auch darüber Geschichten, von
denen man nicht wußte, ob man sie ernst nehmen sollte
oder nicht. Fischer erzählten, ihre Boote seien von
Fischmenschen gekapert und ausgeraubt worden.
Außerdem stand fest, daß die besten Fischgründe nach
dem ersten Auftauchen der Wassermenschen plötzlich
unergiebig wurden. Also waren sie zumindest
schädlich.
Xenon tat nur ein gutes Werk, wenn er sie tötete.
Alles, was fremd war, mußte getötet werden – so
dachte Xenon, denn er war ein Mensch.
Aber wie?
In seinem Eifer, die jungen Fischmenschen zu
beobachten, war er unvorsichtig gewesen. Er hatte sich
zu weit aus seiner Deckung hervorgewagt. Plötzlich
hörte er ein helles Zirpen und Pfeifen, und von einer
Sekunde zur anderen verschwanden die seltsamen
Wesen unter der Wasseroberfläche.
Die Delphine hingegen blieben.
Sie schwammen Kreise in der Bucht, und dann
tauchte einer nach dem anderen unter und kehrte nicht
mehr zurück.
Xenon nahm Bogen und Pfeile und machte sich an
den Abstieg.
Die ganze Insel war kahl, die Vegetation nur
spärlich. Sie reichte nur für die paar wilden Ziegen und
Kaninchen, die auf ihr lebten. Dann gab es noch die
dornigen Büsche mit den roten Früchten, die bitter
schmeckten, aber den Durst löschten. Sonst wuchs
nichts.
Die Felsen waren teils glatt, teils zerklüftet. An
einigen Stellen gab es natürliche Zisternen, in denen
sich das Regenwasser sammelte. Die Fischer erzählten,
daß sie schon manchem Schiffbrüchigen das Leben
gerettet hatten.
Eine solche Zisterne fand Xenon beim Abstieg.
Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, denn
Wasser war selten auf den Inseln. Vorsichtig legte er
Bogen und Köcher auf einen flachen Stein und kletterte
in den engen Schacht, um zum Wasserspiegel zu
gelangen. Der lag mindestens drei Mannslängen unter
ihm.
Er trank durstig und hastig. Der Anblick der
sagenhaften Fischmenschen hatte ihn stark erregt – und
unvorsichtig gemacht. Er unterschätzte sie, weil er sie
nicht für intelligente Lebewesen hielt. Für ihn waren
sie Tiere, die es zu erlegen galt. Außerdem waren sie
schädlich, wie jedermann wußte. Und hinzu kam, daß
er geprahlt hatte. Ohne einen toten Fischmenschen
würde er nicht zurückkehren, hatte er verkündet.
Er wollte sein Wort halten.
Als er keinen Schluck mehr herunterbringen konnte,
begann er wieder an den Wänden der Zisterne
emporzuklettern. Er sah nach oben und konnte den
Himmel sehen, und gegen die Helligkeit gewährte er
die Schatten, die sich bewegten und deren fahle
Gesichter zu ihm herabsahen.
Der Atem stockte ihm, und er blieb auf einem
winzigen Felsvorsprung stehen. Er war waffenlos. Sein
Bogen lag am oberen Rand der Zisterne. Er hatte nur
sein kurzes Messer, das er zum Ausnehmen der
erbeuteten Fische benutzte. Als Waffe war es nutzlos.
Eine melodisch klingende Stimme sagte, kaum
verständlich und in einem fremden Dialekt:
»Komm herauf, wir tun dir nichts.«
Sie können sprechen! dachte Xenon erleichtert und
entsetzt zugleich. Sie verstehen unsere Sprache! Das ist
doch nicht möglich!
Aber er kletterte weiter.
Als er den Rand des Brunnens erreichte, halfen ihm
zwei der fremdartigen Geschöpfe, festen Fuß zu fassen.
Abseits sah Xenon seinen Bogen neben dem gefüllten
Köcher liegen. Sie standen um ihn herum, mindestens
zwei Dutzend halbnackter Gestalten, nur mit
Lendenschürzen bekleidet, die aus Fischhaut
hergestellt waren.
»Was suchst du hier?«
Wieder dieser unbekannte Dialekt, den Xenon
jedoch halbwegs verstand. Man sprach ihn in den
Ländern des Westens, dort, wo die Welt zu Ende war.
»Ich bin ein Fischer von der großen Insel im Osten«,
sagte er, weil ihm nichts anderes einfiel. »Der Wind
trieb mich hierher.«
»Der Wind«, sagte der Fischmann, »kommt aus der
anderen Richtung. Du lügst.«
Sie trugen keine Waffen, wie Xenon sehen konnte.
Wenn er an seinen Bogen herankam, konnte es ihm
vielleicht gelingen, einige von ihnen zu töten und dann
zu fliehen. Er mußte es versuchen, ehe sie ihn
umbrachten.
»Ich lüge nicht. Gestern kam der Wind von Osten.
Ich war froh, diese Insel zu erreichen. Wer seid ihr?«
Die Frage war berechtigt, denn sie sahen zwar aus
wie Menschen, aber sie waren keine.
Sie waren überdurchschnittlich groß, schlank und
feingliedrig. Zwischen Fingern und Zehen waren die
Ansätze von Schwimmhäuten zu erkennen. Die
Brustkörbe waren ungewöhnlich umfangreich und
ließen auf große Lungen schließen. Die Haare waren
fast weiß und hingen herab bis zu den Schultern. Sie
stachen kaum von der blassen Haut ab.
Die Ohren waren nur sehr klein und kaum als solche
zu erkennen. Dicht dahinter konnte Xenon schmale
Schlitze erkennen. Sie erinnerten ihn an die Kiemen der
Fische. Jetzt, an der Luft, waren sie geschlossen.
Sonst unterschieden sie sich nicht von gewöhnlichen
Menschen.
»Wir sind das Volk der Tainu, und wir sind
friedfertig. Die Menschen jagen und töten uns, weil wir
fremd für sie sind. Auch du bist auf der Suche nach
uns, um uns zu töten, deine Waffen beweisen es. Es
sind nicht die gewöhnlichen Waffen der Fischer. Was
haben wir dir getan?«
Xenons Mut kehrte allmählich zurück. Die
Fischmenschen schienen in der Tat harmlos und damit
dumm zu sein. Er hatte erwartet, von ihnen sofort
getötet zu werden, und nun sprachen sie mit ihm.
Vielleicht kam er noch einmal mit heiler Haut davon.
Aber er konnte nicht nach Hause zurückkehren, ohne
sein Versprechen eingelöst zu haben.
»Ich wollte keinen von euch töten. Ich wollte mich
nur überzeugen, ob es euch gibt. Es gibt viele
Geschichten, aber niemand glaubt an sie. Ich wollte es
genau wissen, darum kam ich hierher. Kann ich nun
gehen?«
»Du kannst gehen und deinem Volk berichten, daß
wir in Frieden leben wollen. Nimm deine Waffen.«
Sie öffneten den Kreis und gaben den Weg frei.
Xenon war viel zu überrascht, um ihnen zu danken.
Mit wenigen Schritten war er bei seinem Bogen, nahm
ihn auf und hing sich den Köcher mit den Pfeilen um.
Nur einen einzigen Blick warf er noch zurück, dann
hastete er davon.
Er wagte den offenen Angriff nicht, auch wenn die
Fischmenschen unbewaffnet waren.
Sein Plan war, ein Stück von der Insel fortzufahren
und dann, wenn es dunkel geworden war,
zurückzukehren. Diesmal würde er in einer anderen
Bucht ankern und sich abermals auf die Lauer legen.
Bei seinem Boot angelangt, sah er zurück. Von den
Fischmenschen, die ihn bei dem Brunnen überrascht
hatten, war nichts zu sehen. Die Insel war so verlassen
wie vorher. Sie schien unbewohnt zu sein.
Aber er hörte das Plätschern von Wasser. Es mußte
aus der anderen Bucht kommen, die von der seinen nur
durch ein hohes Riff getrennt war. Spielten dort noch
die Jungen der Fischmenschen?
Er löste die Verankerung des Bootes und ließ es frei
in der Bucht treiben, nur noch ein einziges Tau verband
es mit dem Ufer, so daß er es leicht heranziehen
konnte. Und wenn ihm sein Vorhaben gelang, mußte
das sehr schnell geschehen. Einmal im Boot, konnten
ihm die Fischmenschen nicht mehr viel anhaben, dafür
würden schon Pfeil und Bogen sorgen.
Er kletterte an den Felsen hoch, die beide Buchten
trennten. Vorsichtig kroch er bis zum höchsten Rand
vor, bis er, nur von einigen Büschen in der Sicht ein
wenig behindert, das andere Hafenbecken sehen
konnte.
Seine Vermutung erwies sich als richtig.
Sieben oder acht junge Fischmenschen tollten in
dem glasklaren Wasser und zeigten ihre erstaunlichen
Kunst im Tauchen. Xenon konnte ihre weißen Körper
tief in den Fluten versinken sehen, bis hinab zum
Grund, wo sie länger blieben, als es je ein Mensch
ausgehalten hätte. Sie schienen unter Wasser zu atmen,
aber Xenon war sich nicht sicher.
Er hätte leicht einen oder zwei von ihnen aus seinem
Versteck töten können, aber dann wäre er ohne Beweis
nach Hause zurückgekehrt.
An der engsten Stelle zur Bucht standen wieder die
Delphine. Es schien wahrhaftig so zu sein, daß sie auf
die spielenden Fischmenschenkinder aufpaßten. In
diesen Gewässern gab es gefährliche Raubfische.
Die Delphine störten Xenon nur wenig. Er hatte
schon genug von ihnen gefangen und ihr
wohlschmeckendes Fleisch verkauft. Sie waren
harmlos, darum hatte er auch keine Angst vor ihnen.
Vorsichtig zog er sich zurück. Er hatte seinen
ursprünglichen Plan geändert.
Hastig zog er sein Schiff ans Ufer, sprang hinein und
löste die Halteleine. Der Wind war stärker geworden,
und die Wolkenwand zog nun südwärts. Mit einem
Orkan war nicht mehr zu rechnen, und wenn, dann
würde er an ihm vorbeiziehen.
Er legte die Segel bereit, so daß er sie schnell und
ohne Umstände aufziehen konnte. Dann nahm er das
Ruder und steuerte das Boot aus der Bucht. Dicht am
Ufer bleibend, verließ er sie. Die Wellen gingen bereits
recht hoch, und es war schwer, das Schiff in der Gewalt
zu behalten. Immer wieder drohten die Wogen, es
gegen die Felsen zu schleudern, was seinen Untergang
bewirkt hätte.
Aber dann wurde das Wasser wieder ruhiger. Xenon
hatte die Einfahrt zur Nachbarbucht erreicht. Noch
einige Ruderschläge, und er wurde mit den
Dünungswellen regelrecht hineingeschoben.
Die Delphine tauchten sofort unter.
Er griff nach dem Bogen und legte einen Pfeil auf
die Sehne.
Drei junge Fischmenschen waren an der Oberfläche.
Sie hatten das Boot noch nicht gesehen und waren
arglos. Vielleicht verließen sie sich auf die Delphine,
oder sie glaubten einfach nicht an eine Gefahr.
Xenon zielte sorgfältig, ehe er den Pfeil von der
Sehne schnellen ließ. Er traf sein Ziel mit tödlicher
Sicherheit, und noch ehe das getötete Junge in die Tiefe
sinken konnte, war er mit dem Boot heran und zog
seine Beute über Bord. Hastig sah er sich nach einem
zweiten Opfer um, aber die anderen Fischmenschen
waren getaucht. Er nahm das Ruder und begann mit
aller Kraft zu paddeln, um aus der Bucht
herauszukommen.
Als er hundert Manneslängen vom felsigen Ufer
entfernt war, zog er das Segel auf. Mit einem Satz war
er dann beim Ruder, um das Boot richtig in den Wind
zu legen. Es nahm sofort Fahrt auf und schoß davon,
zuerst nach Norden, und dann, als er das Kap
umrundet hatte, mit doppelter Geschwindigkeit nach
Osten.
Die Wogen gingen hoch. Brecher über Brecher
schlug gegen die niedrigen Aufbauten und begannen,
das Schiff mit Wasser zu füllen. Xenon befestigte das
Ruder und begann zu schöpfen. Wenn das Boot vollief,
war er verloren.
Er blickte zurück.
Die namenlose Insel verschwand immer wieder
hinter den hohen Wellenbergen, die ihn langsam
einholten und unter ihm hinwegrollten. Er lenkte ein
wenig mehr in südöstliche Richtung. Die Brecher
hörten fast ganz auf. Auf den riesigen und langen
Wogen ritt er seiner Heimatinsel entgegen, dessen
höchste Bergspitze er manchmal als winzigen Punkt
am Horizont erkennen konnte. Der Himmel im Osten
war wolkenlos und blau.
Dann sah er plötzlich die Delphine.
Ihre Rückenflossen durchschnitten die
Wasseroberfläche wie scharfe Messer. Sie bildeten eine
Formation und begannen, das Boot regelrecht
einzukreisen. Xenon befestigte das Ruder wieder und
griff nach Pfeil und Bogen. Wenn die Fische die
Verbündeten der Wassermenschen waren, durfte er sie
nicht zu nahe herankommen lassen. Aber sein Boot war
zu schwer, um von ihnen umgeworfen werden zu
können.
Es fiel Xenon nicht leicht, alle Seiten gleichzeitig im
Auge zu behalten. Die Delphine aber waren überall.
Manchmal sprangen sie in die Höhe, als wollten sie
sehen, was er in seinem Boot hatte.
Links schlug etwas gegen die Bordwand, und als er
hinüberrutschte, um nach der Ursache zu sehen,
schwangen sich auf der rechten Seite zwei kräftige
Fischmänner über den Holzrand und fielen ins Boot.
Sie waren sofort wieder auf den Beinen und entrissen
Xenon den Bogen, um ihn ins Meer zu werfen.
Xenon war so überrascht, daß er sich nicht rühren
konnte. Fassungslos setzte er sich auf die Ruderbank,
den Pfeil noch in der Hand. Vor ihm lag der tote
Fischmensch. Seine Füße berührten ihn fast.
»Du hast ein Kind ermordet«, sagte der eine der
Wassermänner. »Dafür wirst auch du sterben müssen!«
Er griff mit starker Hand nach dem vor Angst
zitternden Xenon, während der andere ihm den Pfeil
abnahm und über Bord warf. Der Köcher folgte
unmittelbar danach.
Inzwischen waren drei weitere Fischmenschen an
Bord geklettert. Ohne ein Wort zu sagen, nahmen sie
den Leichnam des Jungen und stiegen ins Wasser
zurück. Es war wie ein Spuk, als sie lautlos in die Tiefe
sanken.
Xenon wollte aufspringen, aber er wurde
festgehalten.
»Hör unser Urteil!« sagte der Sprecher von vorhin.
»Du bist zu uns gekommen, um uns zu töten – und du
hast auch einen von uns getötet. Dafür werden wir dich
mit uns nehmen, hinab bis zum Grund des Meeres.
Dort sollst du leben, wenn du nicht ertrinkst.«
Xenon wehrte sich mit verzweifelter Kraft, als sie
ihn ergriffen und zum Rand des Bootes schleppten,
aber es nützte ihm nichts. Überall im Wasser sah er die
Köpfe der Fischmenschen, die seiner Hinrichtung
zuschauten. Wenn noch ein kleiner Funke Hoffnung in
ihm gewesen war, so erlosch er jäh. Gegen diese
Übermacht hätte er nicht ankämpfen können, selbst
wenn er bewaffnet gewesen wäre.
Er holte noch einmal tief Luft, als sie ihn über Bord
stießen. Er sank eine Manneslänge in die Tiefe, dann
brachte ihn die Kraft seiner Arme wieder an die
Oberfläche. Ehe er richtig atmen konnte, waren sie an
seinen Beinen und zogen ihn hinab in das unendliche
Blau des nassen Himmels.
Er öffnete die Augen und konnte sie sehen. Sie
umschwammen ihn mit grazilen Bewegungen, so als
tanzten sie. Zwei von ihnen waren an seinen Beinen
und zogen ihn immer tiefer.
Als seine Lungen zu bersten drohten, ließ er die Luft
aus.
Und dann atmete er tief ein, bis seine Lungen mit
Wasser gefüllt waren. Für einen winzigen Augenblick
war ihm so, als könne er wirklich im Wasser atmen,
aber dann kreisten rote Ringe vor seinen Augen, und er
verlor das Bewußtsein.
Sein letzter Gedanke war: so also ist es, wenn man
ertrinkt ...
Sie ließen ihn los und schwammen davon.
Auf der großen Insel aber warteten die Fischer
vergeblich auf Xenons Rückkehr. Einige Tage später
fanden herumstreifende Jäger sein Boot. Es war auf den
flachen Strand einer Bucht gespült worden, aber Xenon
war nicht in ihm. Dafür fanden sie ein Stück Fischhaut,
das ungewöhnlich glatt war und eine dreieckige Form
besaß.
Sie nahmen es mit ins Dorf und zeigten es herum.
Der Mann, der damals am Lagerfeuer die Geschichte
von den Fischmenschen erzählt hatte, rief:
»Ich habe es euch doch gesagt, aber ihr wolltet mir
nicht glauben! Die Wassermenschen tragen es, sie
kleiden sich damit. Xenon ist von ihnen ermordet
worden. Sie sind Bestien und gehören ausgerottet.«
Und zum ersten Mal in ihrem Leben begannen die
Fischer wirklich an die Geschichte von den sagenhaften
Fischmenschen zu glauben.
Das Mädchen mochte siebzehn Sommer alt sein und
war alles andere als eine Schönheit. Obwohl klein von
Statur, wirkte sie ihrer Dürre wegen
hochaufgeschossen. Ihr etwas spitzes Gesicht erinnerte
an das einer Maus, und so hatte sie sich auch daran
gewöhnt, von den meisten ihrer Freunde so genannt zu
werden.
Die »Maus« Yina besaß ein außergewöhnliches
Talent: Sie konnte Gedanken lesen. Dem neuen König
des myranischen Reiches, Dragon, hatte Yinas Gabe
schon oft geholfen, und so war es auch kein Wunder,
daß das Mädchen im Königspalast wohnte und ein
eigenes Gemach besaß.
Sie hätte wirklich allen Grund gehabt, glücklich und
zufrieden zu sein, denn sie gehörte zu Dragons Gefolge
und besten Freunden. Sie hatte alles, was sie sich
wünschen konnte, und Sorgen hätten ihr fremd sein
müssen.
Aber es waren auch nicht Sorgen, die Yina
bedrückten. Es war etwas ganz anderes, das sie bis vor
kurzem noch nicht gekannt hatte. Es begann mit einem
flüchtigen Gedanken, dann schien sich das Herz
zusammenkrampfen zu wollen. Alles wurde schwer,
unsagbar schwer, das Leben schien unerträglich zu
werden und die ganze Welt unbeschreiblich häßlich
und leer.
Das alles geschah öfter als nur einmal am Tag, aber
am schlimmsten waren die einsamen Nächte, wenn sie
in ihrem Bett unter den kostbaren Decken lag und den
Schlaf herbeiwünschte, der lange nicht kommen wollte.
Sie hielt die Augen geschlossen und sah Bodo vor sich,
den jungen Jäger, der nach dem Sieg über die »Horden
der Nacht« wieder in das Land der Wolfsmenschen
zurückgekehrt war.
Immer wieder fragte sie sich, ob die Schuld an
diesem Entschluß nicht bei ihr selbst lag. Als er ihr
seine Liebe zeigen wollte, hatte sie ihn aus
jungfräulicher Scheu zurückgewiesen, obwohl auch sie
ihn liebte, wie sie noch nie einen Menschen geliebt
hatte.
Und dann war er davongegangen, und vielleicht
würde sie ihn niemals mehr wiedersehen. Der Gedanke
raubte ihr den Schlaf, und wenn er endlich kam,
quälten sie schreckliche Träume. Sie sah Bodo, von
Wölfen gerissen, tot am Boden liegen.
Heute war es besonders schlimm gewesen. Müde
und unausgeschlafen hatte sie den Tag damit
verbracht, durch die Säle und Gänge des Palastes zu
schleichen und den Menschen aus dem Weg zu gehen.
Die Zwillinge Kim und Kano, vierzehnjährige Knaben
und Gedankenleser wie sie selbst, hatten sie aufgespürt
und geneckt. Sie kannten ihren Kummer und hatten
kein Mitleid mit ihr. Schließlich hatte sie sich in ihr
Gemach geflüchtet, um allein zu sein.
Dumpf brütete sie vor sich hin und wünschte, bald
zu sterben. Das Leben schien jeden Sinn verloren zu
haben, wenn sie niemanden fand, mit dem sie sich
aussprechen konnte. Einen Augenblick dachte sie
daran, sich Dragon zu offenbaren, aber dann verwarf
sie den Gedanken wieder. Der neue König von Myra
hatte selbst genug Sorgen.
Er wollte seinem Reich eine neue und liberale
Rechtsordnung geben, damit das Volk nach der
Herrschaft der Tyrannen aufatmen und frei leben
konnte. Das Heer wurde bis auf fünftausend Mann
entlassen. Davon kampierten viertausend unter der
Führung Parthos außerhalb der Stadt. Tausend
Urgoriten, Dragons Leibwache, sicherten den Palast
und Myra.
Nein, Dragon konnte sie mit ihren Sorgen nicht
belästigen.
Vielleicht täte es ihr gut, für ein paar Tage einsam zu
sein und niemanden zu sehen. Der einzige Ort, der für
ein solches Vorhaben in Frage kam, war die Küste des
Meeres, nicht weit von Myra entfernt. Dort gab es nur
vereinzelte Fischerdörfer, die sie meiden konnte.
Außerdem würde sie dank ihrer Gabe immer
rechtzeitig vor der Annäherung von Menschen
gewarnt.
Ja, das Meer war genau das Richtige für sie. Sie
würde auf den Klippen sitzen und Trost in der
Unendlichkeit des Ozeans finden. Die Wellen würden
ihr Grüße von Bodo bringen, und wenn der Wind sich
drehte, konnte sie die Grüße zu ihm zurückschicken.
Die Bucht der großen Steine ...
Es war eine einsame Gegend, unfruchtbar und kahl.
Darum gab es dort auch keine Ansiedlungen, obwohl
die Bucht ein guter Hafen gewesen wäre. Sie lag nach
Südwesten und war gegen die Nordwinde durch
riesige Felsbrocken geschützt, die ein richtiges Kap
bildeten.
Als ihr die Bucht der großen Steine einfiel, atmete
sie erleichtert auf. Sie würde den Weg finden. Einen
ganzen Tag würde sie wandern müssen, um den Platz
zu erreichen.
Als es bereits dunkelte, huschte sie aus ihrem
Zimmer und schlich in die Vorratskammer des
Palastes. Hastig stopfte sie zwei verschlossene Krüge
mit leichtem Wein, Brot, getrocknetes Fleisch und
einige Früchte in den mitgebrachten Sack und kehrte in
ihr Gemach zurück. Sie mußte noch warten, bis die
Palastwachen müde und unaufmerksam geworden
waren, ehe sie sich auf den Weg machte. Niemand
sollte sie sehen.
Wieder kam ihr das Gedankenlesen zu Hilfe.
Vor wenigen Tagen erst hatte sie durch die
Gedanken eines alten Palastbediensteten, der schon zu
König Zogors Zeiten hier war, von der Existenz eines
geheimen Ganges erfahren. Er führte vom Palast aus
unter der Stadt her bis in die Nähe der Küste. Da um
diese späte Stunde alle Stadttore bereits geschlossen
waren, blieb ihr ohnehin keine andere Wahl, als den
Geheimgang zu benutzen.
Angezogen saß sie auf ihrem Bett und verspürte
zum ersten Mal seit Wochen Erleichterung. Der
Gedanke, bald mit sich und der Einsamkeit der Natur
allein sein zu dürfen, machte sie beinahe glücklich.
Gegen Mitternacht packte sie ihr Bündel, nachdem
sie sich eine wärmende Decke übergeworfen hatte, und
verließ ihr Zimmer. Im Palast schlief schon alles, nur
die Wachen standen gegen die Wände gelehnt und
dösten vor sich hin. Es fiel Yina leicht, ihnen
auszuweichen.
Der Gang begann in der Bibliothek. Wenn sie den
alten Mann richtig verstanden hatte, mußte das dritte
Regal zur Seite geschoben werden, nachdem man
vorher eine unauffällige Sperre gelöst hatte.
Ohne Zwischenfall gelangte sie endlich in die
Bibliothek. Die Fackel im Tonkrug brannte noch, aber
sie würde bald verlöschen. Yina nahm sie und ging
zum dritten Regal, um die Sperre zu suchen. Tastend
glitten ihre Finger über das polierte Holz, bis sie
endlich gegen ein kleines Hindernis stießen. Das mußte
die Sperre sein.
Vorsichtig drückte sie dagegen, und als nichts
geschah, druckte sie fester. Der Riegel rutschte ein
wenig zur Seite und stieß gegen einen Vorsprung.
Yina stellte die Fackel in den Tonkrug zurück und
legte ihr Bündel auf den Tisch, um nun beide Hände
frei zu haben. Dann stemmte sie sich mit aller Kraft
gegen das Regal, bis es sich zu bewegen begann. Einige
der darin befindlichen Schriftrollen kippten um, eine
fiel sogar auf den Boden, aber Yina kümmerte sich
nicht darum. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem
dunklen Spalt, der sich immer mehr vergrößerte, bis er
breit genug war, sie durchzulassen.
Aufatmend trat sie zurück, nahm ihr Bündel und die
Fackel und zwängte sich an dem Regal vorbei in den
finsteren Gang. Dann schloß sie den Eingang wieder,
und erst jetzt fiel ihr ein, daß sie ja nicht wußte, wie
man ihn von innen her wieder öffnen konnte. Der
Schreck über die Unterlassungssünde fuhr ihr so in die
Knochen, daß ihre Beine zitterten und sie sich setzen
mußte. Die Fackel in ihrer Hand schwankte hin und
her.
Der Boden war kalt und feucht. Von der Decke
fielen vereinzelt Wassertropfen, platschten in sumpfige
Pfützen oder spritzten von Steinen ab. Yina erschrak,
als ihr die Fackel einfiel. Wenn sie erlosch, würde es
dunkel um sie sein. Sie hatte nichts bei sich, mit dem
sie Feuer oder Licht machen konnte.
Hastig erhob sie sich, um ihren Weg fortzusetzen. In
der einen Hand hielt sie das Bündel, in der anderen die
Fackel. Solange es noch möglich war, wollte sie die
Ausmaße des Ganges studieren, um sich später auch in
der Finsternis zurechtfinden zu können.
Er war etwa anderthalb Manneslängen hoch und
eine halbe breit. Wenn sie die Arme ausstreckte, konnte
sie die Wände berühren. Das würde eine große Hilfe
sein, wenn es dunkel wurde.
Der Boden war naß. Immer wieder wich sie den
Pfützen aus, aber die Feuchtigkeit drang bereits durch
ihre Schuhe. Sie fror erbärmlich und begann bereits,
ihren Entschluß zu bereuen, aber dann dachte sie an
die Einsamkeit der Bucht und an ihr gedankliches
Zusammensein mit dem fernen Geliebten. Vielleicht
war es ihr sogar möglich, seine Gedanken aufzuspüren.
Die Hoffnung gab ihr die Kraft, weiterzugehen,
außerdem fiel ihr noch rechtzeitig ein, daß sie ja gar
nicht zurückkonnte, weil sie nicht wußte, wie die
Geheimtür von innen geöffnet wurde.
Es mußte Yinas Schätzung nach kurz vor
Sonnenaufgang sein, als die Fackel endgültig erlosch.
Damit verschwand auch der letzte Rest von Wärme.
Sie befestigte mit klammen Fingern den Beutel am
Gürtel ihres Gewandes, um die Hände frei zu haben,
damit sie beiderseits die Wände abtasten konnte. Ohne
eine Pause zu machen, ging sie weiter. Der Gang schien
kein Ende nehmen zu wollen.
Eine lange Zeit war es stets fast unmerklich bergab
gegangen, aber nun war es Yina, als müsse sie ebenso
unmerklich nach oben steigen. Immer noch war der
Boden glitschig, aber das Schlimmste war vorbei. Am
tiefsten Punkt des Ganges hatte sie fast knöcheltief
durch Wasser waten müssen, jetzt aber wurde es
allmählich trockener.
Dafür wurde die Decke niedriger.
Bald mußte sie sich gebückt weitertasten. Auch
enger wurde der Gang, und bald war er so schmal, daß
sie die Wände mit den Schultern allein spüren konnte.
Sie bekam Angst, daß der Gang im Nichts endete
und sie vor einer undurchdringlichen Wand stehen
würde. Dann mußte sie umkehren und versuchen,
gedanklichen Kontakt mit den Zwillingen
aufzunehmen, damit sie aus der tödlichen Falle befreit
wurde. Sie betete, daß die Götter ihr diese Blamage
ersparten.
Tapfer ging sie weiter.
Plötzlich schlugen ihr Zweige ins Gesicht. Ruckartig
blieb sie stehen, denn Zweige und Pflanzen konnte es
hier unten nicht geben.
Unten?
Sie war seit einer guten Stunde nur bergan
gestiegen. Wie tief befand sie sich noch unter der
Oberfläche? Wo war sie überhaupt?
Sie zögerte, aber dann streifte sie die Zweige beiseite
und ging weiter, dem dämmerigen Punkt entgegen,
der dicht vor ihr durch das Dunkel schimmerte. Der
Punkt wurde immer größer, bis er sich als Ausgang
einer Höhle entpuppte, die an einem steilen Berghang
lag.
Erschöpft sank sie auf dem kleinen Plateau nieder
und sah sich um.
Der Berg – sie kannte ihn – erhob sich mitten in der
Ebene, die zum Meer führte. Sie hatte ihm niemals
besondere Beachtung geschenkt, wenn sie ihn sah. Und
niemand würde an seinem Hang den Ausgang des
geheimen Ganges vermuten, der vom Palast hierher
führte.
Sie sah hinab in die Tiefe. Der Abhang war steil und
glatt. Er lag über der Ebene, durch die eine
Karawanenstraße führte. Etwa fünfzig Manneslängen,
schätzte Yina, würde sie klettern müssen, ehe sie den
sicheren Grund erreichte.
Ehe sie mit dem Abstieg begann, stärkte sie sich
durch ein Stück Fleisch, etwas Brot und einen Schluck
Wein. Besonders der ungewohnte Wein gab ihr neuen
Mut. Sie hatte es ja schon halb geschafft. Der Weg zur
Küste des Meeres, das sie bereits vor sich in der
Dämmerung schimmern sah, war ein Kinderspiel
gegen das, was sie hinter sich hatte. Sie brauchte nur
noch die Karawanenstraße zu kreuzen, dann war sie in
Sicherheit.
Abermals befestigte sie den Beutel am Gürtel, um
die Hände frei zu haben. Ihre tastenden Füße fanden
immer wieder einen Halt, als sie in die Tiefe kletterte,
und fast schien es ihr, als hätten einst geschickte Hände
winzige Stufen in die Felswand gemeißelt.
Endlich erreichte sie die Ebene. Als sie
zurückblickte, sah sie nur die aufsteigende Wand, aber
keine Stufen. Nur ein Verrückter wäre auf den
Gedanken gekommen, dort oben könne es eine Höhle
geben.
Obwohl sie müde und erschöpft war, hielt sie sich
nicht länger auf. Noch bevor es richtig hell wurde,
hatte sie die Straße überquert und wanderte durch
mannshohes Gras und sumpfige Schilfwälder. Die
Küste war nicht mehr fern, und als die Sonne am
höchsten stand, hörte sie die Brandung des Meeres.
Zwischen diesem Punkt und der Bucht der großen
Steine gab es keine Ansiedlung mehr. Sie würde
keinem Menschen begegnen, höchstens einem Fischer
oder einem einsamen Jäger. Auf ihre Fragen würde sie
schon zu antworten wissen, denn sie konnte ihre
Fragen schon vorher in ihren Gedanken lesen.
Als sie das Meer erreichte, stand die Sonne nur noch
eine Handbreit über dem Horizont. Sie wollte die
Bucht noch vor Anbruch der Nacht erreichen, also
wanderte sie weiter, obwohl ihre Beine sie kaum noch
zu tragen vermochten. Die bleierne Müdigkeit drohte
sie zu überwältigen, und die Versuchung, sich einfach
zwischen die Felsen in den Sand zu legen, wurde
immer größer.
Aber sie ging weiter.
Endlich, es war bereits finster geworden, stand sie
auf dem schmalen Kap, das sie noch von der ersehnten
Bucht trennte. Erleichtert blickte sie hinab in das
phosphoreszierende Wasser, das an den Nachthimmel
mit seinen vielen tausend Sternen erinnerte. Sonst
konnte sie nichts sehen, denn der Mond schien nicht.
Sie änderte ihren Entschluß, auf dem Kap zu
bleiben. Sie wollte die unmittelbare Nähe des Wassers
spüren und riechen. Sie wollte die Sterne über sich
sehen und mit ihren Gedanken Bodo suchen, der
vielleicht gerade jetzt in diesem Augenblick an seinem
Lagerfeuer saß oder mit den wilden Wölfen kämpfte.
Sie tastete sich durch das Gestrüpp, bis sie den Sand
unter den Schuhsohlen fühlte.
Dann erst, wenige Mannslängen vom Wasser
entfernt, sank sie zu Boden. Der Sand war noch warm
und trocken. Die Flutlinie war weit genug entfernt.
Hungrig aß sie von den Vorräten, dann trank sie den
Wein. Sie trank mehr, als sie gewohnt war, aber sie war
glücklich, ihr Ziel erreicht zu haben. Im Palast würde
man sie vielleicht vermißt haben, vielleicht aber auch
nicht. Man war es gewohnt, daß sie in letzter Zeit gern
allein war.
Später lag sie auf der Decke lang ausgestreckt und
sah hinauf in das Gewimmel der Sterne. Es war warm,
und die Luft war voller Gerüche. Morgen würde sie
versuchen, Kontakt mit den Zwillingen aufzunehmen,
damit sie Dragon unterrichten konnten. Die Freunde
sollten sich keine Sorgen um sie machen.
Bodo!
Warum hatte sie nur seine Liebe zurückgewiesen?
War es wirklich nur die Angst vor dem ersten Erlebnis
gewesen, oder konnte es andere Gründe für ihre
Handlungsweise geben? Einmal würde es doch
geschehen müssen, und was nun, wenn es ein anderer
als Bodo war?
Nein, das würde sie nicht ertragen können. Sie hatte
schon zu viele Frauen gesehen, die vergewaltigt
worden waren. Vielleicht war auch das der Grund für
ihre Weigerung in jener Nacht, da Bodo ihr seine Liebe
zeigen wollte.
Und nun war sie allein, ganz allein. Nur die
Sehnsucht war bei ihr.
Als sie sich konzentrierte, waren viele Gedanken in
ihrem Gehirn. Aber die von Bodo fehlten. Vielleicht
schlief er noch, oder er war tot. Oder sie konnte sie
einfach nicht finden.
Die Müdigkeit ergriff immer mehr von ihr Besitz.
Die Wellen plätscherten in ewig gleichbleibendem
Rhythmus gegen die nahen Klippen der Bucht. Das
Geräusch schläferte Yina noch mehr ein, als es die
Müdigkeit und Erschöpfung bereits taten. Sie schloß
die Augen und streckte sich. Zur Vorsicht nahm sie die
zweite Decke und kroch darunter. Nach Mitternacht
würde es kühl werden.
Noch einmal suchten ihre sehnsüchtigen Gedanken
Bodo, aber sie fanden ihn nicht. Dann, endlich, schlief
sie ein.
Sie wußte, daß sie allein war.
Aber als sie im Morgengrauen erwachte, war sie
nicht mehr allein.
2.
Die Schwarze Wellenreiterin gehörte zu den
schnellsten Seglern der Bruderschaft des Großen
Meeres, einer gut organisierten Piratenbande, deren
Oberhaupt – und das wußten nur wenige Eingeweihte,
der König der Schlangeninsel selbst war.
König Jellis, Erster Kapitän der Bruderschaft, bezog
seine Einkünfte in erster Linie durch Piraterie. Er
schreckte auch nicht davor zurück, seine Leute an
friedlichen Küsten landen zu lassen und Städte und
Märkte auszurauben.
Er hatte die Schwarze Wellenreiterin mit dem
Auftrag in See stechen lassen, die Lage im Königreich
Myra nach dem Umsturz zu erkunden. Er hoffte, daß
das geschwächte Reich ein lohnendes Objekt für einen
großangelegten Überfall sein könnte. Mit dem Auftrag
hatte er seinen besten Mann betraut: Kapitän Jaggar
von der Totenküste.
Jaggar war ein dunkelhäutiger und listenreicher
Piratenkapitän, aber niemand hätte ihm nachsagen
können, daß er falsch oder hinterhältig wäre.
Nördlich von Myra hatte Jaggar drei Männer an
Land setzen lassen. Es war mit ihnen verabredet
worden, daß sie nach einem halben Mond wieder
abgeholt werden sollten. Und das war heute
geschehen.
Da die Nacht bereits angebrochen war, umschiffte
die Wellenreiterin noch einige gefährliche Kaps und
ging in einer weiten Bucht vor Anker. Am anderen
Morgen wollte Jaggar die Heimreise zur
Schlangeninsel antreten.
Sie fanden einen guten Ankerplatz in tiefem Wasser.
Die Küste war steil und felsig. Riesige Steinblöcke
rahmten die Bucht wie einen Hafen ein. Jaggar fühlte
sich hier absolut vor jedem Angriff sicher.
Er ließ die drei Männer zu sich kommen und fragte
sie aus.
Was er zu hören bekam, erfreute ihn nicht sehr.
»Und seid ihr sicher, daß alles wahr ist, was ihr
gehört habt?«
Der Anführer der Spione beteuerte:
»Wir haben viele Leute gefragt, und sie bestätigten
alle, daß der neue König ein wahrer Held sei. Er hat
eine Armee von mehr als fünftausend Kriegern. Es
wäre schwer, sie zu besiegen.«
»König Jellis wird über die Nachricht nicht gerade
erfreut sein.«
»Hätten wir euch belügen sollen, Kapitän?«
Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte
Jaggar die Beherrschung verlieren, aber dann lächelte
er nur milde.
»Natürlich nicht, du hast richtig gehandelt, und es
ist ja auch nicht eure Schuld, wenn sich die Lage zu
unseren Ungunsten verändert hat. König Jellis, unser
Erster Kapitän, muß sich damit abfinden. Es gibt noch
andere Küsten, an denen wir reichliche Beute machen
können. Ich danke euch, ihr könnt euch zur Ruhe
legen. Wir werden eine friedliche Nacht verbringen.«
Damit behielt er recht. Obwohl ständig zwei Männer
Wache hielten, bemerkten sie nichts. Am Strand
bewegte sich nichts, die weite Bucht blieb wie
ausgestorben. Wenn wirklich jemand die Spione
verfolgt hatte, so mußte er ihre Spur verloren haben.
Es war eine klare Nacht, in der die Sterne wie blanke
Diamanten funkelten. Als sie verblaßten und der
Morgen graute, war der Strand besser zu erkennen.
Einer der beiden Männer, die Wache hielten, legte die
flache Hand vor die Augen. Angestrengt sah er zum
Ufer hinüber, das kaum fünfzig Manneslängen entfernt
war. Er schüttelte den Kopf. »Siehst du auch etwas?«
fragte er seinen Gefährten.
Der schaute ebenfalls in die Richtung, dann nickte
er.
»Dort liegt jemand im Sand«, sagte er dann
befremdet. »Wir sollten es dem Kapitän melden.«
»Bleib hier, ich gehe und wecke ihn.«
»Paß auf, daß er dich dafür nicht auspeitschen läßt«,
warnte der Zurückbleibende gutmütig.
Kapitän Jaggar war durchaus nicht erfreut, als er
geweckt wurde. Als er jedoch erfuhr, daß am Strand
ein Mensch lag und schlief, wurde er überraschend
schnell munter.
»Nimm drei Männer und rudere zum Strand.
Nehmt den Kerl gefangen und bringt ihn zu mir. Ich
muß wissen, was er dort tut. Kein vernünftiger Mensch
legt sich nachts in den kühlen Sand, um zu schlafen. Es
kann sich nur um einen Spion handeln, der unser Schiff
gesehen hat. Aber dann frage ich mich, warum er so
unvorsichtig ist ... Na, wir werden es bald wissen.«
Das Ruderboot näherte sich vorsichtig dem
schmalen Sandstreifen. Es war die einzige Stelle, an der
man gefahrlos landen konnte. Der Kiel knirschte, als er
den Boden berührte, aber der Schläfer wachte nicht auf.
Ruhig und reglos lag er unter der Decke, als sei er tot.
Vielleicht war er das sogar?
Die vier Männer hielten ihre Waffen bereit, als sie
auf die Gestalt zuschlichen.
Sie erreichten den leichtsinnigen Schläfer, und
während drei der Männer ihre langen Dolche erhoben,
um sofort zustechen zu können, zog der vierte
vorsichtig die Decke zurück.
Er erstarrte mitten in der Bewegung, als er das
Mädchen erblickte.
Schön war es nicht, aber jung.
Die Piraten ließen verblüfft ihre Dolche sinken. Alles
hatten sie vermutet, nur kein Mädchen, das noch ein
halbes Kind war.
Aber auch Mädchen waren eine begehrte Beute für die
Bruderschaft des Großen Meeres.
»Na schön, dann wollen wir sie mal aufwecken«,
flüsterte der Anführer der vier Piraten, stellte sich über
die wertvolle Beute und bückte sich langsam ...
Yina erschrak fast zu Tode, als etwas gegen ihre
Beine stieß. Sie öffnete die Augen und starrte in das
breit grinsende Gesicht eines bärtigen Mannes, der
über ihr stand und sich zu ihr hinabbeugte.
Unwillkürlich wollte sie aufspringen, aber die Beine
des Unheimlichen hatten sie eingezwängt. Nur den
Oberkörper konnte sie ein wenig aufrichten, das war
alles.
»Hübsch langsam, schönes Kind«, sagte der Fremde
spöttisch in einem Dialekt, den Yina schon gehört
hatte. »Wo hast du denn deinen Liebsten gelassen?
Man schläft doch nicht allein am Strand.«
Bodo! durchzuckte es Yina. Wenn doch nur Bodo
hier wäre! Er würde ihr helfen und sie aus den Klauen
dieses Unmenschen befreien. Sie hatte in den
Gedanken der vier Männer schon längst gelesen, daß
sie Piraten waren und daß sie vorhatten, sie aufs Schiff
zu bringen. Ins Land der Schlangen würde man sie
verschleppen, zu König Jellis, der junge Mädchen liebte
und hohe Belohnungen für gefangene Sklaven zahlte.
»Ich bin aber allein!« erwiderte sie trotzig.
»Fein, dann komm mit, damit wir dich unserem
Kapitän vorstellen können. Aber versuche nicht zu
fliehen, das würde dir schlecht bekommen. Steh
langsam auf. Deine Sachen kannst du mitnehmen.«
Einen Augenblick lang dachte Yina daran, ihnen zu
verraten, wer sie war und sie vor der Verfolgung durch
König Dragon zu warnen, aber dann besann sie sich
rechtzeitig, daß sie keinen größeren Fehler machen
könnte. Für die Piraten würde die Beute dadurch nur
noch wertvoller werden. Und auf keinen Fall durfte
einer von ihnen erfahren, daß sie ihre Gedanken lesen
konnte.
Vorsichtig erhob sie sich, nahm Decken und Beutel
und sah den bärtigen Piraten an.
»Ich bin bereit, aber versprecht mir, daß mir
niemand ein Leid zufügt.«
Der Pirat grinste abermals.
»Ein Leid? Was verstehst du darunter? Es gibt
Dinge, die der eine als Leid und der andere als Freude
bezeichnet. Wenn du das meinst, dann sei beruhigt. Du
stehst unter dem Schutz unseres Kapitäns, den Mann
von der Totenküste.«
Sie wußte, daß er nur bedingt die Wahrheit sprach.
Sie ließ sich von den Männern in die Mitte nehmen,
und dann erst sah sie auch das Schiff.
Die schwarzen Segel stachen scharf gegen den
immer heller werdenden Himmel ab. Der schmale Bug
verriet Schnelligkeit und ein sicheres Gleiten durch
hohe Wellen. An der Reling standen die Piraten und
johlten, als sie das Mädchen sahen.
Yina stieg ins Boot und setzte sich auf eine der
Ruderbänke. Sie wußte, daß jeder Fluchtversuch
sinnlos geworden war. Sie mußte sich darauf verlassen,
daß die Piraten Rücksicht auf ihre Jugend nahmen –
oder daß sie ihnen zu häßlich war.
Nach wenigen Ruderschlägen erreichten sie das
Schiff. Eine Strickleiter hing an der Bordwand. Der
Bärtige nickte Yina zu.
»Hinauf mit dir!« befahl er rauh. »Ich bleibe dicht
hinter dir, damit du weich fällst.«
Gröhlendes Gelächter belohnte ihn für seinen
vermeintlichen Scherz. Er kümmerte sich nicht darum,
sondern kletterte hinter Yina die Strickleiter hoch,
nachdem er ihr die Decken abgenommen hatte.
Allerdings achtete er mehr auf die Röcke des
Mädchens, die ihr nur bis zum Knie reichten, als auf
alles andere.
»Sie ist gut gebaut!« rief er den wartenden Piraten
zu, die ihn offensichtlich um seine Vorrangstellung
beneideten und mit entsprechenden Fragen oder
Hinweisen keineswegs sparten.
Yina hatte sich noch nie in ihrem Leben so erniedrigt
gefühlt, aber schließlich war sie lange genug in
Begleitung des Heeres durch die Lande gezogen. Sie
kannte die Männer zur Genüge, aber dies hier waren
keine Soldaten, sondern Piraten.
Kräftige Arme streckten sich ihr entgegen und zogen
sie über die Reling. Sie schlug die Augen nieder, als sie
die Blicke bemerkte, mit denen man sie musterte. Dann
wurde sie rot im Gesicht, denn sie las in den Gedanken
der Piraten.
Der Mann, der sie gefangengenommen hatte, sprang
an Bord und scheuchte seine Gefährten fort.
»Geht aus dem Weg, ihr tollen Hunde, sie gehört
dem Kapitän, oder wollt ihr, daß ich euch das Fell über
die Ohren ziehe? Los, macht Platz!« Er warf ihnen
Yinas Decken zu. »Nehmt vorerst das, sie riechen noch
nach ihr ...«
Er stieß Yina vor sich her und hielt sie fest, als sie an
den Kajütniedergang gelangten. Die Treppe war
schmal und steil.
»Ich gehe vor«, sagte er und zwängte sich an ihr
vorbei. »Du weißt ja – damit du weich fällst.«
Es war ihr inzwischen egal, was er tat, wenn er sie
nur nicht dabei berührte. Fast fühlte sie Erleichterung,
wenn sie daran dachte, bald vor dem Kapitän zu
stehen, denn die Piraten schienen vor ihm Respekt zu
haben. Vielleicht war er nicht so grausam, wie sie
annehmen mußte. Seine Gedanken hatte sie in dem
mentalen Chaos noch nicht finden können.
Der Bärtige klopfte gegen die Tür am Ende des
Ganges und stieß sie auf. Er schob seine Gefangene vor
sich her in den Raum.
»Es ist ein Mädchen«, sagte er, obwohl Jaggar das
auch selbst sehen konnte. »Wie gefällt dir das?«
Jaggar saß hinter einem schweren Tisch am
Kopfende der großen und fürstlich ausgestatteten
Kabine. An den Wänden hingen Waffen aller Art, aber
auch kostbare Teppiche und Schmuckgegenstände. Auf
dem Tisch lagen Schriftrollen und ein Messer, dessen
Griff mit Perlen geschmückt war. Daneben stand ein
Krug Wein und ein Becher.
»Wer ist sie?« fragte Jaggar und betrachtete sie von
oben bis unten. »Sie sieht im Gesicht aus wie eine
Maus.«
Yina zuckte zusammen. Wenn schon ein Fremder
die Ähnlichkeit feststellte, mußte schon etwas an dem
Vergleich wahr sein.
»Aber sie hat eine gute Figur«, bestätigte der Bärtige.
»Das ist nicht unwichtig.«
»Hm«, knurrte Jaggar, halb belustigt. »Ich will nicht
hoffen, daß du die Regeln vergessen hast. Also, wer ist
sie?«
»Das weiß ich nicht, du mußt sie fragen.«
Jaggar gab ihm einen Wink.
»Laß mich mit ihr allein, ich will nicht gestört
werden.«
»Natürlich nicht, Kapitän«, grinste der Bärtige und
verschwand.
Jaggar stand auf, kam auf sie zu und ging an ihr
vorbei, um den Riegel vorzuschieben. Dann setzte er
sich wieder und sah sie an.
»Komm etwas näher. Wie heißt du?«
»Yina.«
»So, Yina? Seltsamer Name. Und warum hast du
allein am Strand geschlafen? Wer hat dich dorthin
geschickt?«
»Niemand, ich wollte nur allein sein.«
»Wo wohnst du?«
Sie las in seinen Gedanken, daß er keine Ahnung
hatte.
»Im nächsten Dorf. Meine Eltern sind Fischer, arme
Leute. Ich helfe ihnen bei der Arbeit, bis mich ein Mann
heiraten will.«
Er glaubte ihr. Aber schon kam die nächste Frage:
»Was ist mit diesem neuen König, Dragon heißt er
wohl? Du mußt mir die Wahrheit sagen, sonst geht es
dir schlecht, hörst du? Was ist mit ihm? Ist er wirklich
ein so großer Held, wie mir berichtet wurde?«
»Man hat dir die Wahrheit gesagt. Er ist ein Held
und sehr tapfer. Sein Heer ist gut gerüstet und auf
jeden Angriff vorbereitet.«
Obwohl Jaggar eine ähnliche Antwort erwartet
hatte, war er sichtbar enttäuscht und unzufrieden.
Wahrscheinlich hätte er seinem Ersten Kapitän lieber
eine andere Botschaft überbracht.
»Wer sagt dir, daß jemand einen Angriff auf Myra
plant?«
»Seid ihr nicht Piraten?«
»Nun, so würde ich es nicht gerade nennen. Wir
sind Untertanen des König Jellis, des Beherrschers der
Schlangeninsel.«
Yina schwieg. Sie hielt es für besser, ihm jetzt nicht
zu sagen, daß zwischen den Piraten und Jellis‘
Untertanen kein Unterschied bestand.
»Zieh deinen Rock etwas höher«. sagte Jaggar
plötzlich. »Ich möchte wissen, ob mein Bootsmann
recht hat.«
Sie zögerte, aber als sie bemerkte, daß sich sein Blick
verfinsterte, gehorchte sie. Sie zog den Rock bis über
die Knie hoch.
»Weiter!« befahl Jaggar und betrachtete wohlgefällig
ihre Beine. »Sei nicht so zimperlich, ich tu dir nichts.«
Widerstrebend gehorchte sie und war froh, der
Nacht wegen doppeltes Unterzeug angezogen zu
haben. So kam sie sich nicht so nackt vor, obwohl sie
den Rock so weit emporhob, wie es ging.
Er grunzte befriedigt.
»Na schön. Der Kerl scheint recht zu haben. Ich
werde es mir noch überlegen, ob ich dich behalte oder
auf dem Sklavenmarkt verkaufe. Bis dahin geschieht
dir nichts. Auch vor meinen Männern bist du sicher.
Ich werde dich in einer Zelle einsperren lassen. Den
Schlüssel behalte ich. Sobald wir auf See sind, werde
ich mich um dich kümmern.«
Er schlug mit einem Stock, der an seinen Sessel
gelehnt hatte, gegen die Tür, nachdem er den Riegel
zurückgeschoben hatte. Der Bärtige erschien sofort, als
habe er nur auf das Zeichen gewartet.
»Bring sie in die Zelle im Achterschiff und sperr gut
ab. Den Schlüssel bekomme ich. Gib ihr noch Wasser
und Brot. Wer sie belästigt, baumelt am Mast. Alles
klar, Bootsmann?«
Yina warf Jaggar einen dankbaren Blick zu. Dann
folgte sie dem Bärtigen. Noch während er sie
einsperrte, hörte sie das Geräusch der Ankerketten.
Das Schiff verließ die Bucht und ging auf Westkurs.
Yina fühlte sich für den Augenblick sicher und
versuchte, sich auf Kim und Kano zu konzentrieren. Es
mußte ihr jetzt gelingen, einen Gedankenkontakt
herzustellen, sonst war sie verloren. Von der
Schlangeninsel konnte sie niemand mehr zurückholen
– außer vielleicht Bodo.
Aber Bodo war im fernen Land der Wolfsmenschen.
Es war sehr schwierig, die vielen Gedanken der
Mannschaft, die auf sie einströmten, zu ignorieren.
Auch aus der Stadt Myra selbst empfing sie die
Gedanken der Bürger, und langsam und behutsam
tastete sie sich zum Palast vor.
Dann hatte sie Kano!
Der eine der Zwillinge hatte den Palast verlassen,
dessen dicke Mauern die Gedanken stark
abschwächten. Er wanderte durch den Park und
überlegte, wem er heute einen Streich spielen könnte.
Flüchtig dachte er dabei auch an Yina, die er in ihrem
Gemach vermutete. Man hatte sie also noch nicht
vermißt.
Kano! dachte Yina angestrengt.
Verstehst du mich? Kannst du meine Gedanken
lesen? Ich muß dir etwas Wichtiges mitteilen! Gib mir
Antwort, Kano! Kano!
Aber Kano hatte einen der Palastwächter entdeckt,
der ihm den Rücken zuwandte und die Mauer
beobachtete. Der war das richtige Opfer für ihn.
Vorsichtig schlich er sich noch ein Stück näher an ihn
heran und versteckte sich in den Büschen. Dann nahm
er einen Stein und warf ihn so geschickt, daß er den
Wächter an der Schulter traf.
Yina, die alles durch Kanos Augen verfolgen konnte,
verzweifelte bald, weil der Zwilling sie nicht hörte.
Kano! Nun hör doch endlich! Hier ist Yina! Ich bin
in großer Gefahr!
Der Palastwächter zuckte erschrocken zusammen
und wirbelte herum, das Schwert zum Streich erhoben.
Aber er sah niemanden. Langsam schritt er auf die
Büsche zu, in denen Kano verborgen war.
Nun wurde dem Jüngling doch angst und bange, als
er das blanke Schwert sah. Reumutig stand er auf und
zeigte sich dem Wächter, der verblüfft das Schwert
sinken ließ, als er Kano erkannte.
»Was machst du denn hier?« fragte er.
Kano grinste.
»Kim sucht mich, und da habe ich mich versteckt.«
Der Wächter schien nicht gerade mit besonderen
Geistesgaben ausgestattet zu sein, denn er fragte
harmlos:
»Hast du keinen Fremden im Park gesehen? Mir war
eben, als habe jemand einen Stein nach mir geworfen.«
»Das kann nur Kim gewesen sein«. erwiderte Kano
schnell.
»Na fein, Kano, dann ist er ja in der Nähe, und du
wirst ihn leicht finden. Und wenn du ihn gefunden
hast, dann sage ihm, daß ich König Dragon über den
Vorfall Meldung erstatten werde, wenn er sich noch
einmal wiederholt.
Man darf die Palastwachen nicht von ihren Pflichten
ablenken. Hast du das verstanden! «
»Ja«, murmelte Kano kleinlaut.
Jetzt hielt Yina die Gelegenheit wieder für günstig.
Kano! Ich brauche den Kontakt mit dir, ich bin in
Gefahr: So antworte doch endlich! Kano!
Diesmal klappte es. Kano spürte das flüsternde
Drängen in seinem Gehirn und wußte sofort, daß nur
Kim oder Yina ihn rufen konnte. Er zog sich von dem
Palastwächter zurück, um ungestört zu sein. Mitten
zwischen den Büschen setzte er sich auf den steinigen
und warmen Boden und dachte angestrengt zurück.
Bist du es, Kim?
Aber es war nicht Kim, der ihm antwortete:
Hier ist Yina, du Dummkopf! Piraten haben mich
verschleppt und nehmen mich mit zur Schlangeninsel.
Der Kapitän des Schiffes heißt Jaggar, und bis jetzt
haben sie mir noch nichts getan. Bitte Dragon, daß er
mir hilft.
Kano holte tief Luft, ehe er sich vergewisserte:
Träumst du mal wieder schlecht, Yina? Bist du denn
nicht in deinem ‚Zimmer‘?
Ich bin in einer Schiffskabine eingesperrt, und durch
die kleine Luke kann ich nur noch die höchsten Gipfel
unserer Berge erkennen. Aber auch sie werden bald ins
Wasser tauchen, und dann kann ich dir nicht mehr
sagen, wo ich bin. Noch aber könnt ihr mich finden.
Bitte Dragon, mich zu befreien.
Kano zweifelte noch etwas:
Maus, ich beginne dir zu glauben. Aber vorher
werde ich in deiner Kammer nachsehen, ob das nicht
wieder einer deiner verrückten Streiche ist. Oft genug
bin ich darauf hereingefallen.
Yina wollte heftig reagieren, aber dann entsann sie
sich, daß Kano recht hatte. Sie hatten schon oft genug
ihre dummen Scherze getrieben.
Gut, dann überzeuge dich, aber dann geh sofort zu
Dragon. Ich werde mich mit ihm unterhalten – mit
deiner Hilfe. Beeile dich, wir haben nicht mehr viel
Zeit.
Kano stand auf und schlenderte durch den Park
zurück zum Palast. Ohne sich besonders zu beeilen,
ging er zum Gemach der Gedankenleserin und fand
das Zimmer leer.
Natürlich konnte sie sich noch immer versteckt
haben, aber dann entsann er sich der Dringlichkeit
ihrer Gedankenimpulse. Aus ihnen hatte ehrliche
Angst gesprochen, soweit er das beurteilen konnte.
Also auf zu Dragon, der für ihn so etwas wie ein
Onkel war.
»Na, glaubst du mir nun endlich? fragte Yina ihn.
Ja, schon gut, ich glaube dir. Ich gehe jetzt zu
Dragon.
Die Unterhaltung zwischen Dragon und Yina fand
über Kano statt und war nur sehr kurz.
»Was ist geschehen, Maus?«
Sie zögerte, aber dann blieb sie bei der Wahrheit.
»Ich wollte zwei oder drei Tage mit mir allein sein,
darum ging ich zur Küste, zur Bucht der Großen
Steine. Morgens überraschten mich die Piraten im
Schlaf und schleppten mich auf ihr Schiff. Sie hatten
den Auftrag zu spionieren. Sie wissen nun, daß ein
Überfall auf Myra sinnlos ist.«
»Dann sollte man sie entkommen lassen, Maus. Aber
natürlich werden wir dich vorher befreien. Ich werde
drei schnelle Schiffe nachschicken. Beschreibe mir die
Berge, wie du sie siehst, dann weiß ich, wo sich das
Schiff etwa befindet. Schwarze Segel, sagst du?«
»Schwarz, und darüber die Flagge des Königs der
Schlangeninsel.«
Sie beschrieb die drei verbliebenen Bergspitzen.
Dragon schätzte den Winkel auf einer Karte ab, ehe er
einem Boten den Auftrag gab, zum Hafen zu eilen und
den Kapitänen dreier Schiffe den Befehl zum
Auslaufen zu überbringen. Jedem von ihnen gab er
eine entsprechende Botschaft mit, außerdem sollte
Kano mitfahren und Kontakt mit Yina halten.
Die drei Schiffe liefen aus und bekamen günstigen
Wind in die Segel, aber sie waren naturlich nicht so
schnell wie die Wellenreiterin. Es war ihnen nicht
möglich, den Piraten einzuholen, der inzwischen voll
auf Südkurs gegangen war und nicht zu kreuzen
brauchte. Trotzdem gaben die Kapitäne noch nicht auf.
Kano stand in Kontakt mit Yina.
Das Schiff ist sehr schnell. Die Bugwelle reicht fast
zur Luke meiner Kabine, Kano. Es ist, als ob wir flögen.
Dann werden wir dich nie einholen können, Maus.
Versucht es wenigstens, sonst bin ich verloren.
Wer soll dir schon etwas tun wollen? So schön bist
du nun auch wieder nicht.
Du bist widerlich, Kano.
Ich bin nur ehrlich! Aber sei beruhigt, ich werde
alles versuchen, dich zu retten, schon um Bodo einen
Gefallen zu tun.
Kleiner Giftzwerg!
Warte nur, Maus! Kim und ich werden dir die Haare
lang ziehen, wenn wir dich befreit haben.
Ja, wenn! dachte Yina bei sich und blieb mit Kano in
Kontakt, um die gutgemeinte Rettungsaktion weiter
verfolgen zu können. Aber wenn sie die hochgehende
Bugwelle sah, verlor sie die letzte Hoffnung, daß die
Aktion noch gelingen könnte. Immerhin befand sie sich
in der Zelle in relativer Sicherheit, denn sie stand unter
dem Schutz des Kapitäns, über dessen Pläne es
allerdings kaum einen Zweifel gab. Selbst dann, wenn
er die Absicht hatte, sie auf dem Sklavenmarkt zu
verkaufen, würde er nicht auf das Vergnügen
verzichten wollen, sie erst einmal für sich zu haben.
Vielleicht würde sogar der bärtige Bootsmann noch
Ansprüche anmelden, denn schließlich war er es ja
gewesen, der sie entdeckt und gefangengenommen
hatte.
Sie schauderte zusammen, wenn sie daran dachte.
Ich sehe nur noch den mittleren Berg, dachte sie zu
Kano.
Ich sehe noch alle drei, also sind wir noch weit von
dir entfernt. Wir holen nicht auf. Der Kapitän will
aufgeben.
Das darf er nicht! Dragon wird ihn bestrafen.
Weil er etwas Sinnloses unterläßt, Maus? Ich glaube
nicht, daß er das tun wird. Aber ich werde versuchen,
ihn umzustimmen. Es könnte ja auch sein, daß Jaggar
den Kurs wechselt und wir ihm den Weg abschneiden.
Du mußt es uns nur rechtzeitig mitteilen.
Wie soll ich wissen, ob er den Kurs wechselt? Ich
habe keine Ahnung von der Seefahrt.
Kannst du gut sehen? Dann achte auf die Segel.
Wenn sich ihre Stellung ändert, teile es mir mit.
Ich kann nur das Meer sehen, nicht die Segel.
Doch, wenn sie umschwenken, wirst du sie sehen
können. Dann achte auf den Lauf der großen
Meereswellen. An ihnen kannst du eine Kursänderung
feststellen. Wie laufen sie jetzt?
Schräg auf uns zu, von Nordwesten, der Sonne nach
zu urteilen.
Gut, dann laß sie nicht aus den Augen.
Yina blieb ununterbrochen an der Luke stehen, aber
die Wellen kamen immer von Nordwesten. In
Wirklichkeit kamen sie natürlich nicht schräg auf das
Schiff zu, sondern wurden von ihm überholt. Dadurch
entstand der falsche Eindruck, sie kämen auf das Schiff
zu. Aber das änderte nichts daran, daß die Schwarze
Wellenreiterin ihren bisherigen Südkurs unverändert
beibehielt.
Der mittlere Gipfel sank unter den Horizont, und
damit versank auch Yinas letzte Hoffnung, sie könne
doch noch gerettet werden.
Aber erst dann, als es nach vielen Stunden wieder zu
dunkeln begann, erhielt sie die Gewißheit, daß sie
verloren war, wenn sie es nicht verstand, sich selber zu
helfen.
Kano teilte ihr mit:
Der Kapitän hat sich endgültig zur Umkehr
entschlossen, obwohl ich Kontakt mit dir halte. Er
fürchtet Dragons Zorn nicht, weil er davon überzeugt
ist, ihn von der Richtigkeit seiner Handlungsweise
überzeugen zu können. Maus, nun bist du auf dich
allein angewiesen, ich kann nichts mehr für dich tun.
Das Schiff der Piraten ist zu schnell für uns.
Yina antwortete:
Ich mache niemandem einen Vorwurf. Ich werde
mir selbst zu helfen wissen. Auf Wiedersehen, Kano.
Grüße Dragon.
Abends, wenn die Sonne untergeht, suche Kontakt
mit mir. Jeden Abend, hörst du, Maus? Vielleicht
können wir etwas für dich tun.
Gut, ich werde es nicht vergessen. Aber Schluß jetzt.
Jemand ist vor der Kabinentür ...
Damit brach der Kontakt vorerst ab.
Die drei Schiffe Dragons wendeten und fuhren
schräg gegen den Wind nach Myra zurück.
3.
In ihrer eigenen Sprache nannten sich die
Fischmenschen: die Tainu.
Issola war achtzehn Jahre alt und die Tochter der
gegenwärtigen Tainula Ismena, der Mutter des
gesamten Stammes, der auf und unter der namenlosen
Insel lebte, die dem Fischer und Jäger Xeno zum
Verderben geworden war.
In der Runde der Seemütter, dem sogenannten
Talatta, genoß Ismena höchstes Ansehen, abgesehen
von der Tatsache, daß sie nun für ein volles Jahr die
Regierungsgeschäfte zu führen hatte. Die Regierung
war die Angelegenheit der Frauen. Sie war für alle
kommunalen Probleme zuständig, auch für die
Erziehung der weiblichen Kinder. Weitere zehn
erfahrene Seemutter standen ihr mit Rat und Tat
hilfreich zur Seite.
Diese schwere Verantwortung hatten die weiblichen
Tainu dem Umstand zu verdanken, daß sie
ausnahmslos Gedanken lesen konnten, während die
Männer diese Gabe nicht besaßen. Diese offensichtliche
Überlegenheit wurde jedoch von den Frauen nicht
ausgenutzt. Die Männer waren für den Kampf da, für
die Jagd und das Handwerk, sie besorgten den
Fischfang und waren für den Schutz des Stammes
verantwortlich. Völlig gleichberechtigt lebten sie mit
den Frauen zusammen, und in Eheangelegenheiten
kam es sogar vor, daß sie dominierten. Außerdem
erzogen sie die Söhne.
Obwohl die feinfühlige Issola die Bestrafung des
Mörders Xeno als gerecht empfand, entfernte sie sich
angewidert von der Gruppe ihrer Artgenossen, als der
Fremde ertränkt wurde.
Sie schwamm nach Osten, der Großen Insel
entgegen. Sie wollte mit sich allein sein, denn ihre
eigene Mutter war es gewesen, die das Todesurteil
über den Fremden gesprochen hatte.
Sie waren böse, die Landmenschen, von Natur aus.
Sie töteten die Tainu, wo immer sie sie fanden. Die
Tainu aber wollten nichts anderes als in Frieden leben –
auf einer für sie dunklen Welt, die nicht ihre Heimat
war.
Hier draußen war das Meer tief und unheimlich,
aber Issola verspürte keine Angst. Das Wasser war ihr
vertrautes Element, mehr jedenfalls als das kalte,
stürmische, trockene und ungewohnte Land. Nur wenn
die Sonne schien, konnte sie sich dort wohl fühlen, aber
die kalte Nacht bedeutete Krankheit oder gar den Tod.
Heiße Trockenheit war jedoch genauso gefährlich.
Sie ließ sich nur dann ertragen, wenn Wasser
vorhanden war, in dem man sich abkühlen konnte. Das
Meer jedoch war ihr eigentliches Lebenselement. Bis zu
einer Stunde konnte Issola tauchen, ehe sie wieder Luft
einatmen mußte. Die ein wenig verkümmerten Kiemen
reichten nicht mehr ganz aus, den gesamten Luftvorrat
aus dem Wasser zu filtern.
Die Weilen gingen hoch, als sie an die Oberfläche
kam. Keine Küste war mehr in Sicht, weder im Westen
hinter ihr noch vor ihr im Osten. Schwarze Wolken
hatten sich vor die Sonne geschoben und ließen die
Welt dunkel und unfreundlich erscheinen.
Sie holte Luft und ließ sich wieder nach unten
sinken, wo es still und ruhig war. Hier merkte man
nichts mehr vom Sturm, der die Oberwelt heimsuchte
und viele Schiffe der Menschen versinken ließ.
Issola überquerte ein Riff, dessen oberster Gipfel nur
zwanzig Meter unter der Meeresoberfläche lag. Es war
so, als könne sie fliegen, frei von jeder Erdenschwere
und dem eigenen Gewicht. Das Wasser war das
natürliche Element aller Wesen, die sich nicht an die
Fesseln der Schwerkraft gewöhnen wollten.
Sie entdeckte märchenhafte Grotten voller
nahrhafter Pflanzen und Tiere. Fischschwärme stoben
zur Seite, wenn sie mitten durch sie
hindurchschwamm. Wenn oben die Sonne schien, war
es hier viel heller, aber auch das trübe Dämmerlicht
genügte, sie ein Paradies entdecken zu lassen.
Sie begann die Hinrichtung zu vergessen,
derentwegen sie davongeschwommen war.
Auf der Ostseite fiel das Riff steil in die unbekannte
Tiefe, aber Issola folgte dem zerklüfteten Hang, bis es
so dunkel geworden war, daß sie kaum noch etwas
erkennen konnte.
Mutter, dachte sie intensiv. Vielleicht kannst du
meine Gedanken hören. Wenn ja, dann bitte ich dich,
mir nicht böse zu sein, weil ich geflohen bin. Ich hasse
den Tod, auch den Tod meiner Feinde. Ich werde zu
ihnen schwimmen und versuchen, mit ihnen zu reden.
Es ist gut, daß du mich ihre Sprache gelehrt hast,
vielleicht wird es uns eines Tages allen nützen. Ich will
ihnen sagen, daß wir in Frieden leben wollen, im
Wasser, nicht auf ihrem Land. Verzeih mir, Mutter ...
Issola erhielt keine Antwort.
Ihre Mutter Ismena, die Tainula, hörte sie nicht.
Trotzdem schwamm sie unbeirrt weiter nach Osten,
unter sich den scheinbar bodenlosen Abgrund, der
zwischen den Inseln und dem Festland lauerte. Der
Graben zog sich ungefähr von Norden nach Süden,
und selbst Issola hatte es noch nicht gewagt, bis zu
seinem Grund hinabzutauchen.
Nach einer Stunde wurde die Atemluft knapp, und
sie mußte wieder hoch zur Oberfläche, die sie zugleich
haßte und liebte. Zu ihrem Erstaunen mußte sie
feststellen, daß eine starke Strömung, vielleicht eine
Folge des Sturmes, sie weiter nach Osten geführt hatte,
als sie zuerst vermutete. Die Große Insel lag bereits
hinter ihr im Westen, und sie trieb weiter auf das nicht
mehr ferne Festland zu.
Dort, so wußte sie, wohnten mehr Menschen als auf
den Eilanden des Engen Meeres.
Aber sie wollte ja zu den Menschen, sie wollte ja mit
ihnen reden und versuchen, ihrem Volk den Frieden zu
bringen. Die ständige Verfolgung durch die Menschen
mußte aufhören, wenn der Stamm der Tainu nicht
aussterben wollte. Es gab nur noch
zweitausendvierhundert von ihnen.
Sie schwamm die ganze Nacht durch, und als sie
einmal wieder auftauchte, sah sie weit vor sich die
felsigen Klippen der Küste steil in den roten
Morgenhimmel hinaufragen.
Nun kamen ihr doch die ersten Zweifel.
Wie überhaupt sollte sie mit den Menschen
sprechen, ehe sie von ihnen getötet wurde? Schon
einmal hatte es eine Tainula versucht, aber sie war nie
zurückgekehrt. Später fand man ihre Leiche im Meer
treibend. In ihrem Rücken stack noch der Pfeil eines
Jägers.
Issola beschloß, sich die Sache noch einmal gut zu
überlegen. Ohne Schwimmbewegungen ließ sie sich
auf die Küste zutreiben, wobei sie feststellte, daß der
Sturm nachgelassen hatte. Sie mußte eine ruhige Bucht
finden, wo sie an Land gehen konnte.
Sie sah kein einziges Schiff in den immer noch
hochgehenden Wogen des abflauenden Sturms, aber
darüber konnte sie nur froh sein. Schiffe bedeuteten
Fischer, und diese waren die schlimmsten Feinde der
Tainu.
Vielleicht waren die Menschen auf dem Festland
anders.
Vom Meer aus war es schwer, die verborgenen
Buchten zwischen den Felsen zu entdecken. Die Küste
sah überall gleich aus. Wie eine Wand, die ständig
wuchs, wirkten die Klippen, gegen die eine gischtende
Brandung anstürmte. Issola wußte, wie gefährlich diese
Brandung auch für sie sein konnte, aber sie ließ sich
entschlossen weitertreiben.
Wenn es hier überhaupt eine Bucht gab, so fand sie
diese auch.
Das Wasser war noch immer sehr tief, stellte sie
beim Abtauchen fest. Es würde besser sein, möglichst
weit unter der Oberfläche zu bleiben, damit sie nicht in
die Brandung geriet. Vielleicht gab es einen
Unterwassertunnel, der unter den Klippen
hindurchführte.
Wenig später sah sie unter sich Grund.
Der Hang kam steil nach oben, flachte aber dann in
zehn Metern Tiefe jäh ab. Issola konnte die Sonne über
sich sehen. Sie war höhergestiegen und hatte die
letzten Wolken vertrieben. Jede Einzelheit des
Meeresbodens war nun wieder deutlich zu erkennen.
Dann stieg der Boden weiter an, nicht sehr stark,
dafür jedoch felsig und voller Klippen.
Sie begann, nach der Lücke zu suchen, und tauchte
auf.
Bereits die erste Woge warf sie gegen den
unvermuteten Felsen, ehe sie etwas dagegen tun
konnte. Das scharfe Gestein ritzte die Haut ihres Beines
auf. Das Wasser färbte sich blutigrot. Noch bevor sie
tauchen konnte, war die nächste Woge heran, ergriff sie
mit Riesenkräften und hob sie dabei halb aus dem
Wasser. Sie sah die Klippe auf sich zu rasen und
streckte abwehrend beide Arme aus, um den Aufprall
abzumildern.
Sie verspürte einen furchtbaren Schmerz, als ihr
Kopf gegen den Felsen schlug, und verlor sofort das
Bewußtsein.
Sie besaß jedoch noch genügend Geistesgegenwart,
vorher tief Luft zu holen.
Ihr letzter Blick galt der ruhigen Bucht, die hinter
den Klippen lag, aber das Schiff mit den schwarzen
Segeln, dessen Anker gerade eingezogen wurde, sah sie
nicht mehr.
»Da schwimmt etwas im Wasser«, sagte einer der
Piraten und deutete in Richtung der Brandung. »Direkt
bei der Ausfahrt.«
Die Männer, die neben ihm an der Reling standen,
blickten angestrengt in die angegebene Richtung. Einer
knurrte:
»Wird ein toter Fischer sein, den können wir auch
nicht mehr lebendig machen. Wir können froh sein,
daß wir unsere Leute rechtzeitig an Bord holen
konnten, ehe der Sturm noch schlimmer wurde.«
»Wir müssen es dem Kapitän sagen«, meinte der
erstere pflichtbewußt.
Jaggar überwachte das Auslaufen aus dem
natürlichem Hafen und war im ersten Augenblick recht
ungehalten, als er dabei gestört wurde.
»Was sollen wir mit einer Leiche?« fuhr er den
Piraten an, der ihm die Mitteilung überbrachte.
»Niemand lebt mehr, der in der Brandung treibt.«
Aber dann packte ihn doch die Neugier, und er
folgte dem Mann zum Vorderdeck. Das Wasser in der
Bucht war ruhig und klar. Man konnte bis hinab zum
Grund sehen.
Jaggar schirmte die Augen gegen die
regenbogenfarbenen Brecher ab, die hinter dem
treibenden Körper gegen die Klippen klatschten. Er
beugte sich weiter vor, um besser sehen zu können,
dann sagte er:
»Das ist kein Fischer, das ist überhaupt kein Mann.
Es ist ein Mädchen, dazu noch unbekleidet. Los, ihr
faulen Hunde, holt sie an Bord. Vielleicht ist noch ein
bißchen Leben in ihr, dann haben wir wenigstens was
davon ...«
Drei Piraten warfen ein Netz in die Fluten. Da der
Wind noch von den Uferfelsen abgehalten wurde, trieb
die Schwarze Wellenreiterin nur langsam auf die
Ausfahrt der Bucht zu. Die Segel hingen schlaff am
Mast.
Jaggar sah interessiert zu, wie die Männer den Fund
an Bord zogen und auf die Planken legten. Er hatte sich
nicht getäuscht. Es war ein Mädchen – aber kein
gewöhnliches Mädchen.
»Ein Fischmensch!« stieß er hervor und kniete dann
neben Issola nieder, um sein Ohr gegen die zarte Brust
zu legen. »Und sie ist auch nicht tot, nur bewußtlos.
He, laß deine schmutzigen Finger von ihr! Wir werden
sie heil zur Schlangeninsel bringen, und ich ich wette,
wir erhalten eine gute Prämie dafür. Ein lebendiges
Fischmädchen – das hat noch keiner vor uns geschafft.«
»Wir sollten sie töten, sie sind böse und Dämonen«,
sagte einer der Piraten abergläubisch.
Jaggar fuhr ihn an:
»Halt den Mund. Dummkopf! Sie bringt viel Geld.
Für einen toten Fischmenschen zahlt der Erste Kapitän
keinen einzigen Krug Wein. Für ein lebendiges
Fischmädchen aber ...«
»Der Kapitän hat recht«, knurrte einer der Männer,
die neugierig auf den schlanken Körper herabsahen,
»Wir werden eine fürstliche Belohnung erhalten. Sie
wird im Krokodilteich um ihr Leben kämpfen müssen.
So etwas hat die Schlangeninsel noch nicht gesehen.«
»Richtig!« Jaggar erhob sich wieder. »Bringt sie in
die Kajüte neben der Gefängniszelle und stellt eine
Wache davor. Sobald sie zu sich kommt, möchte ich
geholt werden. Ich will versuchen, mit ihr zu reden.«
»Wird gemacht, Kapitän«, knurrten die Piraten und
schleppten Issola in die Kajüte. Die offenen Luken
waren zu klein, um sie entkommen zu lassen, aber
wenigstens war es nicht so stickig in dem kleinen
Raum.
Sie legten das Mädchen auf das Bett – und gingen.
Ihre Angst vor Jaggar war zu groß, als daß sie es
gewagt hätten, seine Befehle nicht zu befolgen.
Jaggar hatte inzwischen genug damit zu tun, das
Schiff aus der Bucht zu dirigieren. Kaum geriet es in
die Brandungswellen, setzte auch der Wind ein und
füllte die Segel. Das Schiff ging auf Kurs und passierte
die enge Ausfahrt. Rechts und links ragten die
gefährlichen Klippen aus den Wogen, und dann hatten
sie es geschafft. Einmal im offenen Wasser, war die
Schwarze Wellenreiterin frei und manövrierfähig. Sie
legte sich schräg und nahm Geschwindigkeit auf.
Jaggar übergab dem Steuermann das Ruder und
befahl ihm, in südlicher Richtung in der Nähe der
Küste zu bleiben. Dann begab er sich zu seiner
Gefangenen.
Issola stöhnte und wälzte sich unruhig auf dem Bett
hin und her. Es sah ganz so aus, als erlange sie
allmählich das Bewußtsein zurück. Jaggar zog einen
Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Er tat
nichts, um dem Mädchen zu helfen, und er hätte auch
gar nicht gewußt, was er tun sollte. Niemand wußte,
was ein Fischmensch brauchte und was gefährlich für
ihn war. Konnten sie überhaupt auf dem Land leben?
Ihre Augenlider zitterten, blieben aber noch
geschlossen.
Eigentlich ist sie ganz hübsch, dachte Jaggar, und so
sehr unterscheidet sie sich auch nicht von unseren
eigenen Mädchen. Aber sie hat Kiemen, und zwischen
den Fingern und Zehen sind Schwimmhäute. Jellis
wird mit mir zufrieden sein, wenn ihn auch die
Nachrichten über Myra vielleicht nicht so sehr erfreuen
werden.
Sie schlug die Augen auf und blickte ihn
verständnislos an.
»Verstehst du unsere Sprache?« fragte er mit rauher
Stimme.
Es dauerte einige Sekunden, ehe sie nickte. Ihre
Stimme klang fremdartig und ein wenig ängstlich:
»Ja, ich verstehe sie. Wer bist du? Wo bin ich?«
»Ich fischte dich aus dem Meer, du mußt gegen die
Klippen geschleudert worden sein. Ich bin Jaggar, der
Kapitän dieses Schiffes, und ich nehme dich mit zur
Schlangeninsel. Eigentlich sollte ich dich gleich hier
töten lassen.«
Sie sah ihn mit ihren großen Augen verständnislos
an.
»Töten? Warum? Was habe ich euch getan?«
»Eh ... nichts, aber du bist ein Fischmensch.
Deshalb.«
»Ist das Grund genug, jemanden umzubringen?«
Jaggar wirkte ein wenig ratlos. Er war ein rauher
Bursche, ein Pirat, manchmal auch ein Mörder. Aber er
tat es für seinen König und die Bruderschaft. Was er
auch tat, es war Gesetz. Und nun fragte ihn dieses
gefangene Fischmädchen, ob es richtig sei, sie zu töten.
»Ihr seid Räuber, das weiß doch jedermann. Ihr
fangt uns Menschen die Fische weg. Harmlose Fischer
zieht ihr unter Wasser, bis sie ertrinken. Wir wehren
uns nur, wenn wir euch töten.«
»Und warum lebe ich noch?«
Jaggar grinste, aber es wirkte nicht lustig.
»Ich bringe dich unserem König als Geschenk mit,
denn einen lebenden Fischmenschen haben wir noch
nie gefangen. Außerdem bist du ein Mädchen.
Sicherlich möchte König Jellis wissen, ob die Mädchen
der Fischmenschen soviel Freude spenden können wie
unsere eigenen Mädchen.« Er betrachtete sie von oben
bis unten. »Ich bin überzeugt, daß dem so ist.«
»Ich verstehe dich nicht«, gab sie zu.
Er schüttelte den Kopf.
»Wirklich nicht? Du bist doch kein Kind mehr, wie
ich sehe.«
»Meine Mutter ist zugleich die Mutter des Stammes
der Tainu.«
»Fleißige Mutter«, erkannte Jaggar spöttisch an. Er
zuckte die Achseln. »Na, vielleicht habe ich dich auch
falsch verstanden.«
Sie sah ihn ratlos an.
»Wird man mich später töten?«
Er nickte.
»Ganz bestimmt wird man das. Ich nehme an, man
wird dich in den großen Kampfteich werfen. Unsere
Gefangenen enden sehr oft dort. Sie haben jedoch eine
Chance, sonst wäre das Ganze ja sinnlos. Wer drei
Krokodile tötet, ist frei. Aber ich kann dir versichern, es
ist noch nie jemandem gelungen. Vielleicht hast du
mehr Glück.«
»Krokodile?«
Sie kannte keine Krokodile, und Jaggar beschrieb ihr
die Tiere ausführlich. Er schloß:
»Sie sind ewig hungrig, und wenn wir keine
Gefangenen mehr haben, opfern wir ihnen einen alten
Sklaven, der zur Arbeit nicht mehr taugt.«
Sie wandte sich voller Ekel ab.
»Ihr Landmenschen seid grausam und blutrünstig.
Und ich hatte gehofft, daß es einmal Frieden zwischen
euch und uns geben könnte. Deshalb kam ich zu euch.«
»Ich fürchte, da bist du bei mir an der falschen
Adresse. Vielleicht hätte dieser neue König von Myra
mehr Verständnis für dich, er ist ein Held, aber ein
Weichling. Man sagt, er hätte sogar Sklaven
freigelassen.«
Sie blickte ihn fragend an.
»Wie heißt dieser neue König, und wo ist Myra?«
»Dragon ist sein Name. Ihm müssen böse Geister
zur Seite stehen, sonst hätte er niemals seine Gegner
besiegen können. Und Myra ist das Land, an dessen
Küste wir jetzt vorbeifahren.«
»Ja, vielleicht hätte ich besser Dragon begegnen
sollen«, murmelte Issola resignierend. »Du scheinst
grausam und ungerecht zu sein.«
Jaggar tippte ihr mit dem Zeigefinger auf die Brust.
»Das würde ich nicht noch einmal sagen, sonst
verzichte ich auf die mir zustehende Belohnung. Was
soll ich dir zu essen bringen lassen!«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Den wirst du schon bekommen. Wir fangen dir ein
paar Fische.«
»Ich brauche Wasser. Das Leben auf dem Land ist
anstrengend für mich.«
»Ich lasse dir einen Eimer voll bringen.« Er stand auf
und ging zur Tür. »Versuche nicht zu fliehen. Hier auf
dem Gang steht ein starker Bursche, dem ich erlaubt
habe, mit dir zu machen, was er will – sobald du dein
Gefängnis verläßt. Bleibst du aber in der Kajüte, bist du
sicher. Hast du mich verstanden?«
Sie nickte wortlos und drehte sich auf die andere
Seite.
Jaggar ging hinaus und schloß die Tür. Er gab dem
Wächter einige Anweisungen und befahl ihm,
aufmerksam zu sein. Inzwischen sollte die
Gefängniszelle hergerichtet werden.
Den ganzen Tag über fuhr die Wellenreiterin nach
Süden, immer in Sichtweite der Küste. Dann begann es
zu dunkeln, und man hatte noch immer keinen
geeigneten Ankerplatz gefunden. Jaggar kannte die
Bucht der Großen Steine. Er wollte sie noch vor
Mitternacht erreichen. Von dort aus erst wollte er
endgültig die Heimreise antreten.
Er konnte noch nicht ahnen, daß er am anderen Tag
eine zweite Gefangene machen würde.
Erst als die drei Schiffe abdrehten und die
Verfolgung aufgaben, kam Yina das Aussichtslose ihrer
Lage voll zu Bewußtsein.
Sie warf sich auf das primitive Lager, nachdem die
Schritte des Mannes vor der Tür verklungen waren.
Wahrscheinlich war es nur einer der Piraten gewesen,
der sich davon überzeugt hatte, daß die Tür noch
verschlossen war.
Ganz ruhig lag sie da und versuchte, Jaggars
Gedanken zu finden, um mehr über seine wahren
Absichten zu erfahren. Mehrmals hörte sie die
Gedanken anderer Piraten, und zu ihrem Schrecken
befaßten sich viele dieser Gedanken mit ihr.
Auch Jaggar beschäftigte sich mit ihr, aber in einer
anderen Art und Weise. Er überlegte, wie seine
Gefangene ihm den größten Vorteil bringen könnte.
Zugleich jedoch dachte er noch an eine zweite
Gefangene, die wertvoller war.
Yinas Neugierde war erwacht.
Eine zweite Gefangene? Wer konnte das sein?
Und dann fing sie fremde Gedanken auf, aber sie
begriff nicht – ... Mutter, Ismena, verzeih mir, ich habe
es gut gemeint. Aber die Menschen des Landes haben
mich gefangen und entführen mich. Ich bin auf einem
Schiff mit schwarzen Segeln, und wir fahren nach
Süden, der Mittagssonne entgegen. Ich soll sterben.
Wenn du mich hörst, dann antworte. Bitte, Mutter,
antworte ...
Die Menschen des Landes ...
Yina war nicht hübsch, aber sie war klüger als die
meisten Mädchen ihres Alters. Sie verstand zu denken
und zu kombinieren. Wenn die Gefangene von den
Menschen des Landes sprach, mußte sie selbst etwas
anderes sein.
Ein Mensch des Wassers?
Sie lauschte weiter. Es kam keine Antwort, aber ein
zweiter Notruf der Unbekannten, mit der sich Yina
sofort verbunden fühlte. Es war ihr klar, daß die
andere Gefangene ebenfalls eine Gedankenleserin sein
mußte, sonst hätte sie niemals diesen Notruf aussenden
können. Und ihre Mutter war ebenfalls eine
Gedankenleserin.
Die Fischmenschen ...! Waren sie intelligent?
Konnten sie sogar die Gedanken lesen?
Yina schloß die Augen und versuchte, sich auf die
unbekannte Gefangene zu konzentrieren. Jagger und
seine finsteren Pläne waren für den Augenblick
vergessen.
Tochter von Ismena, kannst du mich hören? Dann
antworte mir! Ich empfange deine Gedanken und
deinen Hilferuf, aber ich bin selbst eine Gefangene auf
diesem Schiff. Vielleicht können wir uns gegenseitig
helfen. Antworte, wenn du mich verstehst.
Und dann, fast wider Erwarten, erhielt sie die
Botschaft:
Ich höre dich. Wer bist du?
Ich bin Yina. Die Piraten haben mich gefangen und
wollen mich als Sklavin verkaufen. Sie sind böse, sehr
böse. Wir müssen versuchen, ihnen zu entkommen.
Wollen wir einander vertrauen? Aber wer bist du, daß
du Gedanken hören kannst?
Alle weiblichen Tainu können Gedanken hören.
Den Namen hatte Yina noch nie zuvor gehört, und
als sie fragte, erfuhr sie, daß sich die Fischmenschen so
nannten. Damit wurde ihr erster Verdacht bestätigt. In
ihr waren keine Vorurteile, und selbst von der Natur
benachteiligt, verspürte sie sofort eine große Sympathie
für Issola, die ebenfalls einer verfolgten Minderheit
angehörte.
Wie müssen versuchen, daß man uns zusammen in
einem Raum einsperrt. Dann finden wir bestimmt eine
Gelegenheit, gemeinsam zu fliehen. Ich bin eine
schlechte Schwimmerin gegen dich, aber im Wasser
kannst du mir helfen. Ich meinerseits werde versuchen,
den Kapitän bei guter Laune zu halten. Ich glaube, es
gibt gewisse Dinge, die ihm gefallen würden, und ein
scheinbar williges Mädchen ist auch einem
Piratenkapitän lieber als eine widerspenstige Sklavin.
Issola, selbst ebenfalls unerfahren in diesen Dingen,
gab ihr recht. Sie fügte hinzu:
Die Piraten wissen nichts von meinen
Lebensbedingungen. Es ist heiß in meinem Gefängnis,
wenn auch zum Aushalten. Wenn es bei dir kühler ist,
wird man mich zu dir bringen, wenn ich Erschöpfung
vortäusche. Mein Gefängnis ist nicht verschlossen,
deines aber doch. Es ist sicherer, also wird man mich
zu dir bringen.
Das sah Yina sofort ein. Sie versprach, in Kontakt zu
bleiben. Sie selbst stand auf und klopfte gegen die Tür.
Wenig später wurde sie geöffnet. Ein Matrose sah sie
lüstern an.
»Was ist, mein Schatz? Möchtest du Gesellschaft
haben?«
»Wenn der Kapitän es erlaubt – du kannst ihn ja mal
fragen.«
»Verfluchte Katze!« zischte er wütend.
Sie achtete nicht darauf.
»Ich habe Hunger und Durst, und dann möchte ich
mit dem Kapitän sprechen.«
Er hob die Hand, als wolle er sie schlagen, aber dann
tat er es doch nicht.
»Gut, du Biest, ich werde dafür sorgen, daß man dir
etwas bringt. Aber freu dich nicht zu früh. Wir werden
schon unseren Spaß mit dir haben, wenn es soweit ist.«
»Vergiß nicht, dem Kapitän meine Bitte
auszurichten.«
Der Mann verschwand. Rasselnd schloß sich die
Tür. Das Schloß schnappte zu.
Yina legte sich wieder aufs Bett und wartete.
Die erhoffte Wende kam, als Issola das Bewußtsein
verlor.
4.
Der Wächter vor der Tür hörte das qualvolle Stöhnen
der Gefangenen und warf einen hastigen Blick in die
Kabine. Das Fischmädchen wälzte sich auf ihrem Lager
hin und her, als habe es unerträgliche Schmerzen.
Der Pirat wußte nur zu genau, welchen Wert die
Gefangene besaß, aber nur lebendig. Er schloß die Tür
wieder und rannte den Gang entlang, bis er auf einen
anderen Matrosen stieß.
»Los, lauf zum Kapitän und sage ihm, daß die
Gefangene stirbt. Beeile dich ...«
Dann kehrte er auf seinen Posten zurück.
Jaggar studierte die Seekarten und sah ungehalten
auf, als der Mann ohne Ankündigung in seine Kabine
kam und den Auftrag des Wächters erfüllte.
»Stirbt, sagst du?«
»Sie scheint Schmerzen zu haben.«
»Gut, ich sehe nach.«
Jaggar schob den Wächter beiseite und betrat Issolas
Kabine. Er ging zum Bett und sah auf die Gefangene
hinab. Ihr Gesicht war noch blasser als vorher.
Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Sie stöhnte.
»Na, was ist mit dir? Hast du Durst oder Hunger?«
Issola wälzte sich auf den Rücken und öffnete die
Augen. Sie blickte angstvoll in Jaggars
braungebranntes Gesicht, in dem so etwas wie ehrliche
Besorgnis zu lesen war. Natürlich galt diese Besorgnis
weniger der Gefangenen selbst als vielmehr dem
eventuellen Verlust, den er durch ihren Tod erleiden
würde.
»Heiß, trocken – mir ist schlecht.«
»Ich werde dich in den Raum nebenan bringen
lassen, da ist es kühler. Außerdem kann er
verschlossen werden. Allerdings wirst du dann nicht
mehr allein sein. Vertrage dich mit der anderen
Gefangenen, ich brauche euch beide gesund und
lebendig.«
»Wenn es nur kühler dort ist ...!«
Jaggar nickte und ging zur Tür, um dem Wächter
den Befehl zu geben, die Gefängniszelle zu öffnen. Er
selbst nahm dann Issola in seine kräftigen Arme und
hob sie hoch. Ein merkwürdiges Gefühl durchrieselte
ihn, als er den schmächtigen Körper des Mädchens an
seiner Brust spürte, und für eine Sekunde tat sie ihm
leid, denn er wußte, was ihr bevorstand, wenn er sie
lebendig zur Schlangeninsel brachte.
Er trug sie das kurze Stück über den Korridor und
betrat Yinas Zelle.
»Ich bringe dir Gesellschaft – ein Fischmädchen.
Kümmere dich um sie, sie scheint krank zu sein.
Vielleicht findest du auch heraus, was sie hat. Gib mir
dann Bescheid. Ich will sie gesund.«
Yina schauspielerte nicht schlecht. Verwundert
hockte sie auf einem Stuhl neben dem Lager und
starrte Issola staunend an. Dann sagte sie:
»Ein Fischmensch! Wo habt ihr sie gefangen?«
»Das spielt keine Rolle. Tu, was ich dir befohlen
habe, es kann nur gut für dich sein.«
Behutsam legte er Issola auf das Bett, betrachtete sie
eine Weile und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch
einmal um.
»Ich komme bald vorbei, und dann möchte ich
wissen, was wir für sie tun können.«
Die Tür schloß sich knarrend.
Yina wartete, bis die Schritte des Kapitäns
verklungen waren, dann zog sie den Stuhl näher ans
Bett und beugte sich über Issola.
»Sprichst du meine Sprache?«
»Ja, aber wir können auch denken, dann hört uns
niemand.«
»Wir sind sicher, wenn wir nicht zu laut sprechen.
Was ist, bist du wirklich krank?«
»Sehr wohl fühle ich mich nicht. Es war heiß in
meiner Kabine. Meine Haut ist ausgetrocknet. Ich
brauche Wasser viel Wasser, damit ich schwimmen
kann. Aber frischer Fisch würde auch genügen. Wenn
ich das kühle, nasse Fleisch auf der Haut spüre, wird
mir besser werden.«
»Fisch? Das verstehe ich nicht.«
»Es ist ganz einfach. Fischfleisch besteht zum
größten Teil aus Wasser, es trocknet nicht so schnell
aus und hält länger an, als würde ich mich mit Wasser
überschütten. Aber ich glaube nicht, daß die Piraten
meinen merkwürdigen Wunsch erfüllen werden, der
nur der erste Schritt zur Rettung ist.«
»Das laß meine Sorge sein, Issola.«
»Wer bist du eigentlich? Hast du schon mal etwas
von einem König Dragon gehört? Der Pirat erzählte
mir von ihm und behauptete, er sei ein Schwächling,
weil er Menschenleben schone.«
»Dragon ...!« In Yinas Augen kam ein fast
schwärmerischer Ausdruck. »Er ist der beste Mensch,
den ich kenne. Ich gehöre zu seinem Gefolge. Leider
scheiterte der Befreiungsversuch, weil die Schiffe, die
uns verfolgten, nicht schnell genug waren.«
»So kennst du Dragon also ... Glaubst du, daß er
unserem Volk helfen würde und könnte?«
»Wie meinst du das?«
Jssola berichtete ihr von den ständigen
Verfolgungen durch die Menschen. Sie schilderte die
Geschehnisse seit ihrer unerlaubten Entfernung vom
Stamm und erklärte ihr ihre Absichten. Sie schien
davon überzeugt zu sein, daß man mit den Menschen
ein Abkommen schließen könne, das beiden Seiten den
Frieden sichere.
Yina schüttelte voller Zweifel den Kopf.
»Die Menschen sind sehr wandelbar, und man weiß
nie, was sie im nächsten Augenblick tun werden, aber
vielleicht kann Dragon ein Gesetz erlassen, das die
Verfolgung deines Stammes unter Strafe stellt. Wenn
ich jemals wieder frei sein werde, spreche ich mit ihm.«
»Wir werden beide frei sein. Aber unternehmen wir
den ersten Schritt. Yina. Besorge mir frische Fische.«
Yina nickte und ging zur Tür. Sie klopfte gegen das
halbmorsche Holz und trat zurück, als sie Schritte
hörte.
Es war Jaggar selbst.
»Nun, wie geht es ihr? Habt ihr miteinander
sprechen können?«
»Sie versteht mich«, bestätigte Yina. »Und sie hat
einen merkwürdigen Wunsch geäußert. Eigentlich
würde sie nur dann schnell wieder gesund, wenn man
sie ins Meer würfe, aber sie wäre auch mit einem Korb
frisch gefangener Fische zufrieden. Man müßte ihren
ganzen Körper damit bedecken, damit die Trockenheit
verschwindet und die Wunden heilen.«
»Fische? Verrückt!«
Yina versuchte, es ihm zu erklären. Der
mißtrauische Jaggar überdachte das Gehörte eine Weile
und sah wohl ein, daß Fische keinen Schaden anrichten
konnten. Schließlich versprach er, die Fische besorgen
zu lassen.
»Wir werden einfach ein Netz hinter dem Schiff
herschleppen. In einer Stunde können wir mit dem
Fang die ganze Kabine anfüllen. Bis dahin muß sich
das Fischmädchen mit einem Eimer Wasser begnügen.«
Ohne ein weiteres Wort ging er.
Als sich die Tür geschlossen hatte, drückte Issola
Yinas Hand.
»Danke, Yina. Du hast mir sehr geholfen. Nun
wollen wir uns den zweiten Schritt überlegen.«
»Mir ist da auch schon eine Idee gekommen, Issola.
Der Kapitän selbst hat sie mir gegeben. Man hat dich
mit einem Netz gefangen, und eben sprach er wieder
von einem Netz. Jaggar muß also davon überzeugt
sein, daß du niemals aus einem Netz entkommen
kannst. Wenn ich ihn dazu überreden kann, dich
später, wenn es dir besser geht, mit einem Netz ins
Wasser zu lassen ...«
»Ich kann nicht aus einem Netz entkommen, denn
ich habe kein Messer, mit dem ich es zerschneiden
könnte ...«
»Du wirst dann nicht allem sein«, versprach Yina.
»Ich komme mit.«
»Wie willst du das machen?«
»Ich weiß noch nicht. Wir haben noch viel Zeit zum
Überlegen.« Sie sah Issola forschend an. »Du hast mir
von den Delphinen berichtet und sie deine
Wasserbrüder genannt. Kannst du dich mit ihnen
verständigen und sie herbeiholen?«
»Sie sind keine Gedankenleser, wenn es auch mir
manchmal gelingt, ihre Gedanken zu hören. Aber ich
verstehe sie nicht immer. Doch ich weiß, daß sie
unserem Schiff folgen. Wahrscheinlich wurde mein
Hilferuf doch aufgefangen, und das Talatta, die Runde
der Seemütter, hat entsprechende Hilfsmaßnahmen
eingeleitet.«
»Sehr gut. Die Delphine würden dir also helfen?«
»Sie sind meine Wasserbrüder – natürlich.«
»Dann können wir jetzt nichts anderes tun, als
abwarten, bis man die Fische bringt. Bis dahin wird es
dunkel sein. Morgen sehen wir dann weiter. Jetzt ruhe
dich aus, ich halte Wache.«
Kein Tainu wußte, was vor mehr als zweitausend
Sommer geschehen war, nur die alten Sagen
berichteten in unklarer Form von den rätselhaften
Ereignissen.
Als Atlantis vor zweitausend Sommern unterging,
kam es zu schweren Erschütterungen des
Dimensionsgefüges zwischen den zeitlich
nebeneinander existierenden Parallelwelten. Es
entstanden Dimensionsrisse, die für begrenzte Zeit und
manchmal auch in regelmäßigen Abständen das
Überwechseln von einer Welt zur anderen
ermöglichten. Dieses Wechseln geschah dann zumeist
unfreiwillig.
Das Volk der Tainu wußte nichts von diesen
Dimensionsrissen, aber die Überlieferung berichtete in
abgewandelter Form von ihnen. So hatten sie einst, vor
undenklichen Zeiten, auf einer paradiesischen
Wasserwelt gelebt, die sie Taa nannten. Die
Grottenstadt Agaia war ihre wahre Heimat gewesen.
Sie lag in dem warmen, flachen Meer der Welt
Taa – eine der vielen Inseln, die aus den Fluten ragten.
Hier waren die Urmütter und die Urväter glücklich
gewesen. Sie hatten keine Feinde besessen und im
Überfluß gelebt.
Bis eines Tages die Katastrophe über sie
hereinbrach.
Eine riesige Flutwelle überschwemmte alle Inseln,
zertrümmerte die Wohnhöhlen unter Wasser und
tötete fast alle Tainu. Lediglich etwas mehr als tausend
Männer und Frauen entgingen diesem Geschick, weil
sie sich zu dieser Zeit schwimmend im offenen Meer
aufhielten. Ein gewaltiger Strudel packte sie und zog
sie in die Tiefe – aber sie ertranken nicht. Denn nach
einer Stunde fanden sie sich auf einer ihr unbekannten
Welt wieder.
Das Wasser war tief und dunkel, nicht so warm und
sonnendurchflutet wie auf Taa. Aber es war Wasser.
Und es gab eine riesige Insel, wie die Tainu sie noch nie
zuvor gesehen hatten. Sie nannten sie die Große
Felseninsel, und da es viele geschützte Buchten und
Unterwassergrotten gab, wählten sie sie als neue
Heimat.
Doch dann begegneten sie den Landbewohnern, den
Herren der neuen Heimat. Obwohl sie sich ihnen
friedlich näherten, wurden sie von ihnen verfolgt und
erbarmungslos gejagt. Selbst auf dem Meer waren sie
nicht mehr sicher, denn dort schleppten die Fischer
große Netze hinter ihren Booten her, um die
Fischmenschen zu fangen und zu töten.
Die damalige Stammesmutter schlug vor, weiter
nach Süden zu ziehen, wo man einige unbewohnte
kleinere Vulkaninseln entdeckt hatte, die einer
größeren Insel vorgelagert waren, die man später die
Vogelinsel nannte.
Taa – das war die Welt des Hellen Wassers, aber
Aotaa, von den Landbewohnern Erde genannt, war die
Welt des Dunklen Wassers.
Viele hundert Sommer blieben sie auf den
unbewohnten Inseln und lebten in den Grotten der
zerklüfteten Küsten. Selten nur kamen Fischer, die
nichts von ihrer Existenz ahnten, wenn sie sich auch
die schlimmsten Schauermärchen über die
Wassermenschen erzählten.
Inzwischen, so wurde weiter in der Überlieferung
berichtet, war das Volk der Tainu wieder größer
geworden. Sechstausend von ihnen hatten auf der Erde
eine neue Heimat gefunden, und sie lebten friedlich in
den klaren Fluten der Vulkaninseln.
Dann wurden sie abermals entdeckt und
beschlossen, weiterzuziehen. Doch bevor es dazu
kommen konnte, brach abermals eine unerwartete
Katastrophe über den unglücklichen Stamm herein.
Der bislang ruhige Vulkan der größten Insel brach aus
und vernichtete die Grottenstädte. Nur jene Tainu, die
gerade im freien Meer waren, überlebten.
Unter ihnen befand sich die Stammesmutter.
Sie gab den Befehl, der Sonne entgegenzuziehen,
und von den 2800 Überlebenden verloren während der
Wanderschaft, die fast einen Sommer dauert, weitere
vierhundert ihr Leben.
Dann erreichten sie die namenlose Insel.
Viertausend Delphine hatten den Zug begleitet und
beschützt.
Die namenlose Insel war unbewohnt, aber auch
hierher kamen die Fischer, und unerbittlich jagten sie
die Tainu, die sich kaum noch an der Oberfläche des
Meeres sehen lassen konnten, Aber im Osten war das
Festland. Wohin sollte man noch fliehen?
Also blieben sie.
Eines Tages mußte es Frieden zwischen ihnen, den
Kinder des Hellen Wassers, und den Bewohnern des
Landes geben – das war ihre einzige Hoffnung.
Mehrmals war es den Tainu gelungen, einen
einsamen Fischer zu fangen und mit ihm zu sprechen.
So erfuhren sie, daß es die Angst allein war, die ihr
Leben bedrohte. Die Menschen hielten sie für Dämonen
und Fischräuber. Sie töteten aus Furcht und
Aberglauben. Hinzu kamen die phantastischen
Berichte über die »Weltentore«, die es im Meer oder an
den Küsten geben sollte. Sie wurden in
Zusammenhang mit den Fischmenschen gebracht.
Aber niemand wußte, was ein Weltentor eigentlich
war. Es wurde nur erzählt, daß in ihnen Menschen
spurlos verschwunden und niemals wieder
aufgetaucht waren. Auch daran sollten die
Fischmenschen nicht unschuldig sein.
Die gefangenen Fischer wurden anfangs immer
wieder freigelassen, aber wenn sie ihre Geschichte
daheim erzählten, glaubten ihnen die Menschen nicht.
Man hielt sie für Aufschneider und lachte sie aus. Die
Tainu waren und blieben böse Dämonen, die vernichtet
werden mußten.
Nun schlugen die Tainu zurück.
Sie nahmen Fischer, die Jagd auf sie machten,
gefangen und verurteilten sie. Manche wurden auf
einsamen Inseln einfach ausgesetzt aber jene, die einen
Tainu getötet hatten, wurden ertränkt.
Dadurch wurde nichts besser.
Keiner wußte einen Rat.
Bis zu jenem Tag, an dem Issola aufbrach, um mit
den Menschen zu sprechen.
Denn sie hatte Yina gefunden.
Zwei Männer brachten den Korb mit den Fischen,
stellten ihn mitten in die Zelle und verschwanden
wieder. Jaggar schloß die Tür.
»Du kannst in den Fischen baden«, sagte er spöttisch
zu Issola. »Aber ich sehe mir das an.«
»Können wir ein Messer haben?« fragte Yina.
Er betrachtete sie mißtrauisch.
»Du wirst doch nicht auf dumme Gedanken
kommen, he?«
»Hast du Angst vor mir?«
Er zuckte die Schultern und zog den Dolch aus dem
Gürtel.
»Du scheinst dich ja gut mit Fischmenschen und
ihren Gewohnheiten auszukennen, Mädchen.« Er gab
ihr den Dolch. »Du wirst eine gute Sklavin abgeben.«
Yina schuppte die Fische ab und gab sie Issola, die
sie sorgfältig so auf ihren Körper legte, daß alles von
ihnen bedeckt wurde. Dann lag sie ganz ruhig, als sei
sie eingeschlafen.
»Und was soll der Unsinn?« erkundigte sich Jaggar,
als Yina ihm den Dolch zurückreichte.
»Die Fische spenden nicht nur Feuchtigkeit, sondern
sie heilen auch die Wunden. Du wirst sehen, Issola
wird bald wieder ganz gesund sein. Allerdings wäre
richtiges Meerwasser besser. Ihre Haut trocknet sonst
allmählich aus. Wenn wir ein Bassin auf dem Schiff
hatten.«
»Die ist kein Luxussegler!« fuhr Jaggar sie wütend
an.
»Ich weiß, ihr seid nur Piraten«, erwiderte sie kühl.
Er hob die Hand, als wolle er sie schlagen, ließ sie
jedoch wieder sinken.
»Eine schlagfertige Antwort«, erkannte er an. »Aber
sei das nächste Mal vorsichtiger mit deinen
Bemerkungen.« Er schwieg eine Weile, betrachtete die
ruhig daliegende Issola und wandte dann seine
Aufmerksamkeit wieder Yina zu. Draußen dunkelte es
bereits. »Wir sollten sie ein wenig allein lassen. Komm
mit in meine Kabine, ich habe mit dir zu sprechen.«
Er wartete keine Antwort ab. An der Tür blieb er
stehen, bis Yina ihm folgte. Das Mädchen ahnte, daß
ihr nun eine Entscheidung bevorstand. Von ihrem
Verhalten hing nun alles ab.
Jaggar verschloß die Zellentür, vor der kein Posten
stand. Er verschloß auch die Tür seiner Kabine,
nachdem Yina eingetreten war.
»Setz dich dorthin«, befahl er und deutete auf sein
Bett. Er ging zum Schrank und holte einen Krug mit
Wein. Zusammen mit zwei Bechern stellte er ihn auf
den Tisch und setzte sich auf den Stuhl dahinter. »Ich
habe mich bisher noch nicht entschließen können, ob
ich dich behalten oder verkaufen soll. Was wäre dir
lieber?«
»Werde ich denn gefragt?«
Er grinste breit.
»Ein wenig schon, die Entscheidung liegt an deinem
Verhalten. Hast du schon einen Mann gehabt?«
»Ich bin noch jung, erst siebzehn Sommer alt. Nein.«
Er schmunzelte befriedigt.
»Dann bist du mehr wert, als die andern, die ich
bisher verkaufen konnte. Trotzdem möchte ich dich
behalten. Du bist nicht schön, aber dafür besitzt du
Verstand. Außerdem ...«
Sie wußte, was er dachte und wollte. Er wollte sie
haben, und zwar jetzt. Selbst dann, wenn er danach
keinen so hohen Preis mehr erzielte.
»Ich kenne die Gefühle der Männer nicht«, sagte sie
vorsichtig. »Ich weiß auch nicht, was für einen Mann
schöner ist: Wenn er sich einfach nimmt, was er haben
will, oder wenn er freiwillig das bekommt, was er gern
haben möchte.«
Er überlegte, dann erfaßte er den Sinn dessen, was
sie meinte.
»Freiwillig? Du würdest dich mir freiwillig
hingeben?«
Sie erwiderte:
»Vielleicht würde ich es wirklich tun, aber nicht
schon heute. Du müßtest mir ein wenig Zeit lassen. Es
kommt alles so plötzlich und überraschend. Selbst
wenn du ein Piratenkapitän bist, bist du doch ein
Mann. Ich glaube schon, daß ich dich möchte. Es war
schon immer mein Wunsch, das erste Mal nicht dazu
gezwungen zu werden.«
Er nickte und schenkte ein.
»Ich verstehe dich, und mir wäre es auch lieber.
Komm, trink mit mir.«
»Ich bin keinen Wein gewöhnt.«
»Lüge nicht, in deinem Gepäck war Wein.«
»Er galt nur der Stärkung. Aber ich habe betrunkene
Männer gesehen. Sie sind widerlich. Ich möchte dich
nie so sehen.«
Nun lachte Jaggar laut auf.
»Das wirst du nicht so schnell erleben, ich bin
einiges gewöhnt.« Er stand auf und setzte sich neben
sie. Dann gab er ihr einen Becher. »Keine Angst, ich
will dich nicht betrunken machen. Und vielleicht höre
ich wirklich auf dich und nehme dich nicht mit Gewalt,
wie es mir zustände. Es ist einiges wahr an dem, was
du gesagt hast. Selbst erfahrene Frauen wissen das oft
nicht. Ja, wahrscheinlich werde ich dich doch
behalten.«
Sie nippte an dem Wein. Er war sauer und warm.
Das Licht der Öllampe flackerte und erleuchtete
kaum den Raum.
Jaggar lehnte sich zurück und legte den Arm um sie.
»Aber ein wenig kennenlernen sollten wir uns schon
jetzt, kleine Yina.« Und er dachte: Ich werde sie schon
soweit bringen – heute noch! Und laut fügte er hinzu:
»Du beginnst mir wirklich zu gefallen.«
Yina trank ihm zu, wie sie es bei den Soldaten
Dragons gesehen hatte.
»Du auch, Kapitän Jaggar. Aber das ändert meinen
Entschluß auch nicht. Ich möchte nachdenken, und ich
werde dir sagen, wann ich bereit bin. Ich verspreche
dir, daß du es nicht bereuen wirst.«
Zimperliche Ziege, dachte Jaggar, ohne zu ahnen,
daß sie seine Gedanken lesen konnte. Trink erst mal,
dann sehen wir weiter.
»Du meinst, du wirst dann alles tun, was ich von dir
verlange?«
»Ja, das verspreche ich dir.« Beim zweiten Glas
wurden Jaggars Gedanken konkreter. Yina wurde klar,
daß er sich nicht mehr lange beherrschen würde,
obwohl er sich sehr zurückhaltend benahm. Es wurde
Zeit, daß sie mit ihrem Vorschlag herausrückte, ehe es
zu spät dazu war.
»Weißt du, dieses Fischmädchen ist doch sehr
wertvoll für dich. Du willst, daß sie gesund wird, nicht
wahr?«
»Natürlich will ich das. Sie bringt eine gute
Belohnung. Aber lassen wir das jetzt. Ich möchte ...«
»Aber sie wird sterben, trotz der Fische, das hat sie
mir verraten. Und sie will auch lieber sterben als den
Krokodilen geopfert werden.«
Jaggar stellte den leergetrunkenen Becher auf den
Boden vor dem Bett zurück.
»Was sagst du da? Sie will sterben? Und die Fische
helfen nicht, behauptest du?«
»Sie bringen ein wenig Feuchtigkeit, aber sie heilen
nicht die Wunden. Nur das vorbeiströmende
Meerwasser könnte die Wunden schließen und heilen.
Aber wie sollte das möglich sein? Man kann sie nicht
einfach ins Wasser werfen, dann würde sie
entkommen.«
Er nickte und betrachtete sie forschend. Er
vermutete eine List.
»Man könnte sie festbinden.«
»Sicher, das wäre eine Möglichkeit, aber zu riskant.«
»Warum?«
»Wenn ein großer Raubfisch kommt, ist sie
verloren.«
»Richtig, daran habe ich nicht gedacht. Was schlägst
du vor?«
»Ich habe keinen Vorschlag«, erklärte sie
scheinheilig, denn sie hatte den seinen längst aus
seinen Gedanken lesen können. »Soll sie doch sterben,
wenn sie es will.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ein Netz! Wir werden sie in ein Netz legen, das
sorgfältig verschlossen werden muß, dann schleppen
wir sie hinter dem Schiff her. Sie hat dann Wasser
genug. Wie lange kann sie es ohne Luft aushalten?«
»Eine Stunde etwa. Das würde sicher genügen. Und
du meinst, daß ein Netz sicher genug ist?«
»Bestimmt.« Wieder sah er sie an. »Du versuchst mir
zu helfen. Warum das?«
Sie lehnte sich gegen ihn.
»Das sagte ich dir doch schon: Ich will nicht, daß du
mich mit Gewalt nimmst, sondern erst dann, wenn ich
dazu bereit bin. Das kann schon morgen sein ...«
Er begann zu überlegen, ob es nicht doch besser sei,
noch einen Tag zu warten. Dann stieß er sie sanft
zurück.
»Vielleicht hast du recht, Yina. Komm, gehen wir zu
dem Fischmädchen und sehen nach ihr. Ob sie es bis
morgen aushält? Es ist schon dunkel.«
»Ich weiß es nicht. Fragen wir sie.«
Yina atmete auf, als sie draußen auf dem Gang
waren und Jaggar die Tür zum Gefängnis aufsperrte.
Issola lag nun auf dem Bauch, der Rücken war mit
Fischen bedeckt. Sie atmete ruhig, als schliefe sie.
Jaggar hielt die Lampe so, daß er sie genau
betrachten konnte.
Yina erschrak, als sie seine Gedanken las. Dieser
Piratenkapitän war anscheinend unersättlich, was
Frauen anbetraf. Das Fischmädchen reizte ihn. Nur der
Gedanke daran, was sie ihm heil und gesund
einbringen konnte, hielt ihn von seinem Vorhaben ab.
»Achte auf sie, Yina.« befahl er mit rauher Stimme.
»Morgen werden wir sehen, wie es ihr geht. Vielleicht
machen wir es wirklich so, wie wir es besprochen
haben. Und was dich angeht, so werde ich mir
ebenfalls morgen deine Antwort holen.«
Die Tür schloß sich.
Yina atmete erleichtert auf und setzte sich auf den
Bettrand.
Issola sagte, ohne sich umzudrehen:
»Ich habe eure Unterhaltung verfolgt. Du bist klug
und gut, Yina. Ich vertraue dir. Morgen werden wir
fliehen.«
»Du wirst im Netz sein ...«
»Damit werden wir zusammen fertig.«
»Wie soll ich dir folgen können? Ich werde in der
Kabine bleiben müssen und ...«
»Nein, Jaggar wird dich mit an Deck nehmen, wenn
du ihm klarzumachen verstehst, daß es besser so ist.
Du mußt dann versuchen, das Seil zu zerschneiden, mit
dem das Netz am Schiff befestigt ist, und dann springst
du hinter mir her. Halte dich am Netz fest, wenn wir
versinken. Kannst du tauchen?«
»Nur ein wenig. Ich weiß nicht, wie lange ich die
Luft anhalten kann.«
»Die Wasserbrüder sind in der Nähe. Sie wissen,
was sie zu tun haben. Ich kann mit ihnen sprechen,
sobald ich in ihrer Nähe und unter Wasser bin.« Sie
seufzte. »Morgen sind wir frei, das verspreche ich dir.«
»Wenn du doch nur recht hättest ...!«
Die beiden Mädchen ruhten nebeneinander auf dem
breiten Bett. Das Schiff lag nur wenig schräg vor dem
Wind und schwankte kaum.
»Gute Nacht, Yina«, flüsterte Issola.
»Gute Nacht, meine Freundin«, erwiderte Yina, und
zum ersten Mal seit ihrem Abschied von Bodo fühlte
sie sich wieder glücklich.
5.
Die Tainula, Issolas Mutter Ismena, hatte einen der
Notrufe ihrer Tochter zwar aufgefangen, aber es war
ihr unmöglich gewesen, Kontakt mit ihr aufzunehmen.
Immerhin wußte sie, was geschehen war.
Sie berief die Runde der Seemütter ein und
berichtete. Dann fragte sie:
»Was können wir tun? Issola geriet in die Hände der
Landmenschen, und wenn wir ihr nicht helfen, wird
man sie töten. Das Schiff, das sie entführt, fährt der
Mittagssonne entgegen. Dort gibt es eine große Insel,
die sie Schlangeninsel nennen. Einmal dort, ist es zu
spat für einen Befreiungsversuch. Wir müssen sofort
handeln.«
Sie saßen um einen runden Tisch in einer nur
dämmerig erleuchteten Halle, deren Wände und
Decken aus nacktem Felsen bestanden. Der einzige
Zugang lag unter Wasser. Trotzdem war die Luft in der
Grotte frisch und gut. Einige schmale Risse in der
Decke stellten die Verbindung zur Oberfläche der Insel
her.
»Wir schicken die Wasserbrüder hinterher«, schlug
eine der Frauen vor. »Wenn es Issola gelingt, über Bord
zu springen, ist sie gerettet.«
»Wie soll sie ins Wasser springen können, wenn sie
gefangen ist?« erkundigte sich Ismena voller Bitterkeit.
»Das ist kein guter Rat.«
»Dann sollen unsere Männer hinter dem Schiff
herschwimmen«, schlug eine andere vor.
»Sie sind zu langsam«, lehnte Ismena ab. »Sie
können das schnelle Schiff niemals einholen. Die
Wasserbrüder aber können es.«
Die Situation war ausweglos.
In dem kleinen Hafenbecken der Grotte kräuselte
sich das Wasser. Der Kopf eines Tainu-Mannes wurde
sichtbar. Er schwamm zum Ufer und blieb dort stehen.
»Darf ich näher kommen?« fragte er fast
unterwürfig, denn die Männer hatten nichts mit den
Regierungsgeschäften zu tun und es war ihnen
verboten, die Halle des Talatta zu betreten »Ich habe
wichtige Nachrichten.«
»Komm her!« forderte Ismena ihn auf. Sie wartete,
bis der Mann sich auf den feuchten Fels gesetzt hatte.
»Was ist? Du weißt, wir sind einer wichtigen
Angelegenheit wegen zusammengekommen, und we
...«
»Meine Nachricht hat damit zu tun«, unterbrach sie
der Mann. »Die Wasserbrüder erfuhren von dem
Unglück, das Issola heimsuchte. Jemand muß es ihnen
mitgeteilt haben. Jedenfalls sind hundert von ihnen
nach Süden geschwommen, um das Schiff mit den
schwarzen Segeln zu verfolgen.«
Ismena lehnte sich zurück und sah ihre
Ratgeberinnen an.
»Was jetzt? Was wollen sie tun, die Wasserbrüder?
Selbst wenn sie das Schiff mit den schwarzen Segeln
einholen, werden sie hilflos hinterherschwimmen, ohne
etwas zu erreichen. Es kann ihnen höchstens passieren
daß man Jagd auf sie macht – die Landmenschen sind
grausam und unersättlich. Sie töten alles, was im
Wasser lebt.«
»Weil sie selbst auf dem Lande leben«, sagte eine
der Seemutter weise.
Ismena nickte zustimmend.
»Issola wollte das ändern, nun ist sie verloren. Sie
wird genauso sterben wie alle anderen, die es wagten,
Kontakt mit den Landbewohnern aufzunehmen.« Sie
sah den Mann an. »Hundert, sagst du?«
»Hundert. Tainula.«
Sie nickte langsam.
»Nun gut, mehr können wir nicht tun. Vielleicht
kann meine Tochter wirklich in einem günstigen
Augenblick das Schiff verlassen, dann ist sie gerettet.
Möglich auch, daß die vielen Delphine die gierigen
Landbewohner von ihrer Gefangenen ablenken. Sie
kann einfach über Bord springen und in die Tiefe
sinken. Die Wasserbrüder werden sie heil zu uns
zurückbringen.« Ihr Blick verfinsterte sich. »Ich habe
gute Träume«, schalt sie sich selbst. »Viel zu gute
Träume!«
»Was wäre unser Leben ohne gute Träume«, sagte
eine der Seemütter wie zum Trost. »Und was wäre es
ohne Hoffnung?«
Ismena nickte ihr zu.
»Du hast recht, meine Freundin. Wir werden Issola
wiedersehen, daran will ich fest glauben.«
Sie beendete die Sitzung, nachdem der Tainu wieder
im Hafenbecken verschwunden war.
Der Morgen graute.
Und damit nahte für Yina und Issola die
Entscheidung.
Als Jaggar in die Gefängniszelle kam, lag das
Fischmädchen ganz ruhig auf dem Rücken. Die
inzwischen in der Hitze halbverfaulten Fische hatten
die beiden Mädchen noch während der Nacht durch
die kleine Luke geworfen.
»Na, was ist mit ihr?« fragte Jaggar, fast ein wenig
besorgt.
»Sie ist sehr krank, aber die Fische haben ihr
geholfen, die Nacht zu überleben. Nun fehlt ihr nur
noch das Wasser. Sie ist ein Fischmensch, vergiß das
nicht.«
»Willst du mich lehren, was ich zu vergessen habe
und was nicht?« fuhr der Pirat das Mädchen an. Dann
wurde seine Stimme wieder besänftigender. »Ist ja
schon gut, du hast recht. Wir sollten sie ins Wasser
lassen. Schließlich ist es ihr Lebenselement. Und nur
gesund bringt sie einen guten Preis.«
»Natürlich, nur gesund!« bestätigte Yina trocken.
Er schien die Bemerkung überhört zu haben.
»Eine Herde Delphine folgt unserem Schiff«, sagte
er. »Man behauptet, sie seien gut Freund mit den
Fischmenschen.«
»Daran kann etwas Wahres sein«, gab Yina
unbefangen zu. »Beide leben schließlich im Meer.« Sie
warf ihm einen fragenden Blick zu. »Hast du Angst vor
Delphinen?«
Nun wurde Jaggar sichtlich ungehalten.
»Werde nicht zu frech. Mausgesicht!« warnte er.
»Sonst werde ich meine Pläne ändern, und das dürfte
für dich nicht sehr erfreulich sein. Ich kann notfalls gut
auf dich verzichten – ich meine, in der Art und Weise,
wie wir es gestern besprachen. Was immer auch
geschieht, ich werde dich besitzen. Es kommt auf dein
Verhalten an, wie das geschieht. Merk dir das! Und
nun weck sie auf! Ich habe die Segel reffen lassen, wir
treiben nur noch mit dem Wind dahin. Meine Männer
haben das Netz vorbereitet.«
Yina sah ein, daß sie beinahe zu weit gegangen
wäre.
»Du willst es also wirklich tun?« erkundigte sie sich,
scheinbar besorgt. »Und wenn sie nun doch flieht?«
»Wie denn? Das Netz wird fest zugeknotet. Sie kann
nicht heraus.«
»Und die Delphine?«
»Die können keine Netze aufknoten.«
Aber ich kann es, dachte Yina und beugte sich über
Issola.
Sie rüttelte das zarte Fischmädchen, das längst wach
war, aber so tat, als läge sie in tiefem
Erschöpfungsschlummer. Sie reckte sich und schlug die
Augen auf. In ihnen stand Erschrecken, als sie Jaggar
erkannte, aber dann lächelte sie plötzlich.
»Du wirst mich nur tot besitzen«, flüsterte sie. »Bald
werde ich sterben. Es dauert nicht mehr lange.«
»Das könnte dir so passen!« fauchte Jaggar sie an.
»Wenn du schon stirbst, dann im Kampfteich der
Krokodile – und erst dann, wenn ich mein Vergnügen
mit dir gehabt habe. Yina hat mir verraten, wie du zu
retten bist. Das Netz ist bereit. Wir werden dich ins
Meerwasser tauchen, wo du zu Hause bist. Los, steh
endlich auf!«
Issola kam mit den Beinen auf den Boden und erhob
sich.
»Ein Netz? Ich werde ertrinken, wenn ich länger als
eine Stunde unter Wasser bin.«
»Du wirst auf keinen Fall ertrinken Daran habe ich
kein Interesse.« Jaggar grinste. »Ganz im Gegenteil, ich
möchte dich gesund und munter. Schon meinetwillen.«
In diesem Augenblick begann Yina ihn zu hassen.
Auf Deck warteten bereits die Piraten. Jaggar hatte
Yina erlaubt, mitzukommen, als sie ihn darum bat.
Nicht im Traum dachte er daran, daß sie über Bord
springen würde.
Einige der rauhen Gesellen hatten das Netz
vorbereitet, in das Issola steigen sollte. Sie tat es mit
offensichtlichem Mißbehagen. Da sie den Schurz aus
Fischhaut verloren hatte, war sie völlig nackt. Die
Piraten betrachteten sie mit Wohlgefallen, und Yina las
ihre Gedanken.
Sie schauderte zusammen.
Aber auch Issola konnte die Gedanken der Piraten
lesen. Noch während sie in das festgeknotete Netz
kletterte, warf sie einen Blick in Richtung des Hecks.
Sie sah die Flossen der Delphine, die dem Schiff
unbeirrt folgten.
Und sie dachte zu Yina:
Das Seil, an dem das Netz befestigt ist, muß
durchschnitten werden. Wenn dir das gelingt, sind wir
gerettet. Springe einfach über Bord und versuche, das
absinkende Netz zu erreichen. Oder schwimm den
Delphinen entgegen, ich werde sie verständigen. Jaggar
wird genug mit den Segeln zu tun haben. Bis er sie
aufgezogen hat, sind wir weit genug entfernt.
Außerdem muß er dann gegen den Wind kreuzen, was
Zeit kostet. Wir bleiben in Kontakt.
Yina erwiderte kurz:
Keine Sorge, es wird gelingen.
Sie war nur deshalb so zuversichtlich, weil sie etwas
gesehen hatte, das ihr neuen Mut gab. Das Netz war an
einem Seil befestigt, das durch zwei Rollen lief.
Daneben lag eine Axt.
Auf Jaggars Geheiß hievten drei Piraten das Netz in
die Höhe und schoben es über die niedrige Reling.
Dann ließen sie los.
Issola und das Netz sausten der Meeresoberfläche
entgegen, platschten ins Wasser und versanken. Dann
erst, als sich das Seil straffte, kam das Netz wieder an
die Oberfläche, aber das Fischmädchen versuchte,
unter Wasser zu bleiben. Yina las ihre Gedanken:
Herrlich, das kühle Wasser: Es gibt neue Kraft,
neues Leben! Wann kannst du mir folgen? Yina, ich
will dich nicht zurücklassen! Du mußt mit mir
kommen ...
Yina stand neben Jaggar. Sie antwortete:
Ich werde kommen. Zwei Mannslängen von mir
entfernt hegt eine Axt. Ich werde das Seil kappen und
über Bord springen. Aber noch steht Jaggar neben mir,
und er paßt auf. Und vergiß nicht die anderen Piraten.
Sie lassen mich nicht aus den Augen.
Wir haben eine Stunde Zeit. Übersturze nichts!
Gut. Aber sei vorbereitet!
Ich warte auf dich.
Jaggar sagte:
»Hoffentlich ertrinkt sie nicht. Es wäre schade.«
Yina antwortete nicht. Fasziniert sah sie hinüber zu
den Delphinen, mehr als zweihundert Mannslängen
entfernt. Nur sie bemerkte, daß sich die großen Fische
zu einer Formation ordneten und das Schiff einzuholen
begannen. Die Wellenreiterin machte nur wenig Fahrt.
Die Segel waren an den Masten festgebunden, nur am
Fock blähte sich ein geringer Rest und hielt das Schiff
notdürftig auf Kurs.
Issola mußte bereits Kontakt zu ihren
Wasserbrüdern aufgenommen haben, aber Yina konnte
sich nicht darauf konzentrieren. Jaggar packte sie am
Arm.
»Komm, wir gehen in meine Kabine. Ich habe noch
einiges mit dir zu besprechen.«
Ich will sie jetzt haben, dachte er dabei, und Yina
konnte seine Gedanken deutlich hören.
Die Sekunde der Entscheidung war gekommen.
Sie durfte nicht mehr länger warten.
Die meisten Piraten standen an der Heckreling und
starrten auf das nachschleifende Netz. Jaggars rechter
Fuß war neben der auf dem Deck liegenden Axt,
unmittelbar unter dem Seil, welches das Netz hielt. In
seinen Gedanken war kein Argwohn, nur der feste
Entschluß, endlich das Mädchen für sich zu gewinnen,
ob mit oder ohne Gewalt.
An Issola dachte er nicht mehr.
Yina nahm ihren ganzen Mut und ihre ganze Kraft
zusammen, als sie handelte.
Sie riß sich von Jaggar los und stieß ihn zur Seite,
dann bückte sie sich, ergriff die Axt und schwang sie
hoch. Als sie, mit der scharfen Schneide voran, das Seil
mit einem Schlag kappte, hatte sich Jaggar von seiner
Überraschung erholt. Mit einem wütenden Ruf, der die
anderen Piraten alarmierte, stürzte er sich auf Yina.
Sie warf die Axt den heraneilenden Piraten entgegen
und hechtete mit einem Satz über die Reling, die kaum
höher als ihre Brust war. Ihr Magen krampfte sich
zusammen, als sie in die Tiefe stürzte und das Wasser
auf sich zukommen sah. Ergeben schloß sie die Augen
und versuchte, mit den Beinen voran einzutauchen.
Ganz gelang es ihr nicht, und sie verspürte einen
scharfen Schmerz im Rücken, als sie aufschlug und
sofort versank.
Nur ihre Geistesgegenwart und hastige
Schwimmbewegungen brachten sie rechtzeitig an die
Oberfläche zurück. Das Heck des Seglers hatte sie
bereits passiert, aber es gelang ihr trotzdem mit letzter
Kraft, noch das Netz zu erreichen und sich daran
festzuklammern. Es sank nur langsam in die Tiefe.
Sie holte zum letzten Mal Luft, dann schlug das
Wasser über ihr zusammen.
Sie nahm Gedankenkontakt auf:
Issola, ich halte es nicht mehr lange aus!
Die Antwort kam sofort:
Nicht mehr lange, die Wasserbrüder kommen
bereits. Stör mich jetzt nicht!
Trotz ihrer Todesangst hörte Yina auch weiterhin
die Gedanken des Fischmädchens, als es mit den
Delphinen in einer zirpend klingenden Sprache redete.
Sie verstand jedes Wort, obwohl ihr die seltsame
Sprache absolut fremd war.
»Kommt her, wir müssen zurück zur Oberfläche.
Meine Freundin ertrinkt sonst. Sie gehört zu den
Landmenschen, aber sie hat mir das Leben gerettet!«
Die Antwort war verschwommen und nicht klar,
aber Yina verstand ihren Sinn. Wir kommen, hieß es.
Wir kommen sofort, Tochter der Tainula.
Und sie kamen wirklich!
Das Netz war gut zehn Mannslängen in die Tiefe
gesunken, und als Yina die Augen öffnete, sah sie den
milchigen Schimmer der Sonne schräg über sich – und
dunkle Schatten, die aus allen Richtungen auf sie
zugeschossen kamen. Die Lungen drohten ihr zu
bersten, und in den Ohren war ein dumpfes Brausen.
Langsam ließ sie die Luft aus.
Die Delphine ergriffen mit ihren Mäulern das Netz
und begannen daran zu ziehen. Langsam nur,
unendlich langsam, zerrten sie es nach oben. Das
Wasser wurde heller, durchsichtiger. Yina konnte
weiter sehen und erkannte Issola, die frisch und
munter in ihrem Netz zappelte. Ihre Gedanken
erreichten sie:
Bald haben wir es geschafft, meine Freundin! Nur
noch wenige Augenblicke, und du kannst wieder
atmen.
Und Jaggar? Sein Schiff! Er wird umkehren ...
Bis dahin sind wir in Sicherheit, wir werden
schneller sein als er. Viel schneller, du wirst sehen.
Die Luft ...!
Gleich sind wir oben, Yina!
Die letzte Luft entwich ihren gequälten Lungen, als
Yinas Kopf die Oberfläche des Wassers durchbrach. Sie
atmete mehrmals tief durch, dann sah sie zurück zu
dem schwarzen Segler. Er war gerade dabei zu wenden
und die Segel herabzulassen. Der Wind begann sie zu
füllen.
»Schnell, hol mich aus dem Netz!« bat Issola
dringend. »Hast du die Axt dabei?«
»Ich konnte sie nicht mitnehmen.«
»Dann versuche es mit den Händen, bitte.«
Die Delphine umkreisten das Netz, während andere
es hielten, damit es nicht wieder versank. Noch nie war
Yina den großen Fischen so nahe gewesen, aber sie
verspürte keine Furcht vor ihnen.
Sie begann die Knoten zu lösen, aber ihre Finger
waren klamm und steif. Der schwarze Segler ging auf
Gegenkurs und kam schräg näher. Er konnte nicht
direkt auf sie zusegeln, weil der Wind gegen ihn stand.
Er mußte kreuzen, und das kostete ihn Zeit.
Zuviel Zeit.
Yina löste drei Knoten, dann gelang es Issola durch
die entstandene Lücke zu schlüpfen. Die Delphine
ließen das Netz los, das langsam in die Tiefe sank und
bald verschwand. Issola schwamm zu Yina und
umarmte sie mit einer Innigkeit, die das Mädchen fast
erschreckte.
»Du hast mein Leben gerettet, ich danke dir. Mein
Volk wird dich wie einen der Unsrigen empfangen und
aufnehmen. Wie soll ich dir nur jemals danken?«
Yina sah in Richtung des allmählich näher
kommenden Schiffes.
»Indem du mir hilfst, möglichst schnell diesem
Jaggar zu entkommen. Er ist nicht schlecht, aber er ist
ein Mann – und er will mich haben.«
Issola lachte ein silberhelles Lachen.
»Er will dich haben, dieser Narr? Er wollte auch
mich haben, er will alle Mädchen haben, die ihm unter
die Augen kommen. Aber er wird uns nicht kriegen,
Yina! Die Wasserbrüder werden uns zu meinem Volk
bringen.«
Und wieder sprach sie in der zirpenden Sprache.
Die Delphine formierten sich. Einige von ihnen
tauchten in die Tiefe hinab, und als sie zurückkehrten,
sah Yina zu ihrer Verblüffung, daß sie das Netz wieder
mit hochbrachten.
»Wir müssen einige Stricke davon lösen, damit uns
die Wasserbrüder ziehen können«, sagte Issola und
begann sofort mit der Arbeit.
Der schwarze Segler war noch einige hundert
Mannslängen entfernt.
»Sie kommen schnell näher«, warnte Yina besorgt.
»Nicht schnell genug, sie müssen noch einmal,
vielleicht sogar öfter, gegen den Wind kreuzen. Komm,
hilf mir lieber.«
Es gelang ihnen, zwei lange Seile loszuknüpfen. Das
Netz sank wieder nach unten, aber die beiden
Mädchen hielten die Seile fest, jedes eines von ihnen.
Issola gab die Anweisungen, die Yina widerspruchslos
befolgte. Sie knüpfte zwei Schlingen, die sie zwei
Delphinen um den übergangslosen Hals legte. Issola tat
dasselbe. Dann schlang sie das andere Ende des Seiles
um ihren Körper und hielt sich mit den Händen fest.
Issola gab das Kommando, und als die Schwarze
Wellenreiterin nach der letzten Wende genau auf sie
zusteuerte und nur noch fünfzig Mannslängen entfernt
war, zogen die Delphine an.
Yina glaubte noch, das wutverzerrte und
enttäuschte Gesicht Jaggars zu sehen, als die Gischt ihr
die Sicht nahm.
Sie hätte nie in ihrem Leben geglaubt, daß Delphine
so schnell schwimmen konnten. Das Wasser rechts und
links raste an ihr vorbei, und der Segler, der sie noch
immer verfolgte, fiel hoffnungslos zurück, obwohl der
auffrischende Wind die Segel voll aufblähte und der
Bug steil in die Luft ragte.
Yina spürte, daß sie den ständigen Zug am Körper
und in den Armen nicht mehr lange aushalten konnte.
Sie rief Issola, die dicht neben ihr war, zu:
»Langsamer, ich bekomme kaum noch Luft. Die
Arme sterben mir ab.«
Issola drehte sich um und sah nach dem Segler,
dessen Mastspitzen über die Wogen ragten. Der Rumpf
war nur noch selten zu sehen.
»Gut, wir haben es geschafft, sie holen uns nicht
mehr ein.« Wieder zirpte sie und verständigte sich mit
den Fischen, dann fuhr sie fort: »Wir werden es
machen wie unsere Männer. Sie reiten auf den
Wasserbrüdern. Mit dem Seil können wir uns auf ihren
Rücken festbinden.«
Die Delphine hielten an und bildeten einen
schützenden Kreis um die beiden Mädchen. Zwei
besonders kräftige Tiere boten sich als Transportmittel
an.
Yinas Finger waren fast noch klammer geworden,
aber sie folgte Issolas Beispiel und knüpfte eine Art
Zügel, der um den Kopf des Fisches gelegt wurde. Die
Rückenflosse diente als Lehne und Halt.
Issola lachte Yina zu.
»Nun, was sagst du jetzt? Wir werden auf den
Wasserbrüdern über das Meer reiten, so schnell wie
der Wind und von keiner Gefahr bedroht. Immer nach
Norden, bis wir die große Insel sichten. Dann ist es
nicht mehr weit bis zu meinem Volk und der
namenlosen Insel.«
»Warum bekam sie keinen Namen, Issola?«
»Weil wir immer unsere Heimat verlassen mußten,
wenn wir ihr einen Namen gaben. Darum gaben wir
ihr keinen Namen.«
Sie sprach wieder mit den Delphinen. Die Formation
bildete sich, und dann begann der Ritt, den Yina nie in
ihrem Leben vergessen sollte.
Nun, da sie auf dem Rücken des Tieres saß, konnte
sie weiter über das Meer sehen. Der schwarze Segler
hatte während der Pause ein wenig aufgeholt, aber er
war viele tausend Mannslängen entfernt und bildete
keine Gefahr mehr.
Ringsum war nichts als Wasser, kein Land war zu
sehen. Die Sonne stand genau in ihrem Rücken und
wärmte Yinas durchfrorenen Körper wieder auf.
Issola schien schon mehr als einmal auf dem Rücken
von Delphinen geritten zu sein. Sie hielt sich kaum fest
und saß sicher im »Sattel«. Sie blieb stets dicht neben
Yina, um sich hin und wieder mit ihr unterhalten zu
können, obwohl das Brausen des vorbeirauschenden
Wasser die Worte fast verschluckte.
Die Mastspitzen des schwarzen Seglers
verschwanden unter dem Horizont.
Obwohl es noch nicht Abend war, versuchte Yina,
Kontakt mit Kano oder Kim aufzunehmen. Wieder
meldete sich Kano.
Gestern hast du es nicht versucht, dachte er
vorwurfsvoll. Wir machen uns Sorgen um dich. Du
lebst also noch?
Issola konnte natürlich die Gedanken von Yina und
Kano ebenfalls hören und nahm so an dem nur kurzen
Gespräch teil. Die beiden Mädchen hatten vereinbart,
ihr Geheimnis vorerst noch nicht preiszugeben. Zuerst
mußte der Rat der Seemütter abgewartet werden.
Politische Entscheidungen durften nicht ohne sie
getroffen werden, schon gar nicht, nachdem Issolas
erster Versuch gescheitert war.
Ich lebe und bin wieder frei. Bald werde ich zurück
sein.
Frei? Wie ist das möglich? Unsere Schiffe konnten
dich nicht einholen. Wer befreite dich? Oder haben
dich die Piraten laufenlassen, weil du ihnen nicht
schön genug warst?
Ich habe mich selbst befreit. Und damit du es nur
weißt: Der Kapitän der Piraten wollte mich zu seiner
Frau machen.
Haha! Aber sicher nur für ein paar Stunden!
Ekel!
Sie brach den Kontakt ab.
Issola sagte:
»Er war aber nicht gerade freundlich zu dir. Er ist
dein Freund?«
»Einer meiner Freunde, und wir streiten uns immer.
Es ist nicht böse gemeint. Aber nun weiß man im Palast
wenigstens, daß ich nicht mehr in der Gewalt der
Piraten bin. Sie wissen, daß ich eines Tages zu ihnen
zurückkomme – und ich hoffe, dann werden sie eine
Überraschung erleben.«
»Dafür werden wir schon sorgen«, versprach Issola.
»Ich hoffe nur, dein König Dragon ist so gut, wie du
ihn mir geschildert hast.«
»Er ist es, glaube mir. Doch bevor ich zu ihm gehe,
muß ich dein Volk kennenlernen. Wie lange wird es
dauern?«
»Die Sonne wird einmal untergehen. Wenn sie
morgen am höchsten steht, sichten wir unsere Insel.«
»In der Nacht wird es kalt sein.«
»Daran ist nichts zu ändern, aber wenn die
Wasserbrüder langsamer schwimmen, werden wir
nicht mehr naß. Mir macht es ja nichts aus, aber dir.«
Sie kamen gut voran, dann wurde es dunkel. Wie
angekündigt, verlangsamten die Fische ihr rasendes
Tempo und zogen nur noch gemächlich und fast
spielerisch dahin. Die Wogen hatten sich geglättet, und
nur selten wurde Yina von einem Wasserspritzer
getroffen. Das Kleid begann im Wind zu trocknen.
Die ersten Sterne wurden am wieder klaren Himmel
sichtbar.
Um Mitternacht wurde Yina so müde, daß sie sich
kaum noch wachhalten konnte. Ununterbrochen
unterhielt sie sich mit Issola, um nicht einzuschlafen.
Sie wäre dann unweigerlich aus den Schlingen
gerutscht und ins Wasser gefallen.
Endlich hatte Issola ein Einsehen.
»Wir werden ein wenig ruhen«, sagte sie und sprach
dann mit den Delphinen. »Ich habe ihnen befohlen,
eine richtige Plattform zu bilden und ganz eng
nebeneinander zu schwimmen. Dann kannst du nicht
herabfallen. Wenn die Sonne aufgeht, sind wir frisch
und munter und können die Reise fortsetzen.«
Yina war für die Pause dankbar, und als sie rings
um sich herum die Rücken der treuen Delphine sah,
entspannte sie sich und schloß die Augen.
Es dauerte keine zehn Minuten, und sie war
eingeschlafen.
Morgens weckte sie Issola.
»Yina, laß dir etwas einfallen – wir müssen fliehen!«
sagte das Fischmädchen ruhig und ließ den
ausgestreckten Arm kreisen. »Sie haben uns
umzingelt.«
Nun sah Yina es auch.
Mindestens zwanzig Fischerboote hatten einen
großen Kreis um sie herum gebildet, der ständig
kleiner wurde. Zwischen den Booten waren
Hängenetze gespannt, die bis zu zwanzig
Manneslängen in die Tiefe reichten.
Es sah ganz so aus, als gäbe es nun kein Entkommen
mehr.
6.
Dragon, der noch immer auf das Eintreffen von Amee,
der Königin von Urgor, wartete, um die Hochzeit mit
ihr zu feiern, sorgte sich um die kleine
Gedankenleserin.
Seitdem er von Kano erfahren hatte, was mit Yina
geschehen war, und seitdem die drei ausgesandten
Schiffe von ihrer erfolglosen Jagd auf den schwarzen
Segler zurückgekehrt waren, war diese Sorge noch
größer geworden.
Er konnte sich vorstellen, welches Schicksal Yina
bevorstand.
Eines Tages, so wußte er, würde er sich um die
Piraten der Schlangeninsel kümmern müssen, sonst
würde es niemals Frieden für Myra geben. Entweder
würde er ein Abkommen mit ihnen schließen, oder er
würde Krieg mit ihnen führen.
Aber zuerst Yina!
Vielleicht würde sie sich klug verhalten und so
vorerst ihr Leben retten. Immerhin konnte sie die
Gedanken ihrer Gegner lesen und war so von ihren
Absichten stets unterrichtet. Danach konnte sie sich
richten und entsprechend handeln.
Trotzdem galt es zu überlegen, wie man sie befreien
konnte.
Einen Augenblick lang dachte er daran, sich selbst
mit einer Schar von Getreuen einzuschiffen und
unerkannt zur Schlangeninsel zu fahren, um dort
Nachforschungen anzustellen, aber dann dachte er
auch an die bevorstehende Ankunft Amees. Er zögerte.
Und das war gut so. Er saß in seinem Gemach und
verspürte wenig Lust, es in dieser trüben Stimmung zu
verlassen. Die Lage in Myra hatte sich weitgehend
beruhigt. Die Verträge mit den Amazonen waren
abgeschlossen worden. Im Augenblick gab es nicht
mehr viel zu tun. Es klopfte an der Tür. Dragon stand
auf, um nachzusehen, denn es war bereits später
Nachmittag. Zu dieser Zeit gab es keine Geschäfte
mehr, wenigstens keine dringenden.
Es war der Zwilling Kano. »Kann ich
‚reinkommen?« Dragon machte eine einladende
Bewegung und schloß die Tür. Sie setzten sich.
»Du hast noch immer keine Nachricht von Yina?
Vielleicht ist sie tot.«
»Sie ist quicklebendig und frei – das hat sie mir eben
mitgeteilt, aber mehr wollte sie auch nicht sagen. Sie
meint, wir würden noch alles rechtzeitig erfahren.«
»Hm«, machte Dragon verwundert. »Das klingt aber
recht geheimnisvoll. Immerhin ist sie frei, das ist die
Hauptsache.« Er wirkte sichtlich erleichtert. »Ich hatte
mir große Sorgen um unsere Freundin gemacht.«
»Das ist aber noch nicht alles.« Er beugte sich zu
dem Jungen. »Noch nicht alles? Was gibt es denn sonst
noch?«
»Ihre Gedanken waren nicht allein, ich konnte noch
andere auffangen und ein wenig hören. Jemand muß
bei ihr sein – ein anderes Mädchen.«
»Vielleicht auch eine Gefangene, mit der zusammen
sie fliehen konnte.«
»Sicherlich, aber ihre Gedanken waren merkwürdig,
fast fremd.«
»Was soll das heißen, fremd?«
»Nun ... eben anders. Und noch eine Menge anderer
Gedanken kamen hinzu, aber von denen verstand ich
keinen einzigen. Sie waren wie Nebengeräusche in
einem Saal. Jemand spricht, die anderen murmeln
dazwischen.«
»Ja, ich verstehe, was du meinst. Yina ist also nicht
allein.«
»Nein.«
»Und hat sie dir gesagt, wo sie jetzt ist?«
»Nein.«
Dragon überdachte das Gehörte, mußte aber
zugeben, daß er nicht schlau daraus wurde. Wichtig für
ihn war nur, daß Yina frei war. Die näheren Umstände
ihrer Flucht würde er noch früh genug erfahren. Er
verstand nur diese Geheimnistuerei nicht.
»Na schön, dann versuche bald wieder Kontakt mit
ihr aufzunehmen. Sage ihr, daß wir sie im Palast
erwarten. Wir werden ihr einen prächtigen Empfang
bereiten und ihre Befreiung gebührend feiern.«
»Ich werde es ihr sagen.« Kano erhob sich. »Darf ich
jetzt gehen? Ich suche Kim, der sich im Palast versteckt
hat.«
Dragon lächelte.
»Wenn ich an deiner Stelle wäre, wurde ich mal auf
der Ostzinne nachsehen.«
Kano stürmte aus dem Zimmer.
»Wir sind verloren«, jammerte Yina und verlor alle
Hoffnung. »Sie haben die vielen Delphine bemerkt und
wollen sie einfangen. Sie werden auch uns schon
gesehen haben.«
»Sicher haben sie das. Um so wertvoller wird die
Beute. Warte hier, ich werde versuchen, eine Lücke
zwischen den Netzen zu finden. Die Delphine werden
bei dir bleiben.«
Ehe Yina antworten konnte, schlüpfte Issola aus den
Schlingen ihres Haltetaus und verschwand in dem
dunklen Wasser. Ihr blasser Körper wurde nach
wenigen Sekunden von der Tiefe verschluckt.
Yina wartete und beobachtete die Fischerboote. Sie
kannte die tiefen Schleppnetze aus eigener Erfahrung.
Mehrere Boote ließen sie ins Wasser hinab, bildeten
eine Linie und zogen das gemeinsame große Netz
hinter sich her. In besonderen Fällen formten sie einen
Kreis und fingen so alles, was sich darin befand – falls
es nicht in größere Tiefen abtauchte.
Aber Yina konnte keine zwanzig Mannslängen tief
tauchen.
Die Delphine wurden ebenfalls unruhig. Sie spürten
die Gefahr, die sich ihnen unaufhaltsam näherte. Aber
sie hatten von Issola einen Befehl erhalten, und sie
befolgten ihn auch.
Yina konnte nun auch die Männer in den Booten
besser erkennen. Es waren Fischer von Myra, bärtige
und harte Männer, die von dem lebten, was das Meer
ihnen gab. Die Herde Delphine mußte für sie ein
Vermögen bedeuten, auch wenn sie nur die Hälfte der
Tiere erbeuteten und abschlachteten.
Aber Delphine und auch Issola konnten tiefer
tauchen, als die Netze im Wasser hingen.
Yina drohte keine Gefahr, wenn sie gefangen wurde,
aber man würde Fragen stellen. Aber ob Gefahr für sie
oder nicht, Yina wollte das Volk der Tainu
kennenlernen. Sie hatte nun ebenfalls eine Mission,
und sie würde diese Mission unter allen Umständen
erfüllen.
Issola tauchte urplötzlich wieder auf. Sie schwang
auf den Rücken des nächsten Delphins.
»Ich glaube, wir können es noch schaffen«, sagte sie
ein wenig atemlos von der Anstrengung. »Für die
Wasserbrüder und mich ergibt sich kein Problem, wohl
aber für dich. Du wirst sehr lange die Luft anhalten
müssen. Die Netze haben sich noch nicht völlig
geschlossen, das geschieht erst dann, wenn die Boote
näher zusammenrücken. Doch dann liegen die
benachbarten Netze nur übereinander, man könnte mit
einigem Geschick noch immer durchschlüpfen. Es ist
aber besser, wir versuchen es jetzt sofort.«
»Und wie?«
»Du bleibst, wo du jetzt bist. Und halte dich nur gut
an dem Tau fest, wenn der Wasserbruder taucht. Selbst
dann, wenn du meinst, ersticken zu müssen, halte fest!
Bleibe ganz ruhig, ich werde bei dir sein. Hinter den
Booten tauchen wir kurz wieder auf, damit du Luft
holen kannst, dann tauchen wir noch einmal, um der
Reichweite der Speere zu entgehen. Danach sind wir
außer Gefahr.«
Yina hatte Angst, aber sie wollte sich keine Blöße
geben. Fest klammerte sie sich an das Tau. Sie nickte
und begann tief einzuatmen und die Lungen
vollzupumpen.
Ich bin bereit, Issola!
Das Fischmädchen nickte nur zurück und gab den
Delphinen in deren Zirpsprache einen kurzen Befehl.
Als das Wasser über Yinas Kopf zusammenschlug
und die gesamte Herde wegtauchte, blieb ihr keine Zeit
mehr zum Denken. Sie behielt die Augen offen, um
sehen zu können, und weit vor sich in der blauen
Unendlichkeit sah sie das Netz schimmern.
Unter ihr war es dunkel, schwarz und tief.
Das Anhalten der Luft fiel ihr leichter als das erste
Mal, als sie mit Issola und dem Netz in der Tiefe
versank. Ihre Angst begann sich zu verflüchtigen, als
sie das Netz erreichten und sie immer noch genügend
Luft in den Lungen hatte.
Die Tiefe betrug etwa zehn Mannslängen, und über
sich sah Yina die Schatten zweier Boote gegen den
milchigen Himmel. Issola, die allein und ohne Delphin
schwamm, glitt behende durch die noch immer breit
klaffende Lücke zwischen den Fangnetzen; die
Delphine folgten ihr.
Dann waren sie alle durch.
Nun begann sich bei Yina Atemnot bemerkbar zu
machen, aber ihr Fisch tauchte noch immer nicht auf.
Er erhöhte seine Geschwindigkeit, um die
voraneilenden einzuholen. Hinter ihnen verschwand
das Netz im Blau des Meeres.
Yina ließ die letzte Luft aus den Lungen und
entsann sich Issolas Rat, nicht aufzugeben. Krampfhaft
hielt sie sich fest. Das Wasser wurde allmählich heller.
Jetzt tauchen wir auf, für wenige Sekunden.
Einatmen!
Yina antwortete nicht. Sie starrte nur auf die heller
werdende Oberfläche und wartete, bis ihr Kopf aus
dem Wasser kam. Hastig und fast verzweifelt pumpte
sie die lebenspendende Luft in die Lungen. Die Boote
waren noch ganz nah. Sie konnte die wütenden Rufe
der Fischer hören, dann versank sie abermals in der
Tiefe.
Dicht unter der Oberfläche raste die Herde davon,
und als sie wieder auftauchte, waren die Boote weit
entfernt. Einige langschäftige Speere fielen ins Wasser.
Das Heulen der enttäuschten Fischer war sogar bis
hierher zu vernehmen.
»Nun?« Issola kletterte wieder auf ihren Delphin
und lachte. »Wie haben wir das gemacht?«
»Ich bin froh!« erwiderte Yina nur.
»Du hast dich tapfer gehalten«, lobte das
Fischmädchen. »Du bist sehr mutig.«
»Ich habe viel Angst gehabt.«
»Nur die Mutigen und Tapferen kennen die Furcht,
Yina. Wer sie nicht verspüren kann, der ist ein
Dummkopf. Und wer die Gefahr nicht kennt, kann
auch nicht mutig sein.«
Die Fischerboote blieben schnell zurück und
verschwanden bald unter dem Horizont. Die Sonne
stieg höher und begann abermals Yinas Kleid zu
trocknen. Die Kälte wich aus den Gliedern und machte
einer wohligen Wärme Platz.
»Wie lange noch?« fragte sie.
Issola deutete nach Norden.
»Die höchste Spitze der großen Insel schwebt bereits
über dem Wasser. Daneben kannst du die Berggipfel
des Landes sehen, das du Myra genannt hast. Es dauert
nicht mehr lange.«
Zum ersten Mal kamen Yina Bedenken. Obwohl sie
festes Vertrauen zu Yina hatte, fürchtete sie doch ein
wenig die eigentlichen Fischmenschen, über die man
sich so schreckliche Geschichten erzählte. Würde man
ihr Glauben schenken und ihr vertrauen? Hatte Issolas
Wort genügend Gewicht, sie vor dem Tode zu
bewahren?
Issola hatte ihre Gedanken gehört.
»Du machst dir überflüssige Sorgen, meine
Freundin. Du hast mir das Leben gerettet, und das
genügt meinem Volk, dich ebenfalls als Freund
anzuerkennen. Dir wird nichts geschehen, und sobald
du es wünschst, werden wir dich zum Ufer deines
Landes bringen.«
»Ich will die Aufgabe, die du dir selbst gestellt hast,
erfolgreich zu Ende führen – mit dir gemeinsam.«
»Das werden wir auch tun. Die Runde der
Seemütter wird uns anhören, dann wird Ismena die
Entscheidung fällen. Ich kenne meine Mutter. Sie wird
uns helfen, denn niemand will den Frieden mehr als
sie.«
Das Wetter war noch besser geworden. Kein
Wölkchen stand am Himmel, und der Wind war fast
völlig eingeschlafen. Nur noch eine weitrollende
Dünung zeugte von dem vergangenen Sturm. Sie
kamen schnell voran.
Yina behielt die Bergspitzen im Auge und sah sie
allmählich größer werden. Dann tauchten die ersten
Landstreifen auf, fielen rechts ab und machten der
Küste der großen Insel Platz. Aber die Delphine ließen
auch die Große Insel rechts liegen und zogen
nordwestwärts weiter.
Yina hatte schon von dem unbewohnten Eiland
gehört, dem sich die Fischer nur ungern näherten, weil
es dort die geheimnisvollen Fischmenschen geben
sollte. Selten hatte sie jemand zu Gesicht bekommen.
»Ich habe zum ersten Mal mit meiner Mutter
sprechen können!« jubelte Issola plötzlich. »Du hast es
nicht bemerkt, weil du zu sehr mit deinen eigenen
Gedanken beschäftigt warst. Es wird alles zu unserem
Empfang vorbereitet.«
»So weiß man also schon ...?«
»... daß du mit mir kommst? Natürlich weiß man es,
und es gibt niemanden, der sich nicht darüber freuen
würde. Du bist der Beweis dafür, daß ich recht hatte,
daß es Frieden mit den Landmenschen geben kann,
wenn man nur will.«
»Wenn beide Seiten wollen!« berichtigte Yina
glücklich.
»Natürlich – das ist immer die Voraussetzung«, gab
Issola zu.
Die namenlose Insel tauchte am Horizont auf.
Zum letzten Mal setzten die ermüdeten Delphine
ihre letzten Kraftreserven ein, um das Ziel schneller zu
erreichen. Die felsigen Klippen stiegen steil aus der
schwachen Brandung empor und verbargen die
dahinterliegenden Buchten. Überall im Wasser vor der
Insel war Bewegung zu erkennen. Schwarze oder auch
weiße Punkte, die eine Wellenspur hinter sich
herzogen. Es waren die Männer der Tainu, die der
kleinen Flotte entgegenkamen, um sie zu begrüßen.
Gedanken des Willkommens strömten auf Issola
und Yina ein.
Alle Tainu wußten bereits, was geschehen war.
Sie hatten für alles gesorgt.
Vom Meeresboden herauf war eine riesige Muschel
geholt worden, deren eine Hälfte genug Platz bot, Yina
und einen gehörigen Luftvorrat aufzunehmen. Ein
kräftiger Tainu hielt sie, als sie unter die Muschel
tauchte und sofort wieder atmen konnte. Dann sank
die Muschel langsam an den Felsen der Insel entlang in
die Tiefe, bis sie auf der Höhe eines Grotteneingangs
anlangten.
Wenig später stand Yina in der Unterwasserhöhle
auf trockenem Boden.
Issola war ihr gefolgt und nahm ihre Hand.
»Die Runde der Seemütter«, erklärte sie schlicht und
deutete auf die elf Tainu, die sich von ihren Plätzen
erhoben hatten und ihnen entgegenblickten. »Die erste
dort ist Ismena, meine eigene Mutter.«
Ismena schloß ihre gerettete Tochter zuerst in die
Arme, dann wandte sie sich Yina zu und streckte ihr
die Hände entgegen.
»Willkommen bei uns, Yina«, sagte sie mit dunkler
Stimme. »Du hast Issola gerettet, und sie hat dich
gerettet. Ihr seid Freunde für das ganze Leben, und
damit bist auch du der Freund der Tainu. Du darfst
bleiben, so lange du willst. Es ist besser, wenn du alles
über uns weißt, bevor du zu den Landmenschen
zurückkehrst. Du bist unser Gast.«
Yina bedankte sich mit wohlgesetzten Worten und
begrüßte auch die anderen Seemütter. Dann berichtete
Issola ausführlich und schloß mit den Worten:
»Meine Aufgabe ist erfüllt. Ich habe Kontakt mit
einem Landmenschen hergestellt. Den Rest der Mission
wird Yina übernehmen. Bald wird Friede zwischen uns
und den Bewohnern des Landes sein. Wir haben
endgültig die neue Heimat gefunden.«
»Wir alle hoffen, daß du recht hast«, entgegnete
Ismena vorsichtig.
Issola selbst brachte Yina in ihr Gemach, das für den
Besuch vom Land extra hergerichtet worden war,
damit es den besonderen Ansprüchen eines die Wärme
und Trockenheit gewohnten Menschen entsprach.
Yina hätte niemals geglaubt, daß eine Höhle, deren
Eingang unter dem Wasserspiegel lag, so bequem und
wohnlich sein könnte.
Es war ein großer, trockener Raum, in dessen Mitte
ein Feuer brannte. Der Rauch zog senkrecht nach oben
durch Felsspalten ab. So kam es also, daß die Fischer
die Insel für einen halbtätigen Vulkan hielten und ihn
nicht nur der Wassermenschen wegen fürchteten.
An den Wänden aufgeschichtet, sah Yina noch mehr
Holz, das trocken und zu handlichen Stücken
verarbeitet auf seine Bestimmung wartete. Über dem
Feuer hing ein Kessel mit brodelndem Wasser. Es
stammte aus einer der zahlreichen Zisternen der Insel.
Einige Gegenstände erregten die Aufmerksamkeit
Yinas, nachdem Issola sie verlassen und ihr eine gute
Nacht gewünscht hatte. Es waren Gegenstände aus
Eisen, frisch geschmiedet und künstlerisch bearbeitet.
Ihren Zweck konnte Yina nur erraten. Jedenfalls stand
für sie fest, daß die Tainu Erze abbauen und diese
verarbeiten konnten.
Sie legte sich auf das Lager aus Ziegenfell, das an
der Innenwand aufgeschichtet worden war. Die
Wärme des Feuers tat ihr gut, und es dauerte auch
nicht lange, bis sie eingeschlafen war.
Diesmal wurde sie nicht von bösen Träumen
heimgesucht.
Das Feuer glimmte noch, als Issola kam, um sie zu
wecken.
»Sie greifen uns an«, stieß sie aufgeregt hervor.
»Eine große Anzahl von Booten mit tiefhängenden
Netzen liegen vor unseren Grotten, und Taucher
versuchen, die Höhlen zu erreichen. Sie tragen lange
Speere und Harpunen. Mehrere unserer Männer haben
schon den Tod gefunden. Wir müssen fliehen ...«
Yina begriff nur langsam, was Issola ihr mitzuteilen
hatte. Sie hatte von ihrer triumphalen Rückkehr nach
Myra geträumt und von dem Lob, das Dragon ihr
zollte. Die Zwillinge hatten sich vor ihr verbeugen und
sie um Vergebung für alle Streiche bitten müssen, die
sie mit ihr angestellt hatten.
Und nun kehrte die rauhe Wirklichkeit zu ihr
zurück.
»Fischer? Vom Festland?«
»Vielleicht auch von der großen Insel, wir wissen es
nicht. Jedenfalls gehören sie zu deinem Volk. Vielleicht
kannst du uns helfen.«
Daran zweifelte Yina allerdings. Sie war nur ein
kleines, unbedeutendes Mädchen. Kein Fischer würde
auf sie hören. Man würde sie vielleicht sogar töten,
weil sie mit den Fischmenschen gemeinsame Sache
machte.
Trotzdem sagte sie:
»Ich kann es versuchen. Bring mich nach oben.«
Unterwegs auf dem Pfad zum Grottenausgang, der
unter der Oberfläche des Meeres versteckt lag,
begegneten sie den Männern der Tainu. Alle trugen
Waffen.
Es wurde Yina klar, daß sie unter allen Umständen
das bevorstehende Gemetzel verhindern mußte, das
beiden Seiten eine hohe Anzahl von Verlusten bringen
würde.
Die Muschel lag bereit.
Issola half ihrer Freundin darunter und sorgte mit
kräftigen Schwimmstößen dafür, daß sie allmählich
nach oben stiegen. Die in der Muschel befindliche
Atemluft half dabei mit.
Ein wenig abseits des eigentlichen Kampfplatzes
erreichten sie die Meeresoberfläche. Yina sah die vielen
Boote, die vor der Küste lagen und die Netze hielten.
Pfeile schwirrten von ihnen zur Insel herüber, richteten
aber keinen Schaden an.
Es gelang Issola, die Muschel so umzudrehen, daß
sie wie ein kleines Boot wirkte. Es trug Yina, ohne zu
versinken.
»Sei vorsichtig!« warnte das Fischmädchen. »Es sind
deine Leute, du solltest mit ihnen reden können. Ich
kann dich leider nicht begleiten, denn man würde mich
sofort töten. Wenn sie dir etwas antun wollen, spring
ins Wasser, wir passen auf.«
»Danke. Issola. Ich will alles versuchen, und wenn
ich Dinge rede, die gegen euch gerichtet sind, so
bedenke, daß ich es nur für euch tue. Vielleicht muß ich
lügen, damit sie mich anhören.«
»Wir vertrauen dir«, gab Issola zurück und versank
in den Fluten.
Yina aber begann mit den Händen zu paddeln und
näherte sich den Fischerbooten, in denen die Männer
sie bereits bemerkt hatten. Als Yina ihnen zuwinkte,
ließen sie die bereitgehaltenen Waffen sinken und
sahen ihr gespannt entgegen.
Hilfreiche Arme zogen sie aus der Muschel, die
kippte und versank.
»Wen haben wir denn da?« wunderte sich ein älterer
Fischer mit weißem Bart. »Das ist doch ein richtiges
Mädchen, eine von uns?« Er wandte sich an Yina: »Hat
diese verfluchte Brut von Fischmenschen dich
gefangengenommen? Wir sind gerade dabei, sie
auszurotten.«
Yina setzte sich auf eine Ruderbank.
»Warum wollt ihr sie töten? Sie haben mich gut
behandelt.«
»Dämonen sind sie, böse Geister und Teufel! Für sie
ist auf der Erde kein Platz.«
»Aber doch im Wasser, in dem wir nicht leben
können.«
Der alte Fischer war für einen Augenblick sprachlos
und überdachte das Gehörte, dann fragte er:
»Du verteidigst sie noch, obwohl sie dich fingen und
wir dich retteten?«
Yina entschied sich, ihre Taktik zu ändern. In
diesem Fall war die Wahrheit am besten.
»Sie haben mich aus den Händen von Seeräubern
befreit und würden mich ans Land gebracht haben,
wenn ihr mit eurem Krieg nicht dazwischengekommen
wäret. Nun schickten sie mich zu euch, um den Frieden
anzubieten.«
»Frieden zwischen uns und denen?« rief einer der
anderen Fischer empört. »Sie haben viele von uns
ermordet, und dafür sollen sie büßen. Jetzt wissen wir
endlich, daß es sie wirklich gibt.«
»Sie haben nur jene bestraft, die einige von ihnen
töteten. Ich weiß es, denn sie haben es mir selbst
berichtet.«
»Sie haben gelogen.«
»Nein, das haben sie nicht, ich weiß es. Sie sind
friedlich, wenn man sie in Ruhe läßt.«
Der alte Fischer betrachtete sie voller Zweifel.
»Woher willst du das alles wissen? Nur weil du eine
gewisse Zeit bei ihnen warst?«
»Ja. Und nun rufe deine Freunde zurück. Man wird
euch nicht verfolgen – das ist die Botschaft, die ich zu
überbringen habe.«
Der alte Mann lachte.
»Eine Botschaft hast du zu überbringen? Eine
Gefangene überbringt eine Botschaft! Man hat dich
dazu gezwungen, gib es nur ruhig zu.«
»Nein, ich kam freiwillig, und ich werde auch
wieder zu ihnen zurückkehren. Und noch etwas: Ihr
wißt, daß unser neuer König Dragon heißt. Er ist mein
Freund, und ich gehöre zu seinem Gefolge. Er will
nicht, daß man weiterhin die Fischmenschen verfolgt.«
»Dragon ...? Ja, wir hörten von ihm. Er soll viele
Sklaven freigelassen und den Fischern Hilfe
versprochen haben.« Er betrachtete sie genauer. »Du
willst zu seinem Gefolge gehören?«
»Ich gehöre dazu! Ich werde ihm von eurem
Überfall berichten, und das wird sich nicht günstig für
die Fischer an unserer Küste auswirken, glaube mir.«
»Kleines Mädchen, du sprichst große Worte ...!« Er
sah seine Kollegen an, fragend und um Rat bittend.
Dann fuhr er fort: »Ich kann die anderen nicht
zwingen, den Angriff zu beenden. Aber ich werde
dafür sorgen, daß es vorerst der letzte sein wird.
Warten wir ab, wie die Schlacht ausgeht. Ich befürchte
allerdings, schlecht für deine Freunde, die
Fischmenschen. Wir haben uns gut vorbereitet.«
Yina war längst freigelassen worden und konnte
sich an Bord des Bootes bewegen, wie sie wollte. Ab
und zu bemerkte sie im Wasser vor der Küste
Bewegung oder einen Wirbel. Auch Blut stieg aus der
Tiefe auf und verteilte sich an der Oberfläche. Einige
Leichen trieben in der Brandung.
»Dragon wird den Frieden zwischen uns und den
Fischmenschen zum Gesetz machen«, sagte sie zu den
Fischern. »Ihr könnt die Netze einziehen, sie nützen
nichts. Die Tainu tauchen darunter hinweg, wenn sie es
wünschen.«
»Tainu?«
»So nennen sie sich. Sie sind ein friedliches Volk.«
Der alte Fischer schwieg. Nachdenklich sah er
hinüber zu der unbewohnten und fast kahlen Insel, um
deren Besitz seine besten Freunde nun das Leben
ließen.
»Laß dich doch von der da nicht einwickeln!« rief
ihm einer der Männer zu und warf seine Harpune
einem gerade auftauchenden Tainu in die Schulter.
Entsetzt sah Yina zu, wie der Fischmensch sofort stark
zu bluten begann und tauchte. Der Fischer zog das Seil
mit der Harpune ein, er wollte seine Beute mit nach
Hause nehmen.
Aber er hatte kein Glück.
Ehe jemand es verhindern konnte, wurde er mit
einem plötzlichen Ruck nach vorn gerissen, ließ das
Seil zu spät los und verlor außerdem den Halt.
Mit einem Aufschrei fiel er ins Meer.
Sofort waren drei oder vier Tainu zur Stelle, die ihn
unter Wasser zogen und mit ihm verschwanden, ehe
einer der Fischer dem Unglücklichen helfen konnte.
Der alte Mann, mit dem Yina gesprochen hatte, griff
nach einem Wurfspeer.
»Da hast du deine friedlichen Fischmenschen!« rief
er ihr zu und beugte sich über den Bordrand, um nach
einem lohnenden Ziel auszuspähen. »Sie morden
kaltblütig ...«
»Sie wehren sich nur«, gab Yina hoffnungslos
zurück. »Seht ihr das denn nicht endlich mal ein?
Sollen sie sich einfach abschlachten lassen, nur weil ihr
sie für Dämonen haltet?«
Der Alte drehte sich zu ihr um. Einen Augenblick
lang sah es so aus, als wolle er sie mit seinem Speer
durchbohren, aber dann gab er seinen Leuten einen
Wink.
»Werft sie über Bord, ich will sie nicht mehr sehen.«
Widerstandslos ließ sich das Mädchen packen und
zum Bordrand zerren. Sie hatte keine Ahnung, ob man
ihr einige Speere nachschleudern würde oder nicht, auf
jeden Fall holte sie tief Luft, als man ihr einen Stoß gab
und sie ins Wasser fiel. Sie ließ sich ohne Bewegung
nach unten sinken und sah über sich den Schatten des
Bootes weitergleiten.
Zwei Tainu kamen herbei und packten ihre Arme.
Dicht unter der Oberfläche dahinschwimmend,
brachten sie Yina so weit vom Boot weg, daß ihr keine
Gefahr mehr drohte, dann tauchten sie mit ihr auf.
Ein dritter Tainu brachte die gesunkene Muschel,
und wenig später stand Yina wieder im
Grotteneingang. Issola empfing sie mit einer
Umarmung.
»Ich habe alles durch deine Gedanken verfolgen
können. Du hast es versucht, aber sie hören nicht auf
dich. Draußen geht der Kampf weiter. Aber die Fischer
sind schlechte Taucher. Bisher ist es noch keinem
gelungen, in unsere Grotten zu gelangen. Aber sie
haben andere Pläne. Sie wissen nun, wo wir wohnen
und daß unsere Höhlen auch von der Insel her
anzugreifen sind. Einige Boote sind bereits gelandet,
und die Männer gehen an Land. Sie werden die
Luftspalten finden und von dort aus eindringen.«
»Und was werdet ihr tun?«
»Wir werden versuchen, sie daran zu hindern«,
erwiderte Issola einfach. »Komm, ich bringe dich zu
meiner Mutter. Sie möchte mit dir reden.«
Diesmal nahmen sie einen anderen Weg als gestern,
und zum ersten Mal konnte Yina die noch im Bau
befindliche eigentliche »Stadt« der Tainu sehen. Es war
eine riesige Grotte. Das Land selbst, auf dem die ersten
primitiven Holzhütten standen, umgab ein dunkles,
ruhiges Wasserbecken, das zugleich den Eingang
darstellte. Die Wände zu kleineren Nebengrotten
waren durchbrochen worden, um mehr Platz zu
schaffen.
Nur Frauen waren zu sehen. Sie trugen Waffen
herbei und legten sie an den Rand des Wasserbeckens.
Ab und zu tauchte darin ein Mann auf, nahm sich, was
er brauchte, und verschwand wieder.
Ein gewundener Gang führte zu einer abgelegenen
Wohngrotte, die ziemlich hoch über dem
Wasserspiegel liegen mußte, denn es war warm und
trocken in ihr.
Ismena, die Stammesmutter der Tainu, erwartete die
beiden Mädchen bereits. Sie bot ihnen einen Platz auf
einem Fellager an.
»Du hast viel für uns gewagt«, sagte sie nach der
Begrüßung zu Yina. »In deiner Seele ist die Wahrheit,
und Gedanken könnten niemals eine Lüge verbergen.
Wir wissen, daß du es gut mit uns meinst. Sobald die
Fischer in ihre Heimat zurückkehren, werden wir dich
zur Küste von Myra bringen. Issola und ich werden
dich begleiten.«
»Ihr wollt mitkommen?« wunderte sich Yina
erschrocken. »Man würde euch töten, denn noch ist
kein Friede geschlossen worden.«
»Eigentlich hat es auch nie einen richtigen Krieg
gegeben. Du hast doch einen Gedankenkontakt im
Palast, wie Issola mir berichtete. Lasse durch ihn
deinem König sagen, daß er uns erwarten soll, an der
Küste, in einer Bucht, die ihm und dir bekannt ist.«
Die Bucht der großen Steine, dachte Yina sofort.
Natürlich, dort soll Dragon uns erwarten ...
»Ja, ich kenne eine solche Bucht. In ihr fingen mich
die Piraten, und Dragon kennt sie auch. Ich will noch
heute versuchen, über Kano mit Dragon zu sprechen.
Ich weiß, wie wichtig es ist.«
»Ja, es ist wichtig«, bestätigte Ismena ernst.
Auf der Insel entdeckten die Angreifer mehrere
Bodenspalten, die ihnen groß genug erschienen. Die
Mutigsten von ihnen zwängten sich hinein und
kletterten in die darunter befindlichen Höhlen. Zu ihrer
Überraschung fanden sie dort niemanden, nur
verlassene Feuerstellen und einige notdürftige Lager
aus Ziegenfell.
Immer mehr Fischer kamen ihnen nach. Sie suchten
nach einem Ausgang, der nicht unter Wasser lag, und
nach Gängen, die zu den anderen Grotten führten.
Aber dann mußten sie feststellen, daß es keine solchen
Gänge gab.
Als sie umkehren wollten, um ihr Glück woanders
zu suchen, hörten sie Schreie von oben aus der
Erdspalte. Waffen klirrten, Männer fluchten und riefen
um Hilfe. Dann wurde es plötzlich still.
»Verdammt, sie haben uns in eine Falle gelockt!«
sagte einer der Fischer wütend. »Nichts wie ’raus hier!«
Doch dazu war es zu spät.
Zuerst kam nur Sand und kleines Geröll von der
Decke her auf sie herab, dann richtige Felsbrocken. Die
größten von ihnen blieben in der Spalte, knapp zwei
Mannslängen über dem Boden, stecken und
verstopften ihn. Es wurde dunkler in der Grotte.
Zwei Fischer halfen einem dritten, damit er die
Decke erreichte. Das Poltern draußen hatte aufgehört.
Die Tainu zogen sich ins Wasser zurück, nachdem sie
sicher sein konnten, daß die Eingeschlossenen nicht
entfliehen konnten. Die anderen Teilnehmer des
Unternehmens saßen bereits wieder in ihren Booten
und ruderten aus Leibeskräften, um sich möglichst
schnell von der Insel zu entfernen. Sie wunderten sich,
daß sie noch am Leben waren, obwohl eine große
Übermacht der Fischmenschen sie überfallen hatte.
Einer der Tainu überraschte Ismena die
Erfolgsmeldung.
»Es sind etwa zwanzig Landmenschen gefangen.
Was soll mit ihnen geschehen?«
Ismena sah Issola und Yina fragend an.
»Sollen wir sie töten?« drängte der Tainu. »Sie haben
die Strafe verdient, denn viele unserer Männer mußten
heute sterben.«
»Das Morden muß endlich aufhören«, sagte Ismena
nachdenklich. »Yina, was schlägst du vor? Sollen wir
sie töten? Sollen wir sie festhalten, bis du mit König
Dragon gesprochen hast? Oder sollen wir sie einfach
jetzt freilassen, wenn sie uns versprechen, an ihre
Küsten zurückzukehren?«
Issola antwortete an Yinas Stelle:
»Warum reden wir nicht mit den anderen
Landmenschen in den Booten? Wir erzählen ihnen, daß
wir Gefangene haben und sie freilassen, wenn sie alle
abziehen und den Angriff einstellen. Damit zeigen wir
ihnen unseren guten Willen.«
»Der erzwungene Friede ist kein guter Friede«, gab
Ismena zu bedenken.
»Besser ein schlechter Friede als keiner, Mutter.«
»Was meinst du, Yina?«
Yina nickte Issola zu.
»Wir können erst dann von hier fort nach Myra,
wenn die Fischer abgezogen sind. Darum stimme ich
Issolas Vorschlag zu. Ich selbst will versuchen, mit den
Männern in den Booten zu sprechen.«
»Ich lasse dich nicht noch einmal zu ihnen«, sagte
Issola entschlossen. »Du wirst von der Insel aus mit
ihnen reden, im Schutz unserer Männer. Sie haben alle
Angreifer vom Land vertrieben, du bist sicher dort. Die
Felsen am Ufer bieten genügend Deckung gegen ihre
Speere und Pfeile.«
Ismena war einverstanden. Diesmal wählte Issola
einen Ausgang, der nur eine Mannslänge unter dem
Wasser einer stillen Bucht lag. Sie brauchten die
Muschel nicht. Yina hielt nur wenige Sekunden die
Luft an, dann schwamm sie neben Issola an der
Oberfläche.
Einige Tainu näherten sich von Land her. Issola rief
ihnen einige Worte in der melodischen und
vokalreichen Sprache der Tainu zu, dann kletterte sie
über die Uferfelsen und half Yina, festen Fuß auf der
Insel zu fassen.
Sie folgten einem schmalen Pfad, bis sie die Boote
vor der Küste sehen konnten. Die Männer in ihnen
machten keinen sehr unternehmungslustigen Eindruck
mehr.
Yina entdeckte das Boot mit dem alten Fischer.
Sie winkte, um ihn auf sich aufmerksam zu machen.
Einige Pfeile von den anderen Booten schwirrten
harmlos vorbei. Die Entfernung war zu groß, aber sie
reichte noch zur Verständigung aus.
»He, ich bin‘s!« rief Yina, so laut sie konnte. »Ich
muß euch etwas mitteilen!«
»Verräterische Hexe!« brüllte jemand zurück, aber es
war nicht der Alte. »Wir werden dich verbrennen,
wenn wir dich erwischen.«
»Was hast du uns zu sagen?« rief der alte Fischer,
und Yina konnte ihn nur verstehen, weil sie seine
Gedanken hörte. »Wo sind unsere Männer geblieben?«
»Gefangen. Es geht ihnen gut, und sie sind in
Sicherheit. Die Tainu hätten sie alle töten können, aber
wir werden sie freilassen, wenn ihr wegfahrt und nie
mehr zurückkehrt. Das ist das Angebot der
Fischmenschen. Wir erwarten eure Antwort.«
»Wer beweist uns, daß du die Wahrheit sprichst?‘ »
»Die Tat wird es beweisen. Zieht ab, und ihr könnt
eure Männer mitnehmen. Laßt zwei leere Boote am
Strand zurück. Sobald ihr weit genug entfernt seid,
lassen die Tainu ihre Gefangenen frei. Ich verspreche
es.«
Es folgte eine Beratung der Fischer. Yina verfolgte
sie aufmerksam durch Gedankenlesen. Der alte Mann
hatte einen schweren Stand gegen seine Gefährten,
aber er setzte sich durch – und er meinte es ehrlich.
»Einverstanden!« rief er schließlich zur Insel
herüber. »Wir bringen zwei Boote zum Strand und
entfernen uns dann. Sobald die Gefangenen zu uns
herauskommen, gehen wir auf Heimatkurs.«
Wieder sprach er die Wahrheit.
Issola gab den Tainu einige Anweisungen, dann
sagte sie zu Yina:
»Sie holen die Gefangenen aus der Höhle.
Hoffentlich machen die keine Schwierigkeiten, denn sie
sind noch bewaffnet.«
Aber alles ging gut. Die Tainu entfernten die
blockierenden Felsen aus dem Erdspalt und ließen die
Fischer einzeln herausklettern. Die Waffen blieben in
der Grotte zurück.
Sie warfen Issola und Yina erstaunte, wütende und
fragende Blicke zu, aber als sie die beiden leeren Boote
am Strand erblickten, begannen sie das Wunder zu
begreifen. Sie rannten zum Strand, kletterten in die
Boote und ruderten hastig davon, den anderen Booten
nach, die draußen auf dem Meer auf sie warteten.
Wenig später wurden die Segel gesetzt, und die
kleine Flotte entfernte sich schnell in westlicher
Richtung.
7.
Dragon sah auf, als Kano eintrat. »Hast du Nachricht
von Yina? «
»Eine Nachricht von Yina, ja.« Der Zwilling setzte
sich. »Sie hat eine merkwürdige Bitte geäußert.«
»Berichte!«
»Du sollst dich morgen mittag zur Bucht der Großen
Steine begeben und nur einige Vertraute mitbringen
Dort sollst du Yina erwarten.«
»Bucht der Großen Steine? Ausgerechnet dort?
Seltsam.«
»Finde ich auch. Kennst du die Bucht?«
»Natürlich kenne ich sie. Wenn wir reiten, brauchen
wir erst morgen Vormittag aufzubrechen. Du kommst
mit, Kim auch. Benachrichtige Partho, er soll uns
begleiten. Sonst hat Yina nichts verlauten lassen?«
»Nein, kein Wort. Hoffentlich ist das alles keine
Falle.«
Dragon lächelte.
»Ich dachte immer, du könntest Gedanken lesen?«
Kano zuckte die Schultern.
»Kann ich auch, aber ich bin eben von Natur aus
mißtrauisch.«
Dragon blieb ein wenig nachdenklich in seinem
Gemach zurück. An eine Falle glaubte er nicht, denn
nur wenige Menschen kannten die Bucht der Großen
Steine. Außerdem hätte Yina mit Sicherheit eine
entsprechende Gedankenbotschaft geschickt. Wer hätte
das schon kontrollieren sollen?
Außer ihr, Kano und Kim gab es keinen Menschen,
der noch Gedanken lesen konnte.
Oder doch?
Gegen Abend kam Partho, Dragons
Oberbefehlshaber und Chef der Leibwachen. Er mochte
die kleine »Maus« ebenfalls recht gern und war froh,
daß sie den Piraten entkommen war.
»Ich werde die Reittiere bereitstellen lassen, Dragon.
Ist es vielleicht nicht doch besser, wenn wir einige
Krieger mitnehmen?«
»Yina hat es ausdrücklich verboten.«
»Die Maus hat doch nichts zu verbieten, Dragon.«
»In diesem Fall müssen wir tun, worum sie bittet.
Sie wird ihre Gründe haben.«
»Die möchte ich aber gern kennenlernen.«
»Da bist du nicht allein, mein Freund. Wir sehen uns
morgen. Ich verlasse mich auf dich.«
»Keine Sorge, es wird bestens für alles gesorgt.«
Das ganze Unternehmen blieb geheim, auch darum
hatte Yina gebeten, und als Dragon einige Stunden
später im Bett lag und zu schlafen versuchte, gelang es
ihm nicht. Immer wieder mußte er über das
merkwürdige Verhalten Yinas nachdenken.
Es dämmerte bereits, als er endlich einschlief.
Auf dem Landwege, so rechnete sich Yina aus,
wären es bis zur Bucht der Großen Steine vier
Tagesmärsche gewesen, aber Issola versicherte ihr, daß
sie nur wenige Stunden für die Strecke benötigen
würden.
Nach dem Abzug der Fischer wurde in einer Bucht
ein kleines und ungewöhnlich leichtes Boot gefunden.
Issola gab einigen Tainu Anweisung, es für die
bevorstehende Reise vorzubereiten. Dann nahm sie
Yina beiseite und hielt ihr die offene Hand hin, in der
ein kleiner Metallgegenstand lag.
»Das ist eine Pfeife«, erklärte das Fischmädchen.
»Mit ihm kannst du die Delphine herbeirufen. Sie
hören den Ton auf große Entfernungen und kommen
sofort. Solltest du jemals auf dem Meer in Not geraten,
brauchst du nur hineinzublasen. Die Wasserbrüder, die
ihr Menschen Delphine nennt, werden kommen.«
Yina nahm die Pfeife und verbarg sie in ihrem Rock.
»Danke, Issola. Es wird mir schwerfallen, von dir
Abschied zu nehmen. Aber es muß wohl sein.«
»Wir sehen uns bald wieder«, versprach Issola
überzeugt.
Die letzte Nacht brach an, aber noch lange bevor der
Morgen graute, kamen Ismena und Issola, um die
Gedankenleserin zu wecken. Sie brachten noch einige
warme Ziegenfelle mit, einige Vorräte und Krüge mit
frischem Wasser. Niemand begleitete sie, als sie zum
Boot gingen, und jetzt erlebte Yina zum ersten Mal die
Wirkung der Delphinpfeife.
Issola blies hinein, und bereits Sekunden später
erschienen drei der großen Fische und ließen sich
willig die Zügel anlegen, die noch am Abend zuvor
von den Tainu angefertigt worden waren. Die anderen
Enden der Leinen wurden am Bug des Bootes befestigt.
»Sie werden uns ziehen?«
»Sehr schnell sogar, du wirst sehen«, sagte Issola.
»Wenn du öfter an unser Ziel denkst, kann ich ihnen
stets die Richtung angeben. Ob dein König am
vereinbarten Treffpunkt sein wird?«
»Er wird dort sein. Kano sagte es mir.«
Sie kletterten ins Boot, und dann mußte Yina sich
festhalten, um nicht herauszufallen. Die Delphine
zogen an. Die Bugwelle rauschte bis zum Bordrand
empor, obwohl die See völlig ruhig und glatt war. Es
wehte kaum ein Windhauch.
Allmählich verblaßten die Sterne, und als Yina sich
umdrehte, konnte sie die Insel schon nicht mehr sehen.
Sie waren schneller als jedes Schiff auf dem Meer und
jeder Reiter auf dem Land. In zwei Stunden legten sie
leicht einen Tagesritt zurück.
Als die Sonne aufgegangen war, hielt Issola die
Delphine an und tauschte sie gegen andere aus. Dem
Boot folgte eine ganze Herde von ihnen, und immer
wieder kamen neue hinzu.
Sie aßen und tranken von den mitgenommenen
Vorräten.
»Dort drüben siehst du bereits die Küste von Myra«,
meinte Ismena. »Die Große Insel ist rechts von uns. Ich
hoffe nur, daß uns niemand sieht. Der Anblick dürfte
für Landmenschen recht ungewohnt sein.«
Yina nutzte die Gelegenheit, Kontakt mit Kano
aufzunehmen.
»Du bist schon wach?« wunderte sie sich, als es
endlich klappte.
»Wir reiten bald los, in drei Stunden, wo bist du?«
»Auf dem Weg zur Bucht der Großen Steine.«
»Das kann ich mir denken. Willst du mir nicht
endlich verraten, was das alles bedeuten soll?«
»Du wirst es früh genug erfahren!«
»Maus!«
»Ratte!«
Es war wie üblich. Aber der Gedankenkontakt war
so klar, als sprächen sie miteinander. Kim mischte sich
ebenfalls noch ein:
»Mäuschen, wir sehen uns bald wieder! Ich bin
sicher, du reißt nicht so schnell wieder aus. Partho hat
versprochen, dich zu versohlen.«
»Der wird keine Zeit dazu haben«, prophezeite Yina
belustigt. »Kommst du mit?«
»Dragon, Partho, Kano und ich – die Elite des
myrianischen Reiches.«
Yina hatte »laut gedacht«, damit ihre beiden
Begleiterinnen wenigstens die eine Seite verstehen
konnten. Den Rest konnten sie sich zusammenreimen.
Immerhin wußten sie nun, daß der König selbst
unterwegs war, um mit ihnen zu reden.
Erneut zogen die Delphine an.
Sie erreichten die Bucht, als die Sonne ihren höchsten
Stand erreichte. Partho, der sichernd vorangeritten
war, winkte Dragon zu.
»Nichts zu sehen. Hier hat sich auch niemand
versteckt. Alles leer und verlassen. Auch ein Schiff
kann ich nicht sehen. Ich war oben auf den Klippen.«
»Reiten wir hinab zum Sandstrand«, schlug Dragon
vor.
Dort angelangt, stiegen sie von den Pferden, die
sofort im kargen Strandhafer zu weiden begannen.
Sie setzten sich auf einer Düne in den warmen,
trockenen Sand.
»Dort drüben ist etwas im Wasser«, stellte Dragon
plötzlich fest und beschattete die Augen, um besser
sehen zu können. »Ich kann es nicht erkennen, aber ein
Segler ist es nicht. Sieht mehr nach einem Boot aus,
aber es hat keine Segel. Und seht ihr auch die weiße
Bugwelle? Das ist unmöglich, kein Mann kann so
schnell rudern.«
Alle vier starrten in die angegebene Richtung, bis
Partho sagte:
»Ihr könnt ja ruhig behaupten, ich sei verrückt, und
vielleicht würde ich es sogar selbst glauben, aber wenn
mich nicht alles täuscht, kommt dort ein Boot, das von
Fischen gezogen wird.«
»Du bist verrückt!« entfuhr es Kim.
»Kim!« warnte Dragon.
Sonst sagte er nichts. Er hatte genug damit zu tun,
das zu begreifen, was er nun sah.
Partho war keineswegs verrückt oder einer
Sinnestäuschung zum Opfer gefallen.
Von drei Delphinen gezogen und von einer riesigen
Herde begleitet, bog das kleine Boot in die Einfahrt der
Bucht ein und kam schnell näher. In dem Boot saßen
drei Gestalten, von denen nun eine aufstand und der
Gruppe am Strand zuwinkte.
»Das ist Yina!« sagte Partho verblüfft. »Ich träume!«
Dragon ging als erster zum Strand hinab, nachdem
er seinen Begleitern einen Wink gegeben hatte.
Er begann einiges zu begreifen, denn er hatte schon
von den Fischmenschen gehört, ohne allerdings recht
an sie glauben zu wollen. Nun verstand er auch Yinas
Geheimnistuerei. Wenn es diese Fischmenschen
wirklich gab, hatten sie allen Grund, Furcht vor den
Menschen zu empfinden.
Die Zügel wurden gelöst, die Delphine kehrten in
tieferes Wasser zurück, wo sie sich mit den anderen
formierten und warteten.
Yina kam durch das seichte Wasser an Land
gewatet.
»Dragon, ich bin froh!« Sie drehte sich um. »Das
sind Ismena und ihre Tochter Issola. Sie hat mich aus
der Hand der Piraten befreit. Beide sind
Fischmenschen – und meine Freunde.«
Partho hatte sein Schwert gezogen und kam
langsam näher. Die Zwillinge warteten noch ab.
Dragon gab seinem Hauptmann einen Wink.
»Steck das Schwert ein, Partho. Wir haben Gäste,
sehr willkommene Gäste.« Er verneigte sich vor den
beiden Tainu. »Seid willkommen in Myra. Wollt ihr
das Boot nicht verlassen?«
Ismena stieg als erste aus, dicht gefolgt von Issola.
Ihre Gesichter drückten noch immer Furcht aus, aber
sie vertrauten Yina, die nun Partho und die Zwillinge
begrüßte. Dragon führte die beiden Fischmenschen zur
Düne und bat sie, Platz zu nehmen. Ehe er eine Frage
stellte, ließ er Yina berichten.
Sie hörten alle zu, ohne sie zu unterbrechen. Partho
ließ die beiden Fischmenschen nicht aus den Augen,
aber aus seinem Mißtrauen wurde allmählich
Neugierde. Besonders Issola gefiel ihm gut.
Er ahnte noch nicht, daß sie seine Gedanken lesen
konnte, und als er es wenig später erfuhr, wurde er
richtig verlegen.
Yina schloß ihren Bericht:
»Dragon, Ismena ist die Stammesmutter der Tainu
und damit ihre Führerin. Sie ist zu dir gekommen, um
den ewigen Frieden zwischen ihrem und unserem Volk
zu erbitten. Kannst du ihr helfen?«
Dragon überlegte keine Sekunde.
»Der Friede zwischen dem Volk von Myra und dem
Volk der Tainu wird zum Gesetz«, sagte er. »Niemals
mehr wird ein Fischer einen Tainu töten, wenn er nicht
selbst mit dem Tode bestraft werden will. Auch die
Delphine werden unter Schutz gestellt werden und
dürfen nicht mehr gejagt werden. Ist es das, was du
willst, Ismena?«
Sie streckte ihm beide Handflächen entgegen, die er
mit den seinen berührte.
»Ja, es ist der Friede zwischen unseren Völkern, den
die Tainu seit vielen Hunderten von Sonnen suchten.
Es wird die Zeit kommen, in der die Landmenschen
unserer Hilfe bedürfen, und wenn sie den jetzt und
hier geschlossenen Frieden gehalten haben, werden wir
ihnen die erhoffte Hilfe nicht versagen. Wir haben viele
gemeinsame Feinde.«
Dragon nickte. »Ihr habt mein Wort, Ismena und
Issola, daß von nun an Friede zwischen uns herrschen
wird. Und bald werden wir eure Abordnung offiziell in
meinem Palast empfangen. Wir freuen uns darauf.«
Kano und Kim hatten Holz gesammelt und ein
Feuer angezündet. Das war alles, was sie im
Augenblick tun konnten, aber sie hatten festgestellt,
daß auch die beiden Fischmenschen Gedanken lesen
konnten.
Partho sah ununterbrochen Issola an, der seine
heimlichen Gedanken allmählich peinlich wurden.
Dragon bemerkte es und sagte trocken:
»Partho, kannst du immer nur an das eine denken?«
Der Hauptmann sah Dragon verblüfft an.
»Seit wann kannst du Gedanken lesen?«
»Das ist nicht nötig, Partho, dein Gesichtsausdruck
genügt.«
Issola erhob sich lächelnd.
»Er ist ein Mann, König Dragon, und ich bin, so
glaube ich, nicht gerade häßlich. Zürnt ihm also nicht.
Seine Gedanken sind ehrlich, das ist die Hauptsache.
Lebt wohl – und vielen Dank für den Frieden, den ihr
uns geben wollt.«
Auch Ismena verabschiedete sich und stieg ins Boot.
Issola pfiff die Delphine herbei, die sich willig
einspannen ließen und das kleine Schiff aus der Bucht
zogen.
Yina, die bewegt Abschied von ihrer Freundin Issola
genommen hatte, stand ein wenig abseits und winkte,
bis die Tainu um das Kap bogen.
Gesenkten Hauptes kehrte sie zu Dragon und den
anderen zurück.
»Nun bin ich wieder bei euch«, sagte sie einfach.
Dragon schloß sie in die Arme.
»Und du hast etwas Großes vollbracht, Maus. Du
hast bewirkt, daß zwei Völker Frieden schlossen. Das
werden wir dir nie vergessen. Ich werde das neue
Gesetz noch heute ausarbeiten und morgen verbreiten
lassen. Todesstrafe für jeden, der einen Tainu umbringt
oder auch nur fängt. Die Delphine werden vom Fang
ausgeschlossen werden. Für mich ist jeder ein Freund,
der den Frieden will.«
Partho nahm Yina vor sich aufs Pferd, als sie
aufbrachen.
Etwas zögernd meinte er:
»Sie ist sehr hübsch, deine neue Freundin. Sie würde
mir schon gefallen.«
Yina sagte mit ausdruckslosem Gesicht:
»Sie hat schon einen Tainu für sich ausgewählt,
Partho. Außerdem ist sie Gedankenleserin. Ich auch,
daher weiß ich, was du gedacht hast, als du sie ständig
anblicktest. Du solltest dich schämen.«
Der Hauptmann war so verblüfft, daß er eine Stunde
lang schwieg.
ENDE
Während die Tainu, bislang von allen Landbewohnern
gnadenlos verfolgt und gejagt, im Schutze Myras endlich
eine neue, relativ sichere Wohnstätte gefunden haben,
entbrennt auf der Schlangeninsel, dem Reich König Jellis‘
und der Bruderschaft, ein Streit der Mächtigen und der
Angriff gegen Myra wird vorbereitet.
Mehr zu diesem Thema berichtet Hugh Walker im nächsten
Dragon-Band. Der Roman trägt den Titel:
DER SCHLANGENGOTT