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Die Stellung des Verteidigers im rechtsstaatlichen Strafverfahren

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Die Stellung des Verteidigers im rechtsstaatlichen Strafverfahren* Von Professor Dr. Karl Heinz Gössel, Erlangen, Vors. Richter am Landgericht München I L Teil: Einführung in die Problematik A Die gegensätzlichen Extreme des Verteidigerbildes I. „Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte" dieses Schillerwort über Wallen- stein erscheint in der derzeitigen Diskussion um Verteidigung und Verteidiger besonders aktuell. Advokaten als Rechtsverdreher vor- nehmlich zum eigenen finanziellen Vorteil, Verteidiger als gewis- senlose Egoisten, die den Verbrecher mit den verabscheuungswür- digsten Kniffen und Winkelzügen der verdienten Strafe entziehen: Diese vor allem im 18. Jahrhundert weitverbreitete Auffassung führte in Preußen schon 1713 zu dem berüchtigten „Mantelerlaß", der den Advokaten das Tragen eines schwarzen Mantels auch privat zur Pflicht machte: „daß man die Spitzbuben schon von weitem erkennen und sich vor ihnen hüten könne" 1 . Selbst vor der letzten Konsequenz der Abschaffung der freien Advokatur schreckte Preußen, wenn auch erst später, nicht zurück: Gemäß einer königlichen Anordnung von 1780 ist es „wider die Natur der Sache, daß die Partheyen mit ihren Klagen und Beschwerden von dem Richter nicht selber gehört werden, sondern ihre Nothdurft durch gedungene Advocaten vor- stellen sollen. Diesen Advocaten ist sehr daran gelegen, daß die Pro- zesse verfielfältigt und in die Länge gezogen werden; denn davon dependirt ihr Verdienst und ihr ganzes Wohl" 2 . II. Diese Klagen waren gewiß nicht unberechtigt 3 und so wird es verständlich, daß nach einer neuen Art von Rechtsbeiständen überarbeitete und mit Fußnoten versehene Fassung eines Vortrags, den ich auf der Strafrechtslehrertagung 1981 in Bielefeld gehalten habe. Die holzschnittartige Vortragsform wurde durchgehend beibehalten, 1 Zitiert nach Armbruster, Die Entwicklung der Verteidigung in Strafsachen, 1980, S. 88. 2 Zitiert nach Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980, S. 29. 3 Vargha, Die Verteidigung in Strafsachen, 1879, S. 852. ZStW 94 (1982) Heft l Bereitgestellt von | New York University Elmer Holm Angemeldet | 10.248.254.158 Heruntergeladen am | 16.09.14 01:5
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Page 1: Die Stellung des Verteidigers im rechtsstaatlichen Strafverfahren

Die Stellung des Verteidigersim rechtsstaatlichen Strafverfahren*Von Professor Dr. Karl Heinz Gössel, Erlangen,

Vors. Richter am Landgericht München I

L Teil: Einführung in die ProblematikA Die gegensätzlichen Extreme des Verteidigerbildes

I. „Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt seinCharakterbild in der Geschichte" — dieses Schillerwort über Wallen-stein erscheint in der derzeitigen Diskussion um Verteidigung undVerteidiger besonders aktuell. Advokaten als Rechtsverdreher vor-nehmlich zum eigenen finanziellen Vorteil, Verteidiger als gewis-senlose Egoisten, die den Verbrecher mit den verabscheuungswür-digsten Kniffen und Winkelzügen der verdienten Strafe entziehen:Diese vor allem im 18. Jahrhundert weitverbreitete Auffassungführte in Preußen schon 1713 zu dem berüchtigten „Mantelerlaß", derden Advokaten das Tragen eines schwarzen Mantels auch privat zurPflicht machte: „daß man die Spitzbuben schon von weitem erkennenund sich vor ihnen hüten könne"1. Selbst vor der letzten Konsequenzder Abschaffung der freien Advokatur schreckte Preußen, wennauch erst später, nicht zurück: Gemäß einer königlichen Anordnungvon 1780 ist es „wider die Natur der Sache, daß die Partheyen mitihren Klagen und Beschwerden von dem Richter nicht selber gehörtwerden, sondern ihre Nothdurft durch gedungene Advocaten vor-stellen sollen. Diesen Advocaten ist sehr daran gelegen, daß die Pro-zesse verfielfältigt und in die Länge gezogen werden; denn davondependirt ihr Verdienst und ihr ganzes Wohl"2.

II. Diese Klagen waren gewiß nicht unberechtigt3 — und so wirdes verständlich, daß nach einer neuen Art von Rechtsbeiständen

überarbeitete und mit Fußnoten versehene Fassung eines Vortrags, den ich aufder Strafrechtslehrertagung 1981 in Bielefeld gehalten habe. Die holzschnittartigeVortragsform wurde durchgehend beibehalten,

1 Zitiert nach Armbruster, Die Entwicklung der Verteidigung in Strafsachen, 1980,S. 88.

2 Zitiert nach Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980, S. 29.3 Vargha, Die Verteidigung in Strafsachen, 1879, S. 852.

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gesucht wurde. Mit der Carmerschen Justizreform in Preußen wurdegeradezu ein Gegenbild zu den bisherigen Advokaten geschaffen,folgerichtig unter neuem Namen. Den nunmehrigen .Assistenzräten11

wurde verordnet, nur die Wahrheit zu suchen, und zwar unabhängigdavon, ob diese dem Mandanten schade — und auf Grund des Irr-tums, der Richter könne die objektive Wahrheit ermitteln underkennen, werden sie dazu degradiert, dem Gericht bei der Tat-sachenermittlung zu assistieren4. Als festangestellte und -besoldeteBeamte konnten diese „Quasi-Hilfsrichter" natürlich das Vertrauender Rechtssuchenden nicht gewinnen und bewährten sich so wenig,daß sie bereits 1783 wieder abgeschafft werden mußten5.

Die Quelle aber, welche die Assistenzräte hervorbrachte, wirktelange fort. Nach nationalsozialistischer Rechtsauffassung gilt derProzeß „nicht mehr dem Schütze des einzelnen, sondern dem Schützeder Gemeinschaft": Deshalb ist „der Verteidiger nicht Inter-essenvertreter des einzelnen, sondern Sachwalter der Gemeinschaft;er ist nicht Verteidiger der Partei, sondern allein Verteidiger desRechts"6. Der damit postulierte rücksichtslose Vorrang der Gemein-schaftsinteressen wird im kommunistischen Teil Deutschlands nochunverhüllter propagiert: Der Verteidiger hat einer parteilichenRechtspflege zu dienen, die „den Zielen der Partei der Arbeiterklasseund der Regierung entspricht"7, er ist Glied „des einheitlichenSystems der Staatsmacht"8.

III. Damit sind die gegensätzlichen Pole der Stellung desRechtsanwalts benannt: einmal der im eigenen finanziellen Interesserücksichtslos auf den Vorteil seines Mandanten um jeden Preisbedachte Anwalt als „besoldeter Knecht"9, zum anderen der einseitigden staatlichen oder politischen Zielen verpflichtete Sachwalter.

Diese geschichtlichen Erfahrungen lehren bereits eines: JederAnwalt, der diesen Vor-Bildern oder besser Zerrbildern entspricht,intendiert mit seiner letztlich ebenso wirtengsiosen wie äberötrssr-4 Knapp, JuS 1974, 20, 21; weil hier nur die Hauptlinien der zu Extremen führenden

Entwicklung aufgezeigt werden sollen, braucht auf die Justizkommissare" - vgl.dazu Armbruster (Anm. 1), S. 52 — und auf die Entwicklung andernorts — s. dazuaber unten 2. Teil AII a) — nicht eingegangen zu werden.

5 Armbrüster (Anm. 1) S. 93.6 Sack, Der Strafverteidiger und der neue Staat, 1935, S. 547 Benjamin, zitiert nach Knapp, Der Verteidiger — ein Organ der Rechtspflege?

1974, S. 74, s. auch S. 83 m. w. N.8 Riemann, Der Schöffe 1971, S. 260, zitiert nach Knapp, JuS 1974,20,22.9 Reichssatzung Friedrichs III, zitiert bei Cramer, An advocati in rebus publicis sint

tolerandi? 1736, S. 15 f., Fn. p.

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gen Tätigkeit seine eigene Abschaffung10. Der allein dem Mandan-teninteresse als identischem eigenen Interesse verpflichtete Interes-senvertreter muß als skrupelloser Komplize seines Mandanten einergerechten Rechtspflege mindestens im Konfliktsfall bis zur Verhin-derung entgegenwirken, während der auf das richterliche Ziel dergerechten Rechtspflege festgelegte Anwalt zwar dem Richter, aberals Quasi-Vorrichter mindestens im Konfliktsfall nicht seinem Man-danten Beistand leisten kann. Solch negative Bilder erscheinenuntauglich, dem Verteidiger als Vor-Bild zu dienen11.

B. Gang der UntersuchungWas aber kann denn zum Vor-Bild, als Idee des Verteidigers

und der Verteidigung dienen? Die richtige Antwort auf diese Fragensetzt die Kenntnis des richtigen Weges zu ihrer Beantwortung vor-aus.

I. Vor einem ersten verführerischen Weg ist bereits ausdrück-lich gewarnt worden. Er besteht darin, einen der derzeit im Vorder-grund der Diskussion stehenden Begriffe (z. B. soziale Gegenmacht,Organ der Rechtspflege) auszuwählen und ihm diejenigen Inhalteeinzuverleiben, die man später als konkrete Aufgaben und Befug-nisse oder Beschränkungen des Verteidigers daraus wieder hervor-holt12. Diesen zirkelschlüssigen Weg will ich nicht beschreiten.Erfolgversprechender erscheint indes der jüngst von Beulkebeschrittene Weg: „Erst wenn aufgrund der . . . dem gesamten Straf-prozeßsystem entnommenen Rechte und Pflichten die Aufgaben desVerteidigers im Strafverfahren umschrieben sind, können Aussagenzu seiner Rechtsstellung gewagt werden1113.

Wie aber der erste Weg in den Zirkelschluß und damit zugleichin unbegrenzbare Willkür bei Aussagen über Verteidigung und Ver-teidiger führt, so scheint mir der zweite Weg die Gefahr einer positi-vistischen Festschreibung mit sich zu bringen: wer die Rechtsstel-lung des Verteidigers über dessen Aufgaben letztlich den konkretengesetzlichen Rechten und Pflichten entnehmen will, erliegt leichtder umgekehrten Gefahr, ebendiese Rechte und Pflichten durch eindaraus deduktiv gewonnenes Verteidigerbild festzuschreiben unddarauf zu verzichten, die konkreten Befugnisse und die Aufgaben10 Vgl. Armbrüster (Anm. 1), S. 90.1 * Vgl. auch Lüderssen, Festschrift für Sarstedt, S, 145, 155.12 Vgl. dazu Rieß, Festschrift für Schäfer, S. 155, 200 und Beulke (Anm. 2), S. 34.

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des realen Verteidigers am idealen Verteidigerbild kontrollierend zumessen und fortzuentwickeln.

II. Deshalb möchte ich einen anderen Weg gehen. Die eingangserwähnten polaren Zerrbilder des Verteidigers haben bereits wich-tige Abhängigkeiten des Verteidigerbildes aufgezeigt: Abhängigkei-ten insbesondere von den Zielen des Staates. Und hier muß an einevielfach unbeachtete triviale Erkenntnis erinnert werden: Ausübungvon Strafgewalt ist Ausübung von Staatsgewalt14. Wer an dem Pro-zeß der Ausübung von Strafgewalt im weitesten Sinne beteiligt ist,ist von den Zielen des Strafprozesses ebenso abhängig wie vondenen der Staatsgewalt15. Organisation und Ausübung der Staatsge-walt im konkreten Strafverfahren und also auch die Struktur desjeweiligen Strafverfahrens bestimmen Idee und Realität des Vertei-digers - und diese deduktiv gewonnene Erkenntnis findet ihreinduktive Bestätigung in der Geschichte des Strafprozesses16. Ausdiesem Grunde will ich versuchen, aus der Struktur des Strafverfah-rens als geregelter Ausübung von Staatsgewalt ein Bild des Verteidi-gers zu gewinnen — der Gefahr der Festschreibung derzeitiger posi-tiver Regelungen hoffe ich dadurch zu entgehen, daß ich das Vertei-digerbild von der Prozeßtheorie und damit auch von der Staatstheo-rie abhängig mache, die ja beide nicht für alle Zeiten unverrückbarfeststehen.

2 Teil: Die Bedeutung des InquisitionsprinzipsWie sehr die Stellung des Verteidigers von jeher von den Zielen

und der Struktur des Strafverfahrens abhängig war, ist uns aus zahl-reichen Berichten über den israelitischen bis zum römischen, vomgermanischen bis zum inquisitorischen Strafprozeß bekannt — undwird uns zudem durch eine rechtsvergleichende Betrachtung derderzeitigen verschiedenen Strafprozeßordnungen verdeutlicht17.Wenn so auch weitgehend auf historische Darlegungen verzichtetwerden kann, so ist doch zu bedenken, daß der derzeitige deutschesogenannte Anklageprozeß in seinem Kern durchaus inquisitori-scher Natur ist, welche die Struktur des Strafverfahrens ebensobeeinflußt wie die Stellung des Verteidigers in diesem Verfahren.Neben den staatstheoretischen und verfassungsrechtlichen Einflüs-14 Peters, Strafprozeß, 3. Aufl. 1981, S. 21,54? Exner, Strafverfahrensrecht, 1948, S. 7.15 Vgl. Rolf Schneider, Der Rechtsanwalt, ein unabhängiges Organ der Rechtspflege,

1976, S. 42 f.16 Vgl. dazu Vargha (Anm. 3), S. 270.17 Vgl. dazu schon Vargha (Anm. 3).

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sen ist demnach zusätzlich die Wirkung der Inquisitionsmaxime aufdie Verteidigerstellung zu berücksichtigen, soweit dieser Maximedaneben noch selbständige Bedeutung zukommt. Zur besserenErkenntnis der Verteidigung im gegenwärtigen Strafverfahrenerscheinen deshalb Überlegungen zur Stellung des Verteidigers imalten Inquisitionsprozeß unverzichtbar.

A Inquisitionsprinzip, Inquisitionsprozeß und VerteidigungDas bloße Wort „Inquisitionsprozeß" hat für uns Heutige eine

derart negative Bedeutung, daß wir es schon gar nicht mehr wagen,diese Bezeichnung auf „unseren11 Prozeß anzuwenden — und nurnoch vom Anklageprozeß reden. Doch dürfen wir das Kind nicht mitdem Bade ausschütten. Auch in unserem derzeitigen Verfahren sinddie Strafverfolgungsorgane verpflichtet, sich selbst über das objektivwahre Geschehen zu instruieren und dies von Amts wegen zu tun,wie auch der gesamte Prozeß von Amts wegen zu betreiben ist18. MitRecht hat Eb. Schmidt in dieser Vereinigung von Instruktions- undOffizialprinzip zur Inquisitionsmaxime das Wesen des Inquisitions-verfahrens erblickt19 — und so zeigt sich zunächst, daß Anklagepro-zeß und Inquisitionsmaxime nicht notwendig unvereinbare Gegen-sätze darstellen20. Darüber hinaus ist mit der Inquisitionsmaxime sei-nerzeit eine erhebliche Verbesserung des Strafverfahrens erreichtworden, so daß dieses Prinzip noch das heutige Verfahren mit Rechtentscheidend bestimmt.

Wenn man also die — unten II behandelten — Nachteile desInquisitionsprozesses vermeiden will, darf man in seinem Reformei-fer nicht so weit gehen, die Vorteile des Inquisitionsprinzips eben-falls aufzugeben.

I. Und diese Vorteile können nicht bestritten werden. Zufällig-keiten und irrationale Beweisführung z.B. durch Gottesurteil wieWssserprobe cmd Zweikatmpf wurden encfgöfifg verfraimt cmcf cffestrafrechtliche Haftung an einen bestimmten strafauslösenden Sach-18 Dies gilt nicht nur für das Gericht (§ 244 Abs. 2 StPO), sondern — schon auf Grund

der alle Staatsgewalt bindenden Verpflichtung auf Recht und Gerechtigkeit, s.dazu unten 3. Teil B I, — ebenso für die Staatsanwaltschaft und die insoweit nurfür die Staatsanwaltschaft tätig werdende ermittelnde Polizei? vgl. dazu Eb.Schmidt, Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, Teil 1,2. Aufl. 1964, Rdn. 363 ff.

19 Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl.1965, S. 86 f.

20 Vgl. dazu auch Zachanae, Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafver-fahrens, 1846, S. 63 ff., 73, der beide Prinzipien im Strafverfahren wirksam sein las-sen will, wenn auch in verschiedenen Stadien.

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verhalt geknüpft, der mit rationalen Erkenntnismitteln durch amtli-che Tätigkeit wahrheitsgemäß festgestellt werden mußte21 — undgleichzeitig damit wurden erste prozessuale Formen geschaffen, dievor allem den unschuldigen Beschuldigten vor willkürlicher odersonst fehlerhafter strafrechtlicher Verfolgung schützen und insoweitebenfalls der Wahrheit und Gerechtigkeit dienen sollten22.

II. Solche Elemente stehen nach meiner Überzeugung auchjedem Strafverfahren der Jetztzeit wohl an und sind deshalb auchmit Recht Bestandteile des derzeitigen Strafverfahrens23. Allein —schon damals geschah, was auch heute vor allem in der politischenAuseinandersetzung zu schweren Nachteilen führt: Geblendet vonder Überzeugung, das richtige Ziel zu kennen, wird der Weg dazu sorücksichtslos konsequent beschritten, daß blanke Inhumanität dieFolge ist und der falsche \Veg zum richtigen Ziel dieses selbst per-vertiert.

a) Beginnen wir mit der augenfälligsten Perversion: DasGeständnis wurde als objektiv wahres Ermittlungsergebnis mißver-standen und mußte gleichsam zwangsläufig auch um den Preis derFolter erzielt werden24 — die anfänglich eingeführten schützendenFormen für den Beschuldigten wurden so recht bald fast zur Bedeu-tungslosigkeit abgeschliffen25. Dabei hätte vor solchem Mißverständ-nis schon der altisraelitische Strafprozeß bewahren können: Dortwar bekannt, daß Geständnisse gerade bei todeswürdigen Verbre-chen der Todessehnsucht eines Menschen entspringen können, dersich nicht selbst töten will — und deshalb wurde dort einemGeständnis nur geglaubt, soweit sein Inhalt von mindestens zweiZeugen bestätigt wurde. Daß folgerichtig die Folter unbekannt war,braucht eigentlich nicht mehr erwähnt zu werden26.

Wird aber die Wahrheit mit dem Geständnis gleichgesetzt undalso verwechselt, so stellt sich ein weiterer Irrtum nahezu zwangs-läufig ein: der Irrglaube, der Mensch könne die objektive Wahrheitauch stets erkennen. Dann aber muß die doch unteilbare Wahrheitso intensiv wie nur möglich durch ein vertrauenswürdiges Organgesucht werden: Schützende prozessuale Formen und die Beteili-

21 Eb. Schmidt (Anm. 19), S. 86 f., 89 f.22 Eb. Schmidt (Anm. 19), S. 124., 133 f.23 § 244 Abs. 2 StPO in Verbindung mit den „schützenden Formen" z. B. der StPO, ins-

besondere den Beweisverboten.24 Vgl. Zachanae (Anm. 20), S. 45 ff.25 Eb. Schmidt (Anm. 19), S. 90 f., 203,207 f.; Zachanae (Anm. 20), S. 93.26 Vargha(Aum.3),S. 11.

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gung anderer Organe an der Wahrheitsfindung können hier nur alsüberflüssig und sogar störend empfunden werden. Folglich wurdedie gesamte Strafverfolgung vom Auftauchen des ersten Verdachtsan bis hin zur Aburteilung im wesentlichen bei einem Organ kon-zentriert: dem Inquisitionsgericht. Und dieses Gericht war das ein-zige Subjekt der Wahrheitsfindung — dem Beschuldigten konntenicht mehr als die leidvolle Rolle zugestanden werden, bloßes Mittelzur Wahrheitsfindung zu sein27. Damit war ein weiterer Irrglaubegleichsam vorprogrammiert: Sucht ein vertrauenswürdiges Organungehindert nach der ihm ja zugänglichen Wahrheit, so bedarf derUnschuldige keines besonderen Schutzes: mit der Wahrheit wirdsich die Unschuld schon herausstellen! Und damit ist im Grundekein Platz mehr für den Verteidiger: Er kann nur noch als Behinde-rung der wahrheitssuchenden Tätigkeit des Gerichts verstandenwerden28. Völlig konsequent haben deshalb die österreichische Cri-minalgerichtsordnung von 1788 und der Kreittmayrsche Codex lurisBavarici Criminalis von 1751 die Beteiligung eines Verteidigers amStrafverfahren ausgeschlossen: Weil schließlich schon der Richternach der Wahrheit und damit auch nach entlastenden Umständensuchen muß, wird im Kreittmayrschen Codex ausdrücklich verord-net, daß der Richter die Stelle des Advokaten selbst von Amts wegenvertreten solle29.

b) Diese aus heutiger Sicht ungeheuerlichen gesetzlichen Rege-lungen schaden deshalb im Ergebnis weniger, weil eine solch radi-kale Regelung in ihrem Aberwitz alsbald deutlich wird: In solchenFällen erzwingt normalerweise die Realität mit einem unübersteig-baren „so geht es nicht" alsbald eine Änderung30. Direkt verheerendfür Verteidigung wie Verteidiger haben sich indessen jene übrigenhalbherzigen Prozeßordnungen auf deutschem Boden ausgewirkt,die zwar ebenfalls von der schädlichen Wirkung des Verteidigers aufdie WshThsitefmaung ausgingen, aber nicht den Mut zum koase-quenten Verteidigerausschluß fanden: Diese gesetzlichen Regelun-gen beeinträchtigten die — zwar grundsätzlich zulässige — Vertei-digertätigkeit so sehr, daß sich das Institut der Verteidigung faktisch

2? Vargha (Anm. 3), S. 271 f Zachanae (Anm. 20), S. 142.28 Vargha (Anm. 3), S. 193 f., vgl. ferner Beulke (Anm. 2), S. 28.29 Armbrüster (Anm. 1), S. 64; Vargha (Anm. 3), S. 193? vgL auch Lüderssen (Anm. 11),

S. 148.30 Vgl. dazu oben 1. Teil A II: das preußische Institut der Assistenzräte, das freilich

nicht nur die Verteidigung, sondern die gesamte anwaltliche Tätigkeit betraf,wurde bereits nach drei Jahren wieder abgeschafft.

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selbst diskriminieren mußte31. Wo immer dem Beschuldigten dasRecht eingeräumt wurde, sich eines Verteidigers zu bedienen, wardieses Recht in doppelter Weise beschränkt Einmal wurde es nichtbei allen Straftaten gewährt, insbesondere nicht bei besondersschwerwiegenden Verbrechen wie z.B. Hochverrat, Hexerei, aberauch nicht bei Raub und gewerbsmäßigem Diebstahl: diese undandere Delikte waren als „delicta excepta" von der Verteidigungdurch einen Verteidiger ausgeschlossen32. Darüber hinaus war dieErmittlung des verfahrensgegenständlichen Sachverhalts geheim;der Verteidiger konnte deshalb erst in das Verfahren eingreifen,wenn die in den Akten niedergelegten Ermittlungsergebnisse alsausschließliche Entscheidungsgrundlage33 zur Urteilsfällung vorge-legt wurden und damit die Entscheidung über den Ausgang des Ver-fahrens inhaltlich längst festgelegt war34. So bestand die Tätigkeitdes Verteidigers — neben einer praktisch bedeutungslosen Erlaub-nis, Anträge auf „Nachinstruktion11 zu stellen35 — im wesentlichendarin, die aus der alleinigen Urteilsgrundlage .Akten" ersichtlichenEntlastungsumstände in einer besonderen Verteidigungsschriftübersichtlich geordnet zu sammeln35. In Wahrheit war der Verteidi-ger damit jeglicher wirksamer prozessualer Wirkungsmöglichkeitenberaubt und mußte deshalb, wollte er erfolgreich sein, zu jedem nurdenkbaren unredlichen Mittel greifen, um seinen Mandanten vorStrafe zu bewahren. Damit wurden die Verteidiger geradezugezwungen, sich vollständig und bedingungslos den Interessen ihrerMandanten an einem Freispruch unterzuordnen und die staatlicheStrafrechtspflege als Gegner zu begreifen, der um jeden Preis zubekämpfen war. Der faktische Ausschluß der Verteidigung vom Pro-zeß der Wahrheitssuche führte geradewegs in jenes Winkeladvoka-tentum, dessen miserable Qualität und Unredlichkeit schließlich dengesamten Anwaltsstand diskreditierte36. Und so ging Preußen einenextrem falschen Weg, als es die Advokatur gänzlich abschaffenwollte: mit den Worten Varghaswar man „in dem Wahne begriffen,daß der schlechte Rechtszustand eine Folge der schlechten Advoca-ten sei", während sich doch in Wahrheit ein miserables Prozeßrechtin einer deshalb miserablen Advokatur offenbarte37.31 Vargha (Anm. 3), S. 194.32 Armbrüster (Anm. l), S.W.33 Quod non est in actis, non est in mundo.34 Henschel, Die Strafverteidigung im Inquisitionsprozeß des 18. und im AnkLagepro-

zeß des 19. Jahrhunderts, Diss. Freiburg 1972, S. 153.35 Vargha (Anm. 3), S. 201 f.36 Vargha (Anm. 3), S. 202 f.37 Vargha (Anm. 3), S. 852.

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III. Die eingangs im 1. Teil erwähnten Zerrbilder des Verteidi-gers erweisen sich damit als eng verbunden mit dem Inquisitions-prinzip selbst. Als Hindernis der von der Instruktionsmaximegeforderten Wahrheitsfindung38 aufgefaßt, wird der Verteidiger vonder Mitwirkung im Strafverfahren z.T. sogar vollständig ausge-schlossen — soweit er zwar noch zugelassen, aber effektiver prozes-sualer Wirkungsmöglichkeiten beraubt war, führte dies zur Stellungeines einseitigen Verfechters der eigenen Interessen wie der desMandanten, die nun rücksichtslos und skrupellos mit allen nur mög-lichen auch unerlaubten Winkelzügen, sogar bewußt der Wahrheitzuwider, verfolgt wurden. Damit zwang das Inquisitionsprinzip dieVerteidiger gleichsam zur Perversion, zur Denaturierung undschließlich dazu, sich selbst abzuschaffen. Und dies wiederum führtezur letzten, ebenfalls Wirklichkeit gewordenen Gefahr: zur völligenLoslösung von den Mandanteninteressen, zur völligen Unterwerfungunter die zur allumfassenden Herrscherin erhobene Inquisitionsma-xime39, damit zur Verpflichtung nur auf die objektive Wahrheit undfaktisch zum Einbau in die Rechtspflege — mit der unausbleiblichenFolge, daß niemand solchen „staatlichen" Anwälten seine Rechtsan-gelegenheiten anvertrauen wollte.

Damit kann das oben ermittelte Zwischenergebnis40 präzisiertwerden: Die Verbindung von Instruktions- und Offizialmaxime zurInquisitionsmaxime bildet den ausschlaggebenden Grund dafür, daßeinseitige Verpflichtungen des Verteidigers entweder nur auf Man-danteninteressen oder nur auf die Ermittlung der Wahrheit letztlichzur Abschaffung der Verteidigung führen.

Ä Inquisitionsprozeß und StaatstheorieWer nun — aus welchen Gründen auch immer — für einseitige

Verpflichtungen des Verteidigers bis hin zur völligen Abhängigkeiteintritt kann der aufgezeigten Konsequenz der Abschaffung derVerteidigung noch dadurch zu entgehen hoffen, daß er die den Inqui-sitionsprozeß kennzeichnende Verbindung von Instruktions- undOffizialmaxime gänzlich oder teilweise aufzugeben verlangt. Damitindessen würde der bereits erwähnte41 Zusammenhang zwischenStrafverfahren und Staatstheorie übersehen.38 Zur Instruktionsmaxime als Wesensmerkmal des Inquisitionsprozesses s. o. A

vorl.39 Also: Instruktionsmaxime in Verbindung mit dem Offizialprinzip, s. o. A vor I.40 I.Teil AIII.41 S. oben 1. Teil B II; s. auch Ostler, Der Anwalt im Rechtsstaat in: Maurach/Rosen-

thal, Der Rechtsanwalt im Ostblock 1958, S. 5,13.

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L Beachtet man diesen Zusammenhang, so stellt sich das alteInquisitionsverfahren als folgerichtige Ausprägung der Staatstheorieseiner Zeit dar, der des Absolutismus. Alle Staatsgewalt ist ungeteiltbeim Herrscher konzentriert, der selbst „legibus absolutus" dengesetzlichen Beschränkungen nicht unterworfen ist — und dieseMachtkonzentration in einer Hand ermöglicht den unbeschränktenund einheitlichen Einsatz staatlicher Macht zum Zwecke des jeweilsvom Herrscher definierten Staatswohls42 — Bürger haben hier nurPlatz als Objekte der Herrschergewalt Der Inquisitionsprozeßerscheint als getreues Spiegelbild solcher Staatslehre: die Strafge-walt ist bei einem Organ konzentriert, das den Beschuldigten fastohne Schranken zum Mittel der Wahrheitserforschung degradiertund objektiviert. Damit aber leuchtet ein: Erst die Überwindung desAbsolutismus läßt eine grundlegende Reform des Inquisitionsprozes-ses zu43. Und bekanntlich gingen ja in der Tat der Neuformung desdeutschen Strafverfahrens um die Mitte des vorigen Jahrhundertsbedeutende staatstheoretische Umwälzungen voraus. Der allzu gro-ßen Gefahr des Machtmißbrauchs sollte durch Teilung der einheitli-chen Staatsgewalt in einander hemmende und kontrollierende Teil-gewalten begegnet werden und der Staat selbst den Gesetzen unter-worfen sein, staatliche Gewalt also nur in strenger Bindung an diegeltenden Gesetze ausgeübt werden. Davon konnte der Strafprozeßnicht unberührt bleiben: Wie die gesamte Staatsgewalt, so bedurfteauch die beim Inquisitionsgericht konzentrierte Strafgewalt der Tei-lung44 in einander hemmende und kontrollierende Teilgewalten, dienun ebenfalls nur in strenger Gesetzesbindung tätig werden durf-ten45. Trotz dieser rechtsstaatlich notwendigen46 Zerschlagung desalten Inquisitionsver/a/Lrens kann dabei die Inquisitionsinaxizaeselbst, verstanden als Verbindung von Instruktions- und Offizialma-xime47, mit ihren Vorteilen der Wahrheitssuche mit rationalenErkenntnismitteln unter Beachtung schützender Formen zugunstendes Beschuldigten4* durchaus erhalten bleiben: die Vereinbarkeitdieser Inquisitionsmaxime mit rechtsstaatlichen Verfahrensanforde-42 So schon Zacbariae (Anm. 20), S. 139 f.; Vargha (Anm. 3), S. 270.43 Ob die Reformer des vorigen Jahrhunderts bei der Neuordnung des Strafverfah-

rensrechts sich von der Erkenntnis dieser Zusammenhänge leiten ließen, ist frei-lich eine andere Frage? vgl. dazu einerseits Zachariae (Anm. 20), S. 139 f., anderer-seits Eb. Schmidt (Anm. 19), S. 330.

44 Vgl. auch v. Stackelberg, AnwBl. 1959, 190,198.* VgL Lüderssen (Anm. 11), S. 150 und Gössel, GA 1980,325,330 ff.« Unten 3. Teil Cv S. o. A vorl.« S.O.AI.

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rangen wird im folgenden ebenso zu zeigen versucht werden wie dieHerleitung dieser Maxime aus dem Rechtsstaatsgedanken.

II. Erweist sich damit die Wirksamkeit der wesentlich rechts-staatlichen Elemente „Gewaltenteilung11 und „Selbstbindung des Staa-tes"49 auf das Strafverfahren, so auch die Wirkung des Rechtsstaats-prinzips insgesamt50 und überdies die bereits oben51 aufgezeigteAbhängigkeit von den Zielen und der Organisation der gesamtenStaatsgewalt und also der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundes-republik Deutschland.

3. Teil: Das Rechtsstaatsprinzip als wesentliche Grundlageder Verteidigung

A Beschränkung der UntersuchungDie Bundesrepublik Deutschland ist ein republikanischer, demo-

kratischer und sozialer Rechtsstaat — dieser in Art 28 Abs. l GG fürdie Länderverfassungen normierte Grundsatz gilt unstreitig für diegesamte staatliche Ordnung52. Das Rechtsstaatsprinzip ist damit eintragender Pfeiler der gesamten staatlichen Ordnung — und deshalbhat man durchaus zu Recht „das Rechtsstaatsprinzip als Organisa-tionsprinzip des Strafprozesses" bezeichnet53.

I. So liegt es dem gestellten Thema entsprechend nahe, alleinden Rechtsstaatsgedanken in seiner Bedeutung für die Verteidigungin Strafsachen zu untersuchen. Dies stößt indessen insoweit aufSchwierigkeiten, weil die gesamte verfassungsmäßige Ordnung dieAusübung der Staatsgewalt auch im Strafverfahren beeinflußt: nachden in Art. 20 und 28 GG niedergelegten Grundsätzen bestimmennicht nur der „bloße" Rechtsstaat, sondern „Republik, Demokratie,sozialer Rechtsstaat und Bundesstaat die verfassungsmäßige Ord-nung des Grundgesetzes"54.

In Anbetracht der Komplexität dieser Begriffe und des Mei-nungsstreits über deren Inhalt und Umfang kann hier nicht einmal49 Vgl. z. B. v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl. 1957, Art 20

Anm. VI 2; s. ferner unten 3. Teil B.50 Vgl. z. B. Zachariae (Anm. 20), S. 68; Bader, Festschrift für Pfenninger, 1956, S. l? Ost-

7er (Anm. 41).51 I.Teil B II.52 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland,

12. Aufl. 1980, S. 76.53 Rissel, Die verfassungsrechtliche Stellung des Rechtsanwalts usw., Diss. Marburg

1980, S. 68.54 Hesse (Anm. 52), S. 52.

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16 : . Karl Heinz Gössel

versucht werden, alle diese Elemente unserer staatlichen Ordnungzudem in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und Durchdringungexakt zu klären und daraus Konsequenzen für den Strafprozeß imallgemeinen und für die Institute der Verteidigung und des Verteidi-gers im besonderen zu ziehen. Dies allerdings erscheint deshalbauch entbehrlich, weil das Rechtsstaatsprinzip insoweit schonebenso ausreichend geklärt wie auch tragfähig genug erscheint, dar-aus Folgerungen für die hier behandelte Stellung des Verteidigersim Strafverfahren ziehen zu können.

a) Dabei können zwei Elemente der verfassungsmäßigen Ord-nung sogar vernachlässigt werden: Zunächst die bundesstaatlicheOrdnung, was keines weiteren Nachweises bedarf, ebenso aber auchder Begriff „Republik11. Wie immer dieser Begriff auch verstandenwerden mag55: in dem für die Ausübung der staatlichen Strafgewaltentscheidenden Teil ist sein wesentlicher Inhalt vom Begriff desdemokratischen und sozialen Rechtsstaats mitumfaßt56.

b) „Demokratie11 allerdings kann, schon nach den gesetzlichenErfahrungen insbesondere des vorigen Jahrhunderts, nicht ohne Ein-fluß auf den Strafprozeß sein, worauf unlängst Lüderssen hingewie-sen hat57. Wenngleich Demokratie und Rechtsstaat bei aller gegen-seitigen Verflochtenheit theoretisch durchaus in Gegensatz geratenkönnen58, so ist doch zu bedenken, daß die Demokratie im Rechts-staat des Grundgesetzes eine bestimmte, trotz aller rechtlichenÄnderungsmöglichkeiten auch statische Ausformung gefunden hat.Das stärkere „bewegende und gestaltende" Moment der Demokratieist damit natürlich nicht etwa ausgeschaltet, wirkt indessen regelmä-ßig nicht unmittelbar auf die staatliche Gewalt und deren Ausübungein, sondern in der Bindung der rechtsstaatlichen Form59: die Konse-quenzen, die sich aus dem Demokratiebegriff für die Ausübung derStaatsgewalt ergeben, sind damit in das Rechtsstaatsprinzip einge-gangen und nur ober dieses wirksam, damit also über die konkrete,in den vorgesehenen Formen veränderbare, rechtliche Ausformung.Ahnliches gilt für den Sozialstaatsgedanken. Einmal stellt dieser dasbisher wohl am wenigsten erforschte Element der staatlichen Ord-

55 Z. B. im „engeren Sinne eines Ausschlusses jeder Regierungsgewalt aus eigenemRecht, im besonderen der monarchischen" oder in der weiteren Bedeutung einerVerpflichtung aller Staatsgewalt auf das gemeine Beste, vgl. Hesse (Anm. 52), S. 50.

56 Hesse (Anm. 52), S. 50.57 (Anm. 11), S. 147.58 Vgl. z. B. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 23. Auü. 1980, S. 77.59 Hesse (Anm. 52), S. 111.

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nung dar60, so daß sich konkrete Auswirkungen auf das Strafverfah-ren erst nach eingehenden Untersuchungen über Wesen, Inhalt undUmfang des Sozialstaatsprinzips bestimmen lassen werden61. Ent-scheidend ist indes, daß der Sozialstaat sich nur innerhalb desRechtsstaats entfalten kann und z. B. niemals dazu führen darf, unterdem Deckmantel staatlicher Fürsorge die Grundrechte oder sonstigerechtsstaatliche Sicherungen auszuhöhlen62, weshalb mit Hesse fest-zustellen ist: Die Erfüllung der sozialstaatlichen Aufgaben „steht imvollen Umfang unter den Geboten des Rechtsstaates"63.

II. Damit erscheint es gerechtfertigt, mit dieser Studie vorersteinmal allein den Auswirkungen des Rechtsstaatsprinzips auf Ver-teidigung und Verteidiger im Strafverfahren nachzugehen: Das dabeizu gewinnende Bild des Verteidigers im rechtsstaatlichen Strafver-fahren wird sich unter den Gesichtspunkten der Demokratie und desSozialstaats gewiß ergänzen lassen, nicht aber in seinen Wesenszü-gen umwandeln.

B. Allgemeine Bemerkungen zum RechtsstaatsprinzipNatürlich ist auch das Rechtsstaatsprinzip alles andere als ein-

deutig definiert. Gewisse Grundelemente und Wesenszüge sindindessen allgemein anerkannt — und sie reichen bereits aus, dieRechtsstellung des Verteidigers im rechtsstaatlichen Strafverfahrenzu umreißen.

Zunächst bedeutet Rechtsstaat „Form der Begrenzung staatli-cher Macht*164 einmal durch das Gewaltenteilungsprinzip65, zum ande-ren durch den „Primat des Rechts", also insbesondere die Selbstbin-

60 Treffend Merten, Verfassungsstaat und Sozialstaat, in: Bitburger Gespräche, Jahr-buch 1970/80, S. 165: „Die Sozialstaatlichkeit ist auch heute noch verfassungsrecht-lich weitgehend terra incognita".

& Der Mangel sofcfter Vorarfjeif zeigt sidi deutlich in einem kürzlich vorgefegtenGesetzentwurf, in dem behauptet wird, „der sozialstaatliche Anspruch" ziele „inerster Linie auf das „Kostenproblem" (Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidi-gung, Gesetzentwurf mit Begründung, 1979, S. 25), obwohl die Verfasser „dieHauptprobleme der Strafverteidigung im Schnittpunkt von Rechtsstaatlichkeitund Sozialstaatlichkeit" erblicken — ohne allerdings insbesondere die Bedeutungdes Sozialstaatsgedankens und dessen „Schnittpunkt" mit dem Rechtsstaatsprinzipauch nur in etwa anzugeben, a.a.O.

62 Merten (Anm. 60), S. 166 f.? vgl. ferner Ingo Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren,1980, S. 43.

63 Hesse (Anm. 52), S. 87.64 //esse (Anm. 52), S. 78.65 Hesse (Anm. 52), S. 79; Maunz (Anm. 58), S. 74

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düng des Staates an die Rechtsordnung66, womit Vorhersehbarkeitund Meßbarkeit staatlichen Handelns wie dessen Kontrolle durchunabhängige Gerichte und damit auch Rechtssicherheit vorausge-setzt werden67. Darüber hinaus aber beinhaltet das Rechtsstaatsprin-zip auch materiale Grundelemente68, hier insbesondere die in denGrundrechten getroffenen Wertentscheidungen69 und ganz allge-mein die Pflicht zur Erhaltung und Verwirklichung der Gerechtig-keit — treffend wird deshalb vom Rechtsstaat als Gesetzesstaat undzugleich Gerechtigkeitsstaat gesprochen70.

I. Daß jedenfalls in Deutschland „Rechtsstaat" nicht mit „Geset-zesstaat11 gleichgesetzt wird, findet seine einleuchtende Erklärung inden schrecklichen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus: diemenschenverachtende Ungerechtigkeit nicht weniger Gesetze jenerZeit, die formal einwandfrei zustande gekommen waren, zwingt zurAnerkennung der materiellen Gerechtigkeit als eines Maßstabs fürdie Gesetzgebung wie für jedes staatliche Handeln.

Damit wird die gleichsam umgekehrte Gefahr einer Aushöhlungder Gesetze und damit der gesetzlichen Selbstbindung durch einbeliebiges Verständnis von „materieller Gerechtigkeit", etwa imSinne des „gesunden Volksempfindens11 oder der „sozialistischenGesetzlichkeit", keineswegs verkannt71. Diese Gefahr indessenerscheint im Rechtsstaat der Gegenwart als gebannt. Einmal ist derMaßstab der materiellen Gerechtigkeit den Wertentscheidungen desGrundgesetzes zu entnehmen und insoweit objektiviert; zum ande-ren darf wegen der grundsätzlichen Vermutung der Verfassungsmä-ßigkeit der Gesetze72 kein Gesetz als „material ungerecht" etwa nichtvollzogen oder sonst nicht angewendet werden: zur Entscheidungüber einen etwaigen Widerstreit zwischen formellem Gesetz undmaterialer Gerechtigkeit sind allein die Verfassungsgerichte, vor-nehmlich also das BVerfG, berufen, die bei ihren Entscheidungenneuen Gerechtigkeitsvorstellungen im Lichte auch gewandeltenVerfassungsverständnisses Raum geben und so die materielleGerechtigkeit innerhalb des Systems der formellen Gesetze weiter-entwickeln können. Schon wegen dieses verfassungsgerichtlichen

66 Hesse (Anm. 52), S. 79 f.6? Mmflz(Anm.58),S.75.68 Hesse (Anm. 52), S. 79.69 Hesse (Anm. 52), S. 82 ff.70 Herzog, in: Maunz/Düng, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 20 Rdn. 58,59.71 Zu dieser Gefahr vgl. Ingo Müller (Anm. 62), S. 19 ff.72 Herzog, in: Maunz/Düng, Art 20 Rdn. 63.

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Monopols73 erscheint es selbstverständlich, daß abweichendeGerechtigkeitsvorstellungen sowohl jedweder staatlicher Stellen wieauch von Privaten oder irgendwelcher „gesellschaftlich relevanter"Gruppen vor einer Anerkennung im formellen Gesetz oder in derVerfassungsrechtsprechung bei jeder Art von Rechtsanwendungaußer Betracht zu bleiben haben. Von den vielen denkbarenGerechtigkeitsbildern ist damit das des Grundgesetzes nach demVerständnis des demokratisch eingesetzten Verfassungshüters, derVerfassungsgerichtsbarkeit, entscheidend und verbindlich — abwei-chende Gerechtigkeitsbilder können nur auf den von der Verfassungvorgesehenen Wegen, also z. B. dem der Gesetzesänderung, durchge-setzt werden. Die Befürchtung, die Orientierung der strafendenStaatsgewalt „an Gerechtigkeitserwägungen11 auch im Prozeßrechtführe zu unerträglicher Rechtsunsicherheit74, erscheint damit alsgegenstandslos.

Ist so alles staatliche Handeln an Gesetz und Gerechtigkeit imsoeben dargelegten Sinne gebunden, so auch die Ausübung derStrafgewalt im Strafverfahren. Und damit ist es nicht mehr erstaun-lich, wenn dieser in Art. 20 Abs. 3 GG positivierte Verfassungssatz in§ 244 Abs. 2 StPO eine konkrete Ausprägung gefunden hat: Dasurteilende Gericht hat selbst die Wahrheit zu erforschen, weilanders ein gerechtes Urteil nicht möglich erscheint. Überraschendeszeigt sich damit: Die Inquisitionsmaxime ist nicht bloß mit rechts-staatlichen Anforderungen vereinbar, sie läßt sich direkt aus demRechtsstaatsprinzip ableiten, wenn auch natürlich nicht etwa als ein-zig denkbares rechtsstaatliches Prinzip der Entscheidungsfindung imStrafprozeß.

II. Von einigen Stimmen werden allerdings Wahrheit undGerechtigkeit als Ziele des Strafverfahrens entweder gar nicht mehrerwähnt, wie dies zum Beispiel im Gesetzentwurf des ArbeitskreisesStrafprozeßreform geschehen ist75, oder aber ausdrucklich oder kon-kludent verneint.

a) Soweit diese Ziele z. B. von einem marxistischen Ansatz ausdeshalb geleugnet werden, weil die Rechtsordnung nicht im Diensteder Gerechtigkeit stehe, sondern — natürlich ungerechtes — Instru-

73 Vorkonstitutionelles Recht kann insoweit unberücksichtigt bleiben.74 Ingo Müller (Anm. 62), S. 44f wieder anders Lüderssen (Anm. 11), S. 159: „nur Wahr-

heit und Gerechtigkeit im höchst subjektiven Sinne des Beschuldigten" kann ent-scheidend sein.

75 Siehe Anm. 61.

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ment von Herrschenden zur Ausübung ihrer Herrschaft überBeherrschte sei, erscheint mir eine Diskussion nicht angebracht

b) Allerdings wird auch, vornehmlich auf Grund soziologischerForschungen, vorgebracht, das Verfahren diene bloß dem Zweck, dieAusübung staatlicher Strafgewalt, insbesondere gegenüber demBeschuldigten, entweder zu legitimieren76 oder aber dazu, auch vomBeschuldigten in einem herrschaftsfreien Diskurs anerkannt zu wer-den77. Damit aber wird lediglich ein Reflex der Wahrheitssucheerfaßt: daß ein dem Ziel der Gerechtigkeit verpflichteter Strafprozeßdie Ausübung staatlicher Gewalt vorzüglich legitimieren und auchvom Beschuldigten anerkannt werden kann, kann ja nicht ernsthaftbestritten werden. Nur: wer in der Legitimation oder der Anerken-nung durch den Beschuldigten das einzige Ziel des Verfahrenserblickt, übersieht das Wesentliche: die Sinnorientiertheit staatli-chen Handelns78. Mit Recht hat Zippelius hierzu festgestellt: „Diebloße Macht verliert ihre Dürftigkeit nicht schon dadurch, daß siesich in einem geordneten Verfahren entfaltet"79 — Gleiches gilt fürdie Anerkennung durch jeden Verfahrensbeteiligten.

c) Freilich: daß die objektive Wahrheit aus prinzipiellen Grün-den vom Menschen gar nicht erkannt werden kann, kann schwerlichgeleugnet werden — aber deshalb ist ja nicht nur in der Rechtspre-chung längst anerkannt, daß Ziel des Verfahrens nur die Ermittlungderjenigen Wahrheit ist, die menschlicher Erkenntnis zugänglich ist,also die relativ-objektive Wahrheit — und auch diese nur, soweit sieden gesetzlichen Regeln zufolge ermittelt werden darf: Dem Rechts-staatsprinzip entfließt mit der Wahrheitsermittlungspflicht zugleichderen Begrenzung80.

d) Diese prinzipielle Unfähigkeit des Menschen zur vollständi-gen Erkenntnis der Wahrheit führt zu einer weiteren Schwierigkeit.Jenen Blinden aus der Fabel ähnlich, die ein Exemplar der ihnenunbekannten Spezies „Elefant" an jeweils verschiedenen Körpertei-len tastend zu erfahren suchen und —- also — zu je verschiedenenBildern des Objekts „Elefant" gelangen, so bilden sich regelmäßigauch Opfer, Zeugen, ermittelnde Polizeibeamte, anklagender Staats-anwalt, Angeklagte samt ihren Verteidigern und schließlich auch dieaburteilenden Richter je verschiedene Vorstellungen über den wahr-76 Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl. 1978.77 Vgl. Rottleuthner, Kritische Justiz 1971, S. 60 ff.78 Treffend Beulke (Anm. 2), S. 68.79 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 6. Aufl. 1978, S. 311.80 Vgl. z. B. BGHSt 14,365.

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heitsgemäßen Ablauf des Geschehens: Verletzung eines Menschen.Den regelmäßigen Widerstreit dieser je verschiedenen Wahrheits-bilder hat die StPO indes bereits entschieden. Grundlage des Urteilsist die freie, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpfte Überzeu-gung des Tatrichters (§§ 261, 264 Abs. l StPO) vom objektiv wahrenGeschehensablauf (§ 244 Abs. 2 StPO). Schon mit der Instruktionsma-xime hat sich das Gesetz damit auf eines der regelmäßig divergieren-den Wahrheitsbilder festgelegt: dasjenige des Richters81. Von demsoeben erwähnten Widerstreit oder gar einem Kampf der verschie-denen Wahrheitsbilder kann deshalb im Strafprozeß nicht eigentlichdie Rede sein. So kommt es gerade nicht darauf an, ob und daß sichdas Wahrheitsbild z. B. des Angeklagten gegenüber dem des Staats-anwalts oder eines Belastungszeugen durchsetzt — vielmehr hat sichder Richter in rechtlich erlaubter Weise — also nicht willkürlich undunter strenger Wahrung z.B. aller den Angeklagten schützenderFormen82 — ein Bild des verhandlungsgegenständlichen Geschehenszu machen, das der Wahrheit so nahe wie nur irgend möglichkommt.

Entsprechendes gilt für richterliche Entscheidungen außerhalbder Tatsachenfeststellungen, etwa bei der Strafzumessung: Hier gehtes unmittelbar um eine gerechte Entscheidung, für die ebenfallsallein die — nur rechtlich erlaubt gebildete — Überzeugung desRichters über die in concreto materiell gerechte Entscheidungbedeutsam ist.

III. Werden damit aber nicht erneut die Gefahren des altenInquisitionsprozesses beschworen? Führt nicht die vom Inquisitions-prinzip geforderte Erforschung von Wahrheit und Gerechtigkeitgeradezu notwendig zu einem ebenso Vorurteils- wie irrtumsbeein-flußten fehlerhaften richterlichen Bild von Wahrheit und Gerechtig-keit?

Im folgenden wird zu zeigen versucht, wie durch die rechtsstaat-lichen Grundsätze der Gewaltenteilung und der Selbstbindung derStaatsgewalt an Gesetz und Recht diese Gefahr gebannt werden undalso die Inquisitions/nax/zne in einem rechtsstaatlich organisiertenStrafverfahren durchaus ihren Platz haben kann, ohne damit in dieNacht des Inquisitionsprozesses zurückzufallen. Damit ist diewesentliche Frage gestellt, wie denn die Wahrheitsermittlung im

81 Vgl. v. Stackelberg (Anm.44), S. 190 L·, ferner Lüderssen (Anm. 11), S. 158 f. undDahs, Handbuch des Verteidigers, 4. Aufl. 1977, Rn. 6.

82 v. Stackelberg (Amu. U), S. 192.

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Strafprozeß in concrete nach rechtsstaatlichen Grundsätzen zu ord-nen sei. Eine besonders klare Antwort darauf hat schon vor mehr als100 Jahren Vargha gegeben: „Zwei gleich wichtige Ziele sind es,deren Erreichung jedes rationale Strafverfahren anzustreben hat. Essoll einerseits dem Staate die Möglichkeit der Realisirung seinerStrafgewalt sichern, andererseits aber den Bürgern die nothwendi-gen Bürgschaften gegen Übergriffe bieten, die mit der Ausübung derstaatlichen Strafgewalt verbunden sein können"83.

C. Gewaltenteilung und Selbstbindung der StaatsgewaltBeginnen wir mit den „Bürgschaften gegen Übergriffe" der staat-

lichen Strafgewalt bei der Suche nach der relativ-objektiven Wahr-heit. Hier sind vornehmlich zwei Erscheinungsformen des Rechts-staatsprinzips zu nennen: einmal das GewaltenteiJungsprinzip, zumanderen die Gewährung der bürgerlichen Grundrechte und die Bin-dung des Staates daran wie an die Gesamtheit der Rechtsordnung.Beide Institute sollen nach der hier vertretenen Auffassung dazudienen, eine insbesondere willkürfreie und der objektiven Wahrheitund Gerechtigkeit möglichst nahekommende richterliche Überzeu-gung zu gewährleisten.

I. John Locke und Montesquieu haben wohl am eindrucksvoll-sten darauf hingewiesen: Jegliche Macht steht vornehmlich im Dien-ste ihrer eigenen Erhaltung und Vermehrung, und dieses übermäch-tige Zweckmäßigkeitsstreben führt geradezu notwendig zum Macht-mißbrauch. Ein wirksames Mittel dagegen wird heute, jedenfalls inden Rechtsstaaten der westlichen Demokratien, allgemein imGewaltenteilungsprinzip gesehen: „Damit die Macht nicht miß-braucht werden kann", lehrt Montesquieu, „ist es nötig, durch dieAnordnung der Dinge zu bewirken, daß die Macht die Machtbremse"84.

a) Wie die Staatsgewalt in die drei Teilgewalten der Legislative,Exekutive und Judikative aufgeteilt wurde, so folgerichtig auch dieeinheitliche Strafgewalt des Inquisitionsprozesses85: Das Strafverfah-ren wurde in die drei Stadien der Ermittlung, Anklageerhebung undgerichtlichen Aburteilung zerschlagen, und zudem wurde mit derAnklagebehörde Staatsanwaltschaft ein Organ geschaffen, das der

83 Vargha (Anm. 3), S. 269.»* Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (De l'esprit des lois), XL Buch, 4. Kapitel, bei

Reclaml976,S.211.85 S. o. 2. Teil B I, II, vgl. auch Anm. 43.

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Kontrolle sowohl der ermittelnden Polizei wie des aburteilendenGerichts dienen sollte, das seinerseits Staatsanwaltschaft wie Polizeikontrolliert86. Die verschiedenen Stadien des Strafverfahrens stehendamit unter der Herrschaft verschiedener Organe, die sich gegensei-tig kontrollieren sollen — am Maßstab von Recht und Gerechtigkeitnatürlich, der die gesamte Staatsgewalt und also auch die Strafge-walt bindet.

b) Das Gewaltenteilungsprinzip hat allerdings — dieses Ergeb-nis sei vorweggenommen — keine direkten Auswirkungen auf dieStellung des Verteidigers im Strafverfahren. Dieses Prinzip beziehtsich auf die Staatsgewalt und ihre Ausübung — und damit im Straf-verfahren naturgemäß nur auf diejenigen staatlichen Stellen undOrgane, die von hoher Hand zum Zwecke der Strafverfolgung ermit-telnd, anklagend, urteilend und strafvollstreckend in die Rechte derBürger eingreifen. Solche Berechtigung aber kommt dem Strafvertei-diger auch dann nicht zu, wenn man ihm zubilligt, öffentliche Inter-essen wahrzunehmen87: an der Ausübung der Staatsgewalt zumZwecke der Strafverfolgung ist er nicht beteiligt. Darüber hinaus ent-hält das Gewaltenteilungsprinzip einen Gedanken, der sich späterzur Kennzeichnung der Verteidigerstellung als fruchtbar erweisenwird: es ist der Gedanke der Begrenzung und der Kontrolle derStaatsgewalt zur Verhinderung ihrer mißbräuchlichen Ausübung,insbesondere bei der Bildung der richterlichen Überzeugung überdie materielle Wahrheit und Gerechtigkeit im Einzelfall88.

II. Und dieser Gedanke zeigt sich auch in der nun zu behandeln-den Selbstbindung des Staates durch die generelle Unterwerfungseiner selbst unter Gesetz und Gerechtigkeit, insbesondere durchdie Gewährung besonderer persönlicher Grundrechte, die der Staatnicht antasten darf89.

a) Der moderne Gesetzgeber weiß, wie sehr die richterlicheÜberzeugung von der objektiven Wahrheit durch Irrtum und Vorur-teil beeinträchtigt werden kann. Deshalb hat er die strafverfolgendeGewalt bei ihrer Wahrheitssuche an bestimmte Wege und Formengebunden — und insoweit die Wahrheitsermittlung beschränkt. Mit

86 Daß die Staatsanwaltschaft zudem selbst ermittelt, ist freilich nach meiner Über-zeugung mit diesem System nicht ganz vereinbar,· siehe dazu meine gesonderteAbhandlung in GA 1980, S. 325.

8? Etwa an der Effektivität der Verteidigung oder der der Strafrechtspflege, vgl.Beulke (Anm. 2), S. 81 ff., 88 ff.

8 Vgl. dazu unten 4. Teil C I.89 Vgl. Maunz (Anm. 58), S. 74.

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Recht hat deshalb der Bundesgerichtshof festgestellt: „Es ist... keinGrundsatz der Strafprozeßordnung, daß die Wahrheit um jeden Preiserforscht werden müßte"90.

Aber nicht nur die Wahrheitsfindung soll durch gesetzlicheRegeln vor Irrtum und Vorurteil geschützt werden — Gleiches giltfür die richterliche Überzeugung über die konkrete Einzelfallge-rechtigkeit auch außerhalb der wahrheitsgemäßen Sachverhaltsfest-stellung. So soll auch den als wahren Schuldigen Erkannten nur diegerechte Strafe treffen — gerecht sowohl nach Art als auch nachMaß. Auch insoweit ist also von einer Selbstbindung des Staates nurauf eine dem Gesetz entsprechende gerechte Strafe auszugehen.

b) Diese gesetzliche Selbstbindung wäre indessen faktisch wir-kungslos, könnte der einzelne, der der Strafgewalt unterworfen ist,nicht selbst die Einhaltung dieser Selbst.bindung überprüfen undaktiv darauf dringen, daß der strafende Staat gerade ihm gegenüberdiese Selbstbindung auch einhält. Die Gewährung dieser Möglich-keiten wird zudem — und entscheidend — geradezu zwingend voneinem Recht jedes Rechtsgenossen gefordert, dem nicht nur in derdeutschen Verfassung grundlegende Bedeutung zuerkannt wird:dem Recht auf die Wahrung der jedem Menschen eigenen Würde.Nach der zu Recht allgemein anerkannten Auffassung des Bundes-verfassungsgerichts gebietet dieses Grundrecht aller staatlichenGewalt, über die Rechte des einzelnen „nicht kurzerhand von Obrig-keits wegen" zu verfügen, es verpflichtet vielmehr dazu, daß der ein-zelne „nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, son-dern ... vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wortkommen" soll, „um Einfluß auf das Verfahren und sein Ergebnis neh-men zu können"91. Damit ist der Beschuldigte vom bloßen Mittel derWahrheitsfindung im alten Inquisitionsprozeß im modernen deut-schen Strafverfahren zum Subjekt des Verfahrens gleichsam humani-siert worden, das auf die Bildung der richterlichen Überzeugungüber das objektiv wahre verhandlungsgegenständliche Geschehenund die in diesem Einzelfall gerechte Entscheidung aktiv Einflußnehmen kann.

1. Schon die Verpflichtung zur Wahrung der Personwürde for-dert damit die Beachtung des ebenfalls als Grundrecht ausgestatte-ten Rechts auf rechtliches Gehör92. Um aber sowohl rechtliches

90 BGHSt 14,358,365.91 St Rspr. des BVerfG, so z. B. BVerfGE 39,156,168.92 BVerfGE 7,275,279.

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Gehör als auch sonst generell auf das Verfahren als Subjekt gestal-tend Einfluß nehmen zu können, muß das Strafverfahren entspre-chend „fair" ausgestaltet sein — und deshalb muß der Beschuldigteauch die Möglichkeit haben, dem von einem fachkundigen Juristenerhobenen Vorwurf mit der gleichen Waffe durch Beistand einesebenfalls fachkundigen Juristen begegnen zu können93.

Die allgemeine rechtsstaatliche Verpflichtung zur Wahrung derPersonwürde in ihrer rechtsstaatlichen Ausformung als Pflicht zurGewährung des rechtlichen Gehörs94 und allgemein eines fairen Ver-fahrens nach den Grundsätzen der Waffengleichheit erweist sich so— auch dies sei hier vorweggenommen — als Grundlage des Rechtsdes Beschuldigten auf die Beiziehung eines Verteidigers. Ob diesesRecht mit einer im Schrifttum vertretenen Auffassung schon Ausflußdes Grundrechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs95 ist, kann hierindes dahinstehen: mit dem Bundesverfassungsgericht ist auch dasrechtliche Gehör als Ausformung der Verpflichtung zur Wahrungder Personwürde anzusehen, das damit dem Rechtsstaatsprinzip ent-fließt96.

2. Bloße Selbstbindung der Staatsgewalt an gesetzliche Regelnund insbesondere die Grundrechte und ebenso die „nackte" Verteidi-gung wären indessen ein stumpfes Schwert, könnten diese mate-rielle Selbstbindung und die materielle Verteidigung nicht auchförmlich durchgesetzt werden. Als „Krönung des Rechtsstaats" wirddeshalb die von Art. 19 Abs. 4 GG eingeräumte Befugnis, jedeRechtsbeeinträchtigung gerichtlich überprüfen zu lassen, mit Rechtauch als „formelles Hauptgrundrecht" bezeichnet97. Die Selbstbin-dung der Staatsgewalt an die Rechtsordnung schließt damit einRecht des einzelnen „auf Überprüfung aller behördlichen Maßnah-men" ein98. Dies gilt natürlich auch im Strafverfahren — und deshalbist die volle Subjektstellung des Beschuldigten erst dann gewährlei-stet, wenn dieser die Einhaltung der ihm gewährten Grundrechte im

93 BVerfGE38,105,11.94 Vgl. Dahs jun., Das rechtliche Gehör im Strafprozeß, 1965, S. l ff.95 Z. B. Dahs (Anm. 94), S. 4, 52 f.; vgl. ferner Beulke (Anm. 2), S. 86 und Welp, ZStW 90

(1978), S. 101.96 Die entgegengesetzte Auffassung von Ingo Müller (Anm. 62), S. 52, die Veranke-

rung der Verteidigung im Grundrecht der Menschenwürde erschwere „die Gel-tendmachung des konkreten Rechts" beruht auf der — hier abgelehnten — Auffas-sung vom Strafverfahren als Parteiverfahren, s. dazu unten 4 Teil B I.

97 Hendrichs, in: v. Manch, Grundgesetz, Bd. 1,1974, Art 19 Rdn. 40? Maunz (Anm. 58),S. 156.

98 Hendrichs (Anm. 97), Art. 19 Rdn. 41.

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Strafverfahren auch überprüfen lassen kann — und so verlangt dieAchtung der Menschenwürde des Beschuldigten die Beiziehungeines Verteidigers auch und gerade zu dem Zweck, die Akte staatli-cher Strafgewalt kontrollieren und überprüfen lassen zu können.

D. Die Funktionstüchtigkeit der StrafrechtspflegeDer den Rechtsstaat kennzeichnende Primat des Rechts, insbe-

sondere in der Form der Selbstbindung des Staates, ist indessennicht bloß auf die Wahrung der Personwürde und insbesondere aufdie Wahrung der Rechte des Beschuldigten im Strafverfahrenbeschränkt. Der Primat des Rechts zwingt die Staatsgewalt anderer-seits auch zur Anwendung und Vollziehung der Gesetze im Rahmender Gesamtrechtsordnung gegenüber jedermann: Allein schon dieNichtanwendung bestehender Strafgesetze im NS-Staat auf schwer-wiegendste Straftaten im Rahmen der sog. „Euthanasie" oder gegenMitbürger jüdischen Glaubens sollte die Unabweisbarkeit dieserAusprägung des Rechtsstaatsprinzips aufzeigen.

Diese Forderung des Rechtsstaatsprinzips hat das Bundesverfas-sungsgericht, soweit ersichtlich, erstmals mit seinem Beschluß vom15.12.1965 ausdrücklich anerkannt, in dem es die Wahrung desRechts des einzelnen auf persönliche Freiheit und die Bedürfnisse„einer wirksamen Strafverfolgung" als zwei für den Rechtsstaatgleich wichtige Prinzipien bezeichnete". Diese in der Folgezeit zur„ständigen" verfestigte Rechtsprechung100 hat das Bundesverfassungs-gericht später zur rechtsstaatlich geforderten Anerkennung einerfunktionstüchtigen Rechtspflege weiter präzisiert: „Soweit derGrundsatz der Rechtsstaatlichkeit die Idee der Gerechtigkeit alswesentlichen Bestandteil enthält..., verlangt er auch die Aufrechter-haltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege, ohne die derGerechtigkeit nicht zum Durchbruch verhelfen werden kann. Wie-derholt hat das Bundesverfassungsgericht die unabweisbarenBedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung anerkannt..., dasöffentliche Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitser-mittlung im Strafprozeß betont (BVerfGE 32, 373 [381]) und die Auf-klärung schwerer Straftaten als wesentlichen Auftrag eines rechts-staatlichen Gemeinwesens bezeichnet (BVerfGE 29, 183 [194])"101.

99 BVerfGE 19,342,347.!00 Z. B. BVerfGE 20,45,49; 144, 147; 34,238,239.101 BVerfGE 33,367,383.

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Auch diese Auffassung kann nunmehr als ständige Rechtsprechungbezeichnet werden102.

Dem ist indessen vereinzelt entgegengehalten worden, damitwürden „die traditionellen rechtsstaatlichen Grundsätze des Straf-verfahrens" bis zur Perversion relativiert, und es werde übersehen,daß das Rechtsstaatsprinzip einem „Schutzwall" vergleichbar sei, „andem sich die Strafverfolgungsinteressen brechen"103. Diese Kritikgeht indessen fehl. Sie verkennt zunächst, daß beide vom Rechts-staatsprinzip geforderten Institute im Konfliktsfall miteinanderabzuwägen sind. Darüber hinaus übersieht sie die oben — unter B —erwähnte notwendige Verpflichtung der Strafgewalt auf die Gerech-tigkeit und verkennt zudem, daß nicht bloß die strafverfolgendeStaatsgewalt nur innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung tätigwerden darf, sondern auch die Abwehr solcher Gewalt durch dieVerteidigung. Die rechtsstaatlich verbürgten Freiheitsrechte berech-tigen nicht dazu, der Strafgewalt unter Bruch der geltenden Gesetzeund Rechtsordnung entgegenzutreten — wer Gesetze oder dieRechtsordnung als ungerecht empfindet, kann seine persönlichenGerechtigkeitsvorstellungen oder die seiner Gruppe nur im Rahmender verfassungsmäßigen Ordnung durchzusetzen trachten — gelingtdies nicht, wird er die als ungerecht empfundenen Rechtsregelngleichwohl als demokratisch zustandegekommene Mehrheitsent-scheidungen hinzunehmen haben.

4. Teil: Folgerungen für die Stellung des VerteidigersDie Selbstbindung des Staates an Gesetz und Gerechtigkeit ins-

besondere zur Wahrung der Grundrechte des Beschuldigten, dieEffektivität der Strafverfolgung und schließlich die als Verbindungvon Instruktions- und Offizialgrundsatz verstandene Inquisitionsma-xime in einem dem Gewaltenteilungsprinzip entsprechenden Straf-verfahren sind nach den bisherigen Überlegungen wesentlicheGrundsätze zur Bestimmung der Stellung des Verteidigers im rechts-staatlichen Strafverfahren.

A. Rechtliche GrundlageWie oben104 bereits ausgeführt wurde, können weder das Ziel

der Wahrheitsfindung noch der Gewaltenteilungsgrundsatz dem

102 Vgl. z. B. BVerfGE 34,238, 249,38,105,118; 39,156, 163; 41,246,250.103 Grünwäld,JZ 1976,773; diesem zustimmend Ingo Müller (Anm. 62), S. 28 f.104 S. o. 3. Teil C I b; s. auch sogleich unten B.

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Verteidiger seinen Platz im Strafverfahren sichern: diesen gewinnter erst durch den dahingehenden Willen des Beschuldigten, der aufdiese Weise seine Stellung als Subjekt des Strafverfahrens verwirkli-chen kann und damit seine Personwürde wahrt. Und also scheidetauch das Grundrecht auf freie Berufswahl nach Art. 12 GG als ent-scheidende Grundlage der Verteidigung in einem konkreten Straf-verfahren aus: erst die Wahl des Beschuldigten zum Verteidigerermöglicht diesem die Ausübung seines Berufes, nun allerdingsunter dem Schutz des Art. 12 GG.

B. Verteidigung und VerfahrenszieleDie vom Rechtsstaatsprinzip105 wie von der StPO (§ 244 Abs. 2,

§ 264 StPO) verlangte Wahrheitsfindung als Grundlage eines gerech-ten Urteils wird durch das Inquisitionsprinzip verwirklicht: DieStrafverfolgungsorgane, im gerichtlichen Hauptverfahren also dasGericht, haben sich selbst durch eigene Tätigkeit eine der objektivenWahrheit möglichst nahekommende Überzeugung vom verfahrens-gegenständlichen Sachverhalt zu verschaffen und auch im übrigenauf der Grundlage ihrer Überzeugung von einer gerechten Entschei-dung im Einzelfall zu entscheiden105. Diese Verpflichtung legenRechtsstaatsprinzip — bzgl. Wahrheit und Gerechtigkeit — undInquisitionsmaxime aber nur der strafverfolgenden Staatsgewalt auf.So sehr auch dem Verteidiger gerade des unschuldigen Angeklagtenan einem wahren und gerechten Urteil gelegen sein mag: weil erselbst keinerlei staatliche Strafgewalt ausübt106, kann er auch nichtauf die Grundsätze und Ziele der staatlichen Machtausübung imStrafverfahren verpflichtet sein, insbesondere nicht dem Verfahrens-ziel einer der objektiven Wahrheit und Gerechtigkeit möglichstnahekommenden richterlichen Überzeugung107.

I. Können so nur der Staatsgewalt und also nur Staatsanwalts-chaft und Gericht die Verpflichtung zur relativ-objektiven Wahr-heitsermittlung — im oben dargelegten Sinne108 — auferlegt werden,kann der Verteidiger nicht Teilnehmer an einem dialektischen Pro-zeß der Wahrheitsfindung sein, wie dies nicht selten behauptetwird109.105 S. o. 3. Teil B I.106 S. o. 3. Teil Gib.107 Vgl. Dahs, NJW 1975,1385,1388,108 3. Teil B II c d; zur Polizei s. Anm. 18.109 So z. B. Welp, ZStW 90 (1978), S. 804, 815,· Beulke (Anm. 2), S. 51? wie hier aber auch

Lüderssen (Anm. 11), S. 153 f., 158 f.

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Diese Auffassung erscheint überdies deshalb unzutreffend, weilsie es nahelegt, den Strafprozeß als Parteiprozeß zu begreifen, wiedies in einer frühen Darstellung der These von der Wahrheitsfin-dung als dialektischem Prozeß deutlich wird: Vargha beschreibt denBeschuldigten und den Anklagevertreter ausdrücklich als Prozeß-parteien des Strafverfahrens110 und leitet daraus konsequent ab, imWiderspruch dieser Parteien werde die Wahrheit gefunden111. MitRecht wird aber der Strafprozeß gerade nicht als Parteiprozeß ange-sehen: dies würde widerstreitende Beteiligte voraussetzen, die sichzur Verfolgung ihrer jeweiligen Interessen gleichberechtigt gegen-überstehen und den Verfahrensablauf nach Maßgabe der jeweils fürzweckmäßig erachteten Interessen bestimmen und auch durch Ver-gleich beenden könnten. Daß der deutsche Strafprozeß aber sogerade nicht gekennzeichnet werden kann, kann wohl als allge-meine Meinung angesehen werden — und zwar mit Recht: DerStaatsanwalt steht im Dienste der Gerechtigkeit, und mit derGerechtigkeit kann man keinen Handel treiben.

II. Der Verteidiger kann auch nicht als verpflichtet angesehenwerden, im Prozeß aktiv auf die Resozialisierung des Täters oder aufdie Verwirklichung sonstiger Strafziele hinzuwirken. Wer solchesverlangen würde, verpflichtete den Verteidiger zu Unrecht auf diestaatlichen Sanktionsziele112, untergrübe das notwendige Vertrauenzwischen Verteidiger und Beschuldigtem und beeinträchtigte damitdie Funktion des Verteidigers, die Menschenwürde des Beschuldig-ten wahren zu helfen. Durch eine Verpflichtung auf diese staatlichenZiele würde damit jene Gefahr heraufbeschworen, die in den „Assi-stenzräten11 Wirklichkeit geworden war113 — und schon aus diesemGrunde sollte dem Verteidiger auch nicht die Wahrung öffentlicherFunktionen zugeschrieben werden114.

III. Ebensowenig kann der Verteidiger auf das vom Rechts-staatsprinzip geforderte staatliche Ziel der Aufrechterhaltung einerfunktionstüchtigen Rechtspflege festgelegt werden. Das berechtigtihn allerdings nicht etwa dazu, eine Gesetz und Gerechtigkeit ent-110 (Anm. 3), S. 270 f.in (Anm. 3), S. 279.112 S. o. vor 1,3. Teil Gib .113 S. o. 1. Teil AII.114 So auch Lüderssen (Anm. 11), S. 164; vgl. auch Welp (Anm. 95), S. 117 ff. Soweit

Beulke (Anm. 2), S. 81 ff., 88 ff., 259, solche Funktionen bejaht, dürfte die inhaltlicheDifferenz zur hier vertretenen Auffassung deshalb gering sein, weil die nachBeulke öffentlichen Funktionen sich weitgehend mit den hier dargelegten Rech-ten und Pflichten der Verteidigung decken.

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sprechende Wahrheitsermittlung und Urteilsfindung zu verhindern:Wer sich so verhält, handelt rechtsstaatswidrig und greift damit dieGrundlagen an, die ihm zu seinem Platz im Strafverfahren verhelfen— und führt jene geschichtliche Situation wieder herbei, die seiner-zeit zur Einführung der Assistenzräte führte115. So hat unlängst Has-semer mit Recht festgestellt: „Strafverteidigung ist ein Recht inner-halb des Verfahrens, kein Recht gegen das Verfahren"116.

C. Allgemeine Aufgabe der VerteidigungDamit aber bleibt zu fragen, was denn nun eigentlich die Aufga-

ben des Verteidigers sind. Geht man mit der hier vertretenen Auffas-sung davon aus, daß die vom Rechtsstaatsprinzip geforderte Wah-rung der Personwürde des Beschuldigten die Grundlage für die Ver-teidigung darstellt, so kann mit Dahs der Tätigkeitsbereich des Ver-teidigers im „Spannungsverhältnis" zwischen „der Aufgabe des Staa-tes zur wirksamen Verbrechensbekämpfung und dem legitimenSchutzanspruch des Individuums gegenüber der staatlichen Macht-entfaltung11 angesiedelt werden117.

I. Kraft der Verankerung seiner Tätigkeit im Grundrecht desBeschuldigten auf die Wahrung seiner Personwürde ist dem Vertei-diger eine umfassende Kontrollfunktion gegenüber der strafverfol-genden Staatsgewalt zugewiesen. Kürzer: Die Kontrolle aller Maß-nahmen der Strafverfolgung gegen den Beschuldigten durch dessenVerteidiger ist Inhalt der Subjektstellung des Beschuldigten. Unddiese Kontrolle ist ebenfalls an dem allgemeinen Maßstab staatli-chen Handelns auszurichten, dem von Recht und Gerechtigkeit.Damit besteht die Aufgabe des Verteidigers darin, auf die Wahrungvon Gesetz und Gerechtigkeit durch die Strafverfolgungsbehördenausschließlich gegenüber dem Beschuldigten hinzuwirken118 — unddeshalb ist er auch nicht verpflichtet, ihm bekannte Belastungsbe-weise zur Überführung des Beschuldigten nur im Interesse derErmittlung der objektiven Wahrheit zu benennen. Die Herleitungder Verteidigung aus dem Grundrecht auf Wahrung der Menschen-würde des Beschuldigten verpflichtet den Verteidiger zu einer ein-seitigen Tätigkeit nur zugunsten des Beschuldigten: Er hat darauf zuachten, daß die strafverfolgende Gewalt nicht gesetzeswidrig oder

us S. o. 2. Teil A II.lie ZRP 1980,326,331.11? Dahs (Anm. 81), Rdn. 2 a. E., 3.118 Knapp, JuS 1974,20,23.

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ungerecht gegen seinen Mandanten vorgeht — ein gesetzwidrigesoder ungerechtes Vorgehen zugunsten des Beschuldigten durch dieStaatsgewalt zu verhindern, ist nicht die Aufgabe des Verteidigers.

Diese Kontrollfunktion wird im wesentlichen in drei Bereichenwirksam:

a) In Übereinstimmung mit Dahs wird der Verteidiger damit als„Gesetzeswächter11 angesehen, dazu „berufen, über die Gesetzlichkeitdes Verfahrens zu wachen"119. Ihm obliegt es, kontrollierend sicher-zustellen, daß die Wahrheitsermittlung durch Gericht und Staatsan-waltschaft den gesetzlichen Regeln entsprechend und gerecht be-trieben wird, soweit dies dem Beschuldigten zugute kommt™. Unddamit richtet sich das Verteidigerhandeln auch nicht, wie gelegent-lich vorgebracht wird, „gegen dasjenige Prozeßorgan, bei dem dieAufklärungsinteressen institutionalisiert sind"121, sondern gegen jeg-liche Äußerung der strafverfolgenden Staatsgewalt gegenüber demBeschuldigten, die auf Gesetzmäßigkeit und Gerechtigkeit kontrol-liert wird. Dies bedeutet insbesondere, gesetzwidriges oder unge-rechtes Vorgehen mit Rechtsmitteln oder sonstigen Rechtsbehelfenz. B. nach § 238 Abs. 2 StPO angreifen zu können, aber auch, bisheranerkannte Wahrheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen und davonetwa abweichende des Beschuldigten der verfassungsgerichtlichenKontrolle zu unterwerfen, z. B. durch die Anregung eines Normen-kontrollverfahrens gem. Art 100 GG.

b) Darüber hinaus bezieht sich die Kontrolle auf die richterlicheÜberzeugungsbildung hinsichtlich des „wahren" verhandlungsgegen-ständlichen Geschehens in den rechtlich erlaubten Grenzen, undzwar z. B. durch eigene Ermittlungen und Beweisanträge wie durchdie Beanstandung unzulässiger Beweismittel, aber auch durchErschütterung des Beweiswertes etwa unglaubwürdiger Zeugen.Generell obliegt dem Verteidiger hier die Aufgabe, auf die richterli-che Beweiswürdigung durch nachdrückliche Geltendmachung allerfür den Beschuldigten sprechender Umstände hinzuwirken. Gleichesgilt hinsichtlich der richterlichen Überzeugung über eine gerechteEntscheidung im Einzelfall.

c) Besondere Bedeutsamkeit gewinnt die Verteidigung imBereich der Entscheidungen über die Rechtsfolgen. Im „täterbezoge-

»9 £>a/2s(Anm.81),Rdn.3.120 Äisse7(Anm.53),S.92.121 We7p,ZStW90(1978),S.804,806.

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nen, spezialpräventiv orientierten Straf recht" der Jetztzeit122 wird derVerteidiger „stärker an das soziale Umfeld des Mandanten" herange-führt, und ihm werden Möglichkeiten eröffnet, „auf dieses Umfeldeinzuwirken, um auf diese Weise Voraussetzungen für richterlicheEntscheidungen zu schaffen"123. Gerade diese Möglichkeiten etwa imRahmen der Persönlichkeitserforschung gem. § 46 Abs. 2 und §§ 47,48 StGB und bei etwaigen Eingriffen in die persönliche Lebensfüh-rung, etwa durch die Bewährungshilfe oder die Erteilung von Aufla-gen und Weisungen anläßlich der Strafaussetzung zur Bewährung,bringen die Gefahr mit sich, den Verteidiger, ähnlich den preußi-schen Assistenzräten124, zum Erfüllungsgehilfen der strafendenStaatsgewalt einzusetzen. Auch in diesem Bereich aber ist der Ver-teidiger zur wachsam kritischen Kontrolle aufgerufen, damit derStaat bei der Verfolgung seiner (auch spezialpräventiven) Strafzielenicht etwa rechtsstaatliche Grandsätze und insbesondere das posi-tive Gesetz z. B. aus spezialpräventiven oder sozialstaatlichenGrundsätzen außer acht läßt — getreu jenem Motto, das von Exner,allerdings noch ohne die Erfahrungen mit den braunen und rotenDiktaturen unseres Jahrhunderts, im Jahre 1914 formuliert wurde:„Das Individuum aber braucht nicht geschützt (zu) werden gegenMaßregeln, die. selbst seinem Schütze dienen"125. Gerade hier aberdarf der Beschuldigte entgegen Exner nicht schutzlos gelassen wer-den126: er wird sich „verraten" glauben, wird der Verteidiger127 auf dieZiele der strafenden Staatsgewalt festgelegt. Der Verteidiger ist zurWahrung der Personwürde des Beschuldigten berufen und nichtdazu, staatliche Ziele wie etwa die wahre Sachverhaltsermittlungoder die Resozialisierung des Beschuldigten zu verwirklichen; Ent-sprechendes gilt für die Möglichkeiten der Verfahrenseinstellung.

d) Ein Letztes bleibt zu bemerken: Solche Kontrolle kann nurausgeübt werden, ist der Verteidiger von der Macht unabhängig,deren Akte er kontrolliert und überprüfen läßt. Das erscheint evi-dent und wird auch von niemandem bestritten: das Grundrecht zurWahrung der Personwürde und damit zur Subjektstellung desBeschuldigten im Strafverfahren verlangt daher den von der Staats-

122 Rieß, in: 5. Strafverteidigertag, hrsg. von der Hamburger Arbeitsgemeinschaft fürStraf Verteidiger e. V. u. a., 1981, S. 15,19.

^3 Müller, NJW 1981,1801,1806.i2* S.o. I.Teil AII.125 Exner, Die Theorie der Sicherungsmittel, 1914, S. 118.i» Ebenso Rieß(Anm. 122).127 S. o. II.

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gewalt unabhängigen Verteidiger: Nur dieser genießt das notwen-dige Vertrauen, das Grundlage jeder Verteidigung ist.

II. Die Kontrolle der strafverfolgenden Staatsgewalt also ist dieAufgabe des Verteidigers — nicht aber: die Verhinderung der Straf-verfolgung oder auch nur die Verhinderung einer Gesetz undGerechtigkeit entsprechenden Wahrheitsermittlung im Strafverfah-ren. Insbesondere kann dem Verteidiger nicht zugestanden werden,gegen geltende Gesetze zu verstoßen, um solche Gerechtigkeitsvor-stellungen des Beschuldigten im Strafverfahren aktiv durchzusetzen,die dem Grundgesetz nach dem Verständnis des demokratisch ein-gesetzten Verfassungshüters „Verfassungsgerichtsbarkeit"128 nichtentsprechen (z. B. über die Diktatur des Proletariats, den Rassenstaat)— persönliche Überzeugungen befreien grundsätzlich, soweit nichtgesetzlich anders geregelt, niemanden von der Beachtung derRechtsordnung. Wem die Aufgabe zukommt, Gesetz und Gerechtig-keit zum Siege zu verhelfen, wenn auch nur einseitig zugunsten desBeschuldigten, der entzieht sich selbst die Grundlage seiner Tätig-keit, wenn er ein gesetzmäßiges und gerechtes Verfahren, ein gesetz-mäßiges und gerechtes Urteil verhindert und die Rechtsordnungdurch Rechtsbruch aktiv bekämpft.

a) Das aber bedeutet, daß der Verteidiger auch von seinem Man-danten — abgesehen von der Wahl zum Verteidiger — unabhängigsein muß. Wer vom Verteidiger verlangt, wie dies neuerdings verein-zelt geschieht, er müsse sich bedingungslos mit seinem Mandantensolidarisieren und um jeden Preis nur dessen Interessen verfolgen,führt die Verteidigung in jene aus dem Inquisitionsprozeß bekanntefatale Lage, die schließlich zum Extrem der Abschaffung der freienAdvokatur führte. Dieses Verlangen nämlich würde den Verteidigerzum bedingungslosen Diener der Interessen des Beschuldigtenmachen und müßte dem Verteidiger z.B. das Recht zugestehen,bewußt „falsche" Entlastungszeugen zu benennen, vor Gericht widerbesseres Wissen die Unwahrheit zu sagen und sogar Beweismittel zuverfälschen und zu unterdrücken. Damit aber würde der Verteidigerjegliche Glaubwürdigkeit verlieren, Wahrer von Recht und Gerech-tigkeit auch nur gegenüber dem Beschuldigten zu sein — und damitmüßten ihm alle Verteidigungsrechte genommen werden, die überdie des Beschuldigten selbst hinausgehen: Akteneinsicht und freierVerkehr mit dem wegen Verdunkelungsgefahr verhafteten Beschul-digten könnten dem Verteidiger im Interesse der Effektivität der

128 S. o. 3. Teil B I, D.

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Strafverfolgung ebenso wenig mehr gestattet werden, wie die Anwe-senheit bei richterlichem Augenschein (§ 168 d StPO) und bei rich-terlicher Zeugenvernehmung unter den Voraussetzungen des § 168 cAbs. 2 StPO. Gerade weil ja das Interesse jedes Beschuldigten regel-mäßig einseitig auf völlige Lösung von dem gegen ihn erhobenenVorwarf auf jede denkbare Weise gerichtet ist, kann dem Beschul-digten kein Akteneinsichtsrecht gewährt werden — wohl aber demVerteidiger, der eine Recht und Gerechtigkeit entsprechende Sach-verhaltsermittlung nicht verhindert.

b) Die derzeitige Situation in Deutschland zeigt die großeGefahr auf, in der Anwälte sich befinden, die einseitig von Mandan-teninteressen abhängig sind. Hier ist vor allem zu bemerken, daß unseine verfehlte Bildungspolitik eine zunehmend größere Zahl schwä-cher qualifizierter Juristen beschert, die beim Staat keine Anstellungfinden und in den Anwaltsberuf drängen — in dem folglich immerweniger Mandanten immer mehr Anwälten gegenüberstehen. Ein-mal ist Existenzbedrohung infolge rückläufigen Einkommens dieFolge, während andererseits der Druck der Mandanten auf ihreAnwälte stärker wird129: Es mehren sich die Fälle, in denen Beschul-digte mehr oder weniger versteckt die Anwendung unlauterer Mit-tel verlangen, um Strafverfahren z.B. aus dem Bereich der Wirt-schafts- oder Umweltschutzkriminalität abzuwenden. Auch dierechtsstaatswidrigen Praktiken einiger weniger Verteidiger in Ver-fahren gegen terroristische Gewaltverbrecher, in denen sich diebetreffenden Anwälte mit den Beschuldigten solidarisierten, sindhier zu erwähnen.

D. Konkrete EinzelbefugnisseDie Ausformung dieser Grundsätze zu konkreten Rechten und

Pflichten des Verteidigers kann hier nicht mehr geschehen. Ledig-lich zu zwei Punkten möchte ich noch Stellung nehmen: zur Beteili-gung des Verteidigers im Vorverfahren130 und zur Pflichtverteidi-gung.

I. Nach meiner Überzeugung ist die vom Rechtsstaatsprinzipverlangte Subjektstellung des Beschuldigten erst dann verwirklicht,wenn jeder Beschuldigte einen Anwalt seines Vertrauens zum Ver-teidiger erhält.

129 Vgl. Greißinger, AnwBl. 1981,44,47.130 S. z. B. Richter, NJW 1981,1820.

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Das bedeutet zunächst, daß grundsätzlich jeder Beschuldigteden Beistand eines Verteidigers haben muß. Der Beschuldigte sollauf einen Verteidiger nur verzichten dürfen, wenn er nachprüfbarseine Rechte selbst ausreichend wahrnehmen kann — damit einStrafverfahren nicht verhindert werden kann, muß die Möglichkeitbestehen, dem Beschuldigten im hier vorrangigen Interesse einerfunktionstüchtigen Rechtspflege auch gegen seinen Willen einenVerteidiger zu bestellen — die diffamierende neuere Bezeichnung„Zwangsverteidiger11 in diesem Zusammenhang erscheint kaum hilf-reich. Die sich dabei ergebenden finanziellen Probleme könnten z. B.durch eine allgemeine Rechtsschutzpflichtversicherung, aber auchdurch das Institut der Prozeßkostenhilfe gemeistert werden.

II. Im übrigen halte ich die Verbesserung der Stellung des Ver-teidigers im Vorverfahren für unerläßlich. Hier möchte ich nur einenPunkt herausgreifen. Nach dem klaren Wortlaut des § 137 Abs. lStPO kann sich der Beschuldigte in jeder Lage des Verfahrens desBeistands eines Verteidigers bedienen. Angesichts dieser klarenRechtslage ist es unverständlich, wenn immer noch die Auffassungvertreten wird, bei der polizeilichen Vernehmung habe der Beschul-digte kein Recht auf den Beistand eines Verteidigers. Das dafür vor-gebrachte Argument, dem Beschuldigten stehe es ja frei, sich vor derPolizei nicht zu äußern, kann nicht überzeugen: Durch sein Schwei-gen kann es zum Verlust von Entlastungsbeweisen kommen, undüberdies wird, jedenfalls in schwerwiegenden Fällen, das Schweigenfaktisch zur vorläufigen Festnahme führen. Wenn man glaubt, ausGründen der Effektivität der Strafverfolgung auf die polizeilicheVernehmung ohne einen Verteidiger nicht verzichten zu können,sollte man dies offen zugeben und nach eingehender Prüfung derArgumente auch offen gesetzlich regeln.

5. Teil: Zusammenfassende ThesenI. Die Inquisitionsmaxime läßt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip

ableiten (3. Teil B I); diese und die rechtsstaatlichen Erfordernisseder Gewaltenteilung, der Selbstbindung der Staatsgewalt und derEffektivität der Strafverfolgung legen die Stellung des Verteidigersim rechtsstaatlichen Strafverfahren wesentlich fest (4. Teil).

II. Das Grundrecht des Beschuldigten auf die Wahrung seinerPersonwürde macht die Mitwirkung eines Verteidigers im Strafver-fahren notwendig (4. Teil A).

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a) Der Verteidiger steht nicht im Dienste der strafenden Staats-gewalt und kann deshalb z. B. weder dem Ziel eines materiell gerech-ten Urteils (zuungunsten seines Mandanten!) noch irgendwelchenSanktionszwecken verpflichtet sein (4. Teil B).

b) Zur Erhaltung der rechtsstaatlich geforderten Funktionstüch-tigkeit der Rechtspflege muß sich der Verteidiger im Rahmen derverfassungsmäßigen, insbesondere gesetzmäßigen Ordnung halten(3. Teil D).

III. Einseitige Verpflichtungen des Verteidigers, etwa auf dieInteressen des Beschuldigten oder auf die des Staates, führen, wiegeschichtliche Erfahrungen lehren, zur Ineffektivität und schließlichzur Abschaffung der Verteidigung (2. Teil).

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