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Die Stellung des Verletzten im Strafprozeß

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Die Stellung des Verletzten im Strafprozeß Von Professor Dr. Heike Jung, Saarbrücken Seit Jahren proklamiert die Viktimologie den Wandel in der Kriminalpolitik 1 . Mit großem reformerischen Elan hat sie sich der Stellung des Verletzten im Strafrecht und im Strafverfahren be- mächtigt 2 . Das Thema „Stellung des Verletzten im Strafprozeß" verdankt seine Aktualität jedoch nicht nur viktimologischen Denk- anstößen. Ihre Impulse konnten eine derartige Bewegung vielmehr nur auslösen, weil sie auf eine Strafrechtswissenschaft getroffen sind, die bereit ist, die Rolle des Strafrechts im Verhältnis von Täter, Verletztem und Rechtsgemeinschaft von Grund auf zu über- denken 3 . Sicher hat zu dieser Entwicklung beigetragen, daß die Suche nach neuen Wegen zur Bekämpfung der Bagatellkriminalität die Grenze zwischen Zivil- und Strafrecht und damit auch zwischen Schadensausgleich und Strafe wieder in Bewegung gebracht hat 4 . 1 Einen Überblick über das gesamte Spektrum viktimologischer Forschung geben Schneider, Viktimologie, 1975, sowie der Sammelband von Kirch- hoff/Sessar (Hrsg.), Das Verbrechensopfer, 1979. 2 Speziell mit der Bedeutung der Viktimologie für die Strafrechtspflege befassen sich etwa die Beiträge von Schüler-Springorum, Über Victi- mologie, Festschrift für Honig, 1970, S. 201; Zipf, Die Bedeutung der Viktimologie für die Strafrechtspflege, MschrKrim 1970, 1; Sessar, Rolle und Behandlung des Opfers im Strafverfahren Gegenwärtiger Stand und Überlegungen zur Reform, BewHi 1980, 328; Wulf, Opferausgleich und Strafverfahren, DRiZ 1980, 205. 3 Nichts signalisiert dies deutlicher als die wiederaufflammende Diskus- sion um den Zusammenhang von Straf zwecken und Wiedergutmachung; vgl. dazu Seelmann, Strafzwecke und Wiedergutmachung, Zeitschrift für Evangelische Ethik 1981, 44. 4 Vgl. aus der Gesamtdiskussion nur den Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl (AE-GLD), Recht und Staat, 1974; Arzt, Zur Bekämp- fung der Vermögensdelikte mit zivilrechtlichen Mitteln — Der La- dendiebstahl als Beispiel, JuS 1974, 693; Hirsch, Gegenwart und Zu- kunft des Privatklageverfahrens, Festschrift für Richard Lange, 1976, S. 815; Rössner, Bagatelldiebstahl und Verbrechenskontrolle, Beiträge zur empirischen Kriminologie, Bd. 2, 1976; Naucke, Empfiehlt es sich, in bestimmten Bereichen der kleinen Eigentums- und Vermögenskrimi- Bereitgestellt von | New York University Elmer Holm Angemeldet | 10.248.254.158 Heruntergeladen am | 16.09.14 02:0
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Die Stellung des Verletzten im StrafprozeßVon Professor Dr. Heike Jung, Saarbrücken

Seit Jahren proklamiert die Viktimologie den Wandel in derKriminalpolitik1. Mit großem reformerischen Elan hat sie sich derStellung des Verletzten im Strafrecht und im Strafverfahren be-mächtigt2. Das Thema „Stellung des Verletzten im Strafprozeß"verdankt seine Aktualität jedoch nicht nur viktimologischen Denk-anstößen. Ihre Impulse konnten eine derartige Bewegung vielmehrnur auslösen, weil sie auf eine Strafrechtswissenschaft getroffensind, die bereit ist, die Rolle des Strafrechts im Verhältnis vonTäter, Verletztem und Rechtsgemeinschaft von Grund auf zu über-denken3.

Sicher hat zu dieser Entwicklung beigetragen, daß die Suchenach neuen Wegen zur Bekämpfung der Bagatellkriminalität dieGrenze zwischen Zivil- und Strafrecht und damit auch zwischenSchadensausgleich und Strafe wieder in Bewegung gebracht hat4.

1 Einen Überblick über das gesamte Spektrum viktimologischer Forschunggeben Schneider, Viktimologie, 1975, sowie der Sammelband von Kirch-hoff/Sessar (Hrsg.), Das Verbrechensopfer, 1979.

2 Speziell mit der Bedeutung der Viktimologie für die Strafrechtspflegebefassen sich etwa die Beiträge von Schüler-Springorum, Über Victi-mologie, Festschrift für Honig, 1970, S. 201; Zipf, Die Bedeutung derViktimologie für die Strafrechtspflege, MschrKrim 1970, 1; Sessar, Rolleund Behandlung des Opfers im Strafverfahren — Gegenwärtiger Standund Überlegungen zur Reform, BewHi 1980, 328; Wulf, Opferausgleichund Strafverfahren, DRiZ 1980, 205.

3 Nichts signalisiert dies deutlicher als die wiederaufflammende Diskus-sion um den Zusammenhang von Straf zwecken und Wiedergutmachung;vgl. dazu Seelmann, Strafzwecke und Wiedergutmachung, Zeitschrift fürEvangelische Ethik 1981, 44.

4 Vgl. aus der Gesamtdiskussion nur den Entwurf eines Gesetzes gegenLadendiebstahl (AE-GLD), Recht und Staat, 1974; Arzt, Zur Bekämp-fung der Vermögensdelikte mit zivilrechtlichen Mitteln — Der La-dendiebstahl als Beispiel, JuS 1974, 693; Hirsch, Gegenwart und Zu-kunft des Privatklageverfahrens, Festschrift für Richard Lange, 1976,S. 815; Rössner, Bagatelldiebstahl und Verbrechenskontrolle, Beiträgezur empirischen Kriminologie, Bd. 2, 1976; Naucke, Empfiehlt es sich, inbestimmten Bereichen der kleinen Eigentums- und Vermögenskrimi-

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Zudem haben Verfahrenssoziologie und Rechtstatsachenforschung,aber auch die forensische Psychiatrie und Psychologie durch dieviktimologische Blende dem Bild des Verletzten, seinen Bedürfnis-sen und seinen Nöten im Prozeß präzisere Konturen verliehen.Schließlich hat uns die Strafrechtsvergleichung immer wieder aus-ländische Verfahrensmodelle der Beteiligung des Verletzten alsVergleichsobjekt vor Augen geführt5.

Die Strafprozeßlehre hat den Verletzten bislang eher alsRandfigur behandelt6. Diese Lücke kann nicht von heute auf mor-gen geschlossen werden. Vorrangig sollte es darum gehen, die Be-deutung der Stellung des Verletzten als einer Art Indikator für dieBefindlichkeit des Systems der Straf rechtspflege und der Rolle desStraf rechts in Erinnerung zu rufen. So oder so darf in diesem Rah-men keine buchhalterische Bilanz der dogmatischen Streitfragenerwartet v/erden, sondern nur eine Stellungnahme zu den Struk-turproblemen, die die Beteiligung des Verletzten am Verfahrenmit sich bringt.

I. Der Begriff des VerletztenDer Begriff des Verletzten scheint vergleichsweise klar um-

rissen. Der allgemeine Sprachgebrauch verweist uns in die Rich-tung „Betroffensein". Trotzdem ist die Suche nach einem einheit-

nalität, insbesondere des Ladendiebstahls, die strafrechtlichen Sanktionendurch andere, zum Beispiel zivilrechtliche Sanktionen abzulösen, ge-gebenenfalls durch welche?, Verh. d. 51. DJT, Bd. l (Gutachten), 1976,S. D 7; Ebert, Fortschritt oder Rückschritt?, ZStW 90 (1978), S. 377;Kaiser, Möglichkeiten der Bekämpfung von Bagatellkriminalität in derBundesrepublik Deutschland, ZStW 90 (1978), S. 877; Kunz, Die Ein-stellung wegen Geringfügigkeit durch die Staatsanwaltschaft (§§ 153Abs. l, 153 a Abs. l StPO), Forum Rechtswissenschaft, Bd. 5, 1980.

5 Vgl. die neueren auslandsrechtlich orientierten Beiträge von Grebing,Die Möglichkeiten der Entschädigung des Opfers einer Straftat im fran-zösischen Recht, Revue Internationale de Droit Penal 1973, 338; Falb,Die Berücksichtigung der Interessen des Verletzten im materiellen undformellen Strafrecht, insbesondere im bernischen Strafverfahren, Fest-schrift für Schultz, SchwZStr 94 (1977), S. 327; G. Schmidt, Die Stellungdes Verletzten im schwedischen Strafprozeß, Festschrift für Bockelmann,1979, S. 847; S. RöhllK. Röhl, Alternativen zur Justiz, DRiZ 1979, 33.

6 Zu Recht stellt Rieß, Prolegomena zu einer Gesamtreform des Strafver-fahrensrechts, Festschrift für Karl Schäfer, 1980, S. 155, 204, fest: „Beieiner Gesamtreform scheint es geboten, nach einem neuartigen einheit-lichen Konzept der Beteiligung des Verletzten an Strafverfahren zusuchen, für das freilich zur Zeit so gut wie keine Vorarbeiten vorhandensind."

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liehen Rechtsbegriff des Verletzten bislang erfolglos geblieben7.Allgemein geht man davon aus, daß mindestens zwei, nämlich einweiter und ein enger Verletztenbegriff existieren8. Während derVerletztenbegriff in seiner engsten Fassung gewissermaßen dasprozessuale Spiegelbild des Rechtsgutsträgers darstellt, vereint erin seiner weitesten Fassung all jene, deren Interessen durch dieStraftat zumindest mittelbar berührt sind.

Wir müssen diese Komplexität eher noch steigern. Zum einennämlich ist die Vorstellung, daß es den Verletzten gebe, Illusion.Im Alltag des Strafprozesses begegnet uns vielmehr der Verletztemit vielen Gesichtern: Da steht der streitlustige Nachbar neben demOpfer einer Sexualstraftat, neben der Witwe des Getöteten, nebendem bestohlenen Warenhauskonzern und schließlich neben dem be-trogenen Staat. Der Charakter der Straf tat, allgemeiner gesprochen:der unterschiedliche soziale Sachverhalt schlägt auch auf die Ver-fahrensrolle durch. Neben Verletzten, die von einer Straftat er-kennbar persönlich gezeichnet sind, stehen solche, deren Schadenfast wertneutral in Ziffern ausgedrückt wird. Neben Verletzten,die sich vor Gericht nicht auszudrücken vermögen, für die dasVerfahren als alptraumhafte Perpetuierung der Straftat abläuft,tritt uns der versierte Geschäftsführer einer Firma entgegen. DerStaat selbst ist im Verfahren übermächtig repräsentiert. SeinSchicksal braucht uns denn auch im folgenden nicht zu interessie-ren.

Weiter können wir zu Beginn eines Verfahrens gar nicht im-mer sicher sein, ob wir es mit einem Verletzten zu tun haben. EineKlärung schafft vielmehr erst das Urteil. Erst wenn der Ange-klagte zum Verurteilten wird, verliert die Verletztenrolle den Zugdes Vorläufigen, der ihr bis dahin anhaftete.

Schließlich führt unser Thema über den Verletzten hinaus.Denn der Verletzte tritt uns — sieht man einmal vom Privat-

7 Dies gilt auch für den zuletzt unternommenen Versuch von Strüwer,Ein Beitrag zur Bestimmung des strafprozessualen Begriffs Verletzter,Hamburger Diss., 1976. Strüwer kommt nämlich auch nicht ohne Binnen-differenzierungen aus (vgl. a. a. O., S. 184 f.).

8 Einzelheiten zur Diskussion um den Begriff des Verletzten bei Strüwer(Anm. 7); Henkel, Strafverfahrensrecht, 2. Aufl. 1968, S. 184; Zip/, Straf-prozeßrecht, 2. Aufl. 1976, S. 65; speziell zum Verletztenbegriff imKlageerzwingungsverfahren Nothmann, GA 1932, 71; Frisch, Der Begriffdes „Verletzten" im Klageerzwingungsverfahren, JZ 1974, 7.

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klageverfahren ab — regelmäßig in der Zeugenrolle entgegen9.Als solcher ist er Objekt des Verfahrens, dessen sich Gericht, Ver-teidigung und Staatsanwaltschaft bei der Erforschung der Wahr-heit bemächtigen. Hier stehen wir vor der Frage, wie weit manden Zeugen, zumal den Verletzten als Zeugen, vor den Begleit-schäden und Unannehmlichkeiten eines Strafverfahrens, in das erverstrickt ist, schützen kann und darf.

Soviel können wir jedenfalls festhalten: Spricht man vomVerletzten, so geht es im Kern immer darum, daß jemand von derStraftat in seinem persönlichen Rechtskreis betroffen ist. Sollendiesem Betroffenen prozessuale Handlungsbefugnisse eingeräumtwerden, durch die er den Ausgang des Verfahrens beeinflussenkann, so drängt sich eine weitgehende Identifizierung mit demTräger des Rechtsgutes auf. Hier dominiert der materiell-rechtlicheBezug. Nur er rechtfertigt eine derartige Heraushebung. Steht hin-gegen die Perspektive des Schutzes vor verfahrensbedingten Be-einträchtigungen im Vordergrund, wird der Begriff durch seineAuswirkungen konturiert, gewissermaßen viktimologisch „unter-füttert". Mit der Rolle des Trägers des verletzten Rechtsgutes kor-reliert demnach die Vorstellung eines wie auch immer auszugestal-tenden „status positivus" des Verletzten, der Verletzte als Opferdes Verfahrens verweist uns in die Richtung von prozessualen Ab-wehrrechten, gerichtlicher Fürsorgepflicht, ja überhaupt der Not-wendigkeit, den Schaden, den die justitielle Maschinerie auslöst,möglichst gering zu halten.

Nicht genug damit, daß mit dem „Verletzten" und dem „Op-fer" das begriffliche Feld doppelt besetzt ist10. Auch die Abgren-zungslinie zwischen dem Verletzten und dem Zeugen ist durch-lässig. Die Extrapolation vom Verletzten auf den Zeugen darffreilich nicht unbedacht erfolgen. Denn der Verletzte erscheint vonvornherein in einer besonderen Zeugenrolle. Er ist am Ausgangdes Verfahrens interessiert. Die Justiz begegnet ihm als demHauptbelastungszeugen mit einer eigenartigen Mischung vonWohlwollen und trainierter Skepsis. Vor allem erfährt die Proble-

• Der Figur des Zeugen wird von der Strafprozeßlehre zu wenig Auf-merksamkeit geschenkt. Ansätze zu einer systematischen Erfassung desSpektrums der Probleme bei Wulf, Multidisziplinäre Aspekte zur Per-son des Zeugen, Forensia 1979/80, Heft Nr. l, 9.

19 Der Begriff des „Opfers" ist zwar stärker viktimologisch geprägt. Eshat sich jedoch eingebürgert, beide Begriffe weitgehend synonym zuverwenden.

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matik des Schutzes des Verletzten als Zeugen ihre besondere Aus-prägung durch die spezifische Wechselbeziehung zwischen Täterund Opfer, die sich im Verfahren fortsetzt. Nicht die allgemeinereFrage des Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Maßnahmen über-haupt steht hier also in Rede11, sondern wir vollziehen nur denbisweilen beschwerlichen Weg des Verletzten im Verfahren nach.

II. Die Stellung des Verletztenim Lichte der Verfahrensgrundsätze

Die Frage nach der Stellung des Verletzten im Prozeß führtuns unvermittelt in das Zentrum der Auseinandersetzung um dieAufgaben des Straf rechts und die Umsetzung strafrechtlicher Ziel-vorstellungen im Prozeß. Die allgemeine Zweckbestimmung desStrafrechts, die Kontrolle sozialschädlichen Verhaltens, verrätnoch nicht viel über die Rolle des Verletzten. Erst beim nächstenSchritt, der Verbindung von Straf recht mit Rechtsgüterschutz, trittder Verletzte mit auf den Plan. Noch immer ungenannt wird erim Rechtsgut objektiviert und damit auch anonymisiert12. Ähnlichergeht es uns, wenn wir uns der Stellung des Verletzten von sei-ten der Strafzwecklehren nähern. Sowohl die Lehre von der ge-rechten Vergeltung als auch die individual- und generalpräventi-ven Ansätze denken den Verletzten als Orientierungspunkt fürstaatliches Strafen mit, zumeist jedoch ohne dessen Rolle zu prä-zisieren.

Diese Unsicherheit kann freilich nicht überraschen; schließlichzieht sich als roter Faden durch die Geschichte der Strafrechts-pflege — und dies nicht nur in unserer Rechtsordnung — das Be-streben, privates Vergeltungsdenken zu überwinden, den Konfliktgewissermaßen zu „verstaatlichen"15. Am Anfang steht die „Ge-burt der Strafe"14 in der Zeit der Landfriedensbewegung, ein Vor-gang, den die Rechtshistoriker mit der heute redundant klingendenFormel von der „Kriminalisierung des Strafrechts" zu umschrei-

11 Dazu Rieß, Neuordnung des Rechtsschutzes gegen strafprozessualeZwangsmaßnahmen, ZRP 1981, 101.

12 Gegen eine derartige Anonymisierung Hellmer, Über die Glaubwürdig-keit des Strafrechts und die Bedeutung des zwischenmenschlichen Ver-hältnisses für die Kriminalitätsbekämpfung, JZ 1981, 153, 157.

13 Ähnlich Strüwer (Anm. 7), S. 79." So der Titel der Arbeit von Achter (1951). Gemeint ist natürlich die

„öffentliche" Strafe.

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ben versuchen15. In einem nächsten Schritt nimmt die PeinlicheGerichtsordnung Karls V. dem Verletzten seine hervorgehobeneStellung im Prozeß16. Mit dem Zeitalter der Aufklärung rückt end-gültig die Legitimation staatlichen Strafens und die Austarierungdes staatlichen Gewaltmonopols gegenüber den Freiheitsrechtendes einzelnen in den Vordergrund. In dieser bipolaren Auseinan-dersetzung droht der Verletzte hinfort mit seinen Sorgen, Ansprü-chen und Ängsten zerrieben zu werden. Der Staat als Garant fürden Schutz elementarer Lebensbedürfnisse, sprich Rechtsgüter,hat den Träger dieser Rechtsgüter — bildlich gesprochen — in diezweite Reihe der Verfahrensbeteiligten abgedrängt.

Dieser „Entmachtung" des Verletzten sind freilich Grenzengesetzt. Ganz abgesehen davon, daß gegenüber dem Staat als dem„Schutzpatron des einzelnen" (Hellmer) eine gehörige PortionSkepsis angebracht ist17, lassen sich die realen Interessen des Ver-letzten durch ihre Projektion auf die Rechtsgemeinschaft nicht völ-lig ausblenden. Dies würde der sozialpsychologischen Binsenweis-heit zuwiderlaufen, wonach soziale Konflikte sich nur unter Be-teiligung aller Betroffenen regeln lassen. Hierauf muß auch dasSystem der Strafrechtspflege als ein System zur Steuerung vonsozialem Verhalten Rücksicht nehmen. Die Reduktion des Kon-flikts auf die Beziehung Staat—Beschuldigter, läßt sich — weilsozialpsychologisch verfehlt — auch sub specie „Grundlagen staat-lichen Strafens" nicht durchhalten.

Diese Einsicht findet ihren Niederschlag vor allem in der Re-naissance des Strafzwecks der Wiedergutmachung. Die Notwendig-keit, die grundsätzliche Position der Wiedergutmachung im Kon-

15 Vgl. etwa Conrad, Rechtsordnung und Friedensidee im Mittelalter undin der beginnenden Neuzeit, in: Christlicher Friede und Weltfriede,Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft, Veröffentlichung derSektion für Rechts- und Staatswissenschaft, N. F., H. 8, 1971, S. 9, 16;Gernhuber, Staat und Landfrieden im deutschen Reich des Mittelalters,La Paix, Recueils de la Societe Jean Bodin, XV, 2, Bruxelles 1961, S. 27,36, Fußn. 3. Allgemein zur Landfriedensbewegung Gernhuber, Die Land-friedensbewegung in Deutschland bis zum Mainzer Reichslandfriedenvon 1235, 1952; Schnellbögl, Die innere Entwicklung der bayerischenLandfrieden des 13. Jahrhunderts, 1932; W adle, Heinrich IV. und diedeutsche Friedensbewegung, in: Fleckenstein (Hrsg.), Investiturstreitund Reichsverfassung, Vorträge und Forschungen, hrsg. vom KonstanzerArbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, Bd. XVII, 1973, S. 141.

16 Dazu Strüwer (Anm. 7), S. 84.17 Vor allem Hellmer (Anm. 12), S. 156, mahnt unter Hinweis auf histori-

sche Erfahrungen zur Zurückhaltung.

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zert der Straf zwecke zu präzisieren, ist nicht erst in unseren Tagenerkannt worden18. Vielmehr gehört diese Fragestellung schon zuden bevorzugten Themen strafrechtlicher Theoriebildung im19. Jahrhundert. In der Vielfalt verästelter Straftheorien behaup-tete damals nämlich die sogen. Wiederherstellungstheorie in unter-schiedlichen Spielarten eine eigenartige Mittellage zwischen abso-luten und relativen Straftheorien19. Sie geht davon aus, daßGrundlage des Straf rechts der das Recht schlechthin beherrschen-de Gedanke des Schadensersatzes sei. Die Wiederaufhebung desmateriellen Schadens sei Sache des Zivilrechts, während dem Straf-recht darum zu tun sein müsse, den durch die Straftat entstande-nen ideellen Schaden zu beseitigen.

Diese Konzeption hat in unsere Tage fortgewirkt. So deutetdie Sühnetheorie — gewissermaßen die ins Positive gewendeteVergeltungstheorie — die strafrechtliche Reaktion als Versuch, denTäter mit dem Opfer und der Gesellschaft wieder zu versöhnen20.Aber auch in den präventiven Strafzwecklehren kommt der Wie-dergutmachungsgedanke neuerdings wieder stärker zur Geltung.So will die Lehre von der sogen. Integrationsprävention die Rechts-gemeinschaft dadurch integrieren, daß sie dem Interesse ihrerMitglieder an einem gerechten Ausgleich Genüge tut21. Nicht zu-letzt läßt sich der Gedanke der Wiedergutmachung nahezu bruch-los in spezialpräventive Ansätze einfügen. Wiedergutmachung er-scheint hier als Weg, um einen „neuen inneren Zustand" beim Tä-ter zu erreichen22.

Rückendeckung findet das Konzept der Wiedergutmachungauch in den kriminalsoziologischen Erkenntnissen und Hypothesenzur Wirkungsweise des Strafrechts. Strafe als Instrument sozialerKontrolle kommt danach eine Ausgleichsfunktion zu. Dies kannnatürlich weder in einem arithmetischen Sinne gemeint sein, nochist damit eine bestimmte Form der Reaktion vorgegeben. Vielmehr

18 Vgl. zum heutigen Diskussionsstand namentlich Seelmann (Anm. 3).13 Gründlich dazu am Beispiel des Strafrechtsdenkers Karl Theodor Welk-

kers die insoweit noch unveröffentlichten Teile der Freiburger Habili-tationsschrift von Müller-Dietz über „Geschichte, Philosophie und Politikim S traf rechtsdenken Karl Theodor Welckers" (1966).

20 Als prononcierte Verfechter des Sühnegedankens seien hier nur Naegeli,Das Böse und das Strafrecht, 1966, S. 35 ff. und Arthur Kau/mann, DasSchuldprinzip, 2. Aufl. 1976, Anh. S. 272, genannt.

21 Dazu Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 24.22 So Hellmer, Identitätsbewußtsein und Wiedergutmachungsgedanke,

JZ 1979, 41, 46.

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heißt dies zunächst nur, daß die Reaktion dazu beitragen muß, dassoziale Gleichgewicht wiederherzustellen. In diesem Rahmen istsie auch dem Verletzten verpflichtet. Freilich verschwimmt dasBild des konkreten Verletzten mit der Schwere des Delikts immermehr. Die Reaktion gerät dann zur „symbolischen Beschwichti-gung" gegenüber allen potentiell Verletzten. Dementsprechendkann die Partizipation des Verletzten um so symbolischer ausfal-len, je gemeinschädlicher sich der Normverstoß darstellt. Wird dieRechtsgemeinschaft von dem Geschehen hingegen weniger be-rührt, muß ihr geradezu daran gelegen sein, den Konflikt zu pri-vatisieren und dem Verletzten stärker die Initiative zu überlassen.

Rechtsfrieden kann zwar nur erreicht werden, wenn alle In-teressen in dem Entscheidungsprozeß repräsentiert sind. Jedochsind Abstufungen der Verfahrens- und Reaktionsformen je nachder sozialen Dimension des Konfliktes zulässig, ja geradezu gebo-ten. Insofern muß der Schlüssel für die sachgerechte Ausgestal-tung der Stellung des Verletzten im Strafprozeß vor allem im Ver-hältnis von Schadensersatz und Strafe gesucht werden. Die Straf-rechtsdogmatik hat sich seit Binding daran gewöhnt23, Strafe undSchadensersatz als wesensverschieden anzusehen, eine Grundein-stellung, die einen konzertierten Einsatz von Strafe und Schadens-ersatz in einem Gesamtsystem sozialer Kontrolle einstweilen ver-hindert hat. Eine derart rigide Trennung des Strafrechts vomZivilrecht läßt sich jedoch nicht durchhalten, wie die nicht endenwollende Diskussion um die Privatstrafe und ihre Wiederbelebungals legalisierte „Fangprämie", die quasi-strafrechtliche Ausübungvon „Betriebsjustiz", aber auch die quasi-zivilrechtliche Erledi-gung der meisten Privatklagedelikte deutlich zeigen. Insofern er-leben wir heute eine Neuauflage in dem historischen Bemühen,das Reaktionsarsenal Schadensersatz, Privatstrafe und öffentlicheStrafe angemessen einzusetzen24. Einmal mehr wird uns bewußt,daß Strafe und Schadensersatz bei aller Verschiedenartigkeit

28 Vgl. vor allem Binding, Die Normen und ihre Übertretungen, 1. Bd.,Normen und Strafgesetze, 3. Aufl. 1916, S. 284—290.

24 Vgl. dazu namentlich Grossjeld, Die Privatstrafe. Ein Beitrag zumSchutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, 1961; J. Schmidt, Scha-densersatz und Strafe. Zur Rechtfertigung des Inhaltes von Schadens-ersatz aus Verschuldenshaftung, 1973; speziell zur geschichtlichen Di-mension der Fragestellung Levy, Privatstrafe und Schadensersatz imklassischen römischen Recht, 1915; Hermann Lange, Schadensersatz undPrivatstrafe in der mittelalterlichen Rechtstheorie, 1955.

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jedenfalls unter dem gemeinsamen Dach „Reaktion auf Unrecht"vereint sind25.

Selbst wenn es gelingen sollte, ein optimal gefächertes Ge-samtkonzept zu entwickeln, wird sich der Verletzte darauf bis-weilen nur widerwillig einlassen. Vergessen wir nicht, daß sich fürihn der Konflikt mit dem Beschuldigten im Verfahren perpetuiert.Der Verletzte wird daher nicht ohne weiteres einsehen, weshalbder Verdächtige oftmals besser gestellt wird als der Zeuge. Erwird uns fragen, ob er überhaupt und wie weit er sich zur Erfor-schung der Wahrheit in das Verfahren einbringen lassen muß. Erwird sich gelegentlich lieber verkriechen, als die Angelegenheitwiederaufzurollen.

Das Strafverfahren zielt primär auf Verdachtsklärung26. Dar-aus folgert sicher eine Mitwirkungspflicht des Verletzten, auf dieman um so weniger wird verzichten können, je gravierender derin Rede stehende Vorwurf ist. Andererseits steht fest, daß auchdie Ermittlung der Wahrheit nicht um jeden Preis erfolgen darf.Vielmehr muß ein rechtsstaatliches Verfahren normative Bremseneinbauen, die mit Effizienzgesichtspunkten nicht zu erklären sind,ihnen bisweilen eher zuwiderlaufen dürften27. In diesem Sinnedürfte die Funktionsfähigkeit des Strafverfahrens als sozialemRegelungsmechanismus nicht zuletzt davon abhängen, ob mit demVerletzten als Zeugen fair umgegangen wird.

Hinsichtlich des Beschuldigten bietet die Unschuldsvermutungvergleichsweise verläßliche Handhaben für eine faire Gestaltungdes Verfahrens. Eine solche Richtschnur fehlt für den Verletzten.Immerhin gilt für Beschuldigten und Verletzten gleichermaßen,daß sie in ein staatliches Verfahren verstrickt sind. Daraus folgt,daß alle Eingriffe, sei es dem Beschuldigten oder sei es dem Ver-letzten gegenüber, an der Elle des Verfassungsrechts, namentlich

28 So schon v. Liszt, Die Grenzgebiete zwischen Privatrecht und Straf-recht. Kriminalistische Bedenken gegen den Entwurf eines BürgerlichenGesetzbuches für das Deutsche Reich, 1889, S. 27.

2 In diesem Sinne vor allem Krauß, Der Grundsatz der Unschuldsvermu-tung im Strafverfahren, in: Müller-Dietz (Hrsg.), Strafrechtsdogmatikund Kriminalpolitik, 1971, S. 153, 171.

27 Allgemein zu dem Verhältnis der verfassungsrechtlichen „Formalisie-rungselemente" der Strafrechtskontrolle zur „effektiven" Verbrechens-bekämpfung HassemerfSteinen/Treiber, Soziale Reaktion auf Abwei-chung und Kriminalisierung durch den Gesetzgeber, in: Hassemer/Lüderssen (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. III,Strafrecht, 1978, S. l, 59 f.

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dem Schutz der Menschenwürde, gemessen werden müssen. DerStaat ist also nicht nur dem Beschuldigten, sondern auch dem Ver-letzten gegenüber zur Fürsorge und zu einem fairen Verfahrenverpflichtet. Die Gestaltung des Verfahrens hat sich nicht nur dar-an zu orientieren, daß der Verdächtige sich als unschuldig erwei-sen kann, sondern auch daran, daß der Schaden des potentiell Ver-letzten nicht noch vertieft wird.

Der Konflikt zwischen Wahrheitsfindung und Schutzinteressendes Verletzten als Zeugen ist damit vorprogrammiert. Er darf nichtauf der Grundlage eines Wahrheitsrigorismus gelöst werden. Viel-mehr muß auch der Schutz des Verletzten als Richtwert der Wahr-heitsfindung prinzipiell anerkannt werden28. Denn das Verfahrenwürde keinen Beitrag zum sozialen Ausgleich leisten können,wenn es mit der endgültigen Zerstörung und Erniedrigung desVerletzten enden würde.

III. Die Stellung des Verletzten im Lichte verfahrenssoziologischerund kriminologischer Erkenntnisse

Konkrete Konsequenzen lassen sich freilich erst ziehen, wennwir unser Bild noch um kriminologische und rechtstatsächlichePerspektiven angereichert haben. Damit erweisen wir namentlichder Viktimologie Reverenz, die uns seit Jahren eindringlich —wenn auch bisweilen allzu emotional eingefärbt — die Rolle desOpfers in der Strafrechtspflege vor Augen führt.

Anfangs noch erleben wir das Opfer — der Begriff wecktmehr Anteilnahme als der des Verletzten — in einer vergleichs-weise starken Stellung. Durch Anzeigeerstattung und Antragstel-lung bestimmt der Verletzte nämlich weitgehend die soziale Kon-struktion der Verbrechenswirklichkeit29. Lediglich 2—9°/o allerVerfahren gehen auf polizeiliche Wahrnehmung zurück. In ca.80 °/o der Fälle sind Opfer und Anzeigeerstatter identisch80. Die„Bestimmungsgründe der Anzeigebereitschaft des Opfers"51 sindausgesprochen vielfältig. Interessanter noch fast erscheinen die

28 Hier stehen wir einmal mehr vor der Frage nach dem substantiellenGehalt der Wahrheit im Strafverfahren; dazu Müller-Dietz, Der Wahr-heitsbegriff im Strafverfahren, Zeitschrift für Evangelische Ethik 1971,257, 261 ff.

29 Ähnlich Kaiser, Kriminologie. Ein Lehrbuch, 1980, S. 183.80 Zahlenangaben nach Kaiser (Anm. 29), S. 185.31 So der Titel der Freiburger Dissertation von Heinz (1972).

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Gründe, die für die Nichtanzeige genannt werden. Hier stehennämlich die vermutete Erfolglosigkeit der Anzeige, der geringeSchaden und die Betrachtung als Privatangelegenheit oder dieRücksichtnahme gegenüber dem Täter an der Spitze32. StaatlicherSchutz durch Strafverfolgung und Justizgewährung werden vomOpfer häufig als zu spät einsetzend, unökonomisch und inadäquatempfunden83.

Sobald das Ermittlungsverfahren initiiert ist, beginnt die„Demontage" des Opfers, entwickelt sich das Opfer immer mehrzum „Störfaktor". In der Hauptverhandlung wird es zwar alsZeuge benötigt. Jedoch begegnet man ihm mit Mißtrauen, das sichin der Belehrung artikuliert, gängelt es entgegen der Regelung des§ 69 StPO mit Fragen und läßt zu, daß sich manche Verfahren, na-mentlich bei Sexualdelikten, zu einem Spießrutenlaufen entwik-keln. Ungeachtet mancher emanzipatorischer Verbrämung sprichthier die Flut von Beiträgen zur Behandlung der Opfer von Verge-waltigungen, die uns namentlich die anglo-amerikanische Krimi-nologie beschert hat, eine deutliche Sprache34. In die gleiche Rich-tung gehen — bei z. T. freilich unterschiedlicher Gewichtung —die Forschungsergebnisse der Jugendpsychiatrie zur Auswirkungdes Verfahrens auf kindliche und jugendliche Opfer von Sexual-delikten35.

Die Ansätze, die dem Opfer zur Durchsetzung seiner Genug-tuungsinteressen im Verfahren zur Verfügung stehen, gelten alsweitgehend ineffizient. Dem Klageerzwingungsverfahren wird be-scheinigt, daß es — weil zu kompliziert — keine Rolle spiele36.Die Nebenklage läuft weitgehend leer. Einfluß auf Art und Höhe

« Kaiser (Anm. 29), S. 185.« Kaiser, Viktimologie an der Schwelle der 80er Jahre — Ein kritisches

Resümee, in: Kirchhoff/Sessar (Hrsg.), Das Verbrechensopfer, 1979,S. 481, 488; Zip/ (Anm. 2), S. 9 f., konstatiert ganz allgemein einen Mangelan Vertrauen in die staatliche Strafrechtspflege.

34 Einzelnachweise bei Schneider, Opferschaden, Wiedergutmachung undOpferbehandlung, in: Kirchhoff/Sessar (Hrsg.), Das Verbrechensopfer,1979, S. 365, 375.

35 Zusammenfassend Störzer, Sittlichkeitsprozeß und junges Opfer, in:Hess!Störzer/Streng (Hrsg,), Sexualität und soziale Kontrolle, 1978,S. 101; Kaiser, Jugendkriminalität. Rechtsbrüche, Rechtsbrecher undOpfersituationen im Jugendalter, 1977, S. 194. Vgl. neuerdings die kata-mnestische Untersuchng von Diesing, Psychische Folgen von Sexualdelik-ten bei Kindern, 1980.

se So Sessar (Anm. 2), S. 330.

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der Strafe besteht eher in dem Sinne, daß die Strafen milder aus-fallen als in Verfahren, in denen ein Nebenkläger fehlt87. Auch dasVerdikt über die Privatklage fällt negativ aus. Die Wahrschein-lichkeit, daß sie zu einer Verurteilung führt, ist mit den Jahrenimmer mehr gesunken. Zuletzt hat Hirsch eine Verurteilungsquotezwischen 2 und 3 °/o ermittelt88. Man kann freilich dem Privat-klageverfahren auch eine positive Note abgewinnen. Die interna-tionale Diskussion über „Konfliktmanagement", „NeighborhoodJustice" und die „De-Formalisierung" des Rechts lassen zumindestInstitution und Wirkungsweise des Schiedsmanns in einem ande-ren Licht erscheinen. Einer empirischen Pilotstudie89 entnehmenwir, daß 1975 über die Hälfte der Sühneverfahren — im Amtsge-richtsbezirk Saarbrücken waren es 1980 sogar 68 °/o40 — erfolgreichabgeschlossen wurden. Hinzu kommt, daß die Privatklage nur inetwa der Hälfte der Fälle, in denen der Sühneversuch erfolglosbleibt, auch wirklich betrieben wird. Um das wahre Ausmaß des„Abschirmeffekts" ermessen zu können, müssen wir auch die Zahlder erfolgreichen inoffiziellen Beratungen einbeziehen, die fastgenauso hoch liegen dürfte wie die Zahl der offiziellen Sühnever-suche41. Deutet sich hier eine differenzierende Einschätzung desPrivatklageverfahrens an, so wird das Adhäsionsverfahren allseitsals ein Stück aus dem prozessualen Raritätenkabinett angesehen.Während ihm in der Theorie seit jeher „Bestnoten" erteilt wer-den42, ist seine praktische Bedeutung bei uns im Gegensatz zu an-deren Rechtsordnungen gleich Null48. Die wenigen Anträge dürftenwohl in erster Linie deswegen erfolglos bleiben, weil die Straf-gerichte regelmäßig die zivilrechtlichen Ansprüche wegen man-

37 In diesem Sinne Sessar (Anm. 2), S. 331.38 Hirsch (Anm. 4), S. 815.39 Bierbrauer/FalkelKoch, Konflikt und Konfliktbeilegung. Eine interdiszi-

plinäre Studie über Rechtsgrundlage und Funktion der Schiedsmanns-institution, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen, Zugang zum Recht,1978, S. 141, 146. Eine positive Einschätzung der „Filterwirkung" desPrivatklageverfahrens findet sich schon bei Härtung, Änderung desPrivatklageverfahrens?, GA 1942, 43.

40 Ausweislich der Übersicht der Geschäftsergebnisse der Schiedsmännerim Bezirk des Amtsgerichts Saarbrücken.

41 So die Annahme von Bierbrauer/Falke/Koch (Anm. 39), S. 148.42 Zuletzt noch von Kühne, Strafprozeßlehre, 1978, S. 379.43 Die gleiche Einschätzung findet sich bei Scholz, Erweiterung des Ad-

häsionsverfahrens — rechtliche Forderung oder rechtspolitischer Irr-weg?, JZ 1972, 725, 726.

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gelnder Eignung zur Erledigung im Strafverfahren ausklam-mern44. Aus ähnlichen Gründen spielen auch Wiedergutmachungs-auflagen in der Praxis nur eine marginale Rolle. Selbst im Jugend-strafrecht, wo sie angesichts ihrer pädagogischen Funktion docherst recht florieren sollten, kommen die vom Richter angeordnetenWiedergutmachungsauflagen über die 5 °/o-Marke nicht hinaus45.

Fügt man diese kriminologischen Mosaiksteine zusammen, soentsteht ein Bild reduzierter Handlungsspielräume des Verletztenim Prozeß. Verfahrensmäßige Ansätze, die dem Verletzten ermög-lichen sollen, seine Genugtuungs- und Kontrollinteressen zur Gel-tung zu bringen, sind teils verkümmert, teils werden sie nicht ge-nutzt. Sucht man nach Gründen, so lassen sich neben handfestemjustitiellen Ressortdenken, an dem das Adhäsionsverfahren zer-bricht, eine Reihe von Hindernissen prinzipieller Natur ausma-chen. Zunächst setzt die Praxis damit nur jene individualisierende,täterorientierte Strategie des materiellen Strafrechts in das Ver-fahren um46. Weiter spiegelt die Art, wie die Justiz mit dem Ver-letzten umgeht, vielfach nur deren allgemeine Schwierigkeit, ver-fahrensmäßige Anforderungen und das Gebot einer fairen undhumanen Behandlung aller Beteiligten miteinander in Einklang zubringen. Auf der anderen Seite — und hier mag durchaus eineWechselbeziehung zu dem Vorherigen bestehen — deutet die ver-gleichsweise hohe Versöhnungsbereitschaft des Verletzten imSühneverfahren an, daß er an einer verfahrensmäßigen Eskala-tion des Konflikts oft gar nicht interessiert ist. Im Bagatellbereichist dem Opfer vielmehr mit einer Wiedergutmachung des Scha-dens regelmäßig Genüge getan47; lediglich bei „Beziehungstaten"läßt sich eine „härtere Bestrafungstendenz" feststellen48.

44 Angesprochen auch bei Kühne (Anm. 42), S. 379.45 Nachweise bei Knoll, Empirische Untersuchungen zur jugendrichterlichen

Sanktionsauswahl, Heidelberger Diss., 1978, S. 118.40 Dies ist auch einer der Leitgedanken von Krauß, Täter und Opfer im

Straf recht, Basler Antrittsvorlesung; (unveröffentl. Manuskript), 1981.47 Auch Villmow kommt bei seiner differenzierenden Analyse „Die Ein-

stellung des Opfers zu Tat und Täter", in: Kirchho/f/Sessar (Hrsg.),Das Verbrechensopfer, 1979, S. 199, 210, zu dem Schluß, daß bei Bagatell-delikten kriminalpolitische Erwägungen wie Dekriminalisierung undDiversion öffentliche Unterstützung finden können.

48 Vgl. dazu Weber, Zur Psychodiagnostik der Täter-Opfer-Beziehung,1980, S. 122.

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IV. Leitmotive für die sachgerechte Ausgestaltung der Stellungdes Verletzten im Prozeß

Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Einerseits funktioniert dasStrafrecht als Mittel der sozialen Kontrolle nur, wenn die Inter-essen des konkreten Verletzten im Verfahren Berücksichtigungfinden. Andererseits verbindet sich mit dem staatlichen Strafrechtund rationaler Kriminalpolitik die Erwartung, daß sich keineRacheinstinkte Bahn brechen dürfen, wissen wir, daß es nicht imInteresse der Rechtsgemeinschaft liegen kann, die Wünsche undVorstellungen des Verletzten zu verabsolutieren. Zugleich rührenwir an den Nerv staatlicher Strafrechtspflege, wenn wir feststellenmüssen, daß der Staat einer Einigung der Beteiligten mit dem for-malisierten Strafverfahren bisweilen eher im Wege steht, als siezu fördern. Insofern kommt der Ruf nach neuen Erledigungsfor-men, ja nach „Alternativen zum Recht und zur Justiz"49, eigentlichnicht überraschend. Materiell-rechtlich gewendet führt uns dasThema mitten in das Wechselbad sich verändernder strafrecht-licher Bewertungsmaßstäbe, nehmen wir vor allem teil an der sichverstärkenden Diskussion um eine sachgerechte Behandlung derBagatellkriminalität.

Der Verletzte ist uns als eine weitgehend funktionslose Pro-zeßfigur entgegengetreten. Bei der Einleitung des Verfahrens nochmächtig, verliert er schon im Ermittlungsverfahren an Handlungs-kompetenz, kann er in der Hauptverhandlung kaum richtig Fußfassen. Die „Besänftigung" des „entmachteten" Verletzten ist teilsan der falschen Stelle, teils mit untauglichen Mitteln erfolgt. Hin-zu kommt, daß manches Verfahren die Wunden noch vertieft, jabisweilen gar neue Wunden schlägt. Zur Bereinigung des Kon-flikts zwischen den unmittelbar Beteiligten scheint der Strafpro-zeß ohnedies wenig geeignet. Er ist strukturell darauf angelegt,„klare Verhältnisse zu schaffen": Er kennt nur Verletzte oderBeschuldigte. Mit dem Beschuldigten als Verletztem oder demOpfer als Mitschuldigem vermag er nur wenig anzufangen.

Auch bei unserem Versuch, ein neues prozessuales Kleid fürden Verletzten zu schneidern, wird keine „Einheitsuniform" her-auskommen. Vielmehr hat unsere Analyse eher bestätigt, daß die

49 Hinter dieser plakativen und zugleich provozierenden Formel verbirgtsich einer der Schwerpunkte der derzeitigen rechtssoziologischen For-schung; vgl. die Literaturnachweise bei S. Röhl/K. Röhl (Anm. 5), S.33 f. sowie unten Anm. 71.

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Situation und die Interessen des Verletzten nicht einheitlich beur-teilt werden können50. Von daher scheidet ein prozessuales Bra-vourstück aus, die Strafprozeßordnung um ein Kapitel anzurei-chern, in dem die Rechtsstellung des Verletzten aktiv und passiv,seine prozessualen Gestaltungsmöglichkeiten wie sein Schutz imVerfahren, abschließend umschrieben würden. Selbst eine Legal-definition des Verletztenbegriffs, etwa nach schwedischem Vor-bild51, würde kaum weiterhelfen, sondern die begrifflichen Un-sicherheiten nur zementieren. Differenzierende Vorschläge sindfreilich dem Einwand ausgesetzt, dem Strafverfahren drohe dieZersplitterung. Abgesehen davon, daß sich jedoch längst mehrereTypen von Verfahren herausgebildet haben52, läuft dieser Einwandim Hinblick auf den Verletzten insofern leer, als uns die Prozeß-ordnung gerade seinetwegen ein Maß an Sonderformen bescherthat, das kaum übertroffen werden kann.

Wichtige Vorentscheidungen für die Ausgestaltung der Stel-lung des Verletzten fallen ohnehin im materiellen Recht. Die Dis-kussion um die sachgerechte Behandlung der Bagatellkriminalitäthat nämlich gezeigt, daß manche Verhaltensweisen sich nicht ein-deutig als sozialschädlich und damit strafwürdig qualifizieren las-sen. Neben Verhaltensweisen, die ohne weiteres als sozialschädlichgelten, gibt es vielmehr solche, die nur beim Hinzutreten beson-derer Umstände als sozialschädlich anzusehen sind. Man könnteauch von „absolut" und „relativ" sozialschädlichen Delikten spre-chen. Gemeint sind mit dem Stichwort „relativ sozialschädlich"dabei vor allem Formen der Bagatellkriminalität, die ihr beson-deres Gepräge durch persönliche oder nachbarschaftliche Bezie-hung erhalten. Die bisherigen Versuche, eine tatbestandliche Aus-grenzung vorzunehmen, sind gescheitert59. Die körperliche Miß-handlung im Nachbarschaftsstreit erfüllt ebenso den Tatbestanddes § 223 StGB wie die Schlägerei. Den Vorzug verdienen Lösun-

30 Dies deckt sich im Ansatz mit der differenzierenden Stellungnahme vonHenkel (Anm. 8), S. 186.

51 Einzelheiten bei G. Schmidt (Anm. 5), S. 847 f., der selbst den Zuge-winn an Rechtssicherheit, der durch eine Legaldefinition erreicht würde,nicht sehr hoch veranschlagt.

52 Schreiber, Tendenzen der Strafprozeßreform, in: Schreiber (Hrsg.),Strafprozeß und Reform, 1979, S. 15, 22, hat es auf den Nenner gebracht:„Das Strafverfahren gibt es in Wirklichkeit nicht, sondern eine Vielzahlverschiedener Verfahrenstypen, ganz verschieden nach Gegenstand undBetroffenen."

53 So auch Hirsch (Anm. 4), S. 831.

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gen, die die Grenzzone zwischen zivilem Unrecht und sozialschäd-lichem Verhalten überspannen können. Als Methode der Wahl bie-tet sich eine Überprüfung des Sanktionsrepertoires und der ver-fahrensmäßigen Gestaltungsmöglichkeiten an. Dies wird eine An-näherung an das Zivilrecht mit sich bringen. Für den Verletztenwird dies einen Zuwachs an „Verfahrensherrschaft" bedeuten.

Anders liegen die Dinge bei schwereren Delikten. Hier mußdie Rechtsgemeinschaft gerade wegen der Dimension der Rechts-verletzung den Part des Betroffenen weitgehend mitübernehmen,weil dessen emotionales Engagement die rationale Aufarbeitungdes Konflikts erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht. Freilichsetzt dies voraus, daß das Verfahren zur symbolischen Versöhnungdes Betroffenen beiträgt. Dazu gehört vor allem, daß man im Ver-fahren fair mit dem Verletzten umgeht, andernfalls die Akzeptanzund damit die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Strafrechts-pflege insgesamt gefährdet würde.

V. Konkrete GestaltungsvorschlägeEin Konzept der Stellung des Verletzten bewährt sich im De-

tail. Der Versuch, jene Leitmotive in konkrete Gestaltungsvor-schläge umzusetzen, muß sich zwangsläufig auf Andeutungen be-schränken. Andererseits sollte die Klaviatur prozessualer Gestal-tungsmöglichkeiten einmal durchgespielt werden, um wenigstensansatzweise aufzuzeigen, zu welchen konkreten kriminalpoliti-schen Veränderungen unsere Analyse der Stellung des VerletztenVeranlassung gibt.

1. StrafantragDer Strafantrag bietet dem Verletzten an sich eine Gestal-

tungsmöglichkeit par excellence. Die Sinnhaftigkeit dieses Insti-tuts wird denn auch zumindest im Grundsatz kaum in Zweifelgezogen. Jescheck hält es für unentbehrlich54. Auch Zipf55 undMaiiüald56 plädieren für seine modifizierte Beibehaltung. Verein-

54 Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Aufl. 1978, S. 722.55 Zip/, Strafantrag, Privatklage und staatlicher Strafanspruch, GA 1969,

234, 243, hält das Antragserfordernis nur für gerechtfertigt, wenn dieBelange des Betroffenen gegenüber denen des Staates überwiegen. Diesentspricht weitgehend der hier vertretenen Auffassung. In diese Rich-tung gehen auch die Überlegungen von Hirsch (Anm. 4), S. 835 f.

58 Maiwald, Die Beteiligung des Verletzten am Strafverfahren, GA 1970,36, will das Antragsprinzip auf die Fälle beschränkt wissen, in denen

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zeit wird freilich die Abschaffung des Antragserfordernisses ge-fordert, weil es der Durchsetzung privater Interessen mit Mittelndes Kriminalrechts diene und der Konzentration der Verfolgungentgegenstehe57. Diese Abkehr vom Antragsprinzip besticht zu-nächst durch Konsequenz: Je sozialschädlicher die Verhaltenswei-se, desto problematischer erscheint es, dem Verletzten eine derar-tige Gestaltungsmöglichkeit einzuräumen. Auf der anderen Seiteder Skala, im Bagatellbereich also, erfüllt der Strafantrag nebenPrivatklage und Strafanzeige keine eigenständige Funktion. Be-zeichnenderweise lesen wir in die Strafanzeige regelmäßig einenStrafantrag hinein58. Problematisch und nur durch das Antrags-recht verhinderbar ist jedoch die dem Verletzten aufgedrängteStrafverfolgung. Im Bereich der Bagatellkriminalität ist diese Fra-gestellung theoretischer Natur. Im Bereich der schweren Krimina-lität muß die Strafverfolgung auch ohne Einverständnis des Ver-letzten erfolgen können. Im Bereich der mittleren Kriminalitätsind aber Fälle denkbar, in denen die Gewährung eines Antrags-rechts zum Schutz des Intimbereichs des Opfers vertretbar und imHinblick auf den zu befürchtenden Begleitschaden notwendig er-scheint. Hierzu gehören z. B. Delikte im häuslich-familiären Be-reich, die Indiskretionsdelikte und bestimmte Straftaten gegendie sexuelle Selbstbestimmung. Von den schweren Sexualstraf-taten, wie etwa dem Tatbestand der Vergewaltigung, geht hinge-gen eine solche Bedrohung für die Rechtsgemeinschaft aus, daß esnicht angebracht wäre, die Verfolgung von einem Strafantrag derVerletzten abhängig zu machen59.

eine besondere Beziehung zwischen Täter und Verletztem besteht, derRechtsfriede also durch Versöhnung zwischen Täter und Opfer wieder-hergestellt werden kann (a. a. O., S. 43). Freilich relativiert Maiwalddiesen Grundsatz, indem er dem Gesetzgeber konzediert, andere Ge-sichtspunkte als den der Berücksichtigung der Versöhnung zwischenOpfer und Täter zum Anlaß für die Statuierung des Antragserforder-nisses nehmen zu können (a. a. O., S. 39).

57 Vgl. Teil B These 12 des Kriminalpolitischen Programms der Arbeits-gemeinschaft sozialdemokratischer Juristen, Recht und Politik 1976, S.215, 220. Diese Forderung ist keineswegs neu. Vgl. schon Binding, Hand-buch des Straf rechts, 1. Bd., 1885, S. 603 f., Anm. 5; Henkel, Die Beteili-gung des Verletzten am künftigen Strafverfahren, ZStW 56 (1937), S. 226,234—238.

58 Einzelheiten bei Kleinknecht, Strafprozeßordnung, 35. Aufl. 1981, § 158Rdnr. 4.

39 Hiergegen auch Hanack, Empfiehlt es sich, die Grenzen des Sexual-strafrechts neu zu bestimmen?, Gutachten zum 47. DJT, 1968, Rdnr. 33.

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2. NebenklageEs ist erstaunlich, daß sich die Nebenklage in dieser Form so

lange gehalten hat, obwohl Rosenfeld schon 1900 für ihre Abschaf-fung plädiert hat60. In der forensischen Erfahrung hat sich dieNebenklage als Fehlkonzeption erwiesen. Die damit intendierteKontrolle des öffentlichen Anklägers durch den Verletzten kommtnur selten zum Tragen. Vorschläge zur Reform der Nebenklage,die auf deren totale Beseitigung hinauslaufen, schießen jedochüber das Ziel hinaus61. Wegen des besonderen Betroffenseins desVerletzten und wegen des Interesses der Rechtsgemeinschaft aneiner Befriedigung des inter-personellen Konflikts wäre es nichtsachgerecht, den Verletzten gänzlich von dem Verfahren „auszu-sperren". Im Gegenteil: Benachrichtigungspflicht, Anwesenheits-recht und Fragerecht sollten als vertrauensbildende Maßnahmensicherstellen, daß das Verfahren für den Verletzten transparentbleibt. Dies läuft auf eine Beteiligtenstellung eigener Art hinaus62.Sie sollte dem Verletzten schon im Ermittlungsverfahren einge-räumt werden, zumal seine Mitwirkung im Interesse der Aufklä-rung des Geschehens gerade in diesem Stadium von zentraler Be-deutung ist. Eigene Antrags- und Rechtsmittelbefugnisse solltendem Verletzten hingegen nicht eingeräumt werden. Sieht man dieBeteiligung des Verletzten in erster Linie als eine Frage der sym-bolischen Präsenz an, so bedarf es derart weitgehender Gestal-tungsmöglichkeiten nicht. Als Beteiligtem wird man dem Verletz-ten freilich die Befugnis zubilligen müssen, sich anwaltlich vertre-ten zu lassen. Nur sollte er die Kosten nicht auf den Verurteiltenabwälzen dürfen. Dadurch wird eine zusätzliche Hürde auf demWeg zur Resozialisierung und der Wiedergutmachung errichtet.

60 Rosenfeld, Die Nebenklage des Reichsstrafprozesses. Ein Beitrag zurLehre von den Rechten des Verletzten im Strafverfahren, 1900, S. 208 ff.Der Streit über die Beseitigung oder Erneuerung der Nebenklage bliebauch danach auf der Tagesordnung; vgl. nur Henkel (Anm. 57), S. 245.

01 Dies gilt etwa für den Vorschlag des Kriminalpolitischen Programmsder ASJ (Anm. 57). Der Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Reformdes Strafverfahrensrechts hatte eine Beschränkung des Kreises der Ne-benklageberechtigten vorgesehen; vgl. Jung, Der Entwurf eines erstenGesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts, JuS 1974, 195, 197. Die-ser Gesetzesvorschlag fand jedoch keine Mehrheit, obwohl sich selbstder Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer auf seiner86. und 91. Tagung im Februar 1972 und im Juli 1973 für eine Ein-schränkung der Nebenklage ausgesprochen hatte.

62 Wie hier Rieß (Anm. 6), S. 205.

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Als Adressat für einen Anspruch auf Kostenerstattung kommt derStaat in Betracht65.

3. Das KlageerzwingungsverfahrenDas Klageerzwingungsverfahren stellt sicher keine Ideallö-

sung dar. Nur fragt man sich sofort nach der Alternative. Ein Kon-trollbedürfnis besteht angesichts des Machtzuwachses, den dieStaatsanwaltschaft erfahren hat, mehr denn je. Der Tatbestandder Strafvereitelung im Amt bietet allein keine hinreichende Si-cherheit, da die Kontrolle dann zum reinen „Insichgeschäft" wer-den würde. Dürfte das Bedürfnis nach einer „Außenkontrolle"sonach unstreitig sein, bleibt doch die Frage, von wem sie ausge-hen sollte. Als Träger der Initiative kämen statt des Verletztenz. B. der „jedermann"64 oder aber öffentliche Mandatsträger65 inBetracht. Die Einführung der Popularklage begegnet jedoch dengleichen Bedenken, die auch sonst gegen die Popularklage als Ein-richtung zur Kontrolle der öffentlichen Verwaltung geltend ge-macht werden. Gerade die Diskussion um die Verbandsklage hatgezeigt, daß auf ein formalisiertes Begrenzungskriterium zur Be-stimmung des Kreises der „Kontrollberechtigten" nicht verzichtetwerden kann. Bei einer institutionalisierten parlamentarischenKontrolle bestünde demgegenüber die Gefahr, daß die Entschei-dung zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung würde.Schon eher erwägenswert erschiene die Schaffung besonderer, ausLaien zusammengesetzter Kontrollausschüsse auf Landgerichts-ebene nach dem Vorbild des japanischen Rechts66. Ein solches Ver-fahren wäre jedoch noch umständlicher als das Klageerzwingungs-verfahren in seiner derzeitigen Konstruktion.

Nun wird das Klageerzwingungsverfahren immer wieder dar-an gemessen, daß nur einer geringen Zahl der Anträge Erfolg be-

63 Es handelt sich nämlich um einen konkreten Anwendungsfall des„Opferrisikos". Insofern könnte man bei einer Erstattungsregelung aufdie Grundgedanken des Opferentschädigungsrechts zurückgreifen.

84 Für die Kontrolle der Staatsanwaltschaft durch ein privates konkurrie-rendes Anklagerecht hat sich namentlich v. Gneist, Vier Fragen zurDeutschen Strafprozeßordnung mit einem Schlußwort über die Schöffen-gerichte, 1874, S. 16, eingesetzt.

65 So neuerdings Ostendorf, Das öffentliche Klageerzwingungsverfahren— ein notwendiges Institut zur Kontrolle der Staatsanwaltschaft, Rechtund Politik 1980, 200.

66 Näher dazu Kühne, Opportunität und quasi-richterliche Tätigkeit desjapanischen Staatsanwalts, ZStW 85 (1973), S. 1079, 1092.

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schieden ist. Gerade in der Praxis spürt man jedoch, daß von derExistenz des Klageerzwingungsverfahrens eine beachtliche Prä-ventivwirkung ausgeht67. Allerdings bleiben bei seiner jetzigenKonstruktion weite Bereiche staatsanwaltlicher Tätigkeit unkon-trolliert, sei es, daß es sich um gemeinschaf tsbezogene Rechtsgüterhandelt, sei es, daß die Staatsanwaltschaft unangreifbare Opportu-nitätsentscheidungen trifft. Eine Erweiterung der Klageerzwin-gung auf die Fälle der Einstellung wegen Geringfügigkeit er-scheint angesichts der Tatsache, daß der Gegensatz zwischen Op-portunitäts- und Legalitätsprinzip überbewertet wird, durchausdiskutabel, jedoch kaum praktikabel, weil die richterliche Kontrol-le angesichts der staatsanwaltschaftlichen Entscheidungsspiel-räume weitgehend leerlaufen würde. Eine vorsichtige Ausweitungdes Verletztenbegrif f s mit dem Ziel, Kontrollmöglichkeiten in demBereich der Straftaten zum Schutz der Allgemeinheit zu eröffnen;sollte man demgegenüber durchaus in Betracht ziehen68.

4. Die PrivatklageDie Privatklage hat eine denkbar schlechte Presse. Die Lö-

sungsvorschläge klaffen weit auseinander: Streichung bei gleich-zeitiger weiterer Lockerung des Legalitätsprinzips69, „Flucht nachvorn" in ein vereinfachtes Verfahren verbunden mit einer neuenAbstufung im Unrecht70, ja im Hintergrund schimmert sogar dieebenso vielsagende wie nebulöse Forderung nach „Alternativenzum Recht" durch71. Dementsprechend reichhaltig ist das Angebotauf der institutionellen Ebene. Es reicht vom Friedensrichter, vomOmbudsmann, vom Nachbarschaftsgericht, vom Rechtspfleger biszu einer differenzierten Beibehaltung des Status quo.

Natürlich ist eine geringe Verurteilungsquote nicht per senegativ. Gleichwohl vermag die derzeitige Praxis des Privatklage-

87 Dieser Gesichtspunkt ist schon im Rahmen der Diskussion gegen die aufBeseitigung des Klageerzwingungsverfahrens zielenden Thesen Henkels(vgl. Anm. 57) anläßlich der Würzburger Strafrechtslehrertagung 1936vorgebracht worden; vgl. den Bericht von v. Gemmingen, ZStW 56(1937), S. 250, 252.

68 Vgl. auch das Kriminalpolitische Programm der ASJ (Anm. 57).69 So etwa Rieß (Anm. 6), S. 204 f.70 In diese Richtung namentlich Eser, Gesellschaftsgerichte in der Straf-

rechtspflege, 1970, sowie Hirsch- (Anm. 4).71 Das Stichwort „Alternativen zum Recht" steht für ein weites Spektrum

allgemein justizkritischer Forschung, das von „Rechtshilfe" bis zu „Me-chanismen zur Vermeidung justitieller Verfahren" reicht.

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Verfahrens nicht zufriedenzustellen, und zwar nicht nur aus derSicht des Verletzten. Durch die vergleichsweise geringe Verurtei-lungsquote gerät vielmehr die generalpräventive Wirkung derStrafandrohung selbst in Gefahr.

Dennoch besteht keine Veranlassung, nach völlig neuartigenKonstruktionen zu schielen. Vielmehr hat sich der Ansatz, näm-lich das Tandem „Schiedsmann/Richter", durchaus bewährt. Hier-für spricht nicht nur die hohe und offenbar durchaus steigendeErledigungsquote im Sühneverfahren, sondern auch die Tatsache,daß wir mit dem Sühneverfahren über eine verwurzelte und vonder Rechtsgemeinschaft durchaus akzeptierte Form von Streiter-ledigung verfügen, um deren Institutionalisierung andernorts, na-mentlich in den USA, noch gerungen wird72. Es wäre von daherverfehlt, den Schiedsmann nur durch einen anderen Ombudsmannzu ersetzen. Andererseits würde der Schritt, dem Schiedsmannzusätzlich eine Sanktionskompetenz zu verleihen, auf rechtsstaat-liche Bedenken stoßen. Die Lösung kann daher nur in einer mate-riellrechtlichen Qualifikation liegen, bei der man ohne Änderungder Tatbestände selbst auskommt. Den Weg hierzu hat — durch-aus im Sinne der oben skizzierten Abgrenzung zwischen absoluterund relativer Sozialschädlichkeit — Hirsch, aufgezeigt. Er siehtnämlich den Mangel der bisherigen Privatklagekonstruktion dar-in, „daß man die betreffenden Fälle als Kriminalstraftaten einord-net und demgemäß auch in einem Kriminalstrafverfahren, wenn-gleich einer Sonderform zur Aburteilung brachte, eben in der reinverfahrensrechtlichen Lösung"73. Sein Vorschlag, die Privatklage-fälle als Verfehlung zu qualifizieren und mit einer Geldbuße zuahnden, könnte das Privatklageverfahren neu beleben74. Dadurchwürde seine prozessuale Eigenständigkeit, die sich schon jetzt invielen Besonderheiten zeigt, materiell abgesichert. Die Zwischen-lage der Verfehlung zwischen Strafrecht und Zivilrecht müßte sich

72 Die Suche nach informellen Formen der Streiterledigung — schlagwort-artig: „Neighborhood Justice" — zählt in den USA derzeit zu denSchwerpunkten kriminalpolitischer Auseinandersetzung. Einen Über-blick über Diskussionsstand und Modelle geben S. RöhllK. Röhl (Anm. 5).Vgl. auch McGillis-Mullen, Neighborhood Justice Centers. An Analysisof Potential Models, U. S. Government Printing Office 260-992/4015, 1977.

n Hirsch (Anm. 4), S. 827.74 Hirsch (Anm. 4), S. 831. Ähnliche Überlegungen finden sich bei Eser

(Anm. 70), S. 48 ff.

75 Zeitschr. f. d. ges. Strafrechtsw. VIICBereitgestellt von | New York University Elmer Holmes Bobst Library

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freilich auch in der Schaffung eines besonderen Verfehlungsregi-sters ausdrücken75.

Kaiser hat die mit diesem Vorschlag verbundene Renaissanceder Übertretung als Rückschritt bezeichnet76. Möglicherweise hatdie Aufgabe der Dreiteilung aber eine kriminalpolitische Parf orce-Aktion dargestellt, die erst recht den Ruf nach Sanktionen zwi-schen Zivilrecht und Straf recht hat laut werden lassen77. Die Ver-knüpfung von Kriminalstrafe und Geldbuße in einer Vorschriftmuß den Systematiker stören. Sie entspricht jedoch nur der tat-sächlichen, von der Rechtsgemeinschaft im übrigen längst akzep-tierten Bandbreite dieser Delikte.

Zumindest dürfte die Institution „Privatklage" dadurch ausder Sicht des Verletzten an Glaubwürdigkeit und an Schlagkraft —ja fast wäre man geneigt zu sagen — an Attraktivität — gewin-nen. Dies dürfte vor allem dann gelten, wenn — worauf noch ein-zugehen sein wird — die Möglichkeit eröffnet würde, die Geldbußean den Verletzten zahlbar zu machen.

Zusätzlich muß der Katalog der Privatklagedelikte durchfor-stet werden. Längst überfällig ist die Entscheidung, den Tatbe-stand der gefährlichen Körperverletzung (§ 223 a StGB) auszuklam-mern78. Gleiches gilt im Grunde für die in § 374 Nr. 7 StPO ge-nannten wettbewerbsstrafrechtlichen Tatbestände. Auch der Tat-bestand des § 202 StGB sollte im Hinblick auf das geschärfte Be-wußtsein für den Schutz der Intimsphäre den absolut sozialschäd-lichen Delikten zugeordnet werden, wobei hier im Sinne des über-wiegenden Schutzinteresses des Verletzten das Antragserfordernisdurchaus beibehalten werden sollte.

Andererseits sollten Diebstahl und Unterschlagung gering-wertiger Sachen als Privatklagedelikt ausgewiesen werden79. Diese

75 Anders insoweit Hirsch (Anm. 4), S. 828.76 Kaiser (Anm. 4), S. 897.77 Auf die Ambivalenz der Abschaffung des Ubertretungskatalogs hat

schon Eser (Anm. 70), S. 48 f., Fußn. 155, hingewiesen.78 Die Einfügung des § 223 a StGB in den Katalog der Privatklagedelikte

war von Anbeginn an umstritten; vgl. v. Heutig, Zur Psychologie undStatistik der Privatklage, ZStW 48 (1928), S. 206, 213. Bedenken gegendie Ausgestaltung der gefährlichen Körperverletzung als Privatklage-delikt auch bei Maiwald (Anm. 56), S. 48 f.

79 Auch Hirsch tendiert zu einer über die Privatklagedelikte im heutigenSinne hinausgehenden, das Bagatellunrecht allgemein erfassenden Lö-sung; vgl. Hirsch (Anm. 4), S. 826 f.

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Verschiebung mag auf den ersten Blick problematisch erscheinen,weil sie dem in seinem Eigentum Verletzten die Last der Durch-führung eines Verfahrens überantwortet und die Gerichte dadurchstark belastet werden. Nur ist nicht einzusehen, warum dem Ver-letzten Initiative nur bei höchstpersönlichen Rechtsgütern, nichtaber bei Vermögensdelikten abverlangt wird. Eine ganz andereFrage ist, ob man auch insoweit die Erhebung der Privatklage vonder Durchführung eines Sühneversuchs abhängig machen sollte.Die nordamerikanischen Erfahrungen der Neighborhood Justiceermutigen an sich dazu, auch Vermögensdelikte im Nachbarschaf ts-oder Betriebsbereich einzubeziehen80, zumal schon derzeit solcheStreitigkeiten von den Schiedsmännern gelegentlich praeter legemmiterledigt werden. Hingegen ist der Schiedsmann bei Ladendieb-stählen schon quantitativ überfordert. Insofern sollte man dieDurchführung eines Sühneversuchs bei Vermögensdelikten fakul-tativ ausgestalten. Der Einwand, daß der Richter bei einer Einbe-ziehung von Bagatelldelikten im Vermögensbereich mit einer Viel-zahl von Verfahren überschwemmt werden wird, die jetzt durchdie Staatsanwaltschaft im Rahmen der §§ 153, 153 a StPO erledigtwerden, ist sicher ernst zu nehmen81. Abgesehen davon, daß dieRückverlagerung der Entscheidungskompetenz auf den Richterprinzipiell wünschenswert erscheint82, könnte ein Teil des Mehr-aufwandes kompensiert werden, wenn die zivilrechtlichen An-sprüche in dem gleichen Verfahren miterledigt würden.

80 Einzelheiten über die tatbestandliche Reichweite der einzelnen Neigh-borhood Justice Programme bei McGillis-Mullen (Anm. 72), S. 97 f.,111 f., 126, 138, 163 f., 167.

81 Insofern ist Rieß, Vereinfachte Verfahrensarten für die kleinere Krimi-nalität, in: Schreiber (Hrsg.), Strafprozeß und Reform, 1979, S. 113, 114,im Grundsatz durchaus zuzustimmen, wenn er meint: „Ein mehr funk-tionales und weniger maximenbewußtes Denken führt in verstärktemMaße dazu, das Strafverfahren gewissermaßen auch unter betriebswirt-schaftlichen Gesichtspunkten zu sehen und der Optimierung von Auf-wand und Ertrag mehr Aufmerksamkeit zu widmen." Freilich darf manderartige betriebswirtschaftliche Effizienzkriterien bei einer kriminal-politischen Entscheidung nicht verabsolutieren.

82 Dieser Gedanke liegt auch dem vom Arbeitskreis deutscher und schwei-zerischer Strafrechtslehrer herausgegebenen Alternativ-Entwurf Novellezur Strafprozeßordnung. Strafverfahren mit nichtöffentlicher Hauptver-handlung, 1980, zu Grunde. Er entspricht ferner dem kriminalpolitischenAnliegen, das Naucke im Rahmen seines Gutachtens für den 51. Deut-schen Juristentag verfolgt hat (Anm. 4).

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5. Schadensausgleich und Wiedergutmachung

Ziel der Justiz muß es sein, „alle auf Grund eines Rechtsver-stoßes notwendigen Maßnahmen, seien sie nun straf-, polizei- odergar zivilrechtlicher Natur, möglichst in einem einheitlichen koor-dinierten Wiedergutmachungs- und Sanktionsrecht zur Erledigungzu bringen"83. Diese Forderung Esers nach übergreifenden Lösun-gen führt die Problematik der Rechtsstellung des Verletzten wohlauf den Kern zurück. Nur: Maßnahmen zur Verfahrensvereinfa-chung und eine „opferfreundliche" Ausgestaltung des Sanktions-katalogs könnten die Liquidität des Täters nicht garantieren. Inso-fern genießt die Weiterentwicklung staatlich finanzierter Opferent-schädigungsprogramme Priorität84, muß das Bemühen des Straf-vollzuges verstärkt darauf ausgerichtet sein, Wiedergutmachungs-und Entschuldungsprogramme zu fördern85. Das Anliegen, denKonfiiktfall uno actu und möglichst frühzeitig zu lösen, gehörtgleichwohl zu den vornehmsten Pflichten des Staates gegenüberdem Verletzten.

Nirgendwo jedoch dürfte die Kluft zwischen wohlmeinenderAbsicht und der Realität größer sein. Dies gilt namentlich für denAdhäsionsprozeß, dessen Vorzüge der Praxis unter Hinweis aufpositive Erfahrungen im Ausland immer wieder mit Engelszungenangepriesen worden sind86. Remedur kann hier noch am ehestendadurch geschaffen werden, daß die StPO das „Alles oder Nichts"-Prinzip aufgibt und eine Entscheidung dem Grunde nach oder eine

83 Eser (Anm. 70), S. 51.84 Das Opferentschädigungsgesetz aus dem Jahre 1976 ist durchaus noch

verbesserungsfähig. Konkrete Vorschläge bei Jung, Entschädigung desOpfers, in: KirchhofflSessar (Hrsg.), Das Verbrechensopfer, 1979, S. 379,391 ff.

85 Beispielhaft Einziger!Salgo, Die Schuldenregulierung Strafentlassener,ZfStrVO 1978, 128. Im Strafvollzugsgesetz ist dieser Gesichtspunkt nichthinreichend zum Ausdruck gekommen. Vgl. demgegenüber JunglMüller-Dietz (Hrsg.), Vorschläge zum Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes,2. Aufl. 1974, S. 104, sowie die sehr weitreichenden Vorstellungen desvon einem Arbeitskreis deutscher und schweizerischer Strafrechtslehrervorgelegten Alternativ-Entwurfs eines Strafvollzugsgesetzes, 1973, S. 156bis 161.

86 Grundlegend immer noch die rechtsvergleichend angelegte Arbeit vonSchönke, Beiträge zur Lehre vom Adhäsionsprozeß, 1935. Vgl. zuraction civile des französischen Rechts die positive Gesamteinschätzungvon Grebing (Anm. 5); zum Adhäsionsverfahren im bernischen Strafver-fahren Falb (Anm. 5), S. 347.

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solche über abschichtbare Teilbeträge zuläßt87. In jedem Fall mußdie Möglichkeit des Gerichts, nach § 405 StPO von einer Entschei-dung absehen zu können, eingeschränkt werden88.

Sicher kommt es nicht von ungefähr, daß derartige Anschluß-verfahren überall dort zu florieren scheinen, wo — wie etwa inder Schweiz und Frankreich — die institutionellen Barrieren zwi-schen der Straf Justiz und der Ziviljustiz nicht so hoch sind wie beiuns. Die Zurückhaltung gegenüber Wiedergutmachungsauflagendürfte einer ähnlichen Berührungsangst des Strafrichters vor demZivilrecht entspringen. Ein reaktiviertes Adhäsionsverfahrenmacht Wiedergutmachungsauflagen nicht überflüssig. Zwar be-schränkt sich die Wiedergutmachungsverpflichtung, dort wo sieper Auflage gefordert werden kann, auf den zivilrechtlich ohnehingegen den Täter bestehenden Anspruch89. Dennoch kommt derar-tigen Auflagen durch den strafrechtlichen Zwang, der mit ihnenverbunden ist, eine eigenständige Funktion zu. Zuletzt ist vonSessar gefordert worden, die „Wiedergutmachung als selbständigeinformelle oder formelle Sanktion einzuführen, also ein Systemzu schaffen, in dem der Strafanspruch des Staates hinter dem ma-teriellen Ausgleichsanspruch des Opfers zurücktritt bzw. sich inihm erschöpft"90. Das Bestreben, der Wiedergutmachung dadurchmehr Gewicht zu verleihen, ist im Ansatz zu begrüßen, auch wennoder gerade weil die Grenzen zwischen Strafe, Privatstrafe undSchadensersatz sich damit endgültig verwischen. Denkt man diese

87 In Frankreich z. B. ist dies zulässig; vgl. Grebing (Anm. 5), S. 347.88 In diesem Sinne will Jescheck, Die Entschädigung des Verletzten nach

deutschem Strafrecht, JZ 1958, 591, 595, „Verzögerung" als Grund für dasAbsehen von der Entscheidung nur noch zulassen, wenn es sich um einewesentliche Verzögerung handelt.

89 Dies ist freilich nicht unumstritten. Neuerdings hat sich Frehsee, Wie-dergutmachungsauflage und Zivilrecht, NJW 1981, 1253, kritisch mit derAuffassung auseinandergesetzt, wonach Wiedergutmachungsauflage undzivilrechtlicher Anspruch allemal zur Deckung zu bringen seien; diffe-renzierend auch Schall, Bedeutung der zivilrechtlichen Verjährungs-einrede bei Anordnung der Wiedergutmachungsauflage, NJW 1977, 1045,der Abweichungen zulassen will, „soweit sie sanktionsspezifisch bedingtsind und nicht über die zwingenden zivilrechtlichen Vorschriften hinaus-gehen" (a. a. O., S. 1046). Auf der Grundlage der hier vertretenen Auf-fassung ist jedoch für solche Differenzierungen kein Raum. Geradewenn man — wie hier — den Verbund strafrechtlicher und zivilrecht-licher Reaktionen zur Regelung des Konflikts betont, muß man diezivilrechtliche Ausgangslage berücksichtigen.

90 Sessar (Anm. 2), S. 336.

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Forderung aber zu Ende, so wird deutlich, daß einer selbständigenSanktion „Wiedergutmachung" Grenzen gesetzt sind. Hält mannämlich an der Notwendigkeit eines strafrechtlichen Druckmittelsfest, so steht als solches einstweilen nur die (Ersatz-)Freiheitsstrafezur Verfügung. Würde man sich statt dessen mit den im Zivilrechtverfügbaren Vollstreckungsmitteln begnügen, würde die Wieder-gutmachungsauflage ihre gegenüber dem Adhäsionsverfahreneigenständige Bedeutung weitgehend einbüßen, und der Straf-prozeß wäre zum Schadensersatzprozeß umfunktioniert, eine Vor-stellung, der man aber durchaus auch positive Seiten abgewinnenkann.

Eser hat darüber hinaus angeregt, die öffentlich-rechtlicheStrafe über das Institut der Einziehung zur Wiedergutmachungnutzbar zu machen91. Dahinter steht das allgemeinere Problem, daßder Staat ständig als Konkurrent des Verletzten beim Zugriff aufdas Vermögen des Verurteilten auftritt. Eine entsprechende Ände-rung des Einziehungsrechts in dem Sinne, daß eine bevorzugteBefriedigungsmöglichkeit für den Verletzten geschaffen wird,könnte sich an Art. 60 des schweizerischen StGB anlehnen. DieseBestimmung ermächtigt den Richter dazu, dem Verletzten den Ver-wertungserlös zuzuerkennen, ja Abs. 2 sieht sogar vor, daß demVerletzten die vom Verurteilten bezahlte Buße zuerkannt werdenkann92.

6. Die Gewährleistung des Schutzes für den VerletztenDer Verletzte als Zeuge bietet viele Angriffsflächen. Peinlich-

keit, physische Bedrohung, psychische Belastung markieren diewichtigsten Einschnitte auf der Skala der Belastungsproben.

91 Im einzelnen Eser, Die strafrechtlichen Sanktionen gegen das Eigentum,1969, S. 116 ff.

92 Dieser Weg verdient den Vorzug vor der verbreiteten nordamerikani-schen Praxis, die Verhängung der Geldstrafe zu verbieten, wenn dieZahlungsverpflichtung gegenüber der Staatskasse den Täter an derWiedergutmachung des Schadens hindern würde; dazu Weigend, Ent-wicklungen und Tendenzen der Kriminalpolitik in den USA, ZStW 90(1978) S. 1083, 1126; Kaiser (Anm. 29), S. 304. Eine solche restriktive Ein-stellung zur Geldstrafe begünstigt nämlich, wie das Beispiel der USAzeigt, die Rückkehr zur kurzfristigen Freiheitsstrafe. Demgegenüberwürde eine Regelung nach dem Vorbild des Art. 60 Abs. 2 schweize-risches Strafgesetzbuch die Position der Geldstrafe als einer, wenn nichtgar der Alternative zur Freiheitsstrafe nicht gefährden.

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Während Bedrohungen existentieller Art für den Verletztenals Zeugen eher die Ausnahme darstellen dürften, sind Eingriffein die Intimsphäre verbunden mit der Gefahr einer dauerhaftenpsychischen Schädigung durch die Vernehmung in bestimmtenProzessen — man denke nur an die Sexualdelikte — fast an derTagesordnung. A priori geht es dabei um Form und Stil der Ver-nehmung überhaupt, ja noch allgemeiner, um den Kommunika-tionsstil im Gerichtssaal9^. Abhilfe läßt sich hier — auch im Hin-blick auf die besonders heikle Situation der Vernehmung jugend-licher Zeugen — noch am ehesten dadurch erreichen, daß die aus-sagepsychologische Sensibilität der Träger des Verfahrens erhöhtund der zeremonielle Charakter des Verfahrens reduziert wird.Vielfach wäre den Zeugen aber schon geholfen, wenn die gesetz-lichen Vorschriften über die Zeugenvernehmung — wie etwa§§ 68 a94, 241 a StPO — eingehalten würden. Speziell die Regelungdes § 241 a StPO, die die Befragung des kindlichen Zeugen nurdem Vorsitzenden zuweist, wird oft betriebspsychologischer Rück-sichtnahme gegenüber Staatsanwaltschaft und Verteidigung ge-opfert.

Über diese „normalen" Beeinträchtigungen hinaus ergeben sichimmer wieder spezielle Konfliktsituationen, wenn es um den Kernder Persönlichkeitssphäre des Zeugen geht. Das Arsenal der ver-fügbaren Schutzmechanismen kann sich durchaus sehen lassenund reicht vom Ausschluß der Öffentlichkeit nach § 172 Nr. 2 u. 4GVG über das Abtretenlassen des Angeklagten nach § 247 StPObis hin zur Gewährung eines persönlichen Zeugnisverweigerungs-rechts aus Art. l und Art. 2 GG. Bekanntlich hat das Bundesver-fassungsgericht ein solches Zeugnisverweigerungsrecht anerkannt,wenn die Vernehmung wegen der Eigenart des Beweisthemas inden grundrechtlich geschützten Bereich der privaten Lebensge-staltung des einzelnen, insbesondere seine Intimsphäre, eingreifenwürde95. Alternativ käme in Betracht, nach dem Vorbild der skan-

93 Dazu am Beispiel jugendrichterlicher Verhandlungen Jung, Die jugend-richterlichen Entscheidungen — Anspruch und Wirklichkeit, ZPR 1981,36, 41 m. w. Nachw.

" Vgl. Dähn, Der Schutz des Zeugen im Strafprozeß vor bloßstellendenFragen, JR 1979, 138. Sein Vorschlag, § 68 a StPO durch die Umschrei-bung „Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich" mit § 172 Nr. 2GVG zu synchronisieren, verdient Zustimmung.

95 BVerfGE 33, 367; dazu Kühne, Zeugnisverweigerungsrecht im Straf-prozeß —- neue Wege für die Anwendung von Grundrechten?, BVerfGE33, 367, JuS 1973, 685; Jung, Zeugnisverweigerungsrecht und Wahrheits-

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dinavischen Staaten, das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55StPO auf diskriminierende Fragen auszuweiten96. Der vom Bun-desverfassungsgericht eingeschlagene Weg verdient jedoch den Vor-zug, weil die Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung beieiner schematischen Ausweitung nicht hinreichend berücksichtigtwürden.

Darüber hinaus muß der gefährdete Zeuge aber auch Gelegen-heit erhalten, sich bei seiner Aussage anwaltlich beraten zu las-sen. Für den Verletzten gilt dies ohnehin, wenn er als Beteiligterauftritt. Das Bundesverfassungsgericht hat darüber hinaus demZeugen unter gewissen Voraussetzungen die Hinzuziehung einesRechtsbeistandes, des Zeugenanwalts, gestattet97. Einzelheiten, na-mentlich die Frage, nach welchen Kriterien die Zulassung erfol-gen soll, hat die Entscheidung freilich offengelassen. Die abstrakteFeststellung, wann ein Zeuge derart gefährdet ist, daß er zu sei-nem Schutz eines Beistandes bedarf, fällt in der Tat schwer98. DasGesetz sollte dem Richter gleichwohl zumindest Richtwerte vor-geben. Es könnte dabei an schon gesetzlich vertypte Konfliktlagenanknüpfen. Neben dem Verletzten, der sich schon als Beteiligteranwaltlich vertreten lassen kann, sollte ein Zeugenanwalt danachregelmäßig in den Fällen des § 55 StPO und § 172 Nr. 2 GVG zu-gelassen werden.

VI. SchlußbetrachtungDie Opfersituation gehört zu den bevorzugten Motiven des

spanischen Malers Goya99. Vor allem seine allegorische Darstellungmit dem Titel „Unauflösbare Bande" macht das schier unlösbareBeziehungsgef üge zwischen Täter und Opfer deutlich100. Straf recht

findung — zugleich eine Nachlese zu BVerfGE 33, 367, MschrKrim 1974,258.

86 Näheres bei Jescheck, Beweisverbote im Strafprozeß, Rechtsvergleichen-des Generalgutachten für den 46. Deutschen Juristentag, Verh. des 46.DJT, Bd. l (Gutachten), Teil 3 B, 1966, S. 25.

91 BVerfGE 38, 105.98 Einen ersten Versuch der Systematisierung unternimmt Hammerstein,

Der Anwalt als Beistand „gefährdeter" Zeugen, NStZ 1981, 125.99 Vgl. Hofmann, Traum, Wahnsinn und Vernunft. Zehn Einblicke in

Goyas Welt, in: Goya. Das Zeitalter der Revolution 1789—1830, Ham-burger Kunsthalle, 1980, S. 50, 52 ff.

100 Vgl. Goya (Anm. 99), S. 165.

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und Strafverfahren sind nicht darauf angelegt, dieses Beziehungs-gefüge behutsam zu entwirren, sondern am Ende müssen klareZuschreibungen stehen. Verurteilung und Freispruch erlaubenkeine Zwischentöne.

Den speziellen Erwartungen des Verletzten wird im und mitdem Strafverfahren nur zum Teil entsprochen. Wer versteht schon,daß seine Schilderung des Geschehens nicht a priori vom Gerichtakzeptiert wird? Wer versteht schon, daß er am Ende so oder somit leeren Händen dastehen wird? Wer versteht schon, daß die Er-innerung immer wieder aufgerührt werden muß? Wer verstehtschon, daß ihm die Justiz oft mit der gleichen Berührungsangstentgegentritt wie dem Beschuldigten?

Freilich: öffentliche Strafe bedeutet Reaktion auf soziale,nicht auf individuelle Erschütterung. Andererseits läßt sich eineMediatisierung des Konflikts nur ertragen, wenn die Klärungnicht an dem konkret Betroffenen vorbeiläuft.

An „Verfahrensästen" für den Verletzten herrscht an sich keinMangel. Nur müssen die verdorrten Äste ausgeputzt werden, da-mit die entwicklungsfähigen Triebe sich besser entfalten können.

Der Effizienz gesetzlicher Korrekturen und prozessualer Hil-fen sind freilich Grenzen gesetzt, zumal das Maß der Handlungs-kompetenz und Schutzbedürftigkeit von Verletztem zu Verletztemdifferiert. In diesem Punkt sitzen Verletzter und Beschuldigtersowieso in einem Boot: Beide sind dem gerichtlichen Zeremoniellausgeliefert, beide sind die Laienschauspieler in einem Stück, dasansonsten — von den Schöffen einmal abgesehen — nur mit Be-rufsschauspielern besetzt ist. Beide würden daher von einem Zu-gewinn an Humanität im Verfahren gleichermaßen profitieren.

Auch wenn die Stellung des Beschuldigten und des Verletztenalso durchaus Gemeinsamkeiten aufweist, auch wenn die psychi-schen Auswirkungen des Verfahrens einander ähneln mögen: DerUrteilsspruch wirft seine trennenden Schatten voraus. Von dahererklärt und legitimiert sich das bevorzugte Interesse an der Stel-lung des Beschuldigten im Verfahren. Jedoch kann der Verletztebeanspruchen, daß das System der Strafrechtspflege sich zu ihmals Beteiligtem bekennt und ihn nicht als Objekt bevormundet.

Die Stellung des Verletzten im Strafverfahren läßt sich imübrigen nicht losgelöst betrachten von der Rolle des Verletzten im

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Strafrecht. Hier weist der Grundgedanke der Wiedergutmachungden Weg des Ausgleichs, der selbst das Konzept der Resozialisie-rung nicht verdrängt, sondern bereichert101.

Es gehört zu den schon fast „klassischen" kriminalpolitischen Fehlinter-pretationen, daß die Belange des Opfers immer in Verbindung mit „lawand order"-Konzepten gesehen werden. Der französische Gesetzgeberhat mit dem Gesetz „Security et Liberte" vom 2. Februar 1981 unlängstwieder ein Anwendungsbeispiel hierfür geliefert. Vgl. zu dem prozeß-rechtlichen Teil dieses Gesetzes Pradel, La loi du 2 fevrier 1981 dite„Securite et Libert£" et ses dispositions de procedure penale (D. 1981, 85),Receuil Dalloz Sirey, 1981, 14e Cahier, 101.

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