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Die Relativitätstheorie Einsteins || Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

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Page 1: Die Relativitätstheorie Einsteins || Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

VIII. Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

Seit BORN das vorliegende Buch 1964 zum letzten Mal überarbeitete, haben die Physiker sowohl im theoretischen Verständnis der Relati­vitätstheorie wie auch in ihrer experimentellen Überprüfung wesentliche Fortschritte erzielt. Die wichtigsten neuen Ergebnisse wollen wir in die­sem Ergänzungskapitel vorstellen: Im ersten Abschnitt geben wir einen Überblick über neuere Experimente zur speziellen und zur allgemeinen Relativitätstheorie, anschließend behandeln wir das Phänomen der Gravi­tationswellen und wenden uns dann den sogenannten Schwarzen Löchern zu. Danach folgt ein Überblick über die neuere Kosmologie und als letz­tes eine Schilderung der Bemühungen, die allgemeine Relativitätstheorie mit der Quantentheorie zu verbinden.

1. N euere Experimente zur speziellen und zur allgemeinen Relativitätstheorie

Die Fortschritte in der experimentellen Überprüfung der speziellen wie der allgemeinen Relativitätstheorie spiegeln bis zu einem gewissen Gra­de die Fortschritte der Experimentalphysik insgesamt wider - etwa den Einsatz von Lasern als Lichtquellen für einfarbiges Licht (Licht mit ge­nau bestimmter, einheitlicher Wellenlänge) und die zunehmende Genau­igkeit der Meßtechniken, beispielsweise der Zeitmessung mit Hilfe hoch­präziser Atomuhren.

Wir können hier nur eine repräsentative Auswahl aus der Vielzahl neuerer Experimente behandeln, die direkten oder indirekten Aufschluß über die Gültigkeit von EINSTEINS Theorien geben und wollen dabei nicht chronologisch, sondern systematisch vorgehen und uns zunächst mit der speziellen Relativitätstheorie beschäftigen.

Von grundlegender Bedeutung für die spezielle Relativitätstheorie ist die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen. Zu diesen Wellen gehören

M. Born. Die Relativitätstheorie Einsteins, DOI 10.1007/978-3-642-55459-9_9,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2003

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neben dem sichtbaren Licht noch eine Reihe weiterer Strahlungen, von der Radiostrahlung oder der Wärmestrahlung bis zur Röntgenstrahlung; wir werden den Begriff "Licht" im folgenden bisweilen als Sammel­begriff für all diese verschiedenen Arten elektromagnetischer Strahlung verwenden. Die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen ist Gegenstand einer Vielzahl von Experimenten, insbesondere, weil diese Wellen ei­ne so große Rolle in der Nachrichtentechnik spielen - zu den elektro­magnetischen Wellen gehören sowohl die Radiowellen, mit deren Hilfe Radio- und Fernsehprogramme übertragen werden als auch die mit Hil­fe von Glasfasern übertragenen Lichtsignale, deren Bedeutung für die Datenübertragung stetig zunimmt. Alle Ergebnisse solcher Experimente sind in Übereinstimmung mit der Maxwellsehen Theorie (Kap. V), ihrer Verallgemeinerung auf Gravitationsfelder mit Hilfe des Äquivalenzprin­zips2 oder, wenn die betreffenden Experimente in den Bereich der Quan­tentheorie fallen, mit der Quantenversion der Maxwellsehen Theorie, der Quantenelektrodynamik (VIII, 5, S. 442ff.).

Nach beiden Relativitätstheorien sowie nach der Lorentzsehen Äther­theorie hängt die Lichtgeschwindigkeit nicht davon ab, wie schnell sich die Lichtquelle bewegt. Von den vielen Experimenten, die diese Behaup­tung untersucht haben, sollen hier drei beschrieben werden.

Das erste Experiment wurde am europäischen Kernforschungszen­trum CERN in Genf durchgeführt und verwendet extrem schnelle Ele­mentarteilchen. Es ist schematisch in Abb. 144 dargestellt.

Das CERN verfügt über einen Ringbeschleuniger, ein sogenann­tes Protonensynchrotron, in dem Protonen, die auf einer Kreisbahn mit 200 Meter Durchmesser umlaufen, auf nahezu Lichtgeschwindigkeit be­schleunigt werden können. Ein kleiner Ausschnitt der Kreisbahn ist links oben in Abb. 144 zu sehen.

Wie die Protonen beschleunigt und auf der Kreisbahn gehalten wer­den, soll uns hier nicht interessieren; wichtig ist für uns allein der Um­stand, daß die Protonen, die auf der Kreisbahn laufen, in Gruppen zu­sammengefaßt sind, und daß der Abstand zwischen einer Gruppe und der nächsten mit ho her Genauigkeit konstant ist. An einer beliebigen Stelle des Rings fliegen diese Gruppen nacheinander vorbei, und die Zeit M, die zwischen dem Vorbeiflug aufeinanderfolgender Gruppen vergeht, ist immer dieselbe. Wir können uns vorstellen, daß im Beschleunigerring

2 Diese Verallgemeinerung wird in diesem Buch nur stillschweigend herange­zogen, nämlich wenn Lichtstrahlen mit geodätischen Linien (mit 8 2 = 0) identifiziert werden (VII, 8, S. 291 und VII, 11).

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Neuere Experimente zur Relativitätstheorie

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Abbildung 144. Messung der Lichtgeschwindigkeit mit Hilfe von schnell beweg­ten, "strahlenden" wO -Mesonen

ein "Vorbeiflugdetektor" V angebracht ist, der jedesmal, wenn eine Pro­tonengruppe vorbeifliegt, ein Signal aussendet, das wir das Vorbeiflugsi­gnal nennen wollen. Das Vorbeiflugsignal ist offenbar periodisch mit der Periode M, da jeweils nach diesem Zeitintervall eine neue Protonengrup­pe den Vorbeiflugdetektor passiert.

Nun wird an einer Stelle des Rings ein Hindernis H in den Proto­nenstrahl eingebracht. Die Wahrscheinlichkeit, daß eines der Protonen auf einen Atomkern des Hindernisses stößt, ist gering, und die aller­meisten Protonen einer Gruppe werden unbeeinflußt durch das Hinder­nis hindurchfliegen. Einige Protonen werden jedoch mit den Atomen des Hindernisses wechselwirken; dabei entstehen unter anderem sogenann­te 11'°-Mesonen, instabile Elementarteilchen, die nach extrem kurzer Zeit zerfallen, wobei zwei Lichtquanten (Photonen) entstehen.

Die Mesonen (und, später, die bei ihrem Zerfall entstandenen Licht­quanten) fliegen tangential zum Kreis weiter, die unbeteiligten Proto­nen dagegen folgen der Krümmung der Kreisbahn und begeben sich auf einen weiteren Umlauf. Zum Zeitpunkt ihres Zerfalls bewegen sich die Mesonen mit einer Geschwindigkeit, die mehr als 99,9% der Lichtge­schwindigkeit beträgt; die beim Zerfall entstehenden Photonen, die den Impuls der Mesonen weitertragen, fliegen in Bewegungsrichtung der ur­sprünglichen Teilchen weiter. Wir haben es somit mit Lichtaussendung von einer sehr schnell bewegten "Lichtquelle" zu tun.

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Die Photonen werden in einem Detektor D nachgewiesen, der sich zunächst in der Position D1 befindet. Das Signal, daß die ankommenden Photonen an diesem Detektor erzeugen, wollen wir das Nachweissignal nennen. Es ist ebenfalls periodisch mit der Periode M: Jeweils nach der Zeit M erreicht eine neue Gruppe Protonen das Hindernis, erzeugt n O_

Mesonen und dadurch Photonen, die den Detektor erreichen. Die Zeit, die vom Erreichen des Hindernisses bis zum Nachweis im Detektor ver­geht, ist dabei für jede der aufeinanderfolgenden Gruppen dieselbe - die entsprechenden nO-Mesonen und Photonen werden unter exakt den glei­chen Bedingungen erzeugt, bewegen sich insbesondere mit derselben Ge­schwindigkeit in dieselbe Richtung und benötigen daher dieselbe Zeit, um vom Hindernis zum Detektor zu gelangen.

Wir wollen nun eine bestimmte Protonengruppe betrachten und mes­sen, wieviel Zeit zwischen der Erzeugung des Vorbeiflugsignals und der Erzeugung des Nachweissignals vergeht.

Da dies ein Vergleich der Zeitpunkte von Ereignissen ist, die nicht am selben Ort stattfinden, benötigen wir einen Gleichzeitigkeitsbegriff. Wir wählen das Einsteinsche Synchronisierungsverfahren (VI, 1, S. 197f.) und begeben uns an einen Ort N, der vom Vorbeiflugdetektor und vom Detektor D gleich weit entfernt ist (der Leser möge Nachsicht haben, daß dies in der skizzenhaften Abb. 144 nicht der Fall ist). Das Vorbeiflugsi­gnal und das Nachweissignal mögen mit Hilfe von Licht an den Ort N übermittelt werden; treffen die entsprechenden Lichtsignale - in der Ab­bildung als Linien mit weißen Richtungspfeilen eingezeichnet - gleich­zeitig am Ort N ein, dann sind sie nach der Einsteinschen Definition auch gleichzeitig erzeugt worden.

Nimmt man Messungen dieser Art vor, dann stellt sich wie erwartet heraus, daß das Vorbeiflugsignal eine feste Zeit t f vor dem Nachweissi­gnal erzeugt wird: Nachdem eine Protonengruppe den Vorbeiflugdetektor passiert hat, fliegen die Protonen eine Weile weiter, anschließend treffen die Protonen auf das Hindernis. Dabei werden die nO-Mesonen erzeugt, die Mesonen zerfallen in Lichtteilchen, und anschließend muß das Licht noch die Strecke zum Detektor überwinden, bevor es nachgewiesen wird. Die Zeit t f, in der all diese Vorgänge stattfinden, ist für alle Protonen­gruppen dieselbe.

Nun wird der Detektor an einen anderen Ort D 2 bewegt, der um die Strecke d weiter vom Hindernis H entfernt ist als der ursprüngliche Ort D 1 . Wieder kann man Vorbeiflugsignal und Nachweissignal vergleichen, und wieder ergibt sich eine Verzögerung zwischen Vorbeiflug und Nach­weis im Detektor D, die wir tj nennen wollen. Diese Verzögerung ist et-

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was größer als t f' denn nunmehr hat das Licht das Strecken stück d mehr zurückzulegen, bevor es den Detektor D erreicht. Teilt man d durch den Verzögerungsunterschied tj - t f, erhält man die Geschwindigkeit des

Lichtes3.

Wir können nun einen Ansatz machen, der offen läßt, ob die Ge­schwindigkeit des Lichts vom Bewegungszustand der Lichtquelle ab­hängt oder nicht. Nennen wir die Geschwindigkeit der Lichtquelle (der nO-Mesonen) v und die gemessene Geschwindigkeit der ausgesandten Photonen c' . Unser Ansatz ist

C' = c+ kv,

wobei c die Lichtgeschwindigkeit für ruhende Quellen ist. Dabei stellt k so etwas wie einen Mitnahmefaktor dar, der den Einfluß der Quellenge­schwindigkeit auf die Lichtgeschwindigkeit angibt.

Nach der Relativitätstheorie ist die Lichtgeschwindigkeit von der Be­wegung der Quelle vollkommen unabhängig, c' = c, entsprechend einem Wert k = O.

Wäre stattdessen die "ballistische Hypothese" richtig, nach der sich Licht relativ zur Quelle mit der Geschwindigkeit c bewegt und wäre die alte Kinematik gültig, nach der sich die Geschwindigkeit der Quelle und die des Lichtes relativ zur Quelle direkt aufsummieren (vgl. die erste Gleichung auf S. 228), so müßte gelten k = 1.

Das Experiment ergab Ikl :S 1, 3.10-4 (ALV ÄGER et al. 1966). Die­ses Ergebnis steht in bester Übereinstimmung mit der Relativitätstheorie, aber im Widerspruch zur ballistischen Annahme4•

3 In der vorangehenden Beschreibung des Experiments haben wir die Verhält­nisse um einer besseren Verständlichkeit willen in zwei wichtigen Punkten vereinfacht.

Zum einen wird das Signal des" Vorbeifiugdetektors" in Wirklichkeit nicht durch Beobachtung der Protonengruppen gemessen, sondern in jenem Teil der Anlage, der die Teilchen beschleunigt und ihnen dabei den charakteristischen Zeitabstand <St aufprägt. Zum anderen findet der Vergleich mit dem Detektor D nicht über frei laufende Lichtsignale statt, sondern über elektronische Si­gnale, die durch Kabel laufen; die Laufstrecken sind dabei nicht genau gleich lang, so daß ein konstanter Laufzeitunterschied eingeht.

Im Endeffekt wird die absolute Verzögerung zwischen den beiden Signa­len nur bis auf eine konstante Zeitspanne gemessen, die von der Position des Detektors unabhängig ist und die Größe von tj - t f daher nicht beeinfiußt.

4 Leser, die nicht mit der Zehnerpotenz-Schreibweise 10-4 vertraut sind, finden im Anhang Einheiten und Dimensionen auf S. 471 eine kurze Erläuterung.

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In der vorangegangenen Beschreibung war von Lichtquanten die Re­de; das folgende - etwas ältere und weniger gen aue - Experiment zeigt, daß Anordnungen, in denen die quantenhafte Struktur des Lichts keine Rolle spielt, dasselbe Ergebnis der Quellenunabhängigkeit der Lichtge­schwindigkeit liefern.

Q

D

Abbildung 145. Messung der Mitführung des Lichts durch Glasplatten, die auf einer sich drehenden Scheibe angebracht sind

Der Versuchsaufbau (BABCOCK et al. 1964) ist in Abb. 145 skizziert; als bewegte Lichtquellen dienen dünne Glasplatten auf einer rotierenden Scheibe.

Wir haben es mit einem Michelson-Interferometer zu tun, wie wir ihm im Laufe des Buches schon mehrmals begegnet sind: Das von einer Quelle Q ausgesandte Licht fällt auf einen halbdurchlässigen Spiegel H. Ein Teil des Strahls (weiße Pfeilköpfe) läuft geradeaus weiter und über die Spiegel 8 1, 8 2, 8 3 und durch H hindurch in den Detektor D; ein weiterer Teil (schwarze Pfeilköpfe) wird in H reflektiert und durchläuft denselben Parcours in umgekehrter Richtung. (Jener Teil des Lichtes, der, von 8 1 beziehungsweise 8 3 kommend, zur Quelle zurückläpft, ist für uns uninteressant. )

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Die (schattiert dargestellte) Drehscheibe mit den darauf montierten Glasplatten GI und G2 wird nun in Drehung versetzt. Dadurch wird das Licht, je nach Stellung der Scheibe, entweder ungehindert von den Glas­platten weiterlaufen oder aber so durch die Glasplatten abgelenkt werden, daß es gar nicht erst im Detektor ankommt; uns interessiert nur die in der Abbildung dargestellte Phase, jene Stellung der Scheibe, bei der das Licht senkrecht zur Oberfläche durch die Glasplatten läuft.

Beim Durchgang von Licht durch Glas wird das Licht von den Ato­men des Glases absorbiert und wieder ausgesandt. Was auch immer der Bewegungszustand der ursprünglichen Lichtquelle gewesen sein mag -nachdem das Licht eine Glasplatte durchquert hat, müssen wir die Ato­me des Glases als die Lichtquelle betrachten, deren Bewegung auf die Geschwindigkeit des ausgesandten Lichts es zu untersuchen gilt.

Nun bewegen sich aber beide dieser bewegten Lichtquellen für den einen Teilstrahl entgegen seiner Ausbreitungsrichtung, für den anderen in seiner Ausbreitungsrichtung.

Wäre die Lichtgeschwindigkeit je nach Bewegung der Lichtquelle unterschiedlich, würde daher einer der beiden Teilstrahlen das Interfe­rometer insgesamt langsamer durchlaufen, der andere schneller. Dabei käme es zu einer interferometrischen Verschiebung zwischen den bei­den Teilstrahlen, analog jener, die wir bereits im Zusammenhang mit MICHELSONS Interferometerversuch kennengelernt haben (IV, 4, S. 87).

Kennt man die Geschwindigkeit v der Platten, so kann man wiederum auf eine Quellenabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit schließen. Wir verwenden wiederum den oben eingeführten Ansatz

C' = c+ kVj

dieses Experiment ergibt für den Mitnahmefaktor eine obere Grenze von Ikl :S 10-2•

Schließlich sei noch eine astronomische Messung erwähnt, welche die Quellenunabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit mit besonders gro­ßer Genauigkeit bestätigt.

Betrachten wir ein Doppelsternsystem, bestehend aus dem Stern S und einem Begleiter. Der Einfachheit halber wollen wir annehmen, die Masse von S sei sehr viel größer als die seines Begleiters, so daß wir S näherungsweise als ruhend ansehen können. Der Begleiter möge mit der konstanten Bahngeschwindigkeit v auf einer Kreisbahn um den Zen­tralstem laufen. Die Anordnung ist in Abb. 146 skizziert; betrachtet wird nun das von dem Begleiter ausgestrahlte Licht.

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OB

v

Abbildung 146. Quellenunabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit: Beobachtun­gen an einem Doppelsternsystem

In der Stellung PI bewegt sich die Lichtquelle mit der Geschwindig­keit v auf den Beobachter zu; am Punkt P2 der Bahn entfernt sie sich mit derselben Geschwindigkeit von dem Beobachter. Wir wollen wieder­um berücksichtigen, daß die Lichtgeschwindigkeit möglicherweise von der Quellengeschwindigkeit abhängt, sich das am Punkt PI ausgesandte Licht also mit der Geschwindigkeit c' = c + kv, das am Punkt P2 ausge­sandte Licht dagegen mit c" = c - kv relativ zum Beobachter bewegt.

Wäre k ungleich Null, so würde der Beobachter die Bewegung der Quelle sehr verzerrt wahrnehmen - die Information, daß sich die Quel­le in Position PI befindet, würde ihn früher erreichen als bei konstanter Lichtgeschwindigkeit; daß sich die Quelle bei P2 befindet, später; ins­gesamt entsteht der Eindruck, die Quelle bewege sich auf dem Bahnab­schnitt von P2 nach PI schneller als auf dem Bahnabschnitt von PI nach P2 . Unter Umständen könnte der Beobachter die Lichtquelle sogar an verschiedenen Stellen zugleich sehen.

In den Beobachtungen von Doppelsternsystemen ist dieser Effekt nicht nachweisbar. Bevor wir daraus allerdings wiederum auf k = 0, auf die Quellenunabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit schließen können, müssen wir eine Komplikation berücksichtigen. Ein Sternsystem wie das hier betrachtete ist in der Regel von einer Gas- und Staubwolke umge-

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ben. Wird das Licht des Begleiters von den Atomen des Gases absorbiert und wieder ausgesandt, bevor es uns erreicht, so müssen wir nunmehr diese Atome als Lichtquelle betrachten - genau so, wie wir im vorange­gangenen Drehscheibenversuch die Glasplatten als (bewegte) Lichtquelle betrachtet habens. Die Atome des Gases sind aber im Mittel relativ zu uns in Ruhe; wir könnten den Effekt der bewegten Sternen-Lichtquelle also gar nicht wahrnehmen, selbst, wenn die Lichtgeschwindigkeit von der Quellengeschwindigkeit abhinge.

Diesen Einwand hat man gegen Beobachtungen des Astronomen DE SITTER vorgebracht, der erstmals auf diese Möglichkeit zum Nachweis der Quellenunabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit hingewiesen hat­te. DE SITTERS Beobachtungen nutzten sichtbares Licht, das von be­stimmten Doppelsternsystemen ausgesandt wird; für diesen Fall kann man nachweisen, daß die Beeinflussung durch die umgebende Materie nach dem, was wir über die Wechselwirkung von Licht und Materie wis­sen, tatsächlich stark genug sein kann, um DE SITTERS Ergebnisse ihrer Aussagekraft zu berauben.

Für hochenergetisches Röntgenlicht dagegen läßt sich dieser Ein­wand entkräften, und die Beobachtung von Doppelsternsystemen, in de­nen der kleine Begleiter eine Röntgenquelle ist (BRECHER 1977), liefern die Schranke Ikl ::; 2.10-9 für den Mitführungskoeffizienten k.

Aufgrund dieser Ergebnisse werden wir im folgenden annehmen, daß die Lichtausbreitung im Vakuum unabhängig von der Geschwindigkeit der Quelle erfolgt. Ob die Lichtgeschwindigkeit in allen Inertialsystemen richtungsunabhängig ist und denselben Wert hat, ist damit noch nicht ge­zeigt. Darüber müssen andere Experimente Aufschluß geben, auf die wir im folgenden zu sprechen kommen.

Eines davon, das von MICHELSON und MORLEY durchgeführte In­terferometer-Experiment, haben wir oben bereits kennengelernt (V, 14, S. 185ff.). Es ergab, daß die Geschwindigkeit der Erde relativ zum Äther höchstens 3 km/s betragen könnte. Genauere optische Experimen­te ähnlicher Art haben diesen Höchstwert noch weiter herabgesetzt, so erhielt beispielsweise Joos 1931 als obere Geschwindigkeitsgrenze den Wert 1,5 km/so

5 Im Prinzip muß man diesen Effekt auch bei den vorangegangenen Experi­menten berücksichtigen, denn auch dort interagiert das Licht mit den Atomen der Luft. Für die dort beschriebenen Versuchsanordnungen kann man aller­dings berechnen, daß dieser Effekt im Rahmen der Meßgenauigkeit keine Rol­le spielt.

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Allerdings sagt das Michelson-Morley-Experirnentnoch nichts darü­ber aus, ob der Wert der Lichtgeschwindigkeit in verschiedenen zueinan­der bewegten Inertialsystemen derselbe ist. Hier schafft ein Experiment Abhilfe, das KENNEDY und THORNDIKE 1932 ausführten. Es handelt sich um eine Variante des Michelson-Morley-Versuchs, bei dem die Ar­me des Interferometers sehr verschieden lang gewählt wurden. Der Un­terschied zwischen den Lichtlaufzeiten in den beiden Interferometerar­men ist gleich dem Längenunterschied der Arme, geteilt durch die Licht­geschwindigkeit. Der Versuch wird über einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahr durchgeführt. In diesem Zeitraum hat die Erde mehr als die Hälfte ihrer Umlaufbahn durchlaufen. An jedem Punkt der Bahn läßt sich das irdische Laborsystem durch ein Inertialsystem annähern; um welches Inertialsystem es sich dabei handelt, ist allerdings von Bahn­punkt zu Bahnpunkt verschieden - ein für den heutigen Tag angemes­senes Inertialsystem bewegt sich relativ zu einem System, das wir vor einem halben Jahr wählen konnten, mit rund 60 Kilometern pro Sekun­de. Wäre die Lichtgeschwindigkeit von Inertialsystem zu Inertialsystem verschieden, so sollte sich auch der Laufzeitunterschied mit dem ste­tigen Wechsel der Erde von einem ins nächste Inertialsystem ändern, entsprechend einer Verschiebung des Interferenzmusters. Im Kennedy­Thorndike-Experimentzeigte sich keine solche Verschiebung- innerhalb der Meßgrenzen ist die Lichtgeschwindigkeit in allen Inertialsystemen dieselbe6 .

Ein Experiment, das mit noch größerer Genauigkeit gegen die Äther­hypothese spricht, hat den folgenden Versuchsaufbau aus dem Jahre 1960. Kernstück des Versuches sind Proben von Atomkernen, die die Eigenschaft haben, Strahlung in einem extrem engen Energiebereich zu emittieren und zu absorbieren. Wie in Abb. 147 dargestellt, werden zwei

6 Dem Kennedy-Thorndike-Experiment kommt in Verbindung mit den Ergeb­nissen von MICHELSON und MORLEY und den Messungen des transversa­len Dopplereffekts durch IVES und STILWELL, die auf S. 260 Erwähnung gefunden haben, eine besondere Bedeutung zu. Man kann ihre Ergebnisse verwenden, um die Lorentz-Transformationen phänomenologisch abzuleiten, auch ohne die Gültigkeit des Relativitätsprinzips bereits von vornherein an­zunehmen. Angenommen, wir betrachten zwei Bezugssysteme, die sich re­lativ zueinander gleichförmig bewegen. Aus den Ergebnissen der erwähnten drei Experimente in jedem der bei den Bezugssysteme läßt sich die Form der linearen Transformationen, die die Raum- und Zeitkoordinaten der Systeme miteinander verknüpfen, vollständig bestimmen (ROBERTSON 1949). Die auf diese Weise aus den tatsächlich durchgeführten Experimenten erschließbaren Transformationen sind gerade die Lorentz-Transformationen.

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Abbildung 147. Emissions-Absorptions-Versuch auf einer Drehscheibe

Proben auf eine Drehscheibe montiert; die Probe E, die die erwähnte Strahlung emittiert und die Probe A, die sie absorbieren soll.

Die Drehung der Scheibe bewirkt eine Bewegung von Sender und Empfänger relativ zum Labor beziehungsweise relativ zum Äther. Da­bei hat der Empfänger, der weiter außen auf der Scheibe montiert ist, eine höhere Geschwindigkeit als der Sender. Der Geschwindigkeitsun­terschied von Sender und Empfänger hat einen relativen Dopplereffekt zur Folge; die Energie eines vom Sender ausgesandten Photons ist für den Empfänger etwas verschoben, die Resonanz zwischen Emission und Absorption von energiereichen Photonen, die von Kernen des Senders zu solchen des Empfängers laufen, ist gestört.

Nach der nicht-relativistischen Kinematik hängt die Störung nicht nur von der Relativbewegung des Senders gegenüber der Quelle ab, sondern auch von der Geschwindigkeit des Systems relativ zum Äther, in dem sich die Photonen fortbewegen (IV, 8). Die Störung kann unter Ausnutzung des auf S. 310 beschriebenen Mößbauer-Effekts sehr genau gemessen werden.

Die Analyse solcher Experimente (z.B. CHAMPENEY et al. 1963) er­gibt für die Äthergeschwindigkeit eine Schranke von etwa 4 m/s. Da der Ätherwind nach der Lorentzschen Theorie mindestens 30 km/s betragen müßte, ist damit - und in Verbindung mit anderen fehlgeschlagenen op­tischen und elektrodynamischen Versuchen, die Geschwindigkeit der Er­de relativ zum Äther zu bestimmen - der Schluß unvermeidlich: einen

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Äther bzw. ein durch physikalische Gesetze und Messungen prütbar aus­gezeichnetes Bezugssystem gibt es nicht.

Damit ist hier nochmals die Gültigkeit einer der beiden Voraussetzun­gen gezeigt, auf die EINSTEIN 1905 seine spezielle Relativitätstheorie stützte - die Gültigkeit des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindig­keit (VI, 2, S. 200).

Das Relativitätsprinzip - die andere Grundvoraussetzung der speziel­len Relativitätstheorie - ist allgemeinerer Natur. Es bezieht sich auf alle­auch die noch zu entdeckenden - Naturgesetze und stellt somit ein ganzes Forschungsprogramm dar: Das Relativitätsprinzip postuliert eine Klas­se ausgezeichneter Bezugssysteme, die Inertialsysteme, zwischen denen sich experimentell kein Unterschied feststellen läßt. Welches Experiment auch immer ich in meinem Labor durchführe, das im Inertialsystem A ruht - ein Wissenschaftler, der in seinem Labor dasselbe Experiment durchführt, mit dem einzigen Unterschied, daß sein Labor sich in einem anderen Inertialsystem B befindet, wird zu denselben Versuchsergebnis­sen gelangen wie ich. Dies bedeutet, daß jedes physikalische Gesetz in jedem der Inertialsysteme dieselbe Form hat: Die Maxwellschen Glei­chungen (62), die Formel für die Dopplerverschiebung (96), die Gesetze der Impuls- und Energieerhaltung - sie alle sind in allen Inertialsystemen gleichermaßen gültig. So verschieden auch die Werte der physikalischen Größen sein mögen, mit denen Beobachter in unterschiedlichen Inertial­systemen ein und dieselbe Situation beschreiben - für einen Beobachter mag ein Teilchen ruhen, für einen anderen sich in konstanter Bewegung befinden; wo ein Beobachter nur ein elektrisches Feld mißt, stellt ein an­derer auch das Vorhanden sein eines magnetischen fest -, die physikali­schen Gesetze, die diese Größen verknüpfen, sind in jedem Inertialsystem dieselben. Ob ein physikalisches Gesetz diesem Postulat genügt, läßt sich - wir haben es am Beispiel der Maxwellschen Gleichungen gesehen -anband seiner mathematischen Formulierung feststellen. Die experimen­tellen Bestätigungen des Relativitätsprinzips ergeben sich somit indirekt daraus, daß die bislang bekannten grundlegenden physikalischen Gesetze (die ihrerseits vielfach experimentell geprüft worden sind) dem Prinzip genügen. Die einzige Einschränkung des Gültigkeitsbereich ist jene, die nach der allgemeinen Relativitätstheorie unvermeidlich ist: Im Falle in­homogener Gravitationsfelder gilt das Relativitätsprinzip nur, wenn man sich auf kleine Raumzeitbereiche beschränkt.

Aus den Grundvoraussetzungen leiten sich in der speziellen Re­lativitätstheorie eine Reihe weiterer Effekte ab, deren experimentelle Bestätigung im folgenden an einigen Beispielen besprochen werden soll.

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Zunächst zur Zeitdehnung: Die in Abschnitt VI, 10 erwähnten Mes­sungen von IVES und STILWELL, die Mößbauer-Rotor-Experimente und spätere Varianten haben die relativistische Voraussage [siehe (75) auf S. 215] bis auf eine relative Meßunsicherheit von wenigen Prozent be­stätigt (mit anderen Worten: die Größe der Meßunsicherheit beträgt nur wenige Prozent der Größe des Meßergebnisses).

Wie sich Messungen der Lebensdauer instabiler Teilchen zur Über­prüfung des Zeitdehnungseffektes nutzen lassen, ist bereits auf S. 224-225 erläutert worden. War es in den dort beschriebenen Experimenten noch die kosmische Höhenstrahlung, welche die mit hoher Geschwin­digkeit fliegenden Teilchen liefern mußte, deren Lebensdauer man dann mit der von langsameren Teilchen vergleichen konnte, lassen sich ent­sprechend schnelle Teilchen inzwischen mit Hilfe von Teilchenbeschleu­nigern direkt erzeugen. In diesen Maschinen werden elektrisch geladene Teilchen mit Hilfe elektrischer Felder beschleunigt. Der Ausgangspunkt sind dabei im allgemeinen herkömmliche Teilchen wie Elektronen oder Protonen; mit Hilfe von Teilchenreaktionen (wir haben ein entsprechen­des Experiment am CERN bereits erwähnt) lassen sich allerdings auch exotischere, kurzlebige Elementarteilchen erzeugen. Die kontrollierte Er­zeugung hat den Vorteil, daß sich die Bedingungen der Messung sehr ge­nau kontrollieren lassen; insbesondere ist es möglich, die Abhängigkeit der Lebensdauern der Teilchen von der Geschwindigkeit über einen vor­gegebenen Geschwindigkeitsbereich exakt zu bestimmen. Entsprechende Messungen ergaben, daß die geschwindigkeitsabhängigen Lebensdauern von instabilen 11'0_ und f-t-Mesonen mit einer Meßunsicherheit von nur einigen Promille mit den Voraussagen der speziellen Relativitätstheorie übereinstimmen (ALV ÄGER et al. 1964, AYRES et al. 1971, BAILEY et al. 1977).

Die Methoden der Laserphysik schließlich ermöglichen es, die zu bestimmten Quantenübergängen schnell fliegender Atome gehörenden Strahlungsfrequenzen mit den entsprechenden Frequenzen langsamer Atome zu vergleichen. So wurde die Meßunsicherheit sogar auf 2, 3 Tau­sendstel Promille herab gedrückt (MCGOVERN et al. 1993).

Die relativistische Abhängigkeit der Masse bewegter Teilchen von ihrer Geschwindigkeit [siehe (78), S. 235] wurde zuerst 1908 von Bu­CHERER nachgewiesen; spätere Messungen an Protonen und Elektronen konnten die Voraussagen der Theorie mit einer Meßunsicherheit von ei­nem Promille bestätigen (z.B. MEYER et al. 1963).

Die Geschwindigkeitsabhängigkeit der Masse spielt beim Betrieb von Teilchenbeschleunigern und Elektronenmikroskopen eine Rolle; diese

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338 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

und ähnliche Geräte würden nicht funktionieren, würde der Effekt nicht bei der Konstruktion berücksichtigt.

Mit diesen Experimenten zur speziellen Relativitätstheorie wollen wir es an dieser Stelle bewenden lassen, allerdings nicht, ohne darauf hinzuweisen, daß uns in einem späteren Kapitel noch weitere und äußerst genaue Experimente begegnen werden, die die Gültigkeit der Theorie be­legen. Es handelt sich um Experimente der Teilchenphysik, deren Grund­lage die Verbindung der speziellen Relativitätstheorie mit den Prinzipien der Quantentheorie ist und auf die wir im Abschnitt 5 noch näher einge­hen werden.

Nun zu empirischen Überprüfungen der Voraussetzungen und Vor­aussagen der allgemeinen Relativitätstheorie. Den beiden Säulen ent­sprechend, auf denen das Gebäude dieser Theorie ruht, geht es dabei zum einen um Experimente zum Äquivalenzprinzip und zum anderen um Experimente und astronomische Beobachtungen, mit denen sich die Gültigkeit der Gravitations-Feldgleichungen überprüfen läßt, welche die Geometrie der Raumzeit mit den Eigenschaften der darin enthaltenen Materie verknüpfen.

Nach dem Äquivalenzprinzip gilt auch in jedem Gravitationsfeld die spezielle Relativitätstheorie - allerdings nur im kleinen, nämlich für je­den Weltpunkt in einem lokalen Inertialsystem, das sich in seiner Umge­bung wählen läßt, und nur näherungsweise. Dabei sind die lokalen Iner­tialsysteme, die zu den Umgebungen verschiedener Weltpunkte gehören, im allgemeinen relativ zueinander beschleunigt und daher nicht Teile ei­nes einheitlichen großen Inertialsystems, wie wir es in der speziellen Re­lativitätstheorie annahmen.

Solche lokalen Inertialsysteme können wir auch auf der Erde einfüh­ren und dann durch Experimente bestimmen, wie sich irgendein kleines starres Bezugssystem B - etwa ein Laboratorium - relativ zu einem ge­gebenen lokalen Inertialsystem I bewegt. Im allgemeinen wird B dabei sowohl gegenüber I linear beschleunigt sein, als auch relativ zu I ei­ne Rotation ausführen; die lineare Beschleunigung 9 und ihre Richtung, sowie die (Winkel-)Geschwindigkeit w und die Drehachse der Rotation müßten experimentell nachweisbar sein.

Alle Experimente in einem kleinen Raumzeitbereich, die zur Bestim­mung von 9 und w dienen können, müssen dieselben Werte ergeben. Sonst würde die spezielle Relativitätstheorie im Bereich von B nicht gelten, denn dann gäbe es lokale Inertialsysteme, die entweder relativ zueinander beschleunigt wären oder sich relativ zueinander in Rotation befänden. Beides widerspricht den Lorentztransformationen.

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Neuere Experimente zur Relativitätstheorie 339

Die Größe g ist die in B meßbare Fallbeschleunigung eines freien, nur seiner Trägheit unterworfenen Teilchens. Solch ein Teilchen bewegt sich in einem Inertialsystem geradlinig und gleichförmig - falls es uns beschleunigt erscheint, dann weil wir uns in einem relativ zu den Iner­tialsystemen beschleunigten System befinden. Ruht B auf der Erdober­fläche, hat die Fallbeschleunigung den aus der Mechanik bekannten Wert g = 9,81 mls2 ; die Winkelgeschwindigkeit der Rotation eines solchen Systems ist maßgeblich durch die Erddrehung bestimmt und beträgt, da sich die Erde binnen 24 Stunden einmal um sich selbst (also um den Win­kel360° = 27r) dreht, W = 27r/(24 Stunden) ~ 7, 3·10-5/s. Sie kann in B zum einen durch Messung der Zentrifugalkraft bestimmt werden (vgl. III, 9, S. 67), zum anderen durch Messung der sogenannten Corioliskraft­jener Trägheitskraft, die man in einem erdfesten Bezugssystem einführen muß, um zu erklären, warum sich beispielsweise die Schwingungsebene eines Pendels in bestimmter Weise drehe.

Mit Hilfe von g und w können die erdfesten Koordinaten in B, die allgemeinen Gaußschen Koordinaten in der Raumzeit entsprechen, in die Minkowskischen Koordinaten eines lokal gravitationsfreien Bezugssy­stems I umgerechnet werden. Daraufhin kann man jeden Vorgang, des­sen Gesetze bezüglich eines Inertialsystems man kennt, durch Umrech­nen von I auf B in den Koordinaten von B ausdrücken und experimentell prüfen, ob das Ergebnis zutrifft.

Zur Vereinfachung der Rechnungen wird man oft ausnutzen, daß das Bezugssystem I, wie jedes Inertialsystem, nur bis auf Lorentztransfor­mationen bestimmt ist - statt eines Inertialsystems kann man ebenso gut ein anderes wählen, das relativ zum ersten System mit einer konstanten Geschwindigkeit bewegt ist. Insbesondere kann I so gewählt werden, daß es zu einem gegebenen Zeitpunkt relativ zu B ruht; dies erweist sich für viele Rechnungen als günstig.

Ein Beispiel möge dieses Verfahren illustrieren. In Abb. 148 stelle B ein erdfestes Labor dar, das wir uns vereinfacht als einen auf dem Erd­boden ruhenden Kasten vorstellen können, der im Abstand h eine Licht­quelle Q und einen Empfänger E enthält. Abb. 148a ist eine Momentauf­nahme zur Zeit to . In diesem Moment sendet die Lichtquelle ein Photon

7 BORN hat diesen Umstand bereits in früheren Kapiteln beschrieben - zum einen auf S. 47 in Abb. 32, wo er die Bahn eines kräftefreien Teilchens relativ zu einem rotierenden Bezugssystem konstruiert, zum anderen auf S. 70, wo er zeigt, wie sich die Ebene eines schwingenden Pendels relativ zur Erde dreht; er hat die betreffende Trägheitskraft, die beispielsweise für die Meteorologie von Bedeutung ist, allerdings nicht beim Namen genannt.

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340 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

Q Q

1- --1

1 1

11

B h

B 1

1 1 1

E' 1 ~J

+ I E

a b

Abbildung 148. Rotverschiebung im Gravitationsfeld: a) Aussendung des Lichts zur Zeit to, b) Ankunft des Lichts zur Zeit h

der Frequenz Vo (als Wellenlinie skizziert) in Richtung des Empfängers E aus. Abb. 148b ist eine Momentaufnahme zur Zeit tl; in diesem Mo­ment soll das Photon, nunmehr mit der Frequenz VI, beim Empfänger E ankommen. Da sich das Photon mit Lichtgeschwindigkeit bewegt und zwischen Sender und Empfänger die Strecke h zurücklegt, muß offenbar h = C(tl - to) gelten8.

Um VI zu berechnen, führen wir ein lokales Inertialsystem I ein, das sich im freien Fall befindet. Wir haben I mit durchbrochenen Linien ein­gezeichnet; das System sei so gewählt, daß es sich zum Zeitpunkt to re­lativ zu B in Ruhe befindet. Es enthält einen fiktiven Empfänger E', der

8 In einem allgemeinen Bezugssystem kann die "Geschwindigkeit", mit der ein Photon seine Raumkoordinaten gemessen an der Zeitkoordinate ändert, durch­aus von c verschieden sein; darauf werden wir auf S. 354 noch näher eingehen. In unserem irdischen System, in dem der Unterschied zu einem Inertialsystem klein ist, kann man dies in dem gegebenen Zusammenhang ungestraft ver­nachlässigen, sollte sich aber bewußt sein, daß es sich dabei um eine Näherung handelt.

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Neuere Experimente zur Relativitätstheorie 341

so angebracht ist, daß er sich zum Zeitpunkt tl gerade am selben Ort wie der Empfänger E befindet. Zum Aussendungszeitpunkt to sind I und B relativ zueinander in Ruhe; folglich ist die zu diesem Zeitpunkt gemesse­ne Frequenz Vo des ausgesandten Photons in beiden Systemen dieselbe. Vom Zeitpunkt to an beginnt das System I relativ zu B zu fallen, der Schwerebeschleunigung folgend. (Die Rotation von I relativ zu B kann für diese Betrachtung vernachlässigt werden.) Zum Zeitpunkt tl werde das Photon in den beiden Empfängern E und E' nachgewiesen. Zu die­sem Zeitpunkt hat das System I relativ zu B die Geschwindigkeit

gh v = g(tl - to) = -

c

erreicht. Die Frequenz, mit der das Photon den Empfänger E' erreicht, kennen wir: I ist ein Inertialsystem; das Photon kommt im Empfänger E' mit derselben Frequenz Vo an, mit der es ausgestrahlt wurde. Wie diese Frequenz in B gemessen wird, können wir mit Hilfe der Dopplerformel errechnen (vgl. S. 108),

v c

gh c2 .

Aus Sicht von B ist also im Schwerefeld 9 eine Frequenzerhöhung ein­getreten. Durch Messung der Frequenzen Vo, VI kann ein Beobachter in B also unabhängig von der Mechanik seine Beschleunigung 9 optisch be­stimmen. Die Änderung der Frequenz entspricht einer gravitativen Zeit­dehnung

(102)

einer Uhr am Ort der Quelle Q relativ zu einer baugleichen Uhr am Ort des Empfängers E - wenn die Uhren also mit Hilfe von Radiosignalen verglichen werden, geht diejenige Uhr langsamer, die sich auf geringerer Höhe (und damit näher am Gravitationszentrum) befindet.

Betrachten wir als Beispiel den Fall unserer Erde, wobei sich der Empfänger E auf Meeresniveau und die Quelle Q in 3 km Höhe auf ei­nem Berg befinden möge. Einsetzen von 9 = 9,81mls2 , h = 3000m und c = 3 . 108 mls ergibt für die betreffenden Uhren über einen Tag summiert, L1tQ = 86 400 s, einen Gangunterschied von 30 Milliardstel Sekunden, der mit Hilfe von präzisen Atomuhren deutlich nachweisbar ist.

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342 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

Das Ergebnis (102) können wir auch geometrisch interpretieren. Eine genauere Betrachtung zeigt, daß die invariante Entfernung (die Grundin­variante) in den Koordinaten des Bezugssystems die Gestalt

8 2 = _ (1 - ~~) 2 C2T2 + e + ry2 + (2

:::::: _ (1 - 2~X) C2T2 + e + ry2 + (2

hat [vgl. (98), S. 291], wobei x vertikal nach oben weist, sich die Quelle am Ort x = 0, der Empfänger am Ort x = -h befindet. (Beim Übergang vom zweiten zum dritten Ausdruck haben wir den sehr kleinen Term (gx / c2 ) 2 vernachlässigt.) Verwenden wir einmal mehr die für beliebige kleine ß gültige Näherung 1/ (1- ß) :::::: 1 + ß und definieren c2T 2 = - 82 ,

dann ergibt sich aus dieser Formel an einer beliebigen Stelle (x, y, z) von B die Beziehung zwischen der T und der Zeitkoordinate T zu

T:::::: (1 + ~~) T.

Das ist der geometrische Hintergrund der Zeitdehnung (102): Wir hat­ten bereits gesehen (VII, 11, S. 302), daß die Eigenzeit, die auf einer gleichförmig bewegten Uhr vergeht, gleich der invarianten Länge 8 des entsprechenden Abschnitts ihrer WeltIinie ist - bis auf die Redefinition c2T 2 = _82 , die für das korrekte Vorzeichen und die korrekte Einheit sorgt und uns hier die Größe T liefert. Wir können davon ausgehen, daß dieser Zusammenhang auch für beschleunigte Uhren gilt (diese Annah­me läßt sich für wirkliche Uhren physikalisch begründen, vgl. Anm. 31 auf S. 486). Warum diese Annahme plausibel ist, sehen wir, wenn wir zusätzlich zu der Uhr ein frei fallendes, lokales Inertialsystem I betrach­ten, das so gewählt sein möge, daß sich die Uhr darin zu dem uns inter­essierenden Zeitpunkt in Ruhe befindet. Unsere Annahme besteht dann nämlich gerade darin, daß die Uhr durch die Beschleunigung nicht be­einflußt wird, sich von diesem Inertialsystem aus gesehen also während eines infinitesimal kleinen Zeitintervalls genauso verhält, als befände sie sich in der flachen Raumzeit der speziellen Relativitätstheorie. In I ge­messen habe die natürliche Zeiteinheit der Uhr - sagen wir: eine Schwin­gung des taktgebenden Quarzes - die Dauer T; wir wollen annehmen, diese Zeiteinheit sei so klein, daß die Uhr während des eines Zeitinter­valles T in ausreichender Näherung in I ruht. Im Bezugssystem I ist die Metrik flach [hat also die z.B. in (09) angegebene Form] und der Ort

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der Uhr ist während des betrachteten Zeitintervalls konstant, der inva­riante Abstand 8 zwischen dem Weltpunkt der Uhr und dem Weltpunkt der Uhr, eine Schwingungsperiode später, ist daher gerade gegeben durch 82 = _c2T 2 .

Nicht nur die lineare Beschleunigung g, sondern auch die Winkelge­schwindigkeit w relativ zu einem Inertialsystem kann optisch bestimmt werden. Dazu dient der in Abb. 149 gezeigte Versuchsaufbau.

Abbildung 149. Drehscheibenexperiment zum Nachweis des Sagnac-Effekts

Wiederum haben wir es mit einem Interferometer zu tun, bei dem Licht von einer Quelle Q ausgestrahlt und durch einen halbdurchlässigen Spiegel H in zwei Teilstrahlen aufgespalten wird (schwarze bzw. weiße Pfeilköpfe), die, an weiteren Spiegeln 8 1 , 82, 83 reflektiert, in entgegen­gesetztem Sinn umlaufen, und von denen jeweils ein Teil schließlich den Detektor D erreicht. Die Anordnung befindet sich auf einer Scheibe, die in Rotation versetzt wird; der Teilstrahl, der im Drehsinn der Scheibe läuft, benötigt dabei mehr Zeit für seinen Umlauf als der andere Teil­strahl, der sich entgegen der Scheibendrehung bewegt. Der experimen­telle Nachweis, daß die Drehung der Scheibe das Interferenzmuster in dieser Weise beeinflußt, gelang SAGNAC im Jahre 1913. MICHELSON und GALE konnten auf diese Weise 1925 die Drehgeschwindigkeit der Erde (und damit die unseres Bezugssystems B) interferometrisch bestim­men: Eine genauere Betrachtung ergibt, daß die Phasendifferenz der bei­den Lichtstrahlen sowohl zur Winkelgeschwindigkeit w wie auch zu der Fläche proportional ist, die die Lichtstrahlen einschließen. Durch Expe-

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344 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

rimente, in denen diese Fläche verschieden groß gewählt wird, läßt sich w messen.

Aber nicht nur mechanisch und optisch können die lineare Beschleu­nigung 9 und die Rotationsgeschwindigkeit w gemessen werden, die das (Newtonsche) Gravitations- und Trägheitsfeld eines Bezugssystems B bestimmen. Wie wir später (VIII, 5) noch näher ausführen werden, ha­ben gemäß der Quantenmechanik auch die Elementarteilchen, aus denen die uns umgebende Materie besteht, Welleneigenschaften, so daß man mit ihnen Interferenzversuche machen kann. Tatsächlich ist es COLEL­

LA et al. 1975 erstmals gelungen, die Wirkung der mit 9 und w ver­knüpften Trägheitskräfte auf Neutronenwellen im Labor nachzuweisen. Diese Experimente zeigen, daß auch die Gesetze der Quantenmechanik dem Äquivalenzprinzip genügen: Die Quantenmechanik im Gravitati­onsfeld läßt sich beschreiben, indem man zu einem lokalen Inertialsy­stem übergeht, dort die herkömmliche, gravitationsfreie Quantenmecha­nik verwendet und das Ergebnis anschließend in das beschleunigte Be­zugssystem B umrechnet. Auch mit solchen Messungen kann man 9 und w (mit etwa Prozentgenauigkeit) bestimmen.

Zum Schluss dieser Überlegungen zu unserem irdischen, nicht-in­ertialen Bezugssystem B kommen wir auf die Abb. 5 (S. 12) zurück, die am Anfang der Betrachtungen zur Mechanik stand. Sie zeigte einen ru­henden Klotz, der an einer Feder hängt, wobei sich Feder- und Gewichts­kraft gerade die Waage halten. Das Gleichgewicht zwischen der Feder­kraft und dem Gewicht ist im Sinne der allgemeinen Relativitätstheorie so zu beschreiben: Einem frei fallenden Klotz entspräche eine gera­destmögliche Weltlinie, eine Geodätische. Die Federkraft, die den Klotz am Fallen hindert, bewirkt, daß die Weltlinie des Klotzes in der Raum­zeit keine Geodätische, sondern eine krumme Kurve ist. Ein Maß für die Krümmung ist die Beschleunigung des Klotzes relativ zu einem frei fal­lenden Körper - auf der Erdoberfläche also gerade die Fallbeschleuni­gung 9 = 9,81 m/s2 (und zugleich die Beschleunigung, mit der sich das Laborsystem relativ zu einem lokalen Inertialsystem bewegt). Die Fallbe­schleunigung hängt eng mit der Geometrie der Weltlinie zusammen; wir wollen dies zum Anlaß eines kleinen Exkurses nehmen, die geometrische Deutung im folgenden näher betrachten und durch eine Analogie plausi­bel machen. Dazu rekapitulieren wir zunächst, wie man die Krümmung einer Kurve im Raum beziehungsweise, der Einfachheit halber, in der Ebene messen kann; eine solche Kurve K ist in Abb. 150 dargestellt.

Um zu bestimmen, wie krumm die Kurve an einem bestimmten Punkt A ist, können wir ihr dort einen Kreis anschmiegen, dessen Radius so

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Neuere Experimente zur Relativitätstheorie 345

A

K

Abbildung 150. Krümmungsradius einer Raumkurve

gewählt ist, daß Kurvenverlauf und Kreisverlauf sich am Punkt der An­schmiegung möglichst gut entsprechen. Leser, die sich aus dem Mathe­matikunterricht an den Umgang mit Funktionskurven erinnern, seien dar­auf hingewiesen, daß diese Prozedur eine Verallgemeinerung des Vorge­hens darstellt, an eine Kurve eine Gerade anzuschmiegen, nämlich ih­re Tangente in jenem Punkt: Eine angeschmiegte Gerade entspricht der Richtung der Kurve; ein angeschmiegter Kreis enthält zusätzlich Infor­mationen über die Änderung der Kurvenrichtung, also so etwas wie die Krümmung der Kurve. Der Radius R des angeschmiegten Kreises wird als Krümmungsradius der Kurve in diesem Punkt bezeichnet. Er ist um­so kleiner, je stärker die Krümmung der Kurve ist, zum Beispiel ist er im Punkt B sehr viel kleiner als im Punkt A. 1/ R können wir daher als Maß für die Krümmung der Kurve betrachten.

Auf einer zweidimensionalen Fläche wird ein Kreis mit Radius R, dessen Mittelpunkt wir der Einfachheit halber in den Koordinatennull­punkt legen wollen, durch die Gleichung x 2 + y2 = R 2 beschrieben. Er ist die Menge aller Punkte, die vom Nullpunkt den Abstand R haben; Kreise sind demnach eng mit der Abstandsdefinition verknüpft, die in der (euklidischen) Fläche gilt.

Nun wollen wir uns dem Problem zuwenden, die Krümmung einer Raumzeitkurve zu verstehen. Wieder beschränken wir uns der Einfach­heit halber auf die Zeit und eine Raumkoordinate eines Inertialsystems, t und x; an die Stelle des euklidischen Abstandsbegriffes x 2 + y2 = R 2

tritt hier die Minkowskische Invariante der Form x 2 - c2t 2 , wie wir oben (VI, 3) bereits gesehen haben. Es liegt daher nahe, die Krümmung einer Weltlinie zu bestimmen, indem man ihr eine durch x 2 - c2 t 2 = R2 defi­nierte Hyperbel anschmiegt, deren "Radius" R man wiederum so anpaßt,

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346 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

ct

r---~----------X

w Abbildung 151. Krümmungsradius einer Raumzeitkurve

daß die Hyperbel den Weltlinienverlauf im Anschmiegepunkt möglichst genau wiedergibt.

Ein Beispiel zeigt Abb. 151: Vorgegeben ist uns eine Weltlinie W. Wir wählen unser inertiales Koordinatensystem so, daß der Punkt der Weltlinie, an den wir die Hyperbel schmiegen, gerade dem Zeitpunkt t = 0 entspricht, und daß sich das Teilchen zu dieser Zeit relativ zu un­serem Inertialsystem in Ruhe befindet. Dann passen wir den Wert von R (und, da der Bezugspunkt unserer Hyperbel der Koordinatenursprung ist, gleichzeitig auch die Wahl des Raurnnullpunktes) möglichst gut an den Verlauf der Weltlinie an. Die geometrische Bedeutung von R ist einge­zeichnet; wie in der Abbildung zu sehen handelt es sich um den Abstand des Achsendurchgangs der Hyperbel vom Nullpunkt. Den Radius R der angeschmiegten Hyperbel nennen wir wiederum den Krümmungsradius der Kurve in diesem Punkt, 1/ R ihre Krümmung.

Um zu sehen, was diese geometrische Konstruktion mit der Bewe­gung des betreffenden Teilchens zu tun hat, berechnen wir die Beschleu­nigung des Teilchens an dem uns interessierenden Punkt der Bahn, dem Nullpunkt, also die Änderung seiner Geschwindigkeit mit der Zeit. Dies ist gerade die relative Beschleunigung zwischen dem Teilchen und dem relativ zu ihm frei fallenden Inertialsystem, das wir gewählt haben, und zeigt somit die Abweichung der Teilchenbewegung vom freien Fall an. Ausgangspunkt ist die Feststellung, daß der Verlauf der Weltlinie nahe

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Neuere Experimente zur Relativitätstheorie 347

dem Nullpunkt näherungsweise durch die angeschmiegte Hyperbel ge­geben ist, also x(t) = V R2 + c2t2 .

Die Rechnung geht genau so vor sich, wie wir schon mehrmals Änderungsraten berechnet haben: Wir betrachten eine Größe zum Zeit­punkt t, in unserem Fall zunächst den Ort x(t), und berechnen dieselbe Größe, ein winzig kleines Zeitintervall L1t später, in unserem Fall: x( t + L1t). Die Größe x hat sich demnach in der Zeit L1t um x(t + L1t) - x(t) geändert; um die Änderungsrate zu erhalten, teilen wir diese Differenz durch das Zeitintervall L1t. Wenden wir dieses Verfahren auf den Ort eines Teilchens an, erhalten wir seine Geschwindigkeit; wenden wir es dann noch einmal auf die Geschwindigkeit an, erhalten wir seine Be­schleunigung.

Leser, die der Differentialrechnung mächtig sind, dürften keine größe­ren Schwierigkeiten damit haben, die Beschleunigung direkt zu berech­nen, indem sie x(t) = VR2 + c2t2 zweimal nach t differenzieren; wir wollen die Änderungsrate hier explizit berechnen, ohne den Begriff der Ableitung vorauszusetzen. Benutzen wir wieder die für beliebige kleine Größen ß geltende Näherung9 VI + ß ~ 1 + ß /2 und vernachlässigen grundsätzlich L1t2 , so erhalten wir

(103)

Damit ist die Geschwindigkeit

v(t) = x(t + L1t) - x(t) = c2t L1t v R2 + c2t 2

(104)

Auch von diesem Ausdruck wollen wir die Änderungsrate berechnen, um so auf die Beschleunigung des Teilchens zu kommen. Hierzu benutzen wir die Näherung I/VI + ß ~ 1 - ß/2 (vergleiche die Fußnote auf S. 186) und vernachlässigen wiederum Größen wie L1t2 . Wir erhalten auf diese Weise

9 Wir haben solche Näherungen schon wiederholt angetroffen; man sieht die Richtigkeit dieser Formel, wenn man beide Seiten quadriert und dann den sehr kleinen Term ß2 vernachlässigt.

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348 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

Die Beschleunigung ergibt sich daraus zu

b(t) := v(t + Ll~~ - v(t)

(106)

Für die Zeit t = 0, entsprechend jenem Punkt der Weltlinie, an dem wir die Krümmung bestimmen wollen, ist also

c2

b(t = 0) = R ' (107)

in Worten: die Beschleunigung eines Teilchens ist proportional zur Krüm­mung seiner Weltlinie, für die wir 1/ R als Maß eingeführt hatten.

Diese Krümmung sollte nicht mit der Krümmung der räumlichen Bahn des Teilchens in einem Bezugssystem verwechselt werden: Der oben erwähnte Klotz an der Feder beispielsweise ist im Bezugssystem B in Ruhe - seine Bahn ist ein einziger Raumpunkt in B, aber seine Weltlinie in der Raumzeit hat die Krümmung g.

Nach diesen Überlegungen können wir zu unserer Ausgangssituati­on zurückkehren. Wir hatten einen Körper betrachtet, der relativ zur Er­de in Ruhe ist und daher relativ zu einem frei fallenden Inertialsystem die (Fall-)Beschleunigung 9 = 9,81m/s2 erfährt. Unsere geometrische Analyse zeigt uns, daß dieser Beschleunigung ein Krümmungsradius der Weltlinie entspricht, der die Länge R = c2 / 9 ~ (9· 1016)/9,81 m ~ 1016 m ~ 1 Lichtjahr hat. Ohne die Beschleunigung wäre unser ir­disches Bezugssystem ein Inertialsystem, und die Weltlinie des ruhen­den Klotzes eine Gerade. Der Krümmungsradius sagt uns, wieviel die Weltlinie des Klotzes von einer Geraden abweicht, und wir können dies

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Neuere Experimente zur Relativitätstheorie 349

als ein Maß dafür sehen, wieviel oder wie wenig unser erdfestes Sy­stem von dem Ideal eines flachen Inertialsystems abweicht. Die Bah­nen frei fallender Körper im erdfesten System sind nur äußerst gering gekrümmt; um das leichter vorstellbare Beispiel der Raumgeometrie zu wählen: Selbst ein 100 Kilometer langes Teilstück eines Kreises mit dem Radius ein Lichtjahr weicht von einer idealen Geraden nur um weniger als 0, 0001 Millimeter ab. Daher kann man für viele Zwecke so verfahren, als wäre der Krümmungsradius unendlich groß, d.h. als wäre ein Labor­system B auf der Erde ein Inertialsystem.

Die hier in Verbindung mit dem Äquivalenzprinzip beschriebenen Experimente lassen sich, jedes für sich genommen, im Rahmen der spe­ziellen Relativitätstheorie behandeln, wenn man in dieser Theorie be­schleunigte und/oder rotierende Bezugssysteme berücksichtigt. Echte, inhomogene Gravitationsfelder, die sich nicht durch den Übergang zu einem anderen Bezugssystem beseitigen lassen, zeigen sich bei diesen Experimenten im Rahmen ihrer Genauigkeit nicht; insofern betrifft jedes der Experimente, für sich genommen, zunächst einmal nur die spezielle Relativitätstheorie.

In ihrer Gesamtheit sind die Experimente dagegen sehr wohl von grundlegender Bedeutung für die allgemeine Relativitätstheorie. Zum einen bestätigen sie das Äquivalenzprinzip: Lokal ist der Einfluß der Schwerkraft nicht von einer Beschleunigung des Bezugssystems zu un­terscheiden; insbesondere ist die Schwerebeschleunigung für alle Körper dieselbe. Das hat zur Folge, daß verschiedene, aber an ein und demsel­ben Ort durchgeführte Experimente zur Bestimmung der Beschleunigung g und der Rotationsgeschwindigkeit weines irdischen Bezugssystems relativ zu einem lokalen Inertialsystem dieselben Werte für diese bei­den Größen ergeben sollten, ob nun die Messungen auf makroskopisch­mechanischen, optischen oder quantenmechanischen Gesetzen beruhen. Soweit wir wissen, ist das tatsächlich der Fall und bestätigt die Gültigkeit des Äquivalenzprinzips in eindrucksvoller Weise.

Zum anderen finden solche Experimente an verschiedenen Orten auf der Erde statt, wie in Abb. 152 skizziert. Dabei stellt sich wie zu erwar­ten heraus, daß die lokalen Inertialsysteme nahe der Erdoberfläche alle mit nahezu derselben Fallbeschleunigung radial auf den Erdmittelpunkt zu fallen. Das bedeutet aber, daß sie nicht zu einem einzigen, die Erde enthaltenden, großen Inertialsystem zusammengefügt werden können -genau wie es EINSTEIN behauptet (S. 287): Im kleinen mag der star­re Bezugsrahmen der Inertialsysteme die Welt angemessen beschreiben; im Großen muß man die euklidisch-minkowskische Geometrie der spe-

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Iz -D

Abbildung 152. Um die Erde verteilte lokale Inertialsysteme

ziellen Relativitätstheorie aufgeben und sich der Begriffe einer allgemei­neren Raumlehre bedienen. Die erste Grundlage der allgemeinen Rela­tivitätstheorie ist damit bestätigt, und wir können uns nun den Experi­menten zuwenden, die EINSTEINS Feldgleichungen überprüfen, also den von der allgemeinen Relativitätstheorie postulierten Zusammenhang zwi­schen der Geometrie der Raumzeit und der Masse bzw. der Energie der darin enthaltenen Materie. Hierfür bieten sich das Gravitationsfeld um die Erde und das um die Sonne an. Eine Metrik, welche die Raumzeitgeo­metrie in der Umgebung eines dieser beiden Himmelskörper beschreibt, sollte in guter Näherung zeitunabhängig und kugelsymmetrisch sein. Wir geben diese Metrik, wie in (98) auf S. 291, in Form der invarianten "Ent­fernung" zwischen zwei Raumzeitpunkten an, deren Raumkoordinaten sich um die Werte ~, rt bzw. ( unterscheiden, während der Unterschied in der Zeitkoordinate T beträgt. Aus EINSTEINS Gravitationsgesetz ergibt sich, daß der Abstand s zweier solcher Punkte, so sie sich im Abstand r vom Mittelpunkt eines kugelsymmetrischen, schweren Körpers der Mas­se M befinden, gegeben ist durch

wobei k die Newtonsche Gravitationskonstante und c einmal mehr die Lichtgeschwindigkeit ist. Es handelt sich um einen Näherungsausdruck für die sogenannte Schwarz schild-Metrik, die die Raumzeiteigenschaften in der Umgebung kugelsymmetrischer Objekte beschreibt (vgl. S. 298) und die uns im nachfolgenden Abschnitt VIII, 3, im Zusammenhang mit Schwarzen Löchern noch näher beschäftigen wird. Der Ausdruck (108)

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Neuere Experimente zur Relativitätstheorie 351

gilt näherungsweise für Bereiche, in denen die Raumzeitgeometrie nur wenig von jener der flachen Raumzeit abweicht. Dies ist z.B. für den lee­ren Raum der Fall, der die Erde umgibt; setzt man in (108) die Erdmasse ~ 6.1024 kg sowie die Werte k ~ 7 .1O-11 m3/s2kg und c ~ 3.108 m/s ein, so sieht man, daß der Ausdruck 2kM / c2r dort höchstens (nämlich an der Erdoberfläche mit r = 6,4· 106 m) den winzigen Wert 10-9 an­nimmt; der invariante Abstand (108) weicht dort also wirklich nur sehr wenig von der Metrik des flachen Raumes ab, die durch

(109)

gegeben ist. Die Metrik (108) beschreibt ein "echtes" Gravitationsfeld; die Abweichung der metrischen Koeffizienten von ihren Minkowski­Werten kann durch keinen Wechsel der Koordinaten beseitigt werden. Die im folgenden beschriebenen Experimente können daher nicht im Rahmen der speziellen Relativitätstheorie erklärt werden; sie erfordern eine gekrümmte Raumzeit. Mit Hilfe der Metrik läßt sich berechnen, wie das Gravitationsfeld den Gang von ruhenden oder bewegten Uhren beein­flußt. Wir haben argumentiert (S. 342, vgl. auch Anm. 31, S. 486), daß die Anzeige einer bewegten Uhr, ob beschleunigt oder nicht, die invari­ante Länge ihrer Weltlinie wiedergibt. Ausgehend von dieser Annahme können wir den Gang von Uhren vergleichen, die sich an verschiedenen Stellen in dem durch die Metrik (108) beschriebenen Gravitationsfeld befinden. Angenommen, die eine Uhr UI ruhe in Bezug auf das in (108) verwendete Koordinatensystem im Abstand rl von der Zentralmasse, ei­ne andere Uhr U2 im Abstand r2. Für beide Uhren sind nach (108) die Eigenzeitintervalle Ti (i = 1,2) der beiden Uhren mit den Koordinaten­zeitintervallen Ti verknüpft durch

(110)

weil ja beide Uhren ruhen, also ~ = 'TI = ( = 0 gilt. Nun mögen nach­einander zwei Lichtsignale von UI nach U2 geschickt werden, die UI im Koordinatenzeitabstand Tl verlassen und von U2 im Koordinatenzeitab­stand T2 empfangen werden. Wie Tl und T2 zusammenhängen, läßt sich ebenfalls aus der Metrik bestimmen, sind doch die Bahnen der Lichtsi­gnale durch die Metrik über die Bedingung 8 2 = 0 charakterisiert. Die genaue Rechnung können wir hier nicht vorführen, es stellt sich aber ganz allgemein für den Fall metrischer Koeffizienten heraus, die nicht von der Zeit abhängen, daß für Lichtsignale wie die hier betrachteten Tl = T2 gilt

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352 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

- der Koordinatenzeitabstand, mit dem die Signale ausgesendet werden, ist derselbe wie jener, der zwischen dem Empfang der beiden Signale vergeht. Mit dieser Zusatzinfonnation folgt aus (110) die Beziehung

.!i _ 2kM V ~ . /1- 2kM V c2r2

(111)

Für rl < r2 ist also Tl < T2 , und diese Fonnel stellt eine exakte Ver­sion der oben als Näherung abgeleiteten Beziehung (102) dar. In glei­cher Weise kann man aus (108) die Ganggeschwindigkeit einer relativ zu unserem Bezugssystem mit der Geschwindigkeit v bewegten Uhr aus­rechnen; dabei nutzt man aus, daß solch eine Uhr im Zeitintervall T die Strecke VT = Je + 1]2 + (2 zurücklegt. Dann ergibt sich für den Zu­sammenhang von T und T

T T= .

/(1 _ V 2 ) _ (1 + V 2 ) • 2kM ' V C2 C2 rc2

(112)

eine Formel, die den Einfluß des Bewegungszustandes und des Gravita­tionsfeldes auf den Gang der Uhr zusammenfaßt und für M = 0 (oder für unendlich großen Abstand r) in die Formel für die speziell relativi­stische Zeitdilatation übergeht [siehe (75) auf S. 215], für eine ruhende Uhr v = ° in einen Spezialfall der obigen Gleichung (111). Kompli­ziertere Bewegungen kann man in kleine Abschnitte nahezu konstanter Geschwindigkeit aufteilen und die Gleichung (112) für entsprechendes v auf jedes dieser Teilstücke anwenden10• Die Voraussagen, die man dar­aus für die Ganggeschwindigkeit bewegter Uhren im Gravitationsfeld erhält, waren Gegenstand einer Reihe von Experimenten. Die bislang höchste Genauigkeit erreichte das 1976 durchgeführte "Gravity Probe A"-Experiment von VESSOT, LEVINE und Mitarbeitern. Dabei wurde ei­ne äußerst genaue Atomuhr (eine sogenannte Wasserstoffmaseruhr) von einer Rakete in eine Höhe von 10 000 km über den Erdboden empor ge­tragen. Mittels Radar wurden zum einen Position und Geschwindigkeit der Rakete verfolgt, zum anderen die Ganggeschwindigkeit der Borduhr mit der einer baugleichen Uhr am Boden verglichen. Die Gültigkeit der Verallgemeinerung von (112) wurde dabei mit einer Meßgenauigkeit von rund 0,2 Promille bestätigt.

10 Wir gehen in Anmerkung 31 zum Zwillingsproblem kurz auf die Zulässigkeit dieser Vorgehensweise ein, vgl. S. 486, unten.

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Neuere Experimente zur Relativitätstheorie 353

Der Effekt der Zeitdilatation durch Bewegung und durch die Anwe­senheit des Gravitationsfeldes wird technisch in großem Maßstab ange­wandt, und zwar im Rahmen des besonders für den Flugverkehr wichti­gen Orts- und Zeitbestimmungssystem GPS (global positioning system), dessen zuverlässiges Funktionieren die Einsteinsche Theorie Tag für Tag aufs Neue bestätigt.

Eine weitere Anwendung der Metrik (l08) besteht darin, mit ihrer Hilfe geodätische Linien zu berechnen, also die Bahnen, denen frei fal­lende Teilchen und auch das Licht folgen. In dieser Weise kann zum Beispiel die auf den Seiten 308-309 besprochene Ablenkung von Licht­strahlen im Schwerefeld der Sonne daraus abgeleitet werden 11. Dieser Effekt ist inzwischen viele Male mit den Methoden der Radioastronomie nachgemessen worden. Dazu wurde die Positionen von Quasaren (ferne Objekte eines bestimmten Typus, von denen viele starke Radiostrahlung aussenden) über einen längeren Zeitraum immer wieder mit hoher Ge­nauigkeit bestimmt. Man stellte fest, daß sich die Positionen am Himmel mit einer Periode von einem Jahr in ganz bestimmter Weise verändern. Das Ergebnis läßt sich nicht mit der Eigenbewegung der Quasare erklären - erstens sind diese zu weit weg, als daß selbst eine Eigenbewegung mit Lichtgeschwindigkeit meßbare Positionsveränderungen mit sich bringen würde, zweitens könnten die Eigenbewegungen nicht erklären, warum sich die scheinbaren Positionen in so koordinierter und zudem periodi­scher Weise verändern. Die Beobachtungsdaten und ihr Zusammenhang mit der Position der Sonne entsprechen dagegen mit einer Meßgenauig­keit von 2 Promille den Vorhersagen der allgemeinen Relativitätstheorie dafür, wie das Licht der Quasare durch die Sonne abgelenkt wird (Ro­BERTSON et al. 1991).

Wir werden im nachfolgenden Abschnitt zur Kosmologie (VIII, 4) noch darauf eingehen, daß der Effekt der Lichtablenkung nicht nur als Möglichkeit zur Prüfung der Relativitätstheorie von Interesse ist, son-

11 Daß der Ablenkungseffekt dabei größer ist als in einem Newtonschen Ansatz liegt dabei nicht daran, daß das Einsteinsche Gravitationsfeld stärker wäre als das Newtonsche (so könnte man BORNS Kommentar auf S. 308 verstehen) - dem Beitrag des herkömmlichen Gravitationsfelds entspricht in (108) der Koeffizient vor c2r 2 - sondern daran, daß es einen zusätzlichen, nicht als herkömmliches Gravitationsfeld formulierbaren Beitrag gibt, der dem Koef­fizienten des Raumanteils (e + 1]2 + (2) entspricht und die Raumkrümmung mißt. Die Messung dieser Raumkrümmung war es, was 1919 mit Recht als Sensation empfunden wurde, nicht die Ablenkung als solche.

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354 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

dem sich in den letzten 20 Jahren zudem als ein nützliches Mittel zur Bestimmung der Massen ferner Himmelskörper erwiesen hat.

Ein eng mit der Lichtablenkung verbundener Effekt ist der folgende, der 1964 von SHAPIRO vorausgesagt worden ist. Um ihn zu berechnen, ist es günstig, den Begriff der sogenannten Koordinatengeschwindigkeit einzuführen, die Änderung der Raumkoordinaten mit der Zeitkoordinate. Gilt genauer, daß sich die drei Raumkoordinaten eines Lichtteilchens im Koordinatenzeit-Intervall 7 um die Werte ~,'fl und ( ändern, so können wir davon sprechen, das Licht habe in dieser Koordinatenzeit die Ko­ordinatendistanz d = V'fl2 + ~2 + (2 zurückgelegt; seine Koordinaten­geschwindigkeit ist dann d17. Die stetige Wiederholung des Zusatzes "Koordinaten-" ist wichtig, da der hier definierten "Entfernung", dem "Zeitintervall" und damit der "Geschwindigkeit" keinerlei physikalische Bedeutung zukommt: Die Metrik (108) sagt uns, daß die dem Koordi­naten-Zeitintervall 7 entsprechende Zeitspanne, gemessen mit einer Uhr, nicht 7, sondern (VI - 2kMlc2r)· 7 und die einer Änderung~, 'fl und (

der Raumkoordinaten entsprechende Distanz nicht V'fl2 + e + (2, son­dern (VI + 2kM I c2r) . V'fl2 + ~2 + (2 ist. Ist man sich dieser Ein­schränkung bewußt - und sieht, daß beispielsweise eine Koordinaten­Lichtgeschwindigkeit ungleich c keineswegs im Widerspruch zur Rela­tivitätstheorie steht -, dann spricht nichts dagegen, die Koordinatenge­schwindigkeit als nützliche Rechengröße zu verwenden.

Die Koordinatengeschwindigkeit des Lichts läßt sich durch Betrach­tung der entsprechenden Metrik errechnen. In dem Bezugssystem, dessen Metrik durch (108) gegeben ist - also zum Beispiel im Gravitationsfeld der Sonne - läßt sich die Koordinaten-Lichtgeschwindigkeit bestimmen: Sie ist gegeben durch c' = dl7 = (Ve + 'fl2 + (2)/7, andererseits gilt für die Bewegung des Lichtes 8 2 = 0 in der Metrik (108). Aus der Be­dingung 8 2 = 0 läßt sich c' berechnen; unter Benutzung der auf S. 258 eingeführten Näherung für den Wurzelausdruck erhält man

1- 2kM (2kM) I '""C2r" ~ 1 c = c . 2kM ~ C . - -2- . 1 + '""C2r" c r

(113)

Je näher das Licht dem Zentralkörper kommt, umso "langsamer bewegt es sich" relativ zum Koordinatensystem12.

12 Für Leser, die sich an die Bedeutung des Brechungsindex in der Optik erinnern (siehe etwa S. 116) sei angemerkt, daß wir es dieser Formel nach mit einer Art orts abhängigem Brechungsindex

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Neuere Experimente zur Relativitätstheorie 355

Abbildung 153. Verzögerung von Radarechos (schematisch)

Nach dieser Vorbereitung können wir das Experiment selbst betrach­ten.

Abbildung 153 zeigt die Sonne S, die Umlaufbahnen von Erde und Mars sowie die Stellungen der beiden Planeten zu einer Zeit h (Posi­tionen EI, MI) und, in der Skizze circa 7 Monate später, zu einer Zeit t2 (Positionen E2, M2). Zu beiden Zeiten wurden von der Erde aus Ra­darsignale zum Mars geschickt, dort reflektiert, auf der Erde wieder auf­gefangen und die Laufzeit gemessen. Die Laufzeit hängt offenbar davon ab, wie weit Erde und Mars zu den Zeiten t l und t2 voneinander ent­fernt waren; dieser Effekt reicht allerdings nicht aus, um die gemessene Verzögerung der Radarechos zu erklären. Daß es sich bei der zusätzlichen Verzögerung um einen von der Relativitätstheorie vorausgesagten Effekt handelt, läßt sich wie folgt berechnen.

Wir wählen das Koordinatensystem, in dem die Metrik um die Sonne die oben angegebene Form (108) hat. In diesem Koordinatensystem gilt die klassische Newtonsehe Himmelsmechanik, mit der sich die Plane­tenbewegungen bis auf kleine, allgemein-relativistische Effekte beschrei­ben lassen, und die Zeit, die eine Uhr auf der Erde anzeigt, ist in guter

c 2kM -=n:::::1+--c' c2 r

zu tun haben (wobei wir einmal mehr die auf S. 108 abgeldtete Näherung 1/(1 + x) ::::: 1 - x verwendet haben).

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356 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

Näherung gleich der Koordinatenzeit (dies waren entscheidende Gründe für die Wahl dieses speziellen Koordinatensystems). Nun können wir die Koordinatenzeit berechnen, die auf der Erde vergeht, während ein Ra­darsignal von der Erde zum Mars und zurück läuft - dazu müssen wir lediglich aufsummieren, mit welcher Koordinatengeschwindigkeit das Licht diese Reise unternimmt und welche Koordinatendistanz es dabei überwindet. In denjenigen Abschnitten seiner Reise, in denen das Licht sich nahe der Sonne befindet, unterscheidet sich seine Koordinatenge­schwindigkeit merklich von der Lichtgeschwindigkeit - dort haben Koor­dinatendistanz und Koordinatenzeit-Intervall nicht mehr die direkte phy­sikalische Bedeutung von Längen und mit Uhren gemessenen Zeitinter­vallen. Für unser Ergebnis ist dieser Umstand aber irrelevant - das Ender­gebnis der Rechnung, das Koordinatenzeit-Intervall am Ort der Uhr, die auf der Erde verblieben ist, hat sehr wohl eine physikalische Bedeutung: Am Ort der Erde stimmen Koordinatenzeit und Uhrzeit hinreichend gut überein.

Die Vorhersagen, die man auf diese Weise für die Zeitverzögerung von Radarsignalen erhält, die unterschiedlich nahe an der Sonne vorbei­laufen, stimmen mit den Beobachtungen mit großer Genauigkeit überein.

Auch ein schon 1917 von dem Astronomen DE SITTER mit Hilfe der Metrik (108) abgeleiteter Effekt verdient es, hier erwähnt zu wer­den, die sogenannte geodätische Präzession: Die Schnittgerade der Ek­liptik, der Ebene, in der die Erde die Sonne umrundet, mit der Ebene der Mondbahn sollte sich in der Ekliptik relativ zu dem Bezugssystem der femen Fixsterne langsam drehen, und zwar um den wahrhaft winzigen Betrag von 0,0192 Bogensekunden (rund 5 Millionstel Grad) pro Jahr. Die außerordentlich gen aue Vermessung der Mondbahn mittels Lasersi­gnalen, die von der Erde aus gesendet und von einem speziellen, während der Apollo-Missionen auf dem Mond plazierten Spiegel zurückgeworfen werden, hat es ermöglicht, diese Voraussage anhand jahrelanger Beob­achtungen und deren rechnerischer Auswertung zu überprüfen, und -man staune - mit der Genauigkeit von etwa 0,0004 Bogensekunden pro Jahr zu bestätigen (dies entspricht einer Genauigkeit von 100 Milliard­stel Grad pro Jahr beziehungsweise einer relativen Genauigkeit von 2 Prozent, BERTOTTI 1987, DICKEY 1989).

Für die Berechnung der von BORN bereits behandelten relativisti­schen Anteile der Periheldrehungen der Planetenbahnen (VII, 10) benö­tigt man den Zeitanteil der Metrik (108) - den Vorfaktor von C2T 2 - ge­nauer als dort angegeben. EINSTEINS und spätere, verbesserte Rechnun­gen ergeben die auf S. 299 angegebenen theoretischen Werte. Die dort

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Neuere Experimente zur Relativitätstheorie 357

gleichfalls angeführten Beobachtungswerte sind in der Zwischenzeit er­heblich verbessert worden: Die modemen, genaueren Werte, die tausen­de von Einzelmessungen des US Naval Observatory in Washington, D.C. und des Jet Propulsion Laboratory in Pasadena, Kalifornien zusammen­fassen, stimmen im Rahmen einer Meßgenauigkeit von nurmehr weniger als einem Prozent mit den theoretischen Werten überein; auch für den Mars, für den der Effekt der Periheldrehung noch schwächer ist als für die Erde (ANDERS ON et al. 1992).

In der Metrik (l08) ist die Rotation des Zentralkörpers vernachlässigt worden; eine genauere Analyse zeigt, daß diese Rotation einen zusätz­lichen Effekt hat, der sich zur Newtonschen, radial auf den Zentralkörper gerichteten Gravitationskraft ähnlich verhält wie die magnetische Kraft zur elektrischen (Coulomb-)Kraft, und aufgrund dieser Analogie als Gra­vito-Magnetismus bezeichnet wird. Kreisel haben die Eigenschaft, daß die Richtung ihrer Drehachse, von Reibungseffekten abgesehen, abso­lut konstant bleibt. (Dieser Umstand wird bei der Konstruktion mechani­scher Kreiselkompasse ausgenutzt: Ist der Kreisel auf die Nordrichtung ausgerichtet und reibungsfrei aufgehängt, so behielte er nach NEWTON anschließend seine Richtung auch dann bei, wenn sich das Schiff oder das Flugzeug, auf dem er installiert ist, bewegt.) Nach EINSTEIN gibt es allerdings keinen absoluten Raum, relativ zu dem die Unveränderlichkeit der Richtung der Kreiselachse bestimmt sein könnte. Stattdessen muß die Kreiselrichtung relativ zur Geometrie der umgebenden Raumzeit be­trachtet werden; diese aber hängt davon ab, welche Massen sich in der Nähe des Kreisels befinden. Für eine rotierende zentrale Masse zeigt sich, daß sich ein wenig von dieser Rotation auf die umgebende Raum­zeit überträgt: Die Raumzeit scheint - im Vergleich zu einem entfernten Bezugssystem, wie es die Fixsterne darstellen - nahe dem Zentralkörper in begrenztem Maße "mitzurotieren". Dieser Effekt sollte nachzuweisen sein, indem man die Bewegung eines Kreisels mit hoher Präzision ver­mißt: Verglichen mit Kreiseln in einer gravitationsfreien Raurnzeit ändert sich in der Nähe einer rotierenden Masse die Einstellung des Kreisels so, als ob auf ihn ein Drehmoment wirkte. Dieser gravitomagnetische Effekt ist allerdings extrem klein - die Drehachse eines Kreisels, der die (rotie­rende) Erde in rund 600 km Höhe auf einer über die Pole führenden U m­laufbahn umkreist, müßte ihre Richtung im Laufe eines vollen Jahres um gerade einmal 0, 042 Bogensekunden (entsprechend rund 12 Millionsteln eines Winkelgrads) ändern. Indirekt ist dieser Effekt bereits nachgewie­sen worden: Die allgemeine Relativitätstheorie macht keinen prinzipiel­len Unterschied zwischen einem Körper, der sich um sich selbst dreht und

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358 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

einem Körper, der um einen anderen Körper kreist. Der Anteil der gra­vitomagnetischen Kraft an der Bahnbewegung von Erde und Mond läßt sich durch genaue Beobachtung dieser Bahnen bestätigen. Einen direk­ten Nachweis strebt das Experiment "Gravity Probe B" der NASA und der Stanford University an. Dafür soll ein Satellit in eine Erdumlaufbahn geschossen werden, der einen frei rotierenden, äußerst schnellen Kreisel enthält, dessen Bewegung mit hoher Präzision vermessen wird. Der Start der Mission ist für das Jahr 2003 geplant.

Aus den in diesem Abschnitt beschriebenen Tatsachen geht hervor, daß die spezielle Relativitätstheorie zu den am genauesten geprüften und bestätigten Theorien der Physik gehört, und daß auch die allgemei­ne Relativitätstheorie zumindest für die im Experiment zugänglichen, verhältnismäßig schwachen Gravitationsfelder allen bisherigen Prüfun­gen standgehalten hat.

2. Gravitationswellen

Wir haben in den Betrachtungen zur Elektrodynamik (V, 9) gesehen, wie sich aus MAXWELLS Feldgesetzen die Existenz elektromagnetischer Wellen voraussagen läßt. Dies hängt untrennbar damit zusammen, daß die elektromagnetischen Kräfte nach MAXWELL keine Fernkräfte sind, sondern im Rahmen einer Nahwirkungstheorie beschrieben werden.

Für die Einsteinsche Gravitationstheorie ergibt sich eine ähnliche Si­tuation: Auch hier tritt eine Nahwirkungstheorie an die Stelle der (New­tonschen) Fernkraft, und wie EINSTEIN bereits 1916 erkannte, sagt auch diese Theorie die Existenz von Wellen des Kraftfeldes voraus, die sich mit endlicher Geschwindigkeit durch den Raum fortpflanzen. Dies sind die sogenannten Gravitationswellen.

Bei den elektromagnetischen Wellen (S. 158f.) hatten wir als Aus­gangspunkt die Ausbreitung einfacher Wellen im Vakuum betrachtet, und waren erst dann auf die Erzeugung dieser Wellen eingegangen. Analog wollen wir bei den Gravitationswellen verfahren. Betrachten wir einen materiefreien Raumzeitbereich, in dem nur ein sehr schwaches Gravitati­onsfeld herrscht. Im Vergleich mit dem Ausdruck (99), der leeren Raum ohne jegliche Gravitation beschreibt, sind die metrischen Koeffizienten in solch einem Raumzeitbereich durch

9n = 1 + h n , 922 = 1 + h22 , 933 = 1 + h33,

944 = _c2 + h44,

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Gravitationswellen

g12 = h121 g13 = h131 g14 = h141

g23 = h231 g24 = h241 g34 = h34

359

(114)

gegeben. Die orts- und zeitabhängigen Größen hij (wobei sowohl i wie j jeden der Werte 1 bis 4 annehmen können) stellen die Abweichung der Metrik von der des gravitationsfreien Raumes dar; die Schwäche des angenommenen Gravitationsfeldes drückt sich darin aus, daß diese Ko­effizienten nur sehr kleine Werte annehmen. Sei, analog zu der bereits in (65) verwendeten Notation (V, 9, S. 160), bij die zweifache Ableitung des Koeffizienten hij nach der Zeit und fij die Summe seiner zweifachen Ableitungen nach jeder der drei Raumkoordinaten. Setzt man den Aus­druck (114) für die Metrik in die Einsteinschen Feldgleichungen für den materiefreien Raum ein und vernachlässigt alle Terme, die quadratisch oder in noch höherer Potenz von den hij abhängen, so erhält man bei ge­eigneter Koordinatenwahl für jeden der Koeffizienten hij eine Gleichung

(115)

die genau wie die Gleichungen (36a) und (65) eine Wellengleichung dar­stellt. Die Geschwindigkeit c ist dabei, wie im elektromagnetischen Fall, die Lichtgeschwindigkeit.

Wie diese Gleichungen im Detail aussehen und wie man sie löst, können wir hier nicht vorführen; wir wollen stattdessen eine einfache Lösung angeben und daran untersuchen, wie Gravitationswellen ihre Umgebung beeinflussen. Diese einfache Lösung ist die Metrik

Hierbei ist x die Koordinate der I-Richtung, der Ausbreitungsrichtung der Welle, l/ die Frequenz der Welle und die dimensionslose Größe A ihre Amplitude. Den Wellencharakter zeigt die Sinusfunktion: Diese Metrik ist sowohl in der Zeit als auch in der zur I-Richtung gehörigen Koordina­te x periodisch. Es fällt auf, daß die metrischen Koeffizienten, die zu den am Ausbreitungsvorgang beteiligten Richtungen 1 und 4 gehören, nicht an der Schwingung beteiligt sind. Eine genauere mathematische Analyse zeigt, daß dies eine ganz allgemeine Eigenschaft der Gravitationswellen ist, die, wie ihre elektromagnetischen Vettern, strikt transversal schwin­gen, das heißt nur senkrecht zu ihrer Ausbreitungsrichtung.

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360 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

Betrachten wir nun die Situation, die in Abb. 154 dargestellt ist: In der Ebene x = 0, die durch die Richtungen 2 und 3 aufgespannt wird, befin­det sich am Koordinatenursprung eine leichte und frei bewegliche Test­partikel, durch eine kleine schwarze Scheibe dargestellt. Gleichmäßig und mit konstantem Abstand r vom Ursprung um diese erste Partikel her­um angeordnet sind acht weitere leichte Testpartikel, die ebenfalls völlig frei beweglich sind. Die Kreisfläche mit Radius r ist grau schattiert ein­gezeichnet. Die I-Richtung möge senkrecht zur Buchseite in Richtung des Beobachters zeigen. Die Anordnung befinde sich zunächst im leeren Raum, in dem die herkömmliche euklidische Metrik gilt. Die Testparti-

2

Abbildung 154. Testteilchen auf einer massiven Kreisscheibe

kel, die sich auf dem Rand der Scheibe befinden, haben in unserem Ko­ordinatensystem Koordinaten y und z dergestalt, daß für ihren Abstand 8

vom Nullpunkt gilt 82 = y2 + z2 = r2 .

Nun soll die einfache Gravitationswelle, die in unserem Koordina­tensystem durch eine Metrik der Form (116) beschrieben wird, von hin­ten nach vorne durch das Bild laufen. Nach EINSTEINS Trägheitsgesetz werden die Koordinatenwerte der frei beweglichen Testteilchen in die­ser Situation konstant bleiben; es zeigt sich nämlich, daß die Weltlini­en mit konstantem x, y, z und veränderlichem t geodätische Linien des oben angegebenen metrischen Felds sind. Da der Abstand zwischen zwei Teilchen aber nicht nur von seinen Koordinatenwerten, sondern auch von den metrischen Koeffizienten abhängt, und da sich zumindest eini­ge dieser metrischen Koeffizienten mit der Zeit ändern, kommt es beim Durchgang der Gravitationswelle zu einer Veränderung der Abstände s der äußeren Testteilchen vom zentralen Teilchen. Den - nunmehr zeitabhängigen - Abstand s(t) können wir mit dem verallgemeinerten

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Gravitationswellen 361

Pythagoräischen Lehrsatz berechnen, (98) auf S. 291. Dort war der Ab­stand zweier Raumzeitpunkte in Abhängigkeit von ihren Koordinaten­differenzen (ihren Gaußschen Koordinaten)~, 'Tl, (und T angegeben, und diesen Ausdruck können wir auf unsere Situation anwenden: Uns inter­essiert der Abstand einer Testpartikel in der 23-Ebene mit den Koordi­naten y, z von der zentralen Partikel im Nullpunkt. Wir wollen diesen Abstand zu einem festen Zeitpunkt t berechnen; die Zeitdifferenz T zwi­schen den uns interessierenden Raumzeitpunkten ist also T = O. Beide Punkte befinden sich in der durch x = 0 gegebenen 23-Ebene; ihre x­Koordinatendifferenz ~ ist daher ebenfalls null, ~ = O. Das Zentralteil­chen befindet sich im Nullpunkt des räumlichen Koordinatensystems, das äußere Teilchen möge die Koordinaten x = 0, y und z haben; die Koor­dinatendifferenz in der 2-Richtung zwischen den Teilchen ist demnach 'Tl = y; diejenige in 3-Richtung ist ( = z. Setzen wir zuguterletzt noch die metrischen Koeffizienten (116) ein, dann erhalten wir

S2(t) = [1 + Asin(27rvt)]y2 + [1 - Asin(27rvt)]z2

(117)

wobei y2 + z2 = r2 der "ungestörte" Abstand der beiden Testtei1chen ist - der Abstand, den die Teilchen hatten, bevor die Gravitationswelle in Erscheinung trat. Diese Gleichung können wir umschreiben als

(s(t) - r) . (s(t) + r) = S2(t) - r2 = Asin(27rvt) . [y2 - Z2]. (118)

Führen wir nun Lls(t) als die Abweichung des Teilchenabstands vom ur­sprünglichen Wert rein, Lls(t) := s(t) - r. Wir gehen im folgenden da­von aus, daß diese Abweichung verglichen mit dem Abstand r sehr klein ist. Dann folgt aus (118) ein Ausdruck für die relative Abstandsänderung Lls(t)/r des Testteilchens mit den Koordinaten y, z: Man ersetzt auf der linken Seite von (118) jeweils s(t) durch Lls(t) + r, damit ergibt sich Lls(t) . [Lls(t) + 2r]. Dann teilt man beide Seiten der Gleichung durch 2r2 und berücksichtigt, daß Lls(t)/2r sehr viel kleiner ist als Eins und daher im Vergleich mit Eins vernachlässigt werden kann. Als Ergebnis erhält man, diesem Rezept folgend, den Ausdruck

Lls(t) 1 [(y2) (Z2)] -r- = "2 A sin(27rvt) r2 - r2 . (119)

Mit Hilfe dieser Gleichung können wir errechnen, wie der Durchgang der Gravitationswelle die Abstände der Testteilchen beeinfiußt. In Abb. 155

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362 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

sind die Abstände der umgebenden Testpartikel vom Zentralteilchen für die Zeit Null (also die Phase <p = 27r1/t = 0), nach einer Viertel Schwin­gungsdauer (<p = 7r /2), nach der halben Schwingungsdauer (<p = 7r) und nach einer Dreiviertelschwingungsdauer (<p = 37r /2) aufgetragen. Zum Vergleich ist die Kreisscheibe mit konstantem Radius r wiederum als graue Scheibe eingezeichnet13• Für die Testpartikel beispielsweise, die sich senkrecht über der zentralen Testpartikel auf der 3-Achse befin­det, ist y = 0 und z = r. Zum Zeitpunkt t = 1/41/ ergibt sich dar­aus, in die Gleichung (119) eingesetzt, eine relative Abstandsänderung ,18(1/41/) = -r/2. In dieser Phase der Gravitationswelle hat sich der Abstand der betreffenden Testpartikel vom zentralen Teilchen um r /2 vermindert - er ist nur noch halb so groß wie zur Zeit t = O.

<p=o <p = 7r /2 <p=7r <p=37r/2

Abbildung 155. Durchgang einer Gravitationswelle durch unseren Versuchs auf­bau

Dabei verzerrt sich der Kreis, auf dem die Teilchen lagen, zunächst zu einer waagerechten Ellipse gleicher Fläche (die Verschiebung der Teilchen von ihren ursprünglichen Positionen sind dabei gepunktet ein­gezeichnet), anschließend zu einer senkrechten Ellipse. Die Abbildung zeigt einige der Eigenschaften, die für die Gravitationswellen der Ein­steinschen Theorie charakteristisch sind: Zum einen finden die Schwin­gungen senkrecht zur Ausbreitungsrichtung statt, genau wie bei den elek­tromagnetischen Wellen. Zum anderen lassen sie den Flächeninhalt der von ihnen verzerrten Gebiete konstant; in Abb. 155 etwa ist das von dem ursprünglichen Teilchenkreis eingeschlossene Gebiet genauso groß wie die Fläche der Ellipse, zu der dieser Kreis beim Durchgang der Gravita­tionswelle deformiert wird.

13 Mathematisch sind wir dabei zu einem anderen Koordinatensystem übergegangen, das so gewählt ist, daß die Koordinatenabstände der Punkte ihre wirklichen Abstände wiedergeben.

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Gravitationswellen 363

In Einzelheiten zu klären, auf welche Weise Gravitationswellen wie die eben besprochene erzeugt werden, erfordert mathematische Techni­ken, auf die wir hier nicht zurückgreifen können. Während elektroma­gnetische Strahlung durch beschleunigte elektrische Ladungen erzeugt wird, wird Gravitationsstrahlung durch beschleunigte Massen erzeugt. Dabei ist allerdings eine zusätzliche Einschränkung zu berücksichtigen: Die von N Punktteilchen erzeugte elektromagnetische Strahlung, wobei das ite Teilchen die elektrische Ladung ei tragen und die Beschleunigung bi erfahren möge, hängt wesentlich von einem Ausdruck der Forml4

(120)

ab. Betrachten wir den entsprechenden Ausdruck für Gravitationswellen, ersetzen also die elektrischen Ladungen ei der Teilchen durch ihre "Gra­vitationsladungen", ihre Massen mi,

(121)

dann steht in der Klammer nichts anderes als die Änderung des Aus­drucks

(122)

mit der Zeit, wobei Vi die Geschwindigkeit des iten Teilchens ist. Die­ser Ausdruck ist aber gerade der Gesamtimpuls unseres Systems, und er ändert sich nach dem Gesetz von der Erhaltung des Impulses für isolier­te Systeme nicht mit der Zeit15 . Dieser Umstand führt zu einem grund­legenden Unterschied zwischen elektromagnetischer und Gravitations­strahlung, unter anderem dazu, daß an den durch die Gravitationswelle verursachten Abstandsverzerrungen immer zwei Raumrichtungen betei­ligt sind.

Eine typische Anordnung beschleunigter Massen, die Gravitations­wellen abstrahlt, ist die Umlaufbewegung eines Himmelskörper um einen anderen, oder zweier Himmelskörper umeinander. Für die Bewegung ei­ner Masse M mit Geschwindigkeit V auf einer Kreisbahn, die sich in

14 Strenggenommen handelt es sich bei den Beschleunigungen bi um Vektoren im Raum, und der Ausdruck (120) ist als Betragsquadrat der Linearkombina-

tion von Raumvektoren e1b1 + e2b2 + ... + eNbN zu verstehen. 15 Genau betrachtet ist unser System natürlich nicht isoliert, da es ja gerade Ener­

gie in Form von Gravitationswellen abstrahlt. Es zeigt sich aber, daß der Er­haltungssatz in der angegebenen Form in der hier betrachteten Näherung trotz der Anwesenheit der Gravitationswelle gültig bleibt.

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364 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

einem Abstand r von der Erde befindet, ist die Amplitude der bei uns an­kommenden Gravitationswellen - in (116) die Größe A, allgemeiner die Größenordnung der Koeffizienten hij , die die Abweichung der Metrik vom flachen Raum anzeigen - in grober Näherung gegeben durch den Ausdruck

A ~ 2kMv2

~ rc4 ' (123)

wobei c die Lichtgeschwindigkeit und k die Newtonsche Gravitations­konstante [vgl. (26)] ist; in den in diesem Teil des Buches verwendeten Einheiten gilt

3

k=6,674.10- 11 m 2' kg s

c = 299 792 458 m . s

Die Existenz schwerer Objekte, die sich schnell umeinander bewegen und dabei entsprechend der vorangehenden Abschätzung beträchtliche Mengen an Gravitationswellen abstrahlen, ist aus astrophysikalischer Sicht durchaus zu erwarten. Ein Beispiel wäre ein Doppelstern, dessen sich umkreisende Komponenten Neutronensterne sind. Neutronenster­ne stellen das Endstadium der Entwicklung mittelschwerer Sterne dar und sollten im Weltall entsprechend häufig anzutreffen sein; sie entste­hen, wenn ein mittelschwerer Stern seinen Kernbrennstoff aufgebraucht hat und im Rahmen eines Supernova-Ausbruchs explodiert. Ein Teil der Sternmaterie wird dabei nach außen geschleudert, ein anderer Teil kolla­biert zu einem sehr kleinen, extrem dichten Objekt, das aus reiner Kern­materie besteht: einem Neutronenstern. Wir wollen abschätzen, welcher Stärke die Gravitationswellen sein mögen, die uns von einem Neutro­nensternpaar erreichen: Als typischen Massenwert für Neutronensterne wählen wir M = 1031 kg (entsprechend dem l,4fachen der sonnenmas­se) und nehmen weiterhin an, die Bahngeschwindigkeit der Sterne sei etwa ein hundertstel der Lichtgeschwindigkeit. Die Ausdehnung unse­rer Galaxis, der Milchstraße, beträgt rund 1021 m; wir wollen annehmen, der Doppelstern sei nur ein hundertstel soweit von uns entfernt. Setzen wir diese Werte in die obige Formel ein, so erhalten wir das Ergebnis A ~ 10-19 - die Abstände zweier Testmassen verändern sich beim Durchgang dieser Gravitationswelle nur um etwa ein milliardstel mil­liardstel Prozent. Testmassen an gegenüberliegenden Punkten des Erd­balls, die rund 10 000 km voneinander entfernt sind, verändern ihren

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Gravitationswellen 365

Abstand nur um rund einen Tausendstel Atomdurchmesser. Wir werden später sehen, daß solche extrem kleinen Abstandsänderungen durchaus im Nachweisbereich geplanter Gravitationswellendetektoren liegen.

Sternsysteme wie das hier betrachtete strahlen in Form von Gravita­tionswellen eine beträchtliche Menge an Energie ab, die um einige Zeh­nerfaktoren größer sein kann als die Energiemenge, die unsere Sonne im gleichen Zeitraum in Form elektromagnetischer Strahlung von sich gibt. Die durch Gravitationswellen abgestrahlte Energie wird der Bahnener­gie der beiden Partner entzogen, die beiden Sterne geraten immer näher aneinander heran und ihre Umlaufperiode wird in vorherberechenbarer Weise kürzer. Auf diese Art gelang HULSE und TAYLOR Ende der 1970er Jahre ein überzeugender indirekter Nachweis von Gravitationswellen; ei­ne Leistung, für die sie 1993 mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Die beiden Radioastronomen hatten in den über Jahre hinweg gesammelten Beobachtungsdaten für einen bestimmten Neutronenstern, den Pulsar PSR 1913+16, der Teil eines Doppelsterns mit Umlaufzeit 0,32 Tagen ist, eine Abnahme der Bahnperiode von rund 10-4 Sekunden pro Jahr festgestellt, deren Verlauf genau mit den Vorhersagen der Rela­tivitätstheorie für den Fall übereinstimmt, daß der Doppelstern Energie in Form von Gravitationswellen verliert.

Noch stärkere Wellenabstrahlung ist zu erwarten, wenn an der Rotati­on statt der erwähnten Neutronensterne weit massivere Schwarze Löcher beteiligt sind, Objekte, die wir im nachfolgenden Abschnitt VIII, 3 ken­nenlernen werden.

Der direkte Nachweis der Gravitationswellen sich umkreisender Ob­jektpaare ist nicht nur als Bestätigung der allgemeinen Relativitätstheorie interessant, sondern würde darüber hinaus interessante astrophysikali­sche Informationen liefern: Wie die genauere Betrachtung zeigt, läßt sich mit Hilfe des Energiesatzes aus der Umlaufzeit und ihrer Änderung die Stärke der abgestrahlten Gravitationswellen berechnen (vergleiche die Fußnote auf S. 373). Der Vergleich mit der direkt gemessenen Ampli­tude der bei uns ankommenden Wellen ergibt dann die Entfernung der betreffenden Objekte von der Erde. Ebenfalls aus der Umlaufzeit und aus bestimmten Details der Wellenform müßten sich die Massen der beteilig­ten Objekte ermitteln lassen. Durch die Beobachtung von Gravitations­wellen ließe sich damit Aufschluß über die Massenverteilung von binären Sternsystemen und damit mittelbar allgemein über die Massenverteilung im Weltall gewinnen - auch für Bereiche, die auf andere Weise gar nicht beobachtbar sind, etwa solchen, die von uns aus gesehen hinter kosmi­schen Dunkelwolken verborgen liegen.

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366 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

Weiterhin kommen die inneren Schwingungen einzelner Neutronen­sterne als Produzenten von Gravitationswellen infrage. Dies ist von be­sonderem Interesse, da sich aus einer Analyse der entstehenden Wellen­formen Rückschlüsse auf die innere Struktur dieser Sterne und die Ei­genschaften der Kernmaterie ziehen ließen, aus denen sie bestehen.

Auch beim Kollaps von Sternen bei einer Supernova-Explosion - al­so bei dem Proze, durch den Neutronensterne entstehen - könnten Gra­vitationswellen entstehen, wahrscheinlich in Form eines kurzen, ledig­lich einige Tausendstel Sekunden dauernden Gravitationswellenpulses. Der Nachweis eines solchen Pulses ist wiederum nicht nur im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie interessant, sondern dürfte Informa­tionen über den Verlauf des Kollapses enthalten, die auf andere Weise nicht zugänglich sind.

Nicht zuletzt kann man sich fragen, inwieweit der Gravitationswel­lenhintergrund Informationen über die frühen Entstehungsphasen unse­res Universums enthält - zu jener Zeit entstandene Gravitationswellen könnten sich auch heutzutage noch nachweisen lassen und könnten uns Informationen über die Bedingungen bei ihrer Entstehung und damit über die Eigenschaften des frühen Universums geben (ähnlich der kosmischen Hintergrundstrahlung, die wir weiter unten [VIII, 4, S. 424] kennenlernen werden).

All diese Überlegungen deuten darauf hin, daß Gravitationswellen, könnte man sie direkt nachweisen, ein überaus nützliches Werkzeug astrophysikalischer Forschung darstellen müßten. Eine "Gravitations­wellen-Astronomie" verspricht wichtige Ergänzungen zu den üblichen astronomischen Beobachtungen elektromagnetischer Wellen und könnte in ähnlicher Weise ein neues Fenster auf unseren Kosmos öffnen, wie es Anfang der 1940er Jahre der Radioastronomie gelang.

Wir wollen uns nun der Frage zuwenden, wie solch ein direkter Nach­weis gelingen könnte. Ausgangspunkt ist die Wirkung von Gravitations­wellen auf Testmassen, wie wir sie in Abb. 155 kennengelernt haben -der Durchgang der Gravitationswelle bewirkt, daß sich die Abstände zwi­schen solchen Testmassen geringfügig verändern; das Problem, Gravita­tionswellen nachzuweisen, reduziert sich somit auf das Problem, solche extrem geringen Abstandsänderungen zu messen.

Eine Möglichkeit des Nachweises besteht darin, die Gravitationswel­le an ein schwingungsfähiges System zu koppeln. Stellen wir uns da­zu zunächst vor, die zwei in Abb. 155 auf der senkrechten Achse be­findlichen äußeren Testmassen wären durch eine Feder verbunden (siehe Abb. 156, ganz links). Sie stellen damit ein schwingungsfähiges System

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Gravitationswellen 367

'1'=0 'I' = 7r /2 cp=7r 'I' = 37r/2

Abbildung 156. Durchgang einer Gravitationswelle durch ein schwin-gungsfähiges System, hier: durch eine Feder verbundene Punktmassen

dar: Entfernt man die Massen etwas weiter voneinander, so werden sie durch die Feder zurückgezogen; bewegen sie sich, diesem Zug folgend, aufeinander zu und kommen sich schließlich näher als in der Ausgangs­position, drückt sie die nunmehr gestauchte Feder wieder auseinander, und so fort, ganz analog der Schwingung des Federpendels, die wir zu Beginn des Buches kennengelernt hatten (II, 11, S. 31ff.). Die charakte­ristische Frequenz, mit der das System, einmal angeregt, weiterschwingt, hängt von der Stärke der Feder und von den Massen der Testteilchen ab16•

Nun stellen wir uns vor, das System werde, wie in Abb. 156 dargestellt, von einer Gravitationswelle durchquert, deren Frequenz so groß ist wie die charakteristische Frequenz des Systems. Dann kommt es zur Reso­nanz: Genauso wie eine Schaukel, der wir in perfekter Abstimmung mit ihrer charakteristischen Schwingungsfrequenz immer wieder einen klei­nen Stoß in Richtung ihrer Bewegung versetzen, immer höher und höher schwingen wird, werden die Federschwingungen beim Durchgang der Gravitationswelle größer und größer.

In der Praxis versucht man diesen Effekt nicht in der hier dargestell­ten einfachen Form auszunutzen, sondern mit Hilfe massiver Metallzy­linder (in einigen Fällen auch: Metallkugeln). Solche massiven Objekte werden durch Gravitationswellen geeigneter Frequenz zu elastischen Ei­genschwingungen angeregt; vom Prinzip - obschon nicht von der Stärke her - vergleichbar den Eigenschwingungen einer Glocke (die wir, sind sie z.B. durch einen Klöppelschlag angeregt, dadurch wahrnehmen, daß

16 Dafür wird angenommen, daß die Federkraft näherungsweise der Auslenkung proportional ist; der Zusammenhang mit Masse und Schwingungsfrequenz er­gibt sich dann so, wie für den analogen Fall elastischer Schwingungen eines Federpendels in (11) auf S. 34 angegeben, setzt man dort K = Dx mit D der Federkonstanten.

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368 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

die Glocke sie in Form von hörbaren Schallwellen an die Luft weiter­gibt). Ist der Zylinder in Schwingungen versetzt, lassen sich diese Eigen­schwingungen mit Hilfe hochempfindlicher Meßgeräte auslesen und in elektrische Signale umwandeln.

Die frühesten Versuche dieser Art gehen auf WEBER zurück (1960), bei dessen Detektor die ungeordnete Wärmebewegung die Effekte mög­licher Gravitationswellen allerdings zu stark überlagerte, als daß ihm ein Nachweis gelingen konnte 17 .

Spätere Experimente bemühten sich, dieses Problem zu lösen, in­dem die Detektoren auf Temperaturen nur wenige Grad (oder gar Zehn­tel Grad) über dem absoluten Nullpunkt (rund -273° Celsius) herunter­gekühlt wurden.

Zur Zeit der Niederschrift dieser Zeilen sind in Italien, in den Verei­nigten Staaten und in Australien insgesamt fünf große Detektoren dieses Typs in Betrieb, mit Aluminium- oder Niobzylindern von rund 60 cm Durchmesser und 3 m Länge, 1500 bis 3000 Kilogramm schwer. Mit ih­nen kann man hoffen, die nur Millisekunden langen Ausbrüche starker Gravitationsstrahlung, wie sie bei Supernova-Explosionen zu erwarten wären, nachzuweisen, wenn deren Amplituden bei A ;:::j 10-19 liegen. (Diese Amplitude entspricht einer direkten Umsetzung von gut einem Zehntel der Sonnenrnasse, rund 1029 Kilogramm in Energie nach der For­mel E = mc2 und gibt einen Eindruck davon, wie gewaltig die Energien sind, die bei Supernova-Explosionen freigesetzt werden - zum Vergleich: die bei der Atombombenexplosion von Hiroshima freigesetzte Energie entspricht der Umsetzung von lediglich rund einem Gramm Materie in Energie.)

Noch höhere Empfindlichkeit hofft man mit Hilfe sogenannter in­terferometrischer Detektoren zu erreichen. Der optische Grundaufbau solch eines Detektors, dargestellt in Abb. 157, ist der eines Michelson­Interferometers, wie es uns im Laufe dieses Buches schon des öfteren begegnet ist (etwa IV, 4, S. 87): Der Strahl einer (Laser-)Lichtquelle Q fällt auf die halbdurchlässige Spiegelplatte P. Diese lenkt einen Teil­strahl zum Spiegel SI ab, der dort reflektiert wird und von dem wieder­um ein Teil durch P zum Detektor D gelangt. Der andere Teil des ur­sprünglichen Strahles läuft geradeaus weiter zum Spiegel S2 und wird von dort zur Spiegelplatte P zurückgeworfen, wo ein Teil davon dann

17 WEBER selbst war der Ansicht, er habe Gravitationswellen nachgewiesen; mehrere andere Gruppen mit Detektoren mindestens der gleichen Empfind­lichkeit konnten seine Ergebnisse allerdings nicht bestätigen.

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Gravitationswellen 369

SI

Q

+- I-----,I<-=p-----------t

D

Abbildung 157. Schematischer Aufbau eines interferometrischen Gravitations­wellendetektors

ebenfalls zum Detektor D abgelenkt wird. Die Ausmaße sind dabei we­sentlich länger als die für den Michelson-Morley-Versuch verwendeten Apparate (einige hundert bis einige tausend Meter anstatt einiger Meter). Dadurch ist das Interferometer allerdings auch weit empfindlicher ge­genüber störenden äußeren Einflüssen. Daher sind die Spiegel mit Hilfe komplizierter mechanischer Vorrichtungen (in der Abbildung angedeutet durch die Federn) so aufgehängt, daß sie gegenüber störenden Einwir­kungen möglichst gut isoliert sind - selbst geringste Erderschütterungen, etwa durch vorbeifahrende Autos und Züge oder gar durch die Was­serwellen, die periodisch ans ferne Ufer des nächsten Meeres schlagen, würden die hochgenauen Messungen empfindlich stören.

Sind die Wege Q-tP-tSl-tP-tD und Q-tP-tS2-tP-tD ursprüng­lich gleich lang, so ändert sich dies, wenn eine Gravitationswelle den Detektor durchläuft. Dieser Vorgang ist schematisch in Abb. 158 dar­gestellt: Dann verhalten sich die Spiegel wie die eingangs besproche­nen Testmassen, je nach Phase der durchgehenden Welle unterscheiden sich die Längen der beiden Lichtwege, und im Detektor sind periodisch veränderliche Intensitäten meßbar, die Informationen über die Eigen­schaften der durchgehenden Gravitationswelle enthalten.

Um die nötige Empfindlichkeit zu erreichen, ist eine möglichst große Länge des Lichtweges, sind also möglichst lange Interferometerarme PS 1

und PS2 erstrebenswert: Je länger der Lichtweg, umso größer seine abso­lute Längenänderung beim Durchgang der Gravitationswelle und umso

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370 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

cp=o cp = 1r/2 cp=1r cp = 31r/2

Abbildung 158. Durchgang einer Gravitationswelle durch einen interferometri­sehen Gravitationswellendetektor

größer der Interferenzeffekt. Effektiv läßt sich die Lichtweglänge erheb­lich vergrößern, wenn man das Licht, bevor es auf den Detektor fällt, mehrmals zwischen P und den Spiegeln hin und her wirft. Allerdings darf der Lichtweg dabei auch nicht zu lang werden: Läge die Wellenlänge der Gravitationswelle in der Größenordnung der Lichtweglänge, so würde der Streckung eines Abschnitts des Lichtweges durch den einen Teil der Welle ja gerade die Stauchung eines anderen Abschnittes entgegenwir­ken, so daß die Welle im Ganzen einen kleineren Effekt auf den Detektor hätte. Man wird daher die Länge des Lichtweges jeweils an die Wel­lenlänge der Signale anpassen, deren Nachweis man anstrebt.

Detektoren dieser Art sind zur Zeit (Anfang 2003) in mehreren Län­dern im Testbetrieb oder dabei, erste Daten aufzunehmen: In den Verei­nigten Staaten haben die drei Detektoren des LIGO-Projektes mit Arm­längen von 2, 4 und 4 km, die in Livingston (im Bundesstaat Louisia­na) und Hanford (im Bundesstaat Washington) angesiedelt sind, mit der Aufnahme erster Daten begonnen. In Hannover ist der von britischen und deutschen Forschergruppen betriebene Detektor GEO 600 in Betrieb, mit Armlängen von 600 m. Der kürzere - und daher unempfindliche­re - TAMA 300-Detektor in Japan, mit Armlängen von 300 m, hat so­gar bereits 1999 mit seiner ersten Meßphase begonnen. Noch im Bau befindlich ist der in Italien nahe Pisa gelegene VIRGO-Detektor mit Armlängen von 3 km. Der effektive Lichtweg ist noch wesentlich größer als die Armlänge, denn das Licht wird in diesen Detektoren zwischen 100 und 1000 Mal hin- und hergeworfen. GE0600 beispielsweise soll eine Empfindlichkeit für kurzzeitige Signale mit Amplituden von A ~ 10-20

bis 10-21 erreichen, für andauernde, periodische Signale, die sich über längere Zeiträume verfolgen lassen, soll die Empfindlichkeit noch größer sein; wird ein Signal zum Beispiel über ein ganzes Jahr hinweg kon-

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Gravitationswellen 371

tinuierlich nachgewiesen, dann sollte es auch bei einer Amplitude von unvorstellbaren A ~ 10-26 noch nachweisbar sein.

Auch solange noch kein direkter Nachweis von Gravitationswellen gelingt, sind die Meßdaten dieser Detektoren von Interesse: Sie erlauben die Abschätzung von Obergrenzen für die Häufigkeit derjenigen kosmi­schen Ereignisse, bei denen Gravitationswellen entstehen.

Noch im Planungsstadium ist das Projekt eines Detektors, der aus drei frei im Weltraum schwebenden Satelliten bestehen soll, die Laser Interferometer Space Antenna USA. Die Anordnung der drei Satelliten

Abbildung 159. Drei Satelliten, zwischen denen Laserstrahlen hin und herlaufen, bilden einen weltraumgestützten Gravitationswellendetektor

in einem gleichseitigen Dreieck ist in Abb. 159 zu sehen; die Satelliten haben einen Durchmesser von rund 2 m, ihre Abstände betragen jeweils rund 5 Millionen Kilometer. Die gesamte Anordnung soll auf der Erd­bahn um die Sonne kreisen, gegenüber der Erde um 20° versetzt. Je zwei der Schenkel des Dreiecks bilden dabei ein zweiarmiges Interferometer, dessen Endpunkte frei schwebende Testmassen im Innern der Satelliten sind. Aufgrund der großen Entfernungen ist der Intensitätsverlust selbst für Laserlicht so groß, daß ein hin- und herreflektieren eines einzelnen Laserstrahles nicht praktikabel ist: stattdessen sendet jeder Satellit aktiv eigenes Laserlicht aus, dem dieselbe Phase aufgezwungen wird wie dem ankommenden Laserlicht.

Durch die große Länge des Lichtweges ist USA besonders dazu ge­eignet, sehr langsam schwingende Gravitationswellen mit Frequenzen von einer Schwingung pro Sekunde bis zu einer zehntausendstel Schwin­gung pro Sekunde zu beobachten. Deren Nachweis ist für Detektoren

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372 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

auf der Erde praktisch unmöglich, da die unvermeidbaren seismischen Erschütterungen der Erdoberfläche, denen ein erdgebundener Detektor ausgesetzt ist, in eben diesen Frequenzbereich fallen. Diese Störungen können trotz großen Aufwandes bei der Aufhängung der Spiegel nicht vollständig ausgeschaltet werden.

In diesen Frequenzbereich fallen insbesondere Signale von Doppel­sternsystemen, in denen nicht Neutronensterne oder Schwarze Löcher, sondern "herkömmliche" leuchtende Sterne umeinander kreisen, die wir mit Hilfe von Fernrohren direkt beobachten können - im Gegensatz zu Quellen, deren Existenz wir lediglich anhand ihrer Gravitationsstrahlung erschließen könnten, ließen sich hier die Informationen, die uns Gravi­tationswellen und Licht über ein und dasselbe Sternsystem vermitteln, direkt miteinander vergleichen.

3. Schwarze Löcher

Stellen wir uns vor, wir stünden auf dem Erdboden und würfen einen klei­nen Probekörper der Masse m senkrecht nach oben. Um die Situation ma­thematisch beschreiben zu können, wollen wir eine Reihe vereinfachen­der Annahmen machen: Die Erde möge eine Kugel mit Radius ro und Masse M sein, die Effekte der Luftreibung auf den von uns geworfenen Körper wollen wir vernachlässigen, und der Wurfvorgang selber möge darin bestehen, daß wir dem Körper plötzlich eine Anfangsgeschwindig­keit Vo senkrecht nach oben erteilen. Bei geringer Anfangsgeschwindig­keit wird das eintreten, was wir aus der alltäglichen Erfahrung kennen: Der Körper wird sich vom Erdboden weg bewegen, dabei unter Einfluß der Schwerkraft langsamer werden, schließlich umkehren und zur Erde zurückfallen. Ist es möglich, dem Körper eine so hohe Anfangsgeschwin­digkeit zu geben, daß er nicht wieder auf die Erde zurückfällt? Am ein­fachsten ist diese Frage mit Hilfe des Energiesatzes zu beantworten, den wir im Rahmen der klassischen Mechanik kennengelernt hatten (Il, 14). Dort hatten wir festgestellt, daß die Größe

E=T+U,

die Summe aus der kinetischen Energie T und der potentiellen Energie U eines Körpers, während des Falls im Schwerefeld konstant ist. Für einen Körper, der eine konstante Schwerebeschleunigung erfährt, war gezeigt worden, daß die Energieerhaltung gerade aus der Newtonschen Kraftglei­chung

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Schwarze Löcher 373

K=mb

folgt. Auch im Fall der orts abhängigen Newtonschen Gravitationskraft (26) besteht solch ein Zusammenhang. Es zeigt sich, daß für einen fal­lenden Körper der Masse m im Newtonschen Schwerefeld eines Körpers der Masse M die Energie

E= mv2_kMm 2 r

(124)

während des ganzen Fal1vorgangs denselben Wert hatlS . Dieser Umstand folgt, wie im Fall des homogenen Gravitationsfeldes, aus der Kraftglei­chung K = mb. Daß dem so ist, kann exakt analog zu der Rechnung von S. 4lf. hergeleitet werden, indem man wie dort die Änderungsgeschwin­digkeit e/T von E berechnet: Sei der Einfachheit halber v positiv, von der Erde weg gerichtet. Nach einem kurzen Zeitintervall T ist die neue Geschwindigkeit v + W, der neue Abstand r + VT. Wir verwenden nun die Näherung

k Mm = k Mm ,::::: k Mrm (1- VrT) ,

r + VT r(l + vT/r)

die auf S. 108 abgeleitet wurde (und natürlich nicht nur, wie dort, für ß = v / c, sondern für jede kleine Größe ß gilt). Außerdem vernachlässigen wir

18 Anhand dieser Gleichung ist nachvollziehbar, wie sich aus Veränderungen der Umlaufzeit Rückschlüsse auf die Gesamtenergie eines Doppelsternsystems ziehen lassen, und damit indirekt auf von dem System abgestrahlte Gravita­tionswellen, wie auf S. 365 beschrieben. Nehmen wir an, der Umlauf eines der beiden Sterne im Gravitationsfeld des anderen sei durch die angegebene Gesamtenergie charakterisiert. Unter der Annahme, die Bahn sei kreisförmig, können wir die Bahngeschwindigkeit ausdrücken als v = 27rr jT, mit T der Umlaufzeit. Umlaufzeit T und Abstand r hängen zudem über das dritte Keplersche Gesetz zusammen (IlI, 2, S. 50ff.), und zwar ist r 3 = CT2 mit C = kM j 47r2 • In die Energie (124) eingesetzt, ergibt sich

E rv _ljT2 / 3 ,

mit einem POSItIven Proportionalitätsfaktor. Den richtigen Proportiona­litätsfaktor kann nur eine genauere als die hier durchgeführte Rechnung er­geben, da unsere Annahme, wir hätten es mit einer sehr schweren Masse M und einer kleinen Masse m zu tun, auf realistische Doppelsterne nicht mehr zutrifft. Nimmt die Energie mit der Zeit durch die Abstrahlung von Gravita­tionswellen ab, so nimmt nach dieser Gleichung die Umlaufzeit T ebenfalls ab.

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374 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

den kleinen quadratischen Term w2 • Dann erhalten wir für die Energie E' , die der Körper am Ende des Zeitintervalls T besitzt, den Ausdruck

1m2 Mm Mm E = -2 v + mvw - k-- + k-2-VT.

r r

Mit der Definition der Beschleunigung als b = w / T folgt die Änderungs­geschwindigkeit e/T = (E' - E)/T zu

- =v mb+k-- . e ( Mm) T r 2

In der Klammer steht dort aber nichts anderes als das Newtonsche Kraft­gesetz mb - K = 0 für die Gravitationskraft [wobei das im Ver­gleich zu (26) unterschiedliche Vorzeichen ausdrückt, daß die Kraft der Richtung von v entgegen auf die Erde zu wirkt]; folglich ist die Änderungsgeschwindigkeit von E gleich Null.

Nun wollen wir (124) auf unsere Ausgangsfrage anwenden. Zum Zeitpunkt des Wurfs hat unser Probekörper die Energie

m 2 mM E= -va -k--

2 ra ' (125)

denn wir befinden uns im Abstand r = ra vom Schwerpunkt der Erde und haben dem Körper eine Anfangsgeschwindigkeit v = Va erteilt. Wird sein Abstand von der Erde größer, dann wird seine potentielle Energie

_k mM r

ebenfalls größer, und damit die Gesamtenergie gleichbleibt, muß seine kinetische Energie abnehmen. Ist die kinetische Energie auf Null gesun­ken, dann entspricht dies zwangsläufig v = 0, und der Umkehrpunkt der Bahn ist erreicht, ab dem der Körper wieder auf die Erde zurück­fällt. Damit dieser Umkehrpunkt im Unendlichen liegt - der Körper also nicht mehr auf die Erde zurückkehrt -, muß der Körper mindestens die Gesamtenergie haben, die ein ruhender Körper in unendlichem Abstand von der Erde besitzt. Dies ist nach (124) gerade die Gesamtenergie Null: Die kinetische Energie des ruhenden Körpers ist Null, und wenn wir den Abstand r beliebig vergrößern, kommt die potentielle Energie dem Wert Null beliebig nahe. Lösen wir (125) für E = 0 nach Va auf, so erhalten wir

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Schwarze Löcher 375

Vo = .J2kM ro

(126)

als Mindestgeschwindigkeit eines Körpers, der nicht mehr zur Erde zu­rückfällt. Diese Geschwindigkeit, die offenbar nicht von der Masse des Testkörpers abhängt, wird als Fluchtgeschwindigkeit der Erde bezeich­net. Die Fluchtgeschwindigkeit ist offenbar umso größer, je größer die Masse M des zu verlassenden Körpers und je kleiner sein Radius ro ist. Ist der Körper klein und schwer genug, kann ihm noch nicht einmal von seiner Oberfläche abgestrahltes Licht entkommen, wie JOHN MICHELL bereits 1783 feststellte. Bei gegebener Masse M ist der Radius einer Ku­gel, für welche die Fluchtgeschwindigkeit gleich der Lichtgeschwindig­keit ist, nach (126) gleich einem kritischen Radius, den wir R nennen wollen, wobei gilt

R = 2kM (127) c2 .

Für ro ::; R haben wir es mit einem Körper zu tun, von dessen Oberfläche aus noch nicht einmal Licht ins Unendliche entkommen kann.

Nun ist die Lichtgeschwindigkeit aber nach Aussage der speziellen Relativitätstheorie nicht nur irgendeine Geschwindigkeit, sondern die höchste Geschwindigkeit, die für einen materiellen Körper irgend er­reichbar ist. Um eine Kugel der Masse M, deren Radius kleiner ist als der in (127) angegebene kritische Radius R, existiert ein kugelförmiges Raumgebiet mit Radius R, aus dessem Inneren weder Licht noch ir­gendein hochgeworfener materieller Körper ins Unendliche entkommen können.

Unsere Überlegungen haben bislang nur von der klassischen Be­schreibung der Gravitationskraft Gebrauch gemacht. Untersuchungen im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie ab Mitte der 1960er Jahre von ISRAEL, CARTER, HAWKING und einer Reihe anderer Physiker ha­ben gezeigt, daß die Einsteinsehe Gravitationstheorie zu ähnlichen, wenn auch in einiger Hinsicht andersartigen Folgerungen führt.

Wir haben dem oben im Rahmen der Newtonsehen Theorie betrach­teten kugelförmigen Körper der Masse M in Gedanken einen immer klei­neren Radius zugeschrieben, soweit, bis noch nicht einmal Licht von sei­ner Oberfläche ins Unendliche entkommen konnte. Dabei haben wir still­schweigend angenommen, daß entsprechende Körper überhaupt existie­ren können, und in der Newtonsehen Theorie spricht auch nichts gegen diese Annahme. In der Einsteinsehen Theorie dagegen stellt sich her­aus, daß ein kugelsymmetrischer Körper nur dann existieren kann, ohne

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376 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

sich mit der Zeit zu verändern, wenn das Verhältnis seiner Masse zu sei­nem Radius kleiner ist als der "kritische" Wert c2 /2k, das heißt wenn sein Radius größer ist als sein sogenannter Schwarzschild-Radius - ein von M abhängiger Radiuswert, der gerade gleich der in Gleichung (127) angegebenen Größe n ist. Wird ein solcher Körper instabil und kolla­biert, und nimmt dabei sein Radius auf einen Wert r ::; n ab, so entsteht ein Gebilde, das als Schwarzes Loch bezeichnet wird: Es bildet sich eine Raumregion, in die Objekte oder Licht zwar von außen hineingelangen können - Objekte, die sich im Inneren befinden, können die Region da­gegen niemals verlassen. Die Fläche, welche die Region begrenzt, nennt man den Ereignishorizont oder einfach Horizont; ein Schwarzes Loch ist ganz allgemein ein Gebilde, das einen solchen Horizont besitzt - der Na­me drückt in anschaulicher Weise aus, daß wir es hier mit einer Region zu tun haben, aus der noch nicht einmal Licht entkommen kann und die daher für keinen äußeren Beobachter jemals direkt sichtbar ist. Im ku­gelsymmetrischen Fall ist die betreffende Raumregion gerade durch eine Kugelfläche begrenzt, deren Radius der Schwarzschild-Radius des be­treffenden Körpers und damit ein Maß für die im Inneren des Horizonts konzentrierte Masse ist.

Schon an dieser Stelle zeigt sich ein wichtiger Unterschied zur New­tonschen Theorie: Dort könnte ein Testkörper, der mit einer Geschwin­digkeit kleiner als oder gleich der Lichtgeschwindigkeit aus einer Ent­fernung kleiner als n vom Mittelpunkt 0 der Kugelrnasse losflog, durch­aus einen größeren Abstand vom Mittelpunkt erreichen als n, bevor er schließlich gezwungen wäre umzukehren und wieder auf 0 zuzufallen. Tatsächlich kann sich ein solcher Testkörper sogar beliebig weit vom Ku­gelmittelpunkt entfernen, bevor ihn die Gravitation zur Umkehr zwingt. Weiterhin galt die Berechnung des kritischen Radius nur für Objekte auf die, einmal hochgeworfen, keine andere Kraft als die Schwerkraft wirkt - mit Hilfe eines genügend starken Raketenantriebs beispielsweise läßt sich verhindern, daß ein Objekt jemals wieder auf die Erde zurückfallen muß, selbst wenn seine Anfangsgeschwindigkeitkleiner als die Fluchtge­schwindigkeit der Erde ist. In der allgemeinen Relativitätstheorie dage­gen kann ein Teilchen, das sich innerhalb des Horizonts befindet, diesen überhaupt nicht verlassen - selbst mit Hilfe eines beliebig leistungsstar­ken Raketenantriebs wird es dem Teilchen niemals gelingen können, sein kosmisches Gefängnis zu verlassen.

Wie das zustandekommt, können wir besser verstehen, wenn wir uns allgemeiner damit beschäftigen, daß es in der allgemeinen, aber auch schon in der speziellen Relativitätstheorie Einschränkungen gibt, welche

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Schwarze Löcher 377

Raumzeitregionen für Licht und Materieteilchen von welchen anderen Raumzeitregionen aus zugänglich sind - Einschränkungen, die sich dar­aus ergeben, daß sich weder Licht noch Materie schneller als mit Licht­geschwindigkeit bewegen können.

Wir hatten oben bereits im Zusammenhang mit der speziellen Re­lativitätstheorie (VI, 3) die Schar aller Lichtstrahlen betrachtet, die sich in einem gegebenen Weltpunkt kreuzen. Ohne die Allgemeingültigkeit unserer Betrachtungen einzuschränken, können wir diesen Weltpunkt als Nullpunkt 0 eines Inertialsystems wählen. Wie in jedem Inertialsystem ist die Lichtgeschwindigkeit auch in diesem Bezugssystem vom Bewe­gungszustand des Beobachters unabhängig und hat den Wert c. Daß sich Licht mit der Geschwindigkeit c bewegt, kann man wie folgt ausfor­mulieren: Betrachten wir Licht, das zur Zeit Null den Nullpunkt des räumlichen Koordinatensystems verläßt. Angenommen, das Licht errei­che zur Zeit T den Raumpunkt mit den Koordinaten~, 'T} , ( . Daß es sich dabei mit der Geschwindigkeit c bewegt hat, bedeutet, da es gemäß der dreidimensionalen Version des Satzes des Pythagoras die Strecke J ~2 + 'T}2 + (2 in der Zeit T zurückgelegt hat,

oder (128)

Zusammengenommen bilden alle Strahlen, die dieser Gleichung genü­gen, das höherdimensionale Analogon eines Doppelkegels um den Koor­dinatenursprung; in ihrer Gesamtheit werden sie daher als der Lichtkegel des betreffenden WeItpunkts bezeichnet. Der Ausdruck auf der linken Seite von (128) ist nichts anderes als die fundamentale geometrische In­variante 82, die wir oben bereits kennengelernt haben (VII, 7); wie diese Gleichung zeigt, wird die Lichtausbreitung offenbar durch die Bedingung 82 = 0 beschrieben.

Wir wollen einmal mehr zwei der Raumdimensionen unterdrücken und nur die x-ct-Ebene betrachten. Der Lichtkegel des Nullpunkts 0 ist dann durch die zwei Linien x = ct und x = -ct begrenzt, wie in Abb. 160 zu sehen. Seine Bedeutung ist die folgende: Die Weltlinie W eines Teilchens, die durch einen bestimmten Weltpunkt P führt, verläuft zwangsläufig im Inneren des Lichtkegels von P . Andernfalls wäre seine Geschwindigkeit an irgendeinem Punkt seiner Bahn größer als die des Lichtes: Für ein Teilchen, das sich mit der konstanten Geschwindigkeit

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378 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

ct

w Abbildung 160. Lichtkegel durch den Weltpunkt P

v < c bewegt, und dessen Bahn sowohl durch den Nullpunkt als auch durch einen Punkt P führt, gilt, wenn der Punkt P durch die Raurnkoor­dinaten e, 'TI' , (' beschrieben und von dem Teilchen zur Zeit T' erreicht wird,

(129)

Der Lichtkegel 82 = 0, in der Abbildung mit gestrichelten Linien ein­gezeichnet, scheidet die Raumzeit in drei unendlich große Teile: Zum einen den vom Nullpunkt aus prinzipiell unzugänglichen Teil der Raum­zeit (in der Abbildung grau schattiert angedeutet), nämlich die vom Null­punkt aus nur mit Überlichtgeschwindigkeit erreichbaren Punkte. Für diese gilt 82 > 0, setzt man in Gleichung (129) v > c. Zum anderen einen Raumzeitbereich, dessen Weltpunkte für ein im Nullpunkt befind­liches Teilchen in der Zukunft im Prinzip erreichbar sind (der sogenann­te Zukunfts-Lichtkegel oberhalb des Nullpunkts) und einen Raumzeit­bereich, von dessen Weltpunkten aus Teilchen den Nullpunkt im Prin­zip erreichen können (der Vergangenheits-Lichtkegel unterhalb des Ur­sprungs). Für die letzten beiden Bereiche ergibt (129), daß 8 2 < ° (man setze dort v < c ein). Die Invariante 8 läßt sich bezüglich jedes belie-

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Schwarze Löcher 379

bigen Raumzeitpunktes definieren; jeweils gilt für Teilchenbahnen, die durch diesen Punkt führen, 8 2 < 0 und für Licht 82 = o.

In der allgemeinen Relativitätstheorie ist der Lichtkegel durch einen Weltpunkt zwar im allgemeinen kein wirklicher Kegel mehr, sondern ein komplizierteres Gebilde; in einer kleinen Umgebung eines beliebigen Weltpunktes läßt sich dieses Gebilde aber nach wie vor durch die Be­dingung 8 2 = 0 beschreiben: Wir haben dort immer die Möglichkeit, zu einem frei fallenden Koordinatensystem überzugehen. In diesem gilt die spezielle Relativitätstheorie, und für Lichtbahnen gilt 82 = O. Die Größe 8 ist aber gerade, wie oben (VII, 7) bereits angesprochen, eine Invariante, das heißt, daß insbesondere die Bedingung 82 = 0 für die Lichtbahnen in jedem beliebigen Koordinatensystem erfüllt ist. Auch die Bedeutung des so konstruierten kleinen Lichtkegels bleibt dieselbe: Nach wie vor liegen die erlaubten Bahnen materieller Körper innerhalb des Lichtkegels und erfüllen 82 < 0, nach wie vor sind die durch 82 > 0 gekennzeichneten Bereiche für materielle Körper unzugänglich.

Verfolgen wir nun den Vorgang, bei dem ein Punktteilchen in ein ku­gelsymmetrisches Schwarzes Loch fällt. Das Schwarze Loch ist durch die Angabe der Metrik definiert, die ausdrückt, wie die Anwesenheit der konzentrierten Masse die Geometrie der Raumzeit beeinflußt und insbe­sondere (über die Bedingung 82 = 0) die Bahnen von Lichtstrahlen in der betreffenden Raumzeit vollständig bestimmt [man vergleiche den all­gemeinen Abstand 82 in einer beliebigen Raumzeit, der in (98) auf S. 291 gegeben ist]. Damit lassen sich die Lichtkegel an beliebigen Raumzeit­punkten konstruieren, die uns sagen, welche Raumzeitregionen für einen materiellen Körper von dem betreffenden Raumzeitpunkt aus erreichbar sind, und welche nicht. Daß der vom Horizont umschlossene Bereich von darin befindlichen Teilchen niemals mehr verlassen werden kann, muß in der Lichtkegelstruktur deutlich werden - wenn ein Teilchen das Innere des Horizonts nicht verlassen kann, dann, weil es dazu in Raumzeitberei­che gelangen müßte, die außerhalb der mit seiner Weltlinie assoziierten Lichtkegel liegen.

Wie sich die Situation für ein Teilchen darstellt, das in das Schwarze Loch fällt, wollen wir im folgenden mit einer schematischen Abbildung verdeutlichen. Die Abb. 161 zeigt die Weltlinie eines solchen Teilchens sowie einige der Lichtkegel entlang dieser Weltlinie19; ebenso den Ho-

19 Das Koordinatensystem ist dabei nicht das üblichere Koordinatensystem eines weit außerhalb des Lochs ruhenden Beobachters, sondern ein auf die Verfol­gung einfallender Teilchen zugeschnittenes System.

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380 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

ct

=-------------~~--~~x

Abbildung 161. Lichtkegel entlang der Weltlinie eines Teilchens, das in ein Schwarzes Loch fällt (schematisch)

rizont und, schattiert angedeutet, einen Ausschnitt aus dem Inneren des Schwarzen Lochs.

Die Bahnen der Lichtstrahlen werden von der Raumzeitgeometrie um das Schwarze Loch herum bestimmt: Je näher man dem Horizont kommt, um so stärker sind die Lichtkegel in Richtung auf die anziehende Masse gedreht. Der Horizont ist offenbar die Region, in der die Lichtkegel so­weit zum Schwarzen Loch hin gedreht sind, daß sich kein Teilchen mehr vom Schwarzen Loch entfernen kann - dazu müßte es verbotenerweise den Lichtkegel verlassen. (Mathematisch kann man gerade diese Eigen­schaft zur strengen Definition des Begriffes Horizont verwenden.) Ist der Horizont überquert, so könnte man meinen, hier beginne ein Gebiet, das dem Inneren einer Kugel ähnelt, mit einem räumlichen Mittelpunkt, viel­leicht auch mit einem kompakten, zentralen Gebilde, in dem die Masse des Schwarzen Lochs konzentriert ist. Tatsächlich ist das Innere eines kugelsymmetrischen Schwarzen Lochs weit befremdlicher. Dort ist die Raumzeit extrem verzerrt und hat nichts mehr mit dem Inneren einer

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dreidimensionalen Kugel zu tun20• Stattdessen erreicht ein einfallendes Teilchen, der Lichtkegelstruktur folgend, zwangsläufig eine Art Rand der Raumzeit. Für einen fallenden Beobachter ist die Reise nach (aus seiner Sicht) endlicher Zeit zuende - die Weltlinie eines einfallenden Teilchens etwa stößt nach endlicher Zeit auf einen Punkt, über den hinaus sie sich nicht weiter fortsetzen läßt: die Eigenzeit des Teilchens ist dort abrupt zu Ende. Der Rand des Raum-Zeit-Kontinuums - das Ende der Zeit - ist ei­ne Region, in der unendlich starke Gravitationskräfte wirken und die als Singularität bezeichnet wird. Singularitäten gehören zu den sonderbar­sten Strukturen, die wir in EINSTEINS Theorie antreffen, und wir werden später noch auf sie zurückkommen.

Bislang haben wir nur den Fall eines Punktteilchens betrachtet; für ausgedehnte Objekte, die in das Schwarze Loch fallen, macht sich ein weiterer Effekt bemerkbar: Die Anziehungskraft des Schwarzen Lochs wird um so stärker, je näher man ihm kommt. Bei einem ausgedehn­ten Objekt sind zwangsläufig einige Partien dem Schwarzen Loch etwas näher, andere etwas ferner. Die Kraft, mit der die unterschiedlichen Tei­le des Objektes angezogen werden, variiert daher leicht; der Kraftunter­schied wird als GezeitenkraJt bezeichnet, da Kraftunterschiede dieser Art für die Gezeiten der Weltmeere verantwortlich sind. Fällt beispielswei­se ein Astronaut kopfüber auf das Schwarze Loch zu, so wird sein Kopf etwas stärker angezogen als seine Füße - das Resultat ist eine Gezeiten­kraft, die versucht, den Astronauten etwas in die Länge zu ziehen. Auf der Reise zur Singularität werden die Gezeitenkräfte, die versuchen, un­seren Astronauten (oder einen beliebigen anderen ausgedehnten Körper) in die Länge zu ziehen, immer stärker, so stark, daß ihnen keine innere Festigkeit der Materie zu widerstehen vermag und am Ende der Reise schließlich sogar unendlich stark. Nicht nur, daß die Eigenzeit eines je­den Teilchens in der Singularität ihr Ende findet, auf dem Weg dorthin wird jede Struktur ausgedehnter Objekte zwangsläufig zerstört.

Wir haben bereits erfahren (VII, 11, S. 304; VIII, 1, S. 339 und S. 348), daß Uhren in einem Gravitationsfeld aus der Sicht eines Beob-

20 Insbesondere kommt dem Schwarzschild-Radius nicht die übliche Bedeutung eines Radius als Abstand von einer Kugelfläche zum Kugelmiuelpunkt zu. Tatsächlich kann man den Radius reiner kugelsymmetrischen Fläche F all-gemeiner als r = J F / 4n definieren - im Fall einer herkömmlichen Kugel gibt dies den richtigen Radiuswert, im Falle einer Fläche wie des Horizonts eines kugelsymmetrischen Schwarzen Lochs erlaubt es, so etwas wie einen geometrischen Radius zu definieren, dem keine Entfernung im Inneren der Kugelfläche entsprechen muß.

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achters, der sich in einem Bereich schwächerer Gravitation befindet, ver­langsamt erscheinen. Dies zeigt sich in extremer Weise, wenn ein äußerer Beobachter verfolgt, wie ein Objekt in ein Schwarzes Loch fällt: Nahe dem Horizont verzögert sich der Zeitablauf aus Sicht dieses Beobachters immer mehr, je näher das Objekt dem Horizont kommt. Alle Vorgänge an Bord eines Raumschiffes etwa, das sich anschickt, in das Schwarze Loch zu fliegen, erscheinen aus der Sicht solch eines Beobachters mehr und mehr verlangsamt - einschließlich der Bewegung des Raumschiffs in Richtung des Horizonts. Mit immer größerer Horizontnähe wird die Zeit­dehnung dabei so extrem, daß das fallende Objekt den Horizont aus Sicht eines äußeren Beobachters niemals zu erreichen scheint! Wie dies vor sich geht, können wir im Rückgriff auf den bereits früher (VIII, 1, S. 354) eingeführten Begriff der Koordinatengeschwindigkeit verstehen. Die ex­akte Metrik, die das kugelsymmetrische Schwarze Loch beschreibt, er­gibt für die Koordinatengeschwindigkeit radialer Lichtstrahlen in geeig­neten Koordinaten den Wert

C' = c. (1 _ 2kM) . c2r

(130)

In der Nähe des Horizonts ist r nur etwas größer als der Schwarzschild­Radius n = 2kmj c2 , der Ausdruck 2kM j c2r ist daher nur wenig klei­ner als eins, und die Koordinatengeschwindigkeit ist fast Null. Am Hori­zont selbst ist c' exakt gleich Null- das Licht tritt dort quasi "auf der Stel­le" und scheint den Horizont niemals zu verlassen21 . (Bevor der Begriff "Schwarzes Loch" geprägt war, beschrieb man diese Objekte ob dieser Eigenschaft auch als "gefrorene Sterne" - der Kollaps eines Sternes etwa scheint nahe dem Horizont "einzufrieren".) Allerdings entzieht sich ein einfallendes Objekt nahe dem Horizont mehr und mehr den Blicken des Beobachters, da das Licht, das ihn von diesem Objekt erreicht, in dem­selben Maße rotverschoben erscheint, wie sich die Zeitabläufe aus seiner Sicht verlangsamen.

Wie unvorstellbar stark Materie komprimiert werden muß, damit bei­spielsweise aus einem Objekt von Stern- oder Planetenmasse ein Schwar­zes Loch entsteht, kann man sehen, setzt man in die Formel (127) ent­sprechende Werte für die Masse ein (die Konstanten finden sich auf S. 364). Für die Sonne mit ihren 2 . 1030 kg Masse erhält man einen

21 Diese extreme Eigenschaft der Sichtmöglichkeiten eines äußeren Beobach-ters wird in der älteren Literatur ebenfalls als "Singularität" bezeichnet, sollte allerdings nicht mit der oben beschriebenen physikalischen Singularität ver­wechselt werden, die wir im Innersten des Schwarzen Lochs vorfinden.

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Schwarzschild-Radius von nur rund 3 Kilometern, für die Erde mit ihrer Masse von 6 .1024 kg einen Schwarzschild-Radius von lediglich 9 Milli­metern - auf Kugeln dieser Größe müßte man die Sonne beziehungswei­se unsere Erde zusammendrücken, um ein Schwarzes Loch zu bilden. Im galaktischen Größenmaßstab, entsprechend Massen von einigen Milliar­den Sonnenrnassen, ist dagegen keine Kompression auf besonders große Dichten erforderlich, um ein Schwarzes Loch entstehen zu lassen. Ei­ne Galaxie mit 1010 Sonnenrnassen hat einen Schwarzschild-Radius von 3 . 1010 Kilometern. Euklidische Geometrie zugrundegelegt, hätte das entsprechende Schwarze Loch eine mittlere Dichte von rund einem Kilo­gramm pro Kubikmeter - in etwa dieselbe Größenordnung wie die Dichte der Luft, die uns hier auf der Erdoberfläche umgibt.

Bislang haben wir unsere Betrachtungen auf ein kugelsymmetrisches Schwarzes Loch beschränkt. Ein solches Loch wird auch als Schwarz­schild-Loch bezeichnet, da die Raumzeit außerhalb seines Horizonts durch die bereits erwähnte Schwarzschild-Lösung beschrieben wird (vgl. S. 298) - derselben Lösung, die auch die Raumzeit außerhalb ande­rer kugelsymmetrischer Objekte beschreibt, und die sich beispielswei­se auch verwenden läßt, um die Raumzeit im Umfeld unserer Sonne zu beschreiben. Neben der Schwarzschild-Lösung, sind weitere Lösungen der Einsteinschen Feldgleichungen bekannt, die anderen Arten Schwar­zer Löcher entsprechen.

Die 1963 entdeckte KERR-Lösung etwa beschreibt ein rotierendes Schwarzes Loch. Außerhalb des vom Horizont umschlossenen Inneren des Schwarzen Lochs weist ein solches Objekt eine zusätzliche Struk­tur auf, eine Region, die Ergosphäre genannt wird und innerhalb derer jedes Objekt gezwungen ist, bis zu einem gewissen Grade an der Rota­tion des Schwarzen Lochs und der es umgebenden Raumzeit teilzuneh­men. Je näher ein in der Ergosphäre befindliches Objekt dem Horizont des Schwarzen Loches kommt, desto stärker wird es von der rotierenden Raumzeit mitgerissen - direkt am Horizont wird jedes Objekt zum Um­lauf mit ein und derselben Rotationsgeschwindigkeit gezwungen, die wir daher als Rotationsgeschwindigkeit des Schwarzen Lochs selbst deuten können.

Wie PENROSE gezeigt hat, ließe sich die mitrotierende Raumzeit theoretisch nutzen, um dem Schwarzen Loch Energie zu entziehen. Stel­len wir uns vor, wir hätten ein Objekt, eine Art Hantel, die aus zwei mas­siven Kugeln besteht, welche über einen Schaft miteinander verbunden sind. In den Schaft sei eine Sprengladung eingebaut, die wir ferngesteuert zünden können. Wir schießen die Hantel von außen in die Ergosphäre, wo

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sie beschleunigt wird, da sie bis zu einem gewissen Grade an der Rotati­on der Raumzeit teilnehmen muß. Anschließend zünden wir die Spreng­ladung in einer Weise, daß die eine Kugel die Ergosphäre aufgrund des Rückstoßes verlassen kann, während die andere in das Schwarze Loch fällt. Geht man dabei geschickt vor, kann man erreichen, daß diejenige Kugel, welche die Ergosphäre verläßt, eine größere kinetische Energie besitzt als die kinetische Energie, mit der die Hantel in die Ergosphäre eingetreten ist: Im Rahmen dieses sogenannten PENROSE-Prozesses hat man dem rotierenden Schwarzen Loch Energie entzogen.

Außer rotierenden Schwarzen Löchern können wir auch solche be­trachten, die eine elektrische Ladung tragen. Der Horizont eines elek­trisch geladenen Schwarzen Lochs erweist sich als kleiner als der eines ungeladenen Schwarzen Lochs derselben Masse. Ist die elektrische La­dung groß genug, kann sogar der ungewöhnliche Fall eintreten, in der gar kein Horizont existiert; wir haben es dann mit einer nicht durch einen Horizont verhüllten nackten Singularität zu tun. Der "Rand der Raumzeit" , in einem herkömmlichen Schwarzen Loch sicher hinter dem Horizont verborgen, ist in diesem Fall von außen sichtbar - ein physi­kalisch sehr problematischer Zustand, zeigt sich doch, daß ein solcher­maßen sichtbarer Rand das Geschehen in der Raumzeit, etwa das Ver­halten von anwesenden elektromagnetischen Feldern, in prinzipiell un­vorhersagbarer Weise beeinflußt; die physikalischen Gesetze büßen in einer solchen Situation sämtliche Vorhersagekraft ein. Nicht-rotierende geladene Schwarze Löcher werden durch die sogenannte REISSNER­NORDSTRÖM-Lösung beschrieben, rotierende durch die KERR-NEW­MAN-Lösung.

Alle bisher angesprochenen Lösungen lassen sich in geschlossener Form angeben, genauer: die Koeffizienten der die Raumzeit beschreiben­den Metrik lassen sich in Gestalt bekannter mathematischer Funktionen niederschreiben; man spricht von exakten Lösungen.

Zu den exakten Lösungen tritt eine Vielzahl weiterer, charakterisiert durch Abweichungen von der perfekten Symmetrie der bislang behandel­ten Fälle - etwa der Kugelsymmetrie der nichtrotierenden und der axialen Symmetrie der rotierenden Lösungen.

Ist die Abweichung von der Symmetrie nur gering, kann man solche Lösungen mit Hilfe von Näherungsverfahren beschreiben, indem man zu einer der exakten Lösungen kleine Störterme hinzufügt. (Diese Vor­gehensweise entspricht dem oben im Rahmen der klassischen Mecha­nik beschriebenen Verfahren, das Problem der Bewegung der Sonne und der Planeten im gegenseitigen Schwerefeld zu behandeln, indem man

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zunächst exakte Lösungen aufstellt - die Bewegungen der Planeten im Schwerefeld der Sonne - und dann kleine Störterme hinzunimmt, die der gegenseitigen Beeinflussung der Planeten untereinander entsprechen [III, 4, S. 55f.].)

Will man kompliziertere Lösungen untersuchen, die sich nicht in die­ser Weise näherungsweise beschreiben lassen, ist man auf den Einsatz von Computern angewiesen, auf Simulationen, in denen man die Raum­zeit durch ein vierdimensionales Gitter darstellt, das von einer endli­chen Anzahl von Datenpunkten gebildet wird. Das betrifft insbesondere Lösungen, in denen eins oder mehrere Schwarze Löcher eine komplizier­tere Zeitentwicklung durchlaufen - die betrachteten exakten Lösungen hatten sämtlich eine sehr einfache Zeitentwicklung; die kugelsymme­trischen Lösungen veränderten sich mit der Zeit überhaupt nicht, das Kerr-Loch rotierte mit konstanter Geschwindigkeit. Von solchen Simu­lationen erhofft man sich zum Beispiel Aufschluß darüber, was passiert, wenn zwei Schwarze Löcher kollidieren - ein Vorgang, der unter ande­rem deswegen interessant ist, weil dabei im allgemeinen Gravitationswel­len entstehen: Festzustellen, in welcher Weise diese Gravitationswellen Informationen über die Eigenschaften der beteiligten Schwarzen Löcher und der Kollision enthalten, wäre ein wichtiger Beitrag zu der im voran­gegangenen Abschnitt angesprochenen Gravitationswellen-Astronomie. Von der Anzahl der beteiligten Variablen her, angesichts der Komplexität der numerisch zu verarbeitenden Differentialgleichungen und aufgrund des Auftretens besonderer Strukturen wie Horizonte gehören Raumzei­ten der allgemeinen Relativitätstheorie zu den anspruchsvollsten Simu­lationsaufgaben überhaupt; die entsprechenden Rechnungen sind in der Regel nur mit Hilfe von Großrechnern zu bewältigen.

So interessant die unsymmetrischen Lösungen sein mögen, so läßt sich doch zeigen, daß sie nur Zwischenstadien in der zeitlichen Entwick­lung eines Schwarzen Lochs beschreiben, während jeder stabile End­zustand einer solchen Entwicklung einer der hochsymmetrischen exak­ten Lösungen entspricht. Warum dem so ist, läßt sich physikalisch im Rückgriff auf das vorangegangene Kapitel verstehen: Abweichungen von der Symmetrie, etwa ein Buckel auf dem Äquator des Horizonts eines rotierenden Schwarzen Lochs erzeugen zwangsläufig sich ausbreitende Störungen des Gravitationsfeldes, Gravitationswellen, die dem Schwar­zen Loch Energie (und damit Masse) entziehen. Mit der Abstrahlung die­ser Gravitationswellen lösen sich die betreffenden Abweichungen auf, und jedes noch so unförmige Schwarze Loch nähert sich auf diese Wei­se mit der Zeit einer axial- oder gar einer kugel symmetrischen Konfigu-

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ration an, die durch eine der vorgestellten exakten Lösungen. beschrie­ben wird. Auf lange Sicht wird demnach jedes Schwarze Loch, ungeach­tet seiner möglicherweise turbulenten Vorgeschichte und einer etwaigen komplizierten Ausgangsform, durch ganze drei Eigenschaften vollstän­dig beschrieben: seine Masse, seinen Drehimpuls und seine elektrische Ladung. Schwarze Löcher haben, außer diesen dreien, keinerlei weite­re Eigenschaften, anhand derer man sie unterscheiden könnte - ein ma­thematischer Satz, der unter Physikern oft in die saloppe Kurzfassung "Schwarze Löcher haben keine Haare" gebracht wird (und im deutschen Sprachraum auch "Glatzensatz" heißt).

Weitergehende Untersuchungen von BARDEEN, CARTER, HAWKING und anderen haben gezeigt, daß alle Schwarzen Löcher einer Reihe grundlegender Gesetze unterworfen sind, daß es so etwas wie eine all­gemeingültige Mechanik der Schwarzen Löcher gibt. Deren wichtigstes Gesetz ist der sogenannte Oberjlächensatz, dem zufolge die Horizont­fläche eines Schwarzen Lochs mit der Zeit nur größer, aber niemals klei­ner werden kann; dasselbe gilt für die Summe der Horizontflächen meh­rerer Schwarzer Löcher. Man könnte meinen, diese Aussage sei nicht besonders neu oder weitreichend, haben wir ähnliches doch bereits beim Einfall von Teilchen in das Schwarze Loch kennengelernt: Dort erhöhte die Masse von Objekten, die in das Schwarze Loch fallen, dessen Ge­samtmasse, nach (127) also den Radius des Schwarzen Lochs und damit die Fläche seines Horizonts. Daß Objekte aus dem Inneren des Horizonts entkommen, ist dagegen, wie wir gesehen haben, unmöglich - auf die­se Weise kann sich die Masse des Schwarzen Lochs (und damit seine Horizontfläche ) also nicht verringern. Tatsächlich geht die Aussage des Oberflächensatzes aber weit über solche einfachen Situationen hinaus.

Das zeigt zum Beispiel der Fall des Verschmelzens zweier Schwar­zer Löcher, wie schematisch in Abb. 162 dargestellt. In Abb. 162c ist zu sehen, wie die Schwarzen Löcher einen gemeinsamen Horizont, ein einziges Schwarzes Loch gebildet haben. Durch die Pfeile ist angedeu­tet, daß die beiden Komponenten des verschmolzenen Schwarzen Lochs nunmehr umeinander rotieren. Dabei wird Energie in Form von Gravita­tionswellen frei. Selbst wenn es ausnehmend schwierig ist, diesen Prozeß im Detail zu beschreiben - eine wichtige Aussage läßt sich treffen: der Oberflächensatz schränkt ein, wieviel Energie hier maximal abgestrahlt werden kann, nämlich nur soviel, daß der Gesamthorizont des resultie­renden Schwarzen Lochs gerade noch größer ist als die Summe der Ho­rizontflächen der bei den ursprünglichen Schwarzen Löcher.

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Abbildung 162a-c. Kollision zweier Schwarzer Löcher (schematisch)

Naiv könnte man annehmen, daß die in Abb. 162c dargestellte Ver­bindung wieder abreißen und die beiden Löcher einzeln ihrer getrennten Wege fliegen könnten, so die beiden Löcher denn am Anfang genügend hohe Geschwindigkeiten hatten. Ein weiterer Satz, der von HAWKING bewiesen wurde, verbietet solche und alle weiteren Prozesse, bei denen sich ein Schwarzes Loch in mehrere Schwarze Löcher aufteilen würde.

Von der Form her ähneln die Gesetze der Mechanik Schwarzer Löcher weniger den Gesetzen der klassischen Mechanik denn den Gesetzen der Thermodynamik, jenes Zweigs der Physik, der sich mit dem Austausch von Wärme zwischen physikalischen Systemen beschäftigt. Wir werden auf diesen Umstand später noch zurückkommen (VIII, 5).

Die Ableitung dieser und einer Reihe weiterer grundlegender Er­gebnisse der Theorie Schwarzer Löcher bedient sich der von PENRO­SE in die Relativitätstheorie eingeführten Methode der globalen Geome­trie, bei der die Bahnen von Lichtstrahlen in einer gegebenen Raum­zeit buchstäblich bis ins Unendliche verfolgt werden, um so ein treues und vollständiges Bild der gesamten Raumzeit zu erhalten. Eine direkte Konsequenz dieses Weiterverfolgens von Lichtbahnen ist, daß sich die oben beschriebenen exakten Schwarzlochlösungen in bestimmter Weise erweitern lassen, gerade so, wie man einen auf ein Blatt Papier gemalten kurzen Strich eindeutig zu einer längeren Strecke erweitern kann, indem

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man ihn, seiner Richtung folgend, verlängert. Dabei ergeben sich eine Reihe zusätzlicher Strukturen der Raumzeit: Zu einem Schwarzen Loch kann als Gegenstück ein sogenanntes Weißes Loch treten - eine Regi­on, die man, gerade andersherum als beim Schwarzen Loch, zwar von innen verlassen, in die man aber nicht von außen hinein gelangen kann, umgeben von einem Anti-Horizont, der nur von innen nach außen, nicht aber von außen nach innen überquert werden kann. Vervollständigt man beispielsweise die Schwarzschild-Lösung in dieser Weise, so findet man, daß die betrachtete Raumzeit sowohl ein Schwarzes wie auch ein Weißes Loch erhält. Ferner sind Lösungen möglich, die verschiedene miteinan­der verbundene Universen beschreiben: Die bislang beschriebenen exak­ten Lösungen entsprachen jeweils einem Schwarzen Loch und dem um­gebenden Raum. Entfernt man sich genügend weit von dem Schwarzen Loch, so werden die Gravitationskräfte immer schwächer, und die Me­trik der entsprechenden Raumgebiete nähert sich immer weiter der des flachen, materiefreien Raums. Wir können dies als ein unendlich ausge­dehntes Universum interpretieren, das genau ein Schwarzes Loch erhält. Unter den neu konstruierten Lösungen sind solche, in denen es auf mehr als eine Weise möglich ist, sich in dieser Weise vom Schwarzen Loch zu entfernen - das Schwarze Loch verbindet zwei nahezu gravitations­lose Außenbereiche, in gewisser Weise: zwei parallele Universen. Auch diese Struktur finden wir in der erweiterten Schwarzschild-Lösung; dort gibt es allerdings keinen Weg, von einem Universum ins andere zu reisen oder Nachrichten zu schicken. Andere Lösungen mit mehreren Univer­sen enthalten dagegen tunnelartige Strukturen, die es ermöglichen, vom einen in das andere Universum zu gelangen, sogenannte Wurmlöcher, die in einigen Fällen zumindest wie Einbahnstraßen den Weg vom einen ins andere Universum erlauben, in anderen Fällen sogar Reisen in beide Richtungen. Wurmlöcher müssen dabei nicht zwangsläufig verschiedene Universen miteinander verbinden, auch Lösungen, in denen ein Wurm­loch als kosmische Abkürzung verschiedene Regionen ein und desselben Universums verbindet, lassen sich konstruieren.

Spätestens jetzt wird der Leser zu Recht fragen, inwieweit so exo­tische Objekte wie Schwarze Löcher, Weiße Löcher oder gar Tunnel­strukturen in unserem Universum tatsächlich vorkommen, oder ob es sich dabei lediglich um mathematische Betrachtungen ohne Realitätsbezug handelt, der Science Fiction näher als der Wissenschaft. Wir wollen uns der Antwort auf diese Frage in mehreren Schritten nähern. Die ex­akten Lösungen der Einsteinschen Feldgleichungen, anhand derer wir Phänomene wie Schwarze Löcher untersucht haben, stellen zunächst

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einmal Modelle für hoch idealisierte Situationen dar - die Schwarz­schildsche Lösung etwa beschreibt ein einzelnes, vollkommen kugelsym­metrisches Schwarzes Loch in den Weiten eines ansonsten völlig lee­ren Universums. Jede wirkliche Situation wird von einem solchen Ide­al zwangsläufig abweichen. Von einer Lösung, die den Anspruch stellt, einen Ausschnitt unserer Wirklichkeit zu beschreiben, werden wir da­her verlangen müssen, daß sie gegenüber kleinen Störungen (vgl. III, 4, S. 55) unempfindlich ist: Eine instabile Lösung, deren Eigenschaften sich drastisch ändern, sobald man von den idealisierten Modellannah­men das kleinste bißchen abweicht, wird niemals eine realistische phy­sikalische Situation beschreiben können. Schon dieses Kriterium zeigt, daß wir nicht damit rechnen können, zum Beispiel Weiße Löcher und bestimmte der Tunnelstrukturen in unserem Universum vorzufinden -diese Gebilde erweisen sich bei näherer Untersuchung als instabil. Ei­ne zweite Einschränkung ergibt sich daraus, daß die allgemeine Relati­vitätstheorie zwar den Zusammenhang zwischen der Energie und dem Impuls der Materie und der Geometrie der sie umgebenden Raumzeit festlegt, daß die Materie in unserem Universum aber eine Reihe weite­rer, nicht allein durch die Relativitätstheorie festgelegter Eigenschaften hat, die in die Überlegungen mit einbezogen werden müssen, um reali­stische astrophysikalische Situationen beschreiben zu können. Will man beispielsweise den Kollaps einer Gaswolke beschreiben, wird man die Materialeigenschaften des Gases, insbesondere sein Verhalten unter ho­hem Druck, explizit berücksichtigen müssen. Weitere Überlegungen be­treffen die Entstehung der betreffenden Gebilde. So sie denn nicht seit Anbeginn des Universums existiert haben, müssen sie irgendwann einmal entstanden sein - gibt es physikalisch plausible Szenarien, wie dieses vor sich gegangen sein könnte? Auch was Materialeigenschaften und Ent­stehungsmechanismus angeht, scheinen Weiße Löcher und Wurrnlöcher nicht sehr realistisch zu sein.

Für den Fall Schwarzer Löcher zeigt sich dagegen, daß diese Ge­bilde im Universum tatsächlich in natürlicher Weise entstehen sollten. Zum einen als Endstadium der Sternentwicklung: Sterne wie unsere Son­ne befinden sich in einem Gleichgewicht der Gravitationskraft, die sich bemüht, das Sternengas möglichst dicht zusammenzuziehen, und des in­neren Drucks, der durch Kernfusionsprozesse erzeugt wird und dem Gra­vitationskollaps entgegenwirkt (dieselben Kernfusionsprozesse sind für die Erzeugung der Strahlung verantwortlich, die uns von Sternen er­reicht). Ist der Fusionsbrennstoff erschöpft, kann es zu einem Kollaps des Sterns kommen. Bei leichteren Sternen entsteht dabei ein schwach

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leuchtender Sternrest von weniger als 1,4 Sonnenrnassen, ein sogenann­ter Weißer Zwerg. Ist der Stern schwerer, so kann er zu einem unvorstell­bar dichten Neutronenstern kollabieren, mit einer Masse zwischen 1,4 und etwa 3 Sonnenrnassen. Neutronensterne bestehen fast vollständig aus elektrisch neutralen Kernbausteinen. Kollabieren noch schwerere Ster­ne, und gelingt es ihnen nicht, dabei genügend Materie abzustoßen und ihre Gesamtmasse unter die kritische Grenze von etwa 2 Sonnenrnas­sen zu verringern, so ist der vollständige Kollaps nicht aufzuhalten. Ent­sprechende Modellrechnungen, wie sie zuerst von OPPENHEIMER und SNYDER durchgeführt wurden, zeigen, daß solch ein Stern zu einem Schwarzen Loch kollabieren muß. Hier wirkt sich die eingangs erwähnte Konsequenz der allgemeinen Relativitätstheorie aus, daß ein Stern, hat das Verhältnis von seiner Masse zu seinem Radius einen bestimmten kritischen Wert überschritten, nicht mehr als stabiles Objekt existieren kann. Zieht man die astronomischen Beobachtungen in Betracht, die uns über die Massenverteilung von Sternen Aufschluß geben, so sollte un­ser Universum eine Vielzahl solcher stellarer Schwarzer Löcher enthal­ten. Die Zahlenwerte sind bislang noch mit großer Unsicherheit behaftet, Schätzungen ergeben, daß es allein in unserer Galaxis rund eine Million stellarer Schwarzer Löcher gibt.

Neben stellaren Schwarzen Löchern ist die Existenz sogenannter su­permassiver Schwarzer Löcher zu erwarten, mit Massen zwischen einer Million und einer Milliarde Sonnenrnassen, die sich in den Zentralre­gionen von Galaxien befinden. Wie solche Löcher entstehen, ist nicht sicher bekannt; infrage kommen das Verschmelzen leichterer Schwar­zer Löcher, das Anwachsen eines stellaren Schwarzen Loches, das seiner Umgebung mehr und mehr Materie entzieht, oder der Kollaps einer Gas­wolke oder eines sehr dichten Sternhaufens bei der Entstehung der Gala­xie. Supermassive Schwarze Löcher hält man für die Energielieferanten von sogenannten Quasaren und aktiven Galaxienkernen (engl. active ga­lactic nuclei, AGN), kompakter, extrem leuchtstarker Objekte außerhalb unserer Galaxis. Fällt Materie in ein massives Schwarzes Loch, so erhält sie zum einen durch den Fall immer mehr Bewegungsenergie, zum ande­ren kollidieren die einfallenden Teilchen und heizen das Materiegemisch dabei auf. Die hierbei erzeugte Strahlung könnte die hohe Leuchtkraft der erwähnten Gebilde erklären.

Nach diesen Überlegungen ist es also durchaus sinnvoll, in den astro­nomischen Beobachtungsdaten nach Anzeichen für Schwarze Löcher zu suchen, und tatsächlich gibt es eine Reihe von Beobachtungen, die sich

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am besten durch die Annahme erklären lassen, es handle sich bei den betreffenden Objekten um Schwarze Löcher.

Bester Kandidat ist die Röntgenquelle Cygnus X-I: Die Beobachtun­gen deuten darauf hin, daß es sich bei diesem Objekt um ein Schwar­zes Loch handelt, das einen blauen Riesenstern umkreist. Die zeitlich unregelmäßig veränderliche Röntgenstrahlung, die von Cygnus X-I aus­geht, läßt sich als Effekt von stellarem Gas erklären, das auf ein sehr kleines und massives Zentralobjekt zufällt, ein Schwarzes Loch oder einen Neutronenstern, und dieses Objekt in einer immer enger werden­den Spiralbahn umläuft. Dabei wird es durch Reibung hocherhitzt und sendet Röntgenstrahlung aus. Nahe am Schwarzen Loch wird die Bewe­gung der Gasmassen turbulent: Das Gas ist starken Dichte- und Tem­peraturschwankungen unterworfen, die zu kurzfristigen Variationen in der Intensität der Röntgenstrahlung führen - Variationen jener Art, wie sie bei Cygnus X-I tatsächlich beobachtet werden. Aus der Dopplerver­schiebung des Lichts des blauen Riesensterns (IV, 8, S. 104) lassen sich Rückschlüsse auf die Bahnbewegung ziehen; so kann man eine Mindest­masse für Cygnus X-I abschätzen, die mit mehr als drei Sonnenrnassen über der erlaubten Masse für Neutronensterne liegt. Aller Wahrschein­lichkeit nach beobachten wir dort und im Falle einer Reihe ähnlicher Ob­jekte tatsächlich Schwarze Löcher.

Auch für die Existenz von supermassiven Schwarzen Löchern gibt es starke Hinweise. Wir haben im Rahmen der klassischen Mechanik das dritte Keplersche Gesetz kennengelernt (III, 2) und gesehen, daß die Konstante, die die Umlaufzeit mit der großen Halbachse der Um­laufbahn verknüpft, zur Masse des Zentralkörpers proportional ist (III, 3). Wendet man derartige Überlegungen zum Beispiel auf die Bewe­gung von Sternen nahe der Zentralregion unserer eigenen Milchstraße an, so kann man zeigen, daß es sich bei der dortigen Massenkonzentrati­on mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein massives Schwarzes Loch han­delt. Vergleichbare Beobachtungen sind in den Zentralregionen anderer Galaxien gelungen. Eine ungefähre Massenabschätzung gelingt zudem in folgender Weise: Anhand der Strahlung, die uns aus einem bestimm­ten Raumgebiet erreicht, läßt sich der Strahlungsdruck abschätzen, der in diesem Gebiet herrschen muß und bestrebt ist, darin enthaltene Ma­terie nach außen zu treiben. Wenn diese Materie trotzdem weiter nach innen fällt, dann, weil sie von einem zentralen Objekt angezogen wird das, um den Strahlungsdruck ausgleichen zu können, eine gewisse Min­destmasse haben muß. Bei solchen Abschätzungen ergeben sich für die Kernregionen von Galaxien regelmäßig Massenkonzentrationen, die man

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sich nur durch die Anwesenheit eines supermassiven Schwarzen Loches erklären kann. Mittlerweile gehen Astrophysiker daher davon aus, daß supermassive Schwarze Löcher in Galaxienkernen die Regel und nicht die Ausnahme sind.

Neben den erwarteten stellaren und supermassiven Schwarzen Lö­chern weisen neuere Beobachtungen auf die Existenz noch eines weiteren Typs Schwarzer Löcher im Massenbereich zwischen den stellaren und den supermassiven Varianten hin, deren Entstehung noch ungeklärt ist.

Daß es in unserem Universum Schwarze Löcher gibt, ist demnach sehr wahrscheinlich. Müssen wir damit auch die Existenz jener merkwür­digen Gebilde in ihrem Inneren hinnehmen, der Singularitäten ? Auch hier können wir zunächst fragen, ob die Singularitäten, wie sie die von uns vorgestellten Lösungen enthielten, nicht nur Artefakte der hohen Sym­metrie sind, die wir vorausgesetzt haben. Daß dem nicht so ist, sagt uns das Singularitätentheorem von PENROSE, dem zufolge in jedem Gebiet, um das sich ein Horizont bildet, zwangsläufig eine Singularität vorkom­men muß. Allerdings kommt hier einschränkend hinzu, daß wir uns bis­lang vollständig auf dem Boden der allgemeinen Relativitätstheorie be­wegen; wir werden später noch sehen (VIII, 5), daß wir, um das Innerste des Schwarzen Loches realistisch zu beschreiben, höchstwahrscheinlich die generischen Gesetze der Mikrowelt - die Quantentheorie - hinzu­ziehen müssen. Des weiteren kann man fragen, ob solche Singularitäten - oder was immer bei quantentheoretischer Beschreibung an ihre Stel­le tritt - zwangsläufig hinter Horizonten verborgen und damit von jeg­licher Beobachtung abgeschnitten sind - genau so wie im Falle des Schwarzschild-Loches, in dem keine von der Singularität kommenden Signale das Schwarze Loch verlassen können? Eine Singularität, die keineswegs von uns abgeschnitten ist, sondern, im Gegenteil, mit der Entstehung des Universums zusammenhängt, die sogenannte Urknall­Singularität, werden wir im nachfolgenden Abschnitt noch kennenlernen. Daß innerhalb unseres Universums, etwa durch exotische Kollapsprozes­se, nackte, von außen sichtbare Singularitäten entstehen könnten, wie wir sie beispielsweise im Zusammenhang mit elektrisch geladenen Schwar­zen Löchern kennengelernt haben, ist dagegen zweifelhaft. Im Falle der geladenen Schwarzen Löcher zeigt eine genauere Betrachtung, daß eine solche Singularität niemals aus dem Kollaps realistischer Materie hervor­gehen kann - Materie, die genügend spezifische Ladung trägt, um nach ihrem Kollaps eine nackte Singularität zu bilden, wird durch die Absto­ßungskräfte eben dieser hohen Ladung am Kollaps gehindert. Es scheint, als hätten sich die Naturgesetze verschworen, alle Singularitäten unseren

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beobachtenden Blicken zu entziehen und hinter Horizonten verschwin­den zu lassen - eine Vennutung, die als Hypothese der kosmischen Zen­sur bekannt ist. Ein Beweis dieser Vennutung ist bislang allerdings noch nicht gelungen.

4. Kosmologie

Im Bereich der Kosmologie - dem Teil der Physik und der Astrono­mie, der sich mit dem Aufbau sowie der Entstehung und Entwicklung des Weltalls beschäftigt - hat sich die Forschung seit der letzten von BORN autorisierten Auflage des Buches (der fünften, 1964) geradezu stünnisch entwickelt: BORN beschreibt in Abschnitt VII, 12 die Anfänge der modemen Kosmologie mit den theoretischen Arbeiten von EINSTEIN (1917) bis ROBERTSON (1935) und den astronomischen Entdeckungen von HUBBLE (1929) bis zu BAADES Neubestimmung der Entfernungen der Galaxien (1952); als Beginn der Blütezeit der modemen Kosmologie mit einer intensiven Wechselwirkung zwischen Theorie und Beobachtun­gen kann man aus heutiger Sicht das Jahr 1965 betrachten.

Wir wollen im folgenden eine von dem früheren Abschnitt unabhän­gige Darstellung der Hauptzüge des jetzigen Standes der kosmologischen Kenntnisse versuchen (und dabei die geschichtlichen Hintergründe weit­gehend außen vor lassen). Wir beginnen mit einer Beschreibung der An­ordnung und Bewegung der Materie im Kosmos, wie sie sich uns heute darstellt, und betrachten anschließend die heutzutage als relevant ange­sehenen kosmologischen Lösungen der Einsteinschen Feldgleichungen. Danach wollen wir einige Erfolge des sogenannten Standardmodells des Kosmos beschreiben und schließlich einige offene Fragen der Kosmolo­gie ansprechen.

Dem aufmerksamen Leser mag auffallen, daß wir die von BORN ge­schilderten, in den fünfziger Jahren aktuellen Theorien unerwähnt las­sen, die die allgemeine Relativitätstheorie erweitern bzw. ersetzen soll­ten; diese Theorien haben sich nicht bewährt und sollen deshalb hier nicht wieder diskutiert werden.

Bevor wir uns weitergehenden kosmologischen Fragestellungen wid­men, wollen wir uns die nicht unproblematische Ausgangssituation ver­gegenwärtigen. Wo andere Wissenschaftler ihre Studienobjekte aus der Nähe beobachten und oft auch gezielt manipulieren können, sind Astro­nomen und Kosmologen darauf beschränkt, passiv feme Objekte zu be­obachten. Was die Position dieser femen Objekte - Planeten, Sterne, Ga-

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laxien - im Raum angeht, so sind zwei der drei nötigen Angaben der di­rekten Messung zugänglich: Wo ein Objekt am Himmel erscheint, in wel­cher Richtung wir es beobachten, ist direkt und, der heutigen fortschrittli­chen Beobachtungstechnik der Astronomen eingedenk, auch äußerst ge­nau meßbar. Die dritte zur Lokalisierung nötige Angabe, die Entfernung des Objekts ist dagegen nur indirekt ermittelbar - und doch von entschei­dender Wichtigkeit. Um die Entfernungen ferner Himmelskörper zu be­stimmen, haben die Astronomen daher eine Reihe von ineinandergrei­fenden Methoden entwickelt, von denen wir die wichtigsten hier Revue passieren lassen wollen.

Schon im Sonnensystem kann man die Abstände der Planeten nicht direkt durch Abtragen eines Maßstabs messen. Eine Methode zur Ent­fernungsbestimmung haben wir in Abschnitt VllI, 1 bereits kennenge­lernt - mit reflektierten Radarsignalen (S. 355) oder durch Lasersigna­le, die von einem auf dem Mond installierten Spiegel zurückgeworfen werden (S. 356) lassen sich nicht nur die dort beschriebenen relativisti­schen Effekte nachweisen, sondern insbesondere eben auch der Abstand zu den betreffenden Himmelskörpern: Schickt man ein Lichtsignal zu einem Himmelskörper, wo es reflektiert und nach der Laufzeit Llt wie­der auf der Erde aufgefangen wird, so beträgt die Entfernung zu diesem Körper offenbar gerade d = 1/2 cLlt. Kombiniert man diese direkten Messungen mit dem Wissen über die im Sonnensystem geltenden Be­wegungsgesetze (etwa mit dem dritten Keplerschen Gesetz, vgl. S. 50, das Bahnachsen und Umlaufzeiten in Beziehung setzt), so lassen sich die Abstandsverhältnisse im Sonnensystem mit hoher Präzision feststellen.

Eine ältere Methode, Entfernungen zu den Planeten zu bestimmen, die den großen Vorteil besitzt, auch weit über die Grenzen des Sonnen­systems hinaus anwendbar zu sein, ist die Messung sogenannter trigo­nometrischer Parallaxen. Nehmen wir der Einfachheit halber an, wir befänden uns im gewohnten euklidischen Raum, in dem sich Licht ge­radlinig ausbreitet. Beobachten wir, wie in Abb. 163 schematisch darge­stellt, ein und dasselbe Objekt S von zwei verschiedenen Standpunkten A und B aus. Der Abstand a von A und B läßt sich messen, ebenso der Winkel a unter dem das Objekt S, von A aus gesehen, relativ zur Verbin­dungslinie erscheint, und der entsprechende Winkel ß. Daraus läßt sich mit Hilfe der Dreiecksrechnung zum einen die Parallaxe cp bestimmen, zum anderen der Abstand von A bzw. von B zu S. Sind diese Abstände gegenüber a sehr groß und a und ß nahezu rechte Winkel (entsprechend einer Grundlinie senkrecht zur Beobachtungsrichtung), so gilt in guter Näherung AS ::::::! BS ::::::! a/cp, wenn der Winkel in Radian gemessen wird

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Kosmologie 395

s

'ß A ~~----------------~~B a

Abbildung 163. Beobachtung eines femen Objekts: Parallaxe (schematisch)

oder AB ~ (180° a)/(7rcp), wenn er in Winkelgrad angegeben ist. In der Astronomie läßt sich auf diese Weise von der Erde aus der Abstand zum Mond und zum Mars bestimmen. Kombiniert man von der Erde aus im Abstand eines halben Jahres gemachte Beobachtungen und nützt so die Entfernung, die die Erde in diesem halben Jahr zurückgelegt hat, als Grundlinie AB, dann kann man auf diese Weise sogar die Entfernungen von etwa zehntausend Sternen bestimmen. (Relativistische Effekte kann man dabei, solange die Beobachtungslinien nicht direkt an der Sonne vor­beiführen, in guter Näherung vernachlässigen.)

Für noch größere Entfernungen, etwa zu anderen Galaxien, reichen diese geometrisch-kinematischen Verfahren allerdings nicht aus. Hier hilft folgende Überlegung: Eine Lichtquelle, beispielsweise ein Stern, strahle gleichmäßig in alle Richtungen. Seine Leuchtkraft L sei kon­stant, mit anderen Worten: Während eines kurzen Zeitintervalls M strahlt der Stern die Energie E = L· M ab. Nehmen wir der Einfachheit halber einmal mehr an, wir lebten in einem euklidischen, zeitlich un­veränderlichen Universum. Die ab der Zeit to während des kleinen Inter­valls M ausgesandte Energie bewegt sich mit Lichtgeschwindigkeit von dem Objekt fort; das Objekt ist von einer sich ausdehnenden Kugelscha­le aus Strahlung umgeben. Angenommen, wir als Beobachter befänden uns in der Entfernung d von dem strahlenden Objekt; wenn uns die Kugelschale erreicht, ist ihre Energie E demnach gleichmäßig auf eine Schale vom Volumen 47rd2 . cM verteilt. Hat unser Strahlungsdetektor, den wir auf das Objekt gerichtet haben, die Fläche F, so wird er, dem Verhältnis seiner Fläche zur Gesamtfläche der Kugelschale gemäß, den Anteil E' / E = F / (47rd2 ) der Energie auffangen. Genauso wird es je­der weiteren von unserem Objekt ausgesandten Energieportion ergehen.

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396 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

Von dem Strahlungsfluss L = E j 6t des Objekts erreicht unseren De­tektor mithin eine Flussdichte S = Ej(47rd26t) = Lj(47rd2 ). Diese Strahlungsflussdichte S können wir messen und daraus die Entfernung d berechnen als

(131)

- allerdings nur unter der Voraussetzung, daß uns die Leuchtkraft L be­kannt ist. Solche Entfernungsbestimmungen werden in Anlehnung an die eingangs beschriebene Winkelmessung der trigonometrischen Parallaxe auch als photometrische Parallaxe bezeichnet.

Günstigerweise gibt es Mittel und Wege, die Leuchtkraft L bestimm­ter astronomischer Objekte abzuschätzen und in Verbindung mit Formel (131) zur Entfernungsbestimmung zu nutzen. Eine Methode nutzt aus, daß Leuchtkraft und Spektrumseigenschaften normaler Sterne systema­tisch miteinander zusammenhängen. Die Leuchtkraft läßt sich bei den­jenigen Sternen, deren Entfernung über ihre trigonometrische Parallaxe meßbar ist, aus der Umkehrung der Formel (131) bestimmen - der Strah­lungsfluß ist meßbar; ist die Entfernung bekannt, folgt aus dieser Formel die Leuchtkraft.

Mit den Spektrumseigenschaften hat es folgendes auf sich: Sterne senden ihre elektromagnetische Strahlung in ganz charakteristischer Wei­se aus, die sich bestimmen läßt, wenn man das Sternenlicht mit Hilfe etwa eines Spektrums in die verschiedenen Frequenzanteile zerlegt. Bei be­stimmten Frequenzen wird nur sehr wenig Licht ausgesandt, bei anderen besonders viel - trägt man auf, wieviel Licht ein Stern in Abhängigkeit von der Lichtfrequenz aussendet, so zeigen sich scharfe Maxima und Mi­nima, sogenannte Emissions- und Absorptionslinien. Die Linien zeigen an, welche chemischen Elemente in den oberen Schichten des betref­fenden Sterns vorhanden sind. Grundlegenden physikalischen Gesetzen zufolge sind die Eigenschaften der von einem heißen Materiegemisch wie einer Sternatmosphäre ausgesandten Strahlung wesentlich von der Temperatur abhängig, und umgekehrt läßt sich aus den Strahlungseigen­schaften und daraus, wie ausgeprägt die Spektrallinien der verschiedenen Elemente sind, die Temperatur der Sternatmosphäre erschließen. Trägt man die Sterne, deren Leuchtkraft und Hüllentemperatur sich in dieser Weise bestimmen lassen, anhand dieser beiden Größen in ein zweidi­mensionales Diagramm ein, so zeigt sich eine gewisse Systematik in der Verteilung. Ein solches Diagramm, benannt nach den Astronomen HERTZSPRUNG und RUSSELL, ist in Abb. 164 zu sehen. Dort ist auf der

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Kosmologie 397

~ 10' 1111 ~ Rie",o ~~ ~ 1IIII11 ~m<.ß:~, m90<:SXX)<'~ f;l 102 11IIII1111 % Unterriesen .~ 1II111111 ~ ] 1 lIallPtreihelll1 ;·.11111 4:: 111 1 ~ 1'1 ~ 10-2 F::::==-_ I I ,

I 11, ~ ---= Zwerge_ 111

...... 10-4 11

20000 10000 5000 2500 Temperatur der Stemhülle in Kelvin

Abbildung 164. Hertzsprung-Russell-Diagramm (schematisch)

waagerechten Achse die Hüllentemperatur in Kelvin aufgetragen22, auf der senkrechten die Leuchtkraft relativ zu unserer Sonne. Beide Achsen sind logarithmisch gewählt, daß heißt, gleiche Abstände auf der Achse entsprechen gleichen Zahlenverhältnissen: Auf der waagerechten Achse sind 2500 und 5000, 5000 und 10000 gleich weit voneinander entfernt, entsprechend dem Umstand, daß das Zahlenverhältnis bei beiden Paa­ren dasselbe ist, 1 zu 2. Die überwiegende Mehrheit der Sterne bildet ein schmales Band, die sogenannte Hauptreihe. Auch unsere Sonne liegt auf diesem Band, in der Region, die als schwarzer Kreis eingezeichnet ist. Oberhalb der Hauptreihe liegt das Reich der sogenannten Riesen­sterne sowie der noch selteneren Unterriesen und Überriesen. Unterhalb der Hauptreihe liegt die Region der weißen Zwerge, die wir im Zusam­menhang mit Schwarzen Löchern bereits kurz als ein mögliches End­stadium mittelschwerer Sterne erwähnt hatten. Die heutige Astrophysik weiß einiges über die Hintergründe dieser Strukturen zu berichten - über die Zusammenhänge zwischen Druck und Wärmeerzeugung, deretwegen Sterne mit einem bestimmten Temperatur-Leuchtkraft-Verhältnis instabil werden, entsprechend den entvölkerten Bereichen des Diagramms, und über die Entwicklung der Sterne, die im Laufe ihres Lebens die Hauptrei-

22 Als Temperaturdifferenz entspricht 1 Kelvin einem Grad Celsius, jedoch liegen die Nullpunkte der Skalen unterschiedlich: 0 Kelvin entsprechen -273,16° Celsius.

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he entlangwandern, sich je nach Masse zwischenzeitlich zu Riesen auf­blähen und ihre Tage als Weiße Zwerge oder in den exotischeren End­stadien Neutronenstern oder Schwarzes Loch (im Diagramm nicht sicht­bar) beschließen. Wir dagegen haben das Diagramm aus einem anderen Grunde aufgeführt. Auch in anderen Galaxien, deren Eigenschaften de­nen unserer Milchstraße ähnlich sind, werden die Sterne sich in ein ent­sprechendes Hertzsprung-Russell-Diagramm einfügen. Die Sternphysik ist hie wie dort dieselbe, und es ist daher zu erwarten, daß für Leuchtkraft und Hüllentemperatur dieselbe Beziehung gilt. Für Sterne, die auf der relativ schmalen Hauptreihe liegen, bietet das die Möglichkeit, aus der (durch Betrachtung des Spektrums bestimmbaren) Hüllentemperatur auf die Leuchtkraft zu schließen. Aus Leuchtkraft und dem ebenfalls meßba­ren Strahlungsstrom folgt nach Formel (131) die Entfernung des Sterns.

Die nächste Stufe der Entfernungsleiter bilden die sogenannten Ce­pheiden, eine Klasse veränderlicher Sterne, deren Helligkeit sich in cha­rakteristischer Weise periodisch ändert. Bei denjenigen Cepheiden, deren Entfernung sich mit Hilfe der bereits erwähnten Methoden erschließen läßt, hat sich herausgestellt, daß die Periode der Helligkeitsänderung ge­setzmäßig mit der Leuchtkraft des Sterns verknüpft ist. Dieser Zusam­menhang läßt sich auch anhand von Sternmodellen verstehen: Die Hel­ligkeit variiert, weil sich die Oberfläche des Sterns periodisch aufbläht und wieder schrumpft; ein Prozeß, der sich anhand des Kompressions­verhaltens der verschiedenen Schichten der betreffenden Sterne verste­hen läßt. Die Perioden-Helligkeitsbeziehung sollte für alle Cepheiden gelten - auch für die, deren Entfernung wir nicht mit anderen Metho­den bestimmen können. Das führt zu einer weiteren Methode der Entfer­nungsbestimmung: Hat man in einer Galaxie, die uns nahe genug ist, daß darin noch einzelne, besonders helle Sterne beobachtet werden können, einen Cepheiden-Veränderlichen identifiziert, so kann man die Zeitdauer der Pulsation messen und kennt damit auch seine Leuchtkraft; misst man außerdem die flußdichte S, so kann man die Entfernung einmal mehr mit Formel (131) berechnen.

Es gibt einige Möglichkeiten, die Entfernungsbestimmungen in die­ser Weise immer weiter auszudehnen - ein gesetzmäßiger Zusammen­hang von Leuchtkraft und irgendeiner Objekteigenschaft wird postuliert, dort geprüft, wo andere Methoden der Entfernungsbestimmung anwend­bar sind, und, so die Prüfung erfolgreich war, verwendet, um die Distanz zu noch entfernteren Objekten zu bestimmen.

Wir wollen nur noch eine dieser Methoden besprechen, die für die kosmologisch relevanten großen Entfernungen von überragender Wich-

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Kosmologie 399

tigkeit ist. Sie betrifft sogenannte Supernovae vom Typ Ia. Supernovae sind Sternexplosionen, die extrem hell sind - auf dem Höhepunkt der Explosion sendet eine Supernova ungefähr soviel Strahlung aus wie eine ganze Galaxie im gleichen Zeitraum -, so daß sie auch noch auf sehr große Entfernungen wahrgenommen werden kann. Nach der Explosi­on nimmt die Helligkeit schnell ab; üblicherweise läßt sich die zeitli­che Veränderung über einige Monate verfolgen. Supernovae vom Typ Ia sind eine bestimmte Variante dieser Art von Sternexplosion, deren Spek­trum sich im wesentlichen durch eine charakteristische Abwesenheit von Spektrallinien des Wasserstoffs auszeichnet. In den Fällen, in denen sich der Abstand verhältnismäßig naher Supernova dieses Typs mit Hilfe von Cepheiden bestimmen ließ, hat man eine für Messungen wichtige Be­obachtung gemacht: Es besteht für diese Explosionen ein fester Zusam­menhang zwischen der maximalen Leuchtkraft (die sich bei bekanntem Abstand aus dem Strahlungsfluß bestimmen läßt, den wir von der Super­nova auffangen, indem man GI. 131 nach L auflöst) und dem zeitlichen Verlauf der Abklingkurve. Nimmt man an, daß derselbe Zusammenhang auch für die ferneren Supernovae desselben Typs besteht, so kann man gemäß der Gleichung (131) aus gemessenem Strahlungsfluß und berech­neter Leuchtkraft den Abstand dieser Supernovae bestimmen.

Damit haben wir eine Reihe von Methoden zur Entfernungsbestim­mung kennengelernt. Welche weiteren Größen lassen sich aus den Be­obachtungen erschließen? Da sind zunächst die Geschwindigkeiten fer­ner Himmelskörper. Bewegungen quer zur Sichtlinie machen sich durch winzige Positionsverschiebungen des betreffenden Objekts am Himmel bemerkbar. Solche Verschiebungen und damit verbundene Geschwindig­keiten lassen sich praktisch aber nur für die uns näheren Sterne der Milch­straße messen. Wie schnell sich ein Objekt von uns entfernt oder auf uns zu bewegt, läßt sich dagegen verhältnismäßig einfach mit Hilfe des Dopp­lereffekts bestimmen, den wir auf S. 108 kennengelernt hatten. Gemäß der dort angegebenen Formel gilt zumindest für Geschwindigkeiten, die im Vergleich mit der Lichtgeschwindigkeit klein sind: Sendet ein fernes Objekt Licht der Frequenz Vo aus, das aufgrund des Dopplereffekts bei uns auf der Erde mit einer verschobenen Frequenz VB ankommt, so be­wegt sich das Objekt mit der Geschwindigkeit

Vo - VB V = c·

VB

von uns fort. Die aus den unterschiedlichen Frequenzen gebildete Größe

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400 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

Vo - vB z := (132)

wird (relative) Frequenzverschiebung genannt; ist sie positiv, handelt es sich um eine Rotverschiebung in Richtung der niederfrequenten Bereiche des Spektrums, ist sie negativ, handelt es sich um eine Blauverschiebung. Wir hatten bereits die Emissions- und Absorptionslinien in den Stern­spektren erwähnt. Welche Linien welchem chemischen Element zuzu­ordnen sind, läßt sich aus dem Linienmuster bestimmen, den charakte­ristischen Abständen zwischen den einzelnen Linien. Die betreffenden Spektrallinien lassen sich auch im Labor vermessen, insbesondere also in einer Situation, bei der wir sicherstellen können, daß sich die Strah­lung aussendende Probe relativ zum Meßgerät nicht bewegt. Das liefert die Frequenz Vo der betreffenden Linie; mißt man nun noch die Frequenz VB, bei der sich dieselbe Linie im Sternenlicht befindet, so hat man alle Daten zur Verfügung, um aus Formel (132) die Frequenzverschiebung zu berechnen.

Solche Messungen von Sternbewegungen erlauben wiederum Rück­schlüsse auf die Massen von Sternen. Dazu betrachtet man Doppelstern­systeme, bei denen die Stemmas sen der Komponenten aus deren Bewe­gungen mit Hilfe der Keplerschen Gesetze (S. 49f.) bestimmt werden können. Das ist längst nicht bei allen Doppelsternen der Fall - es er­fordert neben Messungen der Umlaufzeit, die sich aus der periodischen Veränderlichkeit der Dopplerverschiebungen der Sterne ergibt, eine wei­tere Beobachtungsgrößen, etwa, falls die Sternbewegung direkt beob­achtbar und die Entfernung zu den Sternen bekannt ist, den scheinbaren Abstand der beiden Komponenten. Für Hauptreihensterne ergibt sich aus solchen Doppelsternmessungen, daß zwischen ihrer Leuchtkraft L und ihrer Masse M der einfache Zusammenhang besteht, daß L proportional zu V M7 ist; angewandt auf andere Hauptreihensterne läßt sich mit die­ser Beziehung aus deren Leuchtkraft auf ihre Masse schließen. Auch die Masse von ganzen Galaxien oder gar ganzen Galaxienhaufen läßt sich in ähnlicher Weise anhand von dynamischen Messungen abschätzen - etwa mit Hilfe von Sternen, die sich am Rand einer Galaxie befinden und sich in deren Schwerefeld bewegen. Wir werden später noch auf einen inter­essanten Aspekt solcher Massenbestimmungen zurückkommen; an die­ser Stelle unserer Ausführungen soll uns die Feststellung genügen, daß die Massen der kosmischen Objekte auf diese Art und Weise im Prinzip meßbar sind.

Nachdem wir uns nunmehr vergegenwärtigt haben, wie sich die Ent­fernungen, Geschwindigkeiten und Massen ferner Objekte bestimmen

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Kosmologie 401

lassen, nun zu einigen grundlegenden Beobachtungstatsachen, die sich aus solchen Messungen ergeben.

Die erste betrifft die Geschwindigkeitsverteilung entfernter astrono­mischer Objekte. Mißt man die Frequenzverschiebungen und die Entfer­nungen von Galaxien, so ergibt sich der sogenannte Hubble-Effekt, den wir bereits auf S. 315 kennengelernt haben: Außer zufaIligen Eigenbe­wegungen weist das aus Galaxien und intergalaktischem Gas bestehende kosmische Substrat eine systematische Bewegung auf. Deutet man die Frequenzverschiebungen der Spektrallinien ferner Galaxien als Doppler­effekt und damit als Hinweis darauf, daß sich diese Galaxien mit einer durch die Größe der Verschiebung charakterisierten Geschwindigkeit auf uns zu oder von uns weg bewegen, so zeigt sich, daß sich alle Galaxien von uns entfernen, und zwar mit Geschwindigkeiten v, die proportional zu ihren Abständen d zunehmen; je ferner uns eine Galaxie ist, umso schneller scheint sie sich von uns zu entfernen,

v = Ho· d, (133)

mit einem Proportionalitätsfaktor Ho, der Hubble-Konstante genannt wird. Wir wollen diese Gleichung so umschreiben, daß sie beobachtbare Größen zueinander in Beziehung setzt: Für Objekte, deren Leuchtkraft sich bestimmen läßt, können wir die Entfernung d mit Hilfe der Formel (131) durch die Leuchtkraft L und den hier auf der Erde gemessenen Strahlungsfluß S ausdrücken. Solange v klein gegenüber der Lichtge­schwindigkeit ist und relativistische Korrekturen vernachläßigt werden können, läßt sich die Geschwindigkeit direkt durch die Dopplerverschie­bung (132) ausdrücken als v = c· z. Die Hubble-Relation läßt sich so in die Form

(134)

bringen. Als Objekte, mit deren Hilfe sich die Gültigkeit dieser Bezie­hung noch bis in weite Entfernungen verfolgen läßt, bieten sich die be­reits erwähnten Supernovae vom Typ Ia an. Entsprechende Beobach­tungsdaten sind in der Abb. 165 zu sehen. Darin sind Daten für 36 Super­novae vom Typ Ia aufgetragen. Wir haben bereits erwähnt, daß man aus dem zeitlichen Verlauf der Lichtaussendung solcher Supernovae auf ihre Leuchtkraft schließen kann; Strahlungsfluß und Rotverschiebung lassen sich messen23 . Trägt man J L / 47f S gegen z auf, so ergibt sich tatsächlich

23 Der Leser sollte bei diesen und anderen Diagrammen im Hinterkopf behalten, daß wir in unserer an den Grundlagen der Meßmethoden orientierten Darstel-

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402 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

1600 •

] 1400 C<$ 'P 1200 ..c (.)

1000 ::i • • 0 800 ~ .5 600

~ 400

200

0 0 0.02 0.04 0.06 0.08 0.1

Rotverschiebung z

Abbildung 165. Rubble-Diagramm. Aufgetragen sind die Rotverschiebungen und J L/47rS, letztere Größe gemessen in Millionen Lichtjahren, für 36 Supernovae vom Typ Ia. Ebenfalls eingezeichnet ist die Gerade d = 13771,314 . c. [Daten

aus FREEDMAN et al., Astrophysical Journal 553 (2001), S. 47ff.]

eine Gerade, die einer Rubble-Konstanten von Ho = 22 km/s pro Millio­nen Lichtjahren entspricht, bei einer Meßgenauigkeit von etwa zehn Pro­zent. In der Astronomie wird die Entfernung allerdings selten, wie wir es hier getan haben, in MLj (Millionen Lichtjahren) gemessen; stattdessen verwendet man die Größe Parsec, abgekürzt Pc, wobei ein Parsec 3,26 Lichtjahren entspricht. Ausgedrückt in Mega-Parsec (Millionen Parsec) hat diese Rubble-Konstante den Wert Ho = 71 km/s pro Megaparsec.

lung all die Komplikationen vernachlässigen, die diese und andere astronomi­sche Messungen in der Praxis mit sich bringen. In die Größe L / S beispiels­weise gehen bei den Supernova-Messungen eine Reihe von Korrekturen ein. Unter anderem muß man den Effekt der relativistischen Zeitdilatation (vgl. VI,4) berücksichtigen: Die betreffenden Supernovae bewegen sich samt der sie umgebenden Galaxien von uns fort; der zeitliche Verlauf ihrer Lichtaus­sendung, aus dem sich aus die Leuchtkraft schließen läßt, erscheint daher ver­langsamt. Bei der Messung des Strahlungsfiußes ist zu berücksichtigen, daß unsere eigene Galaxis interstellare Materie enthält, die das Licht ferner Super­novae je nach Beobachtungsrichtung mehr oder weniger absorbiert. Die Emp­findlichkeit astronomischer Meßinstrumente variiert mit der Frequenz des auf­gefangenen Lichtes, und will man Strahlungsfiüße von Objekten vergleichen, die relativ zueinander frequenzverschoben sind, so muß man auch diesen Um­stand einrechnen.

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Kosmologie 403

A B

A c B

Abbildung 166. Eindimensionaler Rubble-Effekt: Wird ein Gummiband ge­dehnt, so bewegen sich entferntere Punkte schneller voneinander weg als nähere

Es ist bereits erwähnt worden, daß diese "Galaxienflucht" als Aus­dehnung des Weltraums aufgefasst werden kann. Wir wollen im folgen­den etwas näher erläutern, wie diese Behauptung zu verstehen ist. Als Ausgangspunkt bietet sich ein einfacher, niederdimensionaler Fall an: ein eindimensionales Universum. Abbildung 166 zeigt schematisch ein Gummiband; oben im entspannten Zustand, unten gedehnt. Wir haben darauf drei Punkte A, B und C markiert; A sei unser gegenwärtiger Auf­enthaltsort, von dem aus wir die anderen Punkte beobachten. Die Ent­fernung zum Punkt B bezeichnen wir als 1, und der Punkt C sei doppelt so weit von uns entfernt wie B, also AC = 2·1. Nun möge das Band binnen eines Zeitintervalls 7 auf seine doppelte Länge gedehnt werden. Dadurch verdoppeln sich die Abstände aller Punkte voneinander; nun­mehr ist ACT = 4·1 und ABT = 2·1. Während dieses Vorgangs hat sich der Punkt B um die Distanz 1 von uns entfernt; wollen wir dies als Bewegung des Punktes auffassen, so können wir ihm bei der Dehnung eine mittlere Geschwindigkeit VB = 1/7 zuordnen. Der Punkt C hat sich sogar um die Distanz 21 von uns entfernt, also mit einer mittleren Ge­schwindigkeit Va = 21/7, doppelt to schnell wie B. Die Dehnung des Bandes führt offenbar dazu, daß sich auf dem Band markierte Punkte umso schneller von uns fortbewegen, umso weiter sie von uns entfernt sind; ihre Geschwindigkeit ist proportional zu ihrem Abstand - ein ein­dimensionaler Rubble-Effekt. Diese Eigenschaft hat nichts damit zu tun, daß wir uns ausgerechnet am Punkte A befinden; von jedem Punkt des Gummibandes aus bietet sich das gleiche Bild. Das Rubble-Gesetz gilt an jedem beliebigen Punkt des Gummibands.

Wir können diesen Effekt auf eine zweidimensionale Gummimem­bran verallgemeinern, das in alle Richtungen gleichmäßig gedehnt wird. Das Ergebnis ist das gleiche, ein nunmehr zweidimensionaler Rubble-

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Abbildung 167. Hubble-Effekt auf einer zweidimensionalen, gedehnten Mem­bran

Effekt: Wiederum scheinen sich, von einem beliebigen Punkt auf dem Gummituch aus gesehen, alle anderen Punkte zu entfernen, und wieder­um, wie in Abb. 167 angedeutet, mit einer dem Abstand proportionalen Geschwindigkeit - Leser, die einen Luftballon zur Hand haben, können sich von diesem Umstand überzeugen, indem sie auf der Luftballonober­fläche verschiedene Punkte markieren und den Luftballon dann aufbla­sen. Wieder ist kein Punkt auf der Oberfläche der Membran ausgezeich­net; von jedem Punkt aus könnte man einen zweidimensionalen Hubble­Effekt beobachten.

Wenn wir nun im dreidimensionalen Raum beobachten, daß sich al­le Galaxien von uns entfernen, und zwar mit ihren Abständen propor­tionalen Geschwindigkeiten, so läßt sich dies analog zu Luftballon und Gummiband dadurch beschreiben, daß sich der dreidimensionale Raum in alle Richtungen gleich schnell ausdehnt und die Galaxien an dieser Hubble-Bewegung teilnehmen. Diese Interpretation besagt, daß wir dem Sonnensystem keine - nur schwer begründbare - Sonderstellung im All zugestehen müssen, etwa, daß wir uns als einzige Beobachter im Univer­sum im Zentrum all dieser radialen Bewegungen befinden.

Die Ausdehnung ist die erste kosmologisch grundlegende Beobach­tungstatsache. Die zweite betrifft die Dichteverteilung des Universums. Sind die verschiedenen Objekte, deren Entfernung, Lage im Raum und Massen wir ermitteln können, im Universum gleichmäßig verteilt? Ob die Dichteverteilung in einem gegebenen Raumvolumen homogen ist, können wir wie folgt feststellen: Wir zerlegen das Raumvolumen in klei­ne Würfel der Kantenlänge a. Für jeden der Würfel berechnen wir die mittlere Dichte; sie ist gleich der Masse der im Würfel enthaltenen Ma-

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terie geteilt durch das Würfelvolumen a3 . Je weiter die mittleren Dichten der verschiedenen Würfel auseinanderliegen, umso inhomogener ist die Materie in dem betrachteten Raumvolumen verteilt. Die solchermaßen definierte Homogenität oder Inhomogenität hängt allerdings entschei­dend davon ab, welche Größenskala a wir für unsere Vergleichswürfel wählen. Betrachten wir als Beispiel ein Glas mit Reiskörnern, schema­tisch dargestellt in Abb. 168: Für a = 1 mm, linke Abb., werden einige

Abbildung 168. Homogenität ist abhängig von der gewählten Größenskala

der kleinen Würfel, mit deren Hilfe wir das Volumen im Glas unterteilen, vollständig im Inneren eines Reiskorns liegen, andere dagegen so gut wie vollständig in einem der kleinen Luftzwischenräume, die sich zwischen den lose aufeinander liegenden Körnern befinden. Die mittleren Dich­ten der betreffenden Würfel weichen erheblich voneinander ab, und bei dieser Größenskala betrachtet erscheint uns der Glasinhalt als inhomo­gen. Wählen wir dagegen a = 1 cm, wie rechts angedeutet, so werden sich Reis und Luftzwischenräume recht gleichmäßig auf die verschiede­nen Würfel verteilen; dementsprechend wenig werden die verschiedenen mittleren Dichten voneinander abweichen, und der Glasinhalt erscheint bei dieser Größenskala als verhältnismäßig homogen.

In derselben Weise läßt sich auch die Materieverteilung im Weltall beschreiben. Daß das Weltall bei einer Größenskala von einigen zehn­tausend Kilometern sehr inhomogen ist, ist schon in unserer unmittelba­ren kosmischen Nachbarschaft einzusehen: In einen Würfel dieser Sei­tenlänge paßt in etwa unsere Erde, und je nachdem ob ein solcher Würfel die Erde oder einen anderen Körper unseres Sonnensystems enthält, oder lediglich das dünne, mit ein wenig Staub durchsetzte Gas, das den Raum zwischen den Planeten füllt, ergeben sich gewaltige Dichteunterschie-

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deo Sterne bilden ihrerseits sehr große Systeme mit bis zu einer Billion (1012) Mitgliedern, die sogenannten Galaxien. In den riesigen Räumen zwischen den Sternen befindet sich Gas und Staub. Auch in diesem Maß­stab zeigt das Universum eine inhomogene Struktur, deren Masse im we­sentlichen in Galaxien konzentriert ist. Als Beispiel für eine (ziemlich große) Galaxie mag das Milchstraßensystem dienen, das man sich als ei­ne rotierende Scheibe mit einem Durchmesser von etwa hunderttausend Lichtjahren vorstellen kann24, die in der Mitte kugelförmig verdickt ist. Das Sonnensystem ist ungefähr 26 000 Lichtjahre vom Mittelpunkt dieser Scheibe entfernt. Wiederum ergeben sich gewaltige Dichteunterschiede, je nachdem ob ein Würfel, dessen Seitenlänge einige hunderttausende Lichtjahre beträgt, eine Galaxie umschließt oder das dünne intergalakti­sche Medium. Auch die Galaxien erfüllen den Weltraum nicht statistisch gleichmäßig, sondern bilden oft Haufen, die bis zu zehntausend Galaxien enthalten. Diese Galaxienhaufen, Gebilde mit Durchmessern von etwa 5 Millionen Lichtjahren, sind ihrerseits ebenfalls nicht gleichmäßig im All verteilt, wie in den 1980er Jahren klar wurde, nachdem genügend Da­ten über die Verteilung der Galaxien zusammengetragen worden waren. Schematisch ist ein nahezu zweidimensionaler Ausschnitt dieser Struk­tur in Abb. 169 dargestellt, ein Teil einer Ebene25 im Raum, in der unter anderem auch der Beobachterstandpunkt liegt: ihm entspricht die unter­ste Ecke der Abbildung; je weiter ein Datenpunkt von diesem Eckpunkt entfernt ist, umso weiter ist die entsprechende Galaxie von uns entfernt. Die Entfernung ist dabei, der Hubble-Beziehung eingedenk, durch Licht­geschwindigkeit mal Rotverschiebung ausgedrückt. Wir haben dabei un­ter Verwendung des aktuellen Werts für die Hubble-Konstante zusätzlich Entfernungswerte in MLj, Millionen Lichtjahren, eingetragen. Die größte abgebildete Entfernung entspricht rund 600 Millionen Lichtjahren.

Die Verteilung macht den Eindruck eines zweidimensionalen Schnitts durch eine Art Galaxienschaum, dessen Konsistenz der von Seifenschaum ähnelt oder auch der Struktur eines Badeschwamms: Die Galaxien bil­den ein zusammenhängendes Gerüst von "Wänden", die Hohlräume um­schließen. Die Regionen größerer Galaxienhaufendichte stellen ihrerseits eine Anhäufung von Galaxienhaufen dar und werden Superhaufen ge­nannt. Die Hohlräume - einige davon fast kugelförmig, andere gestreckt - haben typische Durchmesser von ungefähr 150 Millionen Lichtjahren.

24 Wie zuvor kurz erwähnt, ist ein Lichtjahr die Strecke, die das Licht in einem Jahr zurücklegt, also etwa 1013 km.

25 Bei genauerer Betrachtung: eines flachen Keils.

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Kosmologie

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Abbildung 169. Räumliche Verteilung von 1065 Galaxien im Universum. Aufge­tragen ist ein Winkel, der die Beobachtungsrichtung kennzeichnet [Maßeinheit ist die Stunde (h), 24 Stunden entsprechen 360°] und der Abstand vom Beobachter (genauer gesagt die Rotverschiebung mal der Lichtgeschwindigkeit, aufgrund der Hubble-Beziehung ein Maß für den Abstand). [Nach Abb. 3 in dem Beitrag von M. J . GELLER und J. P. HUCHRA in V. C. RUBIN (Hg.), Large Scale Motions

in the Universe (Princeton University Press, Princeton 1988)]

Bei allen Größen skalen, die wir bislang betrachtet haben, erweist sich das Weltall also als inhomogen. Das ändert sich allerdings, sobald wir Würfel von einigen hundert Millionen Lichtjahren Seitenlänge be­trachten. Bei dieser und allen größeren Größen skalen erscheint der Kos­mos im Mittel homogen: Je zwei Würfel dieser Größe enthalten etwa gleich viele Galaxien und Gas und damit gleich viel Masse. Im ganz Großen betrachtet also scheint die Materie gleichförmig verteilt zu sein, mit einer räumlich konstanten mittleren Massendichte. Diese Dichte ent­spricht etwa der Masse eines Wasserstoffatoms pro Kubikmeter. Auf die­sen Größenskaien scheint es auch keine bevorzugten Richtungen im Kos­mos zu geben: der Kosmos ist isotrop. Homogenität und Isotropie des Kosmos sind ein großer Vorteil für die Konstruktion kosmologischer Mo­delle. Solange es nur darum geht, die großräumigen Eigenschaften des

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408 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

Kosmos zu beschreiben, wird man die Dichte der darin enthaltene Mate­rie näherungs weise als konstant ansetzen dürfen.

Als Zwischenbilanz halten wir die beiden wichtigen Beobachtungs­tatsachen über das Universum fest, die wir in den vorangehenden Ab­schnitten referiert haben: Das Universum ist, großräumig betrachtet, ho­mogen und isotrop. Der Raum dehnt sich in alle Richtungen gleichmäßig aus. Darauf stützen sich die relativistischen Modelle des Kosmos, die wir im folgenden näher beschreiben wollen.

Die Beobachtung, daß die Materie auf Größenskaien von mehr als einigen hundert Lichtjahren homogen, auf kleineren Größenskaien aber inhomogen verteilt ist, legt nahe, eine kosmologische Theorie in zwei Stufen zu formulieren: Zunächst sieht man von den Inhomogenitäten ab und betrachtet die wirkliche Materie vereinfacht als ein homogenes Sub­strat mit konstanter Dichte p und innerem Druck p. Diese beiden Größen sind nicht unabhängig; wie p von p abhängt (in der Kosmologie "Zu­standsgleichung" genannt) codiert die Eigenschaften der Materie, und man wird sich an geeigneter Stelle Gedanken darüber machen müssen, wie sich die Materie in unserem Universum in dieser Form geeignet be­schreiben läßt. Ist das Hintergrundmodell ausformuliert, kann man die Inhomogenitäten nachträglich als Störungen hinzufügen - eine Vorge­hensweise, der wir bereits bei der Berechnung von Planetenbewegungen [m, 4, S. 55f.] und im Zusammenhang mit Schwarzloch-Lösungen [Vm, 3, S. 384] begegnet sind.

Zunächst zum Hintergrundmodell. Wir haben in den vorangehenden Abschnitten bereits einige Lösungen der Einstein-Gleichungen kennen­gelernt - in Abschnitt vm, 2 solche, die Gravitationswellen im leeren Raum beschreiben und in vm, 3 Lösungen, die einem einzelnen Schwar­zen Loch in einem ansonsten leeren Universum entsprechen. Mit Hil­fe solcher Lösungen lassen sich in guter Näherung begrenzte Bereiche unseres Weltalls beschreiben - Gravitationswellen, die uns von femen Objekten erreichen, oder die Raumzeitgeometrie in der Nähe massiver Körper. Andere Regionen des Alls werden dabei ausgeblendet: Wenn wir beispielsweise die Schwarzschild-Lösung verwenden um die Lichtaus­breitung in der Umgebung der Sonne zu beschreiben (wie wir es auf den Seiten 350ff. getan haben), so vernachlässigen wir, daß es außer der Son­ne ja auch noch andere Objekte im Weltall gibt. Wollen wir nur die Um­gebung der Sonne beschreiben, so ist dies zulässig, da die Gravitations­einflüsse der anderen Objekte im Vergleich mit der Sonne klein sind. Für kosmologische Betrachtungen ist eine Beschränkung auf kleine Raumre-

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Kosmologie 409

gionen dagegen nicht zulässig. Dort gilt es, Lösungen zu finden, die das Universum als Ganzes beschreiben.

Wäre das Universum inhomogen und kompliziert aufgebaut, so wäre die Suche nach solch kosmologischen Lösungen der Einstein-Gleichun­gen ein hoffnungsloses Unterfangen. Daß unser Universum stattdessen, groß räumig betrachtet, eine verhältnismäßig einfache Struktur besitzt, ist ein großer Glücksfall für die Kosmologie. Zur Beschreibung homogener und isotroper Universen lassen sich sogar explizite, exakte Lösungen der Einsteinschen Feldgleichungen finden.

Eine erste solche Lösung hat EINSTEIN bereits 1917 aufgestellt (vgl. S. 314f.). Sie beschreibt ein homogenes, isotropes Weltall, das allerdings zeitlich unveränderlich ist und sich nicht ausdehnt. Verallgemeinerun­gen dieser Lösung, die auch die Expansion des Weltalls zu beschrei­ben vermögen, wurden zwischen 1922 und 1929 von FRIEDMANN, LE­MAITRE und ROBERTSON konstruiert. Einige dieser Weltmodelle ent­sprechen Lösungen der ursprünglichen Gravitationsfeldgleichungen, die EINSTEIN 1915 aufgestellt hat, andere berücksichtigen ein Zusatzglied: die nachträglich 1917 hinzugefügte kosmologische Konstante A. Die An­wesenheit der kosmologischen Konstante entspricht einer dem Weltall innewohnenden Tendenz zu weiterer Ausdehnung (A > 0) oder Zu sam­menziehung (A < 0), völlig unabhängig von der im All vorhandenen Materie26 .

In jeder dieser theoretisch möglichen vierdimensionalen Welten kann man ein Koordinatensystem wählen, das den Verhältnissen im expandie­renden Weltall besonders gut angepaßt ist. Betrachten wir das kosmische Substrat, dessen Bewegung der Expansion des Weltalls folgt, in unse­rem All idealisierte Galaxienhaufen, die keine Eigenbewegung aufwei­sen. Unsere Raumkoordinaten wählen wir so, daß sich die Ortskoordina­ten der kosmischen Partikel mit der Zeit nicht ändern - wir verwenden sie, um die kosmischen Partikel und damit die Punkte des Weltraums durchzunumerieren. Als Zeitkoordinate wählen wir die Anzeige der von den kosmischen Partikeln mitgeführten Uhren, synchronisiert nach der Einsteinschen Vorschrift (VI, 1, S. 197f.). Die Raumkoordinaten werden

26 Eine 1981 eingeführte Hypothese interpretiert den Zusatzterm, der die kosmo-logische Konstante). enthält, als Beitrag des quantentheoretischen Vakuums zur Energie und zum Impuls der Materie. ). selbst ist dann ein Maß für die Energiedichte des Vakuums. Ob diese Deutung zutrifft, wird erst eine Quan­tengravitationstheorie klären können; auf die Problematik der Quantengravi­tation werden wir im nachfolgenden Abschnitt (VIII, 5) noch eingehen.

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410 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

'-------\ . .... . ... .. .. . .

k =-1

k=O k = +1

Abbildung 170. Zweidimensionale Analoga der drei möglichen Arten der Raum­geometrie der Friedmann-Modelle (schematisch): k = -1 hyperbolische, k = 0

flache und k = + 1 sphärische Geometrie

auch mitbewegte Koordinaten genannt, die Zeitkoordinate heißt kosmi­sche Zeit.

Wie sich herausstellt, sind die Möglichkeiten, welche Raumgeome­trie eine solche homogene und isotrope Welt aufweisen kann, sehr einge­schränkt. Der Raum kann entweder flach - ungekrümmt -, gleichmäßig positiv oder gleichmäßig negativ gekrümmt sein. Diese drei Möglich­keiten lassen sich in Analogie mit den drei Arten von zweidimensiona­len Flächen verbildlichen, die Abb. 170 zeigt. Ein ungekrümmter drei­dimensionaler Raum entspricht einer ebenen zweidimensionalen Fläche, in Abb. 170 durch k = 0 gekennzeichnet. Ein aus Geraden gebildetes Dreieck in einer solchen Fläche hat die Winkel summe 180°, und das­selbe gilt für ein Dreieck im flachen Raum. Das zweidimensionale Ana­logon eines gleichmäßig positiv gekrümmten dreidimensionalen Raums

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Kosmologie 411

ist eine zweidimensionale Kugelfläche, in Abb. 170 der Fall k + 1. Auch auf einer Kugelfläche lassen sich Dreiecke konstruieren, indem man zwischen drei Punkten die kürzestmöglichen, geradestmöglichen Verbindungen einzeichnet, wie in der Abbildung angedeutet. (Dies sind die geodätischen Linien, vgl. S. 280.) Die Winkelsumme solcher Drei­ecke beträgt immer mehr als 180°; Ausdruck der positiven Krümmung. Dasselbe gilt für die Winkelsumme solcher Dreiecke im dreidimensio­nalen, positiv gekrümmten Raum. Ein solcher Raum besitzt zwar keinen Rand, aber dennoch ein endliches Gesamtvolumen, ebenso wie die Ku­geloberfläche keinen Rand, aber doch einen endlichen Flächeninhalt hat. Das Analogon eines gleichmäßig negativ gekrümmten Raumes ist eine Sattelfläche, in Abb. 170 der Fall k = -1. Auch hier lassen sich durch die kürzesten Verbindungen dreier Punkte Dreiecke konstruieren; deren Winkelsumme ist, Ausdruck der negativen Krümmung, stets kleiner als 180°.

Die Metrik, die die Geometrie dieser vierdimensionalen Welten be­schreibt, ist verhältnismäßig einfach. Wählt man kosmologische Zeit und mitbewegte Raurnkoordinaten, so sind in der allgemeinen Formel (98, S. 291) für die Raumzeitmetrik nur die vier Terme in der ersten Zeile von Null verschieden. Die kosmologische Metrik hat dann die vergleichswei­se einfache Form

Die Funktionen J, 9 und h hängen, wie durch das Argument x ange­deutet, nur von den Raurnkoordinaten ab, nicht von der Zeit. Sie sind vollständig dadurch bestimmt, ob der Raum des betreffenden kosmologi­schen Modells flach, positiv oder negativ gekrümmt ist.

Die Ausdehnungsfunktion R(t), auch kosmischer Skalenfaktor ge­nannt, bestimmt, wie sich der Abstand je zweier kosmischer Partikel im Laufe der Zeit ändert. Erinnern wir uns an den Zusammenhang der in­varianten Entfernung s und des Abstands (S. 278f.): Um den räumlichen Abstand zweier Objekte in der Raumzeit zu einer festen Zeit to zu be­rechnen, konstruieren wir die geradestmögliche Verbindungslinie zwi­schen den Objekten, eine geodätische Linie. Diese Linie können wir durch eine Kette kurzer, gerader Streckenabschnitte annähern. Jedem die­ser Streckenabschnitte entsprechen kleine Änderungen ~,'Tl, ( der drei Raurnkoordinaten x, y, z; aus diesen Änderungen läßt sich durch Ein­setzen in eine Metrik wie (135) die Länge der Streckenabschnitte be­rechnen (bei T = 0, denn da wir Objekte und Verbindungslinie zu einer

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festen Zeit to konstruieren, treten keine Zeitdifferenzen T auf). Die Sum­me dieser Längen ergibt die Länge der Verbindungslinie und damit den Abstand der beiden Objekte. Aus (135) ist ablesbar, daß dieser Abstand proportional zu R(to) ist. Raben daher zwei kosmische Partikel, die oh­ne zusätzliche Eigenbewegung an der kosmischen Expansion teilnehmen, zur kosmischen Zeit to den Abstand do, dann beträgt ihr Abstand zu einer späteren Zeit tl

(136)

Betrachten wir nun eine Galaxie, die von uns aus gesehen jetzt den Ab­stand d( to) hat und sich mit der Geschwindigkeit v (to) von uns entfernt. Die Entfernung der Galaxie d(to + Llt) zu einer etwas späteren Zeit to + Llt verhält sich zu ihrer jetzigen Entfernung d(to) wie

d(to + Llt) R(to + Llt) = ---'-----'-

d(to) R(to) (137)

Dies können wir umschreiben zu

d(to + Llt) - d(to) d(to) R(to + Llt) - R(t) Llt = R(to) . Llt

(138)

Wählt man Llt beliebig klein, so ergibt sich auf der linken Seite dieser Gleichung die Geschwindigkeit v(to) (vgl. S. 97) und auf der rechten Seite das Produkt des Abstandes d( to) mit

H(t ) = R(to) o R(to) . (139)

Darin haben wir die Funktion H (t) neu eingeführt, und R( to) steht als Abkürzung für die Änderungsrate (den Differentialquotienten, S. 97) des Skalenfaktors R(t) mit der Zeit, ausgewertet am Zeitpunkt to. Die ge­samte Gleichung (138) erhält damit die Form

v = H(to) . d. (140)

Wenn wir für to den der Jetztzeit entsprechenden Wert wählen, so re­produziert dies gerade die Rubble-Beziehung (133) mit der Rubble­Konstanten Ho = H(to). All diese kosmologischen Modelle reprodu­zieren demnach das Rubble-Gesetz und zeigen eine wichtige Beziehung der Rubble-Konstante zum Skalenfaktor R(t) auf.

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Kosmologie 413

Wir wollen der Vollständigkeit halber erwähnen, daß R( t) für Räume positiver oder negativer Krümmung auch eine direkte geometrische Be­deutung hat. R( to) ist ein Maß für die Stärke der Raumkrümmung zur Zeit to; ebenso wie beispielsweise eine Kugeloberfläche mit großem Ra­dius r einer ebenen zweidimensionalen Fläche lokal sehr ähnlich ist (wir kennen dies von der Erdoberfläche), ist die Geometrie positiv bzw. ne­gativ gekrümmter Räume der eines flachen Raumes umso ähnlicher, je größer R(t) ist.

Die gen aue Form von R(t), die angibt, wie der Raum mit der Zeit expandiert, hängt für die hier betrachteten Modelle zum einen von der im Kosmos enthaltenen Materie, zum anderen von der kosmologischen Konstante ab. Diesen Zusammenhang liefern die Einsteinschen Feldglei­chungen, die Raumzeitgeometrie und Eigenschaften der in der Raumzeit enthaltenen Materie verknüpfen.

Wir wollen im folgenden einige Möglichkeiten für R( t) beschreiben. Dem kosmischen Substrat schreiben wir dabei einfache Eigenschaften zu: Es möge sich um eine Mischung aus sogenannter kalter Materie und Strahlung handeln. Für die Strahlung hängen Druck und Dichte der Elek­trodynamik gemäß über Ps = 1/3 . Psc2 zusammen. Die kalte Materie möge die Dichte Pm und den inneren Druck Pm = 0 haben - dies mo­delliert eine Art "Gas", dessen Gasteilchen die Galaxien sind. Der Druck eines Gases ergibt sich aus der ungeordneten Bewegung seiner Teilchen, wie für ein von einem Behälter umschlossenes Gas leicht einzusehen ist: Je heftiger die thermische Bewegung der Gasteilchen, umso mehr Im­puls wird durch Kraftstöße auf die Wände des Behälters übertragen. Im Falle unseres Galaxiengases ist der Druck näherungsweise gleich Null: Die Galaxien folgen im wesentlichen der kosmischen Ausdehnung; ih­re Geschwindigkeiten relativ zu den mitbewegten Koordinaten sind nur klein.

Weiterhin wollen wir annehmen, daß zwischen Strahlung und kal­ter Materie keinerlei Wechselwirkung besteht. Unter diesen Annahmen ist der Zustand des kosmischen Substrats zu einem festen Zeitpunkt vollständig beschrieben durch das Mischungsverhältnis von Strahlung und Materie und durch die Gesamtdichte P = Pm + Ps (der gemäß E = mc2 eine Energiedichte pc2 entspricht).

Betrachten wir zunächst Universen ohne kosmologische Konstante, A = O. Hier sind verschiedene Fälle zu unterscheiden. Der erste Fall ent­spricht einem Universum mit verhältnismäßig hoher Massendichte. Diese Konfiguration bedingt, daß der Weltraum positiv gekrümmt ist (entspre­chend k = + 1 in Abb. 170). Ein typischer zeitlicher Verlauf der Expansi-

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414 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

R(t)

~~----~~---.------------------------~--+t

to I I I ___ l/Ho~

Abbildung 171. Ein Universum mit>. = 0 und hoher Materiedichte. Aufgetragen ist der Skalenfaktor R in Abhängigkeit von der kosmischen Zeit t

on eines solchen Universums ist in Abb. 171 dargestellt. Die Zeitentwick­lung beginnt mit einem abrupten Anfang, zu dem der Skalenfaktor gleich Null und das Universum dementsprechend unendlich dicht zusammenge­zogen ist. Die Ausdehnung ist zunächst unendlich schnell und wird mit der Zeit langsamer: Der Schwung der anfänglichen Ausdehnung wird durch den Einfluß der Gravitation gebremst, welche die im Universum enthaltenen Massen zueinander zu ziehen sucht. Schließlich gewinnt die Anziehungskraft die Oberhand und die Expansion verkehrt sich in eine beschleunigte Kontraktion, bis sich das Universum vollständig zusam­mengezogen hat.

Auch die Rubble-Konstante läßt sich in das Diagramm einzeichnen. Sei to die jetzige Zeit. Ho beschreibt die Steigung der Tangente an die Kurve R(t): Angenommen, die Expansion, die uns zur Zeit to den Ska­lenwert R(to) beschert, verliefe völlig linear, mit der zur Zeit to fest­stellbaren Expansionsrate. Der Skalenfaktor RL (t) für dieses lineare Mo­dell hätte dann, des in Gleichung (139) gegebenen Zusammenhangs von Rubble-Konstante Ho = H(to) und Skalenfaktor R(t) eingedenk, die FormRdt) = R(to)[l+Ho(t-to)]. Aus dieser Gleichung läßt sich auch der Anfangspunkt dieses linearen Universums ablesen - die Zeit, zu der der Skalenfaktor RL (t) den Wert null hatte. Die Zeit, die von diesem An­fangspunkt bis zum Zeitpunkt to vergangen ist, ist gerade 1 / Ho : In solch einem linear expandierenden Universum läßt sich das Weltalter direkt aus der Rubble-Konstanten bestimmen! Auch in dem komplizierteren Uni­versumsmodell mit Skalenfaktor R(t) ist dieser Umstand nützlich: Wie in der Abbildung zu sehen, liegt der Anfang des linearisierten Univer-

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Kosmologie 415

sums zeitlich immer vor dem durch R(t) festgelegten Anfangspunkt -zumindest, solange sich die Expansion noch nicht in eine Kontraktion umgekehrt hat. Die Bestimmung der Hubble-Konstanten ermöglicht es daher in diesem Fall, eine obere Grenze für das Weltalter abzuschätzen.

Betrachten wir nun ein Universum, in dem gleichfalls ). = 0 gilt, dessen Dichte aber zu jeder kosmischen Zeit geringer ist als die des Uni­versums, dessen Expansionsverlauf Abb. 171 zeigt. Ist die Dichte p( to) dieses Universums zu einer gegebenen kosmischen Zeit to nicht größer als ein ebenfalls von der kosmischen Zeit abhängiger kritischer Dich­tewert Pc(to), so haben wir es mit einem qualitativ grundlegend ande­ren Universum zu tun. Die Raumgeometrie dieses Universums ist flach, falls seine Dichte genau der kritischen Dichte entspricht, und negativ ge­krümmt, falls seine Dichte kleiner ist. Die Expansion hat den schema­tisch in Abb. 172 dargestellten Verlauf: Wiederum hat das Universum

R(t)

~------~~----~--------------------------_t to I

I I

I+----l/Ho~

Abbildung 172. EinUniversummit>. = Oundp(t):s: pc(t) . Aufgetragenistder Skalenfaktor R in Abhängigkeit von der kosmischen Zeit t

zu einem festen kosmischen Zeitpunkt begonnen und sich von dort an erst unendlich schnell, dann durch den Gravitationseinfl.uß verlangsamt ausgedehnt. Doch in diesem Falle ist die Materie nicht groß genug, um die Expansion vollständig zum Halten zu bringen und eine anschließen­de Expansionsphase einzuleiten: Die Expansion wird zwar kontinuierlich weiter abgebremst, setzt sich aber bis in alle Ewigkeiten fort. 27

27 Theoretisch möglich, aber durch die Beobachtungsdaten ausgeschlossen, ist auch die zeitumgekehrte Lösung, die man erhält, wenn man die dargestellte Entwicklung des Skalenfaktors von rechts nach links liest - ein unendlich altes

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416 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

In den bislang betrachteten Modellen spielte die kosmologische Kon­stante keine Rolle. Es gibt eine ganze Reihe qualitativ unterschiedlicher Universums modelle für A =f 0, von denen wir aber nur auf den physi­kalisch relevanten Fall eingehen wollen, daß A größer als Null und groß genug ist, mit seiner auseinandertreibenden Wirkung letztendlich die An­ziehungstendenz der im Universum befindlichen Materie zu überwinden.

Der Beitrag der kosmologischen Konstante wirkt dabei wie eine zeit­lich unveränderliche Energiedichte P>., die selbst die Expansionsbewe­gung nicht auszudünnen vermag und die, für herkömmliche Materie un­denkbar, mit einem negativen Druck - p >. c2 verknüpft ist. Die Raumgeo­metrie des betreffenden Universums wird nun nicht mehr allein durch die Dichte p der Materie bestimmt, sondern durch die aufsummierte Dichte P + P>.: Ist sie größer als die kritische Dichte, so ist der Raum positiv ge­krümmt; ist sie kleiner, negativ; ist sie genau gleich der kritischen Dichte, ist der Raum flach.

In den Universumsmodellen ohne kosmologische Konstante war die zeitliche Entwicklung des Skalenfaktors jeweils eine konkave Kurve -die Ausdehnung war niemals beschleunigt, sondern immer gebremst, ent­sprechend der Eigenschaft herkömmlicher Materie, sich gravitativ anzu­ziehen, aber niemals abzustoßen. Der negative Druck, der mit der kosmo­logischen Konstante verbunden ist, verändert die Verhältnisse grundle­gend: Dominiert der Beitrag der kosmologischen Konstante, so kann sich auch eine beschleunigte Ausdehnung ergeben. Die zeitliche Entwicklung des Skalenfaktors eines solchen Modells ist die in Abb. 173 dargestellte: Einmal mehr geht das Universum aus einem Zustand unendlicher Dich­te hervor, und einmal mehr wird die anschließende Expansion durch die Gravitationswirkung der Materie abgebremst. Allerdings läßt diese Gra­vitationswirkung, während die Materie durch die Expansion ausgedünnt wird, weiter und weiter nach, und irgendwann ist ein Zeitpunkt erreicht, an dem der auseinandertreibende Einfluß der kosmologischen Konstan­ten überwiegt. Je weiter anschließend die Expansion voranstrebt, umso schwächer wird der Einfluß der Materie und umso größer die Wirkung der kosmologischen Konstanten. Es ergibt sich daher, wie in der Ab­bildung zu sehen, eine beschleunigte Expansion. In dieser Phase ist der Kehrwert 1/ Ho der Hubble-Konstanten nicht mehr größer, sondern klei­ner als das Weltalter, wie in Abb. 173 eingezeichnet. Welche der drei möglichen Raumgeometrien - positiv, flach, negativ - ein solches Uni-

Universum, daß sich immer schneller zusammenzieht und dann ein abruptes Ende findet.

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Kosmologie 417

R(t)

J t

v

1/Ho I. to .1

Abbildung 173. Ein Universum, bei dem der Einfluß der kosmologischen Kon­stante >. letztendlich größer ist als die Tendenz der Materie, das Universum zu­

sammenzuziehen

versum hat, hängt von der Materiedichte p und der kosmologischen Kon­stanten ab.

Nachdem wir nun bereits so viele relativistische Modelle des Kos­mos kennengelernt haben, liegt die Frage nahe: Beschreibt eines davon das Universum, in dem wir leben - und wenn ja, welches? Um diese Frage zu beantworten, muß man prüfen, inwieweit die Vorhersagen der verschiedenen Modelle sich mit den astronomischen Beobachtungen in Einklang bringen lassen, und für welche Wahl der Modellparameter -die Massendichte zum jetzigen Zeitpunkt; der Zeitpunkt der Expansions­geschichte, an dem wir uns gerade befinden (mit anderen Worten: das Weltalter), und der Wert der kosmologischen Konstanten - die genaueste Übereinstimmung besteht.

Aussagen zu bestimmten Eigenschaften der kosmischen Parameter ergeben sich aus den Messungen, auf die wir nun eingehen wollen. Beobachtungsdaten zur Rubble-Relation hatten wir bereits vorgestellt; tatsächlich läßt sich aus diesen und ähnlichen Beobachtungsdaten aber weit mehr bestimmen als der Wert der Rubble-Konstante. Um zu der Rubble-Relation (134) zu gelangen, hatten wir mehrere nichtrelativisti­sche Beziehungen verwendet - die klassische Dopplerbeziehung (43) zwischen Geschwindigkeit und Frequenzverschiebung und Ergebnisse der euklidischen Geometrie, um Formel (131) abzuleiten. Mit Rilfe der kosmologischen Modelle läßt sich eine verbesserte Beziehung ableiten, die alle relativistischen Effekte einschließt - die kompliziertere Evoluti­on von R(t) entsprechend einer zeitveränderlichen Expansionsrate, so-

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wie Rotverschiebung und Entfernung, die von der Raumgeometrie und von dem Umstand abhängen, daß die Beobachtung ferner Objekte immer einen Blick in die Vergangenheit bedeutet: Information über diese Objek­te erreicht uns nicht instantan, sondern höchstens mit Lichtgeschwindig­keit; beobachte ich ein Objekt, das ein Lichtjahr entfernt ist, so zeigt das bei mir ankommende Licht nicht den momentanen Zustand des Objektes, sondern das Aussehen des Objektes vor einem Jahr. Das Endresultat ist eine komplexere Beziehung

Ho JL -;;V 4;S = q(z, p, P>..), (141)

die Leuchtkraft L, Strahlungsfluß S und Rotverschiebung z über eine Funktion q mit den Modellparametern P, der gemittelten Dichte des kos­mischen Substrats, und PA, dem als Energiedichte ausgedrückten Wert der kosmologischen Konstante verknüpft. Für nicht allzu große Werte von z gilt näherungsweise q(z, p, PA) ~ z, die lineare Hubble-Relation, die wir bereits kennen. Für größere z weicht der Zusammenhang von der Linearität ab, und aus dieser Abweichung lassen sich Rückschlüße auf P und PA ziehen.

Entsprechende Beobachtungsdaten liefern einmal mehr die extrem hellen und daher auch in großer Entfernung nachweisbaren Superno­vae vom Typ Ia. Daten, die im Jahre 1998 veröffentlicht worden sind und die entsprechende Messungen ab dem Jahre 1980 zusammenfas­sen, zeigt Abb. 174. Die Grafik zeigt Datenpunkte für 60 Supernovae; die an jeden Meßpunkt gezeichneten Balken zeigen die Meßunsicherheit an. Auf der waagerechten Achse ist die Rotverschiebung z der Super­novae abgetragen, auf der senkrechten Achse eine "effektive scheinba­re Helligkeit", mit der es folgendes auf sich hat: Unter den Astrono­men ist es üblich, die Helligkeit von Objekten nicht als Strahlungsfluß S, sondern proportional zum Logarithmus von Sanzugeben - eine hi­storische Konvention, die damit zusammenhängt, wie das menschliche Auge Helligkeiten wahrnimmt. In Anlehnung an diese Maßkonvention ist die in Abb. 174 verwendete effektive scheinbare Helligkeit definiert als m = -2, 5 ·loglO (Cl' S / L) + C2. Dabei ist loglO der Logarithmus zur Basis 10, und Cl und C2 sind Konstanten, auf die wir hier nicht näher ein­gehen wollen. Aufgrund der Hubble-Relation (133) ist zwischen mund

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Kosmologie

0,4

Rotverschiebung z

419

0,6 0,8

Abbildung 174. Rubble-Effekt für Messungen an 60 Supernovae [nach PERL­MUTTER et al., Astrophysical Journal 517 (1999), S. 565ff.]

der Rotverschiebung eine logarithmische Beziehung zu erwarten, genau­er gesagt sollte der Zusammenhang log z = 0, 2 . m + const gelten28 .

28 Das läßt sich wie folgt einsehen. Die Rubble-Relation ist v = Hod. Die Fluchtgeschwindigkeit v ist proportional zur Rotverschiebung z, nämlich z = v/co Der Abstand d ist nach Formel (131) proportional zu der Kombi-nation JL/S = (L/S)1/2. Benutzt man die für Logarithmen gültigen Re­

chenregeln log(a· b) = log(a) + log(b) und log(ab) = b ·log(a), dann folgt mit der oben angegebenen Definition von m der behauptete Zusammenhang von mund z. Wie schon bei Abb. 165 sind auch die hier verwendeten Werte S/ L effektive Werte, an denen Korrekturen wie die in Fußnote 23 auf S. 401 erwähnten vorgenommen worden sind.

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Für die kleineren Rotverschiebungswerte z :S 0,03 ist diese Bezie­hung tatsächlich erfüllt. Für größere Rotverschiebungen ergeben sich sy­stematische Abweichungen vom linearen Rubble-Gesetz, die nach For­mel (141) Aufschluß über die Parameter p und P>. geben. Die Daten in Abb. 174 führen dabei zu einem besonders interessanten Ergebnis: An­ders als lange angenommen ist die kosmologische Konstante A signifi­kant von Null verschieden, und zwar positiv.

Bevor wir Beobachtungsdaten besprechen, die die kosmischen Para­meter noch weiter einschränken, müssen wir uns mit den frühen Phasen unseres Universums beschäftigen. Den kosmologischen Modellen, die mit den beschriebenen Beobachtungsdaten vereinbar sind, ist gemein­sam, daß der Skalenfaktor R( t) vor endlich langer Zeit den Wert Null gehabt hat (wie in Verbindung mit den Abbildungen 171 bis 173 be­reits kurz erwähnt). Was das bedeutet, folgt aus dem Zusammenhang zwischen R(t) und den Abstandsverhältnissen im Universum: Verfol­gen wir die Evolution des Universums in der Zeit zurück, so werden die Abstände zwischen den kosmischen Partikeln kleiner und kleiner, und schließlich schrumpfen sie sämtlich zu Null. Auch jedes endliche Vo­lumen im Kosmos zieht sich, dergestalt zurückverfolgt, zur Größe Null zusammen und schrumpft auf einen Punkt. Aufgrund der Erhaltungssätze für Masse und Energie werden Masse- und Energiedichte dabei beliebig groß; für R(t) = 0 sogar unendlich groß. Man spricht davon, die betref­fenden kosmologischen Modelle wiesen eine Singularität, einen Urknall auf. Diese Singularität ist jenen verwandt, die wir im vorangehenden Ab­schnitt VIII, 3 im Zusammenhang mit Schwarzen Löchern kennen ge lernt haben. Trat die Singularität dort am Ende einer Weltlinie eines in das Schwarze Loch fallenden Objektes auf und stellte so etwas wie ein Ende der Zeit dar, haben wir es hier mit einer Singularität zu tun, über die hin­aus sich das Geschick des Universums nicht weiter in die Vergangenheit verfolgen läßt, also mit so etwas wie einem Anfang der Zeit. Ähnlich wie im Falle der Schwarzen Löcher zeigen Singularitätentheoreme von RAWKING und PENROSE, daß es sich auch bei Urknallsingularitäten nicht um Artefakte der vereinfachten, isotropen Modelle handelt, die wir bislang betrachtet haben, sondern daß sie unter sehr viel allgemeineren Bedingungen auftreten, insbesondere auch bei inhomogenen Modellen.

Physikalisch deutet das Vorkommen einer Singularität auf Grenzen der Gültigkeit der allgemeinen Relativitätstheorie hin. Wie schon im Zu­sammenhang mit den Schwarzen Löchern besprochen, und wie im nach­folgenden Abschnitt VIII, 5 noch näher ausgeführt werden wird, ist zu erwarten, daß an dieser Stelle Quanteneffekte so große Wichtigkeit er-

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Kosmologie 421

langen, daß nur eine - heutzutage noch nicht bekannte - Quantengra­vitationstheorie den passenden Beschreibungsrahmen liefern kann. Der physikalisch brauchbare Teil der klassischen Urknallmodelle, die wir be­trachten, beginnt daher erst einige Zeit M nach der unphysikalischen Sin­gularität. Die Zeit 8t liegt aller Wahrscheinlichkeit nach bei weniger als 10-10 Sekunden; der genaue Wert läßt sich allerdings nicht mit Sicher­heit beurteilen, solange eine bessere Theorie noch nicht bekannt ist. Was vorher geschah - ob das Universum einen abrupten Anfang hatte, oder schon ewig existierte, oder ob am herkömmlichen Zeitbegriff ausgerich­tete Konzepte wie " Anfang " und "existieren" auf diese Frühphase gar nicht anwendbar sind - ist mit heutigem Wissen nicht zu sagen.

Auch wenn die Urknall-Singularität damit kein Teil des physikalisch relevanten Teil der Modelle mehr ist, ist doch die kosmische Zeit t nach wie vor ein sinnvoller Zeitparameter. Es ist daher üblich, weiterhin vom Weltalter zu reden und von Ereignissen, die drei Minuten oder dreihun­derttausend Jahre "nach dem Urknall" stattfanden. Bei der beschränkten Genauigkeit solcher Zeitangaben ergibt sich kein Unterschied, ob man als Zeitnullpunkt den unphysikalischen Urknall wählt oder den frühesten Zeitpunkt M, zu dem das Modell unser Universum zufrieden stellend be­schreibt, ja, manchmal wird auch diese früheste Phase selbst als "Ur­knall" bezeichnet, und mit dem Wort ist dann nicht mehr die Singularität, sondern nur noch ein heißer, dichter Ausgangszustand unseres Univer­sums gemeint.

Selbst wenn wir die Zeitentwicklung von kosmischer Zeit Null bis 8t ausklammern, bedürfen die Modelle, die wir bislang betrachtet ha­ben, noch einiger Nachbesserung. Bis jetzt hatten wir als kosmisches Substrat eine Mischung aus druckloser Materie und Strahlung betrach­tet. Doch die Modelle, die wir daraus abgeleitet haben, zeigen uns selbst die Grenzen der Annahme auf: Wenn wir die Geschichte des Universums zurückverfolgen, so wird der Abstand zwischen den einzelnen Galaxi­en immer kleiner. Irgendwann ist der Punkt erreicht, wo wir nicht mehr von getrennten Galaxien reden können; irgendwann in der femen Ver­gangenheit muß der Raum stattdessen von einem nahezu homogenen Gas erfüllt gewesen sein, mit all den Eigenschaften - Temperatur und Druck -, die für ein solches Gas charakteristisch sind. Ein expandieren­des Gas kühlt sich ab; umgekehrt muß das kosmische Gas umso heißer gewesen sein, je weiter wir es in die Vergangenheit zurückverfolgen. Ab einer bestimmten Temperatur sind die Moleküle und Atome, die ein Gas bilden, nicht mehr stabil und wir haben es stattdessen mit einem Plas­ma aus Elektronen und Atomkernen zu tun. Bei noch größerer Tempera-

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tur sind auch Atomkerne instabil, und unser Universum wird mit einem dichten Gemisch von Elementarteilchen mit nahezu räumlich konstanter Dichte gefüllt gewesen sein. Wollen wir die entsprechenden frühen Evo­lutionsphasen des Kosmos nachvollziehen, dann müssen wir die Mate­rieeigenschaften angemessen berücksichtigen. Ein homogenes Gas bei­spielsweise hat im Unterschied zum Materieanteil des bislang betrach­teten kosmischen Substrats einen inneren Druck, und bei extrem hohen Temperaturen wird das Verhalten der Elementarteilchen den Eigenschaf­ten der Strahlung immer ähnlicher - für Teilchen mit der Ruhemasse mo ist das der Fall, wenn der Impuls p der Teilchen wesentlich größer als moc wird: Dann nämlich kann man in der relativistischen Energie­Impuls-Beziehung E 2 = C2(p2 + möc2) den Term moc gegenüber p vernachlässigen und erhält E ~ pc, dieselbe Beziehung zwischen Ener­gie und Impuls, wie sie für Lichtteilchen gilt (vgl. VI,9, S. 251). Setzt man diese Materieeigenschaften in die Einstein-Gleichungen ein, so er­gibt sich im Vergleich zum einfachen Galaxienstaub-Modell ein leicht veränderter Expansionsverlauf (die Urknall-Singularität vermeidet man auf diese Weise allerdings nicht). Umgekehrt beeinflußt die Expansion und die mit ihr verbundene Abkühlung die Eigenschaften der Materie und man kann unter Berücksichtigung kern- und atomphysikalischer Er­kenntnisse beschreiben, wann sich aus dem Teilchengemisch beispiels­weise die ersten Atomkerne oder die ersten Atome bilden.

Damit haben wir nun die Grundelemente des modernen Bildes von der Evolution unseres Universums beisammen - die Entwicklung eines homogenen und isotropen Universums aus einem extrem heißen An­fangsstadium, auf den eine Expansion und eine damit verbundene Mate­rieabkühlung folgen. Expansionsrate und Materieeigenschaften werden durch die Einstein-Gleichungen verknüpft; die Materie verhält sich da­bei zunächst wie ein Plasma strahlungsähnlicher Teilchen, kühlt dann ab, und geht nach komplizierteren Zwischenprozessen in ein expandie­rendes Universum aus Galaxien und Strahlung über. Der physikalisch­mathematische Unterbau dieses Szenarios heißt in seiner Gesamtheit auch Standardmodell der Kosmologie.

Aus dem Standardmodelllassen sich eine Reihe von Vorhersagen ab­leiten, deren Bestätigung für die Gültigkeit des Modells spricht (und da­mit letztendlich auch für die Gültigkeit der relativistischen Kosmologie im allgemeinen).

Die erste dieser Vorhersagen betrifft die seit dem Urknall - genau­er, seit der sehr heißen Anfangsphase - verstrichene Zeit, das soge­nannte Weltalter oder Expansionsalter. Der Vergleich der Expansions-

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funktion mit den Beobachtungsdaten läßt Rückschlüsse auf das Weltal­ter zu. Oben, im Zusammenhang mit den Beispielmodellen, hatten wir erwähnt, wie Hubble-Konstante und Weltalter zusammenhängen; bezieht man weitere beobachtbare Parameter ein, wird eine genauere Bestim­mung des Weltalters möglich. Die heutigen Schätzungen für das Weltal­ter liegen zwischen 13 und 14 Milliarden Jahren (Zum Vergleich: Die Sonne ist etwa 5 Milliarden Jahre alt, die Erde mit 4,6 Milliarden Jah­ren nur etwas jünger, das [irdische] Leben 3 Milliarden Jahre.) Ist das Urknallmodell richtig, so darf das Universum selbstverständlich keine Objekte enthalten, deren Alter das Weltalter übersteigen.

Das Urknallmodell sagt daher eine Obergrenze für die Ergebnisse von Altersbestimmungen voraus, auch solcher, die sich, unabhängig vom kos­mologischen Modell, mit anderen Methoden gewinnen lassen. Aus den Erkenntnissen der Astrophysiker über die zeitliche Entwicklung und die Lebensdauer von Sternen läßt sich das Alter der ältesten Sternhaufen zu 9 bis 11 Milliarden Jahren abschätzen. Kernphysikalische Untersuchun­gen der Häufigkeitsverhältnisse langlebiger radioaktiver Elemente be­stimmen das Alter unserer Galaxis zu ungefähr 10 Milliarden Jahren. Da diese Altersbestimmungen auf unabhängigen Methoden beruhen, hätten sich von vornherein Werte ergeben können, die größer sind als das Ex­pansionsalter. Die tatsächlich erhaltenen Werte passen zur Urknalltheo­rie (und deuten darauf hin, daß sich die betreffenden Strukturen bereits verhältnismäßig früh in der Geschichte unseres Universums gebildet ha­ben).

Weitere Vorhersagen betreffen die Entstehung einiger leichter che­mischer Elemente, vor allem Helium, lange vor der Bildung von Ster­nen. Die Temperatur- und Dichteverhältnisse im frühen Universum ha­ben einen merkbaren Einfluß auf die Häufigkeiten der verschiedenen Arten von Materie, die wir heutzutage vorfinden: Betrachtet man die Verhältnisse bei einem Weltalter von nur einigen Minuten, so sollten sich aus den dort vorkommenden Protonen und Neutronen durch Kernfusion Atomkerne des Heliums (PEEBLES, 1966) und, in viel geringeren Men­gen, solche des schweren Wasserstoffs (ein Neutron plus ein Proton) und des Lithiums bilden (WAGONER, FOWLER, HOYLE, 1967).

Die Rechnungen zeigen, daß die relativen Häufigkeiten dieser leich­ten Elemente nur vom kosmologischen Modell und einem weiteren Pa­rameter abhängen, dem Verhältnis der Anzahl der Photonen zur Anzahl der Baryonen, der schweren Kernbausteine (Protonen und Neutronen). Es stellt sich heraus, daß die theoretischen Werte mit den aus Sternspektren gewonnenen Daten übereinstimmen, wenn auf ein Baryon etwa 2 Mil-

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harden Photonen kommen. Das frühe Universum bestand also fast ganz aus Licht.

Die Voraussagen zur Entstehung von Helium im frühen Kosmos, nach denen schon vor Bildung der ersten Sterne etwa 25% der Masse der Materie auf Helium, 75% auf Wasserstoff entfiel, sind noch aus einem weiteren Grunde wichtig. Zwar gibt es noch einen anderen Mechanis­mus der Entstehung komplexerer Atomkerne - herkömmliche Sterne ge­winnen ihre Energie daraus, daß in ihrem Inneren leichtere Atomkerne zu schwereren verschmelzen. Die beobachtete Häufigkeit von Elemen­ten wie Helium läßt sich durch diese stellare Kernverschmelzung aller­dings nicht quantitativ erklären. Hier hat die Urknall-Kosmologie eine Lücke im Verständnis des Zustandekommens der Elementhäufigkeiten geschlossen; nach ihr wurden die oben aufgezählten Elemente in der hei­ßen Anfangsphase des Universums gebildet, und nur die übrigen Elemen­te später im Inneren von Sternen "gekocht".

Eine weitere Voraussage ergibt sich aus der Betrachtung einer etwas späteren Phase des Universums, entsprechend einem Weltalter von ei­nigen hunderttausend Jahren. In dieser Phase war das All zunächst mit Strahlung und Plasma gefüllt - ein Gemisch aus Photonen und einigen wenigen elektrisch geladenen Teilchen, im wesentlichen negativ gelade­nen Elektronen und positiv geladenen Protonen und Heliumkernen. Bei der Expansion kühlten sich Strahlung und Plasma, der Ausdehnung des Raumes folgend, ab. Bei hinreichend niedrigen Temperaturen konnten sich die geladenen Teilchen zu elektrisch neutralen Gebilden, nämlich zu Atomen vereinigen.

Vor der Vereinigungszeit, die einer Rotverschiebung von ungefähr z = 1100 entspricht, befanden sich die Materie und die Strahlung im All in einem sogenannten Wärrnegleichgewicht: Die Bestandteile der Strahlung, die Lichtteilchen oder Photonen, wechselwirkten mit den elek­trisch geladenen Teilchen; Ausdruck der Tatsache, daß Licht, wie wir bereits gesehen haben (V, 9), eine Erscheinungsform des elektromagne­tischen Feldes ist. Die ständige Wechselwirkung führte zu einem Gleich­gewicht zwischen den mittleren Energien der beteiligten Teilchen und der Strahlung, das es ermöglicht, die mittlere Energie des Strahlung-Materie­Gemischs durch einen einzigen Parameter zu beschreiben, eine Tempe­ratur.

All das änderte sich drastisch, sobald sich das All genügend ausge­dehnt hatte, daß Elektronen und Protonen beziehungsweise Heliumker­ne sich zu elektrisch neutralen Wasserstoff- und Heliumatomen vereini­gen: Die Wechselwirkung von Strahlung mit elektrisch neutraler Materie

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ist sehr viel geringer als mit elektrisch geladenen Teilchen, und das Ur­knallmodell sagt voraus, daß die Strahlung des frühen Universums seit dieser Zeit bis zum heutigen Tage so gut wie nicht von der Materie be­einflußt wurde. Sie ist zwar, wie der Rest des Universums, mit zuneh­mender Expansion immer mehr abgekühlt, sollte aber noch heute die Ei­genschaften aufweisen, die von ihrer Entstehung künden: Strahlung im Wärmegleichgewicht enthält die verschiedenen Frequenzanteile in einer ganz speziellen, nur von der Temperatur des Gleichgewichts abhängigen Gewichtung, die von PLANCK theoretisch ermittelt wurde und daher auch Planck-Spektrum genannt wird; die charakteristische Temperatur T der Strahlung sollte sich bei der Expansion gemäß T(t) rv 1/ R(t) gesenkt haben29 .

Aufgrund solcher Überlegungen sagten ALPHER und HERMANN 1948 die Existenz einer kosmischen Wärmestrahlung voraus, die ein Planck-Spektrum entsprechend einer Temperatur in der Größenordnung von 10 K aufweisen sollte (10 Kelvin entsprechen -263, 16 Grad Celsi­us - nur 10 Grad über dem absoluten Nullpunkt). Tatsächlich wurde eine solche Strahlung 1964-65 von PENZIAS und WILSON entdeckt - nicht absichtlich, sondern weil diese Physiker es sich zur Aufgabe gemacht hatten, gewissen Störungen auf die Spur zu kommen, die das Leistungs­vermögen ihrer (für die Telekommunikation gedachten) Mikrowellenan­tennen beeinträchtigten.

Eine genauere Vermessung der Hintergrundstrahlung erweist sich zu­mindest mit erdgestützten Antennen als sehr problematisch: Das Maxi­mum der Hintergrundstrahlung liegt in einem Frequenzbereich, den die Erdatmosphäre sehr effektiv filtert. Um diese Schwierigkeit zu umgehen, muß man die Atmosphäre entweder ganz verlassen und seine Messungen von Satelliten aus vornehmen oder seine Antennen zumindest mit Hil­fe von Ballons in den oberen Atmosphärenschichten plazieren. Genauere Untersuchungen der Hintergrundstrahlung mit Hilfe von Satelliten und Ballons haben dreierlei ergeben.

29 Dieser Zusammenhang von Temperatur und Skalenfaktor läßt sich in sei­nen Grundzügen verstehen, wenn man die Eigenschaften der Lichtquanten berücksichtigt (S. 251f.): Die Temperatur ist so etwas wie die mittlere Energie der Lichtquanten, aus denen die Strahlung besteht. Die Energie jedes Licht­quants ist dabei nach Gleichung (90) umgekehrt proportional zu seiner Wel­lenlänge. Während der Expansion des Universums wird der Abstand zwischen den Wellenbergen, wie jeder andere Abstand, proportional zum Skalenfaktor vergrößert; die Energie jedes Lichtquants, und damit auch die mittlere Ener­gie bzw. die Temperatur, folglich umgekehrt proportional zum Skalenfaktor verkleinert.

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Frequenz in l/cm

Abbildung 175. 3K-Hintergrundstrahlung, gemessen mit dem COBE-Satelliten. Die durchgezogene Kurve zeigt die theoretische Erwartung für eine Temperatur von 2,737 K, als senkrechte Linien sind die gemessenen Werte eingezeichnet; die Länge einer solchen Linie zeigt die Meßunsicherheit an. Auf der waagerechten Achse ist die Frequenz in lIcm angegeben (nach 1/ = cl'\ kann man die Fre­quenz über das Inverse der Wellenlänge angeben), auf der senkrechten Achse ist die Intensität der Strahlung in Kilo-Jansky pro Steradian angegeben, einer in der

Radioastronomie üblichen Einheit

Erstens hat die Strahlung tatsächlich sehr genau ein Planck -Spektrum, wie es einer Wärmestrahlung zukommt. Entsprechende Beobachtungsda­ten, die zwischen 1989 und 1990 mit Hilfe des extra für diesen Zweck gebauten Satelliten COBE (Cosmic Background Explorer) aufgenom­men wurden, zeigt Abb. 175. Die Energieverteilung entspricht mit großer Genauigkeit der eingezeichneten Spektrumskurve einer Wärmestrahlung der Temperatur T = 2,73 K.

Zweitens kommt die Strahlung mit nahezu gleicher Intensität aus al­len Richtungen. Dies ist wohl das stärkste Argument dafür, daß die An­nahmen der kosmologischen Modelle über die Homogenität und Isotro­pie des Universums gerechtfertigt sind. Im Gegensatz zu den bereits be­handelten Abschätzungen der mittleren Homogenität der Materievertei­lung im Weltall auf großen Skalen zeigt uns die Hintergrundstrahlung

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sehr direkt die Isotropie und, solange wir unserem Beobachtungspunkt keine einzigartige Sonderstellung zugestehen, auch die Homogenität des frühen Universums.

Die dritte Eigenschaft der kosmischen Strahlung betrifft die Grenzen dieser Homogenität und Isotropie. Eine dieser Abweichungen ist mit­nichten überraschend: Verglichen mit dem Fixstemhintergrund bewegt sich unser Sonnensystem innerhalb der Milchstraße, die Milchstraße als ganzes bewegt sich im Vergleich mit den uns nächsten Galaxien auf den Andromedanebel zu, und Vergleiche auf größeren und größeren Skalen deuten darauf hin, daß die Bewegung des Sonnensystems leicht von der allgemeinen Hubble-Bewegung abweicht. Aufgrund dieser Eigenbewe­gung sollte uns die Hintergrundstrahlung leicht dopplerverschoben er­scheinen - blicken wir in Richtung der Bewegung, so sollte eine Blauver­schiebung des Strahlungsmaximums auftreten und wir sollten eine leicht höhere Temperatur der Wärmestrahlung messen; in Gegenrichtung soll­te es zur Rotverschiebung kommen, entsprechend einer leicht geringeren Strahlungstemperatur. Genaue Messungen ab 1984 haben tatsächlich ge­nau diese zu erwartende systematische Richtungsabhängigkeit der Hin­tergrundstrahlung gezeigt, passend zu einer Geschwindigkeit der Erde von 370 kmls gegenüber dem kosmologischen Bezugssystem der mitbe­wegten Koordinaten3o.

Doch selbst, wenn man diesen Bewegungseffekt berücksichtigt und die Meßwerte entsprechend korrigiert, zeigen sich in der Hintergrund­strahlung winzige Inhomogenitäten. Welche Himmelsregion wir auch be­trachten - überall weist die Strahlungstemperatur je nach Bewegungs­richtung kleine, scheinbar zufällige Unterschiede von ihrem Mittelwert auf. Solche Unterschiede lassen sich in Form einer Karte darstellen, wel­che die in verschiedenen Richtungen gemessenen Temperaturwerte der Hintergrundstrahlung zeigt. Eine solche Karte aus Messungen des bereits erwähnten Satelliten COBE ist in Abb. 176 zu sehen. Dargestellt ist eine

30 Hier sei noch eine Ergänzung zu den Experimenten zur Relativitätstheorie erwähnt: Statt das Relativitätsprinzip vorauszusetzen, kann man annehmen, das kosmische Bezugssystem, in dem die 3K-Hintergrundstrahlung isotrop ist, sei ein Inertialsystem, und dann allein durch Experimente feststellen, wie die Transformation zwischen diesem und einem mit der Erde verknüpften Bezugs­system aussieht. Es stellt sich heraus, daß die Koeffizienten dieser Transfor­mation mit denen einer Lorentztransformation übereinstimmen bis auf eine relative Abweichung, die höchstens 7 . 10-5 beträgt (HILS und HALL 1989). Dies ist das kosmologische Gegenstück jener Dreierkombination von Experi­menten, aus denen man, wie in Fußnote 6 auf S. 334 erwähnt, die Lorentz­Transformationen phänomenologisch ableiten kann.

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Abbildung 176. Richtungsabhängigkeit der Temperatur der Hintergrund­strahlung [COBE-Daten, Quelle: Abb. 4 des Beitrags von L. CAY6N in E. MARTINEz-GoNzALEz & J. L. SANZ (Hrsg.), The Universe at High-z, Large-Scale Structure and the Cosmic Microwave Background. Springer: Berlin

1996]

Projektion der uns umgebenden Himmelskugel auf eine Ebene, ähnlich der Projektion der Erdkugel auf eine Weltkarte; die hellen horizontalen Strukturen in der Mitte zeigen Mikrowellenstrahlung aus unserer eige­nen Galaxis an, die nicht mit der kosmischen Hintergrundstrahlung zu­sammenhängt. Mißt man die Strahlungstemperatur in zwei verschiedenen Richtungen, die sich um den Winkel a unterscheiden, so erhält man von a abhängige relative Unterschiede LlT /T im Bereich von 10-5 bis 10-4 ,

wobei die größeren Werte zu kleineren Winkeln gehören. Noch detailliertere Bilder der Temperaturfluktuationen ergeben sich

aus den Daten der Missionen MAXIMA und BOOMERANG, die in den Jahren 1998 und 1999 mit Hilfe ballongestützter Teleskope gewonnen wurden, sowie aus den Daten des Satellitenteleskops Wilkinson Micro­wave Anisotropy Probe aus den Jahren 2001 und 2002. Interessant an diesen neueren Beobachtungen ist insbesondere, daß sich daraus kla­re Einschränkungen für die möglichen Werte der kosmologischen Pa­rameter ableiten lassen: Aus thermodynamischen Überlegungen ergibt sich ein Zusammenhang zwischen der Größe der Temperaturunterschie­de und den räumlichen Abständen der Bereiche, die zur Zeit der Ent­kopplung von Materie und Strahlung Temperaturunterschiede der betref­fenden Größe aufweisen. Andererseits zeigen uns die Fluktuationskar­ten direkt die scheinbare Ausdehnung der betreffenden Ber~iche. So, wie uns im Alltag Objekte unter einem bestimmten Sehwinkel erscheinen, der umso kleiner ist je kleiner und je weit entfernter das Objekt (vgl.

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d

Abbildung 177. Sehwinkel (schematisch)

Abb. 177), ist es auch mit astronomischen Objekten. Ist der Abstand d groß gegen die Ausdehnung a des Objekts senkrecht zur Blickrich­tung, so gilt näherungs weise <p ~ aj d für in Radian gemessene Win­kel, <p ~ 1800 aj(7f . d) für Gradwinkel- haargenau, wie wir es bereits im Zusammenhang mit der trigonometrischen Parallaxe, Abb. 163, ken­nengelernt haben. Allerdings nur im flachen, zeitlich unveränderlichen euklidischen Raum: In der kosmologischen Situation, mit der wir es bei den Fluktuationen der Rintergrundstrahlung zu tun haben, sind die Verhältnisse wesentlich komplexer. Das Licht, das uns von den ein­zelnen Fluktuationsregionen erreicht, wird auf seinem Milliarden Jah­re dauernden Weg zum einen durch die Expansion des Raumes beein­flußt, zum anderen durch den - unter Umständen nichteuklidischen -Typ der Raumgeometrie. Die Beziehung zwischen aj<p und dem (über den Rubble-Effekt aus der Rotverschiebung ermittelbaren) Abstand wird entsprechend komplizierter und hängt in einer aus der Theorie bestimm­baren Weise von der jetzigen Materiedichte p, der mit der kosmologi­schen Konstanten assoziierten Dichte PA und der Rubble-Konstante ab31 •

Diese kompliziertere Beziehung läßt sich auswerten: Die Winkelausdeh­nung läßt sich aus der Fluktuationskarte ablesen. Die Ausdehnung der Bereiche unterschiedlicher Temperatur hatten wir aus den thermodyna­mischen Betrachtungen gewonnen. Die Rubble-Konstante ist uns aus den Supernovae-Beobachtungen bekannt. Das Ergebnis der Auswertung ist eine Aussage über P und PA, und zwar, daß sich als Summe der bei­den Dichten gerade die kritische Dichte ergibt: Der kosmische Raum ist großräumig in guter Näherung flach; falls er doch leicht positiv oder ne­gativ gekrümmt ist, dann nur mit sehr geringer Abweichung von der eu­klidischen Geometrie des flachen Raums.

31 Eine der Korrekturen läßt sich anschaulich verstehen: Ist der Raum positiv oder negativ gekrümmt, so verändert sich die Beziehung zwischen Ausdeh­nung, Winkel und Abstand, und zwar so wie die eingezeichneten Dreiecke in Abb. 170 andeuten: In negativ gekrümmtem Raum wird der Winkel bei glei­chem Abstand und gleicher Ausdehung kleiner, in positiv gekrümmtem Raum größer.

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Verbindet man dieses Ergebnis mit den aus Supernova-Messungen er­haltenen Meßwerten, so erhält man die zur Zeit besten Abschätzungen für die kosmischen Parameter. Demnach leben wir in einem Universum mit einem Expansionsalter von 13, 7 Milliarden Jahren, dessen Materiedichte 27% der kritischen Dichte beträgt, mit einer einflußreichen kosmologi­schen Konstante, die einer Energiedichte von 73% der kritischen Dich­te äquivalent ist. Beide Dichten zusammengenommen ergeben die kri­tische Dichte, entsprechend einer flachen Raumgeometrie. Die Hubble­Konstante hat den Wert von 71 kmls pro Mega-Parsec, mit einer Unsi­cherheit von weniger als sechs Prozent.

Die Fluktuationen der kosmischen Strahlung haben wichtige Konse­quenzen für einen Aspekt der kosmologischen Standardmodelle, den wir zwar kurz erwähnt, aber bislang nicht näher ausgeführt haben. Wir ha­ben zwar gerade einmal mehr die Annahme bestätigt gefunden, daß das Universum auf großen Skalen homogen ist. Im Detail ist die Materiever­teilung im Kosmos dagegen beileibe kein homogenes Substrat, wie wir zu Beginn dieses Abschnittes ausgeführt haben, sondern besteht aus Ga­laxienhaufen, Galaxien, Sternen usw. Ein gutes kosmologisches Modell sollte auch diesen Umstand erklären. Man versucht das in den Standard­modellen dadurch, daß man "Störungen" des Modells einführt - ähnlich wie man in der Himmelsmechanik zunächst die Anziehungskräfte der Planeten untereinander im Vergleich mit der Anziehung der Sonne ver­nachlässigt und sie später durch sogenannte Störungen berücksichtigt (siehe S. 55). Ein Ziel der Standardmodelle ist es, nachzuweisen, wie kleine Störungen in der Frühzeit des Universums im Laufe der Zeit zu den jetzt vorhandenen Inhomogenitäten der Materieverteilung führten da­durch, daß kleine Dichteschwankungen im kosmischen Gas wuchsen: Mittels der Gravitation zogen Bereiche höherer Dichte Materie aus ih­rer Umgebung an, und dies führte - so nahm man an - schließlich zu den heute beobachteten Gebilden.

Dieser Vorgang konnte aber in der uns bekannten Materie erst ein­setzen, nachdem sich die geladenen Teilchen, also Elektronen, Protonen und Heliumkerne, zu neutralen Atomen vereinigt hatten; denn vorher ver­hinderten die häufigen Zusammenstöße der geladenen Teilchen mit Pho­tonen den Klumpungsprozeß. Deshalb erwarteten die Kosmologen seit der Entdeckung der Hintergrundstrahlung, man würde in deren Tempera­tur kleine richtungsabhängige Variationen finden, die damit einhergehen­de Dichtestörungen des kosmischen Gases nach der Vereinigungsphase anzeigen würden. Der experimentelle Nachweis dieser Temperaturunter­schiede war einerseits ein (auch gebührend gefeierter) Erfolg des Stan-

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dardmodells, zeigt aber andererseits auch eine neue Schwierigkeit auf: Die relativen Temperaturunterschiede waren etwa hundertmal kleiner als für die "Klumpenbildung" erforderlich.

Einen Ausweg bietet die kühne, bisher allerdings nicht direkt in einer von der Kosmologie unabhängigen Weise überprüfte Hypothese, daß es außer der uns bekannten Materie eine andersartige Art von Materie gibt, die zwar ebenso wie die normale Materie zur Massendichte des Univer­sums beiträgt, die aber die anderen Wechselwirkungen (elektromagne­tische und Kernkräfte, vgl. S. 448) nicht "spürt". Solche dunkle Mate­rie könnte nämlich schon vor der oben beschriebenen Vereinigungszeit durch Gravitationsanziehung "Klumpen" bilden, diese Materieballungen könnten nach der Vereinigungszeit normale Materie an sich heranzie­hen, und so könnten über komplizierte Zwischenvorgänge die beobachte­ten Gebilde wie Galaxien zustande kommen. Analytische Betrachtungen in Verbindung mit Computersimulationen scheinen diese Erwartung zu bestätigen: Es ist in den letzten Jahren tatsächlich gelungen, in groben Zügen zu verstehen, wie sich aus kleinen Dichteschwankungen die kos­mische Schaumstruktur gebildet hat - ein weiterer Erfolg des Standard­modells.

Nun würde man wohl die Annahme der Existenz bisher unbeobach­teter dunkler Materie sehr skeptisch beurteilen, wenn nicht außer der skizzierten Erklärung der Galaxienentstehung noch andere Argumente für diese Hypothese sprächen - was tatsächlich der Fall ist.

Frühe Hinweise auf dunkle Materie hatten sich bereits bei den Ver­suchen der Astronomen ergeben, die im Kosmos vorhandene Massen­dichte (wie wir gesehen haben ein wichtiger kosmischer Parameter) zu bestimmen. Wir sind eingangs bereits auf die Möglichkeit eingegan­gen, die Massen der Sternkomponenten aus Doppelsternsystemen zu be­stimmen und daraus eine Beziehung zwischen Masse und Leuchtkraft von Hauptreihensternen abzuleiten. Ist eine solche Masse-Leuchtkraft­Beziehung bekannt, kann man sie verwenden, um die Massen von Ga­laxien bekannter Leuchtkraft abzuschätzen. Andererseits kann man aus Messungen der Bewegung von Sternen an den Rändern von Galaxien - wenn diese Bewegungen, wie wir annehmen, den Newtonschen Ge­setzen (Kap. III) folgen - Rückschlüsse auf die Masse der betreffenden Galaxien ziehen. Die auf diese Weise ermittelten Massen sind größer als jene, die sich aus der Leuchtkraftschätzung ergeben: ein Teil der Masse der Galaxien scheint in Form von dunker Materie vorzuliegen, die bei Sternzählungen nicht mit erfasst wird. Analoge Beobachtungen der Be­wegung von Galaxien in Galaxienhaufen ergeben, daß die Haufen wie-

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derum mehr Masse enthalten als erwartet. Zusätzlich zu der dunklen Ma­terie in den Galaxien scheint es, als ob solche Haufen zusätzliche dunkle Massen enthalten. Die Abschätzungen, die sich unter Berücksichtigung der Verteilung der Galaxien im Raum für die mittlere kosmische Massen­dichte ergeben, sind dementsprechend unsicher. Typische Werte liegen zwischen 10-30 und 3.10-30 g/cm3 und entsprechen damit in etwa den oben erwähnten Abschätzungen für die mittlere Dichte des Universums als kosmischen Parameter. Andererseits kann man die Dichte PB der ins­gesamt im Universum vorhandenen herkömmlichen Materie (im wesent­lichen bestimmt durch die Dichte der massiven Baryonen, also Protonen und Neutronen) bestimmen: Aus den Daten zur Elementbildung folgt, wie erwähnt, das Zahlenverhältnis der Baryonen zu den Photonen der Hintergrundstrahlung; die Photonendichte der Hintergrundstrahlung läßt sich wie für jede Wärmestrahlung direkt aus der (meßbaren) Temperatur der Strahlung gewinnen. Es ergibt sich, daß nur etwa 15 % der kosmi­schen Materie aus Baryonen besteht, PB ~ 2· 10-31 glcm3 , von denen weniger als die Hälfte in Form von Sternmaterie vorliegen32.

Ein zweites, allerdings theoretisch-spekulatives Argument für das Vorhandensein von dunkler Materie ergibt sich aus Versuchen, einheit­liche Theorien für alle Wechselwirkungen zu entwickeln (v gl. S. 458). Aus entsprechenden Modellen ergibt sich durchweg die Vorhersage, es gäbe neben der herkömmlichen auch andersartige Materie, die sich even­tuell als Erklärung der dunklen Materie heranziehen ließe.

Wir wollen noch eine weitere Beobachtungstechnik erwähnen, die Aussagen über dunkle Materie verspricht und die auf dem relativisti­schen Effekt der Ablenkung von Licht in Schwerefeldern massereicher Körper (S. 308) beruht. Sie findet seit 1979 praktische Anwendungen in der Kosmologie. Angenommen, wir beobachten eine Raurnregion, in der sich ein dunkles, massives Objekt D befindet, das wir näherungsweise als kugelförmig annehmen wollen - etwa eine nur schwach leuchten­de Galaxie oder eine Ansammlung dunkler Materie. Direkt beobachten können wir D nicht; wir können die Anwesenheit geballter Masse in der entsprechenden Raurnregion aber bemerken, wenn wir ein hinter D be­findliches, leuchtendes Objekt beobachten, etwa einen hellen Quasar Q. Dessen Licht wird im Gravitationsfeld von D abgelenkt (vgl. VII, 11, S. 308); sind Q und D relativ zueinander und relativ zur Erde geeignet positioniert, dann kommt es zu einem sogenannten Gravitationslinsenef-

32 Zur normalen Materie gehören zwar außer den Baryonen noch Teilchen wie beispielsweise die Elektronen; deren Masse trägt im Vergleich zu jener der

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,

Abbildung 178. Gravitationslinseneffekt für eine dunkle Masse D und einen femen Quasar Q. Von der Erde aus sind zwei Bilder Ql und Q2 des Quasars

sichtbar

fekt, bei dem der Quasar das Licht ähnlich einer optischen Linse bündelt. Dies ist in Abb. 178 skizziert: Das Licht von Q erreicht uns auf zwei verschiedenen Wegen - von uns aus gesehen scheint ein und derselbe Quasar an zwei verschiedenen Stellen am Himmel zu stehen, nämlich in den Positionen Ql und Q2. Daß es sich bei Ql und Q2 nicht einfach um verschiedene Quasare, sondern um Bilder ein und desselben Quasars handelt, zeigt eine genaue Analyse der Beobachtung. Zum einen zeigen Ql und Q2 dieselben Strahlungsspektren (insbesondere dieselben Rot­verschiebungen, was nach dem Hubble-Gesetz auf denselben Abstand schließen läßt). Zum anderen weist die Strahlung von Quasaren im Laufe der Zeit kleine Fluktuationen auf; ist der zeitliche Verlauf dieser Fluktua­tionen für Ql und Q2 derselbe - abgesehen von einer konstanten Zeit­verzögerung aufgrund der unterschiedlich langen Lichtwege - kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß es sich um Bilder ein und desselben Objekts handelt. Gravitationslinsenphänomene sind viel­fach beobachtet worden, sowohl solche mit zwei Bildern als auch solche mit dreien oder vieren. In unseren Überlegungen haben wir die Zentral­masse bislang als kugelförmig angenommen; wirkliche Galaxien haben in der Regel eine komplexere, nicht kugelsymmetrische Form, die beein­fiußt, wie das Licht abgelenkt wird und die zu charakteristischen Ver-

Baryonen allerdings so wenig bei, daß sie bei entsprechenden Abschätzungen vernachlässigt werden kann.

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zerrungen der Bilder führt. Eine genaue Beobachtung des Linseneffektes läßt daher nicht nur Rückschlüsse auf die Gesamtmasse des ablenken­den Objekts, sondern sogar auf seine Massenverteilung zu. Durch Mes­sung der Verzerrungen der Bilder ferner Galaxien, die am Himmel, d.h. der Richtung nach, nahe bei einem Galaxienhaufen zu stehen scheinen, kann deshalb unter Umständen die Massenverteilung des betreffenden Haufens bestimmt werden; ein Verfahren, mit dessen Hilfe alle masse­behaftete Materie erfaßt wird, auch die möglicherweise in dem Haufen enthaltene dunkle Materie. Es gibt Anzeichen dafür, daß auf diese Weise Ansammlungen dunkler Materie ausfindig gemacht werden können, die anders nicht nachweisbar wären.

Dies soll unsere Ausführungen zum Thema dunkle Materie beschlie­ßen; woraus diese Materie besteht, ist eine der ungelösten Fragen der heutigen Kosmologie.

Damit haben wir den weiten Bogen von den grundlegenden Eigen­schaften des Universums bis hin zu relativistischen Universumsmodellen und ihrer Überprüfung anhand der Beobachtungsdaten geschlagen. Zu­sammengenommen zeigen diese Betrachtungen, daß es der heutigen Kos­mologie gelingt, Fragen über die grundlegenden Eigenschaften und die zeitliche Entwicklung unseres Weltalls zu beantworten, wenn zur Inter­pretation der immer reichhaltigeren und genaueren Beobachtungsdaten die lokal ermittelten Naturgesetze, insbesondere die allgemeine Relati­vitätstheorie und das Standardmodell der Teilchenphysik, zugrundegelegt werden. Das für unser allgemeines Naturverständnis bedeutsamste Er­gebnis der Kosmologie ist wohl, daß auch die Welt der Sterne und Galaxi­en nicht ewig und unveränderlich, sondern in einer zum Teil stürmischen Entwicklung begriffen ist und daß unser Universum, von den frühen Pha­sen der Urknallmodelle an gerechnet, nur etwa fünfmal älter ist als das Leben auf der Erde.

Eine Reihe zum Teil sehr grundlegender Probleme bleiben dabei be­stehen und sorgen dafür, daß die Kosmologie nach wie vor ein sehr le­bendiger Bereich der Naturwissenschaft ist. Eine der schwerwiegendsten offenen Fragen, die nach Art und Verbreitung der dunklen Materie, hatten wir bereits angesprochen.

Eine weitere offene Frage betrifft die Bedeutung der kosmologischen Konstante. Viele Kosmologen neigen dazu, die Einsteinsehe Größe ). nicht als eine Naturkonstante (wie z.B. die Gravitationskonstante) aufzu­fassen, sondern das mit ). behaftete Glied im Einsteinsehen Gravitations­gesetz als vereinfachte und nur zeitweise gültige Darstellung eines mit Energie und Druck verbundenen Feldes zu deuten. Einem solchen Feld

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Kosmologie 435

kommt außer einer positiven Energiedichte ein großer negativer Druck, einer allseitigen Zugspannung entsprechend, zu. Um diese hypothetische Art Materie von der dunklen Materie, deren Druck positiv und viel klei­ner ist, zu unterscheiden, spricht man von "dunkler Energie". Diese Hy­pothese läßt sich mit einem weiteren Fragenkomplex verbinden, der die frühen Phasen der zeitlichen Entwicklung des Universums betrifft: An dem bisher skizzierten Modell des Universums mag man es als unbefrie­digend ansehen, daß seine Homogenität und Isotropie als Annahmen in die Konstruktion eingehen, an statt aus physikalischen Vorgängen im Uni­versum abgeleitet zu werden. Ein vielbeachteter Vorschlag, diesen Man­gel zu beheben, führt den Mechanismus der sogenannten Inflation ein: Danach hat sich in der Frühzeit des Weltalls aufgrund quantenphysikali­seher Vorgänge ein winziger, homogener und isotroper Bereich gebildet, in dem die Vakuumenergie, bzw. die dunkle Energie, den Einfluß der Ma­terie überwog. Die Entwicklung dieses Bereichs wurde daher von der ab­stoßenden )..-Kraft bestimmt, aufgrund derer er eine enorme Aufblähung erfuhr. Anschließend an diese sogenannte Inflationsphase soll sich der größte Teil der mit der kosmologischen Konstante).. assoziierten Vakuu­menergie in Strahlung verwandelt haben; die weitere Entwicklung des so entstandenen, homogen mit Strahlung und stark verminderter )..-Energie erfüllten Bereichs, der das gesamte unseren Beobachtungen zugängliche Weltall enthält, verläuft dann so wie in den oben beschriebenen Stan­dardmodellen. Auf diese Weise lassen sich die Eigenschaften des beob­achteten Universums zum Teil verstehen, allerdings müssen dazu einige mehr oder weniger willkürliche Annahmen zur Ausgangssituation und zum Mechanismus der Inflation gemacht werden, die die Vorhersagekraft des Modells schwächen.

Lange Zeit waren die Überlegungen zu einer hypothetischen Inflati­onsphase nicht durch direkte Beobachtungen überprüfbar. Jüngste Unter­suchungen zur Feinstruktur der kosmischen Hintergrundstrahlung wie die erwähnten Messungen der Wilkinson Microwave Anisotropy Probe haben dagegen in den letzten Jahren einige Möglichkeiten eröffnet, Voraussa­gen der Inflationsmodelle auf die Probe zu stellen. Bislang scheinen sich zumindest allgemeinere Voraussagen der Inflationsmodelle zur Systema­tik der Fluktuationen zu bestätigen; die weitergehende Konfrontation von Theorie und Beobachtung dürfte zu den spannenderen Entwicklungen der Kosmologie der kommenden Jahre gehören.

Die frühesten Phasen des Universums und einen "Ersatz" für den Ur­knall der Standardmodelle vermag auch das Inflationsmodell nicht darzu­stellen. Dort stoßen wir auf eine Grenze der derzeitigen Naturerkenntnis.

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436 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

Um sie zu überschreiten, scheint, wie schon kurz erwähnt, eine Theo­rie der Quantengravitation vonnöten zu sein. Zur Zeit gibt es in dieser Richtung noch keine gesicherten Erkenntnisse. Zu der Frage, wie eine solche Theorie aussehen könnte, gibt es allerdings durchaus interessante Ansätze, die wir im nächsten Abschnitt besprechen wollen.

s. Quantentheorie und Relativitätstheorie

Die von BORN im Abschnitt VII, 13 angerissene Frage, inwieweit sich EINSTEINS Theorie der Gravitation mit der Beschreibung der anderen Grundkräfte vereinigen läßt, ist auch heute noch Gegenstand der For­schung. Als Hauptproblem hat es sich dabei erwiesen, die allgemeine Relativitätstheorie mit jenem anderen Eckpfeiler der Physik des 20. Jahr­hunderts zu verbinden, der Quantentheorie.

Ausgangspunkt für die Entwicklung der Quantentheorie war die Fra­ge nach der Beschaffenheit der Materie im Kleinen. Aus der Chemie (DALTON, "-'1810) und der kinetischen Gastheorie (BOLTZMANN und MAXWELL "-' 1870) war bekannt, daß man viele Eigenschaften der Ma­terie verstehen kann unter der Annahme, die Stoffe bestünden aus klei­nen, chemisch nicht veränderbaren Einheiten, den Atomen. Gibt es diese Materiebausteine wirklich, und wenn ja, wie kann man sie beschreiben? Physikalische Experimente ergaben zudem, daß die Wechselwirkung der Materie mit elektromagnetischer Strahlung Gesetzmäßigkeiten genügt, die sich nicht mit Hilfe klassischer Modellvorstellungen erklären ließen - aber welche Gesetze, wenn nicht die der klassischen Mechanik, Elek­trodynamik und Thermodynamik, bestimmen die mikroskopischen Ei­genschaften der Materie?

Antworten auf diese Fragen liefert die Quantenmechanik, die zwi­schen 1900 und 1927 von PLANCK, ErNSTE IN, BOHR, DEBROGLIE, HErSENBERG, BORN, JORDAN, DrRAC, SCHRÖDINGER und PAULI ent­wickelt wurde. Sie beschreibt das Verhalten von Systemen von atoma­rer Größenordnung (entsprechend Abständen von 10-10 m), etwa der Zustände der Atome, ihre Spektren und ihre chemischen Bindungen, aber auch die Physik von Systemen vieler Atome, wie sie beim Laser oder als Festkörper vorkommen.

Auch die Quantenmechanik beschreibt das Verhalten von Teilchen, denen man Masse, Impuls und Energie zuordnen kann; allerdings haben diese Teilchen in einiger Hinsicht ganz andere Eigenschaften als die Teil­chen der klassischen Mechanik. In bestimmten Situationen zeigen Teil-

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Quantentheorie und Relativitätstheorie 437

chen mit dem Impuls p und der Energie c nämlich das Verhalten von Wellen mit der Frequenz

und der Wellenlänge

c 1/ = -

h (142)

(143)

mit der Planckschen Konstanten h; in den in diesem Teil des Buches verwendeten Einheiten ist

2 h = 6,6261 . 10-34 kg~.

s (144)

Ein Beispiel für diese Art Doppelnatur ist uns bereits in einem voran­gehenden Abschnitt begegnet (VI, 9): Dort waren es die Lichtwellen, die sich wie teilchenartige Energiepakete verhielten, und die Energie und der Impuls, die diesen Paketen, den Lichtquanten, in den Gleichungen (89) und (90) zugeordnet wurden, entsprachen gerade den Beziehungen (142) beziehungsweise (143).

Die Doppelnatur von Teilchen führt dazu, daß unserer Fähigkeit, ge­naue Messungen vorzunehmen, prinzipielle Grenzen gesetzt sind. Wir hatten uns eingangs in Kapitel 11 mit den Gesetzen der Mechanik beschäf­tigt und damit, wie sich Punktteilchen unter dem Einfluß von Kräften be­wegen. Aber wie gelangen wir überhaupt zu der Aussage, ein bestimmtes Teilchen befände sich momentan am Orte x und bewege sich mit der Ge­schwindigkeit v? Wir werden im Kleinen wiederholen, was wir tagtäglich tun, um Raumregionen und darin befindliche Objekte zu betrachten: Wir lassen Licht auf die entsprechende Raumregion fallen und beobachten, in welcher Weise es von den Materieteilchen zurückgeworfen wird. Im Alltag gehen wir davon aus, daß sich das Licht von dem Moment, wo ein Objekt es zurückwirft, bis zu dem Moment, wo es unsere Augen er­reicht, geradlinig bewegt hat, daß also eine gerade Linie Punkte der Ob­jektoberfläche mit unseren Augen verbindet. Das ist die Annahme, nach der wir aus dem, was unsere Augen sehen, auf die Positionen der von uns wahrgenommenen Objekte schließen. Wenn es sich um sehr kleine Objekte handelt, müssen wir allerdings die Grenzen dieser Vorstellung berücksichtigen: Licht hat die Eigenschaften einer Welle, und Wellen laufen an Hindernissen, deren Ausdehnung von der Größenordnung ih­rer Wellenlänge ist, verhältnismäßig ungestört vorbei. Dieses Phänomen hängt mit der Beugung von Wellen zusammen, die wir schon auf S. 75 kennen gelernt haben, und wir kennen es ebenfalls aus dem Alltag - zwar

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438 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

nicht vom Licht, aber von Schallwellen: Deren Wellenlängen liegen im Bereich von Zentimetern bis Metern, und Objekte eben dieser Größe stellen für Schallwellen keine wirklichen Hindernisse dar - obwohl sich ein solches Objekt zwischen mir und einer Schallquelle befindet, kann ich den Schall hören; es gibt keinen scharf umrissenen "Schallschatten", der mir Größe und Form des Hindernisses anzeigte. In ähnlicher Weise ist auch das Bild, das sich aus den von dem Objekt zurückgeworfenen Wellenanteilen ergibt, unscharf, wenn die Größe des Objektes der Wel­lenlänge vergleichbar ist. Mit Licht der Wellenlänge A lassen sich daher keine Strukturen beobachten, deren Ausdehnung in der Größenordnung von A liegt oder sogar noch kleiner als A ist. Zur Beobachtung sehr klei­ner Objekte müssen wir daher Licht entsprechend kurzer Wellenlänge verwenden. Die Wellenlänge des sichtbaren Lichts liegt zwischen rund 0,7 Mikrometer (millionstel Meter; entsprechend rotem Licht) und 0,4 Mikrometer (entsprechend violettem Licht); im Lichtmikroskop lassen sich daher zwar Bakterien mit einer Größe von rund einem Mikrome­ter beobachten, nicht aber Viren, deren typische Größe zwischen 0,02 und 0,3 Mikrometern liegt. Um noch kleinere Strukturen beobachten zu können, kann man zu noch kürzerwelliger elektromagnetischer Strah­lung übergehen, etwa zu ultraviolettem Licht mit Wellenlängen zwischen 0,4 Mikrometer und 0,01 Mikrometer, oder Röntenstrahlung mit Wel­lenlängen im Bereich von 0,01 bis hinunter zu einem Milliardstel Mi­krometer. Ist auch das nicht genug, kann man zu beobachtende Objekte statt mit Licht mit Materieteilchen beschießen: Wie oben angesprochen, kann man auch Materieteilchen eine Wellenlänge zuordnen, und diese Wellenlänge stellt wiederum eine Grenze dafür da, wie kleine Strukturen sich mit Hilfe dieser Materieteilchen beobachten lassen. Typischerweise sind die Wellenlängen von Materieteilchen dabei wesentlich kleiner als diejenigen, die sich mit Licht erreichen lassen: Die Masse eines Elektrons etwa hat den Wert

m e = 9 . 10-31 kg;

bewegt es sich mit einer Geschwindigkeit v von einer Million Metern pro Sekunde (wie sie in Elektronenmikroskopen erreicht wird), so entspricht dies nach der klassischen Mechanik dem Impuls

p = me·v = 9 .1O-25 kg. m/s

und nach der Gleichung (143) einer Wellenlänge von 0,7 Milliardstel Me­tern - damit sollten sich sogar einzelne Moleküle und Atome beobachten lassen. In den leistungsfähigsten "Mikroskopen" unserer Tage, den Teil-

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Quantentheorie und Relativitätstheorie 439

chenbeschleunigern, werden Teilchen wie Elektronen oder Protonen auf sehr hohe Energien beschleunigt; die Kollisionen solcher Teilchen geben dann Aufschluß über die physikalischen Gesetze, die für entsprechend kleine Strukturen gelten.

Der Umstand, daß Impuls und Wellenlänge in der in (143) ange­gebenen Weise gekoppelt sind, hat tiefgreifende Auswirkungen darauf, welche Informationen wir über die Mikrowelt erlangen können, sind wir doch nicht nur an dem Ort eines Teilchens interessiert, sondern auch an seiner Geschwindigkeit. Von jedem Photon beispielsweise, das VOn ei­nem der Teilchen zurückgeworfen wird und unS somit dessen Position verrät, erleidet das Teilchen einen Rückstoß VOn der Größenordnung des Impulses des Photons. Damit stehen wir bei der Betrachtung mikrosko­pischer Teilchen vor dem folgenden Dilemma: Wollen wir deren Positi­On genau bestimmen, so müssen wir Licht oder Materieteilchen entspre­chend kleiner Wellenlänge verwenden. Je kleiner die Struktur, desto klei­ner die benötigte Wellenlänge, desto größer aber nach (142) der Impuls der zur Beobachtung verwendeten Teilchen und desto größer die Störung des Impulses und der Geschwindigkeit, welche die beobachteten Teilchen erfahren. Wollen wir andererseits den Impuls der beobachteten Teilchen möglichst wenig stören, so sind wir auf Licht größerer Wellenlänge an­gewiesen; damit läßt sich dann allerdings die Position von Teilchen nicht so gen au bestimmen. Weitergehende Untersuchungen zeigen, daß dieses Dilemma keine Besonderheit der hier verwendeten Beobachtungsmetho­de ist, sondern Ausdruck eines grundlegenden Gesetzes der Mikrowelt: Genaue Ortsmessungen schließen gleichzeitige genaue Impulsmessun­gen zwangsläufig aus, und umgekehrt - ein Gesetz, das als Heisenberg­sehe Unsehäiferelation bekannt ist. Ist die Position x eines Teilchens nur bis auf eine Ungenauigkeit Llx bekannt und sein Impuls p nur bis auf eine Ungenauigkeit Llp, so gilt33

h Llx· Llp > -. - 411"

(145)

33 Bis auf konstante Faktoren folgt dieser Ausdruck aus unseren vorherigen Be­trachtungen, wenn wir die Wellenlänge A des Photons als Maß für die mi­nimale Orts unschärfe nehmen, Llx ~ A, und seinen Impuls als Maß für die minimale Unschärfe der Impulsmessung, Llp ~ hj A nehmen. Warum dies gerechtfertigt ist, läßt sich nicht im Rahmen unserer naiven, halbklassischen Überlegungen begründen.

Weiterhin wollen wir anmerken, daß die Unschärferelation strenggenom­men für jede der Raumdimensionen getrennt gilt, also für Llx . Llpx, mit px der Impulskomponente in x-Richtung, für Lly . Llpy und für Llz . pz.

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440 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

Wenn sich nun aber Position und Bewegung eines Teilchens prinzi­piell nicht gleichzeitig genau bestimmen lassen, wie sinnvoll ist es dann, überhaupt davon zu reden, ein gegebenes Teilchen befände sich zu einem bestimmten Zeitpunkt am Orte x und habe die Geschwindigkeit v?

Tatsächlich stellt sich heraus, daß hier eine grundsätzlich andere Art der Beschreibung des Zustands eines Teilchens notwendig wird, bei der nicht mehr Aussagen zur momentanen Position und zu Geschwindigkei­ten von Teilchen Inhalt der Theorie sind, sondern Aussagen dazu, wie wahrscheinlich es ist, bei bestimmten Messungen an einem vorgegebe­nen System bestimmte Ergebnisse zu erhalten. Die Theorie, die diesem Umstand Rechnung trägt, ist die Quantenmechanik.

Die vom Zustand eines Objekts abhängigen Wahrscheinlichkeitsver­teilungen der verschiedenen meßbaren Größen spiegeln das erwähnte Unschärfeprinzip wider - bringt man ein Teilchen in einen Zustand, in­dem man den Schwankungsbereich der möglichen Ergebnisse für die Ortsmessung sehr klein hält, mit anderen Worten: in dem die Wahrschein­lichkeit sehr hoch ist, das Teilchen in einem vorgegebenen kleinen Raum­bereich zu finden, dann wird der Schwankungsbereich für eine Impuls­messung sehr groß, mit anderen Worten: dann gibt es einen großen Be­reich möglicher Meßergebnisse für den Impuls des Teilchens, die alle ungefähr gleich wahrscheinlich sind.

In der Regel ändern sich Quantensysteme mit der Zeit - es ändert sich die Wahrscheinlichkeit dafür, bestimmte Meßergebnisse zu erhalten. Man kann dies als eine Zeitentwicklung der Quantenzustände beschreiben, die durch die sogenannte Schrödinger-Gleichung bestimmt wird, eine Glei­chung, die für die Quantenmechanik eine analoge Rolle spielt wie die Bewegungsgleichungen in der Newtonschen Mechanik.

Äquivalent zu dieser Formulierung der Quantenmechanik ist der von FEYNMAN erfundene Pfadintegral-Formalismus. Er bietet ein Rezept, um quantenmechanische Wahrscheinlichkeiten auszurechnen, das wir hier an einem Beispiel kurz vorstellen wollen. Was ist die Wahrschein­lichkeit, ein Quantenteilchen, das sich zum Zeitpunkt tA am Orte A be­findet und auf das keine Kräfte wirken, zu einem späteren Zeitpunkt tB an einem anderen Ort B anzutreffen?34 FEYNMANS Rezept ist das fol­gende: Man betrachte alle Möglichkeiten, wie das Teilchen in der vor­gegebenen Zeit von A nach B gelangen kann. Nicht nur, wie man ein-

34 Im allgemeinen wird man auch zum Zeitpunkt tA lediglich eine Wahrschein-lichkeitsverteilung angeben können, wo sich das Teilchen befindet. Wir blei­ben der Einfachheit halber trotzdem bei dieser idealisierten Fragestellung.

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Quantentheorie und Relativitätstheorie 441

gedenk der klassischen Mechanik meinen könnte, jene Fälle, in denen das Teilchen geradlinig von A nach B gelangt, sondern auch die Fälle, in denen es wilde Kurven, einen oder mehrere Loopings fliegt; die Fälle, in denen es den ersten Teil seiner Bahn schnell und die letzten Millime­ter quälend langsam zurücklegt; die Fälle, in denen das Teilchen einen Abstecher nach Göttingen, nach Cambridge, zum Mond oder zur Gala­xie M51 macht, bevor es an seinen Bestimmungsort B gelangt, kurzum: wirklich alle Reisemöglichkeiten, auch die ausgefallendsten.

Im zweiten Schritt des Rezeptes wird jeder Reisemöglichkeit eine Zahl zugeordnet (keine reelle, sondern eine komplexe Zahl, aber diese technische Feinheit soll uns hier nicht kümmern).

Im letzten Schritt werden die Beiträge aller Reisemöglichkeiten ad­diert. Einige der Summanden heben sich dabei auf, andere verstärken sich, und das Endergebnis der Summe sagt uns die gewünschte Wahr­scheinlichkeit dafür, das zur Zeit tA in A gestartete Teilchen zur Zeit tB in B nachzuweisen. Diese Summe über alle möglichen Reisemöglichkei­ten bezeichnet man als Pfadintegral, und wir werden dieser Formulierung der Quantenmechanik später noch einmal begegnen.

Die Quantenmechanik ist eine außerordentlich erfolgreiche physika­lische Theorie. Sie erklärt eine Vielzahl grundlegender Eigenschaften der Materie. Zu ihren frühen Erfolgen gehört die Erklärung der Stabilität der Atome und der Systematik ihrer Spektrallinien; die Zahl der weite­ren Anwendungen der Theorie ist unübersehbar - auf ihr gründen ganze Forschungsbereiche, von der Laserphysik bis zur Festkörperphysik, von der Grundlagenforschung bis hin zu Anwendungen wie Transistoren oder CD-Spieler.

In ihrer ursprünglichen Form stellt die Quantenmechanik eine Erwei­terung der klassischen Mechanik der Punktteilchen dar; sie stützt sich auf die Newtonschen Annahmen über Raum und Zeit. Die Schrödinger­Gleichung beispielsweise drückt im Wellenbild - vergleiche GI. (142) und (143) - den Newtonschen Zusammenhang zwischen Energie und Im­puls aus.

Der Versuch, eine entsprechende Gleichung für die relativistische Energie-Impulsbeziehung [(87), S. 250] zu finden, gelang zwar für ein einzelnes Teilchen, das sich ohne den Einfluß äußerer Kräfte frei be­wegt. Ebenso ließ sich näherungsweise berechnen, welche Korrekturen der Übergang zur relativistischen Mechanik für das Energiespektrum des Wasserstoffatoms mit sich bringt - Voraussagen, die sich experimentell bestätigen ließen. Die Ausdehnung dieser Formulierung auf allgemeine Kraftwirkungen scheiterte jedoch und führte letztendlich zur Entwick-

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442 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

lung einer ganz andersartigen Quantentheorie auf der Grundlage der spe­ziellen Relativitätstheorie, der sogenannten Quantenfeldtheorie. Diese erweist sich als natürlicher Rahmen für die quantentheoretische Beschrei­bung von Feldern, insbesondere auch von Kraftfeldern wie dem elektro­magnetischen Feld, die die Wechselwirkung zwischen Materieteilchen vermitteln.

Leider ist es im Falle der Quantenfeldtheorien sogar noch schwie­riger als in der allgemeinen Relativitätstheorie, exakte Lösungen anzu­geben, mit denen sich konkrete physikalische Situationen beschreiben ließen. Tatsächlich sind für diese Theorien, von wenigen, besonders ein­fachen Modellen abgesehen, keine solchen Lösungen bekannt. Daß sich trotzdem physikalische Voraussagen treffen lassen, und das sogar mit hoher Präzision, ist sogenannten störungstheorischen Methoden zu ver­danken, wie wir ihnen im Verlaufe des Buches bereits mehrmals begeg­net sind: bei der Berechnung von Planetenbewegungen [III, 4, S. 55f.J, im Zusammenhang mit Lösungen der allgemeinen Relativitätstheorie [VIII, 3, S. 384] und in der Kosmologie [VIII, 4, S. 430]. Sie bieten Näherungsverfahren, mit denen sich das Problem, eine Lösung zu fin­den, in geschickter Weise in viele Teilprobleme aufteilen läßt, die sich ihrer Wichtigkeit nach ordnen lassen. Löst man das wichtigste Teilpro­blem, so verfügt man über eine erste Näherungslösung, löst man nun das nächstwichtigste, so läßt sich diese Näherungslösung ein wenig verbes­sern, die zusätzliche Lösung des dritten Teilproblems bringt eine weitere Verbesserung mit sich, und so weiter. Zu einer exakten Lösung gelangt man auf diesem Wege im allgemeinen nicht, unter geeigneten Umständen jedoch zu äußerst genauen Näherungslösungen.

Das Musterbeispiel für eine Quantenfeldtheorie ist die sogenann­te Quantenelektrodynamik (QED), die Quantenversion von MAXWELLs Theorie des elektromagnetischen Feldes. Sie beschreibt, wie elektrisch geladene Teilchen (beispielsweise Elektronen) mit den Trägerteilchen der elektromagnetischen Kraft wechselwirken, den Lichtquanten oder Photo­nen. Eine typische Fragestellung, die man mit Hilfe der QED zu beant­worten hoffen kann, ist die folgende: Zwei Elektronen fliegen in einem Teilchenbeschleuniger aufeinander zu. Wie werden sie durch die zwi­schen ihnen wirkende elektromagnetische Kraft abgelenkt?

Vollständig ist dieses Problem im Rahmen der Quantenelektrodyna­mik nicht lösbar. Eine störungstheoretische Behandlung zeigt jedoch, daß sich die Ablenkung in unterschiedlich wichtige Beiträge zerlegen läßt, die schrittweise berechnet werden können. Für diese Beiträge hat sich hier wie in den anderen Quantenfeldtheorien eine graphische Notation

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Quantentheorie und Relativitätstheorie 443

eingebürgert, die sogenannten Feynman-Diagramme. Jedes dieser Dia­gramme läßt sich in einen mathematischen Formelausdruck umsetzen, der den betreffenden Beitrag zur Ablenkung der Elektronen auszurech­nen erlaubt. Das dem wichtigsten Beitrag entsprechende Diagramm ist in Abb. 179 zu sehen.

ct e

e e ~----------------_ x

Abbildung 179. Feynman-Diagramm des Photonaustausches zweier Elektronen

Es liegt nahe, die Feynman-Diagramme als Weltlinien-Diagramme der beteiligten Materie- und Kraftteilchen zu lesen, wie es in Abb. 179 durch die zusätzlich eingezeichneten Koordinatenachsen bereits ange­deutet ist. Die äußeren Linien entsprechen in dieser Deutung den beiden Elektronen, die elektromagnetisch aufeinander wirken: Zu Beginn fliegen die beiden Elektronen (eingedenk ihrer negativen elektrischen Ladungen als e- gekennzeichnet) unabhängig voneinander durch den Raum aufein­ander zu. Am Raumzeitpunkt A sendet das Elektron ein Trägerteilchen der elektromagnetischen Kraft aus; ein Photon ,,(, dessen Weltlinie sche­matisch als Wellenlinie dargestellt ist. Beim Aussenden erleidet das Elek­tron durch den Rückstoß eine kleine Impulsänderung. Am Raumzeit­punkt B absorbiert das andere Elektron das Photon und erleidet dabei ebenfalls einen kleinen Stoß. Im Endeffekt haben sich die Impulse der beiden beteiligten Elektronen ein wenig geändert, und zwar bewegen sich die Teilchen nunmehr voneinander weg - das ist der Effekt der abstoßen­den Kraft, die zwischen ihnen wirkt.

Auch der Übergang zur klassischen Physik läßt sich in dieser Inter­pretation verstehen: Makroskopische, elektrisch geladene Objekte tau-

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sehen eine große Anzahl von Photonen aus, deren Kraftstöße, aufaddiert, den Eindruck einer kontinuierlich wirkenden Kraft erwecken, wie wir sie aus der klassischen Physik kennen - gerade so, wie in Abschnitt II, 10 die Kraft als Grenzfall vieler kleiner Kraftstöße eingeführt wurde.

Die noch verbleibenden Beiträge zur elektromagnetischen Ablen­kung der Elektronen lassen sich ebenfalls durch Feynman-Diagramme darstellen. Einige davon sind in Abb. 180 zu sehen. Auch diesen Dia-

ct ct

e e e e

e e

e e x x

(a) (b)

Abbildung 180. Weitere Beiträge zur elektromagnetischen Ablenkung zweier Elektronen

grammen kann man eine Weltlinien-Deutung geben: Im Diagramm (a) tauschen die Elektronen nach Abschluß des ersten Photonenaustauschs noch ein weiteres Photon aus. Im Diagramm (b) sendet eines der Elek­tronen ein Photon aus, dann findet ein Photonaustausch mit dem anderen Elektron statt, und schlußendlich wird das eingangs ausgesandte Photon wieder von demselben Elektron absorbiert.

So verführerisch es ist, die Linien eines Feynman-Diagramms direkt als die Weltlinien von Teilchen zu lesen, muß man sich doch der Gren­zen dieser Interpretation bewußt sein. So zeigt sich, daß die "inneren Li­nien" dieser Diagramme - alle Linien, die innerhalb eines Diagramms zwei Wechselwirkungspunkte verbinden, in Abb. 179 und Abb. 180 die gewellten Photononenlinien sowie in Abb. 180 b) der Abschnitt der rech-

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Quantentheorie und Relativitätstheorie 445

ten Elektronen-Linie zwischen A und B - schon deswegen keinen realen Teilchen entsprechen, weil sie nicht dem von EINSTEIN vorgeschriebe­nen Zusammenhang zwischen Ruhemasse, Energie und Impuls genügen, den wir in (87), S. 250, kennengelernt haben. Allenfalls handelt es sich um Zwischenzustände, die zwar einige Eigenschaften von Teilchen auf­weisen, andere jedoch nicht. Unter Physikern hat sich für diese Zwi­schenzustände der Ausdruck virtuelle Teilchen eingebürgert.

Letztendlich sind die Feynman-Diagramme keine klassischen Welt­liniendiagramme realer Ereignisse, sondern eine mathematische Kurz­schreibweise für eine Pfadintegralrechnung, wie wir sie oben bereits kurz angesprochen hatten. Dort war es darum gegangen, die Wahrscheinlich­keit zu berechnen, ein zur Zeit tA am Ort A befindliches Teilchen zu einer gegebenen späteren Zeit an einem anderen Ort B nachzuweisen, und die­se Wahrscheinlichkeit konnte als Summe über alle Reisemöglichkeiten ausgerechnet werden. Ebenso steht das Feynman-Diagramm in Abb. 179 für eine Summe über alle Arten und Weisen, auf die zwei Elektronen ein Photon '"Y austauschen können. Die Fälle, über die hier summiert wird, schließen beispielsweise alle verschiedenen Möglichkeiten für die Raum­zeitpunkte A und B ein, an denen die Aussendung und Absorption des Photons stattfinden kann. Aus dieser Summe lassen sich wiederum Aus­sagen über quantentheoretische Wahrscheinlichkeiten herleiten, in dem hier betrachteten Falle darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit zwei auf­einander zufliegende Elektronen in welcher Weise elektromagnetisch ab­gelenkt werden. Auch die anziehende Kraft zwischen positiv und negativ geladenen Teilchen, die im naiven Weltlinienbild nicht recht nachvoll­ziehbar ist (wie kann der Impulsübertrag eines Trägerteilchens zwei Teil­chen aufeinander zu treiben?) ergibt sich aus dem entsprechenden Pfad­integral.

Will man im Rahmen der Quantenmechanik das Verhalten mehre­rer Teilchen beschreiben, so muß man die Teilchenzahl fest vorgeben. In der Quantenfeldtheorie kann die Teilchenzahl dagegen variieren: Ein Teilchen kann unter geeigneten Bedingungen in mehrere andere Teilchen zerfallen, und auch die Wechselwirkung durch Teilchenaustausch, wie sie in den obigen Feynman-Diagrarnmen in Abb. 179 und Abb. 180 zu sehen ist, läßt sich als Fluktuation der Teilchenzahl verstehen: zwischen­zeitlich entstehen zusätzliche virtuelle Teilchen, in Abb. 179 etwa das Photon, die später wieder verschwinden. Diese Art der Veränderlichkeit der Teilchenzahl zeigt sich auch im leeren Raum, der nach klassischer Auffassung überhaupt keine Teilchen enthält. Nach der Quantenfeldtheo­rie ist das Vakuum nicht wirklich leer: Pausenlos entstehen aus dem

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ct

u-~------------__ x

Abbildung 181. Feynman-Diagrarnrn der Erzeugung eines virtuellen Elektron­Positron-Paares

Nichts Teilchenpaare, die sich nach kurzer Zeit wieder vernichten, vgl. das Feynman-Diagramm in Abb. 181. Diese Paarbildung kann allerdings nicht in beliebiger Weise geschehen. So gilt weiterhin, daß elektrische Ladungen im Ganzen weder vernichtet noch erzeugt werden können. Aus dem Nichts kann nicht einfach ein einzelnes, elektrisch geladenes Teil­chen entstehen - die gleichzeitige Entstehung eines elektrisch positiven und eines gleichermaßen negativ geladenen Teilchens, entsprechend ei­ner Gesamtladung null, ist dagegen nicht verboten. Dasselbe gilt für eine Reihe weiterer, andersartiger Ladungen, durch die Teilchen in Quanten­feldtheorien charakterisiert sind.

Dieser Umstand schränkt ein, welche Teilchenkombinationen auf die­se Art entstehen können: Soll beispielsweise eines der Teilchen die elek­trische Ladung +e tragen, muß die Ladung des anderen zwangsläufig -e sein, so daß die Gesamtladung weiterhin -e + e = 0 beträgt, wie es vor der Paarerzeugung der Fall war. (Da auf diese Weise das elek­trisch neutrale Vakuum in positive und negative Ladungen "aufgespal­ten" scheint, spricht man hier auch von Vakuumpolarisation. ) Ähnliche Überlegungen gelten für die erwähnten anderen Ladungen; wenn ein ge­gebenes Teilchen zusammen mit einem anderen Teilchen aus dem Nichts erzeugt wird, dann nur, wenn das zweite Teilchen in jeder Hinsicht ge­rade entgegengesetzt geladen ist wie das erste Teilchen. In der Quanten­feldtheorie existiert für jede Teilchenart eine andere Art, deren Teilchen bezüglich jeder der erwähnten Ladungen entgegengesetzt geladen sind, man spricht von Teilchen und ihren Antiteilchen. Bei der Paarbildung entstehen immer ein Teilchen und ein zugehöriges Antiteilchen; als Bei-

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spiel zeigt Abb. 181 die Bildung und Vernichtung eines Elektrons e- und seines Antiteilchens, eines sogenannten Positrons e+.

Schon diese Betrachtungen zeigen, daß das Vakuum in der Quanten­feldtheorie nicht einfach leerer, eigenschaftsloser Raum ist, sondern eine kompliziertere Struktur aufweist. Es stellt sich heraus, daß man ihm auch eine von Null verschiedene Energiedichte zuschreiben kann; diese kann man als mikroskopische Grundlage einer von Null verschiedenen kosmo­logischen Konstante). deuten, wie wir sie im vorangehenden Abschnitt (VIII, 4) erwähnt hatten.

Eine weitere Konsequenz der Paarerzeugung betrifft die Genauigkeit, mit der wir den Ort eines einzelnen Teilchens bestimmen können. Neh­men wir an, wir möchten ein Teilchen der Ruhemasse m in einen Zustand bringen, in dem sein Ort mit der Genauigkeit

h Llx< --=--­

- 8V27rmc

festgelegt ist (die Hintergründe dieser zunächst recht merkwürdig anmu­tenden Wahl werden im folgenden klar werden). Aus der Heisenberg­sehen Unschärferelation Llx·Llp 2:: h/47r folgt, daß für die minimale Un­sicherheit der Impulsmessung desselben Teilchens gilt Llp 2:: 2V2 mc. Insbesondere sind Impulswerte der Größe 2V2mc möglich, diese aber entsprechen nach der relativistischen Impuls-Energie-Beziehung E = J (mc2 ) 2 + (cp) 2 einer Teilchenenergie von 3mc2 • Diese Energie reicht aus, um zusätzlich ein Teilchen-Antiteilchenpaar derselben Art zu erzeu­gen wie das Teilchen, das wir beobachten wollen. Das aber heißt, daß mit nicht vernachlässigbarer Wahrscheinlichkeit gar kein Einteilchenzustand vorliegt. Einteilchenzustände können als solche also nur bis auf eine Un­sicherheit von rund

h Llx> -­

- 27rmc (146)

genau lokalisiert werden. (Daß wir dabei zur Angabe der Größenordnung einen Faktor 4V2, nicht aber den Faktor 27r vernachlässigen, ist eine Fra­ge der Konvention.)

In diesem Zusammenhang verdient Erwähnung, daß die spezielle Relativitätstheorie die Struktur der Quantenelektrodynamik mindestens ebenso stark prägt wie die Quantentheorie; Experimente zur QED sind daher zumindest indirekt Möglichkeiten, die Gültigkeit der speziellen Relativitätstheorie zu überprüfen. Diese Experimente erweisen sich als überaus erfolgreich, und die hier anzutreffende Übereinstimmung zwi­schen Theorie und Experiment gehört zu den genauesten, die die Physik

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zu bieten hat; bei der Beschreibung der magnetischen Eigenschaften von Elektronen etwa stimmen Voraussage und Messung auf acht Stellen ge­nau überein, entsprechend einer Genauigkeit von einigen zehntausendstel Promille. Dieses und weitere Experimente, etwa zu den Energieniveaus der atomaren Elektronenhüllen (Lamb-Shift) oder zur Wechselwirkung von Atomen mit Strahlung, bestätigen die Zuverlässigkeit der QED und daher indirekt auch die Zuverlässigkeit der speziellen Relativitätstheorie.

Der Elektromagnetismus bestimmt weitgehend, wie die Welt um uns herum aussieht - die Struktur der Atomhüllen und die daraus folgenden chemischen Eigenschaften der Elemente lassen sich mit seiner Hilfe ver­stehen, ebenso, auf einer dem Alltag näheren Ebene, die Materialeigen­schaften und die Festigkeit der uns umgebenden makroskopischen Ob­jekte: Der Elektromagnetismus ist es, der Kristalle zusammenhält; die elektromagnetische Abstoßung sorgt dafür, daß ich meine Faust nicht unbeeinflußt durch die Tischplatte schwingen kann, sondern einen Wi­derstand erfahre. Genauere Untersuchungen der Eigenschaften der Ma­terie, insbesondere die Untersuchung radioaktiver Zerfalls vorgänge und der Struktur der Atomkerne, zeigen allerdings, daß der Elektromagnetis­mus nicht alle Eigenschaften der Materie erklären kann; eine umfassende Beschreibung der mikroskopischen Grundlagen unserer Welt muß noch weitere Kräfte berücksichtigen.

Eine solche Theorie ist im Rahmen der Quantenfeldtheorie tatsäch­lich konstruiert worden, das sogenannte Standardmodell der Elementar­teilchenphysik. Mit diesem Modell läßt sich alle Materie unserer Welt letztendlich auf nur zwölf verschiedene Arten von Elementarteilchen zurückführen: das Elektron und zwei ihm nahe verwandte Teilchen, drei Arten von elektrisch ungeladenen Teilchen, die Neutrinos genannt wer­den, sowie sechs Arten sogenannter Quarks. Die zwei leichtesten Quarks finden sich beispielsweise als Bestandteile der Protonen und Neutronen, aus denen die Atomkerne zusammengesetzt sind. Zwischen den Mate­rieteilchen wirken drei Grundkräfte: die elektromagnetische Kraft, deren Trägerteilchen das Photon ist; die sogenannte schwache Kernkraft, die bestimmte radioaktive Zerfälle verursacht und von gleich drei verschie­denen Trägerteilchen vermittelt wird, und die starke Kernkraft, die für den Zusammenhalt der Atomkerne sorgt und von 8 sogenannten Gluo­nen (aus dem Englischen, glue = Klebstoff) vermittelt wird.

Mit diesen elementaren Teilchen und den drei Grundkräften be­schreibt das Standardmodell die Grundlagen fast aller uns bekannten Wechselwirkungen: Den physikalischen Vorgängen, die wir beobachten - dem radioaktiven Zerfall oder der Spaltung eines Atomkerns, der che-

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Quantentheorie und Relativitätstheorie 449

mischen Bindung von Molekülen, den Eigenschaften von Festkörpern, bis hin zu der gegenseitigen Beeinflussung der makroskopischen Objek­te, die uns im Alltag umgeben - liegen Elektromagnetismus, starke oder schwache Kernkraft zugrunde. Außen vor bleiben lediglich die Vorgänge, bei denen die Gravitation eine Rolle spielt - das Standardmodell ist auf der Grundlage der speziellen Relativitätstheorie formuliert, also in ei­ner flachen, gravitationsfreien Raumzeit. Daß die Voraussagen des Stan­dardmodells trotz dieser Einschränkung so gut mit den experimentellen Ergebnissen übereinstimmen, hat mehrere Gründe: Zum einen den, daß erdfeste Bezugssysteme sich, wie zuletzt im Abschnitt VIII, 1 dargelegt (S. 348f.), in guter Näherung mit Hilfe von Inertialsystemen, also im Rahmen der speziellen Relativitätstheorie beschreiben lassen. Zum an­deren betrachten die mit Hilfe des Standardmodells beschriebenen Expe­rimente in der Regel Ansammlungen von verhältnismäßig wenigen Ele­mentarteilchen. Unter solchen Verhältnissen erweisen sich die drei ande­ren Kräfte als wesentlich stärker als die Gravitation. Für das Beispiel des Elektromagnetismus zeigt dies schon eine den klassischen Kraftbegriff verwendende Abschätzung: Ein Elektron etwa trägt die elektrische La­dung e = 1,6.10-19 Coulomb und hat die Masse m e = 9,1.10-31 kg. Die elektrische Abstoßungskraft zwischen zwei Elektronen, die vonein­ander den Abstand r haben, ist daher

e2 = 2 3 . 10-28 N 47rco r 2 ' (Abstand in m)2

(147)

[zur Kraftgleichung vgl. (46) auf S. 131; die Konstante co hat den Wert 8,854· 10-12 AsNm, zu den hier verwendeten Einheiten siehe den An­hang Einheiten und Dimensionen, insbesondere S. 474]. Die Anziehung, welche dieselben Elektronen aufgrund ihrer Schwerkraft erfahren ist da­gegen

k m~ = 5 5.10-71 N r 2 ' (Abstand in m)2

(148)

[in den hier verwendeten Einheiten hat die Newtonsehe Konstante den Wert k = 6,67.10-11 Nm2/kg2]. Die Wirkung, die die Elektronen gra­vitativ aufeinander ausüben, ist damit um den gigantischen Faktor 10-43

geringer als die elektrische Kraft zwischen ihnen. Will man die Reaktionen zwischen einzelnen Elementarteilchen be­

trachten, kann man die Schwerkraft aus diesem Grunde in guter Näherung vernachlässigen. Erst, wenn sich diese Elementarteilchen zu elektrisch neutralen Teilchen kombinieren und zu noch größeren Teilchenkomple­xen zusammenlagern, beginnt die Wirkung der Schwerkraft allmählich

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450 Neuere Entwicklungen der relativistischen Physik

immer wichtiger zu werden. Betrachten wir ein Elektron und ein Pro­ton, die sich zu einem Wasserstoffatom verbunden haben: Ein weiteres Elektron wird von den Bestandteilen dieses Atoms in nahezu gleicher Weise elektrisch abgestoßen und angezogen; netto erfährt es daher so gut wie keine elektrische Kraft. Was die Schwerkraft betrifft, so addieren sich dagegen die Beiträge der beiden Bestandteile des Atoms. Je größere solcher Materieansammlungen wir betrachten, umso wichtiger wird die Schwerkraft, bis wir in makroskopische Bereiche gelangen, in denen die Schwerkraft der dominierende Einfluß ist.

Die Frage liegt nahe, ob es möglich ist, die Quantenfeldtheorie auf die gekrümmten Raumzeiten der allgemeinen Relativitätstheorie zu ver­allgemeinern. Das ist - innerhalb gewisser Grenzen - der Fall, und die Verallgemeinerung führt zu interessanten neuen Effekten, allen voran zu der 1975 von HAWKING vorhergesagten Strahlung Schwarzer Löcher, die wir im folgenden kurz beschreiben wollen.

Bei der Verallgemeinerung der Quantenfeldtheorie auf gekrümmte Raumzeiten können wir wiederum das Äquivalenzprinzip ausnutzen: Wir können zunächst lokale Inertialsysteme einführen, in denen die spezielle Relativitätstheorie gilt; in diesen Inertialsystemen lassen sich die Grund­begriffe der Quantenfeldtheorie definieren. In ähnlicher Weise, wie wir bereits im Rahmen der vorangehenden Betrachtungen zur allgemeinen Relativitätstheorie (VII, 7) aus vielen lokalen Inertialsystemen ein glo­bales System Gaußscher Koordinaten zusammengefügt haben, kann man die Theorie - mit einigem technischen Aufwand - von diesem Inertialsy­stem aus auf die übrigen Raumzeitregionen verallgemeinern.

Dabei ergibt sich ein überraschendes Resultat, falls die Raumzeit ein Schwarzes Loch enthält: Dann stellt sich nämlich heraus, daß die so de­finierte Quantenfeldtheorie gar keinen Zustand besitzt, den man als "glo­bales Vakuum" betrachten könnte, in dem also nirgends in der Raumzeit reale Teilchen vorhanden sind. Beginnt man in der femen Vergangenheit, weit weg von dem Ort, an dem sich das Schwarze Loch befindet, mit der Definition eines lokalen Quantenvakuums, das keinerlei Teilchen enthält und setzt diesen Zustand auf den anderen Raumzeitregionen fort, so ge­langt man zwangsläufig zu Raumzeitregionen, in denen Quantenteilchen vorhanden sind. Die Anwesenheit des Schwarzen Lochs erfordert zwin­gend die Anwesenheit von Teilchen, die vom Horizont aus ins Unendli­che entkommen und demnach vom Schwarzen Loch produziert worden zu sein scheinen.

Es ist zu erwarten, daß dem Schwarzen Loch in dieser Weise Ener­gie und damit Masse entzogen werden. Man kann sich fragen, ob dem

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Quantentheorie und Relativitätstheorie 451

Schwarzen Loch in dieser Weise auch Information entkommen kann, ob man der Strahlung also vielleicht in irgendeiner Weise ansehen kann, wie das Schwarze Loch entstanden ist und welche Objekte hineingefal­len sind. Das scheint allerdings nicht der Fall zu sein: Die Hawking­Strahlung scheint sich in das Bild eines Schwarzen Lochs einzufügen, das "keine Haare hat" - auch ihre Energieverteilung ist nur von einem einzigen Parameter abhängig, der sich aus der Horizontfläche des Lochs errechnet.

Überraschend an der Hawking-Strahlung ist nicht nur, daß sie unse­rer Vorstellung widerspricht, daß Schwarze Löcher Energie und Mate­rie nur verschlucken, niemals aber aussenden können, sondern vielleicht noch mehr, daß sie sich wie ein fehlendes Puzzlestück in die Gesetze der Mechanik Schwarzer Löcher einfügt, die wir bereits kurz angesprochen hatten (VIII, 3, S. 386).

Dort wurde bereits auf die große Ähnlichkeit dieser Gesetze mit den Gesetzen der Thermodynamik hingewiesen, jenes Teilbereichs der Phy­sik, der sich mit den Eigenschaften und dem Austausch von Wärme beschäftigt. Wir wollen diese Ähnlichkeiten nun etwas genauer ausführen.

Die klassische Thermodynamik beschäftigt sich mit Systemen, die durch eine einzige, im ganzen System konstante Temperatur und eine geringe Zahl weiterer Größen - insbesondere die Gesamtenergie - cha­rakterisiert sind. Die klassische Mechanik Schwarzer Löcher beschäftigt sich mit stabilen Schwarzen Löchern, die vom Außenraum aus ebenfalls nur durch eine geringe Zahl von Größen - Masse, Drehimpuls und elek­trische Ladung - bestimmt sind.

Eine wichtige Größe in der Thermodynamik ist die sogenannte Entro­pie, die man sich als eine Art Maß der Unordnung des Systems vorstellen kann. Ihre hervorstechendste Eigenschaft ist, daß die Entropie eines iso­lierten Systems mit der Zeit nur zunehmen, aber niemals abnehmen kann. Das entspricht unseren Alltagserfahrungen: Geordnete Systeme können ihre Ordnung spontan verlieren - etwa, wenn eine Porzellantasse auf dem Fußboden zerspringt oder eine sich selbst überlassene Frucht ver­fault. Umgekehrt beobachten wir dagegen nicht, daß Systeme spontan in Zustände höherer Ordnung übergehen - daß zerbrochene Tassen sich oh­ne Einfluß von außen von selbst zusammenfügen, oder verfaulte Früchte sich spontan regenerieren.

Von den Schwarzen Löchern kennen wir eine Größe, die ganz ähn­lichen Gesetzen folgt, nämlich die Horizontfläche: Nach dem Ober­flächensatz kann sie mit der Zeit nur zunehmen, aber niemals abnehmen.

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Untersucht man die Zusammenhänge genauer, indem man betrachtet, wie sich herkömmliche thermodynamische Systeme in der Nähe Schwar­zer Löcher verhalten, so kommt heraus, daß hier nicht nur eine Analogie vorliegt, sondern daß Schwarze Löcher tatsächlich im klassischen Sinne thermodynamische Objekte sind. Man kann ihnen eine Temperatur zu­ordnen, die sich aus der Stärke des Gravitationsfelds direkt an ihrem Ho­rizont ergibt, und die umso größer ist, je geringer die Masse des Schwar­zen Lochs ist.

Das scheint aber ein Widerspruch zu sein, denn nach einer der eher­nen Grundregeln der Thermodynamik kann niemals spontan Wärme von einem System zu einem anderen System mit höherer Temperatur übergehen. Genau das aber scheint im Falle der Schwarzen Löcher zu ge­schehen: Bringen wir ein System mit einer geringeren Temperatur als der des Schwarzen Lochs in Horizontnähe, so können ganz selbstverständlich Teile dieses Systems in das Schwarze Loch fallen, dessen Masse erhöhen und die Temperatur des äußeren Systems weiter erniedrigen.

Der Widerspruch wäre auflösbar, wenn das Schwarze Loch eine sei­ner Temperatur entsprechende thermische Strahlung abgeben würde. In einer solchen Strahlung müßten die Energien, die auf die einzelnen Fre­quenzanteile entfallen, in einer ganz bestimmten Weise gewichtet sein. Das ist gerade bei der Hawking-Strahlung der Fall - die Existenz dieser Strahlung beseitigt den Widerspruch zur Thermodynamik, mit dem die Mechanik Schwarzer Löcher geschlagen zu sein schien.

Ebenso, wie in der herkömmlichen Thermodynamik heiße Körper mehr Wärmestrahlung abgeben als kalte - wie wir aus eigener Alltags­erfahrung bestätigen können -, ist die Hawking-Strahlung von Schwar­zen Löchern geringer Masse intensiver als die von schwereren Schwar­zen Löchern. Durch die Strahlung verliert das Schwarze Loch nun aber Energie und damit auch Masse und strahlt damit stärker als zuvor. Dies sollte zu einem regelrechten Zerstrahlungsprozeß führen, der sich im­mer stärker beschleunigt und am Ende zu einer Zerstörung des Schwar­zen Lochs führt. Wie das Ende dieses Prozesses aussieht, ist bislang un­bekannt - niemand kann mit Sicherheit sagen, ob ein Schwarzes Loch vollständig zerstrahlen oder ob vielleicht ein Restobjekt zurückbleiben würde.

Die Frage nach dem Endzustand Schwarzer Löcher ist dabei aus ei­nem weiteren Grund wichtig: Schwarze Löcher sind im Laufe ihres Le­bens "Informationsvernichter"- alle Information darüber, was für Mate­rie, vom Elementarteilchen bis zum Wörterbuch, in das Schwarze Loch gefallen ist, gehen einem äußeren Beobachter zunächst einmal verloren:

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Quantentheorie und Relativitätstheorie 453

von außen gesehen ist das Schwarze Loch nun einmal lediglich durch sei­ne Masse, seine Ladung und seinen Drehimpuls charakterisiert und be­sitzt keine weiteren Eigenschaften, in denen sich Informationen über die hereingefallenen Objekte widerspiegeln könnten. Die Energie wird dann in Form der Hawking-Strahlung an die Umgebung zurückgegeben. Die Eigenschaften dieser Strahlung hängen allerdings, wie schon erwähnt, nur von einem einzigen Parameter ab, der Temperatur, und die Strahlung enthält daher keinerlei weitere Informationen über das Schwarze Loch. Könnte ein Schwarzes Loch in dieser Weise vollkommen zerstrahlen, so wäre der Großteil der Information komplett verlorengegangen. Solch ein Informationsverlust aber würde den Regeln der Quantentheorie wider­sprechen - der Zustand eines Quantensystems enthält, wie erwähnt, al­le Informationen darüber, welche Resultate sich bei Messungen an dem betreffenden System ergeben können, und zwar in Form einer Wahr­scheinlichkeitsverteilung, die angibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein gegebener Wert gemessen wird. Eine Eigenschaft einer solchen Wahr­scheinlichkeitsverteilung ist, daß die Wahrscheinlichkeit, einen bestimm­ten Meßwert zu erhalten, per Definition zwischen ° und 1 liegt: sie ist Null, wenn man diesen Meßwert niemals als Ergebnis erhalten kann, Eins, wenn man ihn mit Sicherheit messen wird und liegt dazwischen, wenn außer diesem Meßwert noch andere Ergebnisse möglich sind - sie beträgt zum Beispiel 0,5, wenn die Chancen 1 zu 2 stehen, den betref­fenden Wert zu messen. Die Summe der den möglichen Meßwerten zu­geordneten Wahrscheinlichkeiten ist Eins, denn irgendein Ergebnis muß bei der Messung mit Sicherheit herauskommen.

Eine vollständige Zerstrahlung des Schwarzen Lochs, bei der Infor­mation vernichtet wird, würde sich in in der Quantentheorie darin äußern, daß die Gesamtwahrscheinlichkeit für die Ergebnisse bestimmter Mes­sungen von dem vorgeschriebenen Wert 1 abweicht - ein unsinniges Er­gebnis. Aber wie kann man diesen Widerspruch verhindern? Zerstrahlt das Schwarze Loch vielleicht vollständig, weicht dabei aber von der rei­nen Wärmestrahlung in subtiler Weise ab und gibt die verschluckte In­formation so an die Außenwelt zurück? Oder bleibt als Endzustand der Zerstrahlung eine Art Lochrest zurück, der die versteckte Information in kompakter Form enthält? Will man solchen Fragen nachgehen, zeigt sich, daß unser bisheriges Vorgehen zum Scheitern verurteilt ist, zwar das Verhalten der Materie den Gesetzen der Quantentheorie zu unterwerfen, nicht aber das Verhalten der Gravitation und der Raumzeit selbst.

Um abzuschätzen, bei welchen Größenskaien man gezwungen ist, Quantentheorie und Gravitation zu einer einheitlichen Theorie der Quan-

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tengravitation zu verbinden, kommen wir noch einmal zu der Frage zurück, wie genau sich der Ort eines Teilchens messen läßt. Da es uns nur um die Größenordnung geht, werden wir Zahlenfaktoren wie 2 oder J2 mehr als einmal außer acht lassen.

Wir hatten in (146) gesehen, daß es in der Quantenfeldtheorie nicht möglich ist, den Ort eines einzelnen Teilchens der Masse m genauer als L1xQ = h/(2n-mc) zu bestimmen. Die mögliche Genauigkeit ist dem­nach umso größer, je größer die Masse des Teilchens ist.

Andererseits sagt uns die allgemeine Relativitätstheorie, daß ein Teil­chen der Masse m, das in einer Raumregion mit einem Radius klei­ner als sein Schwarzschild-Radius lokalisiert ist, die Eigenschaften ei­nes Schwarzen Loches haben muß. Insbesondere kann aus der Hori­zontregion des Teilchens keinerlei Information nach außen gelangen, es ergibt daher keinen Sinn, das Teilchen mit größerer Genauigkeit als L\xG = km/ c2 lokalisieren zu wollen. [Da es uns hier nur um die Abschätzung von Größenordnungen geht, vernachlässigen wir den in der Formel (127) für den Schwarz schild-Radius erscheinenden Faktor 2.] Die mögliche Genauigkeit ist demnach umso größer, je kleiner die Masse des Teilchens ist.

Die Massenabhängigkeit dieser beiden Genauigkeitsgrenzen ist in Abb. 182 dargestellt. An der unteren Grenze der gefüllten Fläche läßt

~----------------------------------------~rn

Abbildung 182. Abhängigkeit der maximalen Genauigkeit möglicher Ortsmes­sungen von der Masse des betrachteten Teilchens (schematisch)

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Quantentheorie und Relativitätstheorie 455

sich dabei die "minimale Lokalisierungslänge" f (entsprechend der mini­malen Meßunsicherheit Llx) für ein beobachtetes Teilchen der Masse m ablesen. Die Lokalisierbarkeit von Teilchen ist prinzipiell begrenzt: Die im Vergleich aller verschiedenen Massen minimale Lokalisierungslänge ist erreicht bei LlxQ = LlxG, also (bis auf kleine Zahlenfaktoren) bei der Länge

[kh -35 fpl = V ~ >=:::! 10 m, (149)

die Planck-Länge genannt wird; die Energie von Licht (oder hochener­getischen Teilchen) mit dieser Wellenlänge ist die sogenannte Planck­Energie. Die Begriffe "Länge" und "Abstand" verlieren unterhalb dieser Grenze ihren Sinn. Diese Grenze der Meßbarkeit scheint genauso grund­legend wie jene, die zur Entwicklung der Quantenmechanik führte, und es ist zu erwarten, daß auch hier die Formulierung einer neuen Theorie vonnöten ist und daß wir uns, um Phänomene nahe der Planck-Länge zu beschreiben, nicht mehr allein auf Quantentheorie oder allgemeine Rela­tivitätstheorie verlassen können, sondern die beiden zu einer Theorie der Quantengravitation verbinden müssen.

Man könnte fragen, ob solche winzigen Längen denn überhaupt je­mals in irgendeinem physikalischen Zusammenhang eine Rolle spielen können, oder ob es, abgesehen von philosophischen Fragestellungen, gar keinen Anlaß gibt, sich darüber Gedanken zu machen. Immerhin liegt die Planck-Länge um einen Faktor 1016 unterhalb der Längen, die uns bisher in den Experimenten der Tei1chenphysiker zugänglich sind. Die Antwort ist, daß wir bereits in den vorangegangenen Abschnitten zwei Beispie­le gesehen haben, in denen sehr energiereiche Strukturen auftraten, bei deren Beschreibung mikroskopisch kleine Größenskaien eine Rolle spie­len: Zum einen die Singularität im Inneren eines Schwarzen Lochs, zum anderen diejenige, die im Urknallmodell am Anfang der Entwicklung un­seres Universums steht. Wenn wir das Innere Schwarzer Löcher und die früheste Geschichte unseres Universums verstehen wollen, werden wir nicht umhin kommen, uns mit der Quantengravitation näher auseinan­derzusetzen.

Wie eine Theorie der Quantengravitation aussieht, gehört seit nun­mehr über 50 Jahren zu den großen offenen Fragen der Physik. Versuche, die Gravitationskraft auf die gleiche Art und Weise in eine Quantentheo­rie zu überführen, zu "quantisieren", wie es den Tei1chenphysikem mit den anderen drei Grundkräften gelungen war, schlugen fehl: Solche Me­thoden der Quantisierung führen zu einer Theorie, deren Aussagen kei-

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nen Sinn ergeben - physikalische Größen nehmen dort unakzeptable un­endliche Werte an, die sich nicht beseitigen lassen, ohne eine unendliche Anzahl zusätzlicher Parameter einzuführen (sogenannte "nichtrenormier­bare Divergenzen") . Ein Modell mit unendlich vielen Parametern, die es erst zu bestimmen gilt, bevor sich Voraussagen ableiten lassen, ist bar jeder Vorhersagekraft und somit als physikalische Theorie sinnlos.

Dafür, wie man diese Schwierigkeiten überwinden und zu einer sinn­vollen Theorie der Quantengravitation gelangen kann, gibt es eine Viel­zahl von Ansätzen. Die von BORN in Abschnitt Vll, 13 angesprochenen Vorschläge sind dabei heute nur noch von historischem Interesse; wir wollen hier nicht auf sie eingehen, sondern stattdessen die beiden wich­tigsten der heutzutage verfolgten Forschungsrichtungen kurz vorstellen: zum einen die kanonische Quantisierung der Gravitation, zum anderen die Stringtheorie.

In gewisser Weise ist es nicht überraschend, daß sich die Gravita­tion nicht auf dieselbe Weise behandeln läßt wie die anderen Kräfte -jene konnte man vor dem Hintergrund einer gegebenen Raumzeit be­trachten; bei der Gravitation dagegen ist zu erwarten, daß die Raumzeit nicht unbeteiligter Hintergrund ist, sondern dynamisch am Quantenge­schehen teilnimmt. Die kanonische Quantisierung der Gravitation, in ih­rer modernen Form auch SchleiJen-Quantengravitation genannt, ist der Versuch, ein eng an der Geometrie orientiertes Verfahren zur Quanti­sierung zu entwickeln, das den Besonderheiten der Gravitation Rech­nung trägt. Dabei ist es tatsächlich gelungen, von EINSTEINS Theorie ausgehend einen Formalismus zu entwickeln, der eine Quantentheorie der Gravitation darstellen könnte. Die Quantenmechanik hatten wir als quanten theoretische Beschreibung eines Punktteilchens kennengelernt, das sich mit der Zeit durch den Raum bewegt; die zeitliche Entwicklung des dem Teilchen zugeordneten Zustands wurde durch die Schrödinger­Gleichung beschrieben. Die kanonische Quantengravitation ist so etwas wie die quantentheoretische Beschreibung der Veränderung des Raum­es selbst mit der Zeit; diese Veränderung wird durch die sogenannte Wheeler-DeWitt-Gleichung beschrieben, die der Schrödinger-Gleichung formal ähnelt. Der Leser mag sich wundern, warum hier auf einmal wie­der von "Raum" und "Zeit" die Rede ist, wo wir diese Begriffe doch im Rahmen der Relativitätstheorie nicht ohne Grund durch den koordinate­nunabhängigen Begriff der Raumzeit ersetzt haben. Tatsächlich darf die Art und Weise, in der man von der klassischen zur quantisierten Theo­rie gelangt, nicht davon abhängen, welche Raum- und Zeitkoordinaten innerhalb der Raumzeit gewählt wurden.

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Betrachtet man die Zustände des so formulierten Quantensystems, so sieht man, daß das Raumzeitkontinuum durch eine diskrete Struk­tur ersetzt worden ist: Die möglichen Zustände der Raumzeit lassen sich durch netzartige Gebilde beschreiben, sogenannte Spinnetzwerke. Im Zusammenhang mit der herkömmlichen Quantenmechanik hatten wir gesehen, daß Licht dort nurmehr in Form diskreter Energiepakete vor­kommt, der Lichtquanten: Eine Energiemessung an Licht der Frequenz v wird immer ein ganzzahliges Vielfaches der Energie hv ergeben. Ana­log können Volumen- und Flächenmessungen an den erwähnten Spin­netzwerken nur Ergebnisse liefern, die sich aus einer Art elementarem Flächenquantum beziehungsweise Volumenquantum ergeben. Die Theo­rie scheint vorauszusagen, daß die klassische Beschreibung der Raumzeit als Kontinuum unendlich vieler unendlich dicht benachbarter Punkte, wie sie der Newtonschen Mechanik, der speziellen und der allgemeinen Re­lativitätstheorie zugrunde liegt, bei mikroskopischen Abständen versagt.

Allerdings ist die physikalische Interpretation dieser quantentheore­tischen Beschreibung von Raumzeit mit Schwierigkeiten behaftet. Ei­ne davon betrifft die Quantisierung von Raumzeiten, die unser Univer­sum als ganzes beschreiben - ein Ansatz, der auch Quantenkosmologie genannt wird. In diesem Fall läßt sich die herkömmliche Sicht dessen, was Messungen in der Quantentheorie bedeuten, nicht auf die Gravitati­on übertragen. Im Zusammenhang mit der Quantenmechanik hatten wir erwähnt, daß der Zustand eines Quantensystems bestimmt, welche Wer­te sich bei Messungen an dem betreffenden Teilchen ergeben können. In der Quantenkosmologie ist unser Quantensystem ein ganzes Univer­sum, und es gibt keine Möglichkeit, Messungen "von außen" vorzu­nehmen. Das erfordert eine - bislang nur unvollständig verstandene -Vorgehensweise, den Beobachter in das Quantensystem mit einzuglie­dern. Weiterhin gibt es für den Übergang von einer klassischen Theo­rie zu einer Quantenversion dieser Theorie keine eindeutigen Rezepte - auch für die kanonische Quantengravitation folgt allein daraus, daß die allgemeine Relativitätstheorie ihrer Konstruktion zugrunde lag, noch nicht zwangsläufig, daß es sich wirklich um eine Quantenversion von EINSTEINS Gravitationstheorie handelt. Hat man einmal eine Kandida­tentheorie für Quantengravitation konstruiert, muß erst noch gezeigt wer­den, daß sie im makroskopischen Grenzfall gerade wieder auf die allge­meine Relativitätstheorie zurückführt. Für die kanonische Quantengravi­tation steht dieser Nachweis bislang aus, ist aber Gegenstand der aktuel­len Forschung.

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Die derzeit, gemessen an der Zahl der beteiligten Physiker, populärste Forschungsrichtung der Quantengravitation ist die sogenannte Stnngthe­arie, ein Versuch, nicht nur die quantisierte Gravitation, sondern alle Na­turkräfte und Elementarteilchen in einheitlicher Weise zu beschreiben. Wie die Quantenfeldtheorien geht die Stringtheorie von einer flachen, Minkowskischen Raumzeit aus, in der aber statt punktförmiger Teilchen eindimensional ausgedehnte Objekte leben, eben kleine Fäden oder, auf Englisch, Strings.

cl cl

r----....;...-....:..---x '-------_x

y (a) (h)

Abbildung 183. Ausschnitte aus Feynman-Diagrammen: a) Aussendung eines Photons durch ein Elektron, b) Aussendung eines Strings durch einen String

Motivation dafür, von Punktteilchen zu Strings überzugehen, sind ins­besondere Anzeichen dafür, daß es die Stringtheorie erlaubt, die oben kurz erwähnten Probleme der Quantenfeldtheorie mit unphysikalischen Unendlichkeiten zu vermeiden. Auf welche Weise dies geschieht, läßt sich andeutungsweise wie folgt verstehen: Die Bewegung von Punkt­teilchen ist durch Weltlinien darstellbar. Um die lokale Wechselwirkung solcher Teilchen darzustellen, ist es nötig, Wechselwirkungspunkte ein­zuführen, die Weltlinien miteinander verknüpfen. Das haben wir schon in den Feynman-Diagrammen gesehen; ein elementarer Wechselwirkungs­prozess ist in Abb. 183a zu sehen: ein Elektron, das ein Photon abstrahlt. Daß die Wechselwirkung innerhalb eines unendlich kleinen Raumzeit­gebietes stattfindet, nämlich an einem eindeutig lokalisierbaren Punkt im Weltliniengeflecht, ist der Grund dafür, daß in den Rechnungen die erwähnten Unendlichkeiten auftreten, ähnlich, wie der mathematische

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Quantentheorie und Relativitätstheorie 459

Ausdruck I/x zu Problemen führt, wenn man x gegen Null gehen läßt. Dabei treten sowohl solche Unendlichkeiten auf, die sich durch geschick­te Umdefinition der Rechnung umgehen lassen (dies ist die sogenannte Renormierung) wie auch solche, bei denen dies nicht möglich ist, wie im Falle der frühen Versuche, Quanten-Gravitationsfelder in den Forma­lismus der herkömmlichen Quantenfeldtheorie einzubinden. Betrachten wir nun einen eindimensionalen Faden, der in unserem Beispiel zu einer Schleife geschlossen ist. Ein Punktteilchen durchläuft mit der Zeit eine Weltlinie, ein eindimensional ausgedehnter String überstreicht mit der Zeit eine zweidimensionale Weltfläche. Die Weltfläche eines geschlosse­nen Strings, der an keinerlei Wechselwirkung teilnimmt, sondern sich frei bewegt, ist eine Röhre; Wechselwirkung liegt offenbar dann vor, wenn die String-Weltfläche Verzweigungen aufweist wie in Abb. 183b dargestellt - die Abbildung zeigt einen Prozess, bei dem sich ein String im Laufe der Zeit in zwei Strings aufspaltet. Wichtig ist nun, daß es keinen einzelnen Punkt auf der Weltfläche gibt, von dem man sagen könnte, gen au dort finde die Wechselwirkung statt. Dieser Umstand führt dazu, daß die oben angesprochenen Unendlichkeiten in der Stringtheorie abwesend sind.

Die Länge der Strings ist sehr klein, in den meisten Modellen von der Größenordnung der Planck -Länge; ohne die nötigen Meßinstrumente, um Strukturen dieser winzigen Länge aufzulösen, sind Strings nicht von Punktteilchen zu unterscheiden. Die verschiedenen Arten von Elementar­teilchen, die wir in unserer Welt wahrnehmen, sind nach der Stringtheo­rie lediglich verschiedene Schwingungszustände ein und derselben Sorte elementarer Strings - auf diese Weise wäre eine einheitliche Erklärung für die verschiedenen Wechselwirkungen und die verschiedenen Arten von Materieteilchen gefunden. Dabei zeigt es sich, daß in der Stringtheo­rie immer genau ein Schwingungszustand vorhanden ist, dessen Eigen­schaften die eines Trägerteilchens der Gravitationskraft sind - in die­sem Sinne beinhaltet Stringtheorie zwangsläufig eine Quantenversion der Gravitationskraft.

Die Möglichkeiten, in der flachen Minkowski-Raumzeit eine in sich widerspruchsfreie Stringtheorie zu formulieren, erweisen sich dabei als zunächst sehr eingeschränkt: Zum einen benötigt die Theorie das Vor­liegen einer zusätzlichen abstrakten Symmetrie, die Supersymmetrie ge­nannt wird und die Materiefelder und Kraftfelder zueinander in Bezie­hung setzt. (Wenn wir hier von Stringtheorien sprechen sind denn auch, strenggenommen, Superstringtheorien gemeint; Stringtheorien mit Su­persymmetrie. ) Zum anderen ist eine konsistente Formulierung in der herkömmlichen vierdimensionalen Minkowski-Raumzeit nicht möglich,

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sondern nur dann, wenn man die Minkowski-Raumzeit auf neun Raumdi­mensionen verallgemeinert. Unter diesen Voraussetzungen gibt es insge­samt fünf Möglichkeiten für eine Stringtheorie - neuere Entwicklungen deuten sogar darauf hin, daß diese Theorien in Wirklichkeit nur verschie­dene Erscheinungsformen einer einzigen, übergreifenden Theorie sind, die man M-Theorie nennt. Darin sollten zusätzlich zu den Strings auch höherdimensionale Objekte eine Rolle spielen, etwa zweidimensionale Membranen und ihre höherdimensionalen Vettern, die in Verallgemeine­rung des Wortes Membran auch p-Branen genannt werden (wobei p die Zahl der Raumdimensionen anzeigt, in denen die p-Bran ausgedehnt ist). Von der M-Theorie sind bislang nur kleine Ausschnitte bekannt; eine um­fassende, schlüssige Formulierung der M -Theorie zu finden ist das große, bislang unerreichte Ziel der Stringphysiker.

Die Notwendigkeit zusätzlicher Dimensionen mag auf den ersten Blick als großer Nachteil der Theorie erscheinen, besitzt die uns umge­bende Welt doch nun einmal lediglich drei Raumdimensionen. Allerdings erfassen unsere Sinne lediglich Raumdimensionen, die in makroskopi­scher Weise ausgedehnt sind. Doch, um ein niederdimensionales Beispiel zu wählen: Nicht nur eine unendlich lange Gerade ist eindimensional in dem Sinne, daß die Position eines Punktes auf dieser Geraden durch die Angabe genau eines Koordinatenwerts bestimmt ist. Dasselbe gilt für ei­ne Kreislinie; ein Kreis stellt so etwas wie eine "aufgerollte Dimension" dar. Ebenso ist beispielsweise eine Zylinderftäche ein zweidimensionales Gebilde, dessen eine Dimension aufgerollt ist. Wie in Abb. 184 zu sehen, ist die Zylinderfläche im Abbildungsteil b ebenso zweidimensional wie die Ebene im Abbildungsteil a: lokal gibt es auf der einen wie der anderen zwei unabhängige Richtungen, die beispielsweise einem in der Fläche le­benden Teilchen für seine Bewegungen offen stünden, angedeutet durch

(a) (b)

Abbildung 184. a) Zweidimensionale Ebene, b) Zylinderfläche

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Quantentheorie und Relativitätstheorie 461

die eingezeichneten x- und y-Achsen. Die Unterschiede zwischen den beiden Flächen sind globaler Natur; auf der Zylinderfläche gibt es die Möglichkeit, nach dem Zurücklegen einer endlich langen Strecke wieder am Ausgangspunkt anzulangen.

Wählen wir den Radius des in Abb. 184b dargestellten Zylinders im­mer kleiner, so nähert sich das Erscheinungsbild des zweidimensionalen Zylinders immer mehr dem einer Linie an, also eines eindimensionalen Gebildes - die zusätzliche Dimension ist nur bei starker Vergrößerung wahrnehmbar.

Unsere Alltagserfahrung schließt nicht aus, daß unsere Welt tatsäch­lich die neun Raumdimensionen der Stringtheorie aufweist, sechs davon aber in mikroskopischer Weise aufgerollt sind. In der Stringtheorie hat die Art und Weise, in der die Zusatzdimensionen aufgerollt sind, Aus­wirkungen auf die Schwingungen, welche die Strings ausführen können, und höchstwahrscheinlich ist dieser Einfluß der aufgerollten Dimensio­nen sogar notwendig um zu erklären, warum es in unserer Welt die tatsächlich beobachteten Arten von Elementarteilchen gibt. Eine Hoff­nung der Stringtheoretiker ist es denn auch, durch die Wahl der richti­gen Geometrie für die aufgewickelten Dimensionen den Teilcheninhalt und die Wechselwirkungen des Standardmodells der Elementarteilchen zu reproduzieren; obschon es Modelle gibt, welche einige dieser Eigen­schaften in groben Zügen wiedergeben, ist eine exakte Herleitung bis­lang nicht gelungen. So wenige Möglichkeiten es gibt, supersymmetri­sche Stringtheorien in einer flachen Minkowski-Raumzeit zu formulie­ren, so unüberschaubar viele Möglichkeiten gibt es, einige der Raumdi­mensionen in einer mit der Theorie verträglichen Weise aufzurollen - ein Umstand, der die Suche nach der "Standardmodell-Aufrollung" zu einem schwierigen Unterfangen macht.

Neuere Forschungen ziehen noch andere Möglichkeiten in Betracht, die Extradimensionen mit unserer vierdimensionalen, alltäglichen Raum­zeit zu vereinbaren, etwa, daß unsere vierdimensionale Welt eine Art Un­terfläche eines höherdimensionalen Raumes sein könnte, ebenso, wie ei­ne zweidimensionale Membran eine Unterfläche des dreidimensionalen Raumes ist.

Neben der Suche nach einem Modell, das die Eigenschaften des Stan­dardmodells wiedergibt, sind eine Reihe anderer Probleme der String­theorie zur Zeit noch ungelöst. Insbesondere verlangt die heute übliche Formulierung der Stringtheorie die Vorgabe einer Hintergrund-Raumzeit, und wenn auch die Anwesenheit der Strings die herkömmlichen Proble­me bei der Quantisierung löst, so ist es doch unbefriedigend, daß eine

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Theorie, die den Anspruch erhebt, eine Theorie der Quantengravitati­on zu sein, die grundlegende Eigenschaft der Einsteinsehen Theorie -die Raumzeit als Teilnehmer am dynamischen Geschehen, nicht als pas­siver Hintergrund - nur so unvollständig einschließt. Gelänge eine all­gemeinrelativistische Formulierung, ist zu erwarten, daß sich auch die Stringtheorie den im Zusammenhang mit der kanonischen Quantengra­vitation erwähnten grundlegenden Fragen stellen müßte, etwa der Frage nach der Bedeutung einer "Quantentheorie des Universums".

Direkte experimentelle Bestätigungen gibt es bislang für keinen der Ansätze zur Formulierung der Quantengravitation. Das ist in einer Hin­sicht nicht überraschend: wir haben gesehen, daß die typische Größen­skala der Quantengravitation, die Planck-Länge, sehr klein ist; die ent­sprechende Energie, die Planck-Energie, ist sehr groß. Mit Hilfe von Ex­perimenten gezielt in diese Energieregionen vorzudringen, dürfte, orien­tiert man sich an der heute üblichen Technologie für Teilchenbeschleuni­ger, für immer außerhalb unserer Möglichkeiten liegen.

Doch auch ohne Beschleunigerexperimente dieser Art bestehen Chan­cen, eine Theorie der Quantengravitation zu überprüfen. Zum einen ist denkbar, daß uns das "Laboratorium Weltall" weiterhilft und astrophy­sikalische Beobachtungen in Zukunft Hinweise auf die Auswirkungen des Zusammenspiels von Quantentheorie und Gravitation liefern werden. Insbesondere wäre es ein großer Erfolg, gelänge es, aus der Beschreibung der frühen Phasen des Universums, in denen die Quantengravitationsef­fekte dominieren, zutreffende Aussagen über Eigenschaften des Univer­sums abzuleiten, wie es uns heute erscheint. Dies würde der betreffenden Theorie zweifellos ähnlich hoch angerechnet wie dem Urknallmodell die im Abschnitt VIII, 4 beschriebenen Aussagen zur Häufigkeitsverteilung der leichten Elemente. Weiterhin besteht die Möglichkeit, daß eine kon­sistente Theorie der Quantengravitation Auswirkungen auf die Physik bei weit niedrigeren Energien als der Planckenergie hat. So wäre es möglich, daß sich zusätzliche Dimensionen, wie sie die Stringtheorie fordert, durch Abweichungen der Gravitationskraft vom Newtonsehen Kraftgesetz bemerkbar machen, die bei kleinen Abständen nachweisbar wären - einigen Schätzungen zufolge schon im Submillimeterbereich. Für den Fall der Stringtheorie, die ja den Anspruch hat, nicht nur die Quantengravitation, sondern alle Naturkräfte zu beschreiben, ergibt sich als weitere Chance, daß es ihr gelingen könnte, die Eigenschaften der Elementarteilchen des Standardmodells zu erklären, für die bislang keine zugrundeliegende Systematik bekannt ist. Eine allgemeinere Voraussa­ge der Stringtheorie betrifft die Supersymmetrie, deren Spuren sich an

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Quantentheorie und Relativitätstheorie 463

Teilchenbeschleunigern wie dem "Large Hadron Collider" (LHC) nach­weisen lassen könnten, der zur Zeit am Kernforschungszentrum CERN in Genf gebaut wird und dessen Inbetriebnahme für 2007 geplant ist.

Die mangelnde experimentelle Bestätigung ist ein sehr unbefriedi­gender Zustand. Eine physikalische Theorie muß sich immer danach be­urteilen lassen, wie gut ihre Vorhersagen mit Experimentalergebnissen und Beobachtungsdaten übereinstimmen, und die Stärke der Physik hat immer darin bestanden, ihre Theorien einer experimentellen Überprüfung auszusetzen und auf der Basis solcher Qualitätsprüfung weiterzuent­wickeln. Allerdings ist die Suche nach einer Theorie der Quantengra­vitation auch, solange dieser Zustand andauert, keineswegs von regel­loser Beliebigkeit - im Gegenteil haben die bisherigen Anstrengun­gen gezeigt, daß die Forderung, eine Theorie möge sowohl die Prinzi­pien der Quantentheorie als auch die Einsteinsche Gravitationstheorie einschließen, sowie die selbstverständliche Forderung nach mathemati­scher Widerspruchsfreiheit die Möglichkeiten der Konstruktion stark ein­schränken. Ob diese Einschränkungen vielleicht sogar ausreichend sind, um die Quantengravitation eindeutig zu definieren, ob eine Anknüpfung an Experimente und Beobachtungsdaten gelingt und welche Gestalt die Theorie der Quantengravitation letztendlich annimmt, muß die Zukunft zeigen.


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