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Die lebende Mumie

Date post: 04-Jan-2017
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Kleiner Bummel durch

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KAIRO Wer zum ersten Male nach Kairo kommt, sei es, daß er mit ei-ner Maschine der Ägypten berührenden internationalen Luftrei-segesellschaften auf dem großen, modern eingerichteten Flug-platz landet, sei es, daß er mit einem der eleganten D-Züge auf dem von turbulentem Leben erfüllten Hauptbahnhof eintrifft, sei es, daß er mit dem Wagen, vielleicht von den Pyramiden – von Gizeh her – kommend, auf der breiten, asphaltierten Ausfall-straße durch die zahlreichen, nicht immer dicht besiedelten Vor-städte in das Zentrum von Kairo hineinfährt, – wer also zum ers-ten Male nach Kairo kommt und bisher nur europäische Welt- und Großstädte kannte, muß sich gewaltig umstellen, ehe er Ge-fallen und Geschmack am orientalischen Straßenleben findet. Eine in den ersten Stunden schier unerträgliche „Sinfonie“ von Geräuschen aller Art schlägt über dem Besucher zusammen und verursacht dem lärmempfindlichen Europäer Kopfschmerzen. Im Orient kennt man die aus der Überzivilisation geborene „Lärmkrankheit“ nicht. Im Orient – das gilt also nicht für Kairo allein, sondern für alle orientalischen Großstädte wie Bagdad, Damaskus und wie sie alle heißen – kennt man aber auch vieles andere nicht, ohne das in Europa kaum ein Mensch leben zu können glaubt. Die Kamel- und Eselkarawanen, beladen mit Säcken, Kisten und Knüppelholz, sind zwar aus dem Zentrum Kairos ver-

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schwunden und bewegen sich von den Vororten aus gleich in südlicher Richtung der Straße dem Nil entgegen. Als sie aber – es ist noch gar nicht lange her – aus dem Stadtkern mit seinen breiten Ladenstraßen, mit den internationalen Hotels, den Ban-ken und Warenhäusern, den Luxus- und den Einheitspreisge-schäften verbannt wurden, gab es ein großes Geschrei, und nur schwer wollten die Orientalen glauben, daß die Tierkarawanen inmitten der an Zahl immer zunehmenden Autos und der stets überfüllten Straßenbahnen störten. Der deutsche Autofahrer muß gründlich umlernen, wenn er, an die peinlich genaue Einhaltung der Verkehrsregeln in der Bun-desrepublik gewöhnt, zum ersten Male nach Kairo kommt. Verkehrszeichen gibt es nur wenige. Die meisten der existieren-den Zeichen zeigen Einbahnstraßen an. Diese allerdings werden respektiert. Sonst aber scheint man sich an keine Verkehrsregeln halten zu müssen. Die Verkehrspolizisten lassen auch nicht stän-dig die weißgestrichenen Verkehrsanzeigestöcke kreisen wie in Hamburg, Düsseldorf oder München, um die Geschwindigkeit der Motorisierten beim Überfahren der Straßenkreuzung in der gerade freigegebenen Richtung zu beschleunigen. Die Straßen in Kairos internationalem Stadtkern sind breit, und jeder fährt mit der Geschwindigkeit, die sein Wagen hergibt und die die Verkehrsdichte erlaubt. Dabei gibt es, prozentual auf die Zahl der Wagen und der Fußgänger umgerechnet, weit weniger Verkehrsunfälle als in Deutschland. So rücksichtslos jeder zu fahren scheint, so vorsichtig ist er im Grunde doch. Die Taxichauffeure in Kairo sind wahre Artisten unter den Männern am Steuer. Sie handhaben den Volant fast grundsätzlich nur lässig mit einer Hand und zünden sich auch während hoher Ge-schwindigkeiten, wo der Verkehr sie erlaubt, mit der freien Hand eine Zigarette an. Fortsetzung auf der 3. Umschlagseite

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Band 214

von

HANS WARREN

Neues Verlagshaus für Volksliteratur GmbH. Bad Pyrmont, Humboldtstraße 2

(Mitglied des Remagener Kreises e.V.)

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Nachdruck verboten

Alle Rechte, auch das der Übersetzung. Dramatisierung

und Verfilmung, von der Verlagsbuchhandlung vorbehalten

Copyright 1930, 1958 by Neues Verlagshaus für Volksliteratur G. m. b. H.

Bad Pyrmont

Printed in Germany 1958

Druck: Erich Pabel, Druck- und Verlagshaus, Rastatt (Baden)

Die Auslieferung erfolgt nur durch Erich Pabel, Verlagsauslieferungen, Rastatt (Baden), Pabel-Haus

Verlagsauslieferung in Österreich:

Buch- und Zeitschriftenvertrieb Wilhelm Swoboda, Wien XIV, Linzer Straße 22

Verlagsauslieferung im Saarland:

Zeitschriften-Großvertrieb J. Klein, Saarbrücken, St.-Johanner Straße 66

„Rolf Torrings Abenteuer“ dürfen nicht in Leihbüchereien geführt und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden

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1. Kapitel Wir saßen auf der luftigen Terrasse des „England House“, eines der besten Hotels Kairos, und hatten nichts anderes vor, als den Abend zu genießen, der Ruhe und Kühlung nach dem Lärm und der staubigen Hitze des Tages zu bringen versprach. Mein Freund Rolf hatte die Augen geschlossen und ich döste vor mich hin.

Die letzten Tage waren eigentlich nicht sonderlich erholsam gewesen, wenn man es recht besah. Wir waren hergekommen, weil uns das alte Kairo interessierte, das alte Kairo, das sich anschickte, in die modernste Metropole der arabischen Welt aufzugehen. Und um es zu erleben, muß man aus den Verwal-tungs- und Hotelvierteln hinaus, muß durch die engen Straßen der Altstadt schlendern, abbiegen von der „Muski“ der weltbe-rühmten, großen Basarstraße, die ebenso vom und für den Tou-ristenverkehr lebt wie manche Straßen in Paris, London oder Rom.

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Das interessierte uns wenig, das hatten wir oft erlebt. Aber wenn man durch die kleinen Gassen ging, dann sieht man Gold- und Silberschmiede bei der Arbeit mit zierlichen Werkzeugen und mit der gleichen Technik arbeitend, die seit Jahrtausenden an den Ufern des Nils zu Hause ist. Dann sieht man Leder-schnitzer und man findet auch noch einen Märchenerzähler, der mit perlenden Worten und beredten Gesten Märchen schildert, die sich anhören, als wären sie älter und prächtiger noch als die aus Tausendundeiner Nacht.

An dieser Stelle, wo Altkairo abseits der Hochhäuser und Hotelpaläste, der Industriebauten und breiten Straßen liegt, stand vor Zeiten das römische Kastell Babylon, das man jedoch nicht mit dem biblischen Babylon verwechseln darf. Der arabi-sche Eroberer Amr-Ben-el-Asi gründete nördlich des Kastells die Stadt Fustat. Wechselvoll ist die Vorgeschichte Kairos, das aus mehreren Städten zusammenwuchs. Der fatimitische Feld-herr Gohar gab im 12. Jahrhundert einem Stadtteil den Namen „Misr el Kahira“, nach dem später die ganze Stadt benannt wurde.

Und über der Stadt erhebt sich mit ihren schlanken Türm-chen wie ein Märchenschloß die große Moschee Mehmed Ali, das Wahrzeichen Kairos.

Wir waren herumgelaufen, hatten gesehen und gestaunt, die alten Karawansereien besucht, den Kamelmarkt und nun saßen wir auf der Terrasse, um uns auszuruhen und das nächtliche moderne Kairo vor uns vorüberfluten zu lassen.

Mr. Fleet hatte uns mit seiner Yacht wieder verlassen, wie ich ja schon im vorigen Bande erzählte. Er war jetzt auf dem Wege nach Indien, aber er war nur von uns geschieden, als wir ihm das Versprechen gaben, uns später mit ihm wiederzutref-fen. Er war ein Abenteurer wie wir geworden, den das Unbe-kannte lockte, die Gefahr reizte und dem kein Wagnis zu groß erschien.

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In unserem Hotel ging es auch um diese vorgerückte Stunde noch zu wie in einem Taubenschlag. Menschen kamen und gin-gen, Hotelgäste ebenso wie ständige Bewohner dieser modern-sten Großstadt der arabischen Welt, Angehörige der britischen Verwaltung wie vornehme Ägypter jener Schicht, die ein euro-päisches Leben führte. Und gelegentlich tauchten auch Fürsten aus den benachbarten arabischen Ländern auf. Männer mit son-nengegerbten Gesichtern in malerischen Kleidern und mit blit-zenden Augen.

Es lohnt sich schon, diesem Kairo zuzusehen, ebenso, wie es sich lohnte, die mühsamen Wege durch die Altstadt zu machen.

Mit schrillem Kreischen stoppte eben ein schwerer, amerika-nischer Wagen vor dem Portal. Ich wunderte mich darüber, denn wir kannten den Wagen und seine Besitzerin. Miß Ellen Wangerow gehörte diese prachtvolle Limousine, der viele inte-ressierte Blicke folgten. Es war ein offenes Geheimnis, daß El-len Wangerow die Tochter eines schwerreichen amerikanischen Fabrikanten war. Sie war auf einer Weltreise, hatte schon in manchem Land Station gemacht und war nun von Kairo faszi-niert wie wir selbst. Wir hatten abends einmal auf der Terrasse darüber gesprochen.

Sie mußte es sehr eilig haben, daß sie ihren Chauffeur so zur Eile trieb, wie ich es eben beobachtet hatte. Es war sonst kaum ihre Art, den schweren Wagen so schnell fahren zu lassen, daß beim Bremsen die Reifen kreischten. Vielleicht hatte sie eine Verabredung zu einer Party in einem der vornehmen Häuser der Stadt und fürchtete, zu spät zu kommen.

Wir erwarteten also, sie hastig aussteigen zu sehen, aber statt des hübschen, jungen Mädchens hastete ihre ältliche, dürre Rei-sebegleiterin aus dem Wagen, ehe der Chauffeur die Tür öffnen konnte.

Miß Wangerow hatte uns von ihrer Reisebegleiterin erzählt, daß sie eigentlich Perryl Asparagus hieße, aber daß sie sie nur

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abgekürzt „Miß Aspa“ nannte. Der Name paßte eigentlich recht gut zu dieser Frau. Sie war so dürr, daß man befürchten mußte, sie würde einmal bei einer zu hastigen Bewegung durchbrechen wie ein Spargel, der trocken geworden ist. Denn Spargel bedeu-tet auf Deutsch der lateinische Name Asparagus.

Natürlich will ich das wackere Fräulein damit nicht schlechtmachen. Sie war offensichtlich immer rührend um die erst einundzwanzigjährige Ellen Wangerow besorgt.

Auf jeden Fall kam sie jetzt aus dem schweren amerikani-schen Wagen herausgeschossen und raste auf das Hauptportal des Hotels zu, als wäre der Teufel hinter ihr her. Ein äußerst ungewöhnlicher Anblick, denn die etwas zu dürr geratene Da-me war sonst ganz ruhige Gelassenheit und sehr auf die Würde ihres Auftretens bedacht.

Rolf und ich schauten uns ein wenig überrascht an. Im Grun-de war es ein lächerlicher Anblick, Miß Aspa in ihrem altmodi-schen, keineswegs für die Tropen geeigneten Aufzug so rennen zu sehen, wie gesagt, wir wunderten uns.

„Da muß irgend etwas geschehen sein“, meinte mein Freund. „Sie würde nie in ihrem Leben unter Verzicht auf alle Würde so rennen, wenn es anders wäre.“

„Vielleicht hat sie ihren Hut verloren?“ versuchte ich zu scherzen. „Oder ihren Schirm vergessen?“

Rolf zuckte die Schultern. „Ich werde nachsehen, was es gibt“, meinte er und erhob sich

langsam. Ich blieb in dem bequemen Sessel sitzen. Rolf würde bald wiederkommen und vermutlich war gar nichts geschehen, oder nur irgendeine Belanglosigkeit, die die gute Miß Aspa in ein solches Tempo versetzt hatte.

Fast zufällig sah ich wieder hinüber zu dem schweren ameri-kanischen Tourenwagen. Der Fahrer war ausgestiegen und ließ keinen Blick vom Hoteleingang, als erwarte er Miß Aspa von dort im selben Tempo zurück, mit dem sie verschwunden war.

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Das machte mich stutzig, denn wir kannten Gerand, den Fahrer, als ruhigen, bedachten Menschen, den nichts so leicht zu wun-dern schien. Ich stand nun auch auf. Die Terrasse hatte einen direkten Ausgang zur Straße, ich brauchte nicht erst durch die Hotelhalle. Bis zum Wagen waren es nur ein paar Schritte, und ich gab mir keine sonderliche Eile. Ich wollte mich bei Gerand nur erkundigen, was nun eigentlich vorgefallen war.

Erst als ich dicht vor ihm stand, sah ich, daß sein Gesicht un-natürlich bleich war.

„Was ist denn mit Miß Aspa, Gerand?“ fragte ich leise. „So habe ich sie noch nie rennen sehen.“

Gerand sah mich verstört an. „Miß Wangerow“, sagte er und schluckte. „Was ist mit ihr?“ wollte ich wissen. „Nun reden Sie schon,

Gerand.“ „Verschwunden“, sagte er heiser. „Einfach verschwunden.

Wir waren bei den Pyramiden draußen, und Miß Wangerow wollte die Gräber besichtigen. Ich sollte beim Wagen bleiben. Und dann kam Miß Aspa angekeucht und behauptete, Miß Wangerow sei spurlos verschwunden. Sie hatten sich irgendwo verloren und Miß Aspa dachte, Ellen Wangerow wäre vielleicht schon zum Wagen zurückgekehrt, als sie bemerkte, daß sie Miß Wangerow verloren hatte.“

„Wann war das?“ wollte ich wissen. Eigentlich bestand gar kein Grund zur Beunruhigung. Die Pyramiden sind Höhepunkte des Fremdenverkehrs, es ist schwer vorstellbar, daß dort jemand verschwinden kann, es sei denn, er erlaubt sich einen Spaß oder die Sache findet eine harmlose Aufklärung.

„Am Vormittag, Mister Warren!“ Das gab der Sache allerdings einen anderen Anstrich. Jetzt

war es später Abend, und niemand dehnt einen Scherz solange aus.

„Und warum kommen Sie jetzt erst, Gerand?“

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„Wir haben gesucht. Mein Gott, wir haben die ganzen Pyra-miden auf den Kopf gestellt. Touristen halfen uns und Frem-denführer, aber wir konnten nichts finden, nicht die geringste Spur.“

„Und die Polizei?“ „Miß Aspa wollte zuerst ins Hotel, Mister Warren. Ich glau-

be, sie ist schon bei dem Gedanken, daß es Polizei in den Ange-legenheiten der Familie Wangerow geben könnte, halb wahnsinnig vor Entsetzen. Sie murmelte unterwegs etwas von einem Detektiv und davon, daß sie meinte, irgendein Beduine hätte Ellen Wangerow wegen ihrer Schmucksachen beraubt oder vielleicht sogar ermordet!“

„Und?“ fragte ich heiser. „Nichts“, sagte der Fahrer düster. „Wenn ein Mord gesche-

hen wäre, hätten wir die Leiche finden müssen oder wenigstens Spuren. Und bei einem Raub hätten wir Miß Wangerow finden müssen. Wir haben aber nichts gefunden, keine Spur, gar nichts.“

Mir schossen Gedanken durch den Kopf, wirre Gedanken um das Verschwinden eines jungen, hübschen Mädchens. Sinnlose Gedanken sicherlich, aber die Situation hatte etwas seltsam Be-klemmendes. Ein Mädchen verschwindet inmitten vieler Tou-risten und an einer Stelle, die unter den Sehenswürdigkeiten dieser Welt in einem Atemzug genannt wird mit der Akropolis zu Athen oder dem Schloß von Versailles.

Und ein neuer Gedanke tauchte in mir auf. Ein Gedanke, zu entsetzlich, um ihn zu Ende zu denken. Sklaverei! Nach Mei-nung der Menschen im sicheren Europa gehört sie längst der Vergangenheit an. Im Orient, in Arabien und im Sudan weiß man es anders. Es gibt noch Sklaverei wie eh und je. Nicht mehr selbstverständlich und öffentlich, aber in den verschwie-genen Hinterhäusern der Vornehmen des Landes kann man an-dere Dinge erleben. Sklaven, Sklavinnen, auch weiße Skla-

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vinnen! „Hat … ich meine, ist in den letzten Tagen irgendein Araber mit Miß Wangerow bekanntgeworden?“ fragte ich zö-gernd, noch ganz befangen von diesem Gedanken.

Gerand sah mich erstaunt an, dann nickte er. „Allerdings, Mister Warren. Warum fragen Sie? Gestern

abend lernte Miß Wangerow hier im Hotel einen vornehmen Araber kennen, einen Mann mit ausgesprochen europäischen Manieren, wenn er sich auch kleidete wie ein Wüstenscheich. Ich habe keine Ahnung, wie er heißt. Sie haben sich lange un-terhalten. Der Araber kannte das Land gut und Miß Wangerow war an vielen Dingen interessiert. Sie sprachen auch über die Pyramiden und ihre Geschichte. Wahrscheinlich war das der Grund, warum Miß Wangerow heute mit uns hinfuhr.“

Gerand war sehr nachdenklich geworden, während er das be-richtete.

„Sie haben ihn nicht zufällig da draußen gesehen?“ wollte ich wissen.

„Nein, ich habe ihn überhaupt nie gesehen, außer gestern abend. Und außerdem habe ich nicht besonders darauf geachtet. Wer konnte annehmen, daß da draußen bei den Pyramiden et-was passiert? Ein paar hundert Touristen kommen täglich dahin und schicken ihren Leuten zu Hause Ansichtskarten von dort. Es ist kaum die Stelle, an der man ein Verbrechen fürchten würde.“

In diesem Moment berührte eine Hand meine Schulter, und als ich mich umdrehte, sah ich Rolf hinter mir stehen. Er nickte mir zu und ging voraus. Ich verabschiedete mich mit ein paar gemurmelten Worten hastig von Gerand, aber der achtete gar nicht mehr auf mich.

„Hoffentlich hast du dem Fahrer gegenüber nicht erwähnt, daß wir uns um Miß Wangerow kümmern wollen?“ fragte Rolf.

„Bist du entschlossen, das zu tun?“ fragte ich dagegen. „Was hast du inzwischen erfahren?“

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„Nicht viel“, sagte mein Freund nachdenklich, während wir auf der belebten Straße dahingingen wie zwei Touristen, die am kühlen Abend noch ein wenig Spazierengehen wollen. „Auf jeden Fall ist es eine merkwürdige Geschichte. Miß Aspa ist so aufgeregt, daß sie kaum drei zusammenhängende Worte spre-chen kann. Das Hotel hat ihr einen Detektiv gestellt, der sich der Sache annehmen soll. Was denkst du darüber, wenn wir uns heute nacht einmal bei den Pyramiden umsehen würden?“

Ich nickte. „Kein schlechter Gedanke, Rolf. Vielleicht finden wie etwas,

das Licht in diese Geschichte bringen könnte.“ „Genau darum geht es mir. Und jetzt kommt eine Überra-

schung für dich, Hans: Im Hotel erfuhr ich durch Zufall, daß schon zwei junge Mädchen verschwunden sind. Darum war man sehr bestürzt, als Miß Aspa mit ihrer Nachricht kam, und fürchtete gleich das Schlimmste.“

Mein Gedanke von vorhin tauchte wieder auf. „Wann war das?“ „Die eine verschwand vor drei Wochen, die andere vor

sechs. Und ihre Spur endete ebenso wie bei Miß Wangerow bei den alten Königsgräbern! Sie sind am hellen Tage verschwun-den, mitten aus ganzen Gruppen von Touristen heraus. Wirklich eine reichlich mysteriöse Geschichte. Was hast du denn von Gerand erfahren?“

„Nicht besonders viel. Sie haben keine Spur von Miß Wan-gerow finden können, soviel sie auch gesucht haben.“

„Wenn nicht zwei Dinge wären, sollte man meinen, es gäbe irgendeine Stelle in diesen Pyramiden, an der man sich verirren kann oder meinetwegen abstürzen.“

„Was für Dinge?“ „Daß alle drei Verschwundenen junge Mädchen sind“, sagte

Rolf langsam. „Und daß ihr Verschwinden jeweils drei Wochen auseinanderliegt.“

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„Es gibt da noch einen Umstand“, bemerkte ich. „Miß Wan-gerow hat gestern einen vornehmen Araber kennengelernt und sich stundenlang mit ihm unterhalten. Es braucht nichts zu be-deuten, Rolf, aber ich habe ein komisches Gefühl dabei, ich kann mir nicht helfen.“

Mein Freund Rolf sah mich merkwürdig an, dann nickte er. „Laß uns ins Hotel zurückgehen, vielleicht erfahren wir noch

einiges. Wenn Miß Aspa sich beruhigt hat, werde ich versu-chen, genauere Angaben von ihr zu bekommen.“

An sich ging uns dieser eigenartige Fall mit den Pyramiden und dem geheimnisvollen Verschwinden junger Mädchen nichts an, es war Sache der Polizei, sich darum zu kümmern. Und wir spielten auch nicht gern Detektive, wir haben das nie getan. Aber hier lagen die Dinge insofern anders, als wir Miß Wangerow immerhin persönlich kannten und es so für uns eine Selbstverständlichkeit sein mußte, ihr zu helfen, Soweit wir nur konnten.

Langsam waren wir zum Hotel zurückgekehrt. Der schwere amerikanische Wagen war verschwunden, aber dafür gab es eine große Zahl erregter Menschen in der Hotelhalle und vor dem Hauptportal.

Die Nachricht vom Verschwinden einer reichen, jungen Amerikanerin mußte mit Windeseile die Runde durch das Euro-päerviertel von Kairo gemacht haben.

Überall standen Menschen umher, die wir noch nie im Hotel gesehen hatten, und sprachen aufgeregt miteinander. Es summte und wisperte in allen möglichen Sprachen durch das Vestibül, nur der Name „Wangerow“ kehrte immer wieder.

Mittlerweile war auch die Polizei verständigt und hatte of-fenbar die Ermittlungsarbeit aufgenommen, sowenig das Miß Aspa auch behagen mochte. Vor der Tür zu dem Verwaltungs-zimmer des Hotels stand ein Polizeiposten, der jedem den Ein-tritt verwehrte.

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„Ich möchte wetten, daß sie die arme Miß Aspa zum zehn-tenmal vernehmen“, sagte Rolf leise neben mir. „Dabei wird sie durch die Aufregung längst so konfus sein, daß sie selbst nicht mehr weiß, was sie nun gesehen und getan hat und was nicht.“

Wir schoben uns durch die Menschen und fanden schließlich einen unbesetzten Tisch in einer der Nischen. Von hier konnten wir die Menschen im Vestibül gut im Auge behalten, ohne selbst allzusehr aufzufallen.

Das erregte Summen wollte kein Ende nehmen und als sich die Tür zum Büro öffnete und ein Herr der Direktion heraus-kam, schwoll es an, als wenn man einen Spazierstock in einen Bienenkorb stößt.

Viele Menschen bestürmten den Geschäftsführer mit Fragen, aber der winkte nur müde ab. Er schritt durch die Menschen-gruppen und schien jemanden zu suchen. Schließlich sprach er mit dem Portier am Hauptportal, aber der zuckte nur die Schul-tern. Schließlich winkte der Geschäftsführer einem der farbigen Boys und gab ihm einen Auftrag. Er ging ins Büro zurück und der Boy verschwand im Speisesaal. Ein paar Minuten später kam er zurück und ihm folgten zwei Kellner, die im Speisesaal bedienten. Auch sie betraten das Büro.

„Ob der Araber hier im Haus wohnt?“ fragte ich Rolf. Ich hatte ihm ja von diesem vornehmen Araber erzählt, den Miß Wangerow am Abend zuvor kennengelernt hatte.

„Es sieht ganz so aus“, meinte Rolf. „Er scheint ein häufiger Gast in diesem Haus zu sein. Man müßte den Portier fragen, ob er da ist!“

Rolf brach ab, denn ein beleibter, schwitzender Europäer hat-te sich uns genähert, verbeugte sich leicht und nahm einen der freien Stühle an unserem Tisch. Sein Gesicht war gerötet, als wäre er schon Wochen hier im Land und vertrüge die Sonne nicht allzugut. Er gefiel mir nicht, aber das lag wahrscheinlich daran, daß er an unserem Tisch Platz genommen hatte, während

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wir lieber allein geblieben wären, um unbelauscht unsere Beo-bachtungen austauschen und besprechen zu können.

Der Dicke schien ebenso erregt wie die meisten Menschen im Hotel, denn er rutschte auf seinem Stuhl herum und wischte sich häufig mit einem großen Taschentuch über die Stirn.

„Eine Menge Aufregung“, wandte er sich schließlich an uns. „Ist ja auch kein Wunder. Diese junge Amerikanerin ist die

dritte, die in kurzer Zeit verschwindet und die Polizei scheint völlig machtlos zu sein.“

Rolf zuckte nur die Schultern. „Wenn es so weitergeht, ist niemand seines Lebens mehr si-

cher“, schnaufte der Dicke ärgerlich. „Die Behörden müßten viel schärfer durchgreifen. Wenn ich etwas zu sagen hätte, na, reden wir nicht darüber!“

„Was würden Sie denn dann tun?“ fragte Rolf spöttisch. Ihm ging der Dicke offenbar ebenso auf die Nerven wie mir.

„Witboth ist mein Name“, stellte sich der Dicke vor. „James Witboth aus den Staaten drüben. Meine Freunde nennen mich Jimmy.“

Rolf nannte auch unsere Namen und Witboth sah erstaunt auf.

„Sind Sie es wirklich?“ fragte er. „Ich habe viel von Ihnen in den Zeitungen gelesen, Mister Fleet hat lange Berichte über Sie gebracht. Ich freue mich sehr, daß ich Sie persönlich kennen-lerne.“

Rolf bedauerte schon, unsere Namen genannt zu haben und mir ging es nicht anders, aber nun war es zu spät.

„Was würden Sie denn nun unternehmen, Mr. Witboth?“ fragte Rolf, um Mr. Witboth von unserer Person abzulenken.

„Was ich machen würde?“ schnaufte der Dicke. „Für Ord-nung sorgen und für Tempo. Vor Stunden ist Miß Wangerow verschwunden und die Polizei stellt immer noch Verhöre an. Meinen Sie, es wäre schon jemand draußen an den Pyramiden

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gewesen? Keine Spur! Hier wird die Zeit vertrödelt und inzwi-schen wird das arme Mädchen wer weiß wie weit verschleppt!“

„Dann glauben Sie an keinen Mord?“ fragte Rolf. „Mord?“ Witboth schüttelte den Kopf. „Warum sollte man

sie ermorden? Und wenn, dann hätte man ja wohl Spuren oder ihre Leiche finden müssen. Und ebenso bei den anderen jungen Mädchen, die vor ihr verschwanden. Nein, wenn Sie mich fra-gen, die Mädchen wurden verschleppt. Sklavenhandel mei-netwegen. In diesen verdammten arabischen Fürstenpalästen irgendwo in der Wüste wird für weiße Sklavinnen eine Menge Geld gezahlt.“

„Sklavenhandel?“ fragte Rolf gedehnt. „Ziemlich unwahr-scheinlich, meine ich.“

„Lassen Sie sich nichts vormachen, Mr. Torring. Es gibt ihn auch heute noch und er ist weiter verbreitet, als alle Behörden zusammen wahrhaben wollen.“

„Trotzdem“, sagte Rolf nachdenklich, „irgendwie will es mir in diesem Fall nicht einleuchten, Mr. Witboth. Wenn es wirk-lich so eine Geschichte wäre, warum sollten sich diese Kerle weiße Mädchen gerade beim Pyramidenbesuch schnappen? Das Risiko ist ziemlich groß und es dürfte hier in der Altstadt von Kairo bessere Gelegenheiten geben.“

„Sie haben eine gute Auswahl da“, sagte der Dicke kalt. „Da kommen weiße Frauen hin und defilieren an den Königsgräbern vorbei und diese Schufte brauchen sie sich nur auszusuchen.“

„So kann man es auch ansehen“, brummte Rolf ablehnend. „Aber etwas anderes: Sie kennen Miß Wangerow persönlich?“

Der Dickte nickte. „Nicht sonderlich gut, wenn Sie verstehen, was ich meine,

aber ich habe ihr einmal die Umgebung Kairos gezeigt und ein paarmal mit ihr draußen auf der Terrasse Kaffee getrunken. Wir waren Landsleute und sprachen manchmal von den Staaten drüben. Da wäre so eine Bummelei der Polizei nicht denkbar.“

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„Waren Sie vielleicht gestern abend mit Miß Wangerow zu-sammen?“ fragte ich.

Witboth sah mich erstaunt an. „Gestern abend? Nein. Aber warum fragen Sie, Mr. Warren?“ „Miß Wangerow hat da einen vornehmen Araber kennenge-

lernt und ich dachte, Sie könnten mir vielleicht sagen, wer es ist. Aber es hat weiter keine Bedeutung.“

„Einen vornehmen Araber?“ fragte Witboth überlegend. „Warten Sie, ich glaube, ich erinnere mich. Natürlich, ich kam gestern über die Terrasse und sah Miß Wangerow sitzen. Ja, da war ein Araber bei ihr, ganz sicher. Ich habe sie nur gegrüßt, weil ich die Unterhaltung nicht stören wollte. Hatte die Sache ganz vergessen, wenn Sie mich nicht eben darauf gebracht hät-ten.“

„Kennen Sie den Araber, Mr. Witboth?“ schaltete sich Rolf wieder ein.

„Kennen nicht“, überlegte der Dicke. „Aber gesehen habe ich ihn schon öfter hier im Hotel. Wenn es Sie interessiert, sein Name ist sicherlich festzustellen. Sie vermuten doch nicht etwa irgendwelche Zusammenhänge zwischen Miß Wangerows Ver-schwinden und diesem Araber?“

„Ich vermute überhaupt ungern etwas“, antwortete Rolf aus-weichend. „Und hier ist es ganz und gar Sache der Polizei.“

„Das ist es ja eben“, knurrte Witboth. „Und die vernimmt Miß Aspa, als wenn sie es wäre, die Miß Wangerow verschwin-den ließ. Wenn der Hoteldetektiv nicht mit dem Fahrer von Miß Wangerow zu den Pyramiden gefahren wäre, hätte sich über-haupt noch nichts getan.“

„Sie reden, als wenn Sie selbst Detektiv wären“, lächelte Rolf.

„Ich wollte, es wäre so“, brummte Witboth. „Vielleicht könn-te ich dann mehr helfen als diese ganze verbummelte Polizei. Aber sehen Sie, da ist Ihr Araber!“

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Ich hatte während des Gesprächs mehr auf Witboth geachtet, als auf die Menschen im Vestibül, und Rolf war es ebenso er-gangen. Dieser Mr. Witboth war mir irgendwie ein Rätsel. Sei-nem Äußeren nach ein Mensch, der noch nicht lange hier sein konnte, aber seinen Worten nach mit dem Land recht gut ver-traut.

Aber jetzt blickten wir überrascht auf, und tatsächlich dräng-te sich ein hochgewachsener Araber durch die Menschenmenge auf die Tür des Direktionsbüro zu. Sein Burnus strahlte in reins-tem Weiß und das Stirnband seines Haik schien aus massivem Gold zu sein. Er gehörte zweifelsohne zu den reichen Herren des weiten Landes, wenngleich er offensichtlich Araber und kein Ägypter war, sonst hätte er statt des flatternden Haik den roten Fez getragen.

Der Polizeiposten vor der Tür wollte ihn nicht einlassen, aber der Araber sagte herrisch ein paar kurze Worte, darauf rief der Posten etwas ins Zimmer hinein. Gleich darauf erschien der Geschäftsführer wieder und bat den Araber höflich ins Büro.

„Äh –“, meldete sich Mr. Witboth wieder. „Hätten Sie nicht – ich meine, wären Sie nicht vielleicht bereit, mitzuhelfen, diese unheimliche Geschichte aufzuklären?“

Die Frage war ihm sichtlich schwergefallen, aber sein Ge-sicht verriet Enttäuschung, als Rolf den Kopf schüttelte.

„Mr. Witboth, wir leben hier in einer Großstadt und mein Freund und ich sind keine Detektive. Wir wollen es der Polizei überlassen. Vielleicht hat sie ihre eigenen Methoden und ist gar nicht so langsam, wie es den Anschein hat.“

„Sie ist es“, brummte Witboth und stand auf. „Das ist wirk-lich schade, Mr. Torring, daß Sie sich nicht um diesen Fall kümmern. Ich hätte ein besseres Gefühl gehabt, wenn es anders wäre. Na, vielleicht gelingt es der Polizei doch noch. Ich möchte auf mein Zimmer gehen, Sie entschuldigen mich wohl.“

Er nickte uns zu und verschwand zum Fahrstuhl.

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Ich wollte etwas sagen, aber Rolf schüttelte den Kopf. „Nicht hier, Hans. Wir sprechen nachher weiter. Ich werde

das Gefühl nicht los, daß man uns beobachtet. Betrachte unauf-fällig den jungen Araber da hinten. Er sieht mir zu oft hierher.“

Tatsächlich entdeckte ich jetzt auch einen Araber dicht beim Fahrstuhl, der jedesmal unsere Nische musterte, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Ein eigenartiges Verhalten, weil sich das Interesse der anderen Menschen im Vestibül ausschließlich auf die Tür zum Büro konzentrierte.

2. Kapitel Bevor wir selbst in unsere Zimmer hinauffuhren, ließ Rolf sich vom Portier das Gästebuch zeigen, das er schnell durchblätterte, so, als suche er den Namen eines Bekannten und sei nicht ganz sicher, ihn in diesem Hotel vorzufinden.

„Weißt du, wer dein Nachbar ist?“ fragt er mich oben. „Du wirst staunen, aber es ist unser neuester Freund, Mister Witboth!“

„Darum das Gästebuch“, sagte ich. „Du traust Witboth nicht?“

Rolf schüttelte den Kopf. „Vielleicht bin ich voreingenommen, aber ich traue ihm tat-

sächlich nicht.“ „Mir gefällt er auch nicht“, stimmte ich zu, „aber ich weiß

nicht, ob ich ihn deshalb gleich verdächtigen würde.“ „Das tue ich auch nicht, Hans. Ich zähle nur zwei und zwei

zusammen und am Ende kommt dabei vier heraus. Das ist alles.“ „Und wie sehen deine Zweien aus?“ wollte ich wissen. „Eine davon ist die Tatsache, daß er das Zimmer neben dir

hat“, lächelte Rolf, „Und die andere die, daß er längst nicht so erstaunt war, wie er tat, als er unsere Namen hörte. Nimmst du noch hinzu, daß er sich ausgerechnet an unseren Tisch setzte,

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obwohl der Nachbartisch frei war, hast du alles zusammen, was mir an Mr Witboth auffiel.“

„Nicht sonderlich viel“, überlegte ich. „Aber genug, um vor-sichtig zu sein. Und was meinst du, warum hat er das Gespräch mit uns gesucht?“

„Wenn wirklich etwas nicht mit ihm stimmt, wollte er wohl herausfinden, ob wir uns um die Sache kümmern werden oder nicht. Er ging ziemlich plötzlich, als ich abgelehnt hatte, an der Suche nach Ellen Wangerow teilzunehmen.“

„Und wie verhalten wir uns weiter? Ich kann mir schlecht vorstellen, daß du tatsächlich die Angelegenheit der Polizei al-lein überlassen willst.“

„Natürlich nicht, Hans. Ich werde versuchen, einen der Ge-schäftsführer unauffällig zu sprechen und auch Miß Aspa, wenn es sich irgendwie machen läßt. Außerdem will ich beim Portier Bescheid sagen, daß man unser Gepäck fertig macht. Wir wer-den so tun, als wollten wir morgen nach Alexandrien weiterrei-sen. Wir haben in den letzten Tagen unten beim Essen ein paarmal darüber gesprochen, daß wir bald weiter sollten, es kann also kaum auffallen, wenn wir nun Ernst machen.“

„Und was bleibt für mich zu tun?“ „Ich wäre dir dankbar, wenn du inzwischen möglichst viele

und möglichst gute Beschreibungen über die Pyramiden und die Königsgräber auftreiben würdest, Hans. Es kann nicht schaden, wenn wir erst einmal alle Pläne und Karten und alle Angaben studieren, ehe wir uns selbst dort umsehen.“

Wir rätselten noch eine Weile herum, was hinter der ganzen Geschichte stecken mochte, wie der Araber ins Bild passen soll-te und wie vor allem der dicke Witboth, dann ging Rolf nach unten und ich machte mich auf den Weg, um Lektüre über die Pyramiden zu besorgen. In Kairos Hauptstraßen gibt es viele Geschäfte, die die ganze Nacht über geöffnet haben, es würden sicher auch Buchläden oder Kioske dabei sein.

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Ich schlenderte erst eine Weile wie ziellos durch die Straßen und sah mich immer wieder unauffällig um. Einmal war mir so, als sähe ich jenen jungen Araber aus dem Hotel hinter mir, aber ich mußte mich getäuscht haben. Jedesmal, wenn ich später vorsichtig zurückblickte, sah ich fremde Gesichter. Niemand schien sich um mich zu kümmern.

Endlich betrat ich einen Buchladen und ließ mir alle Führer und Bildbände über die Pyramiden geben. Es waren fünf oder sechs dünne Bändchen. Gerade hatte ich das kleine Buchpaket unter den Arm geklemmt und wollte das Geschäft wieder ver-lassen, als Mr. Witboth in der Tür auftauchte. Er versuchte erst gar nicht den Überraschten zu spielen und es hätte auch ziem-lich unglaubwürdig aussehen müssen, wenn er es doch getan hätte. Wir waren eine ganze Reihe von Blocks von unserem Hotel entfernt und Mr. Witboth nicht der Typ, der sich nachts noch Bücher kauft. Mir fielen alle Verdachtsgründe ein, die Rolf gegen diesen Mann vorgebracht hatte und ich konnte ihnen nun ein neues hinzufügen: Mr. Witboth war mir gefolgt oder hatte mich verfolgen lassen, um im richtigen Moment selbst auf der Szene zu erscheinen.

Aber warum hielt er gerade diesen Moment für den richti-gen? Hatte er von draußen beobachtet, welche Art Bücher ich gekauft hatte? Es wäre schon möglich gewesen, denn als ich die Bücher auswählte, hatte ich natürlich nicht darauf geachtet, was draußen vor sich ging und ob jemand statt in die Auslage viel-leicht in das Geschäft selbst sah, um zu überwachen, welche Bücher ich kaufte.

„Gut, daß ich Sie gefunden habe, Mr. Warren“, schnaufte Witboth in seiner robust-herzlichen Art, die ihn so harmlos er-scheinen ließ. „Ich hatte schon versucht, Sie im Hotel zu er-reichen, hatte aber kein Glück.“

„Hier hatten Sie es jedenfalls“, sagte ich spöttisch. Er lä-chelte gequält, so, als sähe er sich durchschaut und wüßte,

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daß er seine Sache nicht sonderlich geschickt angefangen hät-te.

„Mr. Warren“, sagte er leise. „Ich muß Sie unbedingt spre-chen. Wenn Sie mich angehört haben, hoffe ich, daß Sie Ihren Entschluß, sich in den Fall Miß Wangerow nicht einzumischen, ändern werden.“

„Wir wollen morgen früh schon Kairo verlassen“, entgegnete ich ablehnend.

„Um Gottes willen, tun Sie mir das nicht an. Und die arme Ellen Wangerow können Sie doch nicht einfach ihrem Schick-sal überlassen. Ich bitte Sie!“

Ich ließ mich langsam und scheinbar widerwillig umstim-men, in Wirklichkeit war ich interessiert, was Witboth mir auf-tischen wollte. Er komplimentierte mich in ein kleines, aber sehr elegantes Kaffee. Seine Nervosität war immer größer ge-worden und sein Taschentuch trat immer häufiger in Aktion.

„Ich brauche Sie und Mr. Torring ganz einfach“, platzte er heraus, als wir auf den niedrigen Sitzkissen des Kaffeehauses saßen. „Ich muß diese Sache selbst in die Hand nehmen, bleiben Sie noch zwei oder drei Tage, dann ist sicher alles erledigt.“

„Und warum müssen Sie die Sache selbst in die Hand neh-men? Geht Ihr Zorn über die Polizei so weit?“

Er winkte ab. „Machen wir uns nichts mehr vor, Mr. Warren. Ich kenne Sie

aus den Zeitungsartikeln viel zu gut, um daran zu glauben, daß Sie wirklich abreisen würden, wenn ein junges Mädchen, das Sie obendrein persönlich kennen, in einer solchen Gefahr schwebt. Und was mich betrifft –“ er zuckte die runden Schul-tern „– so will ich Ihnen reinen Wein einschenken. Ich heiße nicht Witboth und schon gar nicht James Witboth, zu dem seine Freunde Jimmy sagen. Mein Name ist Frank Flaming und ich bin Detektiv aus Chikago. Vielleicht haben Sie sogar schon von mir gehört?“

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Ich nickte, Frank Flaming hatte eine Reihe großer Verbrechen aufgeklärt und sein Ruf war längst über den Atlantik gedrungen.

„Um es kurz zu machen“, sagte Witboth alias Flaming, „mein Ruf steht auf dem Spiel. Mister Wangerow, Miß Ellens Vater, ist mein Auftraggeber. Er wünschte, daß ich ganz im Hintergrund die Weltreise seiner Tochter mitmachen und auf sie aufpassen sollte. Und da muß mir ausgerechnet diese Ge-schichte passieren. Ich brauche ganz einfach Ihre Hilfe. Stellen Sie sich die Klemme vor, in der ich sitze!“

„Sie wußten doch schon, wer wir sind, als Sie uns in der Ho-telhalle betont zufällig kennenlernten?“ fragte ich.

Witboth-Flaming versuchte ein Grinsen, aber es mißlang ihm ziemlich.

„Sicher“, sagte er. „Ich habe mir alle Gäste des Hotels ange-sehen und mußte natürlich auf Sie stoßen. Nur eins habe ich nicht gemacht: Ich bin nicht mit zu den Pyramiden gefahren, als ich da gerade nötig gewesen wäre.“

„Sie haben doch sicher Ihre amerikanische Lizenz als Detek-tiv bei sich, Mr. Flaming? Wenn sie hier auch nicht gilt, hätte ich sie doch gern gesehen.“

„Immer vorsichtig, wie?“ fragte er, aber er brachte eine Zel-lophanhülle zum Vorschein mit der berühmten amerikanischen Lizenz. Es war einwandfrei sein Bild und das Dokument war echt. Ich gab sie zurück.

„Also gut“, sagte ich. „Ich werde mit meinem Freund spre-chen.“

„Und noch etwas“, sagte er leise. „Nennen Sie mich doch bitte auch weiterhin Witboth. Es braucht nicht jeder zu wissen, wer ich bin.“

„Ich gehe sofort ins Hotel zurück, Mr … Witboth. Wann können wir uns sprechen?“

„Ich habe das Zimmer neben Ihnen, Mr. Warren. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich genau um 22 Uhr bei Ihnen sein.“

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Rolf wartete schon auf mich. Er hörte gespannt zu, als ich ihm von meinem Gespräch mit Mr. Witboth erzählte und schwieg hinterher lange.

„Es sieht so aus, als ob wir da beinahe einen Riesenbock ge-schossen hätten. Hast du die Bücher mitgebracht?“

Ich gab sie meinem Freund, und er begann sofort zu lesen und die Skizzen und Karten zu studieren.

„Willst du tatsächlich heute nacht noch zu den Königsgrä-bern?“ fragte ich.

Rolf nickte. „Sowie ich diese Sachen hier gelesen habe und wir mit Mr.

Witboth noch einmal gesprochen haben. Übrigens habe ich in-zwischen den Namen jenes Arabers erfahren, mit dem sich Miß Wangerow gestern so lange unterhalten hat. Er heißt Fra el Ba-ru und man erzählte mir, daß er großes Ansehen genießt und bei den Eingeborenen sogar eine gewisse Macht besitzt.“

„Wenn wir uns um ihn kümmern wollen, werden wir es also sehr vorsichtig tun müssen“, überlegte ich, und Rolf nickte.

„Es hätte wenig Zweck, wenn wir mit aufgehetzten Ägyptern Streit bekämen, Hans. Das würde nur schaden.“

Ich zog mich auf mein Zimmer zurück, um meine Vorberei-tungen für den nächtlichen Ausflug zu treffen, während sich Rolf wieder in seine Bücher vertiefte. Die Vorbereitungen wa-ren einfach genug. Ich suchte meine starke Taschenlampe her-aus. Danach sah ich meine Pistole nach, lud sie ein paarmal probeweise durch und prüfte das Magazin. Es war wie immer alles in Ordnung, aber mir wäre jetzt doch lieber gewesen, wenn Pongo mit von der Partie hätte sein können.

Wir hatten unseren treuen schwarzen Gefährten nach Alex-andrien vorausgeschickt, damit er Kapitän Hoffmann unsere Nachricht überbringen sollte, daß wir in Kürze wieder auslau-fen würden. Wir hatten es getan, weil niemand von uns vermu-ten konnte, daß es ausgerechnet in Kairo etwas geben würde,

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wobei uns Pongos Hilfe wichtig wäre. Und aus dem gleichen Grunde hatten wir auch Maha, unseren zahmen Geparden, mit nach Alexandrien gehen lassen. Das Tier hätte uns in der Stadt nur behindert, wenn alles so verlaufen wäre, wie wir es uns vor-gestellt hatten. Bei einem nächtlichen Ausflug in die Wüste aber hätten wir Pongo und das Tier mehr als gut gebrauchen können.

Ich zuckte die Schultern. Es war nun nicht mehr zu ändern, denn niemand kann voraussehen, was ihm alles begegnen wird.

Mr. Witboth kam sehr pünktlich. Er war noch nervöser als vorhin und atmete sichtlich auf, als Rolf ihn durchaus freund-lich begrüßte.

„Aber ich muß Ihnen eine Enttäuschung bereiten, Mr. Wit-both. Wir werden uns also um Miß Wangerows Verschwinden kümmern, aber wir werden es allein tun. Verstehen Sie mich recht, das ist kein Mißtrauen gegen Sie, aber wir sind nun ein-mal gewöhnt, unsere eigenen Wege zu gehen und dabei aufein-ander eingespielt. Ein dritter Mann würde dabei nur stören und das Ergebnis gefährden. Am besten, Sie arbeiten nach Ihrer Me-thode und wir nach unserer, und jeder läßt den anderen wissen, wenn er ein greifbares Resultat erzielt hat.“

Witboth war sofort einverstanden. „Haben Sie irgendeinen Verdacht, dem Sie zuerst nachgehen

wollen, meine Herren?“ Rolf zuckte die Schultern. „Nichts Greifbares, wenn Sie das meinen. Wir sind gewöhnt,

draußen zu arbeiten, und Ihre Erfahrungen werden sich in erster Linie auf das Arbeiten in Großstädten beziehen. Die Teilung erscheint also gar nicht unangebracht. Wir sehen uns draußen um und Sie sich hier. Wie wäre es, wenn Sie versuchten, mög-lichst viel über diesen Fra el Baru herauszubringen, Mr. Witboth?“

„Das dürfte nicht ungefährlich sein, Mr. Torring. Dieser Mann hat einen enormen Einfluß. Haben Sie ihn in Verdacht?“

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„Das wäre wohl zuviel gesagt“, warf ich ein. „Aber man muß jeder Spur nachgehen. El Baru ist eine davon. Er hat lange mit Ellen Wangerow gesprochen, er kann sehr gut gewußt haben, daß sie heute die Pyramiden besichtigen wollte oder es ihr sogar vorgeschlagen haben. Wohlgemerkt, ich sage, er kann. Es muß ja nicht so sein, aber man sollte es nachprüfen.“

„Ich verstehe, was Sie meinen. Also ich werde Sie wissen lassen, was ich herausbringen kann. Und nochmals vielen Dank, meine Herren, daß Sie mir helfen wollen.“

Er verließ uns in sichtlich besserer Stimmung. „Wir werden uns auch an die Arbeit machen, Hans“, sagte

mein Freund, als Witboth gegangen war. „Ich habe schon für ei-nen Wagen gesorgt. In ein paar Minuten können wir losfahren.“

Ich nahm meine Pistole und schob sie in die Jackentasche, und ich sah an der aufgebauschten Tasche Rolfs, daß auch er die seine nicht vergessen hatte. Die Taschenlampen vervollstän-digten unsere Ausrüstung.

Wir verließen das Hotel ganz offen durch das Hauptportal, ich sah mich unauffällig um, aber ich konnte nicht entdecken, daß irgend jemand uns besondere Aufmerksamkeit schenkte oder gar uns zu folgen versuchte. Vielleicht hatten wir uns auch am Abend getäuscht, als wir meinten, dieser junge Araber beo-bachte uns.

Rolf bog an der nächsten Ecke von der breiten, erleuchteten Straße ab und dann ging unser Weg durch mehrere dunkle Gas-sen, die niemand in so unmittelbarer Nachbarschaft der vor-nehmen Hotelstraße hätte erwarten können. Und dann standen wir plötzlich vor einem schweren, dunklen Wagen, den ich kannte. Es war Miß Wangerows Tourenwagen, und Gerand war auch dabei. Er nickte uns zu und verschwand in der Dunkelheit, nachdem Rolf ihn aufgefordert hatte, in genau vier Stunden wieder an derselben Stelle zu sein, wo wir den Wagen zurück-geben wollten.

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Mein Freund übernahm das Steuer und der schwere Wagen zog fast lautlos an. Wir vermieden die vielbefahrenen Haupt-straßen und erreichten schon nach wenigen Minuten die breite Autobahn, die zu den Pyramiden hinausführt und die ein schar-fes Tempo erlaubt. Der Motor summte tief und die Reifen surr-ten hell über die Straße, als Rolf den Wagen auf Touren kom-men ließ.

Weniger als eine halbe Stunde brauchten wir bis zu den Py-ramiden, obwohl es noch eine Reihe anderer Wagen auf der Straße gab, die unser Wagen mühelos überholte. Ich sah mich anfangs häufig um, aber ich gab es auf. Kein Wagen folgte uns, und es hätte auch ein sehr schneller Wagen sein müssen, wenn er es durchhalten wollte.

Wir parkten den Wagen hinter einem Palmengehölz, wo er einigermaßen gedeckt gegen neugierige Augen stand. Und dann machten wir uns auf den Weg, aber wir blieben überwältigt ste-hen, als die Palmen den Ausblick auf die Pyramiden und die gewaltige Sphinx freigaben.

In helles, seltsam unwirkliches Mondlicht getaucht lagen diese riesigen Mahnmale menschlicher Kultur plötzlich vor uns, erfüllt von einem seltsamen, jenseitigen Leben, das ihnen das silberne, webende Mondlicht verlieh.

Aber der Zauber hielt nicht lange an. Ich hörte Rolfs Atem-züge neben mir, und dies winzige Geräusch zerriß die märchen-hafte Situation sofort. Ich wußte wieder, warum wir hier waren. Das Bewundern der riesigen Steinpyramiden in ihrer unirdi-schen, nächtlichen Pracht gehörte nicht dazu!

Langsam zog ich meine Pistole aus der Tasche und schnallte sie an den Gürtel, um sie notfalls schneller griffbereit zu haben.

Die silbern glänzenden Steinriesen aus dem fernen, ägypti-schen Reich konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier und heute offenbar ein Verbrechen begangen worden war.

Wir gingen schweigend und vorsichtig, hielten die Augen of-

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fen und blieben alle paar Schritte stehen, um zu horchen. Es gab nichts, außer dem seltsam klirrenden Singen der Wüste, das entsteht, wenn der sanfte Hauch des Windes Millionen und aber Millionen Sandkörnchen aneinanderreihen läßt. Ein Geräusch, das noch unwirklicher ist als das Mondlicht, es klingt wie das Seufzen der Wüste selbst.

Wir waren einigen Autos auf der Piste nach hier begegnet, und ich hatte fast erwartet, Menschen an den Pyramiden vorzu-finden, aber jetzt schienen wir ganz allein im Tal der Könige zu sein, im alten Reich der Toten.

Wir hatten die erste der drei Pyramiden langsam umrundet und nichts, aber auch gar nichts bemerken können, als Rolf plötzlich so abrupt stehenblieb, daß ich fast gegen ihn gelaufen wäre.

„Da“, sagte er leise. Aber als ich der Richtung seines zeigen-den Armes folgte, konnte ich nichts erkennen. „Ich möchte schwören, daß dort eben jemand war, Hans. Eine weißgekleide-te Gestalt.“

„Ein Tourist vielleicht“, meinte ich. Rolf schüttelte den Kopf. „Auf jeden Fall ein Einheimischer. Aber seine Kleidung sah

mir weder nach Burnus noch nach Haik aus.“ „Eine Frau?“ „Kaum, Hans, aber sehen wir nach. Seltsam, die Gestalt ver-

schwand sofort, als ich stehenblieb. Sie muß uns beobachtet haben und fürchten, entdeckt worden zu sein. Kaum das Ver-halten eines harmlosen Touristen oder meinetwegen auch eines Fremdenführers.“

„Ein Grabräuber?“ überlegte ich weiter, aber dann schüttelte ich den Kopf. „Was sollte er hier? Die Königsgräber sind schon vor Jahrhunderten ausgeraubt worden und den Rest haben die Archäologen ausgegraben. Also sehen wir nach!“

Wir erreichten die mittlere, älteste der drei Pyramiden nach

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wenigen Minuten, aber es war nichts zu entdecken. Spuren im Sand gab es genug, aber damit war nichts anzufangen. Die stammten von Hunderten von Touristen. Unmöglich, eine fri-sche Spur herauszufinden, die uns den Weg zeigen konnte, den der Mann genommen hatte, den Rolf gesehen haben wollte.

Einmal mehr bedauerte ich, unseren Pongo nicht bei uns zu haben. Er hätte uns jetzt viel helfen können, mehr als zwei Dut-zend Polizisten.

Mein Blick fiel nach oben, folgte den Absätzen der gewalti-gen Stufenpyramiden. Die einzelnen Stufen sind über einen Me-ter hoch, aber einem einigermaßen gewandten Menschen dürfte es wenig Schwierigkeit bereiten, sie zu ersteigen bis zur Spitze hinauf.

„Vielleicht war das sein Weg“, sagte ich zu Rolf und zeigte nach oben.

„Gut möglich“, meinte Rolf, „sehen wir nach.“ Wir machten uns an den Aufstieg, erklommen eine der Stein-

stufen nach der anderen, und die nötige Aufmerksamkeit, die wir anwenden mußten, um niemandem zu verraten, daß wir hier waren, machte den Weg nicht gerade leichter. Alle zwei oder drei Stufen blieben wir stehen und beobachteten die Umgebung.

Plötzlich berührte mich Rolf leise am Arm und zeigte nach unten, dorthin, woher wir gerade kamen.

Und diesmal sah ich auch ganz deutlich den Mann, auf den Rolf schon vorhin aufmerksam geworden war. Er stand deutlich sichtbar nicht einmal weit von uns und beobachtete angestrengt die vorderste Pyramide, an der wir vorhin gewesen waren.

Aber das war nicht das Auffälligste an ihm. Ich mußte mehrmals hinsehen, um zu begreifen, daß es nicht das Mond-licht und die Phantasie waren, die mich narrten, sondern daß da unten ein lebendes Wesen stand, keine Spukgestalt.

Das Wesen dort unten war eine Mumie! Ganz deutlich waren die weißen Bänder zu erkennen, mit

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denen die Körper der Mumien umwickelt sind. Aber diese Mu-mie dort unten bewegte sich!

Sie wendete langsam den Kopf und sah zu uns hinauf! Und dann war sie mit einer blitzschnellen, gleitenden Bewegung verschwunden, und nur Sand gab es an der Stelle, wo sie eben noch gestanden hatte. Es war mehr als geisterhaft. Die unwirk-liche, silberne Mondnacht, die Umgebung, die den Hauch ver-gangener Jahrtausende lebendig werden ließ, das leise Seufzen der nächtlichen Wüste und dann diese Spukgestalt am Fuße der Pyramide.

„Wir müssen hin“, flüsterte Rolf neben mir, und wir machten uns an den Abstieg, sprangen von Stufe zu Stufe hinab. Es war schwieriger und gefährlicher als das Hinaufklettern und einmal stolperte ich und wäre gestürzt, wenn Rolf mich nicht im letzten Moment mit festem Griff zurückgerissen hätte. Wir verloren kein Wort darüber, sondern hasteten weiter, denn die lebendige Spukgestalt hatte uns entdeckt und würde kaum auf uns warten.

3. Kapitel Endlich sprang ich die letzte Stufe hinunter und landete in wei-chem, nachgebendem Sand. Vielleicht waren wir nicht genau an der Stelle herabgekommen, an der wir den Aufstieg begonnen hatten, denn hier gab es einen schmalen, dunklen Eingang ins Innere der Pyramide, und der war vorhin nicht dagewesen, als wir die Stufen erklommen.

Ich hatte die Pyramiden schon oft besucht, aber ich entsann mich dieses schmalen Eingangs nicht. Der Gang zu den Kö-nigsgräbern begann mit einer breiten, fast portalhaften Öffnung, diese schmale Öffnung hier mußte sich fast an der Rückseite der Pyramide befinden.

Im nächsten Moment flammte Rolfs Taschenlampe neben

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mir auf und verwandelte die dunkle gähnende Öffnung in ein von hellen Sandsteinquadern gerahmtes Rechteck.

Ich sah deutlich ganz frische Fußspuren im weichen Sand. Als ich den Blick hob und in den Gang hineinsah, den das Licht der Taschenlampe nur schwach ausleuchtete, war mir, als ver-schwände weiter hinten etwas Weißes in der Dunkelheit. Die unheimliche Mumie mußte dort vor uns fliehen!

Ich riß auch meine Taschenlampe heraus, aber ihr Strahl fiel nur auf helle Sandsteinquadern. Der Gang machte nach weni-gen Metern eine Biegung.

Wir hasteten los. Der Gang bog fast in einem rechten Winkel ab und senkte sich flach. Er mußte tatsächlich nach unten in die Grabkammern führen, die ja trotz der gewaltigen Steinmassen, die sich über ihnen emportürmen, unterirdisch angelegt sind.

Es war eine unheimliche Jagd, und sie paßte zu dem geister-haften Eindruck, den vorhin die lebende Mumie am Fuß der Pyramide auf mich gemacht hatte. Den Boden deckte loser, bei jedem Schritt aufwirbelnder Flugsand, und dünne Staubschleier geisterten im Licht unserer starken Taschenlampen auf. Ein be-redtes Zeugnis dafür, daß unmittelbar vor uns jemand diesen Gang benutzt hatte und daß er es sehr hastig tat.

Es wehte kühl und feucht wie aus einer Gruft in diesem Gang und unsere keuchenden Atemzüge waren das einzige Geräusch, das lauter war als das schlurfende Tappen unserer Schuhe in dem lockeren Sand, dem Staub der Jahrtausende.

Und dann stürzte ich plötzlich ins Bodenlose … Es war so überraschend, daß ich nicht einmal aufschreien

konnte. Instinktiv streckte ich die Arme aus, dann schlug ich schwer auf, daß mir die Luft keuchend aus der Lunge gepreßt wurde.

Als Rolf auf mich stürzte, verlor ich fast das Bewußtsein. Ich brauchte lange, kostbare Sekunden, um wieder zu Atem zu kommen und zu begreifen, was geschehen war.

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Eine Fallgrube, war dann der erste klare Gedanke. Ich ver-suchte mich zu bewegen, aber Gott sei Dank gehorchten alle Gliedmaßen ihren Befehlen. Wenn ich auch noch etwas benommen vom schweren Fall war, ernsthaft war mir nichts passiert, und auch Rolf krabbelte neben mir herum. Auch ihm konnte nicht viel geschehen sein. Es sah so aus, als hätten wir Glück gehabt.

Beim Aufprall hatte ich die Lampe fallen lassen, sie lag ein paar Meter von mir entfernt und brannte immer noch. Ich rich-tete mich vorsichtig auf und tastete mich zur Lampe. Meine Hände knisterten dabei durch eine dicke Strohschicht, der wir es zu verdanken hatten, daß der schwere Fall ohne Knochen-brüche abgegangen war.

Seltsam, überlegte ich fieberhaft. Eine Fallgrube, in die wir bei der Verfolgung einer unheimlichen Gestalt hineinstürzen, und dann hat sie einen Strohboden, damit man sich nichts bricht!

Meine Hände erfaßten die Lampe, ich hob sie auf und schwenkte den Strahl sofort zur Decke empor. Wo wir herein-gekommen waren, mußten wir auch wieder hinauskönnen.

Aber da oben gab es keine Öffnung. Gut vier Meter über uns spannte sich eine gewölbte Decke

aus dicken Sandsteinbrocken, die den Eindruck machten, als wären sie seit Jahrtausenden unverrückt an ihrem Platz. Und doch mußte dort oben eine Öffnung sein, durch die wir gestürzt waren. Es hing auch noch jener feine Staub unter der Decke, der mir im Gang aufgefallen war.

Rolf hatte aufmerksam den Lichtkegel an der Decke verfolgt. „Es sieht so aus, als wären wir in eine ziemliche Klemme ge-

raten“, meinte er. „Sehen wir uns einmal in unserem Gefängnis um, vielleicht gibt es doch einen Ausgang.“

„Kaum“, meinte ich. „Ich tippe auf eine von jenen Fallgru-ben, die man errichtete, um Grabräuber von den Schätzen in den Grabkammern abzuhalten.“

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„Damit dürftest du ziemlich recht haben. Aber eins stört mich dabei, Hans. Diese Fallgruben wurden erwähnt in allen Büchern, die ich vorhin über die Grabkammern gelesen habe. Und alle diese Bücher weisen darauf hin, daß diese Fallgruben mit Speeren gespickt sind, die erbarmungslos jeden aufspießen, der hineinstürzt. Von federndem Stroh war keine Rede.“

„Wahrscheinlich auch davon nicht, daß es noch unabgedeck-te Fallgruben gibt“, grinste ich gedrückt. „Damit dürfte man den Touristen kaum einen Gefallen tun, Rolf.“

„Dieser ganze Gang wird nicht erwähnt“, stimmte mein Freund nachdenklich zu. „Wahrscheinlich gibt es noch so man-chen Gang, den nur Einheimische kennen und den noch kein Forscher betreten hat. Das hier dürfte einer sein.“

„Schön, betreten haben wir ihn nun, sehen wir zu, daß wir auch wieder hinauskommen“, schlug ich vor.

Ich leuchtete und Rolf machte sich schweigend an die Unter-suchung unseres Gefängnisses. Das Stroh lag fast einen halben Meter hoch und darunter gab es den gleichen mehlfeinen Sand wie oben im Gang. Als Rolf diesen Staub vorsichtig beiseite schob, zeigten sich runde, tiefe Aushöhlungen im Steinboden.

„Da steckten einmal die Speere drin“, meinte Rolf. „Ich weiß nicht, wer sie fortgenommen hat“, meinte ich da-

zu, „aber ich bin ihm ziemlich dankbar. Wahrscheinlich fällt es sich wesentlich angenehmer auf Stroh als auf Lanzenspitzen.“

„Warten wir es ab, Hans.“ Rolf wühlte das Stroh durch und die Staubschicht. Unserer

Atemluft bekam das nicht sonderlich gut, immer stärker wurde der Hustenreiz, aber es mußte sein, so aussichtslos es mir auch vorkam.

Plötzlich stutzte Rolf, hob etwas auf und betrachtete es ge-spannt. Ich trat schnell zu ihm. Er hielt ein kleines, goldenes Medaillon in der Hand. Ein hauchdünnes, gerissenes Goldkett-chen war daran befestigt.

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„Ich bin kein Archäologe“, sagte ich. „Aber nach altägypti-schem Schmuck sieht es nicht aus.“

„Eher nach etwas anderem“, meinte Rolf und hielt das Me-daillon schräg gegen das Licht. Und nun erkannte auch ich die eingravierten Initialen „EW“.

„Verdammt“, sagte ich leise. „Sollte Ellen Wangerow das Ding verloren haben? Wie kommt sie ausgerechnet hierher?“

„Wahrscheinlich ebenso wie wir, Hans. Irgendwie wurde sie in diesen Gang gelockt und stürzte in die Fallgrube. Wenn es so ist, hätten wir eine Erklärung dafür, daß jemand die Speere ent-fernt hat und an ihre Stelle Stroh packte.“

„Alles wegen Ellen Wangerow?“ zweifelte ich. „Man hätte sie auch einfacher entführen können und nicht erst unbekannte Gänge in Pyramiden zu suchen brauchen, eine Fallgrube um-bauen und das Mädchen hineinlocken. Was, wenn sie nicht hi-neingegangen wäre?“

„Es sind drei Mädchen verschwunden, Hans. Ich habe so ei-ne Ahnung, als wenn diese Fallgrube nicht nur Ellen Wange-rows wegen so eingerichtet wurde.“

„Du meinst eine Art Dauerbetrieb“, fragte ich und fröstelte bei diesem Gedanken, obwohl mir der Schweiß auf der Stirn stand.

„Weißt du eine andere Erklärung?“ fragte Rolf und ließ das Medaillon aufschnappen.

„Sieh einmal an“, sagte er erstaunt und hielt mir das Bild hin, das im Medaillon lag. Es war ein Foto Gerands, des Fahrers von Miß Wangerow.

„Romantische Liebe zwischen Millionärstochter und ihrem Fahrer“, sagte ich. „Das hilft uns leider nicht weiter.“

„Kaum“, nickte Rolf. „Es beweist nur, daß wir auf jeden Fall auf Ellen Wangerows Spur sind. Suchen wir weiter.“

Wir suchten den Boden ab, aber außer Löchern für Speer-schäfte, Stroh und Staub gab es dort nichts mehr zu finden.

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Dann kamen die Seitenwände an die Reihe. Wir durften keinen Zentimeter auslassen, denn irgendwo mußte dieses Verlies ei-nen Ausgang haben, außerdem gab es verhältnismäßig frische Luft hier und das verriet, daß diese Luft von irgendwo kommen mußte.

Ich hielt die Lampe und langsam wurden meine Handflächen feucht, als Rolf ergebnislos drei der Seitenwände abgesucht hatte. Fast sah es so aus, als wären wir ausweglos gefangen. Keine erfreuliche Vorstellung, einerlei, wer es nun sein mochte, der uns überlistet hatte.

Plötzlich stutzte Rolf. Seine Finger, die schon weitergetastet hatten, zögerten auf der rauhen Steinwand, tasteten vorsichtig hin und her. Dann preßte Rolf sein Gesicht gegen den Stein und nickte plötzlich.

„Hier dringt Luft ein“, sagte er leise. „Leuchte weiter, Hans. Wollen mal sehen, ob wir hier nicht weiterkommen.“

Rolf zog sein Messer aus dem Gürtel und zwängte die schmale Klinge in die Fuge zwischen zwei Steinen hinein. Das Messer verschwand bis ans Heft und Rolf sah mich vielsagend an. Alle anderen Fugen waren dicht, aber hier gab es Platz für eine Messerklinge und Luft strömte herein.

Als mein Freund die Fuge abgetastet hatte, gab es keinen Zwei-fel mehr: Ein großer Steinblock mußte locker sein! Rolf versuchte, ihn mit dem Messer herauszulösen, aber er schaffte es nicht.

Ich stellte die Lampe so ins Stroh, daß sie die Wand beleuch-tete, dann zog ich meine Pistole und schob sie mit dem Lauf über das Heft des Messers. Der Pistole würde es nicht sonder-lich gut bekommen, aber so hatten wir eine bessere Hebelwir-kung, als mit dem Messergriff allein, und wir konnten beide anfassen. Rolf am Griff und ich am Pistolenkolben. Wir zogen gleichzeitig und angestrengt, und ich hatte gerade das Gefühl als begönne der Stein sich millimeterweise zu bewegen, da rutschte die Pistole ab und das Messer fiel klirrend zu Boden.

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„Vorsichtig“, sagte Rolf beruhigend. „Wenn wir das Messer abbrechen, sitzen wir hier fest.“

Er schob das Messer wieder in den Spalt der Mauer, der wirklich ein paar Millimeter breiter geworden war und ich setz-te die Pistole wieder an. Und diesmal klappte es besser.

Langsam, ganz langsam bewegte sich der Sandstein und schwang herum, gab eine dunkle Öffnung frei.

Als wir ihn untersuchten, mußten wir feststellen, daß der große Steinblock auf einem ebenfalls steinernen Zapfen ruhte und sich unter erheblichem Kraftaufwand drehen ließ wie eine Tür. Dahinter zeigte sich im Strahl der Taschenlampe ein lan-ger, niedriger Gang und die Idee, ihn zu durchkriechen, war nicht sonderlich reizvoll, denn die Steintür hatte sich zwar schwer öffnen lassen, aber keineswegs so, als wäre sie das letz-temal zu Lebzeiten der Pharaonen benutzt worden!

Rolf kroch mit der Lampe voraus und ich folgte ihm und be-hielt dabei die Pistole in der Faust. Wir mußten auf Überra-schungen gefaßt sein und angenehme Überraschungen würden das nach den bisherigen Erfahrungen kaum werden. Rolf unter-suchte jeden Quaderstein, ehe er weiterkroch und mir Platz machte. Nach einer weiteren Fallgrube hatten wir beide kein sonderliches Verlangen.

Wenn dieser Gang später angelegt worden war, so stammte er wohl kaum aus der Zeit der Pharaonen, und wir hatten viel-leicht eine Chance, zu entwischen. Diese Fallen waren damals Hindernisse und Richtstätte der Grabschänder zugleich gewe-sen. Man kümmerte sich einfach nicht darum und wer hinein-stürzte, mußte elend verhungern und verdursten.

Plötzlich endete der Gang, und wir hatten ein zweites Ver-lies vor uns, in den Abmessungen etwa ebenso groß wie jenes, in das wir hineingestürzt waren. Nur gab es hier im Licht der Taschenlampe kein Stroh auf dem Boden, sondern nur glatte, saubere Granitplatten, auf denen kaum Staub lag. Und in der

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Mitte des Raumes ruhte ein riesiger, schlichter Steinsarko-phag.

„Verdammt“, sagte ich heiser vor Enttäuschung. „Sollten wir geradewegs in eine noch unbekannte Grabkammer gestolpert sein?“

„Ziemlich unwahrscheinlich“, meinte Rolf nachdenklich. „Nicht erforschte oder wieder vergessene Gänge mag es geben, aber Grabkammern, die den Wissenschaftlern bisher entgangen sein sollten und das ausgerechnet in den Pyramiden? Es kommt mir vor wie irgend eine Teufelei, deren Sinn wir noch nicht ken-nen. Sehen wir uns den Sarkophag mal näher an, komm, hilf mir!“

Rolf stellte die Lampe in eine Ecke, so daß sie den ganzen Raum erhellte, dann machten wir uns gemeinsam daran, den schweren Deckel des Sarkophags beiseite zu schieben. Er rutschte seitlich ab und Rolf ließ ihn fallen, ohne auch nur einen Versuch zu machen, es zu verhindern.

Das zeigte mir besser als lange Worte, daß er keinen Zweifel daran hatte, vor einem unechten Sarkophag zu stehen. Mit ei-nem echten, der zumindest für die Wissenschaft einen Wert gehabt hätte, wäre er kaum so rücksichtslos umgegangen.

Eine zweite Steinhülle wurde sichtbar, typisch für altägypti-sche Gräber, und als wir deren Deckel weggeräumt hatten, eine dritte. Erst als wir auch diesen Steinsarg öffneten, waren wir am Ziel und ich schrak zurück.

Mehr oder weniger hatte ich einen leeren Sarg erwartet, viel-leicht noch irgendeinen verrückten Mummenschanz. Aber da vor uns lag eine echte Mumie!

Ganz deutlich war sie zu erkennen, die Gesichtszüge so, als würde sie noch leben. Es war eine ägyptische Prinzessin mit großen, mandelförmigen Augen. Aber diese Mumie trug noch ihren gesamten Schmuck. Es schimmerte rotgolden im Licht, und blinkende Emaille reflektierte die Strahlen der Taschen-lampe.

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Und das war das Merkwürdigste an dieser ganzen Geschich-te. Dieser Schmuck mußte einen märchenhaften Wert haben, würde mit Tausenden von Pfunden aufgewogen werden. Aber er lag hier im Sarg irgendeiner Prinzessin. In einem Sarg, der mit Sicherheit unseren unbekannten Gegnern kein Geheimnis war, denn ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie uns sehr bewußt in diese Grabfalle gelockt hatten. Und nach dieser Überlegung zweifelte ich ebensowenig daran, daß dieser Schmuck eine billige Imitation war, die kaum helles Tageslicht vertragen dürfte.

Aber was sollte das alles? Rolf schien ähnliche Gedanken zu haben. Er zog sein Messer

und schnitt einige der Stoffstreifen auf, die den Kopf des Mäd-chens umhüllten. Ich holte die Taschenlampe, damit wir helle-res Licht hatten.

Und dann sah ich es: Das Messer in der Hand meines Freundes hatte nicht nur die

Stoffbänder zerschnitten, es hatte auch die Haut der Mumie ge-ritzt. Und an dieser Stelle sickerte ein Blutstropfen hervor.

Rolf fuhr ebenso zurück wie ich, als er es sah. Es war ein grauenhaftes Bild. Da lag eine Mumie, die nach drei Jahrtau-senden nur noch aus staubtrockenem uraltem Gewebe bestehen durfte und diese Mumie blutete nach einer ganz geringfügigen Verletzung.

Ich wagte kaum zu atmen, als Rolf sich vorbeugte und die Mumie berührte. Es schien mir, als zuckten seine Finger zu-rück, dann richtete er sich auf.

„Das ist unfaßlich“, stöhnte er entsetzt. „Einfach entsetzlich. Die Frau da lebte nicht vor dreitausend Jahren, Hans. Fast möchte ich behaupten, sie lebt jetzt noch!“

Mir ging etwas wie eine eiskalte Hand über den Rücken. Ei-ne lebende Mumie. Die geisterhafte Gestalt, die wir vorhin ge-sehen hatten, fiel mir ein.

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„Ja, aber …“ brachte ich nur hervor. „Die verschwundenen Mädchen, Hans. Hier haben wir ihr

Geheimnis gelöst.“ Mit eiligen Fingern riß Rolf die Stoffstreifen vom Gesicht

der Gestalt und nun sah ich es auch: Unter diesen Streifen war die Haut des Mädchens hell, nur die Partien, die der Stoff frei-ließ, waren tiefbraun eingefärbt.

„Faß sie an“, verlangte Rolf. Widerwillig berührte ich das Gesicht des unbekannten Mädchens und erlebte eine neue Über-raschung. Es war nicht kalt und tot. Sicherlich, es war auch nicht warm wie ein lebendes Gesicht.

„Sie lebt“, sagte ich leise. „Was sollen wir tun? Was ist mit ihr?“

Während der ganzen Zeit hatte das Mädchen sich weder be-wegt noch auch nur die Augen geschlossen oder die Blickrich-tung geändert.

„Es muß eine Art Starrkrampf sein“, meinte Rolf, „in den man sie versetzt hat. Sie ist nicht tot, aber sie reagiert auf nichts, was um sie vorgeht. Eine grauenhafte Geschichte. Ir-gend jemand ist durch diese Grabkammer auf diese teuflische Idee verfallen. Vielleicht hat er die echte Mumie schon gar nicht mehr vorgefunden oder hat sie vor Jahren verkauft. Und nun versucht er, dieses Geschäft mit jungen Mädchen zu ma-chen, verstehst du? Da er keine echten Mumien hat, besorgt sich dieser satanische Verbrecher falsche.“

„Irgendwelche reichen, privaten Sammler würden sicher eine Menge für eine Mumie zahlen.“

„Darum auch das Theater mit dem Sarkophag. Er hätte den Sammler nachts hierher gebracht und der Betrug wäre erst viel später herausgekommen, lange nach dem Tod des unglückli-chen Opfers.“

„Er muß irgendein unbekanntes Gift benutzen“, mutmaßte ich angeekelt.

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„Sicherlich irgendein ostasiatisches, uns unbekanntes Gift. Wir müssen das arme Geschöpf sofort aus ihren Bandagen be-freien, weiter können wir jetzt nichts für sie tun. Aber vielleicht hilft es schon, wenn die Blutzirkulation wieder besser in Gang kommt.“

Stumm und verbissen arbeiteten wir und es war nur ein Werk von wenigen Minuten, bis die Fremde keine Mumie mehr war, sondern nur noch ein bewußtloses junges Mädchen.

„Meinst du, daß sie am Leben bleibt?“ fragte ich Rolf. Der zuckte die Schultern.

„Wir können nicht mehr für sie tun, Hans. Jedenfalls solange nicht, wie wir selbst hier gefangen sind. Sie muß schleunigst in ärztliche Behandlung. Vielleicht kann ihr ein Arzt helfen, der sich mit diesen indischen oder chinesischen Giften auskennt.“

Das brachte meine Gedanken auf unsere Lage zurück. Wenn möglich, mußten wir jetzt noch dringender aus dieser Falle entwischen als vorher. Denn jetzt ging es nicht mehr nur um unser Leben, das oft genug in Gefahr war, jetzt ging es auch um das Leben dieses jungen Mädchens. Wir hoben sie aus dem Sarkophag heraus und betteten sie in einen Winkel des Raumes, dann kehrten wir durch den niedrigen Gang in das erste Verlies zurück. Wenn überhaupt, gab es nur hier eine Möglichkeit zu entkommen, in der Grabkammer selbst bestimmt nicht.

„Die Decke“, sagte Rolf und zeigte nach oben. „Wir müssen es versuchen.“

Ich stellte mich an die Wand, und Rolf kletterte auf meine Schultern. So konnte er mit den Fingerspitzen gerade bis an die großen Sandsteine der Deckenwölbung heranreichen und sie abtasten. Wir waren dort oben durchgebrochen, also mußte es eine Klapptür oder lose Steine dort geben.

Die Minuten rannen wie Ewigkeiten, und Rolf suchte weiter. Spalten und Risse gab es genug im Gestein und mehrmals zog er sein Messer, um es in diese Risse zu zwängen, aber jedesmal

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steckte er es nach ein paar Versuchen wieder zurück. Schließ-lich sprang er herab und schüttelte den Kopf, während ich mir die schmerzenden Schultern rieb, auf denen er solange gestan-den hatte.

„Nichts“, sagte er leise. „Die Fugen sind so eng, daß man nicht einmal eine Rasierklinge dazwischenschieben könnte. Es sieht nicht so aus, als ob wir hier wieder herauskommen könn-ten, wenn wir keine Hilfe von draußen bekommen. Laß uns das Mädchen holen, damit wir sie für alle Fälle bei uns haben und dann müssen wir eben warten. Irgendwann wird etwas gesche-hen. Ich glaube nicht, daß man uns hier einfach sitzen läßt und wartet, bis wir verhungert sind. Das würde zu lange dauern.“

Wir holten das bemitleidenswerte junge Mädchen ins Verlies und setzten uns dann mit dem Rücken zur Wand ins Dunkel. Die eine Taschenlampe, die den Sturz überstanden hatte, ließ in ihrer Helligkeit schon stark nach. Wir verlöschten sie, um den Rest ihrer Batterie zu schonen, falls wir sie nötiger brauchen würden, als eine Dunkelheit, in der nichts geschah, zu erhellen.

Wie Ewigkeiten tropften die Sekunden dahin. Das Dunkel la-stete um uns, ich starrte hinein und versuchte es zu durchdrin-gen. Das Dunkel war stärker als meine Augen. Manchmal taste-te ich zur Taschenlampe. Es war tröstlich zu wissen, daß sie noch da war, wenn wir sie auch vorläufig nicht benutzen woll-ten. Ich fragte mich unwillkürlich, wann wir sie benutzen woll-ten und ob es überhaupt eine Gelegenheit geben würde, sie zu gebrauchen.

Ich hätte nicht sagen können, wieviel Zeit vergangen war, als es ein leises, schlurfendes Geräusch über uns an der Decke des Verlieses gab. Vielleicht waren es Stunden gewesen, vielleicht nur Minuten.

„Still“, flüsterte Rolf neben mir. „Und laß die Lampe aus dem Spiel. Wir wollen uns nicht verraten. Auch nicht schie-ßen.“

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Das Schlurfen dauerte an, jemand bewegte wohl jenen Stein, der die Fallgrube so fest verschloß, daß wir keine Möglichkeit hatten, sie von innen zu öffnen.

„Hallo, da unten“, ertönte plötzlich eine dumpfe Stimme. „Wie fühlen Sie sich? Nicht sonderlich gut, möchte ich anneh-men. Denken Sie sich nichts dabei, es hat noch niemandem dort gefallen. Daß es keinen Ausweg gibt, werden Sie ja inzwischen herausgefunden haben, nicht wahr? Wir können Sie in aller Ru-he verhungern lassen.“

„Und was wird dann mit Ihrer künstlichen Mumie?“ rief ich böse. Es war dumm von mir und Rolf zischte warnend, aber es war zu spät. Oben murmelte jemand einen Fluch. Dann blieb es still. Endlich kam die Stimme wieder. Sie klang jetzt nicht mehr so selbstsicher wie vorher, schien mir eher nervös und ärger-lich.

„Hören Sie mich? Ich habe es mir überlegt. Vielleicht kön-nen wir ein Geschäft machen. Zahlen Sie uns ein Lösegeld von je tausend Pfund, dann lassen wir Sie frei. Ich hole mir Ihre Antwort später.“

Es gab ein seltsames Geräusch, das nicht von dem Steinde-ckel herrühren konnte. Irgend etwas rutschte an der Sandstein-wand entlang und plumpste in das Stroh, dann schloß sich der Deckel über uns.

„Tausend Pfund sind eine Menge Geld für uns, was?“ fragte ich.

„Besonders, wenn man sie für nichts und wieder nichts zahlt“, stimmte Rolf zu. „Oder meinst du, der Bursche da oben denkt auch nur einen Moment daran, uns laufen zu lassen mit dem, was wir über die falsche Mumie wissen? Kann er, sich gar nicht leisten. Hast du ihn übrigens erkannt. Ich meine die Stimme?“

Mir war diese Stimme aufgefallen, sie hatte mir irgendwie bekannt geklungen, aber nur so wenig, daß ich nicht zu

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bestimmen vermochte, wo ich sie schon gehört hatte und vor allem von wem.

„Denk an unseren neuesten Freund“, sagte Rolf leise. „Witboth?“ fragte ich ungläubig, aber im gleichen Moment

wußte ich, daß mein Freund recht hatte. Es war seine Stimme gewesen, wenn auch verstellt und durch die Akustik des alten Verlieses abgewandelt.

„Sollte er mit diesen Halunken gemeinsame Sache machen, Rolf?“

„Wenn er nicht sowieso zu ihnen gehört.“ „Aber die Lizenz“, warf ich ein. „Ich habe sie mir angesehen,

sie war in Ordnung.“ „Er wird kaum draufschreiben, wo er sie gestohlen hat und

wer sie dann für ihn fälschte. Aber horch, was ist das?“ Es gab ein leises, raschelndes Geräusch an der gegenüberlie-

genden Wand unseres Gefängnisses. Die lebende Mumie fiel mir ein und irgendwie sträubten sich mir die Nackenhaare. Na-türlich war es Unsinn, aber die Situation war auch für starke Nerven belastend genug.

„Ich hatte gleich das Gefühl, als ob er etwas herabgeworfen hätte“, hörte ich Rolf leise neben mir. „Hoffentlich irre ich mich, mir ist da ein Gedanke gekommen, der mir gar nicht ge-fallen will.“

„Denkst du an Ratten?“ fragte ich unsicher. „Hier gibt es keine Ratten, Hans. Sie wären längst verhun-

gert. Kannst du das Geräusch genau genug hören, um die Stelle, von wo es kommt, sofort im Lichtkegel der Lampe zu haben?“

„Ich denke schon“, nickte ich und richtete die Lampe auf das Geräusch, ohne sie einzuschalten. „Es muß dicht bei dem Mäd-chen sein an der gegenüberliegenden Wand.“

„Dann schalte ein“, sagte Rolf. Seine Stimme klang gepreßt und rauh.

Ich drückte den Schalter nach vorn und die schwache Hellig-

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keit der erschöpften Batterie blendete mich zunächst so stark, daß ich nichts erkennen konnte. Dann schälten sich die Wände aus der Helligkeit, das Stroh, auf dem wir lagen und das un-glückliche Mädchen, dem wir nicht helfen konnten.

Und dann berührte mich eine eiskalte Hand, als ich es richtig sah!

Neben dem Mädchen bewegte sich etwas, glitt über ihren Hals hinweg, richtete sich züngelnd auf. Ein kleiner Kopf mit böse schillernden Augen, einem weit geöffneten Rachen und gespaltener Zunge. Darunter ein breit geblähter Hals über ei-nem wiegenden Rumpf.

Eine Kobra! Jetzt konnte ich mir die Geräusche von vorhin erklären. Wit-

both – wenn er es wirklich gewesen war – hatte uns das Ange-bot mit dem Lösegeld nur gemacht, um zu übertönen, daß er die Schlange herunterwarf. Er hatte keinen Augenblick daran ge-dacht, uns wirklich freizugeben, aber als ich verriet, daß wir sein Geheimnis entdeckt hatten, stand fest, daß wir schnell ster-ben mußten. Witboth wußte ja, daß wir bewaffnet waren, er warf die Schlange herunter, um kein Risiko einzugehen, falls wir schießen würden.

Unwillkürlich hatte ich meine Pistole gezogen, und ich sah, daß auch Rolf seine Waffe in der Faust hielt und sich langsam aufrichtete.

„Wir können jetzt nicht schießen“, flüsterte er heiser. „Wenn die Kobra nicht sofort tot ist, wird sie das Mädchen beißen. Wir müssen sie erst weglocken. Ich werde aufspringen und sie auf mich ziehen, dann schießt du!“

Rolf richtete sich schon auf, und der geblähte Hals der Gift-schlange schwang herum in seine Richtung.

„Halt“, keuchte ich aufgeregt. „Um Gottes willen, halt! Mei-ne Pistole schießt bestimmt nicht mehr genau für eine solche Sache, nachdem wir sie als Brechstange benutzt haben!“

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Rolf ließ sich langsam zurücksinken. „Gib mir die Lampe“, verlangte er und die Kobra quittierte

es mit einem bösen Zischen und erregtem Pendeln ihres Halses. Ich reichte Rolf vorsichtig die Lampe hinüber. „Und nun springst du auf, Hans. Mach einen oder zwei schnelle Schritte auf die Schlange zu und spring dann zur Rückwand. Ich werde sofort schießen, wenn sie von dem Mädchen weg ist.“

Diesmal schob ich mich nun an der Hand hoch. Ich wußte, daß Rolf die Schlange mit Sicherheit treffen würde, aber sehr angenehm war die Sache deshalb noch lange nicht.

Die kleinen, tückischen Schlangenaugen verfolgten jede meiner Bewegungen, und ich hatte die blödsinnige Vorstellung, das Biest wüßte ganz genau, was ich vorhatte.

Und dann ging alles blitzschnell. Ich machte einen Schritt, noch einen, die Schlange bäumte sich hoch und schnellte vor, ich wollte ausweichen, stolperte und taumelte gegen die Wand. Zwei Schüsse peitschten, und dann fiel etwas kaum mehr als einen Meter von mir entfernt ins Stroh und zuckte in wilden Windungen.

„Das war ziemlich dicht“, sagte ich heiser und schob mich vorsichtshalber ein paar Meter von dem Schlangenleib weg, der sich streckte und dann ruhig lag. Rolf nickte und wir untersuch-ten die Schlange. Sie war wirklich tot und keine Gefahr mehr. Wir löschten das Licht und warteten weiter.

Die erste Untersuchung vorhin hatte uns deutlich genug ge-zeigt, daß wir keine Chance hatten, die schließenden Steine von innen beiseite zu schieben, wenn wir jetzt auch ungefähr wuß-ten, wo wir sie zu suchen hatten. Wir saßen wieder in der Dun-kelheit und lauschten angespannt, weil es sonst nichts gab, was wir unternehmen konnten. Ich überlegte, wann Witboth zurück-kommen würde, um zu sehen, ob die Schlange ihre Aufgabe erfüllt hatte. Er konnte es noch in dieser Nacht tun, aber er konnte ebensogut bis morgen warten, um so sicherer zu gehen.

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Jedenfalls war ich fest entschlossen, sofort zu schießen, wenn seine Stimme wieder von der Decke herabtönte. Vielleicht traf ich ihn nicht, aber ich würde es nicht länger aushalten, ihm ein-fach untätig zu lauschen.

Und plötzlich war wieder dieses schleifende Geräusch über uns. Jemand öffnete unser Steinverlies … Langsam und vor-sichtig zog ich die Pistole, die Taschenlampe hatte Rolf behal-ten.

Aber nichts geschah. Das Schleifen der bewegten Steine hat-te aufgehört, es war kein Schritt zu vernehmen, nicht einmal Atemzüge eines lauernden Feindes.

Dann flammte plötzlich Rolfs Taschenlampe auf und be-leuchtete die Decke. Unwillkürlich hatte ich die Pistole geho-ben und der Zeigefinger krampfte sich um den Abzug. Ich er-wartete, Witboths Gesicht zu sehen, aber da war kein Gesicht. Ein großer Quaderstein in der Decke hatte sich scheinbar gelöst und hing in den Raum hinein, als wäre er mit Scharnieren gehalten. Er gab eine dunkle Öffnung frei.

Vermutlich war das die Falle, durch die wir gestürzt waren. Aber diesmal sollte es wohl keine Falle sein, denn ein dünnes Seil hing aus dieser Luke herab und pendelte dicht vor uns. Blitzschnell griff Rolf dieses Seil und schwang sich empor. Ich hielt den Atem an, als er sich oben durch die Öffnung schwang. War es ein neuer Trick unserer Gegner, so würde mein Freund in jenem Moment, wenn er sich hinausschwang, fast völlig wehrlos sein, und ich konnte ihm von hier unten auch nicht zu Hilfe kommen.

Aber wieder geschah nichts. Ich sah den huschenden Licht-schein der Taschenlampe oben im Gang, dann tauchte Rolf in der Öffnung auf.

„Es scheint alles in Ordnung zu sein, Hans“, rief er mir zu. „Schnell, bring das Mädchen zum Seil, wir müssen sie als näch-ste heraufziehen. Ich kann dir nicht helfen, mein Guter. Du

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mußt allein fertig werden, denn ich muß die Luke hier bewa-chen. Wenn irgendwo noch einer von diesen Schuften lauert; wäre es ein Kinderspiel für ihn, uns wieder einzuschließen, wenn ich wieder hinunterkomme.“

Ich hatte gar nicht seine Erklärung abgewartet, sondern war schon zu dem Mädchen gelaufen, hob sie vorsichtig auf und trug sie zu dem Seil. Es war mir, als wäre ihre Haut wärmer als vorhin, aber sie lag immer noch steif auf meinen Armen, die blicklosen Augen zur Decke gerichtet. Vorsichtig schlang ich ihr das Seil unter den Armen durch, dann gab ich Rolf ein Zei-chen, er solle sie nach oben ziehen. Ich hatte es eilig, hier unten zu verschwinden, ehe sich die Lage durch irgend etwas Un-vorhergesehenes wieder komplizierte.

Rolf ließ sofort das Seil wieder herab, nachdem er oben un-seren bewußtlosen Schützling aus der Schlinge befreit hatte und ich turnte am Seil hoch, so schnell ich konnte.

Oben war das andere Ende des Seils geschickt um einen vor-springenden Stein des Ganges geschlungen. Irgend jemand hat-te schnell und gründlich für unsere Rettung gearbeitet, und ich hätte gern gewußt, wer es war und warum er so handelte. Im Sinne des Herrn Witboth und seiner uns noch unbekannten Kumpane war es jedenfalls bestimmt nicht.

Wir ließen uns nicht sonderlich viel Zeit, um durch den Gang zurückzuhasten, den wir vor Stunden in umgekehrter Richtung geschlichen waren; aber der voraufgehende Rolf untersuchte doch den Boden, damit wir nicht eine andere Teufelei übersa-hen und vom Regen in die Traufe kamen. Ich trug das Mädchen derweilen.

Nichts geschah, als wir den Gang verließen. Niemand unse-rer Gegner schien damit zu rechnen, daß wir aus unserem Ver-lies entkommen sein könnten, und ohne den unbekannten Hel-fer hätten wir es ja auch nicht geschafft.

Rolf kratzte mit dem Messer ein großes Kreuz neben den

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Eingang zu der Höhle. Wenn man diesen Gang später wieder verschließen würde, dieses Kreuz sollte uns immer die Stelle verraten, wo der Eingang zu suchen war, denn es schien ziem-lich sicher, daß wir noch einmal hier Untersuchungen anzustel-len haben würden, wenn wir erst einmal unseren Schützling in guter Pflege wußten.

Draußen sahen wir uns nach unserem Wagen um oder besser nach Ellen Wangerows Wagen, und wir fanden ihn auch nach einigem Suchen, wenn auch an einer anderen Stelle als an der, wo wir ihn zurückgelassen hatten.

„Fast habe ich es mir gedacht“, murmelte Rolf. Was er sich aber gedacht hatte, darüber schwieg er sich aus und nach dem eben Erlebten war ich nicht sonderlich neugierig darauf.

Kaum mehr als eine halbe Stunde später stoppten wir vor dem größten Kairoer Krankenhaus. Träger kamen mit einer Bahre, legten das Mädchen aus dem Königsgrab darauf, Ärzte bemühten sich um sie und Rolf kam ein paar Minuten später mit dem Chefarzt zu mir.

„Ich kann natürlich noch nichts Genaues sagen“, erklärte der Mediziner. „Aber auf jeden Fall hat die Patientin eine Chance, am Leben zu bleiben, wenn wir das verwendete Gift schnell bestimmen können. Ich habe schon nach unserem Toxikologen geschickt, damit er unverzüglich eine Analyse versucht. Ich tippe auf ein ostasiatisches Gift, von dem ich wiederholt gele-sen habe. Es erzeugt Starrkrampf, ist aber nicht tödlich, wenn der Vergiftete nicht allzulange in diesem Zustand belassen wird, so daß er praktisch verhungert oder verdurstet. Wie ge-sagt, hier haben wir noch eine Chance, soviel kann man auch nach flüchtiger Untersuchung schon sagen.“

Der Chefarzt sah auch ein, daß er vorläufig über seine neue Patientin absolutes Schweigen selbst gegenüber der Polizei wahren mußte, wenn nicht die beiden anderen verschwundenen Mädchen aufs höchste gefährdet werden sollten. Wir zweifelten

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nicht mehr daran, daß ihnen ein ähnliches Schicksal bevorstand wie dem jungen Mädchen, das wir eben gerettet hatten, aber ebensowenig Zweifel gab es daran, daß man sie einfach töten würde, um keine Zeugen zu hinterlassen, wenn vorzeitig be-kannt wurde, daß wir den Verbrechern auf die Spur gekommen waren.

4. Kapitel Rolf fuhr den Wagen zu jener Stelle, die er mit Gerand verabre-det hatte, um ihm den Wagen wieder zu übergeben. Natürlich war die verabredete Zeit längst weit überschritten. Gerand war nirgends zu entdecken und wir fuhren den schweren Wagen auf den Parkplatz des Hotels. Gerand würde ihn da ebensogut fin-den.

Viel Zeit zum Ausruhen blieb uns nicht mehr bis zum Tages-anbruch, aber wir legten uns trotzdem hin, um wenigstens ein bißchen zu schlafen, denn unsere nächtlichen Abenteuer waren nicht gerade sehr erholsam gewesen.

Zur gewohnten Zeit erschienen wir trotzdem auf der Ter-rasse, um das Frühstück einzunehmen, wenn ich auch zweifelte, daß es mir schon schmecken würde. Rolf hielt es für erforder-lich, daß wir so täten, als wäre überhaupt nichts Ungewöhnli-ches geschehen und er hatte sicher seine Absichten dabei, auch, wenn er nicht darüber sprach.

Wir hatten gerade unsere Plätze eingenommen, da tauchte auch Mr. Witboth auf. Er schien beste Laune zu haben, so, als liefen die Dinge, an denen er interessiert war, haargenau so, wie er es haben wollte. Uns hatte er noch nicht entdeckt und wir taten zunächst auch nichts, ihn auf uns aufmerksam zu machen. Erst als Witboth mit Behagen sein Ei löffelte, stand Rolf auf und ging zu dessen Tisch hinüber.

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„Guten Morgen, Mr. Witboth“, lächelte er spöttisch. „Ich hoffe, Sie hatten eine gute Nacht?“

„Wie? O nein … natürlich … besten Dank … aber wo kom-men Sie her?“

Er sprudelte das alles auf einmal und wirr durcheinander hervor. Sein weiches Frühstücksei fiel um und das Eigelb tropf-te auf seine Hose. Witboth merkte es gar nicht, so erschrocken war er.

„Aber Mr. Witboth“, grinste Rolf. „Warum so durcheinan-der? Wir waren doch für neun Uhr heute morgen verabredet, nicht wahr?“

„Natürlich“, gurgelte Witboth. „Ich weiß auch nicht, ich bin so nervös heute, völlig durcheinander, wenn Sie verstehen?“

„Verstehen wir“, sagte ich lächelnd. „Das geht den meisten Menschen so, wenn sie plötzlich jemand vor sich sehen, den sie glauben, ermordet zu haben, Witboth. Da haben schon ganz andere die Nerven verloren.“

Witboth wurde abwechselnd blaß und rot. Er wußte genau, daß wir ihn durchschaut hatten und überlegte fieberhaft, ob er noch eine Möglichkeit hatte, uns zu entkommen. Aber er war durch unser Auftauchen zu sehr durcheinander, um einen Aus-weg zu finden.

„Heute nacht warfen Sie mit Schlangen, Witboth“, höhnte Rolf. „Wollen Sie es jetzt nicht einmal mit einem weichgekoch-ten Ei versuchen? Vielleicht haben Sie dabei mehr Erfolg?“

„Sie Teufel!“ fauchte der Dicke und fuhr halb von seinem Tisch hoch. Seine so ungeschickt wirkende, patschige Hand fuhr blitzschnell in die Hosentasche.

Wir warteten nicht ab, wie sie wieder zum Vorschein kom-men würde, sondern handelten lieber. Rolf stieß Witboth in den Stuhl zurück, und ich schlug ihn hart aufs Handgelenk. Mit ei-nem entsetzten Stöhnen zog Witboth die Hand aus der Tasche, aber sie war leer. Was auch immer er herausziehen wollte, bei

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der Art Behandlung, die er durch uns erfuhr, hatte er es sich anders überlegt. Wahrscheinlich war das gut für ihn, denn ich hatte nicht vor, ihn besonders sanft zu behandeln nach dem, was er in der Nacht mit uns versucht hatte. Und Rolf dürfte es kaum anders gegangen sein.

„Aber doch nicht hier, Witboth“, sagte er spöttisch zu dem entsetzten Dicken. „Kommen Sie, wir gehen auf unser Zimmer, da unterhalten wir uns weiter.“

„Sie können nichts gegen mich unternehmen“, keuchte Wit-both, „Sie haben überhaupt keine Beweise.“

„Richtig“, nickte Rolf und hakte den Dicken unter, wie einen guten Freund, den man stützen muß. Ich machte es auf der an-deren Seite ebenso. „Aber wir haben da eine Mumie gefunden, Witboth. Es ist eine ganz seltsame Mumie, wissen Sie? Diese Mumie ist nämlich nicht dreitausend Jahre alt, sondern schät-zungsweise dreiundzwanzig. Aber das ist nicht der einzige Un-terschied. Viel wichtiger ist: Dieses ist die erste Mumie der Weltgeschichte, die lebt! Sie wird uns in ein paar Tagen erzäh-len können, wer ihr so übel mitgespielt hat. Und ich möchte gern, daß Sie dann dabei sind, Witboth. Es wird Sie bestimmt interessieren.“

Witboth schnaufte entsetzt, er wurde schneeweiß im Gesicht und wäre gestürzt, wenn wir ihn nicht gehalten hätten.

„Unserem Freund ist nicht gut“, sagte Rolf erklärend in der Hotelhalle. „Wir bringen ihn hinauf. Er muß in der nächsten Zeit ruhen. Warten Sie heute mittag nicht mit dem Essen auf ihn. Er wird keinen Appetit haben und wir kümmern uns schon um ihn.“

Dabei blinzelte er mir zu. Oben machten wir nicht viele Umstände mit Witboth. Mit

einem Lederriemen band ich ihm die Hände auf dem Rücken zusammen, und das andere Ende des Riemens verknotete ich mit dem Bettpfosten. Es würde nicht sonderlich bequem für den

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Dicken sein, aber für uns ziemlich sicher. Dann durchsuchten wir seine Taschen. Er hatte wirklich vorhin eine Pistole ziehen wollen, ich fand sie in der Hosentasche. Rolf machte inzwi-schen auch einen Fund, einen weit bedeutsameren sogar. Er zog einen Scheck über eine hohe Summe aus Witboths Brieftasche. Und dieser Scheck war unterzeichnet mit einem schwungvollen Namenszug, der lautete „Fra el Baru“.

Rolf pfiff durch die Zähne, als er gelesen hatte. „Also doch“, sagte er nur. Und dann nach einer längeren

Pause zu mir: „Gehen wir hin und sehen uns diesen Araber an. Er ist bekannt in der Stadt, jede Taxe wird seine Wohnung ken-nen. Den Scheck nehmen wir mit, Mr. Witboth wird sicher gern auf seinen Anteil an diesem Mumiengeschäft verzichten.“

Als wir unten durch die Halle gingen und der Portier auf Rolfs Zeichen eine Taxe herbeiwinkte, sah ich für einen Au-genblick jenen jungen Araber, der uns schon gestern abend beo-bachtet hatte. Ich machte Rolf darauf aufmerksam, aber im sel-ben Moment war der Junge auch schon verschwunden.

„Vielleicht hast du dich getäuscht, Hans“, meinte Rolf. „Man kann nach den Dingen der gestrigen Nacht schon etwas nervös sein. Und wenn nicht …“, er zuckte die Schultern, als wolle er sagen, es mache ohnehin keinen großen Unterschied. Für uns lag der Fall jetzt ziemlich klar und für die Polizei, die ja Be-weise brauchte, ehe sie gegen Menschen wie Witboth oder die-sen angesehenen Araber etwas unternehmen konnte, würde der Fall restlos klarliegen in jenem Moment, wenn das Mädchen aus der Pyramide soweit wiederhergestellt war, daß es sprechen konnte.

Auch wir hätten solange warten können und dann jede Ge-fahr für uns vermieden, aber das hätte bedeutet, daß Ellen Wan-gerow solange in Gefangenschaft bleiben würde, falls es ihr nicht noch schlimmer erging. Wir brauchten kein Wort darüber zu verlieren, daß so etwas für uns überhaupt nicht in Frage kam.

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Im Gegenteil, wir mußten alles riskieren, um gerade das zu ver-hindern und das Mädchen zu befreien, solange El Baru noch nicht wußte, was mit seinem Kumpan Witboth und dem armen Mädchen aus dem Verlies geschehen war und daß wir seine Pläne durchschaut und bereits durchkreuzt hatten.

Das Haus El Barus war ein wahrer Palast in einem großen Park. Wir ließen unser Taxi zunächst daran vorbeirollen, dann ein paar Grundstücke weiter anhalten und entlohnten den Fah-rer. Erst als der Wagen um die nächste Ecke verschwunden war, machten wir uns auf den Weg.

Aber dieser Weg führte uns nicht etwa zum pompösen Hauptportal, sondern durch ein paar kleine, aber saubere Ne-bengassen an die Rückfront des Palastes. Wir wollten El Baru besuchen, aber nicht so, wie man sonst einen Besuch macht. Das hätte dann doch etwas zu gefährlich sein dürfen.

„Ich möchte wissen, ob El Baru mit unserem Besuch rechnet“, murmelte Rolf, als wir die Rückfront seines Palastes musterten.

„Möglich wäre es schon, und wenn wir Witboth nicht in si-cherem Gewahrsam hätten, wäre es sogar sicher“, überlegte ich. „Vorausgesetzt, daß er mit der ganzen Geschichte zu tun hat.“

„Da bin ich ziemlich sicher, Hans. Ich denke, wir werden Miß Wangerow und wahrscheinlich auch das dritte der ver-schwundenen Mädchen in seinem Hause finden.“

„Dieser El Baru soll Einfluß auf die arabischen Kreise der Stadt haben, Rolf. Vielleicht hat er seine Leute im Hospital und auch im Hotel.“

„Man könnte es annehmen. Im Hotel hätte es sogar einen Sinn für ihn. Miß Wangerow wohnte dort und wenn ich nicht irre, die anderen Mädchen auch. Dann hätte er von seinen Spit-zeln dort von vornherein Hinweise auf diese Personen bekom-men.“

„Und auf uns“, grinste ich, aber ich war nicht glücklich da-bei.

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„Das auch“, gab Rolf zu. „Aber wir müssen es trotzdem ver-suchen, Hans. Denk an das Schicksal, das auf Miß Wangerow und die andere junge Dame wartet.“

Das war richtig, und wir brauchten darüber kein weiteres Wort zu verlieren.

Statt dessen musterten wir sorgfältig die Umgebung. Es war nichts Auffälliges zu sehen. Zwei schmale Türen führten durch die hohe Mauer ins Innere des Grundstückes. Wir versuchten die linke zuerst, sie war verschlossen. Wenn es die andere auch sein würde, hatten wir einige Schwierigkeiten zu erwarten, am hellen Tag über die hohe Mauer zu gelangen und einmal mehr wünschte ich, wir hätten Pongo bei uns gehabt.

Aber die rechte Tür war nicht verschlossen. Sie schwang leicht und geräuschlos auf, als Rolf die Klinke niederdrückte. Ich hatte ein unheimliches Gefühl, als wir so ohne Schwierig-keiten in ein Haus eindringen konnten, das nach unserer Mei-nung die Höhle des Löwen war, aber es half nichts, uns blieb kein anderer Weg.

Vorsichtig verschloß ich die Tür hinter mir wieder, um nicht den Weg unseres Eindringens zu verraten, während Rolf sich schon umsah. Die Tür hatte uns auf eine Art Wirtschaftshof geführt, dessen Seiten von Ställen und niedrigen Steinhäusern flankiert wurden, die dem Personal El Barus als Wohnung die-nen mochten.

Wir überquerten diesen Hof in Deckung eines langen Stall-gebäudes und betraten einen prächtigen, gepflegten Park, des-sen Rasen durch Springbrunnen und Wasserspiele unterbrochen wurde. El Baru hatte es sich wirklich recht hübsch eingerichtet, und einen Moment lang erschien mir der Gedanke absurd, in ihm einen Verbrecher zu sehen.

Das Haupthaus erreichten wir ohne große Schwierigkeiten. Der Araber hatte keine großen Sicherungsmaßnahmen ergrif-fen, wenn es in seinem Haus etwas zu verbergen galt, aber

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wahrscheinlich konnte er die auch gar nicht treffen, ohne ir-gendwelchen Argwohn zu erwecken.

Es gab mehrere Türen auf der Rückseite des palastartigen Hauses, aber wir verzichteten verständlicherweise darauf, sie zu benutzen. Schließlich waren wir ja alles andere als geladene Ehrengäste dieses Hauses, sondern im Gegenteil, ganz nüchtern betrachtet, Einbrecher.

Rolf mußte ähnliche Gedanken gehabt haben, und sein Ver-dacht gegen Fra el Baru mußte außerordentlich stark sein, wenn er solche Schritte für angezeigt hielt, wie wir sie nun unternah-men.

Er berührte mich an der Schulter und zeigte nach oben. Dort lief ein balkonartiger Vorbau mit geschwungenen Ziersäulen um das Haus herum, und einige der Bäume des Parks reckten ihre ausladenden Äste bis in unmittelbare Nähe der Balustrade. Einen einfacheren Weg konnte es für einen einigermaßen ge-schickten Mann kaum geben, ungesehen ins Innere des Hauses zu gelangen.

Es war das Werk weniger Sekunden, da hatten wir einen ge-eigneten Baum erstiegen und waren nach kurzer, vorsichtiger Umschau auf den Balkon hinübergeklettert. Wir mußten uns vorsichtig bewegen. Bunte Fliesen gaben diesem Balkon zwar ein wundervolles Interieur, aber sie ließen selbst vorsichtige Schritte hallen, als ginge man in einem Mausoleum. Dieser Bo-den war für weiche, arabische Sandalen gedacht, nicht für schwere europäische Schuhe.

Weit brauchten wir nicht zu gehen, da bot uns eine schmale, durch Gazeschleier überspannte Tür die Möglichkeit, in das Haus selbst zu schlüpfen. Die Pracht auf den Gängen entsprach ungefähr der Vorstellung, die man sich machte, wenn man den Park mit seinen Wasserspielen unten gesehen hatte.

„Wenn es hier das gibt, was wir suchen“, flüsterte Rolf leise, „dann werden wir im Erdgeschoß oder Keller suchen müssen.“

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Ich nickte nur und wir schlichen weiter. Die Treppe ins Erdgeschoß war eine Angelegenheit aus

Marmor, gut zehn Meter breit und mit flachen, nur allmählich ansteigenden Stufen. Es war Wahnsinn, als Eindringlinge in diesem Haus die Treppen zu benutzen, aber es gab keinen ande-ren Weg nach unten.

Zweimal machten wir einen Anlauf, über die flachen Stufen hinabzuhuschen, aber jedesmal mußten wir in Deckung zurück, wenn unten farbige Dienstboten auftauchten.

Beim dritten Anlauf klappte es endlich. Wir huschten hinab und verbargen uns zunächst unter den ausladenden Stufen, um uns erneut umzusehen. Wir kamen nicht mehr dazu, denn ein Schleiervorhang direkt gegenüber der Treppe wurde beiseite gezogen und ein Mann in wallendem, schneeweißem Burnus trat heraus. Ich erkannte ihn auf den ersten Blick, es war Fra el Baru.

Er kam lächelnd auf unser Versteck zu und blieb vor der Treppe stehen. Rolf zerbiß neben mir einen Fluch, ich hörte sein erregtes Atmen.

„Aber meine Herren“, sagte der Araber übertrieben höflich. „Seit wann verbergen sich Gäste eines arabischen Hauses unter der Treppe?“

Ich hätte den Kerl ermorden können, wie er da so spöttisch lächelnd vor uns stand, ganz Herr der Situation. Wir waren in sein Haus eingedrungen, und in arabischen Ländern ist das oh-nehin so etwas wie ein todeswürdiges Verbrechen. Und oben-drein hatten wir nicht die geringste Chance, etwas beweisen zu können, was die Verbindung dieses Arabers zum Verschwinden der Europäerinnen betraf. Eine teuflische Situation.

Rolf trat als erster hinter der Treppe hervor. Sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt und verriet nichts von seinen Gedan-ken. Aber ich bemerkte ein böses Flackern in seinen Augen. Man kann meinen Freund nur bis zu einem gewissen Punkt rei-

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zen, dann wird es sehr gefährlich, und El Barus Art hatte diesen Punkt sofort erreicht.

„Die Herren Torring und Warren, wie ich annehme“, sagte der Araber spöttisch. „Seien Sie willkommen im bescheidenen Haus Ihres untertänigsten Dieners, meine Herren. Ich bedaure aufrichtig die Mühe, der Sie sich unterziehen mußten, um mei-ne Gäste zu werden. Dabei standen meine Diener bereit, Sie am Hauptportal gebührend zu empfangen. Wirklich bedauerlich.“

„Auf eben diesen Empfang wollten wir verzichten“, knurrte Rolf heiser. Er hatte sich mit der Lage abgefunden und auf die höhnische Art El Barus eingestellt. Ich war noch nicht ganz so weit. Ich hätte mich noch immer am liebsten auf diesen lä-chelnden Araber gestürzt. Rolf merkte es und hielt mich mit einer winzigen Handbewegung zurück.

„Darf ich wissen, was Sie zu mir führt, meine Herren? Ich frage nicht, um Ihren Besuch abzukürzen, im Gegenteil, ich möchte nur meinen Gästen dienlich sein.“

„Wir interessieren uns für Mumien“, sagte mein Freund leichthin. „Für Mumien aus Königsgräbern, um genau zu sein.“

El Baru nickte. „Ein wirklich interessantes Gebiet, meine Herren. Sie teilen

dieses Interesse mit vielen großen Wissenschaftlern und vielen bedeutenden Sammlern. Und was kann ich in diesem Zusam-menhang für Sie tun? Sie wissen, wir Araber sind unseren Gäs-ten gern gefällig, sehr gern.“

„Vielleicht habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt“, sagte Rolf. Seine Stimme hatte jetzt die gleiche spöttische Überlegenheit wie anfangs die El Barus. Ich bemerkte, daß es der Araber verwundert zur Kenntnis nahm. Die Überlegenheit schwand aus seinem Blick und er musterte uns aufmerksam. Er witterte einen Trumpf, von dem er noch nichts Genaueres wußte.

„Wir interessieren uns nicht für Mumien schlechthin“, fuhr Rolf fort, „sondern nur für die Mumien ägyptischer Prinzessinnen.“

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„Das erschwert die Sache noch mehr“, sagte El Baru, aber seine Stimme hatte ihre Sicherheit Verloren. „Mumien befinden sich heutzutage nur noch im Besitz großer Museen und einiger weniger Sammler.“

„Ich dachte, es gibt immer einmal geheime Funde, die man unter der Hand erwerben kann?“

El Baru zuckte die Schultern. „Selten“, sagte er. „Höchst selten.“ „Das ist bedauerlich, dabei hatte man uns gerade an Sie ver-

wiesen, El Baru.“ „Wer?“ fragte der Araber schnell. Zu schnell, wie mir schei-

nen wollte. Dieser Mann war längst nicht so sicher, wie er tat. Wahrscheinlich wußte er, was wir planten und daß wir seine gefährlichsten Feinde waren, aber er wußte nicht, wieviel wir über ihn wußten und was.

„Ein Amerikaner aus unserem Hotel“, höhnte Rolf. „Mister Witboth heißt er. Sie werden ihn sicherlich kennen.“

„Ich lernte ihn wirklich kennen“, nickte El Baru. „Aber wo-her weiß er, daß ich eine Mumie hätte, die ich bereit wäre zu verkaufen? Solche Stücke sind enorm wertvoll, selbst wenn ich einen solchen Fund besäße, müßte ich mir lange überlegen, ob ich sie veräußern würde und zu welchem Preis.“

„Wieviel?“ fragte Rolf ganz sachlich. El Baru musterte uns wieder, dann sagte er lächelnd. „Zwanzigtausend Pfund, vielleicht auch dreißigtausend,

wenn es das wäre, was Sie suchten; vielleicht auch mehr.“ Rolf nickte. „Ich wollte nur wissen, wieviel ein solcher Fund wert ist.

Wissen Sie, El Baru, ich habe das Gefühl, die Mumien ägypti-scher Prinzessinnen sind gar nicht so selten.“

„Äußerst selten, Mr. Torring, äußerst selten.“ „Dann haben wir ja Glück gehabt, als wir heute nacht eine

davon fanden“, sagte Rolf scharf. „Sie ist sogar besonders sel-

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ten, denn sie lebt noch und kann sicherlich eine außerordentlich interessante Geschichte erzählen!“

El Baru wurde plötzlich unter seiner braunen Haut blaß. Sei-ne Augen weiteten sich und man konnte deutlich sehen, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten.

„Aber das ist noch nicht alles. Ich bin sicher, noch zwei wei-tere Funde machen zu können. Und wissen Sie wo? Hier in Ih-rem Haus, Sie elender Verbrecher!“

Mit einer blitzschnellen Bewegung zog Rolf seine Pistole aus der Tasche und richtete sie auf den Araber. Meine Waffe ließ auch nicht lange auf sich warten, und El Barus Hände fuhren wie abwehrend empor.

„Hände hoch“, verlangte Rolf. „Wir werden uns in diesem Haus umsehen, und Sie werden uns führen!“

Der Araber faßte sich überraschend schnell. Er verneigte sich, und wieder erschien das spöttische Lächeln in seinen dun-kelbraunen Augen.

„Aber meine Herren“, sagte er freundlich, „ich bewundere Ihren Mut. Wirklich, ich bewundere ihn. Aber ich bin tief be-kümmert über die Art, wie Sie mich einschätzen. Bitte, sehen Sie sich um!“

Rolf ließ El Baru nicht aus den Augen und die Richtung sei-ner Pistole war haargenau die gleiche wie die seiner Augen. Aber ich drehte mich langsam um. Wir hatten dieses Rezept schon zu oft ausprobiert, es schloß Täuschungsmanöver eines raffinierten Gegners ziemlich aus.

Ich mußte zweimal hinsehen, um zu begreifen, was mir mei-ne Augen da vermittelten. Das erste war eine Maschinenpistole, die auf uns zeigte. An sich machte sie jeden weiteren Gedanken schon überflüssig, aber das war es gar nicht, was so unwahr-scheinlich erschien. Das war vielmehr die Gestalt, die diese Maschinenpistole auf uns gerichtet hielt. Denn diese Gestalt war eine Mumie!

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Aber natürlich war es keine wirkliche Mumie. Jene geister-hafte Erscheinung fiel mir ein, die uns gestern in den beinahe verhängnisvollen Gang gelockt hatte. Es mußte derselbe Mann sein, der wie eine Mumie bandagiert herumlief.

Übrigens war es nicht der einzige, der uns bedrohte. Neben ihm stand ein junger Araber ebenfalls mit einer Maschinenpis-tole, und als ich sein Gesicht sah, wußte ich die Zusammenhän-ge. Es war jener junge Mann, der uns gleich im Hotel aufgefal-len war, als er uns verstohlen beobachtete. Daher wußte El Baru von unseren Absichten und war auf unseren „Besuch“ vorberei-tet gewesen.

„Erschrecken Sie nicht, Mister Warren. Hassim hat soviel mit Mumien zu tun, daß er es liebt, selbst als eine solche he-rumzulaufen.“

„Er wird für den Rest seines Lebens eine andere Kleidung tragen müssen“, knurrte ich. „Ich glaube nicht, daß man im Zuchthaus auf seine Marotte Rücksicht nehmen wird.“

„Da bin ich aber gar nicht sicher“, spottete El Baru. „Darf ich nun um ihre Pistolen bitten, meine Herren? Es täte mir leid, wenn ich Hassim befehlen müßte, zu schießen. Er würde es so-fort tun, verstehen Sie? Ich habe mich oft gewundert, wie skru-pellos er sein kann, wenn ich es so wünsche.“

Rolf blickte mich aus den Augenwinkeln fragend an. Ich zuckte die Schultern und warf meine Pistole El Baru vor die Füße. Im Augenblick hatten wir keine Chance, es sei denn, wir hätten eine Zielscheibe für zwei Maschinenpistolen abgeben wollen. Rolf warf ebenfalls seine Pistole fort, und El Baru lä-chelte uns strahlend zu.

„Sie sind sicherlich eine nette Unterhaltung wert, meine Her-ren“, grinste er ganz offen. „Das Dumme ist nur, daß Sie viel mehr wissen, als für Sie gut ist. Und für mich natürlich auch. Unwissenheit, so sagt man doch in Ihrem Land, schützt zwar nicht vor Strafe, aber sie ist in vielen Fällen weit gesünder.“

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*

Ich spürte instinktiv die Gefahr und wollte mich herumdrehen – aber es war schon zu spät. Irgend etwas krachte mit vernichten-der Wucht auf meinen Schädel und schon stürzend sah ich nur noch El Barus höhnisch verzerrtes Gesicht. Jemand hatte mich von hinten niedergeschlagen, und ehe ich das Bewußtsein ver-lor, sah ich noch, wie auch Rolf überwältigt und niedergeschla-gen wurde. Dann war alles schwarz um mich.

Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen war, als ich wieder zu mir kam. Ich begriff auch da noch nicht alles, was geschehen war. Ich wußte nur, daß ich irrsinnige Kopfschmerzen hatte. Und dann fielen mir die letzten Ereignisse ein, die ich bewußt erlebt hatte.

Danach sah es gar nicht rosig für uns aus, und das machte mich munter. Ich wollte mich aufrichten, aber das ging nur sehr schlecht. Schuld daran waren nicht nur die Schmerzen im Kopf, vielmehr die Tatsache, daß ich meine Hände nicht benutzen konnte, weil sie mir auf dem Rücken zusammengebunden wa-ren.

El Baru hatte uns schön in der Falle! Und diesmal sah es so aus, als wäre es endgültig … „Mister Torring“, rief eine leise Stimme. „Hallo, Mister War-

ren!“ Ich richtete mich mühsam auf, aber es war zu dunkel in die-

sem Raum, um etwas zu erkennen. „Was ist?“ fragte ich heiser, noch völlig benommen. „Gott sei Dank, daß Sie noch leben“, antwortete eine Stim-

me, die mir merkwürdig bekannt vorkam. „Wer spricht denn da?“ meldete sich Rolf. Seine Stimme

klang auch noch belegt, aber er schien nicht viel mehr Schaden genommen zu haben als ich.

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„Gerand“, antwortet die Stimme. „Wie kommen Sie denn hierher?“ wollte ich verdutzt wissen. „Das ist eine ziemlich dumme Geschichte“, antwortete es

wieder. „Im Grunde habe ich den gleichen Fehler gemacht wie Sie. Ich bin in dieses Haus eingedrungen und dabei überwältigt worden.“

Mir fiel das Medaillon ein, das wir in der Pyramide gefunden hatten. Miß Wangerows Medaillon mit dem Bild ihres Fahrers, der hier nun neben uns lag.

„Sie hätten mit uns sprechen sollen, Gerand“, sagte Rolf. „Sie haben zuviel riskiert.“

„Das weniger, Mister Torring, ich habe es nur ziemlich dumm angefangen.“

„Als Chauffeur haben Sie sehr viel Mut bewiesen, Gerand“, wollte ich ihn trösten.

„Als Fahrer vielleicht“, sagte Gerand bitter. „Aber als Detek-tiv habe ich mich nicht sonderlich mit Ruhm bekleckert.“

„Detektiv?“ fragte ich verblüfft zurück. „Ich heiße Flaming“, sagte er niedergeschlagen. „Frank Fla-

ming aus Chikago, beauftragt, Ellen Wangerow auf ihrer Welt-reise zu beschützen. Und bemüht, meine Verlobte vor jeder Ge-fahr zu bewahren. Ich habe glänzend versagt.“

„Gestern, als Sie uns aus dem Verlies befreiten, jedenfalls nicht“, sagte Rolf ruhig. „Das war eine großartige Sache, Frank.“

„Sie wissen, daß ich es war?“ „Ich habe den Tip mit dem an anderer Stelle parkenden Wa-

gen jedenfalls so ausgelegt.“ „Ich hatte es mir so gedacht, aber das hilft uns nicht weiter.

Wir sitzen böse in der Patsche!“ „Wissen Sie, ob Miß Wangerow hier gefangengehalten wird?“

wollte ich wissen. „Mit Sicherheit“, antwortete Frank Flaming alias Gerand.

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„Ich habe dieses Haus seit gestern beobachtet und glaube sogar zu wissen, daß Ellen Wangerow hier im gleichen Keller gefan-gengehalten wird wie wir. Ich habe nur nicht bemerkt, daß auch ich beobachtet wurde.“

„Wir auch nicht“, sagte Rolf. „Aber ruhig, hören Sie nichts?“ Wir lauschten in die Dunkelheit und wirklich waren Schritte

zu hören, die schnell näher kamen, dann öffnete sich knirschend eine Tür und Licht flammte auf.

Es war El Baru, der nach seinen Opfern sehen wollte. Er be-trachtete uns nacheinander und überprüfte dabei unsere Fesse-lung sorgfältig. Er wollte kein Risiko eingehen.

„Eine nette Versammlung“, stellte er höhnisch fest. „Sie sit-zen hier und niemand wird mehr meine Pläne stören. Es ist alles ganz einfach, wenn man es richtig anfängt, nicht wahr?“

„Bestimmt“, spottete Rolf. „Nur haben Sie es ziemlich falsch angefangen, El Baru. Sie haben zwar uns überwältigt, aber das verstärkt die Gefahr für Sie nur. Einmal wird man uns suchen.“

„Aber doch nicht hier“, spottete El Baru. „Und zum anderen wird jenes Mädchen, das Sie für Ihren

teuflischen Plan ausgesucht hatten, in ein oder zwei Tagen ihre Aussagen machen können. Und man wird Ihren Kumpan Wit-both schon finden und verhaften. Wir haben ihn unschädlich gemacht, ehe wir hierher kämen. Ihr Spiel ist aus, El Baru, und Sie haben es verloren.“

Einen Moment schwieg der Araber betroffen, dann kam ein böses Flackern in seine Augen.

„Eine Beschuldigung von einem Mädchen, das unter Gift-einwirkung steht, ist kein Beweis“, zischte er. „Und Witboth weiß viel zu wenig, um wirklich gefährlich werden zu können. Aber Sie haben Ihr Todesurteil gesprochen, Ihr eigenes Todes-urteil. Ich hatte schon überlegt, wie ich Sie loswerden könnte, ohne daß Sie für meine Pläne gefährlich werden würden. Ich hätte daran gedacht, Sie als Sklaven in den Sudan zu verkaufen.

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Sie sind alle drei gesund und stark, es wäre kein schlechtes Ge-schäft geworden. Aber das ist jetzt zu riskant.“

„Wie wäre es, wenn Sie uns auch als Mumien herrichteten“, höhnte Rolf. „Vielleicht als Ramses oder Tut-anch-Amon?“

El Baru fletschte böse die Zähne, er trat blitzschnell zu Rolf hinüber und schlug ihm ins Gesicht. Rolf lachte nur, El Baru hatte deutlich genug gezeigt, daß er drauf und dran war, die Be-herrschung zu verlieren und das war der einzige Schaden, den wir ihm im Moment zufügen konnten.

„Ich habe eine viel bessere Idee“, knurrte er böse. „Eine Idee, die euch verdammt unangenehm werden wird und mich wun-derbar aus der Klemme bringt.“

„Das möchte ich aber gern hören“, mischte sich jetzt auch Flaming ein. „In Ideen sind Sie doch ganz groß, El Baru. In dreckigen Ideen wenigstens.“

„Nun stört ihn doch nicht immer“, rief ich. „Es fällt ihm oh-nehin schon schwer genug, seinen Hals aus der Schlinge zu zie-hen. Mörder werden doch hier gehängt, oder?“

Diesmal traf mich der Zorn des Arabers. Er trat nach mir, ich konnte gerade noch das Gesicht abwenden, so daß mich sein Schuh nur an der Schulter traf. Es schmerzte trotzdem heftig.

„Feuer hinterläßt keine Spuren“, fauchte der Araber. „Wenn man überhaupt etwas von euch findet, dann höchstens verkohlte Skelette, denen niemand ansehen wird, daß sie von weißen Schnüfflern und diesen verdammten Mädchen stammen.“

„Sie Teufel“, knirschte Flaming. „Machen Sie mit uns, was Sie wollen, aber Sie können doch nicht die Mädchen verbren-nen lassen!“

„Sie werden sich wundern, was ich alles kann“, höhnte der Araber, dann verschwand er, und es wurde wieder dunkel und still. Keiner von uns sagte etwas, aber ich war sicher, daß die beiden anderen ebenso wie ich verzweifelt daran arbeiteten, die Fesseln von den Gelenken zu streifen.

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Es schien unmöglich. Wahrscheinlich hatte uns dieser Has-sim, diese herumlaufende Mumie, gefesselt, denn ich spürte an den Handgelenken schmale, feste Stoffstreifen, die sich bei je-der Bewegung tief in die Haut eingruben. Erst als der Schmerz unerträglich wurde, hörte ich auf. Die Fesseln hatten sich um keinen Zentimeter gelockert.

Rolf mußte es ebenso gehen, ich hörte ihn dicht neben mir schwer atmen.

„Was ist eigentlich mit diesem Witboth?“ fragte er während der Ruhepause, die die Schmerzen der aufgescheuerten Gelenke erzwangen. „Und wie kommt er zu einer Lizenz auf Ihren Na-men?“

„Ich vermißte das Dokument gleich nach Antritt der Reise“, rief Flaming herüber. „Der Schuft muß mir gefolgt sein und es irgendwann gestohlen haben. Vielleicht war er auf dem glei-chen Schiff. Er brauchte dann nur noch die Bilder auswechseln und die Daten zu ändern. Kein Problem für einen Verbrecher wie ihn.“

„Sie kennen ihn, Frank?“ wollte ich wissen und spannte schon wieder die Muskeln probeweise an. Es tat scheußlich weh und ich ließ es wieder.

„Von drüben schon. Der Bursche stand schon lange im Ver-dacht, mit Rauschgiften zu handeln. Als ihm der Boden zu heiß wurde, verschwand er. Ich möchte wetten, daß dieser Fra el Baru sein Lieferant ist. Woher sollten sich die beiden sonst kennen?“

Die Erklärung erschien mir sehr einleuchtend, aber es war keine Zeit mehr, jetzt darüber zu diskutieren. Plötzlich begann die Luft nach Rauch zu riechen.

El Baru hatte begonnen, seinen scheußlichen Plan in die Tat umzusetzen. Wenn er seinen Palast niederbrannte und wir uns nicht befreien konnten, ehe die Decken einstürzten, würde nie-mand uns je identifizieren können und dieser satanische Ver-brecher ging frei aus.

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Wütend stemmte ich die Handgelenke gegen die Fesseln, zerrte und riß. Mit dem einzigen Erfolg, daß die Bänder tief ins Fleisch einschnitten und mir das Blut über die Gelenke lief. Dieser Hassim verstand wirklich sein Handwerk, und ich fiel wieder erschöpft zurück.

Der Brandgeruch wurde stärker, und einmal war es mir so, als hörte ich schon das Prasseln der Flammen. El Baru schien ganze Arbeit leisten zu wollen.

Plötzlich gellte unweit von uns der Entsetzensschrei einer Frau! Er ließ uns das Blut in den Adern stocken. Die Mädchen! Sie mußten hier unten wie wir gefangen und halb wahnsinnig vor Angst sein.

Frank Flaming fluchte wild und Rolf keuchte neben mir vor Anstrengung, die Fesseln zu lösen.

Und ich spannte wieder verzweifelt die Muskeln an, küm-merte mich den Teufel um das schmerzhafte Einschneiden. Wenn wir nicht bald freikamen, waren wir verloren und die ar-men Opfer dieses teuflischen El Baru mit uns!

Und plötzlich hatte ich das Gefühl, als ob sich die Bänder über meinen Gelenken lockerten. Ich konnte erst die eine Hand ein wenig drehen, dann auch die andere. Und schließlich konnte ich eine Hand aus den Schlaufen ziehen.

Das Blut, schoß es mir durch den Kopf. Dieser Hassim hat seine Stoffstreifen als Fesseln benutzt und die Nässe des Blutes aus den zerschundenen Gelenken hat den Stoff geschmeidig gemacht!

Ich zerrte gerade an den Fußfesseln, als auch Rolf sich be-freite, ihm war es anscheinend ebenso ergangen wir mir. Es wurde höchste Zeit, denn nun hörten wir das Heulen und Prasseln der Flammen ganz deutlich, auch wenn es immer wieder von den Entsetzensschreien der Mädchen übertönt wurde.

Als wir die Füße frei hatten, war es eine Kleinigkeit, Frank

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Flaming aus seinen Fesseln zu lösen. Und nun waren wir alle drei frei. –

Die schwere Holztür war unser nächstes Hindernis. Wir ver-suchten sie mit den Schultern einzurennen, aber sie hielt stand! Sie hielt auch stand, als wir gemeinsam gegen sie anrannten und benommen von der Wucht des Anpralls zurücktaumelten. So ging es nicht.

„Die Pritsche“, keuchte Rolf. „Wir müssen sie als Ramm-bock nehmen.“

Ich erinnerte mich dunkel, daß Flaming auf einer rohgezim-merten Holzpritsche gelegen hatte, während man Rolf und mich einfach auf den rauhen Fußboden geworfen hatte.

Alle drei faßten wir die Pritsche und rammten sie gegen die schwere Holztür.

Einmal, zweimal, ein dutzendmal und öfter. Die Bretter der Pritsche zersplitterten, die Splitter zerrissen unsere Hände, wir achteten nicht darauf. Neuer Anlauf, wieder rammte das zerfa-sernde Bettgestell gegen das zitternde Holz der Tür. Draußen heulten Sirenen von Feuerwehrwagen, aber niemand würde uns hier im Keller suchen. El Barus Plan schien seine grausigen Früchte tragen zu wollen!

Und dann endlich löste sich die erste Bohle aus der schweren Tür, zerbröckelte regelrecht unter den pausenlosen Rammstö-ßen dreier verzweifelt kämpfender Männer. Der eindringende Rauch nahm uns fast den Atem und deutlich flackerte der Feu-erschein draußen. Der ganze Palast mußte schon in hellen Flammen stehen!

Weiter rammte unsere Pritsche gegen die Bohlen der Tür. Die Luft wurde uns knapp, der eindringende Rauch ließ uns keuchen und der Schweiß stand uns auf der Stirn.

Nebenan gellten noch immer die Schreie der Mädchen und spornten uns zur Hergabe der letzten Kräfte an. Irgendwo im Palast würden jetzt Männer der Feuerwehr gegen die Flammen

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kämpfen, aber sie würden das nicht im Keller tun, wo wir ein-gesperrt waren. Wenn sie bis hierher vorstießen, war es längst zu spät für uns!

„Weg da!“ keuchte Frank Flaming. Er stürzte vor, preßte sich in die Öffnung, die wir in das massive Holz geschlagen hatten. Zentimeterweise schob er sich weiter, seine Kleidung zerriß an den zersplitterten Kanten.

Aber Frank schaffte es, er preßte seine Schultern durch das Loch und dann griffen seine Arme nach oben. Endlose Sekun-den zerrte er verkrampft jenseits der Tür an etwas, dann öffnete sich schlürfend der Riegel und die Tür pendelte auf.

Flammen schlugen uns entgegen, selbst hier unten brannte schon alles!

Wir hetzten durch den Rauch, der uns die letzte Luft nahm. Rechts eine Tür. Ich riß sie auf. Nichts! Rolf ließ die linke Tür fahren. Wir mußten die Mädchen in Sekunden finden, sonst waren wir alle verloren.

Frank Flaming schrie auf, als er die nächste Tür aufstieß. Und dann sahen wir es auch. In einem kleinen Kellerraum waren die beiden Mädchen eingesperrt. Ellen Wangerow starrte uns ent-gegen. Sie kniete neben einem anderen Mädchen, das reglos am Boden lag, dichter Qualm wölkte durch den Raum und über-deckte die Szene wie ein Schleier.

„Frank!“ schrie Ellen Wangerow. Aber es war keine Zeit für Begrüßungsszenen. Frank Fla-

ming stützte Ellen und ich riß das bewußtlose Mädchen vom Boden hoch. Rolf hastete schon voraus, versuchte uns einen Weg durch Flammen und Feuer zu bahnen.

Die nächsten Minuten waren ein Weg durch die Hölle. Wir torkelten und liefen, verbrannten uns die Hände und keuchten verzweifelt um jedes winzige Quentchen Atemluft. Ein paarmal schon hatte ich schwankend Halt suchen müssen und noch im-mer rasten Flammen um uns.

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Irgendwo brachen prasselnd brennende Balken von einer De-cke herab. Ich bemerkte es nur wie weit entfernt und als ob es uns gar nichts anginge.

Und plötzlich waren andere Gestalten da, wie Kobolde durch Rauch und Flammen tanzend. Urweltliche Gestalten mit riesi-gen Augen. Es dauerte Sekunden, ehe wir begriffen, daß es Feuerwehrmänner mit Rauchmasken und Helmen waren. Ir-gendwie mußten sie bemerkt haben, daß noch Menschen in den Flammen waren. Hilfreiche Hände ergriffen uns, stützten uns, zeigten uns den Weg aus der lodernden Hölle. Nach Atem rin-gend, torkelten wir ins Freie. Dann war alles vorüber. Um uns war der Park mit den Wasserspielen, die grünen Bäume, ge-pflegter Rasen. Nur schwach hörten wir noch das Heulen und Fauchen der Flammen.

Eine Gruppe von Männern stand beisammen. Ich erkannte Polizeiuniformen, und Frank Flaming schrie plötzlich etwas und rannte los.

Eine Gestalt löste sich aus der Gruppe, ein weißer Burnus flatterte.

El Baru! Er war seiner Sache zu sicher gewesen und ruhig am Tatort

geblieben. Das sollte sein Verhängnis werden. Erstaunt standen die Männer herum, die sich eben noch mit dem einflußreichen Araber unterhalten hatten. Er wäre vielleicht noch entkommen, denn der erschöpfte Frank Flaming hatte nicht die Kraft, den Araber einzuholen. Aber Franks Haß auf diesen Mann, der sei-ner Verlobten ein grauenhaftes Schicksal bereiten wollte, war stärker.

Als er sah, daß er keine Chance hatte, El Baru einzuholen, stürzte er auf einen der farbigen Polizeiposten zu, riß dem fas-sungslosen Mann den Karabiner aus den Fäusten und dann peitschte ein Schuß.

Eine unsichtbare Faust schien die weiße Gestalt El Barus zu

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treffen. Er stolperte vorwärts, drehte sich zu uns zurück und brach zusammen. Frank Flaming gab ruhig das Gewehr an den Posten zurück, und der Rest war ein Wirbel von Fragen, die wir nicht mehr begriffen und Antworten, mit denen die Frager nichts anfangen konnten.

Am nächsten Tag brachten die Zeitungen die sensationelle Nachricht, daß der amerikanische Detektiv Frank Flaming den Fall der verschwundenen Mädchen geklärt und den Haupttäter, bekannt als Fra el Baru, erschossen hatte, als dieser zu fliehen versuchte, nachdem er seine scheußlichen Taten mit dem Ver-such eines mehrfachen Mordes gekrönt hatte. Seinen Kompli-cen und Zutreiber verhaftete man in einem Hotel.

Rolf hatte es vermieden, daß man unsere Namen in den Pres-semeldungen erwähnte, wir wollten nicht, daß unsere Teilnah-me an diesem Abenteuer bekannt wurde.

Es war auch besser so, denn schon am nächsten Tag mußten wir uns von einigen glücklichen Menschen verabschieden, als unverhofft unser Pongo mit einer Nachricht von Kapitän Hoff-mann auftauchte. Der gute Kapitän schrieb uns, wir würden von einem Mann erwartet, der uns dringend sprechen wolle.

„Er gesagt, wichtig sein“, erklärte Pongo. „Massers schnell hinreisen.“

Wir machten uns umgehend auf den Weg. Was uns in Alex-andrien erwartete, schildert der nächste Band 215:

„Im Innern der Erde“

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Fortsetzung von der 2. Umschlagseite

Man überholt rechts oder links, wie es gerade am besten klappt. Man wendet mitten im dichten Straßenverkehr, ohne daß ein motorisierter Verkehrsteilnehmer oder ein Fußgänger zu schimpfen beginnt. Man schert rechts und links aus, ohne den Winker herauszuwerfen oder ein Handzeichen zu geben. Und doch läuft alles wie am Schnürchen.

Wenn nach dem Krieg die Wagen amerikanischer und briti-scher Firmen das Straßenbild fast ausschließlich beherrschten, so sind mit den Jahren die italienischen und vor allem die deut-schen Wagen immer häufiger geworden. Mercedes, DKW, Opel und vor allem den zwischen den amerikanischen Straßen-kreuzern ungemein klein wirkenden VW sieht man am häufigs-ten. Die deutschen Wagen stiegen an Zahl sprunghaft in die Höhe, als die deutschen Firmen in Kairo eigene Reparaturwerk-stätten und Kundendienste eingerichtet hatten.

In den großen Ladenstraßen, deren Geschäfte zum überwie-genden Teil Ausländern gehören, unter denen die Griechen und die Franzosen den anderen der Zahl nach den Rang abgelaufen zu haben scheinen, protzen die schreienden Reklamen und die üppig und auffällig dekorierten Schaufenster. Man sucht einan-der zu überbieten, zu überschreien. Bewegliche Schaufensterre-klamen oder Girls, die irgend etwas vorführen, in den Schaufens-tern sind keine Seltenheit. Nachts herrscht die buntfarbige Neon-reklame, die vielfältiger und schreiender wirkt als auf dem Berli-ner Kurfürstendamm oder auf der Reeperbahn in Hamburg.

Bazarstraßen gibt es in rein orientalischer Art nur noch in den Eingeborenenvierteln und in den billigen Wohngegenden, die den Negern vorbehalten sind. Zahlreiche ambulante Händler mit Verkaufskarren oder Bauchladen aber sind auch im Zent-rum anzutreffen. Die Polizei sieht sie nicht gern, aber sie schrei-tet nicht dagegen ein.

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Keinem Polizisten fällt es auch ein, daran Anstoß zu nehmen, daß auf den Trittbrettern der am Tage übervollen Straßenbah-nen mit Anhängern, die in sehr kurzen Abständen verkehren, Menschentrauben hängen. Wie der kassierende Schaffner bei solcher Überbesetzung keinen Fahrgast übersieht und jeden da-zu bringt, den nicht hohen Fahrpreis zu entrichten, erscheint dem Europäer wie ein Wunder.

Gaststätten gibt es „in rauher Menge“. Man kann in italieni-schen Fischküchen, in chinesischen Lokalen, in Ägyptern gehö-renden Schnellrestaurants amerikanischen Musters gut und bil-lig essen. Noch vor wenigen Jahren mag es bei der Zubereitung der Speisen nicht immer mit peinlicher Sauberkeit zugegangen sein. Das ist wohl der Grund dafür, daß viele „bessere“, moder-ne Gaststätten dazu übergegangen sind, den Gast miterleben, durch Glasscheiben mitansehen zu lassen, wie die Speisen zu-bereitet werden.

Kinos gibt es an jeder Straßenecke des Zentrums. Neben den Streifen der sich immer mehr in den Vordergrund schiebenden ägyptischen Produktion, sind amerikanische Wildwest- und englische Kriminalfilme neben den italienischen Massen-Ausstattungsfilmen am beliebtesten. – ao? –

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