1.
Die Strahlen der untergehenden Sonne spiegelten sich
in den kupfernen Kuppeln und den goldenen Dächern
der Stadt am Por: Eskis, die myranische Stadtprovinz,
die nur einen Tagesmarsch von der südlichen Grenze
des Amazonenreiches entfernt lag, glich mit ihren
hohen Mauern einer Festung.
Dragons Heer, das sich aus Zuntern,
Katmahzari-Kriegerinnen, Urgoriten und Überläufern
der myranischen Armee zusammensetzte, lagerte rund
um die Stadt in den Wäldern, auf den saftigen
Weidegründen und an den Ufern des Por.
Eskis war eingekreist; die Belagerung dauerte nun
schon drei Tage an – seit Dragons Vorhut eingetroffen
war –, aber die Eskiser ließen alle Aufrufe zur
Übergabe unbeantwortet.
»Es ist mir unverständlich, warum sich gerade diese
Stadt nicht ergibt«, sagte Dragon, während er an der
Spitze einer zwanzigköpfigen Reiterschar auf die
hochaufragenden Festungsmauern zuritt.
»Wenn du dich endlich dazu entschließen könntest,
Eskis stürmen zu lassen, wäre die Stadt beim
Morgengrauen in unseren Händen«, behauptete
Partho, der zu seiner Linken ritt.
Dragon schüttelte den Kopf und starrte zu den
Zinnen und Wehrtürmen der Stadtmauer hinauf.
Dort waren winzige Gestalten zu sehen, in weite
Umhänge gehüllte Fackelträger. An ihnen war keine
Bewegung festzustellen, sie verhielten sich so reglos,
als wären sie aus Stein gehauene Statuen. Aber es
waren Menschen aus Fleisch und Blut, und von ihnen
stammte der Singsang, der weit über das Land bis ans
Ende des Heerlagers hallte.
»Die Katmahzari werden nicht mehr verhandeln«,
erklärte Agrion, die ihren Schimmel auf Dragons
andere Seite gebracht hatte.
Die ehemalige Sklavin und Trägerin des
geheimnisvollen Mondringes hatte in den vergangenen
Monden eine große Wandlung durchgemacht. Seit sie
von den Amazonen als Nachfolgerin ihrer Königin
erkannt worden war, nahm sie deren Gewohnheiten
immer mehr an und war nun bereits durch und durch
eine Katmahzari.
Dragon warf ihr von der Seite einen Blick zu und
stellte fest, daß ihr Gesicht verkniffen war.
»Wir dürfen nichts überstürzen«, sagte er. »Oder
muß ich dich erst daran erinnern, daß Prinzessin Jnessa
und dreißig ihrer Kriegerinnen von den Eskisern
gefangengenommen wurden? Wir können ihr Leben
nur auf dem Verhandlungswege retten.«
»Jnessa würde lieber sterben als zulassen, daß wir
um ihr Leben betteln«, entgegnete Agrion würdevoll.
Dragon zuckte die Achseln. Es gab Zeiten, da war
mit Agrion einfach nicht vernünftig zu reden. Er
konnte froh sein, daß sie zugestimmt hatte, ihre
Kriegerinnen bis nach diesen Verhandlungen
zurückzuhalten. Aber wenn die Eskiser weiterhin bei
ihrer unnachgiebigen Haltung blieben, dann durfte er
nicht erwarten, daß die viertausend Kriegerinnen
weiterhin untätig bleiben würden.
»Cosal!«
Auf Dragons Ruf kam ein Reiter herangeprescht. Er
war groß und schlank, ohne jedoch schwächlich zu
wirken. Dragon hatte den Myraner, der sich nach
König Zogors Tod den Urgoriten angeschlossen hatte,
kämpfen gesehen und wußte, welche Kraft in seinen
Armen wohnte.
Cosal trug ständig ein verwegen geschlungenes
Tuch um den Kopf, das seinen kahlen Schädel vor den
sengenden Sonnenstrahlen schützen sollte. Sein
knochiges Gesicht mit den tief in den Höhlen liegenden
Augen wirkte wie das Antlitz eines Toten – von der
linken Schläfe zog sich eine breite Narbe bis hinter das
Ohr, die rot leuchtete, wenn er in Wut geriet. Wenn er
grinste, ob belustigt oder spöttisch, verzerrte sich sein
Gesicht zu einer schrecklichen Fratze.
Der Myraner drängte während des Reitens sein
Pferd zwischen Partho und Dragon.
»Ja?« sagte er nur, als er sich an Dragons Seite
befand.
Dragon deutete mit dem Kinn in Richtung der Stadt
und fragte:
»Was, glaubst du, wird man von uns für die
Freilassung der gefangenen Kriegerinnen verlangen,
Cosal?«
Cosal warf Agrion einen schnellen Blick zu. Als er
Dragon schließlich antwortete, war sein Gesicht
ausdruckslos.
»Ich habe einige Eskiser unter meinen Leuten, die
die grausamen Bräuche ihrer Kultpriester nur all zu
genau kennen. Sie glauben nicht, daß man die
Kriegerinnen am Leben lassen wird.«
»Aber aus welchem Grund hat Hoherpriester
Trazyn einen Boten zu uns geschickt?« wollte Dragon
wissen.
»Vielleicht möchte uns Trazyn, die Spinne, ein
Schauspiel bieten«, meinte Cosal und sah Dragon fest
in die Augen.
Dragon wandte sich von dem Mann mit dem
Totenschädel ab und blickte wieder zur Stadt, die sich
wie ein Gebirge aus Steinquadern gegen den rötlich
gefärbten Horizont abhob.
Die Fackelträger auf den Zinnen waren die
Anhänger des grausamen Kults, dessen Hoherpriester
zugleich auch der Daikan von Eskis war.
Und dieser Hoherpriester bot Dragons Heer seit
nunmehr drei Tagen verbissen Widerstand.
Das war eine gänzlich neue Erfahrung für den
Atlanter, der sich seit dem Sieg über Zogor beständig
auf der Siegesstraße befand. Bisher hatten sich alle
myranischen Stützpunkte, die auf ihrem Weg lagen,
mehr oder weniger widerstandslos unterworfen – und
die Bevölkerung des myranischen Reiches hatte
Dragon nicht selten wie einen Befreier gefeiert.
Das Volk war seines Herrschers schon lange
überdrüssig gewesen – die viel zu hohen Steuern, die
Zogor aus seinen Untertanen herauspreßte, die
Unterdrückung der schwächergestellten Minderheiten
und die Methode der eisernen Faust, nach der der
König regierte, waren dazu angetan, den Unmut der
Myraner und deren Brudervölker zu entfachen. Es war
also gar nicht verwunderlich, daß die Bürger, Bauern
und Hirten aufatmeten, als die Kunde von König
Zogors Tod sie erreichte. Sie kamen von überall her,
um den mumifizierten Leichnam zu sehen und zu
verfluchen.
Von Dragon sagte man sich, daß er gerecht und
weise und den Sorgen und Nöten des einfachen Volkes
aufgeschlossen sei. Ihm eilte der Ruf voraus, ein
Abkömmling der Götter zu sein und von diesen
ausgeschickt, die Welt der Sterblichen von allem Übel
zu befreien. Und obwohl Dragons Wirken noch nicht
länger als einen Sommer dauerte, woben sich bereits
unzählige Legenden um seine Gestalt, die viel weiter in
diese barbarische Welt vorgedrungen waren als er
selbst. Aber egal, ob man nun den Heldenliedern und
den Geschichten der Wanderdichter glaubte, die
Myraner schlossen sich lieber einem jungen, gerechten
Eroberer an, als weiterhin unter dem Zepter des
myranischen Herrscherhauses zu darben.
Das waren die Hauptgründe dafür, daß Dragon
nach Zerschlagen der myranischen Hauptstreitmacht
auf dem Weg zur Hauptstadt des Königreiches bisher
noch kaum auf Widerstand gestoßen war.
Und nun kam nach einem beispiellosen Ruhmeszug
die Ernüchterung.
Dragon stand mit seinem mächtigen Heer aus
elftausend Kriegern vor den Mauern von Eskis – aber
die Tore der myranischen Stadtprovinz blieben
geschlossen.
»Wir müssen Eskis einnehmen«, sagte Dragon
bestimmt. Er wandte sich wieder Cosal zu. »Sind die
Eskiser so treue Untertanen, daß sie lieber mit ihrer
Stadt untergehen als sich zu ergeben?«
Cosal schüttelte den Kopf.
»Die Eskiser fühlen sich dem myranischen
Könighaus überhaupt nicht verbunden – aber sie
fürchten die Zauberkraft ihres Hohenpriesters«,
erklärte der Myraner. »Trazyn, die Spinne, hält die
Tore der Stadt geschlossen. Ihn mußt du besiegen,
wenn du nach Eskis einreiten möchtest. Die Eskiser
selbst sind nicht deine Feinde, Dragon.«
Sie hatten die Stadtmauer fast erreicht. Hundert
Schritte vor den hoch und steil aufragenden Wänden
hielten sie an. Ihre Pferde waren kaum zum Stillstand
gekommen, als von oben ein schauriges Lachen
erklang. Die Stimme klang hohl und unmenschlich und
war von solcher Kraft, als gehöre sie einem
überirdischen Wesen. Dragon erschauerte im ersten
Moment, aber dann erinnerte er sich daran, wie er
selbst mittels eines simplen Tricks mit dem
Sprechtrichter seine Stimme verstärkt und Zogors
Krieger eingeschüchtert hatte; auf eine ähnliche Art
und Weise würde wohl auch Trazyn diese Wirkung
erreichen.
Das Lachen verhallte, und dann sagte die Stimme:
»Da seid ihr also, schwächliche Ostländer, um die
Botschaft der Spinne zu empfangen. Ich habe den
Herrscher über Leben und Tod angerufen, den Fürsten
allen Seins, dessen Geist in allen Spinnen dieser Welt
lebt. Ich, Trazyn, sein menschliches Werkzeug, habe
die Spinnen befragt, was mit dir, Dragon und deiner
barbarischen Horde zu geschehen hat. Höre nun das
Urteil: Ihr alle werdet euch im Netz der Spinne fangen,
das von Eskis‘ Mauern bis zu den Toren Myras
gesponnen ist. In diesem Netz werdet ihr euch
verstricken, hilflos darin zappeln und den tödlichen
Biß der Spinne erwarten. Das soll eure Strafe sein,
wenn ihr euch am Heiligtum der Spinne vergreift.«
»Der nimmt den Mund aber gehörig voll«, murmelte
Partho abfällig, als der Sprecher eine Pause machte.
Partho wollte noch etwas hinzufügen, wurde aber von
der gespenstisch hallenden Stimme des Hohenpriesters
unterbrochen.
»Denkt an meine Worte, denn sonst ist euch der Biß
der Spinne gewiß«, klang es schaurig von den Zinnen
der Stadt. »Das Schicksal der kriegerischen Weiber, die
uns in die Hände gefallen sind, soll euch zur Warnung
gereichen. Spinnen, werft das Netz aus!«
Nun kam Bewegung in einige der Fackelträger. Sie
verschwanden hinter einer steinernen Balustrade, und
dann war ein Quietschen zu hören, als würde eine
Seilwinde gedreht.
Dragon starrte gebannt zu den Zinnen empor.
Plötzlich sah er, wie zwischen zwei eng
beieinanderstehenden Wehrtürmen ein dicker, mit
Seilen umwickelter Balken hochgezogen wurde ... und
an dem Balken hing ein Netz!
Aber es war nicht ein Netz aus Seilen, sondern ein
Netz aus menschlichen Körpern – sie waren an Armen
und Beinen aneinandergebunden und füllten die
Fläche innerhalb des Holzrahmens aus, der an den
beiden Wehrtürmen hochgezogen wurde.
Dragon hatte den Atem angehalten. Jetzt stieß er
geräuschvoll die Luft aus und schloß angewidert die
Augen. Er brauchte keine Einzelheiten zu erkennen,
um zu wissen, daß es sich um die gefangenen
Katmahzari-Kriegerinnen handelte, die dort oben zu
einem lebenden Netz aneinandergebunden waren.
Als Dragon die Augen wieder öffnete, blickte er zu
Agrion. Ihr Gesicht war leichenblaß. Sie keuchte und
hatte den Griff ihres Schwertes umklammert. Partho
war an ihre Seite geritten und griff nach ihrem
Oberarm. Aber sie schüttelte ihn mit einer heftigen
Bewegung ab.
»Spinnen, zündet das Netz an!« hallte es von den
Zinnen.
Dragon sah, wie die Fackelträger den Holzrahmen
in Brand setzten.
Agrion begann am ganzen Körper zu zittern, als die
Flammen auf den teergetränkten Holzrahmen
übergriffen und sich über die Taue auf die
Kriegerinnen zu fraßen. Einige der angesengten Taue
rissen, so daß die daran festgebundenen Kriegerinnen
in die Tiefe sanken. Durch die übermäßige Belastung
gaben weitere Taue nach – und schließlich barst der
Holzrahmen mit einem Knall, und alle einunddreißig
Kriegerinnen, immer noch an Armen und Beinen
aneinandergebunden, stürzten schreiend in die Tiefe.
Von den Zinnen erklang ein unmenschliches Gelächter
...
Dragon schwang sich aus dem Sattel und folgte
Agrion, die sich im Schutze ihres Schildes jener Stelle
der Stadtmauer näherte, wo die
Katmahzari-Kriegerinnen auf dem Boden aufgeprallt
waren. Partho und Cosal kamen hinter ihnen nach. Die
Krieger in ihrer Begleitung nahmen mit ihren Pfeilen
die Zinnen der Stadtmauern unter Beschuß. Vom
Heerlager kam bereits Verstärkung angeritten.
Agrion kniete vor Prinzessin Jnessa nieder, die in
seltsamer Verrenkung dalag, an Armen und Beinen an
ihre toten Gefährtinnen gefesselt.
»Du hast jetzt eine große Verantwortung«, sagte
Dragon zu der Trägerin des Mondrings. »Nach Jnessas
Tod befehligst du allein die viertausend Kriegerinnen.«
Agrion starrte auf die bläulich verfärbte Brust von
Prinzessin Jnessa, wo der purpurne Körper einer
zerquetschten Spinne lag.
»Ich werde die Spinne zertreten«, sagte Agrion. Und
Dragon wußte, daß sie nicht nur Trazyn, sondern diese
ganze Stadt meinte.
Cosal hatte ihre Worte ebenfalls richtig gedeutet.
Denn er sagte:
»Ich verdamme diese schändliche Tat ebenfalls.
Aber meine Leute und ich werden euch nicht
unterstützen, wenn ihr vorhabt, Eskis dem Erdboden
gleichzumachen. Es ist nicht richtig, ein ganzes Volk
für das Verbrechen eines Mannes zu bestrafen.«
»Ich werde die Spinne zertreten«, sagte Agrion
wieder. Und sie fügte hinzu: »Um jeden Preis.«
»Wenn du Trazyns Kopf willst, brauchst du nicht
die Stadtmauern einzurennen«, sagte Cosal. »Es gibt
einen anderen Weg, um in die Stadt und somit in den
Tempel der Spinne zu gelangen.«
Dragon packte den Myraner am Arm.
»Zeige uns den Weg! Dann wollen wir versuchen
die Stadt in einem unblutigen Handstreich zu erobern.«
Die sieben leichtbekleideten Gestalten bewegten sich
lautlos durch die tiefe Furche auf die Stadtmauer zu.
Der Mann an der Spitze richtete sich auf, als er das
Ende der Rinne erreicht hatte und hob die Hand mit
dem dornenbewehrten Kampfhandschuh.
»Halt!« raunte er Dragon zu, der ihm dichtauf
gefolgt war. »Ich brauche einen Helfer, um den
Steinquader aus der Öffnung zu heben. Die anderen
sollen hier zurückbleiben.«
»Ich begleite dich«, sagte Agrion, die hinter Dragon
gekommen war.
Der Mann mit dem eisernen Kampfhandschuh
nickte. Er war ein Eskiser, der König Zogor gedient
hatte und nun in Dragons Diensten stand. Cosal hatte
von ihm gesagt, daß er früher, noch im Jünglingsalter,
im Tempel der Spinne gedient hatte und sich dort gut
auskannte. Er hieß Alngos und behauptete, einen
geheimen Zugang in die Stadt zu kennen.
Dragon hielt Agrion am Arm zurück.
»Mach keine Dummheiten«, beschwor er sie. »Wir
müssen bis zuletzt beisammenbleiben. Ich kann mir
denken, wie sehr du Trazyn haßt. Er soll dir gehören.
Aber unternimm nichts auf eigene Faust.«
Agrion erwiderte seinen Blick schweigend und
folgte dann dem Eskiser die wenigen Schritte zur
Stadtmauer.
Dragon, Cosal, Sardak, der Helfer der Hirten und
die beiden Träger blieben in der Furche zurück. Die
beiden muskulösen Träger legten ihre Last keuchend
ab.
»Zogor ist ein Dickwanst«, sagte der eine von ihnen.
»Er muß sich vor seinem Tode noch ordentlich
vollgefressen haben«, stimmte der andere zu und warf
der mumifizierten Leiche einen wütenden Blick zu.
»War es überhaupt notwendig, ihn mit in die Stadt
zu nehmen?« fragte der erste Träger.
»Ich hoffe, daß Zogor uns die Tore der Stadt öffnet«,
sagte Dragon nur. Er wandte sich Sardak zu. »Warum
hast du dich freiwillig für dieses Unternehmen
gemeldet, Sardak? Dir kann doch persönlich nichts an
der Eroberung von Eskis liegen.«
»Doch«, behauptete der Hirte und zeigte lächelnd
seine weißen Zähne. Er zählte bereits fünfzig Sommer,
besaß aber noch immer den kraftstrotzenden Körper
eines Jünglings. Sein schwarzes Haar zeigte sich an den
Schläfen bereits weiß, und auch in seinem gewaltigen
Oberlippenbart waren vereinzelt Silberfäden zu sehen.
Aber in seinen dunklen Augen loderte das
ungebrochene Feuer der Jugend.
»Ich habe einen guten Grund, und der heißt
Cnossos«, fuhr Sardak fort. »Es scheint mir fast, als sei
auch Trazyn ein Opfer dieses Dämons. Was er mit den
Amazonen gemacht hat, zeigt, daß er eine Bestie ist. Er
muß etwas von Cnossos an sich haben. Und das werde
ich vernichten!«
Sardak hatte in Bo-gah, der Stadt der verlorenen
Seelen, auf Cnossos‘ Geheiß den alten, harmlosen
Märchenerzähler Adrar töten müssen. Damals hatte er
dem Dämon Rache geschworen. Das war auch der
Grund, warum Sardak nicht zu seinen Herden
zurückgekehrt war, sondern sich Dragons Heer
angeschlossen hatte.
»Daran habe ich selbst schon gedacht«, meinte
Dragon. »Es wäre möglich, daß Cnossos der
Spinnengott ist, den Trazyn verehrt.«
Aber Dragon glaubte nicht, daß er seinen
Widersacher in Eskis antreffen würde. Alles wies
darauf hin, daß Cnossos weitergezogen war, um die
Mächte der Finsternis für den großen
Entscheidungskampf gegen ihn, Dragon, um sich zu
sammeln.
Ein verhaltenes Geräusch, das von der nahen
Stadtmauer kam, brachte Dragon in die Gegenwart
zurück.
»Alngos hat den Zugang freigelegt«, berichtete
Cosal, der die Stelle der Stadtmauer nicht aus den
Augen gelassen hatte, zu der sich der Eskiser und
Agrion vorgearbeitet hatten.
»Dann los!« raunte Dragon und setzte sich in
Bewegung.
Die beiden Träger hoben sich die Mumie König
Zogors auf die Schultern und setzten sich mit ihr in
Bewegung. Cosal hielt sich hinter ihnen, während
Sardak Dragon auf den Fersen blieb.
Als Dragon zu der Öffnung in der Stadtmauer kam,
die groß genug war, um einen ausgewachsenen Mann
durchzulassen, betrachtete er staunend den großen
Felsquader, den Alngos und Agrion ausgehoben
hatten. Die Trägerin des Mondringes meinte mit einem
spöttischen Lächeln:
»Der Quader ist innen hohl. Es war nicht schwer,
ihn herauszuheben.«
Dragon kletterte durch die Öffnung und fand sich in
einem dunklen, schmalen Gang wieder.
»Sardak, die Fackel!« sagte er zu dem Hirten, der
nach ihm in den Gang kam.
»Macht noch kein Licht!« raunte Alngos. »Wartet
damit, bis wir den Durchlaß wieder geschlossen
haben.«
Die beiden Träger hatten es nicht leicht, den
Leichnam König Zogors durch die Öffnung zu bringen.
Aber dann hatten sie es schließlich geschafft, und
Agrion und Alngos hoben den ausgehöhlten
Steinquader wieder auf seinen Platz. In der Dunkelheit
war das Schlagen von Feuerstein zu hören, einer der
Funken entzündete den Zunder, mit dem Sardak eine
Fackel zum Brennen brachte.
Jetzt sah Dragon, daß sie sich in einem langen Gang
befanden, der der Länge nach durch die Stadtmauer
führte. Links endete der Gang zwanzig Doppelschritte
weiter in einer gewunden nach oben führenden
Treppe. Auf der rechten Seite führte in etwas größerer
Entfernung eine Steintreppe in die Tiefe.
»In welche Richtung müssen wir uns wenden?«
fragte Dragon.
Alngos kicherte.
»Man kommt von jeder Stelle des Geheimgangs in
den Tempel der Spinne«, meinte er. »Die gesamte
Stadtmauer ist ausgehöhlt und von Geheimgängen
durchzogen. Aber wir gehen nach rechts. Von dort ist
es näher zum Tempel.«
Alngos übernahm wieder die Führung. Dragon
zwängte sich an den anderen vorbei und blieb dicht
hinter dem Eskiser. Er traute ihm nicht bedingungslos.
Sie kamen über die Steintreppe in einen tief
gelegenen Gang, der sich nach wenigen Schritten
gabelte. Alngos folgte unbeirrbar der rechten
Abzweigung. Es dauerte nicht lange, da endete der
Gang vor einem mannsgroßen Felsquader. Alngos
holte den breiten Dolch aus der Scheide und klopfte
mit dem Knauf gegen den Quader, der ihnen den Weg
versperrte – es klang hohl.
»Hilf mir, Dragon«, bat der Eskiser, und gemeinsam
stemmten sie sich gegen den Felsen, der knirschend zur
Seite schwenkte. Der Weg in ein zehn mal zehn Schritte
großes Gewölbe wurde frei. Als Sardak mit der Fackel
nachfolgte, sah Dragon, daß in zwei der Wände Ketten
eingelassen waren, die in Schellen mundeten. An einer
der Eisenketten hing noch das Gerippe eines
Menschen. An der gegenüberliegenden Wand führte
der Gang weiter, aber ein Spinnennetz versperrte den
Weg.
Dragon zog unwillkürlich den Dolch, als der den
grünlich schillernden Spinnenkörper sah der zuckend
im Netz hockte. Aber Alngos drückte seine Hand
hinunter. Er schritt langsam auf das Netz zu. Dabei
holte er eine fingerlange, selbstgeschnitzte Pfeife aus
dem Gürtel und blies hinein. Obwohl kein Geräusch zu
hören war, schien die Spinne zu erstarren. Ohne die
Pfeife abzusetzen, wandte sich der Eskiser um und gab
Sardak durch eine Kopfbewegung zu verstehen, daß er
zu ihm kommen solle.
Der Hirte verstand sofort. Die Fackel vor sich
haltend, ging er auf das Spinnennetz zu. Als die
Flammen mit den Fäden in Berührung kamen, gingen
diese wie Zunder in Rauch und Feuer auf. Immer noch
auf seiner lautlosen Pfeife spielend, betrat Alngos den
Gang.
Die anderen folgten ihm. Als Dragon unter der wie
erstarrt dahockenden Riesenspinne hindurchging, hatte
er das furchtbare Gefühl, daß sie sich jeden Augenblick
auf ihn fallen lassen würde. Aber nichts dergleichen
passierte.
Der Marsch durch die Geheimgänge in der
Stadtmauer von Eskis zog sich endlos dahin. Sie kamen
immer wieder in Verliese, in denen sich menschliche
Skelette häuften und die von grünschillernden Spinnen
bewacht wurden. Aber sie stellten keine Gefahr dar,
solange Alngos auf seiner lautlosen Pfeife blies. Als
ihm jedoch einmal der Atem ausging, kostete das
einem der Träger das Leben.
Sie hatten das Spinnennetz, das ihnen den Weg
versperrte, verbrannt. Alngos blieb an der Öffnung
stehen und blies in seine Pfeife. Doch gerade als der
zweite Träger den Gang betrat, setzte der Eskiser für
einen Moment die Pfeife ab. Sofort ließ sich die fette
Spinne an einem dünnen Faden herunter und erreichte
den Nacken des Trägers. Der Mann schrie auf, als ihn
der tödliche Biß ereilte.
Alngos spielte sofort auf seiner Pfeife weiter. Aber es
war bereits zu spät. Der Nacken des Trägers verfärbte
sich bläulich, seine Hände, die er in instinktiver
Abwehr erhoben hatte, versteiften sich ebenso wie sein
Körper. Er fiel in völliger Erstarrung zu Boden.
Dragon sprang auf ihn und spießte die Spinne mit
einem einzigen Dolchhieb auf.
»Können wir noch etwas für ihn tun?« fragte er.
»Er ist nicht mehr zu retten«, sagte Alngos. Er senkte
den Blick und murmelte: »Es war meine Schuld ... aber
ich tat es ohne Absicht ...«
»Du mußt Alngos glauben, Dragon«, mischte sich
Cosal ein.
Es entstand ein kurzes Schweigen, dann nickte
Dragon.
»Gut«, sagte er und gab Cosal einen Wink.
Ȇbernimm du die Stelle des Toten. Wir werden ihn
hier zurücklassen und auf dem Rückweg mitnehmen.
Und dir rate ich, Alngos, tief Luft zu holen, bevor du
wieder auf deiner Pfeife spielst!«
Dragon schob den schweren Vorhang ein Stück zur
Seite und blickte in eine weite und hohe Säulenhalle.
»Das ist der Tempel«, raunte ihm Alngos ins Ohr.
Dragon schauderte leicht, als er sah, daß sich über
die gesamte Decke ein dichtes Gewirr von
Spinnennetzen spannte. Und überall in den Winkeln
und Ritzen und zwischen den Deckenverstrebungen
leuchteten verschiedenfarbige Lichtquellen. Es gab
keine Fackeln und keine Öllampen in der Tempelhalle,
nur diese bunten Leuchtflecken, die ein unwirkliches
Licht verstrahlten. Dragon beobachtete einen dieser
Leuchtflecken genauer und erkannte, daß er sich
bewegte.
Das waren Spinnen! Jede dieser Lichtquellen, ob
grün, ob rot oder golden, handtellergroß oder von der
Größe eines Bullenschädels – es waren lauter Spinnen,
die in ihren Netzen auf Opfer lauerten.
Der Boden war mit kunstvoll behauenen Steinen
belegt, von denen manche Fabelgestalten darstellten,
andere wiederum reliefartige Schriftzeichen einer
unbekannten Sprache aufwiesen. Der Boden war
uneben und bildete durch die Skulpturen und
geheimnisvollen Figuren aus Stein eine faszinierende
Landschaft. Zwischen den kunstvollen Steingebilden
waren schattenhafte Gestalten zu sehen. Sie verhielten
sich zumeist reglos, so daß Dragon im ersten
Augenblick meinte, sie seien selbst steinerne Götzen.
Aber dann erkannte er im fahlen Licht der
schillernden Spinnenkörper, daß diese Gestalten in
Stoffgewänder gehüllt waren und daß sie sich
gelegentlich doch bewegten.
Eine Spinne, kindskopfgroß, ließ sich an einem
Faden von der Decke gleiten und hockte sich dann mit
ihren langen, spindeldürren Beinen auf die Kapuze
einer dieser Gestalten. Dragon sah mit wachsendem
Staunen, wie der Mann die Arme hob und wie seine
feingliedrigen Finger mit den zuckenden
Spinnenbeinen spielten.
»Das sind die Priester«, erklärte Alngos flüsternd.
»Sie meditieren hier in der Tempelhalle und geben den
Spinnen die Befehle für den folgenden Tag. Manche
von ihnen haben schon solche Fertigkeit im Umgang
mit den Spinnen, daß sie auf die Hilfe der
Spinnenpfeifen verzichten können.«
»Treffen sich die Sektenmitglieder etwa in dieser
Tempelhalle?« fragte Dragon schaudernd. Alngos
grinste.
»Du hast es erraten, Dragon. Hierher kommen alle
Gläubigen, um dem Spinnengott zu huldigen. Aber
auch jeder Bürger von Eskis hat die Pflicht, zumindest
jeden Mond einmal hier zu erscheinen und eine
Prüfung über sich ergehen zu lassen. Wird er von
seinem Gott für würdig befunden, dann lassen ihn die
Spinnen wieder ziehen. Aber jene, die Trazyns Zorn
erweckt haben, verlassen diesen Tempel nicht wieder
lebend. Die Priester sehen sich aus ihren Verstecken
jeden genau an, der den Tempel betritt, und wenn
ihnen einer mißfällt, dann hetzen sie die Spinnen auf
ihn ... Du kannst dir vielleicht vorstellen, welche
Ängste die Bürger ausstehen, wenn sie die Halle
betreten ...«
»Genug!« sagte Agrion hinter ihnen. »Du kannst uns
die Riten und Bräuche der Spinnenanbeter auch später
schildern, Alngos. Jetzt sage uns, wo wir Trazyn finden
können.«
»Du findest Trazyn im Herz der Spinne«, antwortete
Alngos. Als Agrion betroffen schwieg, fügte er
erklärend hinzu. »Niemand kann Trazyn ohne seine
Zustimmung aufsuchen. Er wird ständig von so vielen
Spinnen beschützt, wie wir alle Finger an den Händen
haben. Und es sind Spinnen, die nur dem Ton seiner
Pfeife gehorchen. Nein, an Trazyn kommst du nicht
heran. Du mußt warten, bis er von selbst aus seinem
Versteck kommt. Aber das wird nicht vor dem
Morgengrauen sein.«
»Jetzt sind wir zwar im Spinnentempel, aber so weit
von unserem Ziel wie je entfernt«, meinte Sardak
enttäuscht. »Wir dürfen nicht einmal unseren Platz
verlassen, weil wir fürchten müssen, von den Priestern
entdeckt zu werden.«
»Schlafen diese Schurken denn nie?« fragte Agrion
wütend.
»Sie schlafen abwechselnd – aber nie in der Nacht«,
antwortete Alngos.
»Wie sollen wir dann an ihnen vorbeikommen!«
sagte Dragon grimmig. »Wir müssen die Mumie König
Zogors vor die Tore des Tempels schaffen, damit sie
von allen Bürgern der Stadt gesehen werden kann. Das
war von Anfang an unser Plan. Wenn es wahr ist, was
du behauptet hast, Alngos, dann hat Trazyn den
Eskisern König Zogors Tod verschwiegen, um zu
erreichen, daß sie uns Widerstand leisten. Wenn sie
aber die Mumie des toten Königs sehen, dann könnte
das die Macht der Spinne brechen.«
»So ist es«, stimmte Alngos zu.
»Sollen wir nun bis zum Morgengrauen warten und
uns dann den Weg zu den Tempeltoren freikämpfen?«
sagte Dragon mehr zu sich. Er starrte in die
Tempelhalle hinaus, in der der Tod lauerte, und
schüttelte den Kopf. »Wenn die Priester uns entdecken
und ihre langbeinigen Wächter auf uns loslassen, dann
können wir mit unseren Waffen nichts ausrichten.«
»Und doch müssen wir warten«, beharrte Alngos.
»Wenn wir jetzt schon zuschlagen, dann wird Trazyn
gewarnt und kann alle unsere Pläne zunichte machen.
Wir haben eine Waffe, die wirksamer ist als die
Schwerter und die Pfeile in eueren Köchern. Aber die
können wir erst zum gegebenen Zeitpunkt richtig ein-
setzen – beim Morgengrauen.«
Alngos holte aus seinem Köcher ein armlanges Rohr
heraus.
»Aus dem Rohr dieser Sumpfpflanze werden die
Spinnenpfeifen geschnitzt«, erklärte Alngos. »Bis zum
Morgengrauen bleibt mir genügend Zeit, für jeden von
euch eine solche Pfeife anzufertigen. Damit könnt ihr
dann dasselbe tun, was auch die Priester mit ihren
Spinnenfreunden anstellen.«
»Das gefällt mir nicht«, sagte Agrion und richtete
sich auf. »Ich kehre zu meinen Kriegerinnen zurück
und werde ihnen den Befehl zum Sturm auf Eskis
geben. Dann ist die Stadt bis zum Morgengrauen
bestimmt in unseren Händen!«
Dragon hielt sie am Arm zurück.
»Du hast mir versprochen, mich die Eroberung von
Eskis auf unblutige Weise versuchen zu lassen, Agrion.
Nun steh zu deinem Wort!«
Agrion entspannte sich ein wenig.
»Es wird dein Tod sein, wenn du diese Halle
betrittst, Dragon«, sagte sie etwas unsicher.
»Alngos wird uns den Weg hindurch zeigen«,
meinte Dragon und sah dem abtrünnigen Eskiser fest
in die Augen. »Ich vertraue dir, Alngos. Aber eines
verstehe ich nicht. Du hast vorhin angedeutet, daß es
uns möglich wäre, die Spinnen auf die gleiche Art wie
die Priester zu zähmen. Wenn es so ist, warum
behelfen sich nicht alle Eskiser auf diese Weise, um sich
vor dem Biß der Spinne zu schützen?«
Alngos grinste, während er unbeirrt weiter an dem
Rohr der Sumpfpflanze schnitzte.
»Du hast mich mißverstanden, Dragon«, meinte er.
»Es wird keinem von euch, auch nicht nach Jahren der
Übung, möglich sein, diese Scheusale dort draußen mit
der Spinnenpfeife zu zähmen. Aber ihr könnt etwas
anderes tun, und das habt ihr den Bürgern von Eskis
voraus, weil sie nicht wissen, daß es so etwas wie eine
Spinnenpfeife gibt. Wenn ihr darauf bläst, dann
werden falsche, für das menschliche Ohr unhörbare
Töne herauskommen, die den Spinnen Schmerz
verursachen und sie zur Raserei bringen.«
»Es ist soweit«, stellte Dragon fest.
Seine Stimme klang fest, obwohl er die halbe Nacht
durchwacht hatte.
Alngos verteilte die fingerlangen Pfeifen.
»Ihr müßt unaufhörlich darauf spielen«, schärfte er
ihnen ein, »damit die Priester keine Gelegenheit haben,
die Spinnen zu beeinflussen.«
Agrion nahm die Pfeife und steckte sie in den Mund.
»Alles ist mir lieber, als noch länger zuzuwarten«,
sagte sie und zückte ihr kurzes, gerades
Amazonenschwert.
Dragon hielt das Krummschwert in der Rechten und
einen Dolch in der Linken.
»Du machst den Anfang, Alngos«, befahl er. »Wir
werden dir folgen. Agrion und Sardak, ihr beide
schützt Cosal und den Krieger, die König Zogors
Mumie zu tragen haben. Und vergeßt nicht, in eure
Pfeifen zu blasen. Ihr habt gehört, was Alngos sagte. Je
größer die Verwirrung unter den Spinnen ist, desto
bessere Aussichten haben wir, den Tempeleingang zu
erreichen.«
Dragon gab Alngos einen Wink. Der Eskiser raffte
den Vorhang, der ihnen den Weg in die Tempelhalle
versperrte, und wirbelte ihn zur Seite.
»Jetzt!« rief er und stürmte nach vorne.
Dragon sprang hinter ihm in die Tempelhalle; er
hielt die Spinnenpfeife zwischen den Zähnen fest,
während er pausenlos hineinblies. Agrion stellte sich
mit ausgebreiteten Armen zum Vorhang, um Cosal
und dem anderen Träger den Weg freizuhalten.
Sardak, ebenfalls die Pfeife zwischen die Zähne
gepreßt, sprang den am nächsten befindlichen Priester
an und spaltete ihm mit einem Schwerthieb den
Schädel.
Dragon hatte bereits einige Schritte zurückgelegt, als
er merkte, daß die Spinnen in Aufruhr gerieten. Sie
rannten auf ihren langen Beinen plötzlich wie verrückt
über die zwischen den Pfeilern gespannten Netze,
ließen sich auf ihren Fäden zu Boden sinken und
stelzten mit hektisch zuckenden Körper über den
Boden.
Einige Priester waren aufgesprungen und blickten
sich gehetzt um. Als sie der Eindringlinge gewahr
wurden, hoben sie die Spinnenpfeifen an ihre Lippen.
Zwei von ihnen erstarrten mitten in dieser Bewegung,
als auf einmal zwei fette Spinnenkörper auf ihren
Gesichtern landeten. Ein kurzer Aufschrei – und die
beiden Priester fielen steif wie Statuen um.
Dragon schleuderte seinen Dolch auf eine violett
leuchtende Spinne, die ihm bis zur Hüfte reichte. Der
Dolch drang zwischen den Beißwerkzeugen in den
Kopf des Scheusals. Alngos ließ sein Schwert über dem
Kopf kreisen; er erschlug eine schwarzbehaarte Spinne
und einen Priester, der sich ihm entgegenstellte.
Agrion hatte ihr Schwert bis zum Schaft in den
Körper eines Priesters versenkt. Jetzt rang sie
verzweifelt darum, das Schwert aus dem reglosen
Körper zu bekommen. Als ihr das nicht sofort gelang,
ließ sie es einfach zurück und spannte einen Pfeil in
den Bogen, den sie auf dem Rücken getragen hatte.
Während sie den ersten Pfeil von der Sehne schnellen
ließ und eine Spinne abschoß, die sich auf Cosal
niedersenkte, entfiel ihr die Pfeife aus dem Mund.
Da tauchte vor ihr ein Priester auf, der mit seiner
Pfeife vier Spinnen vor sich hertrieb. Sie sprang einfach
über die Untiere hinweg und landete auf dem Priester,
schlang ihm die Sehne des Bogens um den Hals und
zog erbarmungslos zu. Noch während der Priester
röchelnd um sein Leben rang, nahm sie ihm die Pfeife
aus den starren Lippen ...
Als Sardak sah, daß Agrion von den rasenden
Spinnen bedrängt wurde, eilte er ihr zu Hilfe.
Unaufhörlich auf seiner Pfeife spielend, beförderte er
eine Spinne mit einem gewaltigen Fußtritt in die Mitte
der Tempelhalle hinein, hieb eine zweite mit einem
Schwertstreich entzwei und zertrat eine dritte.
Während dieses gespenstischen Kampfes ertönte
kein menschlicher Laut. Nur der Kampflärm erfüllte
die Halle und das trockene Scharren der Spinnenbeine
auf dem Boden war zu hören.
Plötzlich jedoch hallte ein markerschütternder Schrei
durch den Tempel.
Dragon wirbelte herum und sah, wie einer der
beiden Männer, die den mumifizierten König trugen,
strauchelte und gleich darauf unter einer Vielzahl
buntschillernder Spinnenkörper begraben wurde. Es
war Cosal, der den Spinnen zum Opfer fiel. Ohne lange
zu überlegen, kehrte Dragon um, lud sich die Mumie
auf und rannte mit weitausholenden Schritten aus dem
Gefahrenbereich. Ein zweiter Todesschrei erklang, und
Dragon wußte, daß auch der zweite Träger nicht mehr
zu retten war.
Nun waren sie ihrer nur noch vier: Alngos, Agrion,
Sardak und er.
Dragon sah eine Gestalt in der Rüstung der
Katmahzari hinter einer Säule verschwinden und folgte
ihr. Als er die Säule umrundete, kam ihm ein Priester
mit einer stark blutenden Brustwunde entgegen.
Dragon wich ihm in einem Bogen aus und hätte
beinahe den Halt verloren, als er mit der Mumie auf
seinen Schultern gegen ein Hindernis prallte. Das war
sein Glück, denn an der Stelle, an der er sich gerade
noch befunden hatte, sank eine faustgroße Spinne an
einem Faden in die Tiefe. Ein Pfeil schwirrte heran und
durchbohrte den giftgrün schillernden Leib, bevor er
den Boden erreichte.
»Hierher!« hörte Dragon die Stimme von Alngos
rufen. »Wir haben es gleich geschafft.«
Dragon folgte der Stimme und kam bald darauf an
ein riesiges Portal, dessen beide Torflügel gerade
langsam nach außen schwenkten. Agrion und Sardak
hatten den schweren Eisenriegel zur Seite geschoben
und stemmten sich nun gegen die beiden Torflügel.
Tageslicht fiel in die Tempelhalle. Als Dragon sich
noch ein letztes Mal umdrehte, bevor er ins Freie eilte,
sah er ein Bild des Grauens. Von den Priestern lebte
kein einziger mehr. Sie alle waren den Bissen der
Spinnen zum Opfer gefallen. In der Tempelhalle
herrschte die Stille des Todes, nur die Herren dieses
schaurigen Gewölbes, die Spinnen, regten sich hier ...
alles menschliche Leben war ausgelöscht.
Aber waren tatsächlich alle Priester dieses
grausamen Kultes tot? Was war mit Trazyn, der
Spinne?
Dragon flüchtete aus der Halle auf die breite
Freitreppe hinaus, als er sah, daß er von einem Heer
von Spinnen verfolgt wurde. Er taumelte zu einem
Marmorblock, der von eingetrocknetem Blut getränkt
war und bettete die Königsmumie darauf. Dann lehnte
er sich erschöpft dagegen.
Als er die Augen wieder öffnete, wurde er Zeuge
eines seltsamen Geschehens.
Alngos, der Eskiser, der sich so hervorragend auf
den Umgang mit den Spinnen verstand, stand
hochaufgerichtet auf dem Opferstein, König Zogor zu
seinen Füßen, und blies auf seiner Spinnenpfeife.
Das Heer der Spinnen, das aus den Tempeltoren
quoll, bewegte sich wogend auf ihn zu. Und mitten
unter den Spinnen war eine schlanke, in einen
wallenden Umhang gehüllte Gestalt aufgetaucht.
Das mußte Trazyn sein.
Agrion spannte einen Pfeil in ihren Bogen und nahm
Ziel.
»Nicht schießen!« rief ihr Dragon zu. Er hatte
bemerkt, daß sich auf dem Platz vor dem Tempel eine
Menschenmenge eingefunden hatte, die sich trotz der
frühen Morgenstunde schnell vergrößerte. Den
Eskisern waren die Vorfälle im Tempel nicht
entgangen, und nun kamen sie, um die
Auseinandersetzung zwischen dem Spinnengott und
den Eroberern aus dem Osten, die ihn herausgefordert
hatten, zu sehen.
»Trazyn hat euch betrogen!« rief Dragon der
Menschenmenge zu. »Er hat euch weismachen wollen,
daß er auf König Zogors Befehl handelt. Doch König
Zogor ist tot. Seht selbst, hier liegt der tote König!«
Die Menge bewegte sich zögernd über die Treppe
zum Tempel hinauf, wich aber schnell wieder zurück,
als die Spinnen dem Opferstein mit dem König immer
näher kamen. Die Spinnen bewegten sich nur langsam,
als hätte sich eine Lähmung ihrer bemächtigt.
Dragon wußte, daß sie sozusagen zwischen zwei
Feuern standen. Zwischen Alngos und dem
Hohenpriester des Spinnenkults tobte ein lautloser
Machtkampf. Beide versuchten, die Spinnen zu ihren
Gunsten zu beeinflussen. Und es schien so, daß Alngos
über dem allmächtigen Herr der Spinnen die Oberhand
behalten würde.
Dragon fragte sich unwillkürlich, ob Alngos
tatsächlich nur der unbedeutende Eskiser war, für den
er sich ausgegeben hatte. Wenn es so war, wie konnte
er dann im Kampf um die Herrschaft über die Spinnen
dem Hohenpriester ebenbürtig sein?
»Stirb, Trazyn!« hörte Dragon den Eskiser rufen, der
breitbeinig auf dem Opferstein stand.
Und tatsächlich ging durch Trazyns Körper ein
Zittern. Die Spinnen um ihn gerieten plötzlich in
Bewegung, ihre Beine zuckten, sie plusterten ihre
Körper auf, ihre Beißwerkzeuge mahlten knirschend
gegeneinander: Trazyn schrie auf, seine Arme reckten
sich zitternd gen Himmel, die Hände verkrampften
sich zu Fäusten ... er fiel langsam nach hinten und
verschwand schließlich im Gewühl der Spinnen.
»Und jetzt ihr!« donnerte Alngos in Dragons
Richtung. »Ihr habt mir zu meinem Platz auf dem
Thron dieser Stadt verholfen, von dem mich Trazyn
unrechtmäßig verdrängte. Ihr habt tapfer für mich
gekämpft, aber ihr hättet nicht gesiegt, wenn mir die
allmächtige Spinne nicht wohlgesinnt gewesen wäre.
Aus Dank will ich der Spinne ein Opfer darbringen –
und ihr sollt diese
Opfer ...«
Etwas schoß durch die Luft und bohrte sich in die
linke Brust von Alngos. Der Pfeil war mit solcher
Wucht abgeschossen worden, daß ihm die Spitze aus
dem Rücken ragte. Ohne einen weiteren Laut von sich
zu geben, kippte Alngos vom Opferstein und fiel in die
Tiefe.
Agrion senkte den Bogen.
»Jetzt habe ich deinen Tod doch noch gerächt,
Prinzessin Jnessa«, sagte sie.
Sardak blickte auf die Menge hinunter und lächelte
dann Dragon zu.
»Die Macht der Spinne ist gebrochen. Jetzt kannst
du dich von den Eskisern als Befreier feiern lassen,
Dragon.«
Die Tore von Eskis standen den Eroberern offen.
Der Tempel der Spinne brannte lichterloh und ließ
die Nacht zum Tag werden. Den ganzen Tag über
waren die Bürger der Stadt an der mumifizierten
Leiche König Zogors vorbeimarschiert, und auch jetzt
stellten sich die Eskiser in einer langen Reihe an, um
den toten Herrscher des myranischen Reiches zu sehen.
Dragon hatte es verhindern können, daß seine
Krieger in Scharen in die Stadt eindrangen, denn er
wollte nicht, daß es zu Plünderungen und Gewalttaten
kam. Für die Urgoriten legte er seine Hand ins Feuer,
denn sie waren ihm nicht nur treu ergeben, sondern sie
hatten auch unter Partho gelernt, daß sich die Sieger
den Besiegten gegenüber nicht wie deren Henker zu
verhalten hatten. Deshalb waren nur zwei
Hundertschaften ausgewählter Urgoriten nach Eskis
abgestellt, die vor allem darüber zu wachen hatten, daß
sich keiner von den aufgebrachten Bürgern an der
Mumie von König Zogor vergriff.
»Das war hoffentlich das letzte schwere Hindernis
auf unserem Marsch nach Myra«, sagte Dragon an
einem der Lagerfeuer außerhalb der Stadt.
»Ich wünsche dir noch mehr solcher schwerer
Prüfungen«, sagte Partho grollend, der es nicht
verwinden konnte, daß Dragon ihn nicht bei diesem
Abenteuer mitgenommen hatte. »Ich hoffe, daß du
noch oft in Bedrängnis gerätst und durch mein Schwert
gerettet wirst, Dragon. Damit du erkennst, wie wertvoll
ich für dich bin.«
Dragon klopfte ihm auf die Schulter.
»Du brauchst mir deinen Wert schon lange nicht
mehr zu beweisen, Partho«, sagte er. »Deshalb hoffe ich
auch, daß deine Hoffnungen nicht erfüllt werden. Die
Eroberung von Eskis und der Sieg über die Sekte der
Spinnenanbeter wird uns vorauseilen und unsere
Feinde erschauern lassen.«
»Das betrifft aber nur die Myraner«, kam eine
düstere Stimme aus dem Hintergrund.
Schweigen senkte sich über den Lagerplatz.
Dragon wandte sich um und blickte in Sardaks
sorgenvolles Gesicht.
»Wie meinst du das?« fragte Dragon den Helfer der
Hirten. »Wer, außer den myranischen Kriegern sollte
sich uns auf dem Marsch nach Myra noch
entgegenstellen? Es gibt keine Streitmacht zwischen
Eskis und dem Meer, die es mit uns aufnehmen
könnte.«
»Doch«, behauptete Sardak.
Nach einer Pause fuhr er fort: »Es gibt eine alte
Weissagung, wonach eines Tages die Horden der
Nacht aus dem Norden kommen und dieses Land
heimsuchen würden. Und dieser Tag ist nicht mehr
fern.«
»Du hast schon einige Male geheimnisvolle
Andeutungen über diese angebliche Gefahr aus dem
Norden gemacht«, meinte Dragon mit einem leichten
Schmunzeln. »Aber bisher hast du dich noch nicht
deutlicher darüber geäußert. Von wem hast du diese
Weissagung, daß du sie so ernst nimmst?«
»Ich habe sie von dem Märchenerzähler Adrar
gehört«, antwortete Sardak. »Er erzählte sie in einer
Nacht wie dieser, an einem Lagerfeuer wie diesem ...«
Dragon starrte sinnend zum Sternenhimmel hinauf,
in dem hell die Sichel des Mondes erstrahlte.
»Ja, eine Nacht wie diese ist geschaffen für das
Erzählen von Geschichten«, meinte er und blickte
wieder zu Sardak. »Wenn man die Gefahren des Tages
gemeistert hat, wenn man noch trunken ist vom Sieg
über die Tücken des Lebens, dann ruft man Träume
wach. Die Schrecken der Wirklichkeit verblassen dann
vor den Greueln, die der menschliche Geist ersinnt. In
dieser Stimmung befinde auch ich mich nun. Laß also
hören, was dein Freund, der Märchenerzähler Adrar
ersonnen ...«
»Du lachst mich aus, Dragon«, sagte Sardak ohne
Groll. »Auch ich habe Adrar für einen alten Narren
gehalten, der groß im Erzählen war und nichts von der
Wahrheit hielt ... Aber dann kam ich in die Ruinenstadt
Bo-gah, wo ich dem furchtbaren Cnossos begegnete
und wo ich Dinge erlebte, wie sie nicht einmal ein
kranker Geist ersinnen konnte. Ich denke nun anders
über
Adrar ...«
»Und die Horden der Nacht?« wollte Agrion wissen.
»Ich bin sicher, daß sich der Märchenerzähler diese
Geschichte nicht ausgedacht hat«, sagte Sardak. »Ich
habe schon früher gehört, daß in dem Land jenseits des
engen Wassers ein wildes Volk von Nachtgeschöpfen
herrscht. Wanderer, Kaufleute und Seefahrer haben
davon berichtet ...«
»Die Geschichten über die Horden der Nacht sind
bis nach Urgor gelangt«, mischte sich Partho ein. »Ich
habe auch schon Nabib, den Händler, davon erzählen
hören. Aber Genaues wußte auch er nicht, denn auf
seinen Reisen kam er nie weit in das Nordland, und bis
an die Weiße Küste scheint sich nie eines der
Nachtgeschöpfe verirrt zu haben.«
»Warum glaubst du nicht, daß es die Horden der
Nacht gibt, Dragon?« erkundigte sich Agrion. »Die
Katmahzari-Kriegerinnen wissen ebenfalls über diese
schrecklichen Nachtgeschöpfe zu berichten. Im Westen,
wo ihr Land nahe an das enge Wasser reicht, tragen die
jungen Mädchen Silber am Körper, um sich damit vor
diesen Scheusalen zu schützen. Wenn die Geschichten
über die Horden der Nacht nicht stimmten, warum
sollten sich die Amazonen dann vor ihnen fürchten?«
»Ich zweifle nicht daran, daß auch diese Geschichte
ein Körnchen Wahrheit hat«, sagte Dragon. »Sicher gibt
es im wilden Nordland, jenseits des engen Wassers
viele Wunder und Schrecken, von denen wir keine
Ahnung haben. Und wahrscheinlich gibt es dort auch
ein Volk, das durch seine Sitten und Bräuche und
sonstigen Eigenheiten den Namen Horden der Nacht
erhielt. Nur halte ich wenig von Weissagungen, die
Märchenerzähler am Lagerfeuer von sich geben. Doch
laß dich durch mich nicht entmutigen, deine
Geschichte zu erzählen, Sardak.«
»Mir geht es nicht so sehr darum, eine Geschichte zu
erzählen, Dragon«, behauptete Sardak »Ich wollte dich
vor den Horden der Nacht warnen! Vielleicht hat
Adrar übertrieben, als er voraussagte, daß diese
Nachtgeschöpfe eines Tages unser Land heimsuchen
würden. Aber es ist auch möglich, daß er wahr sprach,
und dann solltest du gewappnet sein, Dragon.«
Dragon machte eine umfassende Bewegung, in der
er das gesamte Heerlager einschloß.
»Mein Heer aus elf Tausendschaften steht jederzeit
bereit!« Sardak schüttelte den Kopf. »Damit kannst du
gegen die Horden der Nacht nichts ausrichten. Adrar
sagte, daß man diese Nachtgeschöpfe nur mit Waffen
aus Silber besiegen könne. Treibe einem von ihnen ein
eisernes Schwert ins Herz – er wird sich schnell
erholen. Seine Wunde schließt sich, und er stürzt sich
wieder auf dich. Wenn du ihm aber ein Schwert mit
einer silbernen Klinge in die Brust rammst, dann tötet
das Silber ihn auf der Stelle. Daran solltest du denken,
Dragon.«
»Unser Ziel ist Myra. Und dort werden unsere
bewährten Waffen genügen«, entgegnete Dragon.
»Welcher Tor wäre ich, wenn ich den Worten eines
Märchenerzählers, die ich noch dazu aus zweitem
Munde höre, glaubte und daraufhin mein Ziel aus den
Augen und sofort silberne Waffen schmieden ließe.
Das Silber liegt ja nicht gerade auf der Straße.«
»Aber im westlichen Katmahzar gibt es viel davon«,
erklärte Agrion. »Ich erinnere dich daran, daß sich die
West-Katmahzari damit gegen gelegentliche Vorstöße
der Nachtgeschöpfe schützen.«
»Genug davon«, sagte Dragon und machte eine
abschließende Handbewegung. »Vor uns liegt eine
schwere Aufgabe.«
Er erhob sich und sagte zu Partho: »Begleite mich in
mein Zelt. Ich möchte mit dir den Marschplan für die
Vorhut besprechen, die morgen aufbrechen soll ...«
Agrion und Sardak sahen den beiden nach, wie sie
in der Dunkelheit zwischen den Zelten verschwanden.
Nacheinander erhoben sich auch die anderen Krieger,
die sich um das Lagerfeuer versammelt hatten.
Schließlich blieben nur Agrion und Sardak zurück.
»Du glaubst doch auch daran, daß sich die
Weissagungen bewahrheiten werden«, sagte der Helfer
der Hirten. »Kannst du nicht Dragon davon
überzeugen, daß es lebensnotwendig ist, sein Heer mit
Silberwaffen auszurüsten?«
Agrion blickte ins Leere, als sie sagte:
»Ich weiß nicht, ob ich wirklich daran glaube, daß
die Horden der Nacht dieses Land in naher Zukunft
heimsuchen werden. Aber ich schließe es nicht aus und
meine, daß man sich unbedingt gegen diese Bedrohung
wappnen soll.«
Sie lächelte.
»Ich habe es nicht notwendig, Dragon von irgend
etwas überzeugen zu müssen. Ich befehlige
viertausend Kriegerinnen. Und wenn ich eine
Maßnahme für nötig erachte, dann ergreife ich sie,
ohne Dragons Einverständnis einzuholen.«
Sie stand auf und straffte sich.
»Ich werde handeln.«
Mit diesen Worten ließ sie Sardak am Lagerfeuer
zurück.
»Was hast du vor?« rief er ihr nach.
Aber sie gab ihm keine Antwort.
Sie erachtete es nicht für nötig, irgend jemand davon
zu unterrichten, daß sie eine Kriegerin nach
West-Katmahzar schicken wollte, um die Amazonen
damit zu beauftragen, alles verfügbare Silber zu
sammeln, einzuschmelzen und daraus Klingen und
Pfeil – und Lanzenspitzen zu schmieden.
2.
Die Tür der Hütte flog auf. Die Frauen kreischten auf,
als sie Gorin mit seiner Beute darin stehen sahen.
Hinter ihm drängten seine drei Söhne nach.
Helagha, Gorins Frau, und ihre beiden Töchter
starrten mit großen, ängstlichen Augen auf den Wolf,
der an einem Strick von Gorins Arm baumelte. Die
dunkelhäutige Sklavin Misirani wandte das Gesicht ab.
Gorins zernarbtes Gesicht verzerrte sich zu einem
wilden Grinsen, als er seine Beute auf den Holzboden
fallen ließ. Der Wolf, dessen Vorderläufe gebrochen
waren, winselte kläglich auf und scharrte verzweifelt
mit den Hinterläufen, aber es gelang ihm nicht, auf die
Beine zu kommen. Er rieb die gefesselte Schnauze am
Boden, um den Strick zu lösen und fletschte wütend
die Zähne.
Gorin gab ihm einen Tritt und ging dann in die
Hütte. Seine drei Söhne folgten.
»Wir haben ihn in einer Falle ganz nahe der Hütte
gefunden«, sagte Unga, Gorins jüngster Sohn, zu seiner
Mutter. »Die weiter draußen liegenden Fallen haben
wir erst gar nicht untersucht. Es wird immer
gefährlicher, sich von der Hütte zu entfernen ...«
»Du redest zuviel«, sagte Gorin, während er seine
Jacke der Sklavin zuwarf, die sie mit zitternden
Händen auffing. Sie warf dem winselnden Wolf einen
scheuen Blick zu und ging dann in den Nebenraum.
»Warum habt ihr das Biest nicht sofort getötet?«
fragte Anga, Gorins jüngere Tochter, fröstelnd.
»Warum bringt ihr uns einen lebenden Wolf ins
Haus?«
»Es muß sein«, sagte Xatha, der älteste der drei
Söhne.
Helagha warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu.
Gorin betastete bedächtig seine rechte
Gesichtshälfte, die durch einen Wolfsbiß vollkommen
entstellt war.
»Warum es sein muß?« sagte er. »Dieser Wolf ist
etwas Besonderes. Er verdient eine entsprechende
Todesart.«
Isli, seine ältere Tochter preßte die Faust auf den
Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken.
»Dann ... dann stimmt es, was der Führer der
Karawane gesagt hat?« fragte sie.
Gorin nickte, ging zu seiner Frau, legte ihr die Arme
auf die Schulter und drückte sie an sich. Ohne ihr in die
Augen zu sehen, sagte er:
»Die Horden der Nacht sind bereits in der Nähe.
Wir haben nicht mehr genügend Zeit, um uns und
unser Vieh in die Silberhöhle in Sicherheit zu bringen.
Im Norden und Westen wimmelt es bereits von diesen
Bestien und ihren blutrünstigen Herren. Wir können
nur noch nach Süden, zum Meer.«
»Und das Vieh?« fragte Helagha.
Gorin schüttelte den Kopf.
»Mit der Herde wären wir zu langsam. Wir müssen
sie zurücklassen. Vielleicht bringt uns das sogar einen
Vorsprung ein. Wenn die Bestien unser Vieh
entdecken, werden sie sich darauf stürzen ...«
Helagha preßte sich schluchzend an ihn. Gorin
knurrte und stieß sie zurück.
»Tränen«, sagte er abfällig. »Statt zu heulen, solltest
du machen, daß unsere Habe auf den Wagen kommt.
Diese Nacht wird nicht geschlafen. Der Mond wird
gleich am Himmel stehen, wir müssen wachsam sein.
Und denk daran, Helagha, das Silber so auf dem
Wagen unterzubringen, daß es griffbereit ist.«
Seine Frau nickte und wollte sich zurückziehen.
Gorin hielt sie jedoch am Arm zurück.
»Warte, ich mochte, daß du mit deinen Töchtern
dabei bist, wenn wir den Wolfsgott austreiben.«
Helaghas Augen weiteten sich vor Abscheu.
»Gorin, mir ekelt davor ... Müssen Isli und Anga
denn dabei sein, wenn du ...«
Gorin drückte ihren Arm fester.
»Es ist meine Pflicht, meine Familie zu schützen.
Und vor einem Wolfsbiß schützt Wolfsblut immer noch
am besten. Oder willst du, daß dir so ein Biest an die
Kehle geht?«
Helagha fügte sich in ihr Schicksal. Sie ließ sich
langsam zu Boden sinken und kniete vor dem Wolf
nieder. Ihre beiden Töchter taten es ihr gleich. Auch
ihre drei Söhne gingen in die Knie, so daß sie alle einen
Kreis um den verwundeten und gefesselten Wolf
bildeten.
Nur Gorin war stehengeblieben. Er zückte sein
Messer und beugte sich zu dem Wolf hinunter, der ihn
wild anfunkelte. Gorin gab einen krächzenden Laut
von sich und schnitt den Strick durch, der die
Wolfsschnauze zusammenhielt. Der Wolf riß das Maul
auf, um nach Gorin zu schnappen. Dieser ließ seine
geballte Faust vorschnellen, trieb sie dem Wolf in den
Rachen und schlitzte dem Tier mit einem Dolchschnitt
die Kehle auf. Gleichzeitig hob er den Körper des
verendenden Tieres auf und hielt ihn über sich, so daß
sich der Blutstrahl auf sein Gesicht ergoß. Dann
schwenkte er den Kadaver, um auch seine Frau, seine
Söhne und Töchter mit dem Wolfsblut zu tränken. Erst
als das Tier verblutet war, hielt er inne und schleuderte
den Kadaver durchs Fenster.
»Mehr kann ich im Augenblick nicht tun, um euch
vor dem Biß des Wolfes zu schützen«, sagte er
keuchend.
Gorin hatte sich nicht zu den anderen an den Tisch
gesetzt, sondern machte seine Runde um das Gehöft
und das Tiergehege. Voon und Troor, die beiden
Knechte, die diese Nacht Wache halten sollten,
berichteten übereinstimmend, daß sie aus Westen und
Norden Wolfsgeheul gehört hatten.
Zu anderen Zeiten wäre das nichts Besonderes
gewesen. In diesem Land wimmelte es von Wölfen, die
sich selbst im Sommer bis tief in die Ebene
herunterwagten. Aber jetzt stand die Wanderung der
Horden der Nacht unmittelbar bevor, und da konnte
jeder einzelne Wolf Vorbote der tödlichen Bedrohung
sein.
Gorin liebte dieses wilde Land. Es war nur dünn
besiedelt, und man konnte tagelang gehen, bevor man
auf einen anderen Menschen traf, der auch ein Mensch
war. Hier herrschten die Wölfe und deren
menschenähnliche Brüder. Aber trotzdem wollte Gorin
dieses Land nicht verlassen.
Es gab hier saftige Weidegrunde und unermeßliche
Bodenschätze, abgesehen davon zahlten die Händler
des Ostens für den Wolfspelz einen hohen Preis. Und
so gefährlich, wie manche behaupteten, war das Leben
hier gar nicht. Man mußte nur noch wilder und um
vieles klüger sein als die Wölfe.
Nur einmal in zwölf Sommern drohte aus dem
Norden und Westen ernste Gefahr. Dann rotteten sich
alle Wölfe und deren menschenähnliche Brüder
zusammen und folgten den Flußlaufen aus den Bergen
nach Süden, um bei den Wolfssteinen von Xanth ihrem
Gott in einem blutigen Opferritual zu huldigen. Zu
dieser Zeit war in diesem Land kein Mensch seines
Lebens sicher.
Es gab zwei Möglichkeiten, sich vor den Horden der
Nacht zu schützen. Entweder man flüchtete rechtzeitig
in die Länder des Ostens, die jenseits des engen
Wassers lagen, oder man zog nach Süden, zum Meer,
und schiffte sich für die Zeit der Wolfswanderung ein.
Für Gorin und seine Familie gab es auch noch eine
dritte Möglichkeit. Er kannte eine Höhle in den Bergen,
die von armdicken Silbersträngen durchzogen war.
Dort hatte er sich auch vor zwölf Sommern, bei der
letzten Wanderung der Wölfe, verborgen. Denn Silber
bot einen sicheren Schutz vor den Horden der Nacht.
Auf die echten Wölfe, wie Gorin vorhin einen in seiner
Hütte getötet hatte, übte Silber keine Wirkung aus, aber
auf jene, die weder Mensch noch Wolf und doch beides
zusammen waren, wirkte es tödlich.
Silber war die einzige Waffe, mit der man sich gegen
die Horden der Nacht wehren konnte. Aber diesmal
war Gorin zu spät daran, so daß er nicht mehr
genügend Zeit hatte, sich mit seiner Familie und dem
Vieh in die Silberhöhle zu flüchten. Er würde den Weg
zur Küste wählen müssen, wie einen Tag zuvor jene
Jägerkarawane, die ihm von dem raschen Vordringen
der Horden berichtete. Er hatte den Jägern nicht
geglaubt, weil er den Zeitpunkt der Wolfswanderung
für zu früh erachtete. Aber wenn er jetzt zum Mond
hinaufblickte, mußte er sich eingestehen, daß er sich
verschätzt hatte. Der Mond war keine schmale Sichel,
sondern bereits eine halbe Kugel.
Er verfluchte das Wetter, das es ihm nicht erlaubt
hatte, den richtigen Zeitpunkt für den Aufbruch
abzuschätzen. Den ganzen vergangenen Mond über
hatte es geregnet, und wenn es nicht geregnet hatte, so
war der Himmel des Nachts doch wolkenverhangen,
so daß er den Mond nicht hatte beobachten können.
So kam es, daß er zu einem überstürzten Aufbruch
gezwungen wurde. Die Frauen mußten in dieser Nacht
alle Habe auf dem Wagen verladen und ihre gesamten
Silbervorräte zusammentragen – jenes Silber, mit dem
sie sich vor den Horden der Nacht schützen und mit
dem sie ein Schiff erstehen konnten.
Gorin schreckte hoch, als sich ihm ein geduckter
Schatten näherte.
»Ich habe einen von ihnen gesehen«, rief ihm eine
heisere Stimme zu, die er als die von Troor erkannte.
Gorin brauchte nicht zu fragen, von wem der Knecht
sprach.
»Er ist nicht weit südlich von hier«, fuhr Troor
aufgeregt fort, »und er hat in einer Mulde zwischen
Felsen sein Lager aufgeschlagen. Ich fand ihn, als ich
dem Wolfsgeheul folgte. Er scheint das Haus nicht
entdeckt zu haben, denn sonst würde er sich nicht so
unbekümmert geben.«
»War er ganz allein?« fragte Gorin ungläubig.
Troor schüttelte den Kopf.
»Er ist nicht ganz allein, aber es ist doch seltsam, daß
er nur einen einzigen Wolf bei sich hat.«
»Das ist allerdings äußerst merkwürdig«, meinte
Gorin nachdenklich. »Bist du sicher, daß seine anderen
Wölfe nicht in der Nähe herumstreunen?«
»Wäre ich sonst wieder hier?«
»Nein«, mußte Gorin zugeben. »Die Wölfe hätten
dich gewittert und zerrissen.« Er straffte sich. »Du
bleibst mit Voon weiterhin in der Nähe des Hauses.
Unga lasse ich ebenfalls bei den Frauen zurück. Nur
Xatha und Wolha werden mich begleiten ...«
»Ich habe noch eine seltsame Entdeckung gemacht,
Gorin«, sagte der Knecht. »Der Wolfsgänger hatte seine
Gestalt nicht verändert, obwohl der Mond bereits am
Himmel steht. Er sah aus wie ein ganz normaler
Mensch. «
»Aber in seiner Begleitung ist ein Wolf?« fragte
Gorin. Als Troor nickte, meinte er abschließend: »Das
genügt.«
Gorin ließ den Knecht stehen und stürmte ins Haus.
Seine Frau und seine beiden Töchter, die gerade die
Ballen mit den wichtigsten Habseligkeiten schnürten,
sahen ihm erschrocken entgegen. Sie boten einen
furchtbaren Anblick, weil Gorin ihnen verboten hatte,
ihre Gesichter von dem Wolfsblut reinzuwaschen.
»Xatha, Wolha, die Silberwaffen«, sagte Gorin, ohne
die Frauen eines weiteren Blickes zu würdigen.
Xatha, der beste Bogenschütze unter ihnen, nahm
den Bogen und drei Pfeile mit silbernen Spitzen an
sich. Wolha vertauschte sein Krummschwert mit einem
solchen, das eine silberne Klinge besaß und soviel wert
wie ein Rind war. Corin begnügte sich damit, eine
Silberkette an sich zu nehmen, die zwei Armspannen
lang war.
Als Unea, der jüngste der drei Söhne, sah, daß ihn
sein Vater überging, wollte er aufbegehren, aber Gorin
schob ihn wortlos beiseite und stürmte mit Xatha und
Wolha aus dem Haus.
Sie schlichen sich gegen den Wind auf die von Troor
bezeichnete Stelle zu. Gorin kannte die Mulde, in der
der Wolfsgänger seinen Lagerplatz aufgeschlagen
hatte. Trotzdem hatte der Mond bereits eine weite
Strecke auf dem Himmel zurückgelegt, als sie die
Felsen erreichten und die Mulde einsehen konnten.
Gorin war äußerst vorsichtig zu Werke gegangen, da er
einfach nicht glauben konnte, daß der Wolfsgänger nur
eine einzige Bestie in seiner Begleitung hatte.
Aber jetzt war er sicher, daß es so war. Es war kein
anderer Wolf in der Nähe als der, der sich zu Füßen
des schlafenden Mannes zusammengerollt hatte. Das
war ungewöhnlich genug, aber noch unverständlicher
war für Gorin, daß der Wolfsgänger im Mondenschein
schlief und seine Gestalt nicht verändert hatte.
Gorin zuckte zusammen, als der Wolf plötzlich
aufsprang und ein schauerliches Heulen von sich gab.
Der Wolfsgänger erwachte augenblicklich und
sprang mit gezückten Schwert auf die Beine.
Das war das Zeichen für Gorin und seine Söhne zum
Angriff.
»Wir brauchen ihn lebend – für einen langsamen
Tod!« schrie Gorin seinen Söhnen zu, während er auf
dem Felsen nach vorne kletterte. »Sein Winseln soll
seine Brüder abschrecken!«
Xatha schoß einen Pfeil ab, der dem Wolfsgänger
den rechten Oberarm durchbohrte. Das Schwert entfiel
seiner Hand, aber gleich darauf lag ein Dolch in seiner
Linken. Wolha stürmte auf ihn zu und hieb mit dem
Silberschwert auf ihn ein. Aber der Wolfsgänger
parierte mit dem Dolch die Schläge und stellte sich so
geschickt, daß Wolha in der Schußlinie stand und
Xatha keinen zweiten Pfeil abschießen konnte. Dem
Wolfsgänger gelang es sogar, Wolha durch eine Finte
zu täuschen und ihm am Gelenk seiner Schwerthand
zu fassen. Gerade als er den Dolch zum tödlichen Stoß
erhob, landete Gorin auf seinem Rücken und schlang
ihm von hinten die Silberkette um den Hals.
»Wir haben ihn«, sagte Gorin keuchend und zog die
Kette fester. »Kümmert euch um den Wolf! Erledigt
ihn, damit er uns nicht in den Rücken fallen kann.«
»Warum hinterläßt die Silberkette bei dem
Wolfsgänger keine Spuren?« wunderte sich Wolha.
»Die Körperstellen, die mit dem Silber in Berührung
kommen, müßten doch sofort verwesen!«
»Kümmert euch um den Wolf, verdammt«,
herrschte Gorin seinen Sohn an.
»Gorin!« rief Xatha von seinem höhergelegenen
Standort. »Der Wolf läuft auf den Waldrand zu ... Dort
ist ein ganzes Rudel mit einem riesigen Leittier
aufgetaucht!«
Gorin hatte den Überwältigten mit der Silberkette
die Arme an den Hals gebunden. Jetzt hob er ihn mit
Wolhas Hilfe auf, und sie verließen zusammen mit
ihrem Gefangenen im Laufschritt die Mulde.
Als sie aus dem Schutz der Felsen kamen, sahen
auch sie das Wolfsrudel, an dessen Spitze sich ein mehr
als doppelt so großes Leittier befand.
»Das ist ein Wolfsgänger, der die Gestalt eines
Wolfes angenommen hat«, rief Gorin im Laufen.
»Schieße ihn ab, Xatha, dann lassen uns die Wölfe
vielleicht in Ruhe.«
Xatna spannte einen Pfeil in den Bogen und nahm
kaltblütig Ziel. Erst als der Wolfsmensch an der Spitze
des Rudels nahe genug war, ließ er den Pfeil los. Ein
tierischer Aufschrei zeigte ihm, daß er getroffen hatte.
Es war nicht weiter von Bedeutung, ob der Pfeil eine
tödliche Wunde geschlagen hatte, allein die
zersetzende Wirkung des Silbers würde den
Wolfsgänger zur Strecke bringen.
Xatha folgte seinem Vater und seinem Bruder und
half ihnen beim Tragen des Gefangenen. Ohne
weiteren Zwischenfall erreichten sie das Haus.
Gorin ließ sich von Troor ein Tau geben, warf es
über einen hervorspringenden Dachbalken, verknotete
es mit der Silberkette, mit der der Gefangene gefesselt
war und hievte ihn daran hoch.
Der Mann schrie auf.
»Das ist das Silber«, sagte Gorin grimmig.
»Nein, Gorin«, widersprach Wolha. »Ich habe
bemerkt, daß das Silber seine Haut nicht einmal
verfärbt hat.«
»Unsinn«, erklärte Gorin. »Kein Wolfsmensch ist
gegen Silber gefeit.«
»Ich weiß, aber dann ist dieser Mann eben kein
Wolfsgänger«, meinte Wolha.
»Er ist ein Freund der Wölfe«, sagte Gorin zornig.
Der Gefangene stöhnte.
»Arhr«, kam es über seine Lippen. Er öffnete die
Augen und starrte seine Häscher an. »Laßt mich
’runter, damit ich euch Achrs Tod heimzahlen kann. «
Gorin lachte rauh.
»Wenn Achr dein Wolf ist, dann tust du uns
unrecht, Fremder. Wir haben ihn nicht getötet. Er ist
uns entkommen und einem Wolfsgänger zugelaufen.«
»Das ist nicht wahr! Achr ist mir treu.«
Gorin lachte wieder.
Plötzlich erklang ein schauriges Geheul.
Voon kam den Hügel heruntergelaufen und rief:
»Sie kommen von allen Seiten. Die Horden der
Nacht kommen!«
Hinter ihm tauchten zwei Schatten auf, die in langen
Sätzen hinter ihm her hetzten. Als er nur noch wenige
Schritte von den anderen entfernt war, sprangen ihn
die Wölfe fast gleichzeitig an und rissen ihn zu Boden.
»Ins Haus, schnell!« befahl Corin und wirbelte
herum. Mit einem kraftvoll geführten Streich hieb er
das Tau durch, an dem der Gefangene baumelte und
schleppte ihn ins Haus.
»Ich heiße Gorin, Fremder«, sagte Gorin, während er
die Silberkette von den Armen seines Gefangenen löste.
»Ich hätte dich getötet, wenn die Wolfsmenschen nicht
aufgetaucht wären. Aber wir brauchen jeden Mann, der
mit Waffen umgehen kann.«
»Mein Name ist Bodo«, stellte sich der Fremde vor
und rieb sich die schmerzenden Gelenke. Er verzog das
Gesicht, als seinen Oberarm, wo ihn der Silberpfeil
getroffen hatte, ein stechender Schmerz durchfuhr.
»Achr war mein einziger Freund in diesem Land. Ich
habe ihn gefunden, als er verwundet war, und habe ihn
gesund gepflegt. Das hat er mir gedankt. Ich kann nicht
glauben, daß er sich den Horden der Nacht
angeschlossen hat.«
»Das dort draußen sind Geschöpfe vom selben Blut
wie dein Achr«, erklärte Gorin. »Es mußte so kommen.
Wie geht es deinem Arm? Kannst du kämpfen?
Misirani soll die Wunde verbinden. Wenn das
geschehen ist, dann melde dich wieder bei mir.«
Bodo ging zu der dunkelhäutigen Sklavin.
»Wie kommst du in dieses Land.« fragte er sie.
»Ich bin vor vielen Sommern von einem
Sklavenschiff geflüchtet und wurde von einem Jäger
mit nach Norden genommen«, erzählte sie. »Ich war
damals noch fast ein Kind. Gorin hat den Jäger im
Zweikampf besiegt. Seit damals gehöre ich ihm.«
»Ihm oder seinen Söhnen?« erkundigte sich Bodo
rundheraus.
Das Mädchen senkte den Blick und gab keine
Antwort.
Nach einer Weile sagte sie: »Der Verband ist fertig.«
Bodo lächelte ihr zu und kehrte in den anderen
Raum zurück.
Gorin und seine Söhne hatten inzwischen den
Eingang und alle Fenster verbarrikadiert. Draußen
heulten die Wölfe und rannten immer wieder gegen
das Haus an. Unga, der kaum jünger war als Bodo,
stand mit einer Fackel da.
»Die anderen sind schon im Stall«, sagte Unga und
deutete auf eine offene Tür, hinter der ein schmaler
Gang lag. »Dort geht es entlang.«
»Was wird aus Misirani?« erkundigte sich Bodo.
»Sie bleibt bei mir«, erklärte Unga bestimmt.
Bodo zuckte die Achseln und ging durch den
Verbindungsgang in den Stall. Vor dem großen Tor
stand ein vierrädriger Wagen, vor den zwei Pferde
gespannt waren. Gorins drei Töchter hatten sich
zwischen die Ballen auf der Ladefläche gezwängt.
Helagha saß auf dem Kutschbock, die Zügel in den
verkrampften Händen, Troor neben sich.
»Ihr habt zuviel auf den Wagen geladen«, sagte
Bodo.
»Um wieviel schneller, glaubst du, werden die
Pferde den Wagen ziehen können, wenn wir all unsere
Habe zurücklassen?« fragte Gorin spöttisch. Er hatte
sich auf den Rücken des besten Pferdes geschwungen.
Bodo sagte nichts darauf. Es war keine Frage, daß
die Wölfe in jedem Fall keine Mühe haben würden, mit
den Pferden Schritt zu halten. Wenn es überhaupt eine
Möglichkeit gab, den Horden der Nacht zu
entkommen, dann nur, wenn es gelang, einige
Wolfsmenschen zur Strecke zu bringen, so daß die
Wölfe führungslos wurden.
Xatha und Wolha hatten ebenfalls Pferde bestiegen.
Jeder von ihnen hielt eine Fackel in der Hand. Bodo
umrundete den Wagen und sah, daß an die Radachse
ein mannsgroßer Strohballen gebunden war. Aber
wonach er suchte, das fand er nicht.
»Gibt es kein Pferd mehr?« fragte Bodo.
Gorin grinste; sein von Wolfszähnen entstelltes
Gesicht bekam dabei einen dämonischen Ausdruck.
»Wenn du ein Pferd brauchst, dann mußt du dir
eines aus dem Gehege holen«, meinte er.
»Ich kann mir auch auf dem Wagen einen Platz
suchen«, erwiderte Bodo und machte Anstalten, über
eines der Räder auf den Wagen zu klettern. Da erhielt
er von hinten einen furchtbaren Schlag gegen den
Schädel, der ihm beinahe das Bewußtsein raubte. Ihm
wurde schwarz vor Augen, und er merkte nicht einmal,
wie er auf dem Boden aufschlug.
Als die Benommenheit ein wenig gewichen war,
versuchte er auf die Beine zu kommen. Jemand lief an
ihm vorbei und stieß ihn um. Er hörte Unga rufen:
»Ich habe das Haus in Brand gesteckt, als die
Wolfsmenschen die Fensterladen einbrachen.«
»Gut so. Auf den Kutschbock mit dir, Unga. Und du
verschwinde, Troor!«
»Aber ...«
Ein Aufschrei ertönte, und Bodo sah durch
verschleierte Augen, wie Troor in hohem Bogen vom
Wagen flog.
»Das Scheunentor auf, Xatha! « befahl Gorin.
Bodo hörte ein Knarren, dann ertönte ein Prasseln,
als Wolha den Strohballen entzündete, der an den
Wagen gekettet war. Hufgetrappel ertönte, und der
Wagen setzte sich ächzend in Bewegung.
Ihr werdet auch nicht weit kommen, dachte Bodo,
während er dem Wagen nachsah, der mit steigender
Geschwindigkeit in die Nacht hinausrollte, einen
Feuerschweif hinter sich nachziehend.
Er rappelte sich mühsam auf und kam endlich auf
die Beine. Aber kaum stand er, als ein mächtiger
Schatten durch die Luft segelte und auf ihm landete.
Von irgendwoher drang der schrille Schrei einer Frau
zu ihm. Er schlug um sich und spürte, wie scharfe
Krallen Spuren des Schmerzes über seine Brust zogen.
Über ihm tauchte das geifernde Maul eines Wolfes auf.
Messerscharfe Zähne näherten sich seiner Kehle und
umschlossen sie – aber die Zähne bohrten sich nicht in
sein Fleisch.
Bodo lag da und wagte sich nicht zu bewegen. Er
wußte, bei dem geringsten Versuch einer Gegenwehr
würde ihm die Bestie mit einem einzigen Biß den Kopf
abtrennen.
3.
Die Taggespenster kämpften verzweifelt um ihre
Freiheit.
Zuerst schlossen sie sich in ihren Holzberg ein,
dann, als sie merkten, daß sie dem Ansturm der
Mondherren und ihrer Gefährten, den Wölfen, nicht
länger mehr standhalten konnten, zündeten sie ihren
Holzberg an und flüchteten auf einem Wagen, der eine
Feuerspur hinter sich nachzog.
Wirch wurde beim Anblick des laufenden Feuers so
wütend, daß er allein mit seinen zwölf Gefährten den
Wagen verfolgte. Diese unüberlegte Handlung wäre
ihm beinahe zum Verhängnis geworden.
Er lief neben dem Wagen her und wollte gerade
hinaufspringen, als er sah, wie einer der weiblichen
Nachtschläfer mit Silber nach ihm warf. Er war vor
Schreck zu keiner Abwehrbewegung fähig, stand ganz
im Banne des silbrig glänzenden Dinges, das auf ihn
zuschoß. Da sprang einer seiner Gefährten dazwischen
und fing das Silbergeschoß mit seinem Körper auf.
Wirch heulte vor Wut auf, als er seinen Gefährten
sich überschlagend unter den Wagen fallen sah, wo er
von den Räder zermalmt wurde. Das brachte Wirch
beinahe um den Verstand. Er sprang eines der Pferde
an, rang es zu Boden und riß seine Kehle. Das andere
Pferd kam dabei ebenfalls zu Fall, so daß der Wagen
umkippte.
Damit waren die Taggespenster geschlagen. Wirchs
Gefährten brauchten nur noch die drei Männchen von
ihren Pferden zu holen und sie an den Kehlen
festzuhalten – an den Kehlen, den empfindlichsten
Stellen der Taggänger.
Wirch hatte gute Lust, sich über die vier Weibchen
herzumachen, aber sie stanken so abscheulich nach
Schweiß und Angst, daß er sich angewidert abwandte.
Zusammen mit den drei in dem brennenden
Holzberg zurückgebliebenen Taggängern wurden die
Gefangenen zu der übrigen Herde getrieben.
Wirch trabte auf die Herde zu. Er hatte sich schon
wieder beruhigt. Der Tod eines seiner Gefährten war
schon fast wieder vergessen; er dachte nur daran, daß
er sich bei Gelegenheit einen Zwölften beschaffen
mußte. Für einen Rudelführer war es nicht gut, nur elf
Gefährten zu haben.
Er benötigte einen zwölften.
Wirch ließ sich vor der Herde der Nachtschläfer, die
von den Wölfen zusammengehalten wurde, nieder und
heulte den Mond an.
Der Mond!
Es fehlte nicht mehr viel, dann wurde er rund sein.
Zwei oder drei Nächte noch, dann würde er sich zu
einem vollkommenen Rund aufgebläht haben. Und
dann mußten sie den Ort des Blutes erreicht haben.
Vor ihnen lag noch ein weiter Weg, und wenn sie
rechtzeitig am Ort des Blutes sein wollten, mußten sie
sich beeilen.
Wirch wandte sich vom Mond ab und heulte seinen
Wolfsbrüdern zu, daß sie die Nachtschläfer
weitertreiben sollten.
Wirch wollte schon weiterlaufen, sich an die Spitze
des Rudels setzen, um seine Brüder auf dem
schnellsten Weg nach Xanth, dem Ort des Blutes zu
führen, als er einen weiblichen Taggänger aufschreien
hörte.
Sofort änderte er seine ursprüngliche Absicht und
preschte mitten durch die Herde der Taggänger in die
Richtung, aus der der Schrei erklungen war. Wieder
schrie eines der Weibchen in höchster Not. Die
Taggespenster wichen erschrocken zur Seite, als er
zwischen ihnen hindurchrannte.
Da sah er Gerr, wie er auf einem dunkelhäutigen
Weibchen stand. Daneben lag ein Männchen, das noch
ziemlich jung war und heftig um sich schlug, obwohl
es von zweien von Gerrs Wölfen bedroht wurde.
Wirch sprang Gerr von der Seite her an und biß ihn
zur Warnung in den Vorderlauf. Gerr rollte sich ab und
kam sofort wieder auf alle viere. Für einen Moment
schien es, als wolle er sich auf Wirch stürzen. Aber
dann senkte er demütig den mächtigen Schädel,
knurrte irgend etwas und trollte sich. Seine Wölfe
folgten ihm winselnd.
Wirch beschnupperte die dunkelhäutige
Taggängerin und rannte dann ebenfalls davon. Sie
hatte keinen schlechten Geruch. Sie hatte etwas Wildes
an sich, das Wirch bisher nur bei Wölfen und
seinesgleichen gewittert hatte.
Er merkte sich diese Ausdünstung, vielleicht würde
er in Xanth dieser Nachtschläferin die Kraft des Wolfes
spüren lassen. Bei seinem Rückzug sprang Wirch über
das Männchen, das von Gerrs Wölfen in Schach
gehalten worden war. Und da stach ihm der wilde
Geruch noch stärker in die Schnauze.
Wirch erkannte, daß nicht das Weibchen die
Trägerin des scharfen Schweißes war, sondern dieses
Männchen. Er verhielt und wandte sich interessiert
dem Männchen zu.
Nachdem er es eingehend beschnuppert hatte,
knurrte er:
»Wie heißt du?«
»Bodo«, antwortete das Männchen ohne Angst.
Wirch warf den Schädel in den Nacken und trollte
sich.
Der Mond gibt dir Kraft, dir, durch dessen Adern
schwarzes Blut fließt.
Der Mond ist dein Bundesgenosse. Er leitet dich
durch die Nächte, ist schön wild – aber unerbittlich.
Wenn er am Himmel erscheint, dann zwingen dich
seine Strahlen in die Knie. Ob du nun willst oder nicht,
du mußt auf alle viere niedergehen. Du weißt, daß dich
nun eine schmerzhafte Verwandlung erwartet, ein
Schmerz dich überkommt, der dich zugleich auch
wonnig erschauern läßt.
Dein Körper verändert sich, deine Arme und Beine
schrumpfen, werden gertenschlank. Es fröstelt dich,
und da wächst dir ein Pelz. Du kannst nicht wittern,
und da bildet sich in deinem Gesicht eine Schnauze. Du
siehst den Mond als fahle Sichel oder blasse Scheibe –
und da geschieht etwas mit deinen Augen, sie
bekommen den Blick des Wolfes, so daß du den Mond
ganz anders sehen kannst.
Und solange der Mond die Nacht verschönt, bleibst
du ein Wolf.
Aber dann nimmt, der Mond Abschied von dir. Du
willst ihm folgen, doch er entschwindet schneller, als
du laufen kannst. Du heulst ihn an, um ihn zurück-
zuholen – aber der Mond ist unerbittlich.
So bleibt es dir nicht erspart, daß du dich
verkriechst, dein Fell abstreifen mußt und voll
Schmerzen spürst, wie sich dein Körper verwandelt.
Und wenn du aus den Schmerzen erwachst, dann
siehst du so aus wie die Taggespenster. Aber du
gehörst nicht zu ihnen, denn in deinen Adern fließt
schwarzes Blut ...
Wirch schüttelte sich, und der Nebel in seinem
Gehirn verflog. Er öffnete die Augen und blinzelte in
die Sonne. Wie sie ihn blendete, wie sie seine
unbehaarte Haut versengte und wie sie bis tief hinein
in sein Herz stach.
Wirch spürte es in seiner Brust: die Strahlen der
Sonne durchbohrten ihn wie Silberpfeile. Um wieviel
angenehmer war da das Licht des Mondes!
Der Wolfsmensch wischte sich die Hände an den
nackten Schenkeln ab und stand auf. Seine elf Wölfe
umsprangen ihn aufgeregt. Er warf sich auf sie und
balgte sich ein wenig mit ihnen.
Plötzlich gerieten seine Wölfe in Unruhe. Das Spiel
war vorbei, an ihrem Verhalten erkannte Wirch, daß sie
sich auf einen tödlichen Kampf einstellten.
»Nähert sich etwa Gerr?« sagte Wirch laut. Wenn er
in der Gestalt eines Taggängers war, gefiel er sich
darin, auch ihre Sprache anzuwenden.
Wenn es Gerr einfallen sollte, ihn hier zu stören,
dann würde er ihn ordentlich verprügeln. Vielleicht
würde er Gerr eines Tages sogar töten müssen. Er war
aufsässig und hetzte die anderen gegen ihn auf. Gerr
glaubte, seine rohe Körperkraft allein genüge, um aus
ihm einen Rudelführer zu machen. Wirch hatte schon
einmal gegen ihn gekämpft und gesiegt.
Wenn es noch einmal zu einer Auseinandersetzung
kam, würde er sein Leben nicht mehr verschonen.
Wirch wünschte sich beinahe, daß Gerr ihm die
Gelegenheit für einen Zweikampf gab.
Aber es war nicht Gerr, die die Unruhe unter seinen
Wölfen verursachte. Es war ein herrenlos streunender
Wolf, der seine Gefährten aufgebracht hatte.
»Nur ruhig, meine Brüder«, sagte Wirch zu seinen
Gefährten und ging dem herrenlosen Wolf entgegen.
Dieser senkte den Kopf, bleckte ängstlich das Gebiß
und kam vorsichtig, den Bauch über den Boden
schleifend näher.
Da stach Wirch der Geruch in die Nase, den er schon
bei dem männlichen Taggänger gewittert hatte, der
sich Bodo nannte.
Wirch befahl dem herrenlosen Wolf, stillzuhalten. Er
gehorchte. Wirch schnupperte wieder, und obwohl sein
Geruchsinn am Tage nicht so ausgeprägt wie im
Mondschein war, erkannte er, daß das Tier vor ihm
einen Geruch hatte, der eine Mischung aus
Wolfsschweiß und der Ausdünstung eines Taggängers
war.
Dieser Wolf war ein Freund der Taggespenster
gewesen. Aber jetzt bereute er offenbar seine
Verfehlung und kam winselnd zu seinesgleichen
zurück.
Wirch nahm Achr bei sich auf.
Bodo mußte Misirani manchmal beim Gehen stützen.
Der Wolfsmensch hatte ihr einige Verletzungen
zugefügt. Aber noch schlimmer als die Verletzungen
war, daß ihr Lebenswille fast völlig erloschen war.
Bodo kümmerte sich um sie, weil er fürchtete, daß die
Wölfe sie zerreißen würden, wenn sie hinter den
anderen zurückfiel.
»Wir werden sterben«, murmelte Misirani. »Warum
machen wir nicht sofort Schluß? Sterben werden wir
auf jeden Fall.«
»Man darf nie aufgeben, Misirani«, sagte er zu ihr.
»Man muß bis zum letzten Augenblick um sein Leben
kämpfen. Wer weiß, vielleicht ergibt sich noch einmal
die Gelegenheit zur Flucht.«
»Ich möchte sterben«, sagte Misirani und ließ sich
fallen.
Bodo, der durch den langen Fußmarsch selbst
geschwächt war, hob sie auf und trug sie auf den
Armen.
»Erinnere dich der Jägerkarawane, von der Gorin
gesprochen hat«, sprach Bodo weiter auf sie ein. »Gorin
behauptete, daß es mindestens hundert Mann sind –
alle mit Silber bewaffnet. Wenn wir auf sie stoßen,
könnte das unsere Rettung sein.«
Misirani sagte nichts. Sie hob nur den Kopf und
blickte auf das unübersehbare Heer von Wölfen und
Wolfsmenschen. Bodo mußte ihr innerlich recht geben.
Selbst eine Hundertschaft, bis an die Zähne mit Silber
bewaffnet, würde gegen dieses Rudel nichts ausrichten
können.
Es mußten bereits mehr als tausend Wolfsmenschen
sein, von denen jeder zwölf Wölfe bei sich hatte. Und
es wurden immer mehr. Bodo sah, daß ständig neue
Rudel zum Hauptrudel stießen. Die Wolfsmenschen
kamen aus Norden, Nordwest und aus dem Westen.
Ihr Ziel war Xanth, der Ort des Blutes, zu dem sie alle
zwölf Sommer pilgerten, um ihrem Gott Opfer
darzubringen.
Aber darüber sprach Bodo nicht mit Misirani. Er
versuchte durch aufmunternde Worte und indem er ihr
die Hoffnung gab, daß vielleicht noch Rettung für sie
kam, sie dazu zu bewegen, sich aus eigener Kraft
fortzubewegen. Und schließlich gelang ihm das auch.
Als die Nacht kam und die Wölfe ihnen eine
Ruhepause gönnten, zog sich Misirani mit ihm in eine
Senke zurück. Dort liebte sie ihn.
Bodo halte vorher erst zwei Mädchen gehabt – und
sie hatte er mit Gewalt genommen. Aber er glaubte,
daß Misirani die leidenschaftlichste Frau von der
ganzen Welt war. Vielleicht schenkte sie ihm in diesem
Augenblick alle Liebe zu deren sie fähig war, weil sie
wußte, daß sie morgen sterben würde.
»In der nächsten Nacht haben wir Vollmond«, sagte
sie.
»Denke nicht daran«, murmelte Bodo und drückte
sie so fest an sich, als wolle er sie zerdrücken.
»Wölfe lieben besser«, hörte Bodo eine gutturale
Stimme hinter sich.
Er wirbelte herum und sah eine Wolfsgestalt vor
sich. Es handelte sich um einen Wolfsmenschen, der
die dreifache Größe eines normalen Wolfes besaß.
Der Wolfsmensch stieß ihn mit der Schnauze an und
sagte:
»Steig auf!«
Im ersten Augenblick wußte Bodo nicht, was er
damit meinte. Aber dann glaubte er zu erkennen, daß
dies eine Aufforderung war, auf den Wolfsrücken zu
klettern und ihn zu reiten.
Bodo näherte sich zögernd dem Untier, hielt sich an
seinem Nackenpelz fest und schwang sich auf seinen
Rücken. Der Wolfsmensch setzte sich knurrend in
Bewegung. Bodo blickte sich nach Misirani um, die von
zwei Wölfen auf einen anderen Wolfsmenschen
zugetrieben wurde. Die anderen Gefangenen, deren
Zahl inzwischen auf ungefähr vierzig angestiegen war,
mußten ebenfalls jeder einen Wolfsmenschen
besteigen.
Es gab nur eine einzige Erklärung für das seltsame
Verhalten der Wolfsmenschen. Wahrscheinlich waren
sie noch zu weit von ihrem Ziel entfernt und trugen
ihre Gefangenen nur deshalb, um rascher nach Xanth
zu kommen. Sie mußten bei Vollmond am Ort des
Blutes sein, damit sie ihrem Gott ihr Blutopfer
darbringen konnten.
Der Wind schnitt Bodo ins Gesicht, als der
Wolfsmensch immer schneller wurde, und er mußte
die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkneifen.
Als sie den Großteil des Rudels hinter sich ließen und
in freieres Gelände kamen, wurde der Wolfsmensch
noch schneller. Bodo konnte nicht umhin, seine Kraft
und Ausdauer zu bewundern. Ihn schauderte bei dem
Gedanken, daß diese Geschöpfe der Nacht einmal über
die Grenzen dieses Land wandern und in die Länder
des Ostens oder Westens vordringen könnten. Es war
keine Frage, daß sie die dort lebenden Menschen
besiegen und auch deren Gebiete erobern würden.
Diese Geschöpfe waren einfach dafür geschaffen, die
Welt zu beherrschen. Einem Rudel wie diesem wurden
auch nicht die bestausgerüsteten Kriegerheere der
Ostländer erfolgreich Widerstand leisten können.
Bodo sah, daß sich dem Wolfsmenschen, auf dem er
durch die Nacht ritt, zwölf Wölfe angeschlossen hatten.
Sie flankierten ihn links und rechts, rannten vor ihm
her und hinter ihm nach, um ihn so von allen Seiten
her zu sichern.
Achr!
Bodo glaubte seinen Augen nicht trauen zu können,
als er zu seiner Linken seinen Wolf erkannte, der ihm
seit Jahren treu zur Seite gestanden hatte.
»Achr!« rief Bodo.
Aber der Wolf, in dem er seinen Gefährten zu
erkennen glaubte, schien ihn nicht gehört zu haben.
»Achr!« rief Bodo wieder; er war nun sicher, daß es
sich um seinen Wolfsfreund handelte, der mit ihm
durch einige Winter und Sommer gegangen war und
Freuden und Leid mit ihm geteilt hatte.
Diesmal hatte der Wolf den Ruf gehört. Er wandte
sich ihm zu, fletschte die Zähne und knurrte ihn
wütend an.
Der Wolfsmensch, auf dem Bodo ritt, ließ ein
zufriedenes Knurren hören.
»Achr gehört nun zu Wirch!« sagte er.
Bodo wurde von seinem Träger einfach abgeworfen.
Er segelte durch die Luft, überschlug sich einige Male
und blieb dann mit schmerzenden Gliedern im hohen
Gras liegen; es war vor allem sein verwundeter Arm,
der ihm Schmerzen verursachte.
Als er sich aufrichten wollte, waren sofort zwei
Wölfe über ihm und gaben ihm durch Knurrlaute zu
verstehen, daß er sich nicht vom Fleck rühren sollte.
Einer seiner beiden Bewacher war Achr.
Bodo starrte ihn lange an und sagte dann:
»Würdest du mich töten können, wenn es hart auf
hart ginge, Achr?«
Achr gab ein verhaltenes Heulen von sich,
woraufhin sich der andere Wolf an seine Seite drückte
und ihn spielerisch in die Rute biß.
»Du würdest es nicht können«, sagte Bodo mehr zu
sich. »Nein, das glaube ich nicht von dir.«
Aber redete er sich damit nicht nur etwas ein? Achr
war für ihn verloren. Sie waren schon oft auf
Wolfsrudel gestoßen, aber Achr war ihm immer treu
geblieben. Er hatte sogar einmal eine Wölfin für ihn
getötet. Als Bodo einmal einen Wolfsmenschen mit
einem silbernen Dorn durchbohrte, war es Achr, der
das mit dem Tode ringende Scheusal in Stücke gerissen
hatte.
Und warum nun diese Wandlung? Es schien fast, als
habe Achr die Bedeutung dieser Wolfswanderung
erkannt. Vielleicht erahnte er mit seinem Instinkt,
warum es die Wolfsmenschen und die Wölfe nach
Süden zog? Fühlte er, daß der kommende Vollmond
eine besondere Bedeutung hatte? Witterte er die Nähe
der Wolfssteine, die dem Gott des schwarzen Blutes
gewidmet waren?
Fragen über Fragen, die alle zu nichts führten.
Bodo merkte, daß sich die Situation geändert hatte.
Irgend etwas war vorgefallen. Die Wölfe heulten mehr
als zu anderen Zeiten – nicht einmal der Mond konnte
ihnen solche Klagelaute entlocken. Jetzt war der Mond
verschwunden, der Sonnenaufgang stand bevor, und
im Osten war der Horizont bereits hell. Die Helligkeit
griff schnell auf den gesamten Himmel über. Bodo lag
bewegungslos im Gras und starrte zu den über ihm
treibenden Wolken hinauf – und er überlegte.
Von links kam ein Wimmern. Der Klagelaut
stammte nicht von einem Wolf und ganz sicher auch
nicht von einem Menschen. War es Wirch, der dort
jammerte, und gerieten die Wölfe darüber so in
Unruhe?
Als Bodo vorsichtig den Kopf wandte, sah er, daß
auch die Gefährten der anderen Wolfsmenschen
kopflos und verwirrt umherstreunten und ihre
menschlichen Gefangenen gereizt anfauchten, wenn sie
sich bewegten.
Bodo ahnte, was das zu bedeuten hatte, und als er
den Kopf langsam auf die andere Seite drehte, fand er
seine Vermutung bestätigt. Die Wölfe waren in Sorge
um ihre Herren, die sich zurückgezogen hatten, um die
Verwandlung zu Menschen durchzumachen.
Zum erstenmal in seinem Leben konnte Bodo den
Vorgang dieser Verwandlung beobachten. Er sah, wie
sich der graue, pelzige Körper eines Wolfes in einen
Menschen verwandelte, konnte beobachten, wie die
Schnauze schrumpfte und wie ein Gesicht daraus
wurde, wie die Fellhaare förmlich in die Körperhaut
zurückwichen, wie aus Wolfsläufen Arme und Beine
mit Fingern und Zehen wurden und wie die Rute
schlangengleich das Rückgrat hinaufwanderte und mit
ihm verschmolz.
Aus dem zottigen Nackenpelz wurde ein borstiges
Haupthaar.
Der Augenblick für eine Flucht wäre günstig
gewesen. Die Wölfe, führungslos und verwirrt, würden
in ihrer Unsicherheit vielleicht nicht wagen, sich auf
ihn zu stürzen, denn ihre Herren mußten ihnen zu
verstehen gegeben haben, daß sie die Gefangenen
lebend zum Ort des Blutes führen wollten. Aber so
verlockend der Gedanke auf Flucht auch war, Bodo
wagte ihn nicht in die Tat umzusetzen. Er besaß keine
andere Waffe als seine bloßen Hände. Wenn er
wenigstens einen Dolch gehabt hätte, wäre er das
Wagnis eingegangen.
Sein Blick fiel auf Achr. Mit dem Wolf als
Verbündeten würde er die Flucht auch wagen können.
Bodo entschloß sich augenblicklich. Langsam
winkelte er die Beine ab, stürzte sich mit den Händen
auf und erhob sich vorsichtig.
»Ich kenne dich, Achr«, murmelte er dabei, ohne
seinen ehemaligen Gefährten aus den Augen zu lassen.
»Du könntest mir nichts antun, auch wenn ich jetzt
aufstünde. In deinen Adern fließt nicht wirklich
schwarzes Blut. Du bist mein Blutsbruder!«
Bodo stand. Achr duckte sich zum Sprung. Bodo
machte einen Schritt rückwärts und spürte im gleichen
Augenblick, wie ein heiser Atem gegen seine Wade
schlug. Er wirbelte herum, schlug mit der gesunden
Linken kraftvoll gegen das Rückgrat des Wolfes zu
seinen Füßen, warf sich auf ihn und bog ihm den
Schädel weit in den Nacken zurück. Noch bevor er
dem Wolf das Genick brechen konnte, erhielt er einen
Tritt in die Seite, der ihn einige Schritte zur Seite
schleuderte.
Über ihm stand Wirch.
»Du bist etwas Besonderes. Dich werde ich zuletzt
opfern!«
»Das ist zuviel der Ehre«, sagte Bodo.
Wirchs nach oben gezogene Augenbrauen schoben
sich über der Nasenwurzel zusammen, um seinen
breiten Mund erschien ein wölfisches Lächeln.
»Und dann werde ich deinen Körper Achr zum Fraß
vorwerfen«, fügte er hinzu. »Das wird nicht mehr lange
dauern. Wenn ich nach Süden blicke, sehe ich in der
Ferne bereits die Wolfsteine. Noch vor Einbruch der
Nacht werden wir Xanth erreicht haben. Und jetzt
mach, daß du auf die Beine kommst. Wie müssen
weiter.«
Das Rudel setzte sich wieder in Bewegung. Noch
bevor die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte,
kamen sie an ein Schlachtfeld. Bodo schätzte, daß hier
an die achtzig Menschen und doppelt so viele Wölfe
ihr Leben verloren hatten. Unter den Gefangenen
verbreitete sich die Nachricht, daß es sich hier um die
Überreste jener Jägerkarawane handelte, von der sich
Gorin Hilfe erwartet hatte.
Bodo, der sich an Wirchs Seite befand, beobachtete
den Wolfsmenschen, als dieser über das Schlachtfeld
blickte. Er schien von dem Anblick angewidert zu sein.
Bodo vermutete, daß den Wolfsmenschen die Tatsache
ärgerte, daß hier seine Artgenossen blindwütig
gemordet hatten, anstatt Gefangene zu machen.
Bodo sah es zwischen den Leichen einige Male
aufblitzen, in denen sich die Sonne spiegelte. So war es
auch – aber Bodo erkannte, daß es sich bei einigen um
besondere Waffen handelte.
Sie waren aus Silber geschmiedet!
Er spürte, wie ihn die Erregung überkam, als er über
ein Schwert mit silberner Klinge hinwegtrat. Er mußte
mit aller Kraft gegen die Versuchung ankämpfen, sich
nach der Waffe zu bücken und sie an sich zu bringen.
Aber schließlich siegte die Vernunft. Er sagte sich, daß
er eine Waffe von der Größe eines Schwertes nicht
unbemerkt unter seinem Gewand verstecken konnte.
Es mußte schon eine kleinere, handlichere Waffe sein.
Er stockte, als er durch das Gras eine fingerlange
Haarnadel schimmern sah. Es war nur ein
Schmuckstück, mit dem man einen Gegner höchstens
eine harmlose Verletzung zufügen konnte. Aber es war
ein Schmuckstück aus Silber – und dieses Metall besaß
für einen Wolfsmenschen eine tödliche Wirkung.
Bodo tat, als strauchle er. Als er über der Silbernadel
lag, steckte er sie sich mit einer flinken Bewegung unter
das Gewand. Als sich später die Gelegenheit dazu
ergab, verbarg er die Nadel unter seinem wallenden
Haupthaar.
Jetzt fühlte er sich sogleich wohler. Er besaß eine
Waffe, die zumindest für einen Wolfsmenschen den
Tod bedeuten konnte.
Wie es Wirch vorausgesagt hatte, erreichten sie
Xanth noch vor Sonnenuntergang. Aber ein anderes
Rudel, das fast so stark war wie das von Wirch, war
schon lange vor ihnen eingetroffen. Und das schuf für
die Wolfsmenschen ein Problem:
Es gab zwei Rudelführer, einer so mächtig wie der
andere. Aber es war nur Platz für einen.
Die Wolfssteine standen schon seit undenklichen
Zeiten auf diesem Platz Niemand hätte mehr sagen
können, wer sie hergeschafft und wer sie behauen
hatte. Aber alle in diesem Land wußten, daß die
Horden der Nacht alle zwölf Sommer im Mond des
Löwen hierher nach Xanth pilgerten, um im Vollmond
das Fest des Blutes zu feiern.
Manche der Steine waren zehnmal mannshoch und
so schwer, daß es hundert und mehr Sklaven bedurft
hätte, um sie zu befördern.
Die Wolfsmenschen glaubten daran, daß ihr Gott
diesen Ort geschaffen hatte.
Die Wolfssteine waren über eine weite Fläche
verteilt und bildeten ein kreisähnliches Gebilde. Im
äußersten Kreis standen größtenteils unbehauene
Felsen, die mit Moos und dem Kot der Wölfe bedeckt
waren. Hier blühte keine Blume, nur Disteln und
Stachelgewächse bedeckten den Boden, und das Gras
war hier von einem häßlichen Braungrün.
Näher zum Mittelpunkt des Kreises standen die
eigentlichen Wolfssteine, in die Schriftzeichen einer
unbekannten Sprache gehauen waren und die mitunter
seltsame und skurrile Formen aufwiesen. Es waren
riesige Quader, auf die noch größere Steine getürmt
waren, die von Meisterhand geschaffene Rillen,
großflächige Vertiefungen und Vorsprünge aufwiesen;
Gesichter von Ungeheuern waren hineingemeißelt.
Große Quader wurden oft von mehreren Säulen
getragen, manche Steine ragten senkrecht in den
Himmel, andere wieder erhoben sich schräg aus dem
Boden und verjüngten sich an ihrem Ende zu Spitzen,
die wie Pfeile in eine Himmelsrichtung wiesen: nach
Osten.
Die Bedeutung dieser Pfeilsteine war nur den
Wolfsmenschen klar. Sie glaubten daran, daß sie jene
Richtung wiesen, aus der eines Tages ihr Gott geflogen
käme, um ihnen zu sagen, wofür sie lebten und was ihr
Ziel sein sollte.
Im innersten Kreis war eine freie Fläche, die von den
größten Wolfssteinen umgeben war. Dort stand der
kunstvoll behauene Opferstein mit dem
hochaufragenden Zentralstein, auf dem die u-förmige
Mondschale thronte. Diese Mondschale war ein an den
Seiten abgerundeter Fels, in den an der Oberseite eine
Einkerbung von der Form eines Halbkreises gehauen
worden war.
Dieser Mondschale kam eine besondere Bedeutung
zu. Wenn der Vollmond, vom Altar aus gesehen, die
halbrunde Vertiefung ausfüllte, dann war dies das
Zeichen für den Beginn des Festes.
Aber noch war es nicht soweit. Die Sonne strebte
dem Horizont zu, und die Schatten der Wolfssteine
wurden immer länger. Zwischen den riesigen
Felsquadern tummelten sich Tausende von Wölfen und
etwa zweitausend Wolfsmenschen in Menschengestalt.
Vor dem Opferstein aber standen sich zwei
Wolfsmenschen in geduckter Haltung gegenüber:
Wirch und der Führer des anderen Rudels.
»Ich bin Chrn«, sagte der andere Rudelführer, ein
riesiger Bursche, der Wirch um einen halben Kopf
überragte und nur aus Muskeln zu bestehen schien.
Aber sein ehemals pechschwarzes Haar wies bereits
graue Stellen auf. Daraus schloß Wirch, daß er um
vieles älter war als er selbst. Sicher hatte Chrn bereits
an mehr als drei Wolfswanderungen teilgenommen.
Und noch etwas entdeckte Wirch auf den ersten
Blick: sein Gegner war nicht besonders klug. Sein
langes Leben hatte er mehr seinen rohen Körperkräften
zu verdanken als seinem Verstand.
»Ich bin Wirch, und hier ist nur für mich Platz.«
Der andere Rudelführer gab ein Heulen von sich,
mit dem er Wirch verhöhnen wollte, und blähte seinen
Brustkorb zu einem tonnenförmigen Gebilde auf.
»Ich werde Wirch zwischen meinen Armen
zerdrücken«, prophezeite Chrn. Wirch wollte ihm
glauben, daß er die nötige Kraft dafür besaß, aber er
sagte:
»Noch bevor du mich zwischen deine Arme
bekommst, werde ich deinen Schädel am Opferstein
zerschmettern. Du hast Kraft Chrn, aber nicht den
nötigen Verstand, um ein Rudel zu führen.«
Chrn breitete seine muskelbepackte Arme aus und
stürzte sich auf Wirch, der jedoch geschickt auswich, so
daß Chrn gegen den Opferstein taumelte. Noch bevor
er herumwirbeln konnte, sprang Wirch auf seinen
Rücken, faßte mit beiden Händen in sein dichtes
Haupthaar und schlug ihm den Schädel gegen eine
Erhöhung des Opfersteins.
Er ließ erst von Chrn ab, als dieser tot war.
Die umstehenden Wolfsmenschen waren enttäuscht,
daß der Kampf nur so kurz gedauert hatte. Aber
dennoch schätzten sie Wirchs Leistung richtig ein und
feierten ihn als ihren neuen Rudelführer.
Wirch rief seine zwölf Wölfe herbei und überließ
ihnen den toten Chrn.
Das schwarze Blut des toten Widersachers würde
ihnen zusätzliche Kräfte verleihen, wenn sie sich
dessen zwölf Wölfen zum Kampf stellten ...
»Die Sonne sinkt, der Vollmond erwacht«, schrie
Wirch vom Opferstein aus über die versammelten
Wolfsmenschen hinweg. »Badet euch in seinem Licht,
Brüder, betet ihn an und erfleht euch die Gnade des
Wolfsgottes, auf daß seine Kraft in eure Wolfskörper
übergeht und euer schwarzes Blut berauscht!«
Die Sonne versank bei Wirchs letzten Worten.
Die Wolfsmenschen zogen sich in abgelegene
Winkel zurück, um sich dem Schmerz der
unheimlichen Verwandlung zu ergeben.
4.
Der Vollmond strahlte hell auf Xanth, den Ort des
Blutes hinunter, und an die hundert Menschen wußten,
daß sie ihrem baldigen Ende entgegensahen.
»Misirani!«
Bodo stieß einen Jüngling beiseite, der ihm im Wege
stand und folgte den verzweifelten Schreien der
dunkelhäutigen Sklavin. Die anderen Gefangenen
wichen entsetzt zurück, als ihnen der riesenhafte Wolf
entgegenlief, der seine Beute im Maul trug.
Misirani schlug verzweifelt um sich, aber der
Wolfsmensch hielt sie sicher mit seinen Zähnen fest.
Bodo benahm sich wie ein Rasender. Es war ihm in
diesem Augenblick egal, was die Wölfe mit ihm tun
würden.
Er hatte den Wolfsmenschen schon fast erreicht, der
mit Misirani im Maul davonrannte, als sich ihm einer
der Gefangenen in den Weg stellte.
»Willst du dich den Wölfen zum Fraß vorwerfen?«
fragte der Mann und packte Bodo an den Oberarmen.
Bodo erkannte Gorin, der ihn hilflos in seinem
brennenden Stall zurückgelassen hatte, und schlug ihm
mit aller Kraft in das von Wolfszähnen entstellte
Gesicht.
Als Bodo weiter wollte, war der Wolfsmensch mit
Misirani verschwunden. Er hätte dennoch wieder die
Verfolgung aufgenommen, wenn ihn kräftige Arme
nicht daran gehindert hätten. Gorins drei Söhne hielten
ihn fest und machten Anstalten, ihn zu verprügeln.
»Laßt ihn«, sagte Gorin und spuckte einen Zahn aus,
während er sich erhob. Er starrte seine drei Söhne
wütend an und sagte: »Warum habt ihr die Frauen
verlassen! Habe ich euch nicht aufgetragen, sie mit
eurem Leben zu schützen und sie notfalls zu töten, ehe
sie den Wölfen in die Hände fallen?«
Seine drei Söhne senkten schuldbewußt den Blick
und ließen von Bodo ab.
Da gellte eine schrille Frauenstimme auf.
»Gorin! Sie nehmen Isli und Anga mit sich!«
Gorin stieß seine Söhne beiseite und stürmte in die
Richtung, aus der der Ruf seiner Frau gekommen war.
Ein riesiger Schatten tauchte vor ihm auf, der seine
jüngere Tochter im Maul trug. Gorin stürzte sich
bedenkenlos auf ihn und bohrte ihm die Nägel seiner
Finger in die Augen. Der Wolfsmensch heulte vor
Schmerz auf, aber er ließ Anga nicht los. Er sprang in
die Höhe und stieß Gorin mit den Vorderlaufen um.
Aber Gorin gab nicht auf. Er wollte sich wieder
aufrappeln, doch da waren bereits die Gefährten des
Wolfsmenschen heran.
Ein Wolf verbiß sich in seinem Oberschenkel, ein
zweiter zerbiß sein Handgelenk. Dann ließen sie
wieder von ihm ab. Sie schonten sein Leben für das
Opferritual.
Gorin starrte auf seine Hand, die wie ein
Fremdkörper von seinem Arm baumelte.
Das war das letzte, das Bodo von ihnen sah. Denn
nun brach ein Tumult los. Wölfe preschten in die
Reihen der Gefangenen und trieben sie auseinander.
Bodo erkannte ihre Absicht, sie wollten sie
voneinander absondern, damit sie sich in ihrer
Verzweiflung nicht zusammenrotteten und einen
Fluchtversuch unternahmen. Einige der Gefangenen
wurden auf den Opferstein zugetrieben, wo bereits
Wolfsmenschen ihrer harrten.
Bodo warf einen Blick zum Vollmond hinauf und
rechnete sich aus, daß es nicht mehr lange dauern
konnte, bis er in der Schale des Mondsteins stand.
Er wurde von einem Wolfsrudel vorangetrieben,
doch merkte er, daß die Tiere nicht viel Notiz von ihm
nahmen. Sie schenkten der Wanderung des
Vollmondes mehr Aufmerksamkeit als ihm. Alle
standen sie ganz im Banne der kommenden Ereignisse,
und obwohl ihre Gefangenen so wichtig für das
Opferritual waren, kümmerten sie sich nur wie
nebenbei um sie.
Bodo wußte, daß nun bald seine Gelegenheit
gekommen war, um die Flucht zu versuchen. Wenn
Wirch Wort hielt und ihn als letztes Opfer bestimmte,
dann hatte er noch eine Galgenfrist. Aber er durfte
auch nicht zu lange warten. Er mußte handeln, solange
die Wolfsmenschen und ihre Brüder, die Wölfe, so sehr
im Banne des Vollmondes standen.
Während sich Bodo von den Wölfen in den
innersten Kreis von Xanth treiben ließ, wartete er auf
eine günstige Gelegenheit zur Flucht. Er holte die
Silbernadel aus seinem Haar und hielt sie in seiner
Faust fest.
Sollte er es jetzt versuchen?
Bodo hatte bereits seinen Entschluß gefaßt, als ein
Aufheulen durch die Reihen der Wolfsmenschen ging.
Er erschauerte, denn er dachte, daß der Mond die
Schale des Mondsteines erreicht hatte und das Fest des
Blutes beginnen würde. Als er jedoch aufblickte,
erkannte er, daß die Aufregung der Wolfsmenschen
einem anderen Ereignis galt.
Vor dem Vollmond kreiste ein riesiger Geier, der
nun hinunterstieß und auf dem Mondstein landete. Die
Vogelgestalt löste sich auf und wurde zu einem
Menschen mit einem Wolfsgesicht, um dessen Gestalt
ein weiter Umhang flatterte.
Dieses seltsame und unheimliche Wesen streckte die
Arme nach dem Mond aus und rief mit donnernder
Stimme:
»Meine Söhne des schwarzen Blutes, hier bin ich!«
Cnossos blickte voll Zufriedenheit auf seine Horden
der Nacht hinunter.
Diese seine Söhne, die aus Verbindungen zwischen
ihm und den kräftigsten und klügsten Wölfinnen
dieses Landes hervorgegangen waren, waren die
stärkste Waffe, die er im Augenblick gegen seinen
Erzfeind Dragon aufbringen konnte.
Das Zwischenspiel in Bo-gah hatte nur dazu
gedient. Dragon auf dem Weg nach Myra aufzuhalten,
damit er, Cnossos, einen Vorsprung erhielt und
Gelegenheit hatte, seine Horden der Nacht in die
Schlacht zu werfen.
Inzwischen hatte Cnossos die Gewißheit, daß der
Kampf in Bo-gah, der Stadt der verlorenen Seelen, für
ihn mit einer Niederlage geendet hatte. Er wußte zwar
nichts Genaues über den Ausgang des Kampfes, aber
er hatte einen Teil seines Körpers als Beobachter bei
seinem Diener Urak zurückgelassen – und da der
Kontakt zu diesem Körperfragment vor kurzem schnell
und schmerzhaft abgebrochen war, konnte er nur
vernichtet worden sein. Das hieß auch, daß sein Diener
Urak gefallen war und mit ihm wahrscheinlich auch
Bo-gah.
Cnossos hatte inzwischen den Schmerz über sein
verlorenes Körperfragment überwunden – um Urak
und seine anderen Diener trauerte er nicht einen
Augenblick lang – und sich auf seine nächsten Schritte
vorbereitet.
Es war ein erhebendes Gefühl, auf dieses Heer
wilder, kampfbesessener Geschöpfe hinunterzublicken
und zu wissen, daß sie ihm gehorchten. Es waren
zweitausend praktisch unbesiegbarer Wolfsmenschen,
von denen jedem zwölf Wölfe zur Seite standen.
Er hatte schon vor tausend Jahren und länger damit
begonnen, sie zu züchten und sich später von ihnen als
ihr Gott feiern zu lassen. Und obwohl er nur selten
Vorstöße in ihr Gebiet unternahm, hielten sie von sich
aus an dem jahrhundertealten Brauch fest, alle zwölf
Sommer nach Xanth zu pilgern, um hier Cnossos zu
huldigen.
Es waren treue Söhne, die nicht vergaßen, seiner zu
gedenken.
Er würde sie belohnen, ihnen eine Aufgabe geben,
die ihrer gerecht wurde. Es wäre eine Schande
gewesen, ein solch gewaltiges Heer aus Wesen, denen
kein Schwertstreich, keine Lanze, kein Pfeil etwas
anhaben konnte und die nur die zersetzende Kraft des
Silbers zu fürchten hatten, nicht zum Einsatz zu
bringen. Zweitausend Wolfsmenschen mit
vierundzwanzigtausend Wölfen – wer auf dieser Welt
könnte eine solche Streitmacht besiegen?
Nicht einmal Dragon wäre diesem Gegner
gewachsen.
Der Gedanke an seinen Feind, der ihm schon so
viele Niederlagen zugefügt hatte, machte Cnossos
rasend. Ein uralter Haß verband ihn mit Dragon, der
noch in eine Zeit zurückreichte, die vor dem Untergang
von Atlantis lag. Dragon war das einzige Lebewesen
auf dieser Welt, zu der Cnossos eine echte Beziehung
hatte, niemand sonst lebte heute mehr, der die
Erinnerung an eine längst vergangene Zeit in ihm
wecken konnte.
Dragon hatte schon einmal vor zweitausend Jahren,
vor dem endgültigen Untergang von Atlantis, seinen
Weg gekreuzt. Cnossos vergaß es nicht, und die
damals unterbrochene Auseinandersetzung würde nun
beendet werden. Diesen Zweikampf konnte nur einer
überleben, und für Cnossos gab es keinen Zweifel, daß
er es war, der als Sieger daraus hervorgehen würde.
Cnossos blickte auf den Opferstein hinunter, wo die
ersten drei Gefangenen zusammengekauert hockten,
von einem Wolfsrudel in Schach gehalten. Er war sich
seiner Wirkung auf die Wolfsmenschen vollauf
bewußt. Aber er wußte auch, daß er sie nicht zu lange
hinhalten durfte, denn sonst wurden sie ungeduldig
und hörten nicht mehr auf das, was er ihnen zu sagen
hatte.
Sie lechzten nach Blut.
Es war noch nicht viel Zeit verstrichen, seit Cnossos
auf dem Mondstein gelandet war, da fuhr er fort:
»Ich bin zu euch gekommen, meine Söhne, um an
eurem Fest teilzunehmen. Ihr sollt nicht allein das Fest
des schwarzen Blutes feiern, sondern im Schatten eures
Gottes stehen, der die Kraft, das Ungestüm, die
Wildheit und die Unbesiegbarkeit in eure Herzen
geplanzt hat. Laßt uns gemeinsam von dem Blut der
Schwachen trinken.«
Unter dem jubelnden Geheul der Wolfsmenschen
wurden Cnossos‘ Arme zu Schwingen, auf denen er
zum Opferstein hinuntersegelte. Die drei Gefangenen
auf dem Opferstein sahen voll Entsetzen die Gestalt
mit dem Menschenkörper, den Geierflügeln und der
Wolfsfratze auf sich zustürzen und klammerten sich im
Angesicht des Todes aneinander.
Cnossos bereitete ihnen einen schmerzlosen
Abgang. Dann schleuderte er sie den nächststehenden
Wolfsmenschen zu, die sich über die Opfer
hermachten.
Die blutleeren Körper überließen sie ihren Wölfen.
Cnossos überließ die weitere Opferung den
Wolfsmenschen. Er stand nur als Zuschauer daneben
und ließ die Erregung seiner Geschöpfe auf sich
übergreifen.
Aber er tat noch mehr als das. Sein Hiersein hatte
einen besonderen Grund. Er wollte sich nicht nur
zeigen, um die Erinnerung an sich in ihnen
wachzuhalten, sondern wollte sich ihrer im Kampf
gegen Dragon bedienen.
Normalerweise würden sich die Wolfsmenschen
nach dem Ritual den Rückzug in ihre jeweiligen
Heimatorte antreten und nach zwölf Sommern wieder
zum Ort des Blutes zurückkommen.
Das aber wollte Cnossos verhindern. Der Wolfsgott
verlangte diesmal mehr von seinen Geschöpfen als eine
Huldigung an seine Person. Er verlangte ihre Hilfe,
ihre tatkräftige Unterstützung im Kampf gegen die
Elemente, die seine Vormachtstellung in dieser Welt zu
brechen drohten.
»Trinkt euch satt. Söhne meines Blutes«, rief er
donnernd über die entfesselte Horde der
Wolfsmenschen hinweg. »Denn wenn dieser Vollmond
vom Himmel verschwunden ist, dann werdet ihr Kraft
und List brauchen. Diesmal soll das Fest des Blutes
nicht mit dem Untergang des Mondes beendet sein. Es
wird weitergehen, über viele Tage und Nächte hinaus.«
Cnossos‘ Worte brachten die Wolfsmenschen zur
Raserei. Menschenblut, das war das Zauberwort, das
eine magische Wirkung auf sie ausübte.
»Es werden Nächte des Blutes anbrechen«, fuhr
Cnossos fort, »wenn ihr mir in die Länder des Ostens
folgt. Eine nie versiegende Quelle erwartet euch in den
Ländern jenseits des engen Wassers. Wollt ihr mir in
dieses verheißungsvolle Land folgen? Wollt ihr die
endlosen Nächte des Blutes, meine Söhne?«
Die Antwort war ein Geheul, das weit über die
Grenze von Xanth bis zu den Bergen im Norden und
dem Meer im Süden hallte.
Cnossos hatte nichts anderes erwartet, als daß die
Horden der Nacht seinem Ruf folgen würden.
»Ich komme, Dragon«, sagte Cnossos zu sich, »um
den Zweikampf für mich zu entscheiden, der vor
zweitausend Jahren begonnen hat.«
Bodo hatte die Aufforderung des schrecklichen
Wolfsgottes an seine unheimlichen Geschöpfe
schaudernd vernommen.
Jetzt wollte er nicht länger mehr warten. Die
Wolfsmenschen standen immer noch im Banne des
Unheimlichen, und einige waren bereits vom Blut ihrer
Opfer berauscht. Auch die Wölfe waren zur
Bewegungslosigkeit erstarrt, als hätte sie die Stimme
des Wolfsgottes gelähmt.
Bodo schlich sich vorsichtig zwischen ihnen zum
Rand der Wolfssteine. Er ließ den innersten Kreis
unbehelligt zurück und bewegte sich nun rascher
vorwärts, sich ständig im Schatten der mächtigen
Steinquader haltend. Die Wolfsmenschen hielten sich
alle im innersten Kreis auf, so daß nur noch von deren
Gefährten, den Wölfen, Gefahr drohte.
Aber sie schienen ihn nicht zu bemerken, sie
schienen von der Stimme gefangen zu sein, die die Luft
erfüllte.
Was für ein Geschöpf war das nur! Bodo hatte die
Schreckensbilder vergessen, er sah nur dieses Wesen
immer wieder vor sich, das die Horden der Nacht
allein mit seiner Wortgewalt und seiner Ausstrahlung
in den Bann schlug.
Es mußte ein Gott sein, ein furchtbarer, grausamer,
menschenfeindlicher Dämon!
Bodo hatte die äußersten Steine erreicht, die nach
dem Kot der Wölfe stanken, und wollte sich in das
unwegsame Gelände hinausbegeben, wo er hinter
Felsen und in Mulden reichlich Schutz finden würde.
Er glaubte sich schon in Sicherheit, als er hinter sich ein
Tappen und ein verhaltenes Knurren vernahm.
Er ergriff einen spitzen Stein und wirbelte herum.
»Achr!« entfuhr es ihm.
Der Wolf, der noch vor wenigen Tagen sein Freund
gewesen war, blieb hechelnd stehen.
»Bist du als Freund gekommen oder als Feind?«
fragte Bodo zweifelnd.
Achr duckte sich, und es war nicht zu erkennen, ob
er es aus Demut tat, oder um ihn anzuspringen.
Bodo hielt auf alle Fälle den Stein wie einen Dolch
stoßbereit und sagte:
»Wenn du der Verräter bist, als der du dich gegeben,
dann zeige es. Die Entscheidung muß jetzt fallen, damit
ich nicht länger mehr über dich im Zweifel bin.«
Achr gab ein wütendes Knurren von sich, und Bodo
glaubte, daß er ihn nun anspringen wurde. Aber Achr
tat etwas anderes, das für Bodo im ersten Augenblick
keinen Sinn ergab: Er drehte sich um und heulte in
Richtung der Wolfssteine.
Da tauchten zwischen den Felsquadern zwei Wölfe
auf.
Achr stellte sich ihnen zum Kampf.
»Du bist doch mein Freund«, sagte Bodo gerührt
und näherte sich Achr, um ihn im Kampf gegen die
beiden Angreifer zu unterstützen.
Aber Achr knurrte ihn an und schnappte warnend
nach ihm.
Bodo verstand seine Verhaltensweise: Achr
verscheuchte ihn, wollte, daß er seine Flucht fortsetzte
und zeigte seine Bereitschaft an, seinen Rückzug zu
decken.
Bodo zögerte nur einen Augenblick, dann setzte er
seine Flucht fort. Die Nacht verschluckte ihn.
Bei den Wolfsfelsen aber gab ein Wolf im Kampf
gegen seine Artgenossen sein Leben für seinen
menschlichen Freund hin.
Wirch heulte seine Wut dem Vollmond entgegen. Sein
Gefangener, den er sich als letztes Opfer des Blutfestes
aufgespart hatte, war entflohen.
Zweifellos war es ihm gelungen, den Ort des Blutes
zu verlassen, während sie sich von den Worten ihres
Gottes und vom Blut der geopferten Taggänger
berauschen ließen.
Wirch hätte deswegen am liebsten seine zwölf Wölfe
getötet; denn sie hätten den Gefangenen bewachen
müssen, auch wenn er seine Aufmerksamkeit auf
andere Dinge konzentrierte.
Aber dann fiel sein Blick auf Gerr, der sich mit
seinen Wölfinnen balgte, und sein ganzer Zorn entlud
sich gegen seinen Widersacher.
»Gerr«, knurrte Wirch und verbiß die Weibchen.
»Du hälst dich für klug. Du hältst dich für stark.«
Gerr sprang auf und wich geduckt zurück.
»Nicht beim Fest des Blutes«, gab er mit fast
unverständlicher Stimme zurück.
»Doch«, widersprach Wirch. »du denkst immer,
jederzeit daran, wie du mich überlisten könntest. Jetzt
kannst du zeigen, wie schlau du bist. Schare deine
Wölfe um dich und hetze den Gefangenen, der uns
entkommen ist.«
»Der dir entkam«, berichtete Gerr.
Wirch fauchte ihn wütend an, täuschte einen Angriff
von links vor und sprang seinen Widersacher dann von
rechts an. Im Nu lag Gerr auf dem Rücken, und Wirch
umspannte mit dem Maul seine Kehle. Es war ganz
einfach gewesen. Gerr zu überwältigen.
Er ließ ihn wieder los und lief dann leichtfüßig und
mit stolz erhobenem Kopf davon. Gerr war bei der
Kraftprobe der Unterlegene gewesen und würde
Wirchs Befehl ohne nochmalige Aufforderung
nachkommen.
Bodo setzte seine ganze Hoffnung darauf, daß er das
Meer erreichte und Fischer traf, die ihn bei sich
aufnahmen. Die Küstengebiete waren dichter besiedelt
als das Landesinnere, das war bekannt. Denn aus
irgendeinem Grund schienen die Wolfsmenschen das
Wasser zu scheuen, obwohl sie gar keine üblen
Schwimmer waren.
Die Vollmondnacht war zu Ende gegangen, und der
neue Tag stand in seiner Mitte, und Bodo hatte noch
immer nichts von Verfolgern bemerkt.
Konnte es sein, daß Wirch ihm niemand
nachschickte, obwohl er seine Flucht bemerkt haben
mußte? Bodo wollte sich darauf nicht verlassen.
Achr war seiner Spur nicht gefolgt, also mußte er
gefallen sein. Vielleicht war Wirch erst am Morgen
dieses Tages gemeldet worden, daß außerhalb des
Runds der Wolfssteine ein Kampf unter Wölfen
stattgefunden hatte. Und vielleicht auch war Wirch
sein Verschwinden erst danach aufgefallen, obwohl er
ihn als etwas Besonderes bezeichnet hatte und ihn als
letzten opfern wollte.
Doch das wären der Zufälle zuviel auf einmal
gewesen. Bodo wollte nicht daran glauben. Er mußte
damit rechnen, daß ihm die Wölfe bereits auf den
Fersen waren.
Obwohl die Sonne heiß auf ihn niederbrannte, er
müde war und sein verletzter Arm schmerzte, setzte er
seinen Weg unbeirrbar fort.
Die Küste war nicht mehr allzu fern, und wenn er
den Rest des Tages und die Nacht durchmarschierte,
konnte er morgen Mittag das Meer erreichen.
Er mußte es schaffen, denn er wollte nicht sterben.
Die Nacht kam, und Bodo verspürte zum erstenmal
Hunger.
Da sah er ein Licht vor sich. Er zwinkerte einige
Male, aber der Lichtschein verschwand nicht.
War es möglich, daß dort vorne ein Mensch wohnte,
der trotz der Wolfswanderung seine Behausung nicht
verlassen hatte? Niemand, der dieses Land kannte,
wäre so töricht gewesen. Aber es konnte sich auch um
einen Fremden handeln – um einen Jäger womöglich,
der, von Osten kommend, in das Land der Wölfe
geraten war.
Bodos Schritt wurde schneller.
Jetzt konnte er den Lichtschein schon deutlich als
offenes Feuer erkennen. Ja, dort vorne brannte ein
Lagerfeuer. Es war im Schutz eines Felsens vor einer
Höhle errichtet worden.
Und vor dem Feuer saß jemand zusammengekauert
und in eine Decke gehüllt.
»Fremder«, krächzte Bodo und taumelte auf ihn zu.
Aber der Mann rührte sich nicht. Schlief er im
Sitzen?
Bodo erreichte ihn und berührte ihn an der Schulter.
Da lehnte sich der Fremde langsam zurück ... Plötzlich
aber fiel sein Kopf nach hinten, und Bodo sah, daß
seine Kehle zerfetzt war.
Als er in die Nacht hinausblickte, sah er einen
riesenhaften Schatten sich ihm nähern.
Ein Wolfsmensch.
Bodo wirbelte herum und versuchte das Dunkel der
Höhle zu durchdringen. Täuschte er sich, oder
funkelten ihn von dort wilde, glühende Augen an? Er
hatte sich nicht getäuscht, denn in diesem Moment
ertönte ein zorniges Knurren aus der Höhle.
Ohne zu zögern, griff Bodo ins Lagerfeuer und
schleuderte einen brennenden Holzscheit nach dem
anderen in die Höhle. Im Schein des Feuers sah er, wie
einige Wölfe ängstlich durcheinander sprangen. Zwei
von ihnen fingen Feuer und wälzten sich jämmerlich
klagend auf dem Boden.
Bodo wandte sich wieder dem Wolfsmenschen zu.
Von dem Lagerfeuer waren noch einige glosende
Holzreste übrig, aber die waren nicht genug, um den
Wolfsmenschen in Schach zu halten.
Das riesige Untier hatte sich langsam und
siegessicher an ihn herangeschlichen. Jetzt duckte es
sich und schnellte sich im nächsten Augenblick vom
Boden ab. Bodo sah den Schatten auf sich zufliegen
und streckte seine Linke aus, in der er die silberne
Haarnadel hielt.
Der Wolfsmensch mußte das für ihn tödliche Metall
im letzten Augenblick gesehen haben, denn seine
Augen wurden vor Entsetzen groß, und aus seinem
Rachen löste sich ein schauriger Schrei. Aber für ihn
war diese Erkenntnis bereits zu spät, er konnte nicht
mehr verhindern, daß er von der Nadel getroffen
wurde.
Bodo trieb die Nadel tief in seinen Körper, dann
sprang er zurück.
Der Wolfsmensch wand sich zu seinen Füßen. Die
Wunde selbst verursachte ihm kaum Schmerzen, aber
die Ausstrahlung des Silbers breitete sich wie ein
tödliches Gift in seinem Körper aus.
Es würde lange dauern, bis der Wolfsmensch von
seinen Qualen erlöst war. Bodo hätte dieses lange
Leiden erspart, aber er hatte keine Möglichkeit, den
Wolfsmenschen kurz und schmerzlos zu töten.
So ließ er ihn zurück und setzte seinen Weg zur
Küste fort.
Er hoffte nur, daß alle Wölfe in den Flammen
umgekommen waren, denn sonst würde er seines
Lebens noch nicht sicher sein.
5.
Nabib von Thinayda stand am Ruder seines Schiffes
und blickte von den Heckaufbauten gelassen auf die
Mannschaft hinunter, die sich drohend vom
Vorderschiff näherte. Er hatte die Daumen in den
breiten Gürtel gehakt, der sich über seine imposante
Bauchwölbung spannte.
Valys, der Steuermann, ein bärtiger,
muskelbepackter Kerl, stand Nabib als einziger von der
Besatzung treu zur Seite. Ohne die Meuterer aus den
Augen zu lassen, sagte er zu Nabib:
»Gaidos hat die Männer aufgewiegelt. Dieser Hund
gehört ertränkt. Laß es mich tun, Nabib, und du wirst
sehen, daß dann an Bord wieder Ruhe herrscht.«
Nabib schüttelte den Kopf, daß das spärliche
Haarbüschel, das sich auf seinen sonst kahlen Kopf wie
ein Vogelnest ausnahm, durcheinanderwirbelte.
»Gaidos hat die Männer aufgewiegelt, ich weiß«,
sagte er. »Aber es ist nicht mehr allein damit getan, daß
wir ihn ausschalten. Die Männer sind schon zu sehr
von seinen Worten vergiftet. Und es ist nur all zu
verständlich, daß ihnen die Angst in den Knochen
sitzt.«
Nabib blickte zum nahen Ufer hinüber. Dort, hinter
der Steilküste, lag das Land der Wölfe, über das man
sich in seiner Heimat die furchtbarsten Geschichten
erzählte. Er konnte es verstehen, wenn es seinen Leuten
nicht behagte, daß sie ausgerechnet hier vor Anker
gegangen waren. Er fühlte sich selbst nicht ganz wohl
in seiner Haut. Deshalb hatte er eine Gruppe von vier
Männern an Land geschickt, die die Gegend im Auge
behalten und die Annäherung von Wölfen sofort
melden sollten.
Der Händler nahm die Hände aus seinem Gürtel,
ging bis zur Holzbalustrade vor und stützte sich
darauf. Die Meuterer, allen voran der hinterhältige und
durch und durch verschlagene Gaidos, blieben stehen.
Sie waren mit Prügeln, Enterseilen und Widerhaken
bewaffnet, weil Nabib ihnen schon vorher die
Schwerter und Dolche abgenommen und sicher
verwahrt hatte.
Als sie durch widrige Winde gezwungen worden
waren, die Segel zu hissen und hier an der Wolfsküste
vor Anker zu gehen, hatte Nabib geahnt, daß es
Schwierigkeiten geben würde und die Männer, als sie
noch nicht an Meuterei dachten, vorsorglich
entwaffnet. Wie gut er sich auf seinen Spürsinn
verlassen konnte, zeigte die augenblickliche Situation.
»Was hast du mir zu sagen, Gaidos?« sagte Nabib
mit ruhiger Stimme zu dem Anstifter der Meuterer.
Gaidos, ein Buckliger mit brandrotem Haar und
starken Armen, die so lang waren, daß er im Stehen
fast den Boden mit ihnen berühren konnte, spuckte
abfällig aus.
»Du weißt sehr genau, was wir von dir wollen,
Nabib«, rief er zu dem Händler hinauf. »Wir wollen
keine schönen Worte von dir hören, sondern eine klare
Antwort. Bringst du uns freiwillig zur Weißen Küste
zurück, oder müssen wir dich dazu zwingen?«
Nabib wartete, bis Gaidos ausgesprochen hatte,
dann sagte er:
»Als wir von der Weißen Küste aus in See stachen,
da wußtet ihr alle, daß Myra unser Ziel ist. Und daran
hat sich nichts geändert. Ihr seid alle erfahrene Seeleute
und wißt, daß die Winde nicht immer so wehen, wie
man es sich wünscht. Es war zu erwarten, daß wir vom
Kurs abkommen und vor Anker gehen würden, bis
sich der Wind zu unseren Gunsten gedreht hat.
Deshalb verstehe ich eure Ungeduld nicht.«
Gaidos lachte abfällig.
»Du hättest überall den Anker werfen können, nur
nicht vor dem Wolfsland!« rief er.
»Dann ist es also nicht die Ungeduld, sondern die
nackte Angst, die euch den Kopf verlieren ließ?« sagte
Nabib mit gespieltem Erstaunen.
Diese Worte machten die Männer unsicher, sie
vermieden es, Nabibs Blick zu begegnen. Gaidos
verstand es jedoch, ihre Unsicherheit wieder zu
verscheuchen.
»Wir sind so ängstlich oder so tapfer wie andere
Seemänner auch«, erklärte er. »Wir gehen keiner
Gefahr aus dem Weg. Aber wir wollen nur nicht von
den Wölfen zerrissen werden. Man erzählt sich, daß
sich im Mond des Löwen die Horden der Nacht
zusammenrotten und auf die Menschen in ihrem Land
Jagd machen. Wenn wir noch länger hier bleiben, kann
es sein, daß wir ihnen ebenfalls zum Opfer fallen. Da
keiner von uns den Wölfen zum Fraß vorgeworfen
werden, will, verlangen wir von dir, in See zu stechen.
Der Zufall will es, daß der Wind aus Westen kommt
also kehren wir zur Weißen Küste zurück.«
»Nichts dergleichen werden wir tun«, sagte Nabib
fest. »Wir warten hier, bis sich der Wind gedreht hat,
dann setzen wir unseren Weg nach Myra fort. Habt ihr
meine Worte vergessen? Ich versprach euch in Myra
einen großen Gewinn. Wollt ihr jetzt plötzlich auf das
viele Geld verzichten, nur weil Gaidos vor Angst die
Hosen voll hat?«
»Unser Leben ist uns lieber«, riefen einige der
Seeleute mit verhaltener Stimme.
Nabib stieß abfällig die Luft aus und fragte: »Habt
ihr während der zwei Tage, die wir hier bereits ankern,
auch nur einen einzigen Wolf heulen gehört?«
Als niemand darauf eine Antwort gab, fuhr Nabib
schnell fort:
»Wo kein Wolfsgeheul ist, da sind auch keine Wölfe.
Woher sollte uns aber sonst Gefahr drohen? Außerdem
sind wir auf dem Meer sicher, denn heißt es in den
Legenden nicht auch, daß die Horden der Nacht eine
große Scheu vor dem Wasser haben?«
Nabib machte wieder eine Kunstpause, bevor er
weitersprach.
»Wenn wir jetzt umkehren, dann können wir die
Weinfässer gleich ins Meer entleeren. Wenn wir aber
ausharren, bis sich der Wind gedreht hat und uns nach
Myra bringt, dann können wir die gesamte
Weinladung in klingende Münze umsetzen. Erinnert
euch daran, was ich euch gesagt habe. Es werden nicht
mehr viele Tage vergehen, bis Dragon mit seiner
siegreichen Armee in Myra einmarschiert. Dann wird
man unseren Wein brauchen, um den Sieg feiern zu
können. Wir können dort einen dreifachen Gewinn
erzielen – und das kommt auch euch zugute. Wollt ihr
nur wegen des ängstlichen Gaidos darauf verzichten?
Wer weiß, vielleicht hat sich noch vor
Sonnenuntergang der Wind gedreht ...«
»Wir wollen nicht länger warten!« rief Gaidos, der
merkte, daß ihm die Führung über die Meuterer aus
der Hand glitt, je länger er mit Nabib verhandelte, und
kam drohend näher.
Gaidos ging es gar nicht so sehr darum, sich vor den
Horden der Nacht in Sicherheit zu bringen. Sie dienten
ihm nur als Vorwand, um Nabib zu beseitigen und sein
Schiff in Besitz zu nehmen. Wenn er den fetten Händler
los war, würde er auch nichts anderes tun, als Kurs auf
Myra nehmen. Nur mit dem Unterschied, daß der Erlös
aus dem Weinverkauf in seine Taschen fließen würde.
»Auf sie!« schrie Gaidos und stürmte nach vorne.
Nabib ließ ihn herankommen, dann schwang er sich
mit einer Behendigkeit über die Brüstung, die ihm
kaum jemand zugetraut hätte. Er landete direkt auf
Gaidos, der unter seinem Gewicht zu Boden fiel. Noch
bevor sich der Bucklige erholen konnte, hatte ihm
Nabib den Enterhaken entwunden. Er hob ihn an den
Armen hoch und schleuderte ihn gegen den Mast.
Valys war über die Treppe aufs Mittelschiff
heruntergekommen und stellte sich mit Schwert und
Dolch den Meuterern entgegen. Doch noch bevor es
zum Kampf kam, hörte er Nabib rufen:
»Der Stoßtrupp kehrt zurück!«
Die Meuterer, ohnehin durch den Ausfall ihres
Anführers verunsichert, hielten im Angriff inne und
blickten zum Land hinüber.
»Sie haben einen fünften Mann bei sich«, meldete
einer von ihnen.
»Was zögert ihr denn noch«, herrschte Nabib seine
Leute an. »Laßt ein Boot zu Wasser und holt sie an
Bord.«
Er atmete auf, als er sah, daß seinem Befehl
widerspruchslos Folge geleistet wurde. Der Stoßtrupp
kehrte gerade im richtigen Augenblick zurück. Wenn
es nicht zu diesem Zwischenfall gekommen wäre, wer
weiß, ob es ihm dann gelungen wäre, seine Leute zur
Vernunft zu bringen. Vielleicht würde er dann schon
längst zusammen mit Valys an der nächsten
Segelstange baumeln.
Er nützte die Gelegenheit, um Gaidos endgültig
auszuschalten.
»Legt ihn in Ketten und schafft ihn unter Deck«,
befahl er. »Ich werde mich später noch mit ihm
beschäftigen.«
Die Männer leisteten auch diesem Befehl
widerspruchslos Folge.
Bodo hatte seine letzte Stunde kommen gesehen.
Er konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten,
und einer der Wölfe, von denen er geglaubt hatte, daß
sie alle in der Höhle bei lebendigem Leibe verbrannt
waren, folgte ihm. Das Fell des Tieres war halb
verbrannt, es schien starke Verletzungen zu haben.
Bodo erkannte trotz seiner eigenen Schwäche, daß es
nicht mehr lange leben würde. Aber der Wolf war zäh,
und wahrscheinlich verlieh ihm der Wunsch, seinen
toten Herrn zu rächen, die nötige Kraft, um sich auf
den Beinen zu halten.
Als Bodo stolperte und der Länge nach hinfiel,
versuchte er erst gar nicht mehr, sich noch einmal zu
erheben. Er blieb einfach liegen und erwartete den Tod.
Das Knurren des tödlich verletzten Wolfes kam immer
näher, und dann schlug ihm der übelriechende Atem
des Tieres ins Gesicht. Er öffnete die Augen halb und
sah das Raubtiergebiß über sich.
Gerade als der Wolf nach ihm schnappen wollte,
pfiff irgend etwas durch die Luft. Der Wolf
verschwand winselnd aus seinem Blickfeld. Bodo
stemmte sich mit letzter Kraft in die Höhe und sah zu
seinen Füßen das verendende Tier – ein Pfeil ragte aus
seiner Flanke.
Bodo verlor die Besinnung. Als er wieder halb zu
sich kam, war ihm, als schwanke der Boden unter ihm.
Eine frische Brise berieselte ihn. »Er lebt noch«, sagte
irgend jemand. Bodo sah einige verschwommene
Gestalten, die unruhig zu tanzen schienen. Aber das
bildete er sich bestimmt nur ein. Seltsame Geräusche
drangen an sein Ohr, als würde jemand in
regelmäßigen Abständen einen schweren Gegenstand
in Wasser tauchen. Dann ging eine Erschütterung
durch seinen Körper. Er fühlte sich emporgehoben und
klammerte sich unwillkürlich fest.
»Schon gut, mein Junge«, sagte eine beruhigende
Stimme zu ihm. »Du bist in Sicherheit.«
Wieder senkte sich Schwärze über seinen Geist.
Andere Stimmen drangen von Ferne zu ihm. »Was ist
mit ihm geschehen?« »Er wurde von einem Wolf
verfolgt. Wir konnten ihn im letzten Augenblick retten
... Es geschah nahe der Klippen ...«
»Habt ihr noch mehr Wölfe gesehen?«
»Nein.«
»Bringt ihn in meine Kabine. Er ist verwundet ... Wir
müssen ihn gesundpflegen ... Vielleicht kann er uns
Auskunft über die Vorkommnisse im Landesinnern
geben ...«
Die Stimmen verklangen, und Bodo war von
erlösender Stille umgeben.
Irgendwann später kam er wieder zu sich. Der erste
Eindruck war, daß der Boden unter ihm schwankte
und er in einen tiefen Abgrund zu fallen drohte. Er
klammerte sich verzweifelt fest und erkannte, daß er
auf einer weichen Unterlage lag; seine Hände fühlten
einen kühlen, glatten Stoff.
»Keine Angst, mein Junge«, sagte eine tiefe
Männerstimme, die ungewöhnlich sanft klang. »Du bist
auf meinem Schiff und hast nichts zu befürchten.«
Auf einem Schiff? Dann hatte er die Küste erreicht
und war in Sicherheit!
Er öffnete die Augen. Er erblickte in dem
Halbdunkel einige verschwommene Ovale, die die
Gesichter von Menschen sein mußten. Eines davon
begann sich langsam von den anderen abzuheben, und
als Bodos Blick wieder klar war, konnte er erkennen,
daß der Mann, der an seinem Lager saß, bis auf ein
graues Haarbüschel kahlköpfig war. Das etwas
dickliche Gesicht hatte einen gütigen und gleichzeitig
aufmerksamen Ausdruck.
»Ich bin Nabib, der Händler«, sagte der Fremde.
»Meine Leute haben dich nahe der Steilküste vor einem
Wolf gerettet und dich an Bord meines Schiffes
gebracht.«
Bodo schloß die Augen und krächzte:
»Durst ...«
Sofort wurde ihm ein Schlauch an die Lippen
gehalten, und er trank in schnellen, gierigen Zügen das
kostbare Naß.
»Ich heiße Bodo«, sagte er, nachdem er seinen Durst
gestillt hatte. Er sah den Mann, der sich Nabib nannte
an und fuhr fort: »Der Wolf, vor dem ihr mich
geschützt habt, war der letzte überlebende Gefährte
eines Wolfsmenschen, den ich getötet habe. Sicher hätte
er mich mit letzter Kraft in Stücke gerissen, wenn ihr
nicht rechtzeitig erschienen wäret. Ich danke euch ...«
Bodo verzog vor Schmerz das Gesicht, als er sich auf
seine verletzte Rechte stützen wollte.
»Leg dich wieder hin«, sagte Nabib. »Du bist
erschöpft und brauchst Ruhe. In einigen Tagen wird
dann deine Verletzung ausgeheilt sein.«
Nabib sah, wie sich der Mann, der noch nicht lange
aus dem Jünglingsalter heraus sein konnte, entspannte.
Hinter sich hörte er seinen Steuermann Valys sagen:
»Vielleicht hatte Gaidos nicht so unrecht. Wo ein
Wolf ist, werden bald mehrere sein. Sie tauchen nur in
Rudeln auf. Und wenn die Horden der Nacht in dieses
Gebiet vordringen, sind wir auf diesem Ankerplatz
nicht vor ihnen sicher ...«
Nabib brachte ihn mit einer Handbewegung zum
Schweigen. Wenn Valys in diesem Ton weitersprach,
würde er damit nur die mühsam wiederhergestellte
Ordnung an Bord zunichte machen.
»Fühlst du dich stark genug, meine Fragen zu
beantworten, Bodo?« erkundigte sich Nabib sanft.
»Mir geht es wieder besser«, murmelte Bodo und
nickte.
»Bist du den Horden der Nacht begegnet?« fragte
Nabib.
Bodos Augen weiteten sich vor Entsetzen, seine
Hände verkrampften sich in der Decke.
»Ich bin ihnen entkommen«, sagte er gehetzt. »Ich
war in ihrer Gewalt ... zusammen mit hundert anderen
Männern und Frauen. Ich konnte als einziger
entkommen, die anderen wurden geopfert. Es war
schrecklich ...«
»Wo war das?« fragte Nabib, der fühlte, wie sich die
Kälte seinen Rücken hinauf schlich.
»Keine zwei Tagesmärsche von hier«, antwortete
Bodo. »In Xanth, dem Ort des Blutes.«
»Kannst du uns sagen, wie stark die Horden der
Nacht sind?«
»Ein riesiges Heer«, murmelte Bodo mit
geschlossenen Augen. »Ich habe noch nie so viele von
ihnen an einem Ort gesehen. Ich wußte gar nicht, daß
es so viele Wolfsmenschen gibt ... und jeder von ihnen
hat zwölf Wölfe bei sich.«
»Befinden sie sich auf dem Weg zur Küste?« fragte
Nabib gespannt. Als Bodo nickte, zuckte er erschrocken
zusammen, und unter seinen Männern, die sich bei ihm
in der Kabine befanden, brach ein Tumult los.
Erst als Bodo hinzufügte, daß sie sich auf dem
Marsch zur Ostküste befanden und das enge Wasser
überqueren wollten, konnte Nabib seine Leute
beruhigen.
»Bist du sicher, daß sie nicht nach Süden kommen
werden?« fragte Nabib eindringlich. »Es könnte doch
sein, daß sie ihre Absicht ändern.«
Bodo schüttelte den Kopf.
»Sie gehorchen ihrem Gott, der ihnen befohlen hat,
das enge Wasser zu überqueren und die Ostländer zu
überfallen. Sie werden sich bereits auf dem Weg
dorthin befinden. Für die Völker jenseits des engen
Wassers wird eine furchtbare Zeit anbrechen ...«
Nabib war blaß geworden. Ihm fielen plötzlich die
uralten Weissagungen ein, die behaupteten, daß einmal
die Horden der Nacht über die östlichen Kulturen
herfallen und sie vernichten würden. Nabib hatte nie
recht an sie glauben wollen, aber jetzt erhielten sie eine
besondere Bedeutung, nicht nur weil sich die Horden
der Nacht nach Bodos Aussage bereits auf dem Marsch
nach Osten befanden.
Nabib war es nicht entgangen, daß Bodo von dem
Gott der Wolfsmenschen gesprochen hatte, als wäre er
seinen Geschöpfen am Ort des Blutes erschienen. Und
das ließ in Nabib einen furchtbaren Verdacht
erwachen ...
»Setzt sofort die Segel«, befahl er. »Wir stechen in
See.«
Valys starrte ihn entgeistert an.
»Aber das ist nun nicht mehr notwendig. Der Junge
hat selbst ausgesagt, daß die Horden der Nacht nicht in
dieses Gebiet kommen.«
»Valys hat recht«, pflichtete einer der anderen
Männer bei. »Wir können in dieser Bucht warten, bis
sich der Wind gedreht hat und wir nach Myra segeln
können.«
»Myra ist nicht mehr unser Ziel«, sagte Nabib,
innerlich fluchend, weil er nun den Traum von einem
gewinnbringenden Geschäft zerfließen sah. »Wir
müssen den günstigen Wind nützen, um so rasch wie
möglich nach Osten zu kommen, damit wir die
bedrohten Menschen rechtzeitig vor den Horden der
Nacht warnen können.«
Valys starrte ihn immer noch entgeistert an.
»Aber was wird dann aus deinen Geschäften?«
»Wem soll ich denn meinen Wein verkaufen, wenn
die Horden der Nacht alle niedermetzeln«, entgegnete
Nabib gereizt.
Darauf wußte der Steuermann nichts zu sagen. Er
konnte auch nicht wissen, daß Nabibs Sorge weniger
seinen gewinnträchtigen Geschäften, als seinem Freund
Dragon und dessen Getreuen galt.
Nabibs Verdacht bestätigte sich in einem weiteren
Gespräch mit Bodo. Aus der Erzählung des jungen
Mannes erfuhr Nabib alle Einzelheiten des grausamen
Rituals bei den Wolfssteinen und über den Auftritt des
Gottes der Wolfsmenschen.
Danach bestand für Nabib kein Zweifel mehr: Der
Wolfsgott konnte niemand anderer als Cnossos sein.
Und seine Aufforderung an die Horden der Nacht, gen
Osten zu ziehen, war ganz bestimmt nur gegen Dragon
gerichtet.
Für Nabib war Cnossos‘ Absicht klar. Der Gott der
vielen Namen hatte bisher unzählige Niederlagen im
Kampf gegen Dragon hinnehmen müssen. Nabib
wußte nicht, was sich in den letzten Wochen
zugetragen hatte, denn er verließ Dragon nach der
Besiegung von König Zogors Armee und kehrte nach
Thinayda zurück, um zu Hause nach dem Rechten zu
sehen.
Aber es war noch deutlich in seiner Erinnerung, wie
sich Cnossos nach dem Tod von König Zogor in
Geiergestalt und mit seinem Diener Urak in den
Krallen in die Lüfte erhoben hatte und in Richtung
Westen davongeflogen war. Niemand zweifelte daran,
daß Cnossos neue Mittel und Wege suchen würde, um
sich an Dragon zu rächen. Nabib hatte nun durch
Zufall erfahren, daß er sie in den Horden der Nacht
gefunden hatte.
Nach eingehender Befragung hatte Nabib von Bodo
erfahren, daß es sich dabei um etwa zweitausend
Wolfsmenschen und vierundzwanzigtausend Wölfe
handeln mußte. Fürwahr, eine Armee der
Unbesiegbaren, denn die Wolfsmenschen waren mit
herkömmlichen Waffen nicht zu töten.
Wenn man sie mit einem Schwert, einer Lanze oder
einem Pfeil traf, dann schloß sich die Wunde innerhalb
kürzester Zeit, ohne daß sie dadurch etwas von ihrer
Kraft einbüßten. Man konnte ihnen nur mit Silber
beikommen ...
Aber Dragons Heer war nicht mit Silberwaffen
ausgerüstet, weil niemand etwas von der drohenden
Gefahr ahnte. Wenn Dragon nicht rechtzeitig vor den
Horden der Nacht gewarnt wurde, dann war er
verloren.
Nabib stand in dieser Nacht am Ruder seines
Schiffes, weil er einfach keine Ruhe finden konnte. Er
hatte zu schlafen versucht, aber immer wenn er die
Augen schloß, verfolgten ihn die wildesten Träume,
die ihn schließlich schweißgebadet aufschrecken ließen.
Er sah Dragons Krieger, wie sie auf riesige Wölfe
einhieben, ihnen tiefe Wunden schlugen ... und dann in
wilder Panik flüchteten, als sie sahen, wie sich die
Wunden ihrer schrecklichen Gegner wieder schlossen
... Die Wölfe hetzten den Flüchtenden nach, töteten sie
und überfluteten das Land bis zum Ah‘rath. Dragon g
eschlagen – Cnossos, der auf den Trümmern der
östlichen Kultur seine Schreckensherrschaft antrat!
Soweit durfte es nicht kommen.
Wenn Nabib Bodos Zeit – und Entfernungsangaben
glauben durfte, dann waren die Horden der Nacht
noch fünf Tagesritte vom engen Wasser entfernt, das
ihr Land vom myranischen Reich trennte. Es würde
ihnen trotz ihrer Wasserscheu nicht schwerfallen, das
Meer an dieser Stelle zu übersetzen, weil es hier
unzählige kleinere Inseln gab, die ihnen sozusagen als
»Trittsteine« dienten. Außerdem würde Cnossos sie
beflügeln und ihnen die Angst vor dem Wasser
nehmen.
Da sich die Horden der Nacht kaum schneller als ein
Reiterheer fortbewegen würden, konnte man damit
rechnen, daß sie in fünf Tagen das enge Wasser
überquerten. Zwei weitere Tage würde es dauern, bis
sie die Grenze von Katmahzar erreichten.
Nabib konnte mit dem Schiff – wenn die Winde
weiterhin so günstig blieben – die Bucht der Kiesel, die
nur einen halben Tagesritt von der Grenze des
Amazonenlandes entfernt war, jedoch in zwei Tagen
erreichen. Er gewann gegenüber den Horden der Nacht
fünf Tage.
Wenn er sich rasch Pferde besorgte und ohne
Unterbrechung zu Dragons Heer durchritt, das sich zu
diesem Zeitpunkt bereits westlich von Eskis befinden
mußte, konnte er vielleicht noch einen Tag Vorsprung
herausholen.
Demnach konnte er sechs Tage vor den Horden der
Nacht zu Dragon stoßen. Aber ob dieser Vorsprung
ausreichen würde, daß Dragon genügend Silber
beschaffen und Waffen daraus schmieden lassen
konnte, das bezweifelte Nabib. Er konnte die Dinge
drehen und wenden wie er wollte, diesmal war
Cnossos hoch im Vorteil. Sechs Tage reichten einfach
nicht dazu aus, um ein Heer für einen Kampf gegen
zweitausend schier unverwundbare Wolfsmenschen
auszurüsten. Die Wölfe in ihrer Begleitung konnten
nach Bodos Aussage zwar mit herkömmlichen Waffen
besiegt werden. Aber immerhin waren es etwa
vierundzwanzigtausend an der Zahl und stellten
deshalb eine nicht zu unterschätzende Bedrohung dar.
Nabib fluchte leise.
Er mußte dennoch versuchen, Dragon wenigstens
rechtzeitig zu warnen, daß er sich auf die drohende
Gefahr vorbereiten konnte.
Zwei Tage noch, dann wurden sie die Bucht der
Kiesel erreichen – falls sich der Wind nicht plötzlich
drehte.
Nabib konnte den Zeitpunkt der Landung kaum
erwarten.
6.
Das Schiff hatte das Ziel viel früher als erwartet
erreicht. Nicht lange nach Sonnenaufgang ließ Nabib in
der Bucht der Kiesel den Anker werfen.
»Etwas stimmt hier nicht«, sagte der Händler aus
Thinayda, während er zum Strand hinüberblickte, wo
an die zwanzig Fischerhütten über die ganze Breite der
Bucht verstreut standen.
»Ich war schon einmal hier«, fuhr Nabib
nachdenklich fort. »Das war vor drei Sommern.
Damals wurde ich von den Fischern mit Jubel begrüßt.
Sie sind gesellige Leute ... Doch jetzt läßt sich keiner
von ihnen blicken. Die Bucht scheint wie ausgestorben,
kein einziges Boot ist zu sehen.«
»Vielleicht sind die Fischer vor den Horden der
Nacht geflüchtet?« vermutete Valys, der Steuermann.
Nabib schüttelte den Kopf.
»Sie können von der drohenden Gefahr noch gar
nichts wissen. Bodo war dabei, als der Gott der
Wolfsmenschen zum Sturm auf die Ostländer gerufen
hat. Die Kunde darüber kann ihnen nicht so weit
vorausgeeilt sein.«
»Das stimmt«, gab Bodo im recht. Er war in den
knapp zwei Tagen auf See wieder zu Kräften
gekommen. Nur der Verband auf seinem rechten
Oberarm wies auf seine Verwundung hin. »Es lag
ursprünglich nicht in der Absicht der Wolfsmenschen,
die Ostländer zu überfallen. Erst ihr Gott hat sie beim
Fest des Blutes dazu aufgefordert.«
Nabib zuckte die Achseln.
»Wie dem auch ist. Laß ein Boot zu Wasser, Valys,
und belade es mit fünf Weinwässern. Soviel werden
mich die Pferde schon kosten.«
»Willst du allein an Land gehen?« fragte Valys.
»Glaubst du, ich werde das Boot allein rudern?«
fragte Nabib zurück.
»Ich meinte aber ...«
»Ich weiß, was du meintest«, unterbrach Nabib
seinen Steuermann. »Aber ich brauche keine
Beschützer. Ich bin ein harmloser Händler. Wer sollte
mir etwas antun wollen? Außerdem wird Bodo mich
begleiten. Sein Arm ist wieder in Ordnung, daß er ein
Schwert fuhren kann.«
»Und was wird aus Gaidos?« wollte Valys wissen.
»Ihn nehme ich natürlich mit«, sagte Nabib. »Er hat
es auf das Schiff und die Fracht abgesehen. Und bei
allen Dämonen, wenn er an Bord bliebe, würde er die
Mannschaft zu einer weiteren Meuterei aufhetzen. Holt
diese Ratte herauf! Ich werde ihn in der Bucht
aussetzen.«
Die Männer verluden die Weinwasser ins Boot und
ließen es dann ins Wasser hinunter. Vier von ihnen
stiegen zu, um Nabib und Bodo an Land zu rudern.
Dann wurde Gaidos geholt. Er war an den Armen
gefesselt, und er verfluchte Nabib und alle anderen.
Nabib reichte seinem Steuermann die Hand zum
Abschied.
»Du wartest mit dem Schiff in der Bucht der Kiesel,
Valys. Wenn die Horden der Nacht auftauchen, dann
zieht euch weiter aufs Meer zurück. Dort wird euch
von ihnen keine Gefahr drohen. Wenn ich in fünfzehn
Tagen nicht zurück bin, dann könnt ihr auslaufen und
Kurs auf Myra nehmen.«
Nabib hatte seinen Steuermann schon vorher
darüber unterrichtet, was er zu tun hatte, so daß der
Abschied kurz ausfiel.
Der Händler kletterte vor Bodo über die Strickleiter
ins Boot hinunter und nahm im Heck Platz. Der
verräterische Gaidos saß im Bug.
Bodo stieß das Boot vom Schiff ab, die vier Männer
tauchten ihre Ruder ins Wasser und legten sich kräftig
in die Riemen.
»Wenn ich nur wüßte, was diese Stille zu bedeuten
hat«, murmelte Nabib vor sich hin, während sie sich
rasch dem Strand näherten.
»Die Stille ist unheimlich«, stimmte Bodo zu. Er
kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und
beobachtete die Fischerhütten. »Kein Anzeichen von
Leben. Aber es sind auch keine Spuren eines Kampfes
zu sehen. Die Hütten sind unversehrt, die Fischernetze
zum Trocknen aufgespannt ... Nur die Fischer selbst
und ihre Boote sind verschwunden ... Da!«
»Was ist?« erkundigte sich Nabib.
»Ich habe bei einer der Hütten eine Bewegung
gesehen«, behauptete Bodo aufgeregt. »Ich habe mich
bestimmt nicht geirrt. Bei der Hütte mit dem großen
Vordach war jemand.«
»Wir werden sehen«, sagte Nabib. Er blickte über
den Bootsrand ins Wasser. Als sie an eine seichte Stelle
kamen, wo ihm das Wasser höchstens bis an die Brust
reichte, befahl er den Ruderern:
»Halt! Wartet mit dem Boot hier draußen. Bodo und
ich werden uns an Land umsehen. Wenn wir in einen
Hinterhalt geraten, kehrt sofort zum Schiff zurück und
kommt mit Verstärkung wieder. Du, Gaidos, wirst uns
begleiten.«
Nabib ließ sich ins Wasser gleiten. Bodo kletterte auf
der anderen Seite aus dem Boot, watete bis zum Bug
und zog Gaidos am Kragen zu sich herunter.
»Ich wünsche dir die Pest auf den Hals, Nabib von
Thinayda!« schimpfte der Verräter, während ihn Bodo
vor sich her zum Ufer trieb.
Als sie an Land kamen, blieb Nabib stehen und
blickte sich um. Es lastete immer noch eine
unheimliche Stille über dem kleinen Fischerdorf,
nirgends war ein Anzeichen von Leben.
»Sieh einmal bei der Hütte nach, bei der du etwas
Verdächtiges gesehen hast, Bodo«, trug Nabib dem
jungen Mann aus dem Land der Wölfe auf.
Bodo zog sein Schwert und bewegte sich vorsichtig
auf die besagte Hütte zu. Er war darauf gefaßt, jeden
Augenblick von einem Pfeilhagel eingedeckt zu
werden. Aber nichts geschah. Er erreichte die Hütte
und verschwand darin. Kurz darauf drangen
Geräusche zu Nabib, und er sah, wie Bodo mit
jemandem herauskam.
»Ich habe nur diesen Alten hier gefunden«, rief
Bodo. »Er behauptet, allein zu sein.«
Nabib wandte sich dem Meer zu und rief seinen
Männern im Boot zu:
»Kommt an Land und ladet die Weinfässer aus.«
Dann stieg er, Gaidos vor sich herstoßend, zur
Fischerhütte hinauf, wo Bodo mit dem Alten wartete.
Sein Gesicht war über und über mit Runzeln bedeckt,
er sah aus, als hätte er schon hundert Sommer hinter
sich; sein Haar war gelichtet und so weiß wie der Sand
der Küste vor Thinayda, und die eingefallenen Lippen
ließen vermuten, daß kein einziger Zahn mehr in
seinem Mund war.
»Wie heißt du, Alter?« erkundigte sich Nabib,
nachdem er seinen Namen genannt hatte.
»Ich bin Ylzan«, sagte der Alte einsilbig; er zeigte
keine Angst.
»Wo sind die anderen Fischer?«
»Geflüchtet.«
»Wohin?«
»In das Lager der myranischen Krieger.«
»Vor wem sind sie geflüchtet?«
Der Alte schien etwas aufzutauen. Sein Adamsapfel
hüpfte auf und ab, während er erregt berichtete:
»Vor dem Weibervolk. Alle haben sie ihre Habe
zusammengepackt und sich in den Schutz der Krieger
begeben. Die Weiber benehmen sich wie verrückt.
Nach dem heiligen Monden des Gebärens trieben sie es
schon immer arg, und die jungen Burschen haben in
dieser Zeit gut daran getan, sich vor ihnen zu
verkriechen. Aber diesmal gebärden sie sich besonders
toll.«
Nabib konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Kannst du mir sagen, was der Grund für die
Tollheit der Amazonen ist, Ylzan?« erkundigte sich
Nabib. »Sind sie auf dem Kriegspfad? Oder feiern sie
eines ihrer Feste?«
»Dämonon allein mag wissen, was in sie gefahren
ist«, sagte der Fischer bitter. »Sie kommen in Scharen
über die Grenze ihres Landes, überfallen Siedler und
harmlose Wanderer und rauben und plündern. Sie
nehmen den Menschen dieses Landes alles bis auf das
Leben. Ich sage euch, daß sie Dämonen verfallen sind.
Warum sollten sie sonst selbst unsere Boote stehlen?«
»Die Amazonen haben eure Boote?«
Der Alte nickte.
»So wahr ich hier stehe.« Er nickte noch einmal mit
Nachdruck. »Meine Freunde hatten Angst, deshalb
begaben sie sich in den Schutz der Krieger. Aber deren
gibt es etwa nur zehn Hände voll, und wenn die
Weiber wollen, dann werden sie sie überrennen.«
»Hm«, machte Nabib. Das Verhalten der Amazonen
war in der Tat seltsam. Der Händler hätte sich denken
können, daß sie Dragon im Kampf gegen die Myraner
unterstützen wollten und deshalb die
Heeresstützpunkte dieses Landstriches bekriegten.
Aber warum sie harmlose Fischer überfielen, wollte
ihm nicht einleuchten. Und dann – warum
bemächtigten sich die Katmahzari-Kriegerinnen der
Fischerboote, wo sie doch so gut wie keine Seefahrer
waren?
»Nabib!«
Bodo stieß den Händler an und richtete sich mit
stoßbereitem Schwert auf. »Krieger!«
Nabib sah auf dem Hügelkamm hinter den
Fischerhütten eine Reiterschar auftauchen und glaubte
im ersten Augenblick, daß es sich um Amazonen
handelte. Doch beim zweiten Blick stellte er fest, daß es
myranische Krieger waren.
Er hob die Hände wie einen Trichter an den Mund
und rief den Männern beim Boot, die die Weinfässer
bereits ausgeladen hatten, zu:
»Kehrt zum Schiff zurück. Valys soll einstweilen
noch nichts unternehmen!«
Bodo stellte sich mit gezücktem Schwert den zehn
Reitern entgegen, die bereits die ersten Fischerhütten
erreicht hatten.
»Werden wir kämpfen, Nabib?« fragte er gelassen.
»Nein, das hätte wenig Sinn«, antwortete der
Händler. Er grinste breit. »Außerdem liegt kein Grund
vor. Alle sind unsere Freunde, mit denen wir Geschäfte
machen können – auch die Myraner.«
Bodo steckte sein Schwert weg, blieb jedoch
wachsam.
Die Reiter kamen von allen Seiten heran und
kreisten sie ein. Einer von ihnen, der als besonderes
Kennzeichen für seinen gehobenen Rang einen
Lederhelm mit einem bunten Federbusch darauf trug,
trieb sein Pferd in den Kreis hinein.
»Gehört ihr zu dem Schiff?« erkundigte er sich mit
befehlsgewohnter Stimme.
»Jawohl, mein Herr«, sagte Nabib demütig und
verneigte sich leicht. »Wir sind Händler von der
Weißen Küste, die sich auf dem Weg nach Myra
befanden und durch widrige Winde in die Bucht der
Kiesel verschlagen wurden.«
Der Anführer der myranischen Krieger deutete auf
die Fässer am Strand.
»Was ist da drin? Und warum sind deine Männer
mit dem Boot vor uns aufs Meer geflüchtet?«
»In den Fässern ist Wein«, antwortete Nabib und
verneigte sich wieder. »Wein für die siegreichen Heere
von König Zogor. Wenn der Herrscher des
myranischen Reiches im Triumpf von seinem Feldzug
heimkehrt, dann wollen wir ihn mit dem besten Wein
beschenken, der je auf den Hängen von Thinayda
gereift ist.«
Der Anführer wechselte einen schnellen Blick mit
einem seiner Männer, und Nabib fragte sich, ob die
Kunde von König Zogors Tod bereits bis zu ihnen
vorgedrungen war und ob sie sie auch glaubten.
Der Myraner verzog spöttisch den Mund und sagte:
»Wenn dieser Wein für das myranische Königshaus
bestimmt ist, warum hast du fünf Fässer davon an
Land bringen lassen? Gib mir Antwort und sprich die
Wahrheit! Sonst lasse ich dich von hier bis zu unserem
Stützpunkt schleifen – und das würde dich einiges von
deinem Fett kosten.«
Die Krieger lachten über den derben Scherz.
Nabib machte ein beleidigtes Gesicht und sagte:
»Ich bin nicht fett, Herr. Ich bin gewichtig, das
schon, aber ich achte stets darauf, daß ich kein Fett
ansetze.« Nabib zuckte zusammen, als der Myraner
eine drohende Bewegung machte und fuhr schnell fort:
»Ich antworte schon, Herr! Die fünf Weinfässer sind
der Preis für zwei Pferde. Da mein Schiff für
unbestimmte Zeit in der Bucht der Kiesel festliegt,
wollte ich auf dem Landweg nach Myra vorauseilen,
um ...«
»Er lügt!«
Niemand hatte Gaidos bisher beachtet, weil er sich
still verhalten hatte. Doch jetzt sprang er plötzlich auf
den Myraner zu und reckte ihm die gefesselten Hände
entgegen.
»Nabib ist ein Lügner, ein Verräter!« schrie Gaidos.
»Er ist ein Feind der Myraner und hat vor ...«
Weiter kam er nicht. Bodo war ihm nachgesprungen
und hieb ihm mit aller Kraft das Schwert gegen die
linke Seite.
Sofort sprangen einige Myraner aus den Sätteln,
entwaffneten Bodo und hielten ihn dann fest. Nabib
ließ sich widerstandslos gefangennehmen.
»Schafft sie ins Lager«, befahl der Anführer. Dann
fügte er hinzu: »Und nehmt die Weinfässer mit.«
Der myranische Kriegerstützpunkt stand auf der
Kuppe eines unbewaldeten Hügels und bestand aus
mehreren Lehmgebäuden, die den etwa fünfzig
Kriegern Unterkunft boten. Ein mannshoher steinerner
Wall zog sich um das Lager und gab ihm einen
festungsähnlichen Charakter.
Nabib stellte mit Kennerblick fest, daß diese
»Festung« nicht besonders wehrhaft war und im ersten
Ansturm einer Reiterei fallen würde. Wahrscheinlich
war es mit den Amazonen nie zu ernsthaften
Zwischenfällen gekommen, so daß die myranischen
Krieger keine Notwendigkeit sahen, ihren Stützpunkt
besser zu sichern.
Und noch etwas fiel dem Händler sofort auf: Es gab
nicht mehr als die zehn Pferde jener Reitergruppe, die
Bodo und ihn gefangengenommen hatte und
hierherbrachte. Die Pferde waren für die Myraner
wahrscheinlich so wertvoll, daß Nabibs gesamte
Weinladung nicht ausgereicht hätte, um sie zu kaufen.
Obwohl ihm der Anführer der Myraner – er hieß
Toryen – ihm angedroht hatte, ihn bis ins Lager zu
schleifen, hatte er ihn bei einem der Krieger aufsitzen
lassen, so daß sie noch vor Mittag das Lager erreichten.
Nabib schätzte, daß der westliche Stützpunkt der
Katmahzari, die Grenzstadt Ad‘zhari, höchstens einen
halben Tagesmarsch von hier entfernt war. Wenn ihm
die Flucht gelänge, dann könnte er es auch zu Fuß
schaffen, sich bis zu den Amazonen durchzuschlagen
und sie um Hilfe zu bitten. Er war überzeugt, daß der
Name Agrions, der Trägerin des Mondringes und
Nachfolgerin der regierenden Königin, genügend
Wirkung auf die Amazonen haben würde, so daß sie
ihm die Unterstützung sicherlich nicht verweigerten.
Während des ganzen Rittes hatte sich Nabib
überlegt, wie er flüchten könnte. Für ihn war jede
Stunde kostbar – jede Stunde, die er früher bei Dragons
Heer eintraf, konnte im bevorstehenden Kampf gegen
die Horden der Nacht entscheidend sein. Er hatte sich
einen Vorsprung von sechs Tagen errechnet, aber wenn
er sich noch länger in der Gefangenschaft der Myraner
befand, dann wurde nichts mehr daraus.
Als Nabib und Bodo mit ihren Häschern den
Stützpunkt erreichten, befanden sich außer den
myranischen Kriegern noch mindestens hundert
weitere Personen hier. Es handelte sich zumeist um
Fischer aus der Bucht der Kiesel, aber auch Hirten,
wandernde Händler und andere hatten sich hier vor
den Katmahzari in Sicherheit gebracht.
Nabib mußte seine Fluchtgedanken aufschieben. Der
Stützpunkt war so angelegt, daß man die Umgebung in
weitem Umkreis überblicken konnte. Jeder, der sich am
Tage nähern oder entfernen wollte, konnte von den
Wachtposten mühelos im Auge behalten werden. Aus
diesem Grunde würde sich Nabib bis zur Nacht
gedulden müssen – erst dann konnte er versuchen, von
hier zu entkommen.
Das hieß, falls ihn Toryen solange am Leben ließ.
Der Anführer der Myraner ließ Nabib jedoch wenig
Hoffnung.
Gleich nach ihrer Ankunft wurden Nabib und Bodo
an einen Pfahl gebunden. Eine Menge Schaulustiger
scharte sich um sie, als man ihnen die Kleider vom
Oberkörper riß und sich vor Ihnen ein
peitschenschwingender Hüne aufbaute.
Toryen kam zu Nabib und faßte nach dem silbernen
Amulett, das er an einer Silberkette um den Hals trug.
»Ein schönes Stück«, sagte der Myraner
anerkennend. »Woher hast du es, Nabib?«
»Es ist das Geschenk einer Fürstin, die bei mir Glück
und Liebe fand«, antwortete Nabib. »Es ist ein teures
Stück, und mir bedeutet es tausendmal mehr als sein
Silberwert. Aber ich wäre bereit, es gegen ein Pferd
einzutauschen.«
Ȇber diesen Handel sprechen wir erst, wenn du dir
dein Leben erkauft hast«, sagte Toryen.
»Solche unermeßlichen Schätze besitze ich nicht«,
meinte Nabib bedauernd.
Toryen grinste abfällig.
»Ich gebe dir dein Leben billiger, als du denkst. Du
brauchst mir nur zu verraten, was mir dein Gefangener
mitteilen wollte, bevor ihn dein junger Freund
meuchlings tötete. Er hat dich einen Verräter und einen
Feind der Myraner genannt.«
»Würde ich das eingestehen, dann wäre ich erst
recht ein toter Mann«, entgegnete Nabib. »So kann ich
dir nur versichern, daß Gaidos der Schurke war. Er
wollte mir mein Schiff stehlen. Aber anstatt ihn den
Haien vorzuwerfen, schonte ich sein Leben. Als Dank
dafür hat er mich dann bei dir verleumdet, Toryen.« Im
Gesicht des Myraners zuckte es.
»Wenn du nicht gestehen willst, werde ich dich die
Peitsche spüren lassen. Ich bin sicher, daß das deine
Zunge lösen wird. Dieser Gaidos wollte mir mitteilen,
daß du etwas vorhast. Was wollte er mir sagen.
Nabib? «
»Lügen«, behauptete Nabib. »Er wollte sich durch
schändliche Lügen seine Freiheit bei dir erkaufen.
Toryen.«
»Und deshalb mußte er sterben?«
»Er hat den Tod verdient.« Toryen sah dem Händler
fest in die Augen und sagte zischend:
»Zwanzig Peitschenhiebe.«
Er schob Nabib das große Silberamulett in den
Mund und meinte dazu:
»Beiße darauf, wenn der Schmerz für dich
unerträglich wird. Auf diese Weise behelfen sich die
Katmahzari, um die Geburtswehen lautlos zu ertragen.
Ich möchte keinen Laut von dir hören, Nabib! Wenn
auch nur ein Schrei über deine Lippen kommt, dann
lasse ich dir die Zunge abschneiden und beschaffe mir
die gewünschten Auskünfte von deinem jungen
Freund.«
Toryen trat zurück, und die Peitsche sauste heran.
Der geknotete Lederriemen schnellte wieder zurück,
erreichte Nabib ein zweites Mal und schnalzte wie eine
brennende Schlange über seine Brust.
Nabib schloß die Augen und grub seine Zähne in
das Silberamulett.
Durch den Schmerz, der durch seinen Körper zuckte
und sich lähmend auf seine Sinne legte, hörte er dumpf
die Stimme Bodos, der die Maraner mit wüsten
Beschimpfungen bedachte. Dann erstarb Bodos Stimme
und ging in einen Schmerzensschrei über.
Und wieder zog der geknotete Lederriemen eine
brennende Spur über Nabibs Körper. Er hatte
mitgezählt, es war der vierte Peitschenhieb. Als die
Peitsche das fünfte Mal über seinen Körper zuckte,
spürte er es kaum. Er dachte, daß er gegen den
Schmerz bereits unempfindlich sei – aber da raste er
plötzlich mit doppelter Heftigkeit durch seinen Körper.
Unwillkürlich öffnete er den Mund, das Amulett
entglitt seinen Zähnen, und ein Schrei löste sich aus
seiner Kehle.
Der bohrende Schmerz war mit einem Schlag
hinweggewischt. Stille senkte sich über Nabib.
Und in diese Stille hinein sagte Toryen:
»Ich bin ein Mann von Ehre und pflege mein Wort
zu halten.
Ich fordere deine Zunge, Nabib.«
Nabib sah starke Arme in seinem Blickfeld
auftauchen. Sie drückten seinen Kopf gegen den Pfahl
und hielten ihn fest umklammert. Jemand hielt ihm die
Nase zu, so daß er durch den Mund atmen mußte.
Dann krallte sich eine Hand in seinen Unterkiefer, zog
ihn gewaltsam herunter, und ein Ast wurde ihm
zwischen die Zähne gesteckt.
Nabib, gerade noch von Angst und Entsetzen
geschüttelt, spürte, wie eine seltsame Verwandlung mit
ihm vorging. Ruhe kehrte in ihn ein, die Angst
verschwand, als hätte es sie nie gegeben. Und er
dachte: Dann werde ich eben ein stummer Händler
sein, der seine Geschäfte in der Zeichensprache tätigt.
»Die Weiber greifen an!«
Der Ruf erscholl aus allen Richtungen, und so sehr
sich die Myraner bemühten, all ihre Verachtung in ihn
hineinzulegen, so klang doch die Ahnung von der
bevorstehenden Niederlage durch.
»Sie haben uns umzingelt und kommen von allen
Seiten herangeritten.«
Toryen ließ von Nabib ab und versuchte, Ordnung
in die Reihen seiner kopflos durcheinanderrennenden
Krieger zu bringen.
»Es sind viele! Zu viele! Zwei Hundertschaften ...
oder mehr!«
Nabib gelang es, sich des Astes zwischen seinen
Zähnen zu entledigen. Er blickte zu Bodo hinüber, der
wie verrückt an seinen Fesseln zerrte, und lächelte ihm
zu.
»Das ist unsere Rettung, Bodo«, sagte Nabib mit
schwerer Zunge.
Aber Bodo schien ihn nicht gehört zu haben. Er
versuchte weiterhin verzweifelt, sich aus eigener Kraft
von den Fesseln zu befreien.
Als die erste Reiterin über den Steinwall preschte,
schien ihr Anblick den jungen Jäger aus dem Wolfsland
zu lähmen. Er starrte sie aus großen, staunenden
Augen an, dabei erschien auf seinem Gesicht ein
Ausdruck der Ungläubigkeit.
»Frauen in Rüstungen, die reiten und kämpfen!«
entfuhr es ihm.
»Ist das so neu für dich?« erkundigte sich Nabib.
»Ich habe von ihnen gehört, aber noch keine von
ihnen mit eigenen Augen gesehen«, sagte Bodo,
während er zwischen den Kriegerinnen hin – und
herblickte, die nun in Scharen in die Festung
hereinströmten und die Myraner einfach überrannten.
Und mit einem bewundernden Unterton fügte er
hinzu: »Sie kämpfen wie die Männer.«
»Sie sind tapferer und gnadenloser«, fügte Nabib
hinzu.
Ja, gnadenlos, das waren sie. Sie töteten alle
Myraner, die sich ihnen mit der Waffe entgegenstellten.
Die Fischer, Hirten und Händler, die unbewaffnet
waren oder die Waffen gestreckt hatten, wurden auf
einem freien Platz zwischen den Hütten
zusammengedrängt.
»Mein Schwert!« schrie Bodo wütend. »Ich will mit
der Waffe in der Hand sterben, ehe ich mich von
Weibern gefangennehmen lasse.«
»Für uns besteht keine Gefahr«, erklärte ihm Nabib.
»Die Katmahzari sind unsere Freunde.«
»Freunde?« wiederholte Bodo fassungslos.
»Ja«, bestätigte Nabib. »Dragon hat sich mit ihnen
gegen die Myraner verbündet. Jetzt sind wir gerettet,
Bodo. Die Katmahzari werden uns Pferde, Ausrüstung
und Waffen geben ...«
Nabib unterbrach sich, als eine Kriegerin
herangeritten kam und keine zwei Schritte vor ihm aus
dem Sattel sprang. Ihn beachtete sie überhaupt nicht,
sondern hatte nur Augen für sein Amulett. Sie griff
danach und riß es ihm mit einer heftigen Bewegung
vom Hals.
»Wir sind froh, daß ihr endlich gekommen seid«,
sagte Nabib verwirrt. Als sich die Kriegerin wieder von
ihm abwandte, rief er ihr nach:
»Befreie uns von unseren Fesseln. Wir sind Freunde
Agrions, der Trägerin des Mondrings ...«
Nabib verstummte. Ohne sich noch einmal nach
ihnen umzudrehen, schwang sich die Amazone in den
Sattel und ritt mit ihrer Beute davon.
»Obwohl die Kriegerinnen unsere Freunde sind,
würde ich mich jetzt mit einem Schwert in der Hand
wohler fühlen«, meinte Bodo mit einer Mischung aus
Spott und Wut.
Nabib schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe das einfach nicht ...«
7.
Nabib und Bodo wurden von ihren Fesseln befreit und
zu den anderen getrieben, die in der Festung Zuflucht
gefunden hatten. Ein altes Fischerweib erbarmte sich
des Händlers und behandelte seine Peitschenstriemen
mit Fischtran und Kräuterpulver. Die Alte erinnerte ihn
irgendwie an Iwa, die die Amme von Amee und Ada
war und sich ebenfalls auf Heilkräuter verstand.
Bodo kniete neben Nabib und sprach eindringlich
auf ihn ein.
»Die Sonne wird bald untergehen, dann müssen wir
die Flucht versuchen.«
Der Händler schüttelte den Kopf.
»Die Amazonen sind unsere Freunde, auch wenn es
im Augenblick nicht so aussieht. Ich bin sicher, daß sie
uns aus freien Stücken ziehen lassen und uns sogar
noch Pferde zur Verfügung stellen.«
»Ich sehe, dein Geist ist verwirrt«, meinte der junge
Mann aus dem Wolfsland mitleidig. »Du bist auch zu
schwach, um den beschwerlichen Ritt in den Süden zu
überstehen. Ich werde allein gehen.«
Nabib griff nach Bodos Arm.
»Mach keine Dummheiten, mein Freund«, sagte er
beschwörend. »Du darfst die Katmahzari nicht
unterschätzen. Sie würden dich nicht weit kommen
lassen. Es ist besser, wenn du mir vertraust. Früher
oder später wird sich mir die Gelegenheit bieten, mit
einer der Anführerinnen zu reden.«
Die alte Fischerin, die dem Gespräch der beiden
bisher unbeteiligt gelauscht hatte, meldete sich nun zu
Wort.
»Ihr braucht um euer Leben nicht zu bangen, wenn
ihr keine Myraner seid«, sagte sie. »Die Kriegerinnen
töten nur die Getreuen von König Zogor. Man sagt,
daß der König im Kampf gegen den jungen Gott aus
dem Schrein gefallen ist und die Kriegerinnen
Myranien für sich erobern läßt.«
»Es stimmt – wenigstens zum Teil«, erwiderte
Nabib, der Erleichterung darüber empfand, daß die
Kunde von Dragons Siegeszug und König Zogors Tod
bereits bis in die nördlichen Gebiete vorgedrungen
war. »König Zogor ist tot, und Dragon wird der neue
König von Myranien sein. Ist das der Grund, warum
sich die Katmahzari fast so wie die Horden der Nacht
gebärden?«
Die Alte zuckte bei diesen Worten zusammen und
murmelte schnell einige Beschwörungen.
»Die Götter mögen uns vor diesen Scheusalen
beschützen«, sagte sie dann. »Vielleicht glauben die
Kriegerinnen daran, daß sich die alten Weissagungen
erfüllen und plündern deshalb das Land, um den
Horden der Nacht keine Beute zu überlassen. Wer weiß
das schon? Wir sind arm, aber die Katmahzari nehmen
uns das wenige, das wir noch besitzen. Sie haben es vor
allem auf Pferde und Schmuck abgesehen.«
»Das habe ich gemerkt«, sagte Nabib und griff sich
unwillkürlich an den Hals, wo er das silberne Amulett
getragen hatte.
Plötzlich merkte er, daß die Geräusche rings um sie
erstarben. Selbst die alte Fischerin verstummte; sie
erhob sich und verschwand schnell in der Menge. Als
Nabib sich aufrichtete, sah er, wie sich ihnen vier
Kriegerinnen in vollem Kriegsschmuck näherten. Eine
von ihnen hielt das Silberamulett in der Hand, deutete
damit auf Nabib und redete leise auf eine andere
Kriegerin ein, die einen höheren Rang zu bekleiden
schien.
Nabib lächelte Bodo zu und meinte erleichtert:
»Jetzt trägt er Früchte, daß ich Agrions Namen
genannt habe. Du wirst sehen, in wenigen
Augenblicken sind wir freie Männer und werden uns
der Unterstützung der Katmahzari erfreuen.«
Die Anführerin der Katmahzari blieb vor ihm
stehen. Sie war groß und breit, mit festen muskulösen
Schenkeln, die dornenbewehrten Brustplatten spannten
sich über ihrem prallen Busen. Ihre Arme und Beine
waren behaart, und auch auf ihrer Oberlippe
kräuselten sich etliche dunkle Barthaare. Sie war das,
was man gemeinhin unter einem Mannweib verstand.
»Wer bist du?« fragte sie mit tiefer Stimme.
»Ich bin Nabib von Thinayada«, antwortete Nabib,
während er sich schnell erhob. Er ging der Amazone
bis knapp an die Schultern.
»Ich bin Händler ...«
Sie unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
»Wie bist du in das Gebiet von Sapca gekommen?«
»Mit meinem Schiff«, antwortete Nabib
wahrheitsgetreu. Er erzählte ihr, daß er sich auf der
Fahrt nach Myra befunden hatte und Wein geladen
hatte. Bevor er auf das Zusammentreffen mit Bodo und
dessen Erzählung über die nach Osten stürmenden
Horden der Nacht zu sprechen kommen konnte,
schnitt sie ihm wieder mit einer Handbewegung das
Wort im Munde ab.
Sie betastete sein zerschlissenes Gewand und meinte
dann anerkennend:
»Das ist ein teurer Stoff. Du mußt ein reicher
Händler sein, wenn du solch kostbare Kleider trägst.«
»Es ist mir schon besser gegangen«, entgegnete
Nabib. Er deutete auf die Kriegerin, die ihm das
Silberamulett abgenommen hatte und fuhr fort: »Hat
sie dir nicht meine Botschaft überbracht? Ich bin ein
Freund von Agrion, der Trägerin des Mondringes. Ich
befinde mich auf dem Weg nach Süden, um ihr eine
wichtige Nachricht zu überbringen. Es geht um die ...«
»Als Händler bist du sicher weit gereist«, unterbrach
ihn die bärtige Katmahzari, »und hast wohl auch den
Namen der Trägerin des Mondringes gehört.«
»Ich kenne Agrion nicht nur vom Hörensagen,
sondern habe Seite an Seite mit ihr gegen die dunklen
Wächter des Gottes mit den vielen Namen und gegen
Zogors Krieger gekämpft«, berichtete Nabib.
»Agrions Freunde sind alle im Süden«, sagte die
Katmahzari. Sie betrachtete ihn lauernd und fragte:
»Oder besitzt du etwas, das ein Beweis für ein
Freundschaftsbündnis mit unserer zukünftigen
Königin ist?«
»Ich trage nichts am Leibe, mit dem ich dir meine
Freundschaft zu Agrion belegen könnte«, meinte Nabib
bedauernd. »Aber ich könnte dir Dinge über sie
erzählen, die nur der weiß, der lange an ihrer Seite
gelebt hat.«
»Du könntest mir viel erzählen, um dein Leben zu
retten«, entgegnete die Katmahzari. »Aber wenn du
wirklich lange Zeit mit der Trägerin des Mondringes
beisammen warst, dann müßtest du irgend etwas
besitzen, das an sie erinnert.«
Nabib sah hier seine Chance, seine Lage zu
verändern.
»Ich besitze Aufzeichnungen über die Zeit mit
Agrion und ihren Freunden«, sagte Nabib schnell.
»Aber die befinden sich alle auf meinem Schiff.«
»Dann wirst du sie von dort holen«, beschloß die
Katmahzari. »Wir werden dich zu deinem Schiff
geleiten.«
Nabib verstand in diesem Augenblick noch nicht,
warum die Kriegerin den mühevollen Weg zur Bucht
der Kiesel auf sich nehmen wollte, nur um an seine
persönlichen Aufzeichnungen heranzukommen. Aber
er grübelte nicht darüber nach. Ihm war es nur recht so,
denn wenn ihm die Katmahzari auch dann nicht
glauben wollten, so besaß er die Hoffnung, daß ihn
seine Männer aus dieser mißlichen Lage notfalls mit
Gewalt befreien würden.
Als sie in der Bucht der Kiesel eintrafen, erkannte
Nabib plötzlich, daß es den Katmahzari nicht bloß um
seine persönlichen Aufzeichnungen ging. Aber da war
es bereits zu spät.
Die bärtige Kriegerin hatte ihn und Bodo mit einer
zehnköpfigen Reiterschar in eine Bucht gebracht, die
westlich vom Landeplatz seines Schiffes lag. Und dort
entdeckte Nabib die von den Amazonen geraubten
Fischerboote. Es waren vierzehn Stück, und jedes war
mit Kriegerinnen voll besetzt.
Die vierzehn Boote liefen alle aus und verteilten sich
über die gesamte Breite der schmalen Meerenge, so daß
Nabibs Schiff der Rückweg aufs offene Meer
abgeschnitten war.
Nabib und Bodo befanden sich mit der bärtigen
Katmahzari in einem Boot.
»Ihr werdet euch vollkommen ruhig verhalten«,
trug sie ihnen auf, während die vierzehn Boote fast
lautlos auf das wie ein dunkler Fels aufragende Schiff
zustrebten. »Wenn es einer von euch wagt, auch nur
einen Warnlaut von sich zu geben, dann schneide ich
ihm die Kehle durch!«
Das war durchaus ernst zu nehmen.
Nabib schluckte und sagte: »Warum sollte ich meine
Leute warnen? Ihr seid unsere Freunde und wollt doch
in friedlicher Absicht auf mein Schiff.«
Die Anführerin der Amazonen lächelte und meinte:
»Das wirst du deinen Männern auch zum richtigen
Zeitpunkt vermelden, daß wir Freunde sind und sie
nicht zu den Waffen greifen zu brauchen.«
»Sie wollen uns überrumpeln, Nabib!« rief Bodo mit
verhaltener Wut aus. »Merkst du denn nicht ...«
Weiter kam er nicht, denn die bärtige Katmahzari
hieb ihm den Knauf ihres Kurzschwertes über den
Schädel. Bodo brach stöhnend zusammen.
»Nur ruhig Blut, mein Freund«, redete Nabib ihm
zu, als er merkte, daß Bodo Anstalten machte, sich auf
die Kriegerin zu stürzen. »Es ist keine Schmach, von
einer Katmahzari besiegt zu werden.«
»Mund halten, Dicker!«
Nabib verstummte gehorsam. Die Boote mit den
etwa hundert Kriegerinnen waren höchstens noch
fünfzig Mannslängen von seinem Schiff entfernt, als
ihm die Anführerin befahl:
»Verständige jetzt deine Männer von unserem
Kommen. Aber vergiß nicht, ihnen mitzuteilen, daß für
sie kein Grund besteht, zu den Waffen zu greifen.«
»So sicher bin ich nun gar nicht mehr«, wagte Nabib
einzuwenden.
»Du wirst tun, was ich von dir verlange, oder ...«,
die Katmahzari vollendete den Satz nicht, so daß es
Nabibs Einfallsreichtum überlassen blieb, was mit ihm
geschehen würde, falls er sich den Befehlen
widersetzte.
Er hob die Hände an den Mund und rief:
»Ahoi! Valys, hier ist Nabib! Ich befinde mich in
Begleitung von Katmahzari-Kriegerinnen.«
»Ahoi, Nabib!« ertönte Valys‘ Stimme vom Schiff.
»Ich habe die Boote schon längst entdeckt. Wir sind
vorbereitet. Die Weibsteufel sollen nur kommen!«
In diesem Augenblick wurden an Bord einige Feuer
entzündet und eine Reihe brennender Ölfackeln flogen
in hohem Bogen auf die Schiffe zu. Als sie auf das
Wasser auftrafen, erloschen sie nicht, sondern brannten
weiter. In ihrem Schein boten die Boote ein gutes Ziel
für die Bogenschützen.
Nabib spürte das kalte Eisen eines Dolches in
seinem Nacken und rief schnell:
»Nicht schießen, Valys. Die Kriegerinnen kommen
in Freundschaft. Ich bin nicht ihr Gefangener, sondern
ihr Gast.«
»Und für deine Freilassung verlangen sie wohl ein
Lösegeld!« rief Valys voll Hohn.
»Ihr dürft trotzdem den Kampf nicht eröffnen«, rief
Nabib zurück, als sich der Druck des Dolches
verstärkte.
»Es wird sich alles auf friedlichem Wege beilegen
lassen.«
Obwohl Nabib jetzt nicht mehr so recht daran
glauben wollte, hoffte er dennoch, daß Valys seine
Anordnungen befolgte. Irgendwann würde sich das
Mißverständnis schon noch aufklären.
Valys behielt einen kühlen Kopf. Die Boote legten
beim Schiff an, ohne daß von dort auch nur ein einziger
Pfeil abgeschossen worden wäre. Die Kriegerinnen
kletterten nicht gerade geschickt über Enterseile und
das Tauwerk des Schiffs die Bordwand hinauf.
Nabib lauschte von unten den Geräuschen. Er hörte
die Männer fluchen und schimpfen, stellte aber
erleichtert fest, daß kein Kampflärm ertönte. Als er als
einer der letzten an Bord kam, sah er, daß seine Leute
im Mittelschiff zusammengedrängt worden waren,
während die Mehrzahl der Amazonen sie in Schach
hielt. Andere Kriegerinnen waren in den Schiffsbauch
hinuntergestiegen.
»Wir wären lieber im Kampf gefallen, als uns in die
Gefangenschaft dieser Weibsteufel zu begeben«, sagte
Valys vorwurfsvoll.
»Wer redet von Gefangenschaft«, sagte Nabib in
Richtung der Anführerin. »Wir sind Freunde der
Katmahzari. Sie sind nur an Bord gekommen, um sich
davon zu überzeugen. Dafür habe ich das Wort ihrer
Anführerin.«
Die bärtige Kriegerin hatte dafür nur ein abfälliges
Lächeln übrig. Eine Amazone kletterte aus einer Luke
an Deck und berichtete ihr:
»Die Laderäume sind voll mit Fässern. Es scheint
sich um Wein zu handeln. Weinfässer und nichts als
Weinfässer!«
Die bärtige Katmahzari gab eine Reihe von Flüchen
von sich, die selbst die Seemänner erröten ließ und
befahl: »Sucht weiter.«
Nabib grinste.
»Ich habe dir doch erklärt, daß ich nur Wein geladen
habe. Davon könnt ihr haben, soviel ihr wollt. Welche
Beute hast du dir denn erwartet?‘ Nabib war schon
beim Anblick der mit Kriegerinnen besetzten
Fischerboote klargeworden, daß die Katmahzari
keineswegs an seinen Aufzeichnungen über die Zeit
mit Agrion interessiert war, sondern nur daran dachte,
sein Schiff zu plündern.
Jetzt zeigte sie offen ihre Enttäuschung darüber, daß
ihre Kriegerinnen nur auf eine Ladung Weinwässer
stießen. Sie wandte sich Nabib wütend zu und sagte:
»Man sieht es deiner Kleidung an, daß du ein reicher
Händler bist. Wo hast du deine Schätze versteckt? Zeig
mir, wo du deine Reichtümer verborgen hast, dann
lasse ich dich mit deinem Schiff ziehen. Wenn du sie
mir vorenthalten willst, dann wirst du vom höchsten
Mast deines Schiffes baumeln.«
»Ich habe keine Schätze an Bord«, erklärte Nabib,
und es entsprach der Wahrheit. »Ich habe Besitztümer
an der Weißen Küste, dieses Schiff und eine Ladung
Wein. Schätze aber wirst du auf diesem Schiff keine
finden. Welch Narr wäre ich, wenn ich Gold und Silber
mit mir führen würde!«
Die Katmahzari hielt ihm drohend den Dolch ans
Kinn.
»Silber«, sagte sie, als hätte das Wort für sie eine
magische Bedeutung. »Ich will alles Silber, das du auf
deinem Schiff hast.«
»Silber?« wiederholte Nabib und starrte die
Anführerin der Katmahzari an. Er dachte daran, daß
die Horden der Nacht nur mit Waffen aus diesem
kostbaren Metall zu bekämpfen waren, und eine
Ahnung überkam ihn, die die Raubzüge der
Amazonen plötzlich in einem ganz anderen Licht
erscheinen ließen.
Er sagte bedächtig und ohne die Kriegerin aus den
Augen zu lassen:
»Ich wünsche mir, daß ich hundert Pferdelasten in
Silber hätte, dann würde ich daraus Waffen für
Dragons Krieger schmieden lassen, damit sie sich der
Horden der Nacht erwehren könnten.«
Die Katmahzari packte ihn an den Oberarmen.
»Wer hat dir gesagt, daß wir das Silber für diesen
Zweck benötigen?« herrschte sie ihn an.
Damit war für Nabib das Verhalten der Amazonen
endgültig klar.
Dieses Wissen befriedigte ihn zutiefst, aber es
reichte nicht aus, um ihm zur Freiheit zu verhelfen.
Die Amazonen hatten die Seeleute von Bord geholt
und sie in den leerstehenden Fischerhütten
untergebracht.
Nabib teilte eine der Hütten mit Bodo und Valys.
Er hatte alles mit sich geschehen lassen und seinen
Leuten aufgetragen, keinen Widerstand zu leisten. Jetzt
saß er in Gedanken versunken an einem Fenster der
Hütte und starrte auf die Bucht hinaus. Der
abnehmende Mond spiegelte sich auf der glatten
Oberfläche des Wassers, die nur dann in Unruhe geriet,
wenn eines der Boote, beladen mit den Weinfässern,
zum Ufer gefahren kam. Nabib hatte die wildesten
Vermutungen das Verhalten der Amazonen betreffend,
aber sie befriedigten ihn allesamt nicht. Für ihn stand
nur fest, daß die Katmahzari mit dem Überfall der
Horden der Nacht rechnen mußten, denn sonst würden
sie nicht so sehr darauf versessen sein, Silber zu horten,
um Waffen daraus zu schmieden.
Es war klar, daß ihre Raubzüge nur dem Zweck
dienten, Silber zu beschaffen!
Der Händler hätte sich gerne mit der Anführerin der
Amazonen unterhalten, um sie davon zu unterrichten,
daß die Horden der Nacht sich bereits dem engen
Wasser näherten, wo sie nach Myranien übersetzen
wollten. Aber die bärtige Katmahzari hatte sich nicht
mehr blicken lassen. Es schien fast so, als ginge sie ihm
und seinen Männern aus dem Weg. Einen Grund dafür
konnte sich Nabib nicht denken.
Bodo und Valys unterhielten sich gedämpft
miteinander, aber Nabib konnte jedes ihrer Worte
verstehen.
»Er hat vollkommen den Verstand verloren«, sagte
Valys im Brustton der Überzeugung. »Anstatt sich
gegen die Willkür der Weibsteufel aufzulehnen, hockt
er nur da wie ein Götze, der seine Zauberkraft verloren
hat.«
»Er hofft immer noch auf Gnade«, meinte Bodo
abfällig. »Ich habe ihn ganz anders eingeschätzt. Als
ich zum erstenmal in seine Augen blickte, da glaubte
ich, daß er ein Kämpfer sei. Aber jetzt erkenne ich, daß
er ein Schwächling ist, der lieber in Armut lebt, als in
Glorie zu sterben.«
»So verwerflich, wie du es darstellst, ist das gar
nicht«, mischte sich Nabib ein. »Nicht zufällig leben
zumeist die weisesten Männer in Armut.«
Bodo wandte sich ihm wütend zu.
»Soll ich dir ins Gesicht sagen, was du bist, Nabib?«
Nabib zeigte ihm ein feines Lächeln.
»Sage es lieber nicht. Ich erkenne eure Absicht, aber
es wird euch nicht gelingen, mich zu irgendeiner
unsinnigen Handlung zu reizen.«
»Du nennst es einen Unsinn, gegen diese
Weibsteufel um unser Leben zu kämpfen!« rief Valys
aufgebracht. »Was warst du früher für ein Kerl, Nabib
– und was für ein erbärmlicher Feigling ist aus dir
geworden. Laßt dich von Frauen im Harnisch
ängstigen.«
»Still«, herrschte Nabib ihn an. »Wir bekommen
Besuch.«
Drei Katmahzari näherten sich ihrer Hütte. Sie
blieben vor dem Eingang stehen. Eine der Kriegerinnen
nahm eine der beiden dort aufgepflanzten Fackeln an
sich und trat ein.
Sie war noch ziemlich jung und wirkte viel
weiblicher als die meisten Katmahzari. Im Schein der
Fackel sah Nabib, daß ihr herbes Gesicht von exotischer
Schönheit war. Sie beachtete die beiden anderen
überhaupt nicht, sondern hatte nur Augen für Nabib.
Plötzlich lächelte sie, und die Härte verschwand
vollkommen aus ihrem Gesicht.
»Ich bin Grisha«, sagte sie. »Erkennst du mich nicht
wieder, Nabib?«
Der Händler sprang auf die Beine, wollte einen
Schritt auf sie zumachen, überlegte er es sich dann aber
anders. Bei den Amazonen konnte man nie wissen; ein
freundliches Lächeln bedeutete noch lange nicht, daß
sie den Dolch im Gürtel ließen.
»Verzeih mir, schöne Kriegerin, wenn mir meine
Erinnerung nichts über dich aussagt«, kam es
schmeichelnd über seine Lippen. »Aber allein, daß du
mich kennst und keinen Zweifel über meine Person
hast, läßt mein Herz höher schlagen. Denn es bedeutet,
daß du deinen Gefährtinnen bestätigen kannst, daß ich
ein Freund Agrions bin. Aber willst du meinem
Gedächtnis nicht nachhelfen und mir verraten, woher
du mich kennst?«
»Ich komme von Agrion«, sagte die Katmahzari.
»Ich war unter den vierhundert Kriegerinnen, die mit
Prinzessin Jnessa als Vorhut der großen Streitmacht in
das Gebiet von Urgor entsandt wurden. Jnessa machte
mich zur Wächterin von Agrion. Jetzt ist die Prinzessin
tot, und ich gehorche dem Befehl der Trägerin des
Mondrings.«
»Den Windgöttern sei Dank, daß sie dich nach hier
verweht haben«, pries Nabib sein Schicksal.
Die Amazone lächelte.
»Es waren nicht die Götter, die mich nach hier
verschlagen haben, sondern Agrion hat mich
ausgeschickt. Ich habe den Auftrag, alles erreichbare
Silber zusammenzutragen und Waffen für den Kampf
gegen die Horden der Nacht daraus schmieden zu
lassen.«
Nabib hatte ihr staunend gelauscht, aber was er jetzt
hörte, verschlug ihm die Sprache. Es dauerte eine
Weile, bis er sich gefaßt hatte und sagen konnte:
»Dann weiß Dragon von der drohenden Gefahr! Wie
hat dieser Teufelskerl nur herausgefunden, daß sich die
Horden der Nacht zum Sturm auf Myranien rüsten? Er
muß es gewußt haben, noch bevor Cnossos den
Wolfsmenschen den Befehl dazu gab.«
»Du sprichst, als hättest du Gewißheit«, sagte die
Kriegerin stirnrunzelnd. »Deinen Worten nach zu
schließen, haben sich die Weissagungen erfüllt, und die
Horden der Nacht befinden sich bereits auf dem Weg
nach Osten.«
Nabib deutete auf Bodo, der wie erstarrt dahockte
und Crisha nicht aus den Augen ließ.
»Er hat es mit erlebt, als die Wolfsmenschen zu
ihrem Feldzug gegen die Ostländer aufbrachen.« Er
hielt inne und sah die Kriegerin überrascht an. »Aber
warum bezweifelst du das, wo du hier bist, um Waffen
aus Silber schmieden zu lassen? Wenn Dragon die
Bedrohung ernst nahm, so hast du keinen Grund zu
zweifeln.«
»Dragon ist ein Narr«, sagte die Kriegerin voll
Überzeugung. »Er hat alle Warnungen in den Wind
geschlagen. Es war Agrion, die von dem Hirten Sardak
die Geschichte über die Horden der Nacht erfuhr und
sich der alten Weissagungen erinnerte. Sie war es, die
mich ohne Dragons Wissen ausschickte, um
Silberwaffen schmieden zu lassen.«
»Demnach weiß Dragon noch gar nicht, daß sich die
Horden der Nacht bereits auf den Weg gemacht haben
und bald das enge Wasser erreichen werden«, meinte
Nabib. »Agrions Maßnahme beruht einzig und allein
auf den alten Weissagungen ...«
»... und auf der Warnung des Hirten Sardak«, fügte
Grisha hinzu.
Nabib nickte.
»Ich dachte schon, daß all meine Mühen umsonst
gewesen seien. Aber jetzt merke ich, daß ich nicht
umhin kann, Dragon doch zu warnen. Was nützen all
die Silberwaffen, wenn Dragon nicht ahnt, wie nahe
die Gefahr bereits ist. Ich muß zu ihm reiten. Bekomme
ich von dir zwei Pferde, Grisha?«
»Du bekommst die besten Pferde – aber erst
morgen«, sagte sie.
»Aber wenn ich bis morgen warte, verlieren wir
zuviel Zeit«, erklärte Nabib.
»Ich werde dir den gegenwärtigen Standort von
Dragons Heer verraten, so kannst du auf geradem Weg
zu ihm reiten und die verlorene Zeit gutmachen«,
entgegnete Grisha. »Ich sehe dir an, wie abgekämpft du
bist. So würdest du nicht weit kommen.«
Nabib mußte ihr beipflichten. Es war sicher besser,
wenn er die Nacht durchschlief und sich am nächsten
Morgen ausgeruht auf den Weg machte.
»Läßt du auch meine Männer frei?« wollte Nabib
wissen.
»Meine Kriegerinnen können es kaum mehr
erwarten. Ich muß dir gestehen, Nabib, daß sie deine
Weinfässer angezapft haben ... Übrigens ein
vorzüglicher Wein.«
»Das Beste, das je auf den Hängen von Thinayda
gereift ist«, versicherte Nabib etwas wehmütig, weil es,
bei aller Freundschaft, sein Händlerherz zutiefst
schmerzte, zusehen zu müssen, wie sein Wein die
durstigen Kehlen der Katmahzari hinunterfloß und mit
dem Wein auch die Gewinnspanne immer geringer
wurde.
ENDE
Während Dragon in Richtung Myra zieht, nähert sich
unaufhaltsam von Nordwesten her, aus dem Land der
Wolfsmenschen kommend, eine unheimliche Armee.
Es sind die Horden der Nacht mit ihren vierbeinigen
Kampfgefährten. Cnossos, ihr Herr und Gebieter, hat ihnen
Blut versprochen – und sie suchen die Entscheidung IM
ZEICHEN DES MONDES ...
IM ZEICHEN DES MONDES das ist auch der Titel des
nächsten Dragon-Bandes. Der Roman wurde ebenfalls von
Ernst Vlcek geschrieben.