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Die Horden der Nacht

Date post: 06-Jan-2017
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Page 1: Die Horden der Nacht
Page 2: Die Horden der Nacht

1.

Die Strahlen der untergehenden Sonne spiegelten sich

in den kupfernen Kuppeln und den goldenen Dächern

der Stadt am Por: Eskis, die myranische Stadtprovinz,

die nur einen Tagesmarsch von der südlichen Grenze

des Amazonenreiches entfernt lag, glich mit ihren

hohen Mauern einer Festung.

Dragons Heer, das sich aus Zuntern,

Katmahzari-Kriegerinnen, Urgoriten und Überläufern

der myranischen Armee zusammensetzte, lagerte rund

um die Stadt in den Wäldern, auf den saftigen

Weidegründen und an den Ufern des Por.

Eskis war eingekreist; die Belagerung dauerte nun

schon drei Tage an – seit Dragons Vorhut eingetroffen

war –, aber die Eskiser ließen alle Aufrufe zur

Übergabe unbeantwortet.

»Es ist mir unverständlich, warum sich gerade diese

Stadt nicht ergibt«, sagte Dragon, während er an der

Spitze einer zwanzigköpfigen Reiterschar auf die

hochaufragenden Festungsmauern zuritt.

»Wenn du dich endlich dazu entschließen könntest,

Eskis stürmen zu lassen, wäre die Stadt beim

Morgengrauen in unseren Händen«, behauptete

Partho, der zu seiner Linken ritt.

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Dragon schüttelte den Kopf und starrte zu den

Zinnen und Wehrtürmen der Stadtmauer hinauf.

Dort waren winzige Gestalten zu sehen, in weite

Umhänge gehüllte Fackelträger. An ihnen war keine

Bewegung festzustellen, sie verhielten sich so reglos,

als wären sie aus Stein gehauene Statuen. Aber es

waren Menschen aus Fleisch und Blut, und von ihnen

stammte der Singsang, der weit über das Land bis ans

Ende des Heerlagers hallte.

»Die Katmahzari werden nicht mehr verhandeln«,

erklärte Agrion, die ihren Schimmel auf Dragons

andere Seite gebracht hatte.

Die ehemalige Sklavin und Trägerin des

geheimnisvollen Mondringes hatte in den vergangenen

Monden eine große Wandlung durchgemacht. Seit sie

von den Amazonen als Nachfolgerin ihrer Königin

erkannt worden war, nahm sie deren Gewohnheiten

immer mehr an und war nun bereits durch und durch

eine Katmahzari.

Dragon warf ihr von der Seite einen Blick zu und

stellte fest, daß ihr Gesicht verkniffen war.

»Wir dürfen nichts überstürzen«, sagte er. »Oder

muß ich dich erst daran erinnern, daß Prinzessin Jnessa

und dreißig ihrer Kriegerinnen von den Eskisern

gefangengenommen wurden? Wir können ihr Leben

nur auf dem Verhandlungswege retten.«

»Jnessa würde lieber sterben als zulassen, daß wir

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um ihr Leben betteln«, entgegnete Agrion würdevoll.

Dragon zuckte die Achseln. Es gab Zeiten, da war

mit Agrion einfach nicht vernünftig zu reden. Er

konnte froh sein, daß sie zugestimmt hatte, ihre

Kriegerinnen bis nach diesen Verhandlungen

zurückzuhalten. Aber wenn die Eskiser weiterhin bei

ihrer unnachgiebigen Haltung blieben, dann durfte er

nicht erwarten, daß die viertausend Kriegerinnen

weiterhin untätig bleiben würden.

»Cosal!«

Auf Dragons Ruf kam ein Reiter herangeprescht. Er

war groß und schlank, ohne jedoch schwächlich zu

wirken. Dragon hatte den Myraner, der sich nach

König Zogors Tod den Urgoriten angeschlossen hatte,

kämpfen gesehen und wußte, welche Kraft in seinen

Armen wohnte.

Cosal trug ständig ein verwegen geschlungenes

Tuch um den Kopf, das seinen kahlen Schädel vor den

sengenden Sonnenstrahlen schützen sollte. Sein

knochiges Gesicht mit den tief in den Höhlen liegenden

Augen wirkte wie das Antlitz eines Toten – von der

linken Schläfe zog sich eine breite Narbe bis hinter das

Ohr, die rot leuchtete, wenn er in Wut geriet. Wenn er

grinste, ob belustigt oder spöttisch, verzerrte sich sein

Gesicht zu einer schrecklichen Fratze.

Der Myraner drängte während des Reitens sein

Pferd zwischen Partho und Dragon.

Page 5: Die Horden der Nacht

»Ja?« sagte er nur, als er sich an Dragons Seite

befand.

Dragon deutete mit dem Kinn in Richtung der Stadt

und fragte:

»Was, glaubst du, wird man von uns für die

Freilassung der gefangenen Kriegerinnen verlangen,

Cosal?«

Cosal warf Agrion einen schnellen Blick zu. Als er

Dragon schließlich antwortete, war sein Gesicht

ausdruckslos.

»Ich habe einige Eskiser unter meinen Leuten, die

die grausamen Bräuche ihrer Kultpriester nur all zu

genau kennen. Sie glauben nicht, daß man die

Kriegerinnen am Leben lassen wird.«

»Aber aus welchem Grund hat Hoherpriester

Trazyn einen Boten zu uns geschickt?« wollte Dragon

wissen.

»Vielleicht möchte uns Trazyn, die Spinne, ein

Schauspiel bieten«, meinte Cosal und sah Dragon fest

in die Augen.

Dragon wandte sich von dem Mann mit dem

Totenschädel ab und blickte wieder zur Stadt, die sich

wie ein Gebirge aus Steinquadern gegen den rötlich

gefärbten Horizont abhob.

Die Fackelträger auf den Zinnen waren die

Anhänger des grausamen Kults, dessen Hoherpriester

zugleich auch der Daikan von Eskis war.

Page 6: Die Horden der Nacht

Und dieser Hoherpriester bot Dragons Heer seit

nunmehr drei Tagen verbissen Widerstand.

Das war eine gänzlich neue Erfahrung für den

Atlanter, der sich seit dem Sieg über Zogor beständig

auf der Siegesstraße befand. Bisher hatten sich alle

myranischen Stützpunkte, die auf ihrem Weg lagen,

mehr oder weniger widerstandslos unterworfen – und

die Bevölkerung des myranischen Reiches hatte

Dragon nicht selten wie einen Befreier gefeiert.

Das Volk war seines Herrschers schon lange

überdrüssig gewesen – die viel zu hohen Steuern, die

Zogor aus seinen Untertanen herauspreßte, die

Unterdrückung der schwächergestellten Minderheiten

und die Methode der eisernen Faust, nach der der

König regierte, waren dazu angetan, den Unmut der

Myraner und deren Brudervölker zu entfachen. Es war

also gar nicht verwunderlich, daß die Bürger, Bauern

und Hirten aufatmeten, als die Kunde von König

Zogors Tod sie erreichte. Sie kamen von überall her,

um den mumifizierten Leichnam zu sehen und zu

verfluchen.

Von Dragon sagte man sich, daß er gerecht und

weise und den Sorgen und Nöten des einfachen Volkes

aufgeschlossen sei. Ihm eilte der Ruf voraus, ein

Abkömmling der Götter zu sein und von diesen

ausgeschickt, die Welt der Sterblichen von allem Übel

zu befreien. Und obwohl Dragons Wirken noch nicht

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länger als einen Sommer dauerte, woben sich bereits

unzählige Legenden um seine Gestalt, die viel weiter in

diese barbarische Welt vorgedrungen waren als er

selbst. Aber egal, ob man nun den Heldenliedern und

den Geschichten der Wanderdichter glaubte, die

Myraner schlossen sich lieber einem jungen, gerechten

Eroberer an, als weiterhin unter dem Zepter des

myranischen Herrscherhauses zu darben.

Das waren die Hauptgründe dafür, daß Dragon

nach Zerschlagen der myranischen Hauptstreitmacht

auf dem Weg zur Hauptstadt des Königreiches bisher

noch kaum auf Widerstand gestoßen war.

Und nun kam nach einem beispiellosen Ruhmeszug

die Ernüchterung.

Dragon stand mit seinem mächtigen Heer aus

elftausend Kriegern vor den Mauern von Eskis – aber

die Tore der myranischen Stadtprovinz blieben

geschlossen.

»Wir müssen Eskis einnehmen«, sagte Dragon

bestimmt. Er wandte sich wieder Cosal zu. »Sind die

Eskiser so treue Untertanen, daß sie lieber mit ihrer

Stadt untergehen als sich zu ergeben?«

Cosal schüttelte den Kopf.

»Die Eskiser fühlen sich dem myranischen

Könighaus überhaupt nicht verbunden – aber sie

fürchten die Zauberkraft ihres Hohenpriesters«,

erklärte der Myraner. »Trazyn, die Spinne, hält die

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Tore der Stadt geschlossen. Ihn mußt du besiegen,

wenn du nach Eskis einreiten möchtest. Die Eskiser

selbst sind nicht deine Feinde, Dragon.«

Sie hatten die Stadtmauer fast erreicht. Hundert

Schritte vor den hoch und steil aufragenden Wänden

hielten sie an. Ihre Pferde waren kaum zum Stillstand

gekommen, als von oben ein schauriges Lachen

erklang. Die Stimme klang hohl und unmenschlich und

war von solcher Kraft, als gehöre sie einem

überirdischen Wesen. Dragon erschauerte im ersten

Moment, aber dann erinnerte er sich daran, wie er

selbst mittels eines simplen Tricks mit dem

Sprechtrichter seine Stimme verstärkt und Zogors

Krieger eingeschüchtert hatte; auf eine ähnliche Art

und Weise würde wohl auch Trazyn diese Wirkung

erreichen.

Das Lachen verhallte, und dann sagte die Stimme:

»Da seid ihr also, schwächliche Ostländer, um die

Botschaft der Spinne zu empfangen. Ich habe den

Herrscher über Leben und Tod angerufen, den Fürsten

allen Seins, dessen Geist in allen Spinnen dieser Welt

lebt. Ich, Trazyn, sein menschliches Werkzeug, habe

die Spinnen befragt, was mit dir, Dragon und deiner

barbarischen Horde zu geschehen hat. Höre nun das

Urteil: Ihr alle werdet euch im Netz der Spinne fangen,

das von Eskis‘ Mauern bis zu den Toren Myras

gesponnen ist. In diesem Netz werdet ihr euch

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verstricken, hilflos darin zappeln und den tödlichen

Biß der Spinne erwarten. Das soll eure Strafe sein,

wenn ihr euch am Heiligtum der Spinne vergreift.«

»Der nimmt den Mund aber gehörig voll«, murmelte

Partho abfällig, als der Sprecher eine Pause machte.

Partho wollte noch etwas hinzufügen, wurde aber von

der gespenstisch hallenden Stimme des Hohenpriesters

unterbrochen.

»Denkt an meine Worte, denn sonst ist euch der Biß

der Spinne gewiß«, klang es schaurig von den Zinnen

der Stadt. »Das Schicksal der kriegerischen Weiber, die

uns in die Hände gefallen sind, soll euch zur Warnung

gereichen. Spinnen, werft das Netz aus!«

Nun kam Bewegung in einige der Fackelträger. Sie

verschwanden hinter einer steinernen Balustrade, und

dann war ein Quietschen zu hören, als würde eine

Seilwinde gedreht.

Dragon starrte gebannt zu den Zinnen empor.

Plötzlich sah er, wie zwischen zwei eng

beieinanderstehenden Wehrtürmen ein dicker, mit

Seilen umwickelter Balken hochgezogen wurde ... und

an dem Balken hing ein Netz!

Aber es war nicht ein Netz aus Seilen, sondern ein

Netz aus menschlichen Körpern – sie waren an Armen

und Beinen aneinandergebunden und füllten die

Fläche innerhalb des Holzrahmens aus, der an den

beiden Wehrtürmen hochgezogen wurde.

Page 10: Die Horden der Nacht

Dragon hatte den Atem angehalten. Jetzt stieß er

geräuschvoll die Luft aus und schloß angewidert die

Augen. Er brauchte keine Einzelheiten zu erkennen,

um zu wissen, daß es sich um die gefangenen

Katmahzari-Kriegerinnen handelte, die dort oben zu

einem lebenden Netz aneinandergebunden waren.

Als Dragon die Augen wieder öffnete, blickte er zu

Agrion. Ihr Gesicht war leichenblaß. Sie keuchte und

hatte den Griff ihres Schwertes umklammert. Partho

war an ihre Seite geritten und griff nach ihrem

Oberarm. Aber sie schüttelte ihn mit einer heftigen

Bewegung ab.

»Spinnen, zündet das Netz an!« hallte es von den

Zinnen.

Dragon sah, wie die Fackelträger den Holzrahmen

in Brand setzten.

Agrion begann am ganzen Körper zu zittern, als die

Flammen auf den teergetränkten Holzrahmen

übergriffen und sich über die Taue auf die

Kriegerinnen zu fraßen. Einige der angesengten Taue

rissen, so daß die daran festgebundenen Kriegerinnen

in die Tiefe sanken. Durch die übermäßige Belastung

gaben weitere Taue nach – und schließlich barst der

Holzrahmen mit einem Knall, und alle einunddreißig

Kriegerinnen, immer noch an Armen und Beinen

aneinandergebunden, stürzten schreiend in die Tiefe.

Von den Zinnen erklang ein unmenschliches Gelächter

Page 11: Die Horden der Nacht

...

Dragon schwang sich aus dem Sattel und folgte

Agrion, die sich im Schutze ihres Schildes jener Stelle

der Stadtmauer näherte, wo die

Katmahzari-Kriegerinnen auf dem Boden aufgeprallt

waren. Partho und Cosal kamen hinter ihnen nach. Die

Krieger in ihrer Begleitung nahmen mit ihren Pfeilen

die Zinnen der Stadtmauern unter Beschuß. Vom

Heerlager kam bereits Verstärkung angeritten.

Agrion kniete vor Prinzessin Jnessa nieder, die in

seltsamer Verrenkung dalag, an Armen und Beinen an

ihre toten Gefährtinnen gefesselt.

»Du hast jetzt eine große Verantwortung«, sagte

Dragon zu der Trägerin des Mondrings. »Nach Jnessas

Tod befehligst du allein die viertausend Kriegerinnen.«

Agrion starrte auf die bläulich verfärbte Brust von

Prinzessin Jnessa, wo der purpurne Körper einer

zerquetschten Spinne lag.

»Ich werde die Spinne zertreten«, sagte Agrion. Und

Dragon wußte, daß sie nicht nur Trazyn, sondern diese

ganze Stadt meinte.

Cosal hatte ihre Worte ebenfalls richtig gedeutet.

Denn er sagte:

»Ich verdamme diese schändliche Tat ebenfalls.

Aber meine Leute und ich werden euch nicht

unterstützen, wenn ihr vorhabt, Eskis dem Erdboden

gleichzumachen. Es ist nicht richtig, ein ganzes Volk

Page 12: Die Horden der Nacht

für das Verbrechen eines Mannes zu bestrafen.«

»Ich werde die Spinne zertreten«, sagte Agrion

wieder. Und sie fügte hinzu: »Um jeden Preis.«

»Wenn du Trazyns Kopf willst, brauchst du nicht

die Stadtmauern einzurennen«, sagte Cosal. »Es gibt

einen anderen Weg, um in die Stadt und somit in den

Tempel der Spinne zu gelangen.«

Dragon packte den Myraner am Arm.

»Zeige uns den Weg! Dann wollen wir versuchen

die Stadt in einem unblutigen Handstreich zu erobern.«

Die sieben leichtbekleideten Gestalten bewegten sich

lautlos durch die tiefe Furche auf die Stadtmauer zu.

Der Mann an der Spitze richtete sich auf, als er das

Ende der Rinne erreicht hatte und hob die Hand mit

dem dornenbewehrten Kampfhandschuh.

»Halt!« raunte er Dragon zu, der ihm dichtauf

gefolgt war. »Ich brauche einen Helfer, um den

Steinquader aus der Öffnung zu heben. Die anderen

sollen hier zurückbleiben.«

»Ich begleite dich«, sagte Agrion, die hinter Dragon

gekommen war.

Der Mann mit dem eisernen Kampfhandschuh

nickte. Er war ein Eskiser, der König Zogor gedient

hatte und nun in Dragons Diensten stand. Cosal hatte

von ihm gesagt, daß er früher, noch im Jünglingsalter,

im Tempel der Spinne gedient hatte und sich dort gut

Page 13: Die Horden der Nacht

auskannte. Er hieß Alngos und behauptete, einen

geheimen Zugang in die Stadt zu kennen.

Dragon hielt Agrion am Arm zurück.

»Mach keine Dummheiten«, beschwor er sie. »Wir

müssen bis zuletzt beisammenbleiben. Ich kann mir

denken, wie sehr du Trazyn haßt. Er soll dir gehören.

Aber unternimm nichts auf eigene Faust.«

Agrion erwiderte seinen Blick schweigend und

folgte dann dem Eskiser die wenigen Schritte zur

Stadtmauer.

Dragon, Cosal, Sardak, der Helfer der Hirten und

die beiden Träger blieben in der Furche zurück. Die

beiden muskulösen Träger legten ihre Last keuchend

ab.

»Zogor ist ein Dickwanst«, sagte der eine von ihnen.

»Er muß sich vor seinem Tode noch ordentlich

vollgefressen haben«, stimmte der andere zu und warf

der mumifizierten Leiche einen wütenden Blick zu.

»War es überhaupt notwendig, ihn mit in die Stadt

zu nehmen?« fragte der erste Träger.

»Ich hoffe, daß Zogor uns die Tore der Stadt öffnet«,

sagte Dragon nur. Er wandte sich Sardak zu. »Warum

hast du dich freiwillig für dieses Unternehmen

gemeldet, Sardak? Dir kann doch persönlich nichts an

der Eroberung von Eskis liegen.«

»Doch«, behauptete der Hirte und zeigte lächelnd

seine weißen Zähne. Er zählte bereits fünfzig Sommer,

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besaß aber noch immer den kraftstrotzenden Körper

eines Jünglings. Sein schwarzes Haar zeigte sich an den

Schläfen bereits weiß, und auch in seinem gewaltigen

Oberlippenbart waren vereinzelt Silberfäden zu sehen.

Aber in seinen dunklen Augen loderte das

ungebrochene Feuer der Jugend.

»Ich habe einen guten Grund, und der heißt

Cnossos«, fuhr Sardak fort. »Es scheint mir fast, als sei

auch Trazyn ein Opfer dieses Dämons. Was er mit den

Amazonen gemacht hat, zeigt, daß er eine Bestie ist. Er

muß etwas von Cnossos an sich haben. Und das werde

ich vernichten!«

Sardak hatte in Bo-gah, der Stadt der verlorenen

Seelen, auf Cnossos‘ Geheiß den alten, harmlosen

Märchenerzähler Adrar töten müssen. Damals hatte er

dem Dämon Rache geschworen. Das war auch der

Grund, warum Sardak nicht zu seinen Herden

zurückgekehrt war, sondern sich Dragons Heer

angeschlossen hatte.

»Daran habe ich selbst schon gedacht«, meinte

Dragon. »Es wäre möglich, daß Cnossos der

Spinnengott ist, den Trazyn verehrt.«

Aber Dragon glaubte nicht, daß er seinen

Widersacher in Eskis antreffen würde. Alles wies

darauf hin, daß Cnossos weitergezogen war, um die

Mächte der Finsternis für den großen

Entscheidungskampf gegen ihn, Dragon, um sich zu

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sammeln.

Ein verhaltenes Geräusch, das von der nahen

Stadtmauer kam, brachte Dragon in die Gegenwart

zurück.

»Alngos hat den Zugang freigelegt«, berichtete

Cosal, der die Stelle der Stadtmauer nicht aus den

Augen gelassen hatte, zu der sich der Eskiser und

Agrion vorgearbeitet hatten.

»Dann los!« raunte Dragon und setzte sich in

Bewegung.

Die beiden Träger hoben sich die Mumie König

Zogors auf die Schultern und setzten sich mit ihr in

Bewegung. Cosal hielt sich hinter ihnen, während

Sardak Dragon auf den Fersen blieb.

Als Dragon zu der Öffnung in der Stadtmauer kam,

die groß genug war, um einen ausgewachsenen Mann

durchzulassen, betrachtete er staunend den großen

Felsquader, den Alngos und Agrion ausgehoben

hatten. Die Trägerin des Mondringes meinte mit einem

spöttischen Lächeln:

»Der Quader ist innen hohl. Es war nicht schwer,

ihn herauszuheben.«

Dragon kletterte durch die Öffnung und fand sich in

einem dunklen, schmalen Gang wieder.

»Sardak, die Fackel!« sagte er zu dem Hirten, der

nach ihm in den Gang kam.

»Macht noch kein Licht!« raunte Alngos. »Wartet

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damit, bis wir den Durchlaß wieder geschlossen

haben.«

Die beiden Träger hatten es nicht leicht, den

Leichnam König Zogors durch die Öffnung zu bringen.

Aber dann hatten sie es schließlich geschafft, und

Agrion und Alngos hoben den ausgehöhlten

Steinquader wieder auf seinen Platz. In der Dunkelheit

war das Schlagen von Feuerstein zu hören, einer der

Funken entzündete den Zunder, mit dem Sardak eine

Fackel zum Brennen brachte.

Jetzt sah Dragon, daß sie sich in einem langen Gang

befanden, der der Länge nach durch die Stadtmauer

führte. Links endete der Gang zwanzig Doppelschritte

weiter in einer gewunden nach oben führenden

Treppe. Auf der rechten Seite führte in etwas größerer

Entfernung eine Steintreppe in die Tiefe.

»In welche Richtung müssen wir uns wenden?«

fragte Dragon.

Alngos kicherte.

»Man kommt von jeder Stelle des Geheimgangs in

den Tempel der Spinne«, meinte er. »Die gesamte

Stadtmauer ist ausgehöhlt und von Geheimgängen

durchzogen. Aber wir gehen nach rechts. Von dort ist

es näher zum Tempel.«

Alngos übernahm wieder die Führung. Dragon

zwängte sich an den anderen vorbei und blieb dicht

hinter dem Eskiser. Er traute ihm nicht bedingungslos.

Page 17: Die Horden der Nacht

Sie kamen über die Steintreppe in einen tief

gelegenen Gang, der sich nach wenigen Schritten

gabelte. Alngos folgte unbeirrbar der rechten

Abzweigung. Es dauerte nicht lange, da endete der

Gang vor einem mannsgroßen Felsquader. Alngos

holte den breiten Dolch aus der Scheide und klopfte

mit dem Knauf gegen den Quader, der ihnen den Weg

versperrte – es klang hohl.

»Hilf mir, Dragon«, bat der Eskiser, und gemeinsam

stemmten sie sich gegen den Felsen, der knirschend zur

Seite schwenkte. Der Weg in ein zehn mal zehn Schritte

großes Gewölbe wurde frei. Als Sardak mit der Fackel

nachfolgte, sah Dragon, daß in zwei der Wände Ketten

eingelassen waren, die in Schellen mundeten. An einer

der Eisenketten hing noch das Gerippe eines

Menschen. An der gegenüberliegenden Wand führte

der Gang weiter, aber ein Spinnennetz versperrte den

Weg.

Dragon zog unwillkürlich den Dolch, als der den

grünlich schillernden Spinnenkörper sah der zuckend

im Netz hockte. Aber Alngos drückte seine Hand

hinunter. Er schritt langsam auf das Netz zu. Dabei

holte er eine fingerlange, selbstgeschnitzte Pfeife aus

dem Gürtel und blies hinein. Obwohl kein Geräusch zu

hören war, schien die Spinne zu erstarren. Ohne die

Pfeife abzusetzen, wandte sich der Eskiser um und gab

Sardak durch eine Kopfbewegung zu verstehen, daß er

Page 18: Die Horden der Nacht

zu ihm kommen solle.

Der Hirte verstand sofort. Die Fackel vor sich

haltend, ging er auf das Spinnennetz zu. Als die

Flammen mit den Fäden in Berührung kamen, gingen

diese wie Zunder in Rauch und Feuer auf. Immer noch

auf seiner lautlosen Pfeife spielend, betrat Alngos den

Gang.

Die anderen folgten ihm. Als Dragon unter der wie

erstarrt dahockenden Riesenspinne hindurchging, hatte

er das furchtbare Gefühl, daß sie sich jeden Augenblick

auf ihn fallen lassen würde. Aber nichts dergleichen

passierte.

Der Marsch durch die Geheimgänge in der

Stadtmauer von Eskis zog sich endlos dahin. Sie kamen

immer wieder in Verliese, in denen sich menschliche

Skelette häuften und die von grünschillernden Spinnen

bewacht wurden. Aber sie stellten keine Gefahr dar,

solange Alngos auf seiner lautlosen Pfeife blies. Als

ihm jedoch einmal der Atem ausging, kostete das

einem der Träger das Leben.

Sie hatten das Spinnennetz, das ihnen den Weg

versperrte, verbrannt. Alngos blieb an der Öffnung

stehen und blies in seine Pfeife. Doch gerade als der

zweite Träger den Gang betrat, setzte der Eskiser für

einen Moment die Pfeife ab. Sofort ließ sich die fette

Spinne an einem dünnen Faden herunter und erreichte

den Nacken des Trägers. Der Mann schrie auf, als ihn

Page 19: Die Horden der Nacht

der tödliche Biß ereilte.

Alngos spielte sofort auf seiner Pfeife weiter. Aber es

war bereits zu spät. Der Nacken des Trägers verfärbte

sich bläulich, seine Hände, die er in instinktiver

Abwehr erhoben hatte, versteiften sich ebenso wie sein

Körper. Er fiel in völliger Erstarrung zu Boden.

Dragon sprang auf ihn und spießte die Spinne mit

einem einzigen Dolchhieb auf.

»Können wir noch etwas für ihn tun?« fragte er.

»Er ist nicht mehr zu retten«, sagte Alngos. Er senkte

den Blick und murmelte: »Es war meine Schuld ... aber

ich tat es ohne Absicht ...«

»Du mußt Alngos glauben, Dragon«, mischte sich

Cosal ein.

Es entstand ein kurzes Schweigen, dann nickte

Dragon.

»Gut«, sagte er und gab Cosal einen Wink.

Ȇbernimm du die Stelle des Toten. Wir werden ihn

hier zurücklassen und auf dem Rückweg mitnehmen.

Und dir rate ich, Alngos, tief Luft zu holen, bevor du

wieder auf deiner Pfeife spielst!«

Dragon schob den schweren Vorhang ein Stück zur

Seite und blickte in eine weite und hohe Säulenhalle.

»Das ist der Tempel«, raunte ihm Alngos ins Ohr.

Dragon schauderte leicht, als er sah, daß sich über

die gesamte Decke ein dichtes Gewirr von

Page 20: Die Horden der Nacht

Spinnennetzen spannte. Und überall in den Winkeln

und Ritzen und zwischen den Deckenverstrebungen

leuchteten verschiedenfarbige Lichtquellen. Es gab

keine Fackeln und keine Öllampen in der Tempelhalle,

nur diese bunten Leuchtflecken, die ein unwirkliches

Licht verstrahlten. Dragon beobachtete einen dieser

Leuchtflecken genauer und erkannte, daß er sich

bewegte.

Das waren Spinnen! Jede dieser Lichtquellen, ob

grün, ob rot oder golden, handtellergroß oder von der

Größe eines Bullenschädels – es waren lauter Spinnen,

die in ihren Netzen auf Opfer lauerten.

Der Boden war mit kunstvoll behauenen Steinen

belegt, von denen manche Fabelgestalten darstellten,

andere wiederum reliefartige Schriftzeichen einer

unbekannten Sprache aufwiesen. Der Boden war

uneben und bildete durch die Skulpturen und

geheimnisvollen Figuren aus Stein eine faszinierende

Landschaft. Zwischen den kunstvollen Steingebilden

waren schattenhafte Gestalten zu sehen. Sie verhielten

sich zumeist reglos, so daß Dragon im ersten

Augenblick meinte, sie seien selbst steinerne Götzen.

Aber dann erkannte er im fahlen Licht der

schillernden Spinnenkörper, daß diese Gestalten in

Stoffgewänder gehüllt waren und daß sie sich

gelegentlich doch bewegten.

Eine Spinne, kindskopfgroß, ließ sich an einem

Page 21: Die Horden der Nacht

Faden von der Decke gleiten und hockte sich dann mit

ihren langen, spindeldürren Beinen auf die Kapuze

einer dieser Gestalten. Dragon sah mit wachsendem

Staunen, wie der Mann die Arme hob und wie seine

feingliedrigen Finger mit den zuckenden

Spinnenbeinen spielten.

»Das sind die Priester«, erklärte Alngos flüsternd.

»Sie meditieren hier in der Tempelhalle und geben den

Spinnen die Befehle für den folgenden Tag. Manche

von ihnen haben schon solche Fertigkeit im Umgang

mit den Spinnen, daß sie auf die Hilfe der

Spinnenpfeifen verzichten können.«

»Treffen sich die Sektenmitglieder etwa in dieser

Tempelhalle?« fragte Dragon schaudernd. Alngos

grinste.

»Du hast es erraten, Dragon. Hierher kommen alle

Gläubigen, um dem Spinnengott zu huldigen. Aber

auch jeder Bürger von Eskis hat die Pflicht, zumindest

jeden Mond einmal hier zu erscheinen und eine

Prüfung über sich ergehen zu lassen. Wird er von

seinem Gott für würdig befunden, dann lassen ihn die

Spinnen wieder ziehen. Aber jene, die Trazyns Zorn

erweckt haben, verlassen diesen Tempel nicht wieder

lebend. Die Priester sehen sich aus ihren Verstecken

jeden genau an, der den Tempel betritt, und wenn

ihnen einer mißfällt, dann hetzen sie die Spinnen auf

ihn ... Du kannst dir vielleicht vorstellen, welche

Page 22: Die Horden der Nacht

Ängste die Bürger ausstehen, wenn sie die Halle

betreten ...«

»Genug!« sagte Agrion hinter ihnen. »Du kannst uns

die Riten und Bräuche der Spinnenanbeter auch später

schildern, Alngos. Jetzt sage uns, wo wir Trazyn finden

können.«

»Du findest Trazyn im Herz der Spinne«, antwortete

Alngos. Als Agrion betroffen schwieg, fügte er

erklärend hinzu. »Niemand kann Trazyn ohne seine

Zustimmung aufsuchen. Er wird ständig von so vielen

Spinnen beschützt, wie wir alle Finger an den Händen

haben. Und es sind Spinnen, die nur dem Ton seiner

Pfeife gehorchen. Nein, an Trazyn kommst du nicht

heran. Du mußt warten, bis er von selbst aus seinem

Versteck kommt. Aber das wird nicht vor dem

Morgengrauen sein.«

»Jetzt sind wir zwar im Spinnentempel, aber so weit

von unserem Ziel wie je entfernt«, meinte Sardak

enttäuscht. »Wir dürfen nicht einmal unseren Platz

verlassen, weil wir fürchten müssen, von den Priestern

entdeckt zu werden.«

»Schlafen diese Schurken denn nie?« fragte Agrion

wütend.

»Sie schlafen abwechselnd – aber nie in der Nacht«,

antwortete Alngos.

»Wie sollen wir dann an ihnen vorbeikommen!«

sagte Dragon grimmig. »Wir müssen die Mumie König

Page 23: Die Horden der Nacht

Zogors vor die Tore des Tempels schaffen, damit sie

von allen Bürgern der Stadt gesehen werden kann. Das

war von Anfang an unser Plan. Wenn es wahr ist, was

du behauptet hast, Alngos, dann hat Trazyn den

Eskisern König Zogors Tod verschwiegen, um zu

erreichen, daß sie uns Widerstand leisten. Wenn sie

aber die Mumie des toten Königs sehen, dann könnte

das die Macht der Spinne brechen.«

»So ist es«, stimmte Alngos zu.

»Sollen wir nun bis zum Morgengrauen warten und

uns dann den Weg zu den Tempeltoren freikämpfen?«

sagte Dragon mehr zu sich. Er starrte in die

Tempelhalle hinaus, in der der Tod lauerte, und

schüttelte den Kopf. »Wenn die Priester uns entdecken

und ihre langbeinigen Wächter auf uns loslassen, dann

können wir mit unseren Waffen nichts ausrichten.«

»Und doch müssen wir warten«, beharrte Alngos.

»Wenn wir jetzt schon zuschlagen, dann wird Trazyn

gewarnt und kann alle unsere Pläne zunichte machen.

Wir haben eine Waffe, die wirksamer ist als die

Schwerter und die Pfeile in eueren Köchern. Aber die

können wir erst zum gegebenen Zeitpunkt richtig ein-

setzen – beim Morgengrauen.«

Alngos holte aus seinem Köcher ein armlanges Rohr

heraus.

»Aus dem Rohr dieser Sumpfpflanze werden die

Spinnenpfeifen geschnitzt«, erklärte Alngos. »Bis zum

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Morgengrauen bleibt mir genügend Zeit, für jeden von

euch eine solche Pfeife anzufertigen. Damit könnt ihr

dann dasselbe tun, was auch die Priester mit ihren

Spinnenfreunden anstellen.«

»Das gefällt mir nicht«, sagte Agrion und richtete

sich auf. »Ich kehre zu meinen Kriegerinnen zurück

und werde ihnen den Befehl zum Sturm auf Eskis

geben. Dann ist die Stadt bis zum Morgengrauen

bestimmt in unseren Händen!«

Dragon hielt sie am Arm zurück.

»Du hast mir versprochen, mich die Eroberung von

Eskis auf unblutige Weise versuchen zu lassen, Agrion.

Nun steh zu deinem Wort!«

Agrion entspannte sich ein wenig.

»Es wird dein Tod sein, wenn du diese Halle

betrittst, Dragon«, sagte sie etwas unsicher.

»Alngos wird uns den Weg hindurch zeigen«,

meinte Dragon und sah dem abtrünnigen Eskiser fest

in die Augen. »Ich vertraue dir, Alngos. Aber eines

verstehe ich nicht. Du hast vorhin angedeutet, daß es

uns möglich wäre, die Spinnen auf die gleiche Art wie

die Priester zu zähmen. Wenn es so ist, warum

behelfen sich nicht alle Eskiser auf diese Weise, um sich

vor dem Biß der Spinne zu schützen?«

Alngos grinste, während er unbeirrt weiter an dem

Rohr der Sumpfpflanze schnitzte.

»Du hast mich mißverstanden, Dragon«, meinte er.

Page 25: Die Horden der Nacht

»Es wird keinem von euch, auch nicht nach Jahren der

Übung, möglich sein, diese Scheusale dort draußen mit

der Spinnenpfeife zu zähmen. Aber ihr könnt etwas

anderes tun, und das habt ihr den Bürgern von Eskis

voraus, weil sie nicht wissen, daß es so etwas wie eine

Spinnenpfeife gibt. Wenn ihr darauf bläst, dann

werden falsche, für das menschliche Ohr unhörbare

Töne herauskommen, die den Spinnen Schmerz

verursachen und sie zur Raserei bringen.«

»Es ist soweit«, stellte Dragon fest.

Seine Stimme klang fest, obwohl er die halbe Nacht

durchwacht hatte.

Alngos verteilte die fingerlangen Pfeifen.

»Ihr müßt unaufhörlich darauf spielen«, schärfte er

ihnen ein, »damit die Priester keine Gelegenheit haben,

die Spinnen zu beeinflussen.«

Agrion nahm die Pfeife und steckte sie in den Mund.

»Alles ist mir lieber, als noch länger zuzuwarten«,

sagte sie und zückte ihr kurzes, gerades

Amazonenschwert.

Dragon hielt das Krummschwert in der Rechten und

einen Dolch in der Linken.

»Du machst den Anfang, Alngos«, befahl er. »Wir

werden dir folgen. Agrion und Sardak, ihr beide

schützt Cosal und den Krieger, die König Zogors

Mumie zu tragen haben. Und vergeßt nicht, in eure

Page 26: Die Horden der Nacht

Pfeifen zu blasen. Ihr habt gehört, was Alngos sagte. Je

größer die Verwirrung unter den Spinnen ist, desto

bessere Aussichten haben wir, den Tempeleingang zu

erreichen.«

Dragon gab Alngos einen Wink. Der Eskiser raffte

den Vorhang, der ihnen den Weg in die Tempelhalle

versperrte, und wirbelte ihn zur Seite.

»Jetzt!« rief er und stürmte nach vorne.

Dragon sprang hinter ihm in die Tempelhalle; er

hielt die Spinnenpfeife zwischen den Zähnen fest,

während er pausenlos hineinblies. Agrion stellte sich

mit ausgebreiteten Armen zum Vorhang, um Cosal

und dem anderen Träger den Weg freizuhalten.

Sardak, ebenfalls die Pfeife zwischen die Zähne

gepreßt, sprang den am nächsten befindlichen Priester

an und spaltete ihm mit einem Schwerthieb den

Schädel.

Dragon hatte bereits einige Schritte zurückgelegt, als

er merkte, daß die Spinnen in Aufruhr gerieten. Sie

rannten auf ihren langen Beinen plötzlich wie verrückt

über die zwischen den Pfeilern gespannten Netze,

ließen sich auf ihren Fäden zu Boden sinken und

stelzten mit hektisch zuckenden Körper über den

Boden.

Einige Priester waren aufgesprungen und blickten

sich gehetzt um. Als sie der Eindringlinge gewahr

wurden, hoben sie die Spinnenpfeifen an ihre Lippen.

Page 27: Die Horden der Nacht

Zwei von ihnen erstarrten mitten in dieser Bewegung,

als auf einmal zwei fette Spinnenkörper auf ihren

Gesichtern landeten. Ein kurzer Aufschrei – und die

beiden Priester fielen steif wie Statuen um.

Dragon schleuderte seinen Dolch auf eine violett

leuchtende Spinne, die ihm bis zur Hüfte reichte. Der

Dolch drang zwischen den Beißwerkzeugen in den

Kopf des Scheusals. Alngos ließ sein Schwert über dem

Kopf kreisen; er erschlug eine schwarzbehaarte Spinne

und einen Priester, der sich ihm entgegenstellte.

Agrion hatte ihr Schwert bis zum Schaft in den

Körper eines Priesters versenkt. Jetzt rang sie

verzweifelt darum, das Schwert aus dem reglosen

Körper zu bekommen. Als ihr das nicht sofort gelang,

ließ sie es einfach zurück und spannte einen Pfeil in

den Bogen, den sie auf dem Rücken getragen hatte.

Während sie den ersten Pfeil von der Sehne schnellen

ließ und eine Spinne abschoß, die sich auf Cosal

niedersenkte, entfiel ihr die Pfeife aus dem Mund.

Da tauchte vor ihr ein Priester auf, der mit seiner

Pfeife vier Spinnen vor sich hertrieb. Sie sprang einfach

über die Untiere hinweg und landete auf dem Priester,

schlang ihm die Sehne des Bogens um den Hals und

zog erbarmungslos zu. Noch während der Priester

röchelnd um sein Leben rang, nahm sie ihm die Pfeife

aus den starren Lippen ...

Als Sardak sah, daß Agrion von den rasenden

Page 28: Die Horden der Nacht

Spinnen bedrängt wurde, eilte er ihr zu Hilfe.

Unaufhörlich auf seiner Pfeife spielend, beförderte er

eine Spinne mit einem gewaltigen Fußtritt in die Mitte

der Tempelhalle hinein, hieb eine zweite mit einem

Schwertstreich entzwei und zertrat eine dritte.

Während dieses gespenstischen Kampfes ertönte

kein menschlicher Laut. Nur der Kampflärm erfüllte

die Halle und das trockene Scharren der Spinnenbeine

auf dem Boden war zu hören.

Plötzlich jedoch hallte ein markerschütternder Schrei

durch den Tempel.

Dragon wirbelte herum und sah, wie einer der

beiden Männer, die den mumifizierten König trugen,

strauchelte und gleich darauf unter einer Vielzahl

buntschillernder Spinnenkörper begraben wurde. Es

war Cosal, der den Spinnen zum Opfer fiel. Ohne lange

zu überlegen, kehrte Dragon um, lud sich die Mumie

auf und rannte mit weitausholenden Schritten aus dem

Gefahrenbereich. Ein zweiter Todesschrei erklang, und

Dragon wußte, daß auch der zweite Träger nicht mehr

zu retten war.

Nun waren sie ihrer nur noch vier: Alngos, Agrion,

Sardak und er.

Dragon sah eine Gestalt in der Rüstung der

Katmahzari hinter einer Säule verschwinden und folgte

ihr. Als er die Säule umrundete, kam ihm ein Priester

mit einer stark blutenden Brustwunde entgegen.

Page 29: Die Horden der Nacht

Dragon wich ihm in einem Bogen aus und hätte

beinahe den Halt verloren, als er mit der Mumie auf

seinen Schultern gegen ein Hindernis prallte. Das war

sein Glück, denn an der Stelle, an der er sich gerade

noch befunden hatte, sank eine faustgroße Spinne an

einem Faden in die Tiefe. Ein Pfeil schwirrte heran und

durchbohrte den giftgrün schillernden Leib, bevor er

den Boden erreichte.

»Hierher!« hörte Dragon die Stimme von Alngos

rufen. »Wir haben es gleich geschafft.«

Dragon folgte der Stimme und kam bald darauf an

ein riesiges Portal, dessen beide Torflügel gerade

langsam nach außen schwenkten. Agrion und Sardak

hatten den schweren Eisenriegel zur Seite geschoben

und stemmten sich nun gegen die beiden Torflügel.

Tageslicht fiel in die Tempelhalle. Als Dragon sich

noch ein letztes Mal umdrehte, bevor er ins Freie eilte,

sah er ein Bild des Grauens. Von den Priestern lebte

kein einziger mehr. Sie alle waren den Bissen der

Spinnen zum Opfer gefallen. In der Tempelhalle

herrschte die Stille des Todes, nur die Herren dieses

schaurigen Gewölbes, die Spinnen, regten sich hier ...

alles menschliche Leben war ausgelöscht.

Aber waren tatsächlich alle Priester dieses

grausamen Kultes tot? Was war mit Trazyn, der

Spinne?

Dragon flüchtete aus der Halle auf die breite

Page 30: Die Horden der Nacht

Freitreppe hinaus, als er sah, daß er von einem Heer

von Spinnen verfolgt wurde. Er taumelte zu einem

Marmorblock, der von eingetrocknetem Blut getränkt

war und bettete die Königsmumie darauf. Dann lehnte

er sich erschöpft dagegen.

Als er die Augen wieder öffnete, wurde er Zeuge

eines seltsamen Geschehens.

Alngos, der Eskiser, der sich so hervorragend auf

den Umgang mit den Spinnen verstand, stand

hochaufgerichtet auf dem Opferstein, König Zogor zu

seinen Füßen, und blies auf seiner Spinnenpfeife.

Das Heer der Spinnen, das aus den Tempeltoren

quoll, bewegte sich wogend auf ihn zu. Und mitten

unter den Spinnen war eine schlanke, in einen

wallenden Umhang gehüllte Gestalt aufgetaucht.

Das mußte Trazyn sein.

Agrion spannte einen Pfeil in ihren Bogen und nahm

Ziel.

»Nicht schießen!« rief ihr Dragon zu. Er hatte

bemerkt, daß sich auf dem Platz vor dem Tempel eine

Menschenmenge eingefunden hatte, die sich trotz der

frühen Morgenstunde schnell vergrößerte. Den

Eskisern waren die Vorfälle im Tempel nicht

entgangen, und nun kamen sie, um die

Auseinandersetzung zwischen dem Spinnengott und

den Eroberern aus dem Osten, die ihn herausgefordert

hatten, zu sehen.

Page 31: Die Horden der Nacht

»Trazyn hat euch betrogen!« rief Dragon der

Menschenmenge zu. »Er hat euch weismachen wollen,

daß er auf König Zogors Befehl handelt. Doch König

Zogor ist tot. Seht selbst, hier liegt der tote König!«

Die Menge bewegte sich zögernd über die Treppe

zum Tempel hinauf, wich aber schnell wieder zurück,

als die Spinnen dem Opferstein mit dem König immer

näher kamen. Die Spinnen bewegten sich nur langsam,

als hätte sich eine Lähmung ihrer bemächtigt.

Dragon wußte, daß sie sozusagen zwischen zwei

Feuern standen. Zwischen Alngos und dem

Hohenpriester des Spinnenkults tobte ein lautloser

Machtkampf. Beide versuchten, die Spinnen zu ihren

Gunsten zu beeinflussen. Und es schien so, daß Alngos

über dem allmächtigen Herr der Spinnen die Oberhand

behalten würde.

Dragon fragte sich unwillkürlich, ob Alngos

tatsächlich nur der unbedeutende Eskiser war, für den

er sich ausgegeben hatte. Wenn es so war, wie konnte

er dann im Kampf um die Herrschaft über die Spinnen

dem Hohenpriester ebenbürtig sein?

»Stirb, Trazyn!« hörte Dragon den Eskiser rufen, der

breitbeinig auf dem Opferstein stand.

Und tatsächlich ging durch Trazyns Körper ein

Zittern. Die Spinnen um ihn gerieten plötzlich in

Bewegung, ihre Beine zuckten, sie plusterten ihre

Körper auf, ihre Beißwerkzeuge mahlten knirschend

Page 32: Die Horden der Nacht

gegeneinander: Trazyn schrie auf, seine Arme reckten

sich zitternd gen Himmel, die Hände verkrampften

sich zu Fäusten ... er fiel langsam nach hinten und

verschwand schließlich im Gewühl der Spinnen.

»Und jetzt ihr!« donnerte Alngos in Dragons

Richtung. »Ihr habt mir zu meinem Platz auf dem

Thron dieser Stadt verholfen, von dem mich Trazyn

unrechtmäßig verdrängte. Ihr habt tapfer für mich

gekämpft, aber ihr hättet nicht gesiegt, wenn mir die

allmächtige Spinne nicht wohlgesinnt gewesen wäre.

Aus Dank will ich der Spinne ein Opfer darbringen –

und ihr sollt diese

Opfer ...«

Etwas schoß durch die Luft und bohrte sich in die

linke Brust von Alngos. Der Pfeil war mit solcher

Wucht abgeschossen worden, daß ihm die Spitze aus

dem Rücken ragte. Ohne einen weiteren Laut von sich

zu geben, kippte Alngos vom Opferstein und fiel in die

Tiefe.

Agrion senkte den Bogen.

»Jetzt habe ich deinen Tod doch noch gerächt,

Prinzessin Jnessa«, sagte sie.

Sardak blickte auf die Menge hinunter und lächelte

dann Dragon zu.

»Die Macht der Spinne ist gebrochen. Jetzt kannst

du dich von den Eskisern als Befreier feiern lassen,

Dragon.«

Page 33: Die Horden der Nacht

Die Tore von Eskis standen den Eroberern offen.

Der Tempel der Spinne brannte lichterloh und ließ

die Nacht zum Tag werden. Den ganzen Tag über

waren die Bürger der Stadt an der mumifizierten

Leiche König Zogors vorbeimarschiert, und auch jetzt

stellten sich die Eskiser in einer langen Reihe an, um

den toten Herrscher des myranischen Reiches zu sehen.

Dragon hatte es verhindern können, daß seine

Krieger in Scharen in die Stadt eindrangen, denn er

wollte nicht, daß es zu Plünderungen und Gewalttaten

kam. Für die Urgoriten legte er seine Hand ins Feuer,

denn sie waren ihm nicht nur treu ergeben, sondern sie

hatten auch unter Partho gelernt, daß sich die Sieger

den Besiegten gegenüber nicht wie deren Henker zu

verhalten hatten. Deshalb waren nur zwei

Hundertschaften ausgewählter Urgoriten nach Eskis

abgestellt, die vor allem darüber zu wachen hatten, daß

sich keiner von den aufgebrachten Bürgern an der

Mumie von König Zogor vergriff.

»Das war hoffentlich das letzte schwere Hindernis

auf unserem Marsch nach Myra«, sagte Dragon an

einem der Lagerfeuer außerhalb der Stadt.

»Ich wünsche dir noch mehr solcher schwerer

Prüfungen«, sagte Partho grollend, der es nicht

verwinden konnte, daß Dragon ihn nicht bei diesem

Abenteuer mitgenommen hatte. »Ich hoffe, daß du

Page 34: Die Horden der Nacht

noch oft in Bedrängnis gerätst und durch mein Schwert

gerettet wirst, Dragon. Damit du erkennst, wie wertvoll

ich für dich bin.«

Dragon klopfte ihm auf die Schulter.

»Du brauchst mir deinen Wert schon lange nicht

mehr zu beweisen, Partho«, sagte er. »Deshalb hoffe ich

auch, daß deine Hoffnungen nicht erfüllt werden. Die

Eroberung von Eskis und der Sieg über die Sekte der

Spinnenanbeter wird uns vorauseilen und unsere

Feinde erschauern lassen.«

»Das betrifft aber nur die Myraner«, kam eine

düstere Stimme aus dem Hintergrund.

Schweigen senkte sich über den Lagerplatz.

Dragon wandte sich um und blickte in Sardaks

sorgenvolles Gesicht.

»Wie meinst du das?« fragte Dragon den Helfer der

Hirten. »Wer, außer den myranischen Kriegern sollte

sich uns auf dem Marsch nach Myra noch

entgegenstellen? Es gibt keine Streitmacht zwischen

Eskis und dem Meer, die es mit uns aufnehmen

könnte.«

»Doch«, behauptete Sardak.

Nach einer Pause fuhr er fort: »Es gibt eine alte

Weissagung, wonach eines Tages die Horden der

Nacht aus dem Norden kommen und dieses Land

heimsuchen würden. Und dieser Tag ist nicht mehr

fern.«

Page 35: Die Horden der Nacht

»Du hast schon einige Male geheimnisvolle

Andeutungen über diese angebliche Gefahr aus dem

Norden gemacht«, meinte Dragon mit einem leichten

Schmunzeln. »Aber bisher hast du dich noch nicht

deutlicher darüber geäußert. Von wem hast du diese

Weissagung, daß du sie so ernst nimmst?«

»Ich habe sie von dem Märchenerzähler Adrar

gehört«, antwortete Sardak. »Er erzählte sie in einer

Nacht wie dieser, an einem Lagerfeuer wie diesem ...«

Dragon starrte sinnend zum Sternenhimmel hinauf,

in dem hell die Sichel des Mondes erstrahlte.

»Ja, eine Nacht wie diese ist geschaffen für das

Erzählen von Geschichten«, meinte er und blickte

wieder zu Sardak. »Wenn man die Gefahren des Tages

gemeistert hat, wenn man noch trunken ist vom Sieg

über die Tücken des Lebens, dann ruft man Träume

wach. Die Schrecken der Wirklichkeit verblassen dann

vor den Greueln, die der menschliche Geist ersinnt. In

dieser Stimmung befinde auch ich mich nun. Laß also

hören, was dein Freund, der Märchenerzähler Adrar

ersonnen ...«

»Du lachst mich aus, Dragon«, sagte Sardak ohne

Groll. »Auch ich habe Adrar für einen alten Narren

gehalten, der groß im Erzählen war und nichts von der

Wahrheit hielt ... Aber dann kam ich in die Ruinenstadt

Bo-gah, wo ich dem furchtbaren Cnossos begegnete

und wo ich Dinge erlebte, wie sie nicht einmal ein

Page 36: Die Horden der Nacht

kranker Geist ersinnen konnte. Ich denke nun anders

über

Adrar ...«

»Und die Horden der Nacht?« wollte Agrion wissen.

»Ich bin sicher, daß sich der Märchenerzähler diese

Geschichte nicht ausgedacht hat«, sagte Sardak. »Ich

habe schon früher gehört, daß in dem Land jenseits des

engen Wassers ein wildes Volk von Nachtgeschöpfen

herrscht. Wanderer, Kaufleute und Seefahrer haben

davon berichtet ...«

»Die Geschichten über die Horden der Nacht sind

bis nach Urgor gelangt«, mischte sich Partho ein. »Ich

habe auch schon Nabib, den Händler, davon erzählen

hören. Aber Genaues wußte auch er nicht, denn auf

seinen Reisen kam er nie weit in das Nordland, und bis

an die Weiße Küste scheint sich nie eines der

Nachtgeschöpfe verirrt zu haben.«

»Warum glaubst du nicht, daß es die Horden der

Nacht gibt, Dragon?« erkundigte sich Agrion. »Die

Katmahzari-Kriegerinnen wissen ebenfalls über diese

schrecklichen Nachtgeschöpfe zu berichten. Im Westen,

wo ihr Land nahe an das enge Wasser reicht, tragen die

jungen Mädchen Silber am Körper, um sich damit vor

diesen Scheusalen zu schützen. Wenn die Geschichten

über die Horden der Nacht nicht stimmten, warum

sollten sich die Amazonen dann vor ihnen fürchten?«

»Ich zweifle nicht daran, daß auch diese Geschichte

Page 37: Die Horden der Nacht

ein Körnchen Wahrheit hat«, sagte Dragon. »Sicher gibt

es im wilden Nordland, jenseits des engen Wassers

viele Wunder und Schrecken, von denen wir keine

Ahnung haben. Und wahrscheinlich gibt es dort auch

ein Volk, das durch seine Sitten und Bräuche und

sonstigen Eigenheiten den Namen Horden der Nacht

erhielt. Nur halte ich wenig von Weissagungen, die

Märchenerzähler am Lagerfeuer von sich geben. Doch

laß dich durch mich nicht entmutigen, deine

Geschichte zu erzählen, Sardak.«

»Mir geht es nicht so sehr darum, eine Geschichte zu

erzählen, Dragon«, behauptete Sardak »Ich wollte dich

vor den Horden der Nacht warnen! Vielleicht hat

Adrar übertrieben, als er voraussagte, daß diese

Nachtgeschöpfe eines Tages unser Land heimsuchen

würden. Aber es ist auch möglich, daß er wahr sprach,

und dann solltest du gewappnet sein, Dragon.«

Dragon machte eine umfassende Bewegung, in der

er das gesamte Heerlager einschloß.

»Mein Heer aus elf Tausendschaften steht jederzeit

bereit!« Sardak schüttelte den Kopf. »Damit kannst du

gegen die Horden der Nacht nichts ausrichten. Adrar

sagte, daß man diese Nachtgeschöpfe nur mit Waffen

aus Silber besiegen könne. Treibe einem von ihnen ein

eisernes Schwert ins Herz – er wird sich schnell

erholen. Seine Wunde schließt sich, und er stürzt sich

wieder auf dich. Wenn du ihm aber ein Schwert mit

Page 38: Die Horden der Nacht

einer silbernen Klinge in die Brust rammst, dann tötet

das Silber ihn auf der Stelle. Daran solltest du denken,

Dragon.«

»Unser Ziel ist Myra. Und dort werden unsere

bewährten Waffen genügen«, entgegnete Dragon.

»Welcher Tor wäre ich, wenn ich den Worten eines

Märchenerzählers, die ich noch dazu aus zweitem

Munde höre, glaubte und daraufhin mein Ziel aus den

Augen und sofort silberne Waffen schmieden ließe.

Das Silber liegt ja nicht gerade auf der Straße.«

»Aber im westlichen Katmahzar gibt es viel davon«,

erklärte Agrion. »Ich erinnere dich daran, daß sich die

West-Katmahzari damit gegen gelegentliche Vorstöße

der Nachtgeschöpfe schützen.«

»Genug davon«, sagte Dragon und machte eine

abschließende Handbewegung. »Vor uns liegt eine

schwere Aufgabe.«

Er erhob sich und sagte zu Partho: »Begleite mich in

mein Zelt. Ich möchte mit dir den Marschplan für die

Vorhut besprechen, die morgen aufbrechen soll ...«

Agrion und Sardak sahen den beiden nach, wie sie

in der Dunkelheit zwischen den Zelten verschwanden.

Nacheinander erhoben sich auch die anderen Krieger,

die sich um das Lagerfeuer versammelt hatten.

Schließlich blieben nur Agrion und Sardak zurück.

»Du glaubst doch auch daran, daß sich die

Weissagungen bewahrheiten werden«, sagte der Helfer

Page 39: Die Horden der Nacht

der Hirten. »Kannst du nicht Dragon davon

überzeugen, daß es lebensnotwendig ist, sein Heer mit

Silberwaffen auszurüsten?«

Agrion blickte ins Leere, als sie sagte:

»Ich weiß nicht, ob ich wirklich daran glaube, daß

die Horden der Nacht dieses Land in naher Zukunft

heimsuchen werden. Aber ich schließe es nicht aus und

meine, daß man sich unbedingt gegen diese Bedrohung

wappnen soll.«

Sie lächelte.

»Ich habe es nicht notwendig, Dragon von irgend

etwas überzeugen zu müssen. Ich befehlige

viertausend Kriegerinnen. Und wenn ich eine

Maßnahme für nötig erachte, dann ergreife ich sie,

ohne Dragons Einverständnis einzuholen.«

Sie stand auf und straffte sich.

»Ich werde handeln.«

Mit diesen Worten ließ sie Sardak am Lagerfeuer

zurück.

»Was hast du vor?« rief er ihr nach.

Aber sie gab ihm keine Antwort.

Sie erachtete es nicht für nötig, irgend jemand davon

zu unterrichten, daß sie eine Kriegerin nach

West-Katmahzar schicken wollte, um die Amazonen

damit zu beauftragen, alles verfügbare Silber zu

sammeln, einzuschmelzen und daraus Klingen und

Pfeil – und Lanzenspitzen zu schmieden.

Page 40: Die Horden der Nacht

2.

Die Tür der Hütte flog auf. Die Frauen kreischten auf,

als sie Gorin mit seiner Beute darin stehen sahen.

Hinter ihm drängten seine drei Söhne nach.

Helagha, Gorins Frau, und ihre beiden Töchter

starrten mit großen, ängstlichen Augen auf den Wolf,

der an einem Strick von Gorins Arm baumelte. Die

dunkelhäutige Sklavin Misirani wandte das Gesicht ab.

Gorins zernarbtes Gesicht verzerrte sich zu einem

wilden Grinsen, als er seine Beute auf den Holzboden

fallen ließ. Der Wolf, dessen Vorderläufe gebrochen

waren, winselte kläglich auf und scharrte verzweifelt

mit den Hinterläufen, aber es gelang ihm nicht, auf die

Beine zu kommen. Er rieb die gefesselte Schnauze am

Boden, um den Strick zu lösen und fletschte wütend

die Zähne.

Gorin gab ihm einen Tritt und ging dann in die

Hütte. Seine drei Söhne folgten.

»Wir haben ihn in einer Falle ganz nahe der Hütte

gefunden«, sagte Unga, Gorins jüngster Sohn, zu seiner

Mutter. »Die weiter draußen liegenden Fallen haben

wir erst gar nicht untersucht. Es wird immer

gefährlicher, sich von der Hütte zu entfernen ...«

»Du redest zuviel«, sagte Gorin, während er seine

Page 41: Die Horden der Nacht

Jacke der Sklavin zuwarf, die sie mit zitternden

Händen auffing. Sie warf dem winselnden Wolf einen

scheuen Blick zu und ging dann in den Nebenraum.

»Warum habt ihr das Biest nicht sofort getötet?«

fragte Anga, Gorins jüngere Tochter, fröstelnd.

»Warum bringt ihr uns einen lebenden Wolf ins

Haus?«

»Es muß sein«, sagte Xatha, der älteste der drei

Söhne.

Helagha warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu.

Gorin betastete bedächtig seine rechte

Gesichtshälfte, die durch einen Wolfsbiß vollkommen

entstellt war.

»Warum es sein muß?« sagte er. »Dieser Wolf ist

etwas Besonderes. Er verdient eine entsprechende

Todesart.«

Isli, seine ältere Tochter preßte die Faust auf den

Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken.

»Dann ... dann stimmt es, was der Führer der

Karawane gesagt hat?« fragte sie.

Gorin nickte, ging zu seiner Frau, legte ihr die Arme

auf die Schulter und drückte sie an sich. Ohne ihr in die

Augen zu sehen, sagte er:

»Die Horden der Nacht sind bereits in der Nähe.

Wir haben nicht mehr genügend Zeit, um uns und

unser Vieh in die Silberhöhle in Sicherheit zu bringen.

Im Norden und Westen wimmelt es bereits von diesen

Page 42: Die Horden der Nacht

Bestien und ihren blutrünstigen Herren. Wir können

nur noch nach Süden, zum Meer.«

»Und das Vieh?« fragte Helagha.

Gorin schüttelte den Kopf.

»Mit der Herde wären wir zu langsam. Wir müssen

sie zurücklassen. Vielleicht bringt uns das sogar einen

Vorsprung ein. Wenn die Bestien unser Vieh

entdecken, werden sie sich darauf stürzen ...«

Helagha preßte sich schluchzend an ihn. Gorin

knurrte und stieß sie zurück.

»Tränen«, sagte er abfällig. »Statt zu heulen, solltest

du machen, daß unsere Habe auf den Wagen kommt.

Diese Nacht wird nicht geschlafen. Der Mond wird

gleich am Himmel stehen, wir müssen wachsam sein.

Und denk daran, Helagha, das Silber so auf dem

Wagen unterzubringen, daß es griffbereit ist.«

Seine Frau nickte und wollte sich zurückziehen.

Gorin hielt sie jedoch am Arm zurück.

»Warte, ich mochte, daß du mit deinen Töchtern

dabei bist, wenn wir den Wolfsgott austreiben.«

Helaghas Augen weiteten sich vor Abscheu.

»Gorin, mir ekelt davor ... Müssen Isli und Anga

denn dabei sein, wenn du ...«

Gorin drückte ihren Arm fester.

»Es ist meine Pflicht, meine Familie zu schützen.

Und vor einem Wolfsbiß schützt Wolfsblut immer noch

am besten. Oder willst du, daß dir so ein Biest an die

Page 43: Die Horden der Nacht

Kehle geht?«

Helagha fügte sich in ihr Schicksal. Sie ließ sich

langsam zu Boden sinken und kniete vor dem Wolf

nieder. Ihre beiden Töchter taten es ihr gleich. Auch

ihre drei Söhne gingen in die Knie, so daß sie alle einen

Kreis um den verwundeten und gefesselten Wolf

bildeten.

Nur Gorin war stehengeblieben. Er zückte sein

Messer und beugte sich zu dem Wolf hinunter, der ihn

wild anfunkelte. Gorin gab einen krächzenden Laut

von sich und schnitt den Strick durch, der die

Wolfsschnauze zusammenhielt. Der Wolf riß das Maul

auf, um nach Gorin zu schnappen. Dieser ließ seine

geballte Faust vorschnellen, trieb sie dem Wolf in den

Rachen und schlitzte dem Tier mit einem Dolchschnitt

die Kehle auf. Gleichzeitig hob er den Körper des

verendenden Tieres auf und hielt ihn über sich, so daß

sich der Blutstrahl auf sein Gesicht ergoß. Dann

schwenkte er den Kadaver, um auch seine Frau, seine

Söhne und Töchter mit dem Wolfsblut zu tränken. Erst

als das Tier verblutet war, hielt er inne und schleuderte

den Kadaver durchs Fenster.

»Mehr kann ich im Augenblick nicht tun, um euch

vor dem Biß des Wolfes zu schützen«, sagte er

keuchend.

Gorin hatte sich nicht zu den anderen an den Tisch

Page 44: Die Horden der Nacht

gesetzt, sondern machte seine Runde um das Gehöft

und das Tiergehege. Voon und Troor, die beiden

Knechte, die diese Nacht Wache halten sollten,

berichteten übereinstimmend, daß sie aus Westen und

Norden Wolfsgeheul gehört hatten.

Zu anderen Zeiten wäre das nichts Besonderes

gewesen. In diesem Land wimmelte es von Wölfen, die

sich selbst im Sommer bis tief in die Ebene

herunterwagten. Aber jetzt stand die Wanderung der

Horden der Nacht unmittelbar bevor, und da konnte

jeder einzelne Wolf Vorbote der tödlichen Bedrohung

sein.

Gorin liebte dieses wilde Land. Es war nur dünn

besiedelt, und man konnte tagelang gehen, bevor man

auf einen anderen Menschen traf, der auch ein Mensch

war. Hier herrschten die Wölfe und deren

menschenähnliche Brüder. Aber trotzdem wollte Gorin

dieses Land nicht verlassen.

Es gab hier saftige Weidegrunde und unermeßliche

Bodenschätze, abgesehen davon zahlten die Händler

des Ostens für den Wolfspelz einen hohen Preis. Und

so gefährlich, wie manche behaupteten, war das Leben

hier gar nicht. Man mußte nur noch wilder und um

vieles klüger sein als die Wölfe.

Nur einmal in zwölf Sommern drohte aus dem

Norden und Westen ernste Gefahr. Dann rotteten sich

alle Wölfe und deren menschenähnliche Brüder

Page 45: Die Horden der Nacht

zusammen und folgten den Flußlaufen aus den Bergen

nach Süden, um bei den Wolfssteinen von Xanth ihrem

Gott in einem blutigen Opferritual zu huldigen. Zu

dieser Zeit war in diesem Land kein Mensch seines

Lebens sicher.

Es gab zwei Möglichkeiten, sich vor den Horden der

Nacht zu schützen. Entweder man flüchtete rechtzeitig

in die Länder des Ostens, die jenseits des engen

Wassers lagen, oder man zog nach Süden, zum Meer,

und schiffte sich für die Zeit der Wolfswanderung ein.

Für Gorin und seine Familie gab es auch noch eine

dritte Möglichkeit. Er kannte eine Höhle in den Bergen,

die von armdicken Silbersträngen durchzogen war.

Dort hatte er sich auch vor zwölf Sommern, bei der

letzten Wanderung der Wölfe, verborgen. Denn Silber

bot einen sicheren Schutz vor den Horden der Nacht.

Auf die echten Wölfe, wie Gorin vorhin einen in seiner

Hütte getötet hatte, übte Silber keine Wirkung aus, aber

auf jene, die weder Mensch noch Wolf und doch beides

zusammen waren, wirkte es tödlich.

Silber war die einzige Waffe, mit der man sich gegen

die Horden der Nacht wehren konnte. Aber diesmal

war Gorin zu spät daran, so daß er nicht mehr

genügend Zeit hatte, sich mit seiner Familie und dem

Vieh in die Silberhöhle zu flüchten. Er würde den Weg

zur Küste wählen müssen, wie einen Tag zuvor jene

Jägerkarawane, die ihm von dem raschen Vordringen

Page 46: Die Horden der Nacht

der Horden berichtete. Er hatte den Jägern nicht

geglaubt, weil er den Zeitpunkt der Wolfswanderung

für zu früh erachtete. Aber wenn er jetzt zum Mond

hinaufblickte, mußte er sich eingestehen, daß er sich

verschätzt hatte. Der Mond war keine schmale Sichel,

sondern bereits eine halbe Kugel.

Er verfluchte das Wetter, das es ihm nicht erlaubt

hatte, den richtigen Zeitpunkt für den Aufbruch

abzuschätzen. Den ganzen vergangenen Mond über

hatte es geregnet, und wenn es nicht geregnet hatte, so

war der Himmel des Nachts doch wolkenverhangen,

so daß er den Mond nicht hatte beobachten können.

So kam es, daß er zu einem überstürzten Aufbruch

gezwungen wurde. Die Frauen mußten in dieser Nacht

alle Habe auf dem Wagen verladen und ihre gesamten

Silbervorräte zusammentragen – jenes Silber, mit dem

sie sich vor den Horden der Nacht schützen und mit

dem sie ein Schiff erstehen konnten.

Gorin schreckte hoch, als sich ihm ein geduckter

Schatten näherte.

»Ich habe einen von ihnen gesehen«, rief ihm eine

heisere Stimme zu, die er als die von Troor erkannte.

Gorin brauchte nicht zu fragen, von wem der Knecht

sprach.

»Er ist nicht weit südlich von hier«, fuhr Troor

aufgeregt fort, »und er hat in einer Mulde zwischen

Felsen sein Lager aufgeschlagen. Ich fand ihn, als ich

Page 47: Die Horden der Nacht

dem Wolfsgeheul folgte. Er scheint das Haus nicht

entdeckt zu haben, denn sonst würde er sich nicht so

unbekümmert geben.«

»War er ganz allein?« fragte Gorin ungläubig.

Troor schüttelte den Kopf.

»Er ist nicht ganz allein, aber es ist doch seltsam, daß

er nur einen einzigen Wolf bei sich hat.«

»Das ist allerdings äußerst merkwürdig«, meinte

Gorin nachdenklich. »Bist du sicher, daß seine anderen

Wölfe nicht in der Nähe herumstreunen?«

»Wäre ich sonst wieder hier?«

»Nein«, mußte Gorin zugeben. »Die Wölfe hätten

dich gewittert und zerrissen.« Er straffte sich. »Du

bleibst mit Voon weiterhin in der Nähe des Hauses.

Unga lasse ich ebenfalls bei den Frauen zurück. Nur

Xatha und Wolha werden mich begleiten ...«

»Ich habe noch eine seltsame Entdeckung gemacht,

Gorin«, sagte der Knecht. »Der Wolfsgänger hatte seine

Gestalt nicht verändert, obwohl der Mond bereits am

Himmel steht. Er sah aus wie ein ganz normaler

Mensch. «

»Aber in seiner Begleitung ist ein Wolf?« fragte

Gorin. Als Troor nickte, meinte er abschließend: »Das

genügt.«

Gorin ließ den Knecht stehen und stürmte ins Haus.

Seine Frau und seine beiden Töchter, die gerade die

Ballen mit den wichtigsten Habseligkeiten schnürten,

Page 48: Die Horden der Nacht

sahen ihm erschrocken entgegen. Sie boten einen

furchtbaren Anblick, weil Gorin ihnen verboten hatte,

ihre Gesichter von dem Wolfsblut reinzuwaschen.

»Xatha, Wolha, die Silberwaffen«, sagte Gorin, ohne

die Frauen eines weiteren Blickes zu würdigen.

Xatha, der beste Bogenschütze unter ihnen, nahm

den Bogen und drei Pfeile mit silbernen Spitzen an

sich. Wolha vertauschte sein Krummschwert mit einem

solchen, das eine silberne Klinge besaß und soviel wert

wie ein Rind war. Corin begnügte sich damit, eine

Silberkette an sich zu nehmen, die zwei Armspannen

lang war.

Als Unea, der jüngste der drei Söhne, sah, daß ihn

sein Vater überging, wollte er aufbegehren, aber Gorin

schob ihn wortlos beiseite und stürmte mit Xatha und

Wolha aus dem Haus.

Sie schlichen sich gegen den Wind auf die von Troor

bezeichnete Stelle zu. Gorin kannte die Mulde, in der

der Wolfsgänger seinen Lagerplatz aufgeschlagen

hatte. Trotzdem hatte der Mond bereits eine weite

Strecke auf dem Himmel zurückgelegt, als sie die

Felsen erreichten und die Mulde einsehen konnten.

Gorin war äußerst vorsichtig zu Werke gegangen, da er

einfach nicht glauben konnte, daß der Wolfsgänger nur

eine einzige Bestie in seiner Begleitung hatte.

Aber jetzt war er sicher, daß es so war. Es war kein

anderer Wolf in der Nähe als der, der sich zu Füßen

Page 49: Die Horden der Nacht

des schlafenden Mannes zusammengerollt hatte. Das

war ungewöhnlich genug, aber noch unverständlicher

war für Gorin, daß der Wolfsgänger im Mondenschein

schlief und seine Gestalt nicht verändert hatte.

Gorin zuckte zusammen, als der Wolf plötzlich

aufsprang und ein schauerliches Heulen von sich gab.

Der Wolfsgänger erwachte augenblicklich und

sprang mit gezückten Schwert auf die Beine.

Das war das Zeichen für Gorin und seine Söhne zum

Angriff.

»Wir brauchen ihn lebend – für einen langsamen

Tod!« schrie Gorin seinen Söhnen zu, während er auf

dem Felsen nach vorne kletterte. »Sein Winseln soll

seine Brüder abschrecken!«

Xatha schoß einen Pfeil ab, der dem Wolfsgänger

den rechten Oberarm durchbohrte. Das Schwert entfiel

seiner Hand, aber gleich darauf lag ein Dolch in seiner

Linken. Wolha stürmte auf ihn zu und hieb mit dem

Silberschwert auf ihn ein. Aber der Wolfsgänger

parierte mit dem Dolch die Schläge und stellte sich so

geschickt, daß Wolha in der Schußlinie stand und

Xatha keinen zweiten Pfeil abschießen konnte. Dem

Wolfsgänger gelang es sogar, Wolha durch eine Finte

zu täuschen und ihm am Gelenk seiner Schwerthand

zu fassen. Gerade als er den Dolch zum tödlichen Stoß

erhob, landete Gorin auf seinem Rücken und schlang

ihm von hinten die Silberkette um den Hals.

Page 50: Die Horden der Nacht

»Wir haben ihn«, sagte Gorin keuchend und zog die

Kette fester. »Kümmert euch um den Wolf! Erledigt

ihn, damit er uns nicht in den Rücken fallen kann.«

»Warum hinterläßt die Silberkette bei dem

Wolfsgänger keine Spuren?« wunderte sich Wolha.

»Die Körperstellen, die mit dem Silber in Berührung

kommen, müßten doch sofort verwesen!«

»Kümmert euch um den Wolf, verdammt«,

herrschte Gorin seinen Sohn an.

»Gorin!« rief Xatha von seinem höhergelegenen

Standort. »Der Wolf läuft auf den Waldrand zu ... Dort

ist ein ganzes Rudel mit einem riesigen Leittier

aufgetaucht!«

Gorin hatte den Überwältigten mit der Silberkette

die Arme an den Hals gebunden. Jetzt hob er ihn mit

Wolhas Hilfe auf, und sie verließen zusammen mit

ihrem Gefangenen im Laufschritt die Mulde.

Als sie aus dem Schutz der Felsen kamen, sahen

auch sie das Wolfsrudel, an dessen Spitze sich ein mehr

als doppelt so großes Leittier befand.

»Das ist ein Wolfsgänger, der die Gestalt eines

Wolfes angenommen hat«, rief Gorin im Laufen.

»Schieße ihn ab, Xatha, dann lassen uns die Wölfe

vielleicht in Ruhe.«

Xatna spannte einen Pfeil in den Bogen und nahm

kaltblütig Ziel. Erst als der Wolfsmensch an der Spitze

des Rudels nahe genug war, ließ er den Pfeil los. Ein

Page 51: Die Horden der Nacht

tierischer Aufschrei zeigte ihm, daß er getroffen hatte.

Es war nicht weiter von Bedeutung, ob der Pfeil eine

tödliche Wunde geschlagen hatte, allein die

zersetzende Wirkung des Silbers würde den

Wolfsgänger zur Strecke bringen.

Xatha folgte seinem Vater und seinem Bruder und

half ihnen beim Tragen des Gefangenen. Ohne

weiteren Zwischenfall erreichten sie das Haus.

Gorin ließ sich von Troor ein Tau geben, warf es

über einen hervorspringenden Dachbalken, verknotete

es mit der Silberkette, mit der der Gefangene gefesselt

war und hievte ihn daran hoch.

Der Mann schrie auf.

»Das ist das Silber«, sagte Gorin grimmig.

»Nein, Gorin«, widersprach Wolha. »Ich habe

bemerkt, daß das Silber seine Haut nicht einmal

verfärbt hat.«

»Unsinn«, erklärte Gorin. »Kein Wolfsmensch ist

gegen Silber gefeit.«

»Ich weiß, aber dann ist dieser Mann eben kein

Wolfsgänger«, meinte Wolha.

»Er ist ein Freund der Wölfe«, sagte Gorin zornig.

Der Gefangene stöhnte.

»Arhr«, kam es über seine Lippen. Er öffnete die

Augen und starrte seine Häscher an. »Laßt mich

’runter, damit ich euch Achrs Tod heimzahlen kann. «

Gorin lachte rauh.

Page 52: Die Horden der Nacht

»Wenn Achr dein Wolf ist, dann tust du uns

unrecht, Fremder. Wir haben ihn nicht getötet. Er ist

uns entkommen und einem Wolfsgänger zugelaufen.«

»Das ist nicht wahr! Achr ist mir treu.«

Gorin lachte wieder.

Plötzlich erklang ein schauriges Geheul.

Voon kam den Hügel heruntergelaufen und rief:

»Sie kommen von allen Seiten. Die Horden der

Nacht kommen!«

Hinter ihm tauchten zwei Schatten auf, die in langen

Sätzen hinter ihm her hetzten. Als er nur noch wenige

Schritte von den anderen entfernt war, sprangen ihn

die Wölfe fast gleichzeitig an und rissen ihn zu Boden.

»Ins Haus, schnell!« befahl Corin und wirbelte

herum. Mit einem kraftvoll geführten Streich hieb er

das Tau durch, an dem der Gefangene baumelte und

schleppte ihn ins Haus.

»Ich heiße Gorin, Fremder«, sagte Gorin, während er

die Silberkette von den Armen seines Gefangenen löste.

»Ich hätte dich getötet, wenn die Wolfsmenschen nicht

aufgetaucht wären. Aber wir brauchen jeden Mann, der

mit Waffen umgehen kann.«

»Mein Name ist Bodo«, stellte sich der Fremde vor

und rieb sich die schmerzenden Gelenke. Er verzog das

Gesicht, als seinen Oberarm, wo ihn der Silberpfeil

getroffen hatte, ein stechender Schmerz durchfuhr.

Page 53: Die Horden der Nacht

»Achr war mein einziger Freund in diesem Land. Ich

habe ihn gefunden, als er verwundet war, und habe ihn

gesund gepflegt. Das hat er mir gedankt. Ich kann nicht

glauben, daß er sich den Horden der Nacht

angeschlossen hat.«

»Das dort draußen sind Geschöpfe vom selben Blut

wie dein Achr«, erklärte Gorin. »Es mußte so kommen.

Wie geht es deinem Arm? Kannst du kämpfen?

Misirani soll die Wunde verbinden. Wenn das

geschehen ist, dann melde dich wieder bei mir.«

Bodo ging zu der dunkelhäutigen Sklavin.

»Wie kommst du in dieses Land.« fragte er sie.

»Ich bin vor vielen Sommern von einem

Sklavenschiff geflüchtet und wurde von einem Jäger

mit nach Norden genommen«, erzählte sie. »Ich war

damals noch fast ein Kind. Gorin hat den Jäger im

Zweikampf besiegt. Seit damals gehöre ich ihm.«

»Ihm oder seinen Söhnen?« erkundigte sich Bodo

rundheraus.

Das Mädchen senkte den Blick und gab keine

Antwort.

Nach einer Weile sagte sie: »Der Verband ist fertig.«

Bodo lächelte ihr zu und kehrte in den anderen

Raum zurück.

Gorin und seine Söhne hatten inzwischen den

Eingang und alle Fenster verbarrikadiert. Draußen

heulten die Wölfe und rannten immer wieder gegen

Page 54: Die Horden der Nacht

das Haus an. Unga, der kaum jünger war als Bodo,

stand mit einer Fackel da.

»Die anderen sind schon im Stall«, sagte Unga und

deutete auf eine offene Tür, hinter der ein schmaler

Gang lag. »Dort geht es entlang.«

»Was wird aus Misirani?« erkundigte sich Bodo.

»Sie bleibt bei mir«, erklärte Unga bestimmt.

Bodo zuckte die Achseln und ging durch den

Verbindungsgang in den Stall. Vor dem großen Tor

stand ein vierrädriger Wagen, vor den zwei Pferde

gespannt waren. Gorins drei Töchter hatten sich

zwischen die Ballen auf der Ladefläche gezwängt.

Helagha saß auf dem Kutschbock, die Zügel in den

verkrampften Händen, Troor neben sich.

»Ihr habt zuviel auf den Wagen geladen«, sagte

Bodo.

»Um wieviel schneller, glaubst du, werden die

Pferde den Wagen ziehen können, wenn wir all unsere

Habe zurücklassen?« fragte Gorin spöttisch. Er hatte

sich auf den Rücken des besten Pferdes geschwungen.

Bodo sagte nichts darauf. Es war keine Frage, daß

die Wölfe in jedem Fall keine Mühe haben würden, mit

den Pferden Schritt zu halten. Wenn es überhaupt eine

Möglichkeit gab, den Horden der Nacht zu

entkommen, dann nur, wenn es gelang, einige

Wolfsmenschen zur Strecke zu bringen, so daß die

Wölfe führungslos wurden.

Page 55: Die Horden der Nacht

Xatha und Wolha hatten ebenfalls Pferde bestiegen.

Jeder von ihnen hielt eine Fackel in der Hand. Bodo

umrundete den Wagen und sah, daß an die Radachse

ein mannsgroßer Strohballen gebunden war. Aber

wonach er suchte, das fand er nicht.

»Gibt es kein Pferd mehr?« fragte Bodo.

Gorin grinste; sein von Wolfszähnen entstelltes

Gesicht bekam dabei einen dämonischen Ausdruck.

»Wenn du ein Pferd brauchst, dann mußt du dir

eines aus dem Gehege holen«, meinte er.

»Ich kann mir auch auf dem Wagen einen Platz

suchen«, erwiderte Bodo und machte Anstalten, über

eines der Räder auf den Wagen zu klettern. Da erhielt

er von hinten einen furchtbaren Schlag gegen den

Schädel, der ihm beinahe das Bewußtsein raubte. Ihm

wurde schwarz vor Augen, und er merkte nicht einmal,

wie er auf dem Boden aufschlug.

Als die Benommenheit ein wenig gewichen war,

versuchte er auf die Beine zu kommen. Jemand lief an

ihm vorbei und stieß ihn um. Er hörte Unga rufen:

»Ich habe das Haus in Brand gesteckt, als die

Wolfsmenschen die Fensterladen einbrachen.«

»Gut so. Auf den Kutschbock mit dir, Unga. Und du

verschwinde, Troor!«

»Aber ...«

Ein Aufschrei ertönte, und Bodo sah durch

verschleierte Augen, wie Troor in hohem Bogen vom

Page 56: Die Horden der Nacht

Wagen flog.

»Das Scheunentor auf, Xatha! « befahl Gorin.

Bodo hörte ein Knarren, dann ertönte ein Prasseln,

als Wolha den Strohballen entzündete, der an den

Wagen gekettet war. Hufgetrappel ertönte, und der

Wagen setzte sich ächzend in Bewegung.

Ihr werdet auch nicht weit kommen, dachte Bodo,

während er dem Wagen nachsah, der mit steigender

Geschwindigkeit in die Nacht hinausrollte, einen

Feuerschweif hinter sich nachziehend.

Er rappelte sich mühsam auf und kam endlich auf

die Beine. Aber kaum stand er, als ein mächtiger

Schatten durch die Luft segelte und auf ihm landete.

Von irgendwoher drang der schrille Schrei einer Frau

zu ihm. Er schlug um sich und spürte, wie scharfe

Krallen Spuren des Schmerzes über seine Brust zogen.

Über ihm tauchte das geifernde Maul eines Wolfes auf.

Messerscharfe Zähne näherten sich seiner Kehle und

umschlossen sie – aber die Zähne bohrten sich nicht in

sein Fleisch.

Bodo lag da und wagte sich nicht zu bewegen. Er

wußte, bei dem geringsten Versuch einer Gegenwehr

würde ihm die Bestie mit einem einzigen Biß den Kopf

abtrennen.

3.

Page 57: Die Horden der Nacht

Die Taggespenster kämpften verzweifelt um ihre

Freiheit.

Zuerst schlossen sie sich in ihren Holzberg ein,

dann, als sie merkten, daß sie dem Ansturm der

Mondherren und ihrer Gefährten, den Wölfen, nicht

länger mehr standhalten konnten, zündeten sie ihren

Holzberg an und flüchteten auf einem Wagen, der eine

Feuerspur hinter sich nachzog.

Wirch wurde beim Anblick des laufenden Feuers so

wütend, daß er allein mit seinen zwölf Gefährten den

Wagen verfolgte. Diese unüberlegte Handlung wäre

ihm beinahe zum Verhängnis geworden.

Er lief neben dem Wagen her und wollte gerade

hinaufspringen, als er sah, wie einer der weiblichen

Nachtschläfer mit Silber nach ihm warf. Er war vor

Schreck zu keiner Abwehrbewegung fähig, stand ganz

im Banne des silbrig glänzenden Dinges, das auf ihn

zuschoß. Da sprang einer seiner Gefährten dazwischen

und fing das Silbergeschoß mit seinem Körper auf.

Wirch heulte vor Wut auf, als er seinen Gefährten

sich überschlagend unter den Wagen fallen sah, wo er

von den Räder zermalmt wurde. Das brachte Wirch

beinahe um den Verstand. Er sprang eines der Pferde

an, rang es zu Boden und riß seine Kehle. Das andere

Pferd kam dabei ebenfalls zu Fall, so daß der Wagen

umkippte.

Page 58: Die Horden der Nacht

Damit waren die Taggespenster geschlagen. Wirchs

Gefährten brauchten nur noch die drei Männchen von

ihren Pferden zu holen und sie an den Kehlen

festzuhalten – an den Kehlen, den empfindlichsten

Stellen der Taggänger.

Wirch hatte gute Lust, sich über die vier Weibchen

herzumachen, aber sie stanken so abscheulich nach

Schweiß und Angst, daß er sich angewidert abwandte.

Zusammen mit den drei in dem brennenden

Holzberg zurückgebliebenen Taggängern wurden die

Gefangenen zu der übrigen Herde getrieben.

Wirch trabte auf die Herde zu. Er hatte sich schon

wieder beruhigt. Der Tod eines seiner Gefährten war

schon fast wieder vergessen; er dachte nur daran, daß

er sich bei Gelegenheit einen Zwölften beschaffen

mußte. Für einen Rudelführer war es nicht gut, nur elf

Gefährten zu haben.

Er benötigte einen zwölften.

Wirch ließ sich vor der Herde der Nachtschläfer, die

von den Wölfen zusammengehalten wurde, nieder und

heulte den Mond an.

Der Mond!

Es fehlte nicht mehr viel, dann wurde er rund sein.

Zwei oder drei Nächte noch, dann würde er sich zu

einem vollkommenen Rund aufgebläht haben. Und

dann mußten sie den Ort des Blutes erreicht haben.

Vor ihnen lag noch ein weiter Weg, und wenn sie

Page 59: Die Horden der Nacht

rechtzeitig am Ort des Blutes sein wollten, mußten sie

sich beeilen.

Wirch wandte sich vom Mond ab und heulte seinen

Wolfsbrüdern zu, daß sie die Nachtschläfer

weitertreiben sollten.

Wirch wollte schon weiterlaufen, sich an die Spitze

des Rudels setzen, um seine Brüder auf dem

schnellsten Weg nach Xanth, dem Ort des Blutes zu

führen, als er einen weiblichen Taggänger aufschreien

hörte.

Sofort änderte er seine ursprüngliche Absicht und

preschte mitten durch die Herde der Taggänger in die

Richtung, aus der der Schrei erklungen war. Wieder

schrie eines der Weibchen in höchster Not. Die

Taggespenster wichen erschrocken zur Seite, als er

zwischen ihnen hindurchrannte.

Da sah er Gerr, wie er auf einem dunkelhäutigen

Weibchen stand. Daneben lag ein Männchen, das noch

ziemlich jung war und heftig um sich schlug, obwohl

es von zweien von Gerrs Wölfen bedroht wurde.

Wirch sprang Gerr von der Seite her an und biß ihn

zur Warnung in den Vorderlauf. Gerr rollte sich ab und

kam sofort wieder auf alle viere. Für einen Moment

schien es, als wolle er sich auf Wirch stürzen. Aber

dann senkte er demütig den mächtigen Schädel,

knurrte irgend etwas und trollte sich. Seine Wölfe

folgten ihm winselnd.

Page 60: Die Horden der Nacht

Wirch beschnupperte die dunkelhäutige

Taggängerin und rannte dann ebenfalls davon. Sie

hatte keinen schlechten Geruch. Sie hatte etwas Wildes

an sich, das Wirch bisher nur bei Wölfen und

seinesgleichen gewittert hatte.

Er merkte sich diese Ausdünstung, vielleicht würde

er in Xanth dieser Nachtschläferin die Kraft des Wolfes

spüren lassen. Bei seinem Rückzug sprang Wirch über

das Männchen, das von Gerrs Wölfen in Schach

gehalten worden war. Und da stach ihm der wilde

Geruch noch stärker in die Schnauze.

Wirch erkannte, daß nicht das Weibchen die

Trägerin des scharfen Schweißes war, sondern dieses

Männchen. Er verhielt und wandte sich interessiert

dem Männchen zu.

Nachdem er es eingehend beschnuppert hatte,

knurrte er:

»Wie heißt du?«

»Bodo«, antwortete das Männchen ohne Angst.

Wirch warf den Schädel in den Nacken und trollte

sich.

Der Mond gibt dir Kraft, dir, durch dessen Adern

schwarzes Blut fließt.

Der Mond ist dein Bundesgenosse. Er leitet dich

durch die Nächte, ist schön wild – aber unerbittlich.

Wenn er am Himmel erscheint, dann zwingen dich

seine Strahlen in die Knie. Ob du nun willst oder nicht,

Page 61: Die Horden der Nacht

du mußt auf alle viere niedergehen. Du weißt, daß dich

nun eine schmerzhafte Verwandlung erwartet, ein

Schmerz dich überkommt, der dich zugleich auch

wonnig erschauern läßt.

Dein Körper verändert sich, deine Arme und Beine

schrumpfen, werden gertenschlank. Es fröstelt dich,

und da wächst dir ein Pelz. Du kannst nicht wittern,

und da bildet sich in deinem Gesicht eine Schnauze. Du

siehst den Mond als fahle Sichel oder blasse Scheibe –

und da geschieht etwas mit deinen Augen, sie

bekommen den Blick des Wolfes, so daß du den Mond

ganz anders sehen kannst.

Und solange der Mond die Nacht verschönt, bleibst

du ein Wolf.

Aber dann nimmt, der Mond Abschied von dir. Du

willst ihm folgen, doch er entschwindet schneller, als

du laufen kannst. Du heulst ihn an, um ihn zurück-

zuholen – aber der Mond ist unerbittlich.

So bleibt es dir nicht erspart, daß du dich

verkriechst, dein Fell abstreifen mußt und voll

Schmerzen spürst, wie sich dein Körper verwandelt.

Und wenn du aus den Schmerzen erwachst, dann

siehst du so aus wie die Taggespenster. Aber du

gehörst nicht zu ihnen, denn in deinen Adern fließt

schwarzes Blut ...

Wirch schüttelte sich, und der Nebel in seinem

Gehirn verflog. Er öffnete die Augen und blinzelte in

Page 62: Die Horden der Nacht

die Sonne. Wie sie ihn blendete, wie sie seine

unbehaarte Haut versengte und wie sie bis tief hinein

in sein Herz stach.

Wirch spürte es in seiner Brust: die Strahlen der

Sonne durchbohrten ihn wie Silberpfeile. Um wieviel

angenehmer war da das Licht des Mondes!

Der Wolfsmensch wischte sich die Hände an den

nackten Schenkeln ab und stand auf. Seine elf Wölfe

umsprangen ihn aufgeregt. Er warf sich auf sie und

balgte sich ein wenig mit ihnen.

Plötzlich gerieten seine Wölfe in Unruhe. Das Spiel

war vorbei, an ihrem Verhalten erkannte Wirch, daß sie

sich auf einen tödlichen Kampf einstellten.

»Nähert sich etwa Gerr?« sagte Wirch laut. Wenn er

in der Gestalt eines Taggängers war, gefiel er sich

darin, auch ihre Sprache anzuwenden.

Wenn es Gerr einfallen sollte, ihn hier zu stören,

dann würde er ihn ordentlich verprügeln. Vielleicht

würde er Gerr eines Tages sogar töten müssen. Er war

aufsässig und hetzte die anderen gegen ihn auf. Gerr

glaubte, seine rohe Körperkraft allein genüge, um aus

ihm einen Rudelführer zu machen. Wirch hatte schon

einmal gegen ihn gekämpft und gesiegt.

Wenn es noch einmal zu einer Auseinandersetzung

kam, würde er sein Leben nicht mehr verschonen.

Wirch wünschte sich beinahe, daß Gerr ihm die

Gelegenheit für einen Zweikampf gab.

Page 63: Die Horden der Nacht

Aber es war nicht Gerr, die die Unruhe unter seinen

Wölfen verursachte. Es war ein herrenlos streunender

Wolf, der seine Gefährten aufgebracht hatte.

»Nur ruhig, meine Brüder«, sagte Wirch zu seinen

Gefährten und ging dem herrenlosen Wolf entgegen.

Dieser senkte den Kopf, bleckte ängstlich das Gebiß

und kam vorsichtig, den Bauch über den Boden

schleifend näher.

Da stach Wirch der Geruch in die Nase, den er schon

bei dem männlichen Taggänger gewittert hatte, der

sich Bodo nannte.

Wirch befahl dem herrenlosen Wolf, stillzuhalten. Er

gehorchte. Wirch schnupperte wieder, und obwohl sein

Geruchsinn am Tage nicht so ausgeprägt wie im

Mondschein war, erkannte er, daß das Tier vor ihm

einen Geruch hatte, der eine Mischung aus

Wolfsschweiß und der Ausdünstung eines Taggängers

war.

Dieser Wolf war ein Freund der Taggespenster

gewesen. Aber jetzt bereute er offenbar seine

Verfehlung und kam winselnd zu seinesgleichen

zurück.

Wirch nahm Achr bei sich auf.

Bodo mußte Misirani manchmal beim Gehen stützen.

Der Wolfsmensch hatte ihr einige Verletzungen

zugefügt. Aber noch schlimmer als die Verletzungen

Page 64: Die Horden der Nacht

war, daß ihr Lebenswille fast völlig erloschen war.

Bodo kümmerte sich um sie, weil er fürchtete, daß die

Wölfe sie zerreißen würden, wenn sie hinter den

anderen zurückfiel.

»Wir werden sterben«, murmelte Misirani. »Warum

machen wir nicht sofort Schluß? Sterben werden wir

auf jeden Fall.«

»Man darf nie aufgeben, Misirani«, sagte er zu ihr.

»Man muß bis zum letzten Augenblick um sein Leben

kämpfen. Wer weiß, vielleicht ergibt sich noch einmal

die Gelegenheit zur Flucht.«

»Ich möchte sterben«, sagte Misirani und ließ sich

fallen.

Bodo, der durch den langen Fußmarsch selbst

geschwächt war, hob sie auf und trug sie auf den

Armen.

»Erinnere dich der Jägerkarawane, von der Gorin

gesprochen hat«, sprach Bodo weiter auf sie ein. »Gorin

behauptete, daß es mindestens hundert Mann sind –

alle mit Silber bewaffnet. Wenn wir auf sie stoßen,

könnte das unsere Rettung sein.«

Misirani sagte nichts. Sie hob nur den Kopf und

blickte auf das unübersehbare Heer von Wölfen und

Wolfsmenschen. Bodo mußte ihr innerlich recht geben.

Selbst eine Hundertschaft, bis an die Zähne mit Silber

bewaffnet, würde gegen dieses Rudel nichts ausrichten

können.

Page 65: Die Horden der Nacht

Es mußten bereits mehr als tausend Wolfsmenschen

sein, von denen jeder zwölf Wölfe bei sich hatte. Und

es wurden immer mehr. Bodo sah, daß ständig neue

Rudel zum Hauptrudel stießen. Die Wolfsmenschen

kamen aus Norden, Nordwest und aus dem Westen.

Ihr Ziel war Xanth, der Ort des Blutes, zu dem sie alle

zwölf Sommer pilgerten, um ihrem Gott Opfer

darzubringen.

Aber darüber sprach Bodo nicht mit Misirani. Er

versuchte durch aufmunternde Worte und indem er ihr

die Hoffnung gab, daß vielleicht noch Rettung für sie

kam, sie dazu zu bewegen, sich aus eigener Kraft

fortzubewegen. Und schließlich gelang ihm das auch.

Als die Nacht kam und die Wölfe ihnen eine

Ruhepause gönnten, zog sich Misirani mit ihm in eine

Senke zurück. Dort liebte sie ihn.

Bodo halte vorher erst zwei Mädchen gehabt – und

sie hatte er mit Gewalt genommen. Aber er glaubte,

daß Misirani die leidenschaftlichste Frau von der

ganzen Welt war. Vielleicht schenkte sie ihm in diesem

Augenblick alle Liebe zu deren sie fähig war, weil sie

wußte, daß sie morgen sterben würde.

»In der nächsten Nacht haben wir Vollmond«, sagte

sie.

»Denke nicht daran«, murmelte Bodo und drückte

sie so fest an sich, als wolle er sie zerdrücken.

»Wölfe lieben besser«, hörte Bodo eine gutturale

Page 66: Die Horden der Nacht

Stimme hinter sich.

Er wirbelte herum und sah eine Wolfsgestalt vor

sich. Es handelte sich um einen Wolfsmenschen, der

die dreifache Größe eines normalen Wolfes besaß.

Der Wolfsmensch stieß ihn mit der Schnauze an und

sagte:

»Steig auf!«

Im ersten Augenblick wußte Bodo nicht, was er

damit meinte. Aber dann glaubte er zu erkennen, daß

dies eine Aufforderung war, auf den Wolfsrücken zu

klettern und ihn zu reiten.

Bodo näherte sich zögernd dem Untier, hielt sich an

seinem Nackenpelz fest und schwang sich auf seinen

Rücken. Der Wolfsmensch setzte sich knurrend in

Bewegung. Bodo blickte sich nach Misirani um, die von

zwei Wölfen auf einen anderen Wolfsmenschen

zugetrieben wurde. Die anderen Gefangenen, deren

Zahl inzwischen auf ungefähr vierzig angestiegen war,

mußten ebenfalls jeder einen Wolfsmenschen

besteigen.

Es gab nur eine einzige Erklärung für das seltsame

Verhalten der Wolfsmenschen. Wahrscheinlich waren

sie noch zu weit von ihrem Ziel entfernt und trugen

ihre Gefangenen nur deshalb, um rascher nach Xanth

zu kommen. Sie mußten bei Vollmond am Ort des

Blutes sein, damit sie ihrem Gott ihr Blutopfer

darbringen konnten.

Page 67: Die Horden der Nacht

Der Wind schnitt Bodo ins Gesicht, als der

Wolfsmensch immer schneller wurde, und er mußte

die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkneifen.

Als sie den Großteil des Rudels hinter sich ließen und

in freieres Gelände kamen, wurde der Wolfsmensch

noch schneller. Bodo konnte nicht umhin, seine Kraft

und Ausdauer zu bewundern. Ihn schauderte bei dem

Gedanken, daß diese Geschöpfe der Nacht einmal über

die Grenzen dieses Land wandern und in die Länder

des Ostens oder Westens vordringen könnten. Es war

keine Frage, daß sie die dort lebenden Menschen

besiegen und auch deren Gebiete erobern würden.

Diese Geschöpfe waren einfach dafür geschaffen, die

Welt zu beherrschen. Einem Rudel wie diesem wurden

auch nicht die bestausgerüsteten Kriegerheere der

Ostländer erfolgreich Widerstand leisten können.

Bodo sah, daß sich dem Wolfsmenschen, auf dem er

durch die Nacht ritt, zwölf Wölfe angeschlossen hatten.

Sie flankierten ihn links und rechts, rannten vor ihm

her und hinter ihm nach, um ihn so von allen Seiten

her zu sichern.

Achr!

Bodo glaubte seinen Augen nicht trauen zu können,

als er zu seiner Linken seinen Wolf erkannte, der ihm

seit Jahren treu zur Seite gestanden hatte.

»Achr!« rief Bodo.

Aber der Wolf, in dem er seinen Gefährten zu

Page 68: Die Horden der Nacht

erkennen glaubte, schien ihn nicht gehört zu haben.

»Achr!« rief Bodo wieder; er war nun sicher, daß es

sich um seinen Wolfsfreund handelte, der mit ihm

durch einige Winter und Sommer gegangen war und

Freuden und Leid mit ihm geteilt hatte.

Diesmal hatte der Wolf den Ruf gehört. Er wandte

sich ihm zu, fletschte die Zähne und knurrte ihn

wütend an.

Der Wolfsmensch, auf dem Bodo ritt, ließ ein

zufriedenes Knurren hören.

»Achr gehört nun zu Wirch!« sagte er.

Bodo wurde von seinem Träger einfach abgeworfen.

Er segelte durch die Luft, überschlug sich einige Male

und blieb dann mit schmerzenden Gliedern im hohen

Gras liegen; es war vor allem sein verwundeter Arm,

der ihm Schmerzen verursachte.

Als er sich aufrichten wollte, waren sofort zwei

Wölfe über ihm und gaben ihm durch Knurrlaute zu

verstehen, daß er sich nicht vom Fleck rühren sollte.

Einer seiner beiden Bewacher war Achr.

Bodo starrte ihn lange an und sagte dann:

»Würdest du mich töten können, wenn es hart auf

hart ginge, Achr?«

Achr gab ein verhaltenes Heulen von sich,

Page 69: Die Horden der Nacht

woraufhin sich der andere Wolf an seine Seite drückte

und ihn spielerisch in die Rute biß.

»Du würdest es nicht können«, sagte Bodo mehr zu

sich. »Nein, das glaube ich nicht von dir.«

Aber redete er sich damit nicht nur etwas ein? Achr

war für ihn verloren. Sie waren schon oft auf

Wolfsrudel gestoßen, aber Achr war ihm immer treu

geblieben. Er hatte sogar einmal eine Wölfin für ihn

getötet. Als Bodo einmal einen Wolfsmenschen mit

einem silbernen Dorn durchbohrte, war es Achr, der

das mit dem Tode ringende Scheusal in Stücke gerissen

hatte.

Und warum nun diese Wandlung? Es schien fast, als

habe Achr die Bedeutung dieser Wolfswanderung

erkannt. Vielleicht erahnte er mit seinem Instinkt,

warum es die Wolfsmenschen und die Wölfe nach

Süden zog? Fühlte er, daß der kommende Vollmond

eine besondere Bedeutung hatte? Witterte er die Nähe

der Wolfssteine, die dem Gott des schwarzen Blutes

gewidmet waren?

Fragen über Fragen, die alle zu nichts führten.

Bodo merkte, daß sich die Situation geändert hatte.

Irgend etwas war vorgefallen. Die Wölfe heulten mehr

als zu anderen Zeiten – nicht einmal der Mond konnte

ihnen solche Klagelaute entlocken. Jetzt war der Mond

verschwunden, der Sonnenaufgang stand bevor, und

im Osten war der Horizont bereits hell. Die Helligkeit

Page 70: Die Horden der Nacht

griff schnell auf den gesamten Himmel über. Bodo lag

bewegungslos im Gras und starrte zu den über ihm

treibenden Wolken hinauf – und er überlegte.

Von links kam ein Wimmern. Der Klagelaut

stammte nicht von einem Wolf und ganz sicher auch

nicht von einem Menschen. War es Wirch, der dort

jammerte, und gerieten die Wölfe darüber so in

Unruhe?

Als Bodo vorsichtig den Kopf wandte, sah er, daß

auch die Gefährten der anderen Wolfsmenschen

kopflos und verwirrt umherstreunten und ihre

menschlichen Gefangenen gereizt anfauchten, wenn sie

sich bewegten.

Bodo ahnte, was das zu bedeuten hatte, und als er

den Kopf langsam auf die andere Seite drehte, fand er

seine Vermutung bestätigt. Die Wölfe waren in Sorge

um ihre Herren, die sich zurückgezogen hatten, um die

Verwandlung zu Menschen durchzumachen.

Zum erstenmal in seinem Leben konnte Bodo den

Vorgang dieser Verwandlung beobachten. Er sah, wie

sich der graue, pelzige Körper eines Wolfes in einen

Menschen verwandelte, konnte beobachten, wie die

Schnauze schrumpfte und wie ein Gesicht daraus

wurde, wie die Fellhaare förmlich in die Körperhaut

zurückwichen, wie aus Wolfsläufen Arme und Beine

mit Fingern und Zehen wurden und wie die Rute

schlangengleich das Rückgrat hinaufwanderte und mit

Page 71: Die Horden der Nacht

ihm verschmolz.

Aus dem zottigen Nackenpelz wurde ein borstiges

Haupthaar.

Der Augenblick für eine Flucht wäre günstig

gewesen. Die Wölfe, führungslos und verwirrt, würden

in ihrer Unsicherheit vielleicht nicht wagen, sich auf

ihn zu stürzen, denn ihre Herren mußten ihnen zu

verstehen gegeben haben, daß sie die Gefangenen

lebend zum Ort des Blutes führen wollten. Aber so

verlockend der Gedanke auf Flucht auch war, Bodo

wagte ihn nicht in die Tat umzusetzen. Er besaß keine

andere Waffe als seine bloßen Hände. Wenn er

wenigstens einen Dolch gehabt hätte, wäre er das

Wagnis eingegangen.

Sein Blick fiel auf Achr. Mit dem Wolf als

Verbündeten würde er die Flucht auch wagen können.

Bodo entschloß sich augenblicklich. Langsam

winkelte er die Beine ab, stürzte sich mit den Händen

auf und erhob sich vorsichtig.

»Ich kenne dich, Achr«, murmelte er dabei, ohne

seinen ehemaligen Gefährten aus den Augen zu lassen.

»Du könntest mir nichts antun, auch wenn ich jetzt

aufstünde. In deinen Adern fließt nicht wirklich

schwarzes Blut. Du bist mein Blutsbruder!«

Bodo stand. Achr duckte sich zum Sprung. Bodo

machte einen Schritt rückwärts und spürte im gleichen

Augenblick, wie ein heiser Atem gegen seine Wade

Page 72: Die Horden der Nacht

schlug. Er wirbelte herum, schlug mit der gesunden

Linken kraftvoll gegen das Rückgrat des Wolfes zu

seinen Füßen, warf sich auf ihn und bog ihm den

Schädel weit in den Nacken zurück. Noch bevor er

dem Wolf das Genick brechen konnte, erhielt er einen

Tritt in die Seite, der ihn einige Schritte zur Seite

schleuderte.

Über ihm stand Wirch.

»Du bist etwas Besonderes. Dich werde ich zuletzt

opfern!«

»Das ist zuviel der Ehre«, sagte Bodo.

Wirchs nach oben gezogene Augenbrauen schoben

sich über der Nasenwurzel zusammen, um seinen

breiten Mund erschien ein wölfisches Lächeln.

»Und dann werde ich deinen Körper Achr zum Fraß

vorwerfen«, fügte er hinzu. »Das wird nicht mehr lange

dauern. Wenn ich nach Süden blicke, sehe ich in der

Ferne bereits die Wolfsteine. Noch vor Einbruch der

Nacht werden wir Xanth erreicht haben. Und jetzt

mach, daß du auf die Beine kommst. Wie müssen

weiter.«

Das Rudel setzte sich wieder in Bewegung. Noch

bevor die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte,

kamen sie an ein Schlachtfeld. Bodo schätzte, daß hier

an die achtzig Menschen und doppelt so viele Wölfe

ihr Leben verloren hatten. Unter den Gefangenen

verbreitete sich die Nachricht, daß es sich hier um die

Page 73: Die Horden der Nacht

Überreste jener Jägerkarawane handelte, von der sich

Gorin Hilfe erwartet hatte.

Bodo, der sich an Wirchs Seite befand, beobachtete

den Wolfsmenschen, als dieser über das Schlachtfeld

blickte. Er schien von dem Anblick angewidert zu sein.

Bodo vermutete, daß den Wolfsmenschen die Tatsache

ärgerte, daß hier seine Artgenossen blindwütig

gemordet hatten, anstatt Gefangene zu machen.

Bodo sah es zwischen den Leichen einige Male

aufblitzen, in denen sich die Sonne spiegelte. So war es

auch – aber Bodo erkannte, daß es sich bei einigen um

besondere Waffen handelte.

Sie waren aus Silber geschmiedet!

Er spürte, wie ihn die Erregung überkam, als er über

ein Schwert mit silberner Klinge hinwegtrat. Er mußte

mit aller Kraft gegen die Versuchung ankämpfen, sich

nach der Waffe zu bücken und sie an sich zu bringen.

Aber schließlich siegte die Vernunft. Er sagte sich, daß

er eine Waffe von der Größe eines Schwertes nicht

unbemerkt unter seinem Gewand verstecken konnte.

Es mußte schon eine kleinere, handlichere Waffe sein.

Er stockte, als er durch das Gras eine fingerlange

Haarnadel schimmern sah. Es war nur ein

Schmuckstück, mit dem man einen Gegner höchstens

eine harmlose Verletzung zufügen konnte. Aber es war

ein Schmuckstück aus Silber – und dieses Metall besaß

für einen Wolfsmenschen eine tödliche Wirkung.

Page 74: Die Horden der Nacht

Bodo tat, als strauchle er. Als er über der Silbernadel

lag, steckte er sie sich mit einer flinken Bewegung unter

das Gewand. Als sich später die Gelegenheit dazu

ergab, verbarg er die Nadel unter seinem wallenden

Haupthaar.

Jetzt fühlte er sich sogleich wohler. Er besaß eine

Waffe, die zumindest für einen Wolfsmenschen den

Tod bedeuten konnte.

Wie es Wirch vorausgesagt hatte, erreichten sie

Xanth noch vor Sonnenuntergang. Aber ein anderes

Rudel, das fast so stark war wie das von Wirch, war

schon lange vor ihnen eingetroffen. Und das schuf für

die Wolfsmenschen ein Problem:

Es gab zwei Rudelführer, einer so mächtig wie der

andere. Aber es war nur Platz für einen.

Die Wolfssteine standen schon seit undenklichen

Zeiten auf diesem Platz Niemand hätte mehr sagen

können, wer sie hergeschafft und wer sie behauen

hatte. Aber alle in diesem Land wußten, daß die

Horden der Nacht alle zwölf Sommer im Mond des

Löwen hierher nach Xanth pilgerten, um im Vollmond

das Fest des Blutes zu feiern.

Manche der Steine waren zehnmal mannshoch und

so schwer, daß es hundert und mehr Sklaven bedurft

hätte, um sie zu befördern.

Die Wolfsmenschen glaubten daran, daß ihr Gott

Page 75: Die Horden der Nacht

diesen Ort geschaffen hatte.

Die Wolfssteine waren über eine weite Fläche

verteilt und bildeten ein kreisähnliches Gebilde. Im

äußersten Kreis standen größtenteils unbehauene

Felsen, die mit Moos und dem Kot der Wölfe bedeckt

waren. Hier blühte keine Blume, nur Disteln und

Stachelgewächse bedeckten den Boden, und das Gras

war hier von einem häßlichen Braungrün.

Näher zum Mittelpunkt des Kreises standen die

eigentlichen Wolfssteine, in die Schriftzeichen einer

unbekannten Sprache gehauen waren und die mitunter

seltsame und skurrile Formen aufwiesen. Es waren

riesige Quader, auf die noch größere Steine getürmt

waren, die von Meisterhand geschaffene Rillen,

großflächige Vertiefungen und Vorsprünge aufwiesen;

Gesichter von Ungeheuern waren hineingemeißelt.

Große Quader wurden oft von mehreren Säulen

getragen, manche Steine ragten senkrecht in den

Himmel, andere wieder erhoben sich schräg aus dem

Boden und verjüngten sich an ihrem Ende zu Spitzen,

die wie Pfeile in eine Himmelsrichtung wiesen: nach

Osten.

Die Bedeutung dieser Pfeilsteine war nur den

Wolfsmenschen klar. Sie glaubten daran, daß sie jene

Richtung wiesen, aus der eines Tages ihr Gott geflogen

käme, um ihnen zu sagen, wofür sie lebten und was ihr

Ziel sein sollte.

Page 76: Die Horden der Nacht

Im innersten Kreis war eine freie Fläche, die von den

größten Wolfssteinen umgeben war. Dort stand der

kunstvoll behauene Opferstein mit dem

hochaufragenden Zentralstein, auf dem die u-förmige

Mondschale thronte. Diese Mondschale war ein an den

Seiten abgerundeter Fels, in den an der Oberseite eine

Einkerbung von der Form eines Halbkreises gehauen

worden war.

Dieser Mondschale kam eine besondere Bedeutung

zu. Wenn der Vollmond, vom Altar aus gesehen, die

halbrunde Vertiefung ausfüllte, dann war dies das

Zeichen für den Beginn des Festes.

Aber noch war es nicht soweit. Die Sonne strebte

dem Horizont zu, und die Schatten der Wolfssteine

wurden immer länger. Zwischen den riesigen

Felsquadern tummelten sich Tausende von Wölfen und

etwa zweitausend Wolfsmenschen in Menschengestalt.

Vor dem Opferstein aber standen sich zwei

Wolfsmenschen in geduckter Haltung gegenüber:

Wirch und der Führer des anderen Rudels.

»Ich bin Chrn«, sagte der andere Rudelführer, ein

riesiger Bursche, der Wirch um einen halben Kopf

überragte und nur aus Muskeln zu bestehen schien.

Aber sein ehemals pechschwarzes Haar wies bereits

graue Stellen auf. Daraus schloß Wirch, daß er um

vieles älter war als er selbst. Sicher hatte Chrn bereits

an mehr als drei Wolfswanderungen teilgenommen.

Page 77: Die Horden der Nacht

Und noch etwas entdeckte Wirch auf den ersten

Blick: sein Gegner war nicht besonders klug. Sein

langes Leben hatte er mehr seinen rohen Körperkräften

zu verdanken als seinem Verstand.

»Ich bin Wirch, und hier ist nur für mich Platz.«

Der andere Rudelführer gab ein Heulen von sich,

mit dem er Wirch verhöhnen wollte, und blähte seinen

Brustkorb zu einem tonnenförmigen Gebilde auf.

»Ich werde Wirch zwischen meinen Armen

zerdrücken«, prophezeite Chrn. Wirch wollte ihm

glauben, daß er die nötige Kraft dafür besaß, aber er

sagte:

»Noch bevor du mich zwischen deine Arme

bekommst, werde ich deinen Schädel am Opferstein

zerschmettern. Du hast Kraft Chrn, aber nicht den

nötigen Verstand, um ein Rudel zu führen.«

Chrn breitete seine muskelbepackte Arme aus und

stürzte sich auf Wirch, der jedoch geschickt auswich, so

daß Chrn gegen den Opferstein taumelte. Noch bevor

er herumwirbeln konnte, sprang Wirch auf seinen

Rücken, faßte mit beiden Händen in sein dichtes

Haupthaar und schlug ihm den Schädel gegen eine

Erhöhung des Opfersteins.

Er ließ erst von Chrn ab, als dieser tot war.

Die umstehenden Wolfsmenschen waren enttäuscht,

daß der Kampf nur so kurz gedauert hatte. Aber

dennoch schätzten sie Wirchs Leistung richtig ein und

Page 78: Die Horden der Nacht

feierten ihn als ihren neuen Rudelführer.

Wirch rief seine zwölf Wölfe herbei und überließ

ihnen den toten Chrn.

Das schwarze Blut des toten Widersachers würde

ihnen zusätzliche Kräfte verleihen, wenn sie sich

dessen zwölf Wölfen zum Kampf stellten ...

»Die Sonne sinkt, der Vollmond erwacht«, schrie

Wirch vom Opferstein aus über die versammelten

Wolfsmenschen hinweg. »Badet euch in seinem Licht,

Brüder, betet ihn an und erfleht euch die Gnade des

Wolfsgottes, auf daß seine Kraft in eure Wolfskörper

übergeht und euer schwarzes Blut berauscht!«

Die Sonne versank bei Wirchs letzten Worten.

Die Wolfsmenschen zogen sich in abgelegene

Winkel zurück, um sich dem Schmerz der

unheimlichen Verwandlung zu ergeben.

4.

Der Vollmond strahlte hell auf Xanth, den Ort des

Blutes hinunter, und an die hundert Menschen wußten,

daß sie ihrem baldigen Ende entgegensahen.

»Misirani!«

Bodo stieß einen Jüngling beiseite, der ihm im Wege

stand und folgte den verzweifelten Schreien der

Page 79: Die Horden der Nacht

dunkelhäutigen Sklavin. Die anderen Gefangenen

wichen entsetzt zurück, als ihnen der riesenhafte Wolf

entgegenlief, der seine Beute im Maul trug.

Misirani schlug verzweifelt um sich, aber der

Wolfsmensch hielt sie sicher mit seinen Zähnen fest.

Bodo benahm sich wie ein Rasender. Es war ihm in

diesem Augenblick egal, was die Wölfe mit ihm tun

würden.

Er hatte den Wolfsmenschen schon fast erreicht, der

mit Misirani im Maul davonrannte, als sich ihm einer

der Gefangenen in den Weg stellte.

»Willst du dich den Wölfen zum Fraß vorwerfen?«

fragte der Mann und packte Bodo an den Oberarmen.

Bodo erkannte Gorin, der ihn hilflos in seinem

brennenden Stall zurückgelassen hatte, und schlug ihm

mit aller Kraft in das von Wolfszähnen entstellte

Gesicht.

Als Bodo weiter wollte, war der Wolfsmensch mit

Misirani verschwunden. Er hätte dennoch wieder die

Verfolgung aufgenommen, wenn ihn kräftige Arme

nicht daran gehindert hätten. Gorins drei Söhne hielten

ihn fest und machten Anstalten, ihn zu verprügeln.

»Laßt ihn«, sagte Gorin und spuckte einen Zahn aus,

während er sich erhob. Er starrte seine drei Söhne

wütend an und sagte: »Warum habt ihr die Frauen

verlassen! Habe ich euch nicht aufgetragen, sie mit

eurem Leben zu schützen und sie notfalls zu töten, ehe

Page 80: Die Horden der Nacht

sie den Wölfen in die Hände fallen?«

Seine drei Söhne senkten schuldbewußt den Blick

und ließen von Bodo ab.

Da gellte eine schrille Frauenstimme auf.

»Gorin! Sie nehmen Isli und Anga mit sich!«

Gorin stieß seine Söhne beiseite und stürmte in die

Richtung, aus der der Ruf seiner Frau gekommen war.

Ein riesiger Schatten tauchte vor ihm auf, der seine

jüngere Tochter im Maul trug. Gorin stürzte sich

bedenkenlos auf ihn und bohrte ihm die Nägel seiner

Finger in die Augen. Der Wolfsmensch heulte vor

Schmerz auf, aber er ließ Anga nicht los. Er sprang in

die Höhe und stieß Gorin mit den Vorderlaufen um.

Aber Gorin gab nicht auf. Er wollte sich wieder

aufrappeln, doch da waren bereits die Gefährten des

Wolfsmenschen heran.

Ein Wolf verbiß sich in seinem Oberschenkel, ein

zweiter zerbiß sein Handgelenk. Dann ließen sie

wieder von ihm ab. Sie schonten sein Leben für das

Opferritual.

Gorin starrte auf seine Hand, die wie ein

Fremdkörper von seinem Arm baumelte.

Das war das letzte, das Bodo von ihnen sah. Denn

nun brach ein Tumult los. Wölfe preschten in die

Reihen der Gefangenen und trieben sie auseinander.

Bodo erkannte ihre Absicht, sie wollten sie

voneinander absondern, damit sie sich in ihrer

Page 81: Die Horden der Nacht

Verzweiflung nicht zusammenrotteten und einen

Fluchtversuch unternahmen. Einige der Gefangenen

wurden auf den Opferstein zugetrieben, wo bereits

Wolfsmenschen ihrer harrten.

Bodo warf einen Blick zum Vollmond hinauf und

rechnete sich aus, daß es nicht mehr lange dauern

konnte, bis er in der Schale des Mondsteins stand.

Er wurde von einem Wolfsrudel vorangetrieben,

doch merkte er, daß die Tiere nicht viel Notiz von ihm

nahmen. Sie schenkten der Wanderung des

Vollmondes mehr Aufmerksamkeit als ihm. Alle

standen sie ganz im Banne der kommenden Ereignisse,

und obwohl ihre Gefangenen so wichtig für das

Opferritual waren, kümmerten sie sich nur wie

nebenbei um sie.

Bodo wußte, daß nun bald seine Gelegenheit

gekommen war, um die Flucht zu versuchen. Wenn

Wirch Wort hielt und ihn als letztes Opfer bestimmte,

dann hatte er noch eine Galgenfrist. Aber er durfte

auch nicht zu lange warten. Er mußte handeln, solange

die Wolfsmenschen und ihre Brüder, die Wölfe, so sehr

im Banne des Vollmondes standen.

Während sich Bodo von den Wölfen in den

innersten Kreis von Xanth treiben ließ, wartete er auf

eine günstige Gelegenheit zur Flucht. Er holte die

Silbernadel aus seinem Haar und hielt sie in seiner

Faust fest.

Page 82: Die Horden der Nacht

Sollte er es jetzt versuchen?

Bodo hatte bereits seinen Entschluß gefaßt, als ein

Aufheulen durch die Reihen der Wolfsmenschen ging.

Er erschauerte, denn er dachte, daß der Mond die

Schale des Mondsteines erreicht hatte und das Fest des

Blutes beginnen würde. Als er jedoch aufblickte,

erkannte er, daß die Aufregung der Wolfsmenschen

einem anderen Ereignis galt.

Vor dem Vollmond kreiste ein riesiger Geier, der

nun hinunterstieß und auf dem Mondstein landete. Die

Vogelgestalt löste sich auf und wurde zu einem

Menschen mit einem Wolfsgesicht, um dessen Gestalt

ein weiter Umhang flatterte.

Dieses seltsame und unheimliche Wesen streckte die

Arme nach dem Mond aus und rief mit donnernder

Stimme:

»Meine Söhne des schwarzen Blutes, hier bin ich!«

Cnossos blickte voll Zufriedenheit auf seine Horden

der Nacht hinunter.

Diese seine Söhne, die aus Verbindungen zwischen

ihm und den kräftigsten und klügsten Wölfinnen

dieses Landes hervorgegangen waren, waren die

stärkste Waffe, die er im Augenblick gegen seinen

Erzfeind Dragon aufbringen konnte.

Das Zwischenspiel in Bo-gah hatte nur dazu

gedient. Dragon auf dem Weg nach Myra aufzuhalten,

Page 83: Die Horden der Nacht

damit er, Cnossos, einen Vorsprung erhielt und

Gelegenheit hatte, seine Horden der Nacht in die

Schlacht zu werfen.

Inzwischen hatte Cnossos die Gewißheit, daß der

Kampf in Bo-gah, der Stadt der verlorenen Seelen, für

ihn mit einer Niederlage geendet hatte. Er wußte zwar

nichts Genaues über den Ausgang des Kampfes, aber

er hatte einen Teil seines Körpers als Beobachter bei

seinem Diener Urak zurückgelassen – und da der

Kontakt zu diesem Körperfragment vor kurzem schnell

und schmerzhaft abgebrochen war, konnte er nur

vernichtet worden sein. Das hieß auch, daß sein Diener

Urak gefallen war und mit ihm wahrscheinlich auch

Bo-gah.

Cnossos hatte inzwischen den Schmerz über sein

verlorenes Körperfragment überwunden – um Urak

und seine anderen Diener trauerte er nicht einen

Augenblick lang – und sich auf seine nächsten Schritte

vorbereitet.

Es war ein erhebendes Gefühl, auf dieses Heer

wilder, kampfbesessener Geschöpfe hinunterzublicken

und zu wissen, daß sie ihm gehorchten. Es waren

zweitausend praktisch unbesiegbarer Wolfsmenschen,

von denen jedem zwölf Wölfe zur Seite standen.

Er hatte schon vor tausend Jahren und länger damit

begonnen, sie zu züchten und sich später von ihnen als

ihr Gott feiern zu lassen. Und obwohl er nur selten

Page 84: Die Horden der Nacht

Vorstöße in ihr Gebiet unternahm, hielten sie von sich

aus an dem jahrhundertealten Brauch fest, alle zwölf

Sommer nach Xanth zu pilgern, um hier Cnossos zu

huldigen.

Es waren treue Söhne, die nicht vergaßen, seiner zu

gedenken.

Er würde sie belohnen, ihnen eine Aufgabe geben,

die ihrer gerecht wurde. Es wäre eine Schande

gewesen, ein solch gewaltiges Heer aus Wesen, denen

kein Schwertstreich, keine Lanze, kein Pfeil etwas

anhaben konnte und die nur die zersetzende Kraft des

Silbers zu fürchten hatten, nicht zum Einsatz zu

bringen. Zweitausend Wolfsmenschen mit

vierundzwanzigtausend Wölfen – wer auf dieser Welt

könnte eine solche Streitmacht besiegen?

Nicht einmal Dragon wäre diesem Gegner

gewachsen.

Der Gedanke an seinen Feind, der ihm schon so

viele Niederlagen zugefügt hatte, machte Cnossos

rasend. Ein uralter Haß verband ihn mit Dragon, der

noch in eine Zeit zurückreichte, die vor dem Untergang

von Atlantis lag. Dragon war das einzige Lebewesen

auf dieser Welt, zu der Cnossos eine echte Beziehung

hatte, niemand sonst lebte heute mehr, der die

Erinnerung an eine längst vergangene Zeit in ihm

wecken konnte.

Dragon hatte schon einmal vor zweitausend Jahren,

Page 85: Die Horden der Nacht

vor dem endgültigen Untergang von Atlantis, seinen

Weg gekreuzt. Cnossos vergaß es nicht, und die

damals unterbrochene Auseinandersetzung würde nun

beendet werden. Diesen Zweikampf konnte nur einer

überleben, und für Cnossos gab es keinen Zweifel, daß

er es war, der als Sieger daraus hervorgehen würde.

Cnossos blickte auf den Opferstein hinunter, wo die

ersten drei Gefangenen zusammengekauert hockten,

von einem Wolfsrudel in Schach gehalten. Er war sich

seiner Wirkung auf die Wolfsmenschen vollauf

bewußt. Aber er wußte auch, daß er sie nicht zu lange

hinhalten durfte, denn sonst wurden sie ungeduldig

und hörten nicht mehr auf das, was er ihnen zu sagen

hatte.

Sie lechzten nach Blut.

Es war noch nicht viel Zeit verstrichen, seit Cnossos

auf dem Mondstein gelandet war, da fuhr er fort:

»Ich bin zu euch gekommen, meine Söhne, um an

eurem Fest teilzunehmen. Ihr sollt nicht allein das Fest

des schwarzen Blutes feiern, sondern im Schatten eures

Gottes stehen, der die Kraft, das Ungestüm, die

Wildheit und die Unbesiegbarkeit in eure Herzen

geplanzt hat. Laßt uns gemeinsam von dem Blut der

Schwachen trinken.«

Unter dem jubelnden Geheul der Wolfsmenschen

wurden Cnossos‘ Arme zu Schwingen, auf denen er

zum Opferstein hinuntersegelte. Die drei Gefangenen

Page 86: Die Horden der Nacht

auf dem Opferstein sahen voll Entsetzen die Gestalt

mit dem Menschenkörper, den Geierflügeln und der

Wolfsfratze auf sich zustürzen und klammerten sich im

Angesicht des Todes aneinander.

Cnossos bereitete ihnen einen schmerzlosen

Abgang. Dann schleuderte er sie den nächststehenden

Wolfsmenschen zu, die sich über die Opfer

hermachten.

Die blutleeren Körper überließen sie ihren Wölfen.

Cnossos überließ die weitere Opferung den

Wolfsmenschen. Er stand nur als Zuschauer daneben

und ließ die Erregung seiner Geschöpfe auf sich

übergreifen.

Aber er tat noch mehr als das. Sein Hiersein hatte

einen besonderen Grund. Er wollte sich nicht nur

zeigen, um die Erinnerung an sich in ihnen

wachzuhalten, sondern wollte sich ihrer im Kampf

gegen Dragon bedienen.

Normalerweise würden sich die Wolfsmenschen

nach dem Ritual den Rückzug in ihre jeweiligen

Heimatorte antreten und nach zwölf Sommern wieder

zum Ort des Blutes zurückkommen.

Das aber wollte Cnossos verhindern. Der Wolfsgott

verlangte diesmal mehr von seinen Geschöpfen als eine

Huldigung an seine Person. Er verlangte ihre Hilfe,

ihre tatkräftige Unterstützung im Kampf gegen die

Elemente, die seine Vormachtstellung in dieser Welt zu

Page 87: Die Horden der Nacht

brechen drohten.

»Trinkt euch satt. Söhne meines Blutes«, rief er

donnernd über die entfesselte Horde der

Wolfsmenschen hinweg. »Denn wenn dieser Vollmond

vom Himmel verschwunden ist, dann werdet ihr Kraft

und List brauchen. Diesmal soll das Fest des Blutes

nicht mit dem Untergang des Mondes beendet sein. Es

wird weitergehen, über viele Tage und Nächte hinaus.«

Cnossos‘ Worte brachten die Wolfsmenschen zur

Raserei. Menschenblut, das war das Zauberwort, das

eine magische Wirkung auf sie ausübte.

»Es werden Nächte des Blutes anbrechen«, fuhr

Cnossos fort, »wenn ihr mir in die Länder des Ostens

folgt. Eine nie versiegende Quelle erwartet euch in den

Ländern jenseits des engen Wassers. Wollt ihr mir in

dieses verheißungsvolle Land folgen? Wollt ihr die

endlosen Nächte des Blutes, meine Söhne?«

Die Antwort war ein Geheul, das weit über die

Grenze von Xanth bis zu den Bergen im Norden und

dem Meer im Süden hallte.

Cnossos hatte nichts anderes erwartet, als daß die

Horden der Nacht seinem Ruf folgen würden.

»Ich komme, Dragon«, sagte Cnossos zu sich, »um

den Zweikampf für mich zu entscheiden, der vor

zweitausend Jahren begonnen hat.«

Bodo hatte die Aufforderung des schrecklichen

Page 88: Die Horden der Nacht

Wolfsgottes an seine unheimlichen Geschöpfe

schaudernd vernommen.

Jetzt wollte er nicht länger mehr warten. Die

Wolfsmenschen standen immer noch im Banne des

Unheimlichen, und einige waren bereits vom Blut ihrer

Opfer berauscht. Auch die Wölfe waren zur

Bewegungslosigkeit erstarrt, als hätte sie die Stimme

des Wolfsgottes gelähmt.

Bodo schlich sich vorsichtig zwischen ihnen zum

Rand der Wolfssteine. Er ließ den innersten Kreis

unbehelligt zurück und bewegte sich nun rascher

vorwärts, sich ständig im Schatten der mächtigen

Steinquader haltend. Die Wolfsmenschen hielten sich

alle im innersten Kreis auf, so daß nur noch von deren

Gefährten, den Wölfen, Gefahr drohte.

Aber sie schienen ihn nicht zu bemerken, sie

schienen von der Stimme gefangen zu sein, die die Luft

erfüllte.

Was für ein Geschöpf war das nur! Bodo hatte die

Schreckensbilder vergessen, er sah nur dieses Wesen

immer wieder vor sich, das die Horden der Nacht

allein mit seiner Wortgewalt und seiner Ausstrahlung

in den Bann schlug.

Es mußte ein Gott sein, ein furchtbarer, grausamer,

menschenfeindlicher Dämon!

Bodo hatte die äußersten Steine erreicht, die nach

dem Kot der Wölfe stanken, und wollte sich in das

Page 89: Die Horden der Nacht

unwegsame Gelände hinausbegeben, wo er hinter

Felsen und in Mulden reichlich Schutz finden würde.

Er glaubte sich schon in Sicherheit, als er hinter sich ein

Tappen und ein verhaltenes Knurren vernahm.

Er ergriff einen spitzen Stein und wirbelte herum.

»Achr!« entfuhr es ihm.

Der Wolf, der noch vor wenigen Tagen sein Freund

gewesen war, blieb hechelnd stehen.

»Bist du als Freund gekommen oder als Feind?«

fragte Bodo zweifelnd.

Achr duckte sich, und es war nicht zu erkennen, ob

er es aus Demut tat, oder um ihn anzuspringen.

Bodo hielt auf alle Fälle den Stein wie einen Dolch

stoßbereit und sagte:

»Wenn du der Verräter bist, als der du dich gegeben,

dann zeige es. Die Entscheidung muß jetzt fallen, damit

ich nicht länger mehr über dich im Zweifel bin.«

Achr gab ein wütendes Knurren von sich, und Bodo

glaubte, daß er ihn nun anspringen wurde. Aber Achr

tat etwas anderes, das für Bodo im ersten Augenblick

keinen Sinn ergab: Er drehte sich um und heulte in

Richtung der Wolfssteine.

Da tauchten zwischen den Felsquadern zwei Wölfe

auf.

Achr stellte sich ihnen zum Kampf.

»Du bist doch mein Freund«, sagte Bodo gerührt

und näherte sich Achr, um ihn im Kampf gegen die

Page 90: Die Horden der Nacht

beiden Angreifer zu unterstützen.

Aber Achr knurrte ihn an und schnappte warnend

nach ihm.

Bodo verstand seine Verhaltensweise: Achr

verscheuchte ihn, wollte, daß er seine Flucht fortsetzte

und zeigte seine Bereitschaft an, seinen Rückzug zu

decken.

Bodo zögerte nur einen Augenblick, dann setzte er

seine Flucht fort. Die Nacht verschluckte ihn.

Bei den Wolfsfelsen aber gab ein Wolf im Kampf

gegen seine Artgenossen sein Leben für seinen

menschlichen Freund hin.

Wirch heulte seine Wut dem Vollmond entgegen. Sein

Gefangener, den er sich als letztes Opfer des Blutfestes

aufgespart hatte, war entflohen.

Zweifellos war es ihm gelungen, den Ort des Blutes

zu verlassen, während sie sich von den Worten ihres

Gottes und vom Blut der geopferten Taggänger

berauschen ließen.

Wirch hätte deswegen am liebsten seine zwölf Wölfe

getötet; denn sie hätten den Gefangenen bewachen

müssen, auch wenn er seine Aufmerksamkeit auf

andere Dinge konzentrierte.

Aber dann fiel sein Blick auf Gerr, der sich mit

seinen Wölfinnen balgte, und sein ganzer Zorn entlud

sich gegen seinen Widersacher.

Page 91: Die Horden der Nacht

»Gerr«, knurrte Wirch und verbiß die Weibchen.

»Du hälst dich für klug. Du hältst dich für stark.«

Gerr sprang auf und wich geduckt zurück.

»Nicht beim Fest des Blutes«, gab er mit fast

unverständlicher Stimme zurück.

»Doch«, widersprach Wirch. »du denkst immer,

jederzeit daran, wie du mich überlisten könntest. Jetzt

kannst du zeigen, wie schlau du bist. Schare deine

Wölfe um dich und hetze den Gefangenen, der uns

entkommen ist.«

»Der dir entkam«, berichtete Gerr.

Wirch fauchte ihn wütend an, täuschte einen Angriff

von links vor und sprang seinen Widersacher dann von

rechts an. Im Nu lag Gerr auf dem Rücken, und Wirch

umspannte mit dem Maul seine Kehle. Es war ganz

einfach gewesen. Gerr zu überwältigen.

Er ließ ihn wieder los und lief dann leichtfüßig und

mit stolz erhobenem Kopf davon. Gerr war bei der

Kraftprobe der Unterlegene gewesen und würde

Wirchs Befehl ohne nochmalige Aufforderung

nachkommen.

Bodo setzte seine ganze Hoffnung darauf, daß er das

Meer erreichte und Fischer traf, die ihn bei sich

aufnahmen. Die Küstengebiete waren dichter besiedelt

als das Landesinnere, das war bekannt. Denn aus

irgendeinem Grund schienen die Wolfsmenschen das

Page 92: Die Horden der Nacht

Wasser zu scheuen, obwohl sie gar keine üblen

Schwimmer waren.

Die Vollmondnacht war zu Ende gegangen, und der

neue Tag stand in seiner Mitte, und Bodo hatte noch

immer nichts von Verfolgern bemerkt.

Konnte es sein, daß Wirch ihm niemand

nachschickte, obwohl er seine Flucht bemerkt haben

mußte? Bodo wollte sich darauf nicht verlassen.

Achr war seiner Spur nicht gefolgt, also mußte er

gefallen sein. Vielleicht war Wirch erst am Morgen

dieses Tages gemeldet worden, daß außerhalb des

Runds der Wolfssteine ein Kampf unter Wölfen

stattgefunden hatte. Und vielleicht auch war Wirch

sein Verschwinden erst danach aufgefallen, obwohl er

ihn als etwas Besonderes bezeichnet hatte und ihn als

letzten opfern wollte.

Doch das wären der Zufälle zuviel auf einmal

gewesen. Bodo wollte nicht daran glauben. Er mußte

damit rechnen, daß ihm die Wölfe bereits auf den

Fersen waren.

Obwohl die Sonne heiß auf ihn niederbrannte, er

müde war und sein verletzter Arm schmerzte, setzte er

seinen Weg unbeirrbar fort.

Die Küste war nicht mehr allzu fern, und wenn er

den Rest des Tages und die Nacht durchmarschierte,

konnte er morgen Mittag das Meer erreichen.

Er mußte es schaffen, denn er wollte nicht sterben.

Page 93: Die Horden der Nacht

Die Nacht kam, und Bodo verspürte zum erstenmal

Hunger.

Da sah er ein Licht vor sich. Er zwinkerte einige

Male, aber der Lichtschein verschwand nicht.

War es möglich, daß dort vorne ein Mensch wohnte,

der trotz der Wolfswanderung seine Behausung nicht

verlassen hatte? Niemand, der dieses Land kannte,

wäre so töricht gewesen. Aber es konnte sich auch um

einen Fremden handeln – um einen Jäger womöglich,

der, von Osten kommend, in das Land der Wölfe

geraten war.

Bodos Schritt wurde schneller.

Jetzt konnte er den Lichtschein schon deutlich als

offenes Feuer erkennen. Ja, dort vorne brannte ein

Lagerfeuer. Es war im Schutz eines Felsens vor einer

Höhle errichtet worden.

Und vor dem Feuer saß jemand zusammengekauert

und in eine Decke gehüllt.

»Fremder«, krächzte Bodo und taumelte auf ihn zu.

Aber der Mann rührte sich nicht. Schlief er im

Sitzen?

Bodo erreichte ihn und berührte ihn an der Schulter.

Da lehnte sich der Fremde langsam zurück ... Plötzlich

aber fiel sein Kopf nach hinten, und Bodo sah, daß

seine Kehle zerfetzt war.

Als er in die Nacht hinausblickte, sah er einen

riesenhaften Schatten sich ihm nähern.

Page 94: Die Horden der Nacht

Ein Wolfsmensch.

Bodo wirbelte herum und versuchte das Dunkel der

Höhle zu durchdringen. Täuschte er sich, oder

funkelten ihn von dort wilde, glühende Augen an? Er

hatte sich nicht getäuscht, denn in diesem Moment

ertönte ein zorniges Knurren aus der Höhle.

Ohne zu zögern, griff Bodo ins Lagerfeuer und

schleuderte einen brennenden Holzscheit nach dem

anderen in die Höhle. Im Schein des Feuers sah er, wie

einige Wölfe ängstlich durcheinander sprangen. Zwei

von ihnen fingen Feuer und wälzten sich jämmerlich

klagend auf dem Boden.

Bodo wandte sich wieder dem Wolfsmenschen zu.

Von dem Lagerfeuer waren noch einige glosende

Holzreste übrig, aber die waren nicht genug, um den

Wolfsmenschen in Schach zu halten.

Das riesige Untier hatte sich langsam und

siegessicher an ihn herangeschlichen. Jetzt duckte es

sich und schnellte sich im nächsten Augenblick vom

Boden ab. Bodo sah den Schatten auf sich zufliegen

und streckte seine Linke aus, in der er die silberne

Haarnadel hielt.

Der Wolfsmensch mußte das für ihn tödliche Metall

im letzten Augenblick gesehen haben, denn seine

Augen wurden vor Entsetzen groß, und aus seinem

Rachen löste sich ein schauriger Schrei. Aber für ihn

war diese Erkenntnis bereits zu spät, er konnte nicht

Page 95: Die Horden der Nacht

mehr verhindern, daß er von der Nadel getroffen

wurde.

Bodo trieb die Nadel tief in seinen Körper, dann

sprang er zurück.

Der Wolfsmensch wand sich zu seinen Füßen. Die

Wunde selbst verursachte ihm kaum Schmerzen, aber

die Ausstrahlung des Silbers breitete sich wie ein

tödliches Gift in seinem Körper aus.

Es würde lange dauern, bis der Wolfsmensch von

seinen Qualen erlöst war. Bodo hätte dieses lange

Leiden erspart, aber er hatte keine Möglichkeit, den

Wolfsmenschen kurz und schmerzlos zu töten.

So ließ er ihn zurück und setzte seinen Weg zur

Küste fort.

Er hoffte nur, daß alle Wölfe in den Flammen

umgekommen waren, denn sonst würde er seines

Lebens noch nicht sicher sein.

5.

Nabib von Thinayda stand am Ruder seines Schiffes

und blickte von den Heckaufbauten gelassen auf die

Mannschaft hinunter, die sich drohend vom

Vorderschiff näherte. Er hatte die Daumen in den

breiten Gürtel gehakt, der sich über seine imposante

Page 96: Die Horden der Nacht

Bauchwölbung spannte.

Valys, der Steuermann, ein bärtiger,

muskelbepackter Kerl, stand Nabib als einziger von der

Besatzung treu zur Seite. Ohne die Meuterer aus den

Augen zu lassen, sagte er zu Nabib:

»Gaidos hat die Männer aufgewiegelt. Dieser Hund

gehört ertränkt. Laß es mich tun, Nabib, und du wirst

sehen, daß dann an Bord wieder Ruhe herrscht.«

Nabib schüttelte den Kopf, daß das spärliche

Haarbüschel, das sich auf seinen sonst kahlen Kopf wie

ein Vogelnest ausnahm, durcheinanderwirbelte.

»Gaidos hat die Männer aufgewiegelt, ich weiß«,

sagte er. »Aber es ist nicht mehr allein damit getan, daß

wir ihn ausschalten. Die Männer sind schon zu sehr

von seinen Worten vergiftet. Und es ist nur all zu

verständlich, daß ihnen die Angst in den Knochen

sitzt.«

Nabib blickte zum nahen Ufer hinüber. Dort, hinter

der Steilküste, lag das Land der Wölfe, über das man

sich in seiner Heimat die furchtbarsten Geschichten

erzählte. Er konnte es verstehen, wenn es seinen Leuten

nicht behagte, daß sie ausgerechnet hier vor Anker

gegangen waren. Er fühlte sich selbst nicht ganz wohl

in seiner Haut. Deshalb hatte er eine Gruppe von vier

Männern an Land geschickt, die die Gegend im Auge

behalten und die Annäherung von Wölfen sofort

melden sollten.

Page 97: Die Horden der Nacht

Der Händler nahm die Hände aus seinem Gürtel,

ging bis zur Holzbalustrade vor und stützte sich

darauf. Die Meuterer, allen voran der hinterhältige und

durch und durch verschlagene Gaidos, blieben stehen.

Sie waren mit Prügeln, Enterseilen und Widerhaken

bewaffnet, weil Nabib ihnen schon vorher die

Schwerter und Dolche abgenommen und sicher

verwahrt hatte.

Als sie durch widrige Winde gezwungen worden

waren, die Segel zu hissen und hier an der Wolfsküste

vor Anker zu gehen, hatte Nabib geahnt, daß es

Schwierigkeiten geben würde und die Männer, als sie

noch nicht an Meuterei dachten, vorsorglich

entwaffnet. Wie gut er sich auf seinen Spürsinn

verlassen konnte, zeigte die augenblickliche Situation.

»Was hast du mir zu sagen, Gaidos?« sagte Nabib

mit ruhiger Stimme zu dem Anstifter der Meuterer.

Gaidos, ein Buckliger mit brandrotem Haar und

starken Armen, die so lang waren, daß er im Stehen

fast den Boden mit ihnen berühren konnte, spuckte

abfällig aus.

»Du weißt sehr genau, was wir von dir wollen,

Nabib«, rief er zu dem Händler hinauf. »Wir wollen

keine schönen Worte von dir hören, sondern eine klare

Antwort. Bringst du uns freiwillig zur Weißen Küste

zurück, oder müssen wir dich dazu zwingen?«

Nabib wartete, bis Gaidos ausgesprochen hatte,

Page 98: Die Horden der Nacht

dann sagte er:

»Als wir von der Weißen Küste aus in See stachen,

da wußtet ihr alle, daß Myra unser Ziel ist. Und daran

hat sich nichts geändert. Ihr seid alle erfahrene Seeleute

und wißt, daß die Winde nicht immer so wehen, wie

man es sich wünscht. Es war zu erwarten, daß wir vom

Kurs abkommen und vor Anker gehen würden, bis

sich der Wind zu unseren Gunsten gedreht hat.

Deshalb verstehe ich eure Ungeduld nicht.«

Gaidos lachte abfällig.

»Du hättest überall den Anker werfen können, nur

nicht vor dem Wolfsland!« rief er.

»Dann ist es also nicht die Ungeduld, sondern die

nackte Angst, die euch den Kopf verlieren ließ?« sagte

Nabib mit gespieltem Erstaunen.

Diese Worte machten die Männer unsicher, sie

vermieden es, Nabibs Blick zu begegnen. Gaidos

verstand es jedoch, ihre Unsicherheit wieder zu

verscheuchen.

»Wir sind so ängstlich oder so tapfer wie andere

Seemänner auch«, erklärte er. »Wir gehen keiner

Gefahr aus dem Weg. Aber wir wollen nur nicht von

den Wölfen zerrissen werden. Man erzählt sich, daß

sich im Mond des Löwen die Horden der Nacht

zusammenrotten und auf die Menschen in ihrem Land

Jagd machen. Wenn wir noch länger hier bleiben, kann

es sein, daß wir ihnen ebenfalls zum Opfer fallen. Da

Page 99: Die Horden der Nacht

keiner von uns den Wölfen zum Fraß vorgeworfen

werden, will, verlangen wir von dir, in See zu stechen.

Der Zufall will es, daß der Wind aus Westen kommt

also kehren wir zur Weißen Küste zurück.«

»Nichts dergleichen werden wir tun«, sagte Nabib

fest. »Wir warten hier, bis sich der Wind gedreht hat,

dann setzen wir unseren Weg nach Myra fort. Habt ihr

meine Worte vergessen? Ich versprach euch in Myra

einen großen Gewinn. Wollt ihr jetzt plötzlich auf das

viele Geld verzichten, nur weil Gaidos vor Angst die

Hosen voll hat?«

»Unser Leben ist uns lieber«, riefen einige der

Seeleute mit verhaltener Stimme.

Nabib stieß abfällig die Luft aus und fragte: »Habt

ihr während der zwei Tage, die wir hier bereits ankern,

auch nur einen einzigen Wolf heulen gehört?«

Als niemand darauf eine Antwort gab, fuhr Nabib

schnell fort:

»Wo kein Wolfsgeheul ist, da sind auch keine Wölfe.

Woher sollte uns aber sonst Gefahr drohen? Außerdem

sind wir auf dem Meer sicher, denn heißt es in den

Legenden nicht auch, daß die Horden der Nacht eine

große Scheu vor dem Wasser haben?«

Nabib machte wieder eine Kunstpause, bevor er

weitersprach.

»Wenn wir jetzt umkehren, dann können wir die

Weinfässer gleich ins Meer entleeren. Wenn wir aber

Page 100: Die Horden der Nacht

ausharren, bis sich der Wind gedreht hat und uns nach

Myra bringt, dann können wir die gesamte

Weinladung in klingende Münze umsetzen. Erinnert

euch daran, was ich euch gesagt habe. Es werden nicht

mehr viele Tage vergehen, bis Dragon mit seiner

siegreichen Armee in Myra einmarschiert. Dann wird

man unseren Wein brauchen, um den Sieg feiern zu

können. Wir können dort einen dreifachen Gewinn

erzielen – und das kommt auch euch zugute. Wollt ihr

nur wegen des ängstlichen Gaidos darauf verzichten?

Wer weiß, vielleicht hat sich noch vor

Sonnenuntergang der Wind gedreht ...«

»Wir wollen nicht länger warten!« rief Gaidos, der

merkte, daß ihm die Führung über die Meuterer aus

der Hand glitt, je länger er mit Nabib verhandelte, und

kam drohend näher.

Gaidos ging es gar nicht so sehr darum, sich vor den

Horden der Nacht in Sicherheit zu bringen. Sie dienten

ihm nur als Vorwand, um Nabib zu beseitigen und sein

Schiff in Besitz zu nehmen. Wenn er den fetten Händler

los war, würde er auch nichts anderes tun, als Kurs auf

Myra nehmen. Nur mit dem Unterschied, daß der Erlös

aus dem Weinverkauf in seine Taschen fließen würde.

»Auf sie!« schrie Gaidos und stürmte nach vorne.

Nabib ließ ihn herankommen, dann schwang er sich

mit einer Behendigkeit über die Brüstung, die ihm

kaum jemand zugetraut hätte. Er landete direkt auf

Page 101: Die Horden der Nacht

Gaidos, der unter seinem Gewicht zu Boden fiel. Noch

bevor sich der Bucklige erholen konnte, hatte ihm

Nabib den Enterhaken entwunden. Er hob ihn an den

Armen hoch und schleuderte ihn gegen den Mast.

Valys war über die Treppe aufs Mittelschiff

heruntergekommen und stellte sich mit Schwert und

Dolch den Meuterern entgegen. Doch noch bevor es

zum Kampf kam, hörte er Nabib rufen:

»Der Stoßtrupp kehrt zurück!«

Die Meuterer, ohnehin durch den Ausfall ihres

Anführers verunsichert, hielten im Angriff inne und

blickten zum Land hinüber.

»Sie haben einen fünften Mann bei sich«, meldete

einer von ihnen.

»Was zögert ihr denn noch«, herrschte Nabib seine

Leute an. »Laßt ein Boot zu Wasser und holt sie an

Bord.«

Er atmete auf, als er sah, daß seinem Befehl

widerspruchslos Folge geleistet wurde. Der Stoßtrupp

kehrte gerade im richtigen Augenblick zurück. Wenn

es nicht zu diesem Zwischenfall gekommen wäre, wer

weiß, ob es ihm dann gelungen wäre, seine Leute zur

Vernunft zu bringen. Vielleicht würde er dann schon

längst zusammen mit Valys an der nächsten

Segelstange baumeln.

Er nützte die Gelegenheit, um Gaidos endgültig

auszuschalten.

Page 102: Die Horden der Nacht

»Legt ihn in Ketten und schafft ihn unter Deck«,

befahl er. »Ich werde mich später noch mit ihm

beschäftigen.«

Die Männer leisteten auch diesem Befehl

widerspruchslos Folge.

Bodo hatte seine letzte Stunde kommen gesehen.

Er konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten,

und einer der Wölfe, von denen er geglaubt hatte, daß

sie alle in der Höhle bei lebendigem Leibe verbrannt

waren, folgte ihm. Das Fell des Tieres war halb

verbrannt, es schien starke Verletzungen zu haben.

Bodo erkannte trotz seiner eigenen Schwäche, daß es

nicht mehr lange leben würde. Aber der Wolf war zäh,

und wahrscheinlich verlieh ihm der Wunsch, seinen

toten Herrn zu rächen, die nötige Kraft, um sich auf

den Beinen zu halten.

Als Bodo stolperte und der Länge nach hinfiel,

versuchte er erst gar nicht mehr, sich noch einmal zu

erheben. Er blieb einfach liegen und erwartete den Tod.

Das Knurren des tödlich verletzten Wolfes kam immer

näher, und dann schlug ihm der übelriechende Atem

des Tieres ins Gesicht. Er öffnete die Augen halb und

sah das Raubtiergebiß über sich.

Gerade als der Wolf nach ihm schnappen wollte,

pfiff irgend etwas durch die Luft. Der Wolf

verschwand winselnd aus seinem Blickfeld. Bodo

Page 103: Die Horden der Nacht

stemmte sich mit letzter Kraft in die Höhe und sah zu

seinen Füßen das verendende Tier – ein Pfeil ragte aus

seiner Flanke.

Bodo verlor die Besinnung. Als er wieder halb zu

sich kam, war ihm, als schwanke der Boden unter ihm.

Eine frische Brise berieselte ihn. »Er lebt noch«, sagte

irgend jemand. Bodo sah einige verschwommene

Gestalten, die unruhig zu tanzen schienen. Aber das

bildete er sich bestimmt nur ein. Seltsame Geräusche

drangen an sein Ohr, als würde jemand in

regelmäßigen Abständen einen schweren Gegenstand

in Wasser tauchen. Dann ging eine Erschütterung

durch seinen Körper. Er fühlte sich emporgehoben und

klammerte sich unwillkürlich fest.

»Schon gut, mein Junge«, sagte eine beruhigende

Stimme zu ihm. »Du bist in Sicherheit.«

Wieder senkte sich Schwärze über seinen Geist.

Andere Stimmen drangen von Ferne zu ihm. »Was ist

mit ihm geschehen?« »Er wurde von einem Wolf

verfolgt. Wir konnten ihn im letzten Augenblick retten

... Es geschah nahe der Klippen ...«

»Habt ihr noch mehr Wölfe gesehen?«

»Nein.«

»Bringt ihn in meine Kabine. Er ist verwundet ... Wir

müssen ihn gesundpflegen ... Vielleicht kann er uns

Auskunft über die Vorkommnisse im Landesinnern

geben ...«

Page 104: Die Horden der Nacht

Die Stimmen verklangen, und Bodo war von

erlösender Stille umgeben.

Irgendwann später kam er wieder zu sich. Der erste

Eindruck war, daß der Boden unter ihm schwankte

und er in einen tiefen Abgrund zu fallen drohte. Er

klammerte sich verzweifelt fest und erkannte, daß er

auf einer weichen Unterlage lag; seine Hände fühlten

einen kühlen, glatten Stoff.

»Keine Angst, mein Junge«, sagte eine tiefe

Männerstimme, die ungewöhnlich sanft klang. »Du bist

auf meinem Schiff und hast nichts zu befürchten.«

Auf einem Schiff? Dann hatte er die Küste erreicht

und war in Sicherheit!

Er öffnete die Augen. Er erblickte in dem

Halbdunkel einige verschwommene Ovale, die die

Gesichter von Menschen sein mußten. Eines davon

begann sich langsam von den anderen abzuheben, und

als Bodos Blick wieder klar war, konnte er erkennen,

daß der Mann, der an seinem Lager saß, bis auf ein

graues Haarbüschel kahlköpfig war. Das etwas

dickliche Gesicht hatte einen gütigen und gleichzeitig

aufmerksamen Ausdruck.

»Ich bin Nabib, der Händler«, sagte der Fremde.

»Meine Leute haben dich nahe der Steilküste vor einem

Wolf gerettet und dich an Bord meines Schiffes

gebracht.«

Bodo schloß die Augen und krächzte:

Page 105: Die Horden der Nacht

»Durst ...«

Sofort wurde ihm ein Schlauch an die Lippen

gehalten, und er trank in schnellen, gierigen Zügen das

kostbare Naß.

»Ich heiße Bodo«, sagte er, nachdem er seinen Durst

gestillt hatte. Er sah den Mann, der sich Nabib nannte

an und fuhr fort: »Der Wolf, vor dem ihr mich

geschützt habt, war der letzte überlebende Gefährte

eines Wolfsmenschen, den ich getötet habe. Sicher hätte

er mich mit letzter Kraft in Stücke gerissen, wenn ihr

nicht rechtzeitig erschienen wäret. Ich danke euch ...«

Bodo verzog vor Schmerz das Gesicht, als er sich auf

seine verletzte Rechte stützen wollte.

»Leg dich wieder hin«, sagte Nabib. »Du bist

erschöpft und brauchst Ruhe. In einigen Tagen wird

dann deine Verletzung ausgeheilt sein.«

Nabib sah, wie sich der Mann, der noch nicht lange

aus dem Jünglingsalter heraus sein konnte, entspannte.

Hinter sich hörte er seinen Steuermann Valys sagen:

»Vielleicht hatte Gaidos nicht so unrecht. Wo ein

Wolf ist, werden bald mehrere sein. Sie tauchen nur in

Rudeln auf. Und wenn die Horden der Nacht in dieses

Gebiet vordringen, sind wir auf diesem Ankerplatz

nicht vor ihnen sicher ...«

Nabib brachte ihn mit einer Handbewegung zum

Schweigen. Wenn Valys in diesem Ton weitersprach,

würde er damit nur die mühsam wiederhergestellte

Page 106: Die Horden der Nacht

Ordnung an Bord zunichte machen.

»Fühlst du dich stark genug, meine Fragen zu

beantworten, Bodo?« erkundigte sich Nabib sanft.

»Mir geht es wieder besser«, murmelte Bodo und

nickte.

»Bist du den Horden der Nacht begegnet?« fragte

Nabib.

Bodos Augen weiteten sich vor Entsetzen, seine

Hände verkrampften sich in der Decke.

»Ich bin ihnen entkommen«, sagte er gehetzt. »Ich

war in ihrer Gewalt ... zusammen mit hundert anderen

Männern und Frauen. Ich konnte als einziger

entkommen, die anderen wurden geopfert. Es war

schrecklich ...«

»Wo war das?« fragte Nabib, der fühlte, wie sich die

Kälte seinen Rücken hinauf schlich.

»Keine zwei Tagesmärsche von hier«, antwortete

Bodo. »In Xanth, dem Ort des Blutes.«

»Kannst du uns sagen, wie stark die Horden der

Nacht sind?«

»Ein riesiges Heer«, murmelte Bodo mit

geschlossenen Augen. »Ich habe noch nie so viele von

ihnen an einem Ort gesehen. Ich wußte gar nicht, daß

es so viele Wolfsmenschen gibt ... und jeder von ihnen

hat zwölf Wölfe bei sich.«

»Befinden sie sich auf dem Weg zur Küste?« fragte

Nabib gespannt. Als Bodo nickte, zuckte er erschrocken

Page 107: Die Horden der Nacht

zusammen, und unter seinen Männern, die sich bei ihm

in der Kabine befanden, brach ein Tumult los.

Erst als Bodo hinzufügte, daß sie sich auf dem

Marsch zur Ostküste befanden und das enge Wasser

überqueren wollten, konnte Nabib seine Leute

beruhigen.

»Bist du sicher, daß sie nicht nach Süden kommen

werden?« fragte Nabib eindringlich. »Es könnte doch

sein, daß sie ihre Absicht ändern.«

Bodo schüttelte den Kopf.

»Sie gehorchen ihrem Gott, der ihnen befohlen hat,

das enge Wasser zu überqueren und die Ostländer zu

überfallen. Sie werden sich bereits auf dem Weg

dorthin befinden. Für die Völker jenseits des engen

Wassers wird eine furchtbare Zeit anbrechen ...«

Nabib war blaß geworden. Ihm fielen plötzlich die

uralten Weissagungen ein, die behaupteten, daß einmal

die Horden der Nacht über die östlichen Kulturen

herfallen und sie vernichten würden. Nabib hatte nie

recht an sie glauben wollen, aber jetzt erhielten sie eine

besondere Bedeutung, nicht nur weil sich die Horden

der Nacht nach Bodos Aussage bereits auf dem Marsch

nach Osten befanden.

Nabib war es nicht entgangen, daß Bodo von dem

Gott der Wolfsmenschen gesprochen hatte, als wäre er

seinen Geschöpfen am Ort des Blutes erschienen. Und

das ließ in Nabib einen furchtbaren Verdacht

Page 108: Die Horden der Nacht

erwachen ...

»Setzt sofort die Segel«, befahl er. »Wir stechen in

See.«

Valys starrte ihn entgeistert an.

»Aber das ist nun nicht mehr notwendig. Der Junge

hat selbst ausgesagt, daß die Horden der Nacht nicht in

dieses Gebiet kommen.«

»Valys hat recht«, pflichtete einer der anderen

Männer bei. »Wir können in dieser Bucht warten, bis

sich der Wind gedreht hat und wir nach Myra segeln

können.«

»Myra ist nicht mehr unser Ziel«, sagte Nabib,

innerlich fluchend, weil er nun den Traum von einem

gewinnbringenden Geschäft zerfließen sah. »Wir

müssen den günstigen Wind nützen, um so rasch wie

möglich nach Osten zu kommen, damit wir die

bedrohten Menschen rechtzeitig vor den Horden der

Nacht warnen können.«

Valys starrte ihn immer noch entgeistert an.

»Aber was wird dann aus deinen Geschäften?«

»Wem soll ich denn meinen Wein verkaufen, wenn

die Horden der Nacht alle niedermetzeln«, entgegnete

Nabib gereizt.

Darauf wußte der Steuermann nichts zu sagen. Er

konnte auch nicht wissen, daß Nabibs Sorge weniger

seinen gewinnträchtigen Geschäften, als seinem Freund

Dragon und dessen Getreuen galt.

Page 109: Die Horden der Nacht

Nabibs Verdacht bestätigte sich in einem weiteren

Gespräch mit Bodo. Aus der Erzählung des jungen

Mannes erfuhr Nabib alle Einzelheiten des grausamen

Rituals bei den Wolfssteinen und über den Auftritt des

Gottes der Wolfsmenschen.

Danach bestand für Nabib kein Zweifel mehr: Der

Wolfsgott konnte niemand anderer als Cnossos sein.

Und seine Aufforderung an die Horden der Nacht, gen

Osten zu ziehen, war ganz bestimmt nur gegen Dragon

gerichtet.

Für Nabib war Cnossos‘ Absicht klar. Der Gott der

vielen Namen hatte bisher unzählige Niederlagen im

Kampf gegen Dragon hinnehmen müssen. Nabib

wußte nicht, was sich in den letzten Wochen

zugetragen hatte, denn er verließ Dragon nach der

Besiegung von König Zogors Armee und kehrte nach

Thinayda zurück, um zu Hause nach dem Rechten zu

sehen.

Aber es war noch deutlich in seiner Erinnerung, wie

sich Cnossos nach dem Tod von König Zogor in

Geiergestalt und mit seinem Diener Urak in den

Krallen in die Lüfte erhoben hatte und in Richtung

Westen davongeflogen war. Niemand zweifelte daran,

daß Cnossos neue Mittel und Wege suchen würde, um

sich an Dragon zu rächen. Nabib hatte nun durch

Zufall erfahren, daß er sie in den Horden der Nacht

gefunden hatte.

Page 110: Die Horden der Nacht

Nach eingehender Befragung hatte Nabib von Bodo

erfahren, daß es sich dabei um etwa zweitausend

Wolfsmenschen und vierundzwanzigtausend Wölfe

handeln mußte. Fürwahr, eine Armee der

Unbesiegbaren, denn die Wolfsmenschen waren mit

herkömmlichen Waffen nicht zu töten.

Wenn man sie mit einem Schwert, einer Lanze oder

einem Pfeil traf, dann schloß sich die Wunde innerhalb

kürzester Zeit, ohne daß sie dadurch etwas von ihrer

Kraft einbüßten. Man konnte ihnen nur mit Silber

beikommen ...

Aber Dragons Heer war nicht mit Silberwaffen

ausgerüstet, weil niemand etwas von der drohenden

Gefahr ahnte. Wenn Dragon nicht rechtzeitig vor den

Horden der Nacht gewarnt wurde, dann war er

verloren.

Nabib stand in dieser Nacht am Ruder seines

Schiffes, weil er einfach keine Ruhe finden konnte. Er

hatte zu schlafen versucht, aber immer wenn er die

Augen schloß, verfolgten ihn die wildesten Träume,

die ihn schließlich schweißgebadet aufschrecken ließen.

Er sah Dragons Krieger, wie sie auf riesige Wölfe

einhieben, ihnen tiefe Wunden schlugen ... und dann in

wilder Panik flüchteten, als sie sahen, wie sich die

Wunden ihrer schrecklichen Gegner wieder schlossen

... Die Wölfe hetzten den Flüchtenden nach, töteten sie

und überfluteten das Land bis zum Ah‘rath. Dragon g

Page 111: Die Horden der Nacht

eschlagen – Cnossos, der auf den Trümmern der

östlichen Kultur seine Schreckensherrschaft antrat!

Soweit durfte es nicht kommen.

Wenn Nabib Bodos Zeit – und Entfernungsangaben

glauben durfte, dann waren die Horden der Nacht

noch fünf Tagesritte vom engen Wasser entfernt, das

ihr Land vom myranischen Reich trennte. Es würde

ihnen trotz ihrer Wasserscheu nicht schwerfallen, das

Meer an dieser Stelle zu übersetzen, weil es hier

unzählige kleinere Inseln gab, die ihnen sozusagen als

»Trittsteine« dienten. Außerdem würde Cnossos sie

beflügeln und ihnen die Angst vor dem Wasser

nehmen.

Da sich die Horden der Nacht kaum schneller als ein

Reiterheer fortbewegen würden, konnte man damit

rechnen, daß sie in fünf Tagen das enge Wasser

überquerten. Zwei weitere Tage würde es dauern, bis

sie die Grenze von Katmahzar erreichten.

Nabib konnte mit dem Schiff – wenn die Winde

weiterhin so günstig blieben – die Bucht der Kiesel, die

nur einen halben Tagesritt von der Grenze des

Amazonenlandes entfernt war, jedoch in zwei Tagen

erreichen. Er gewann gegenüber den Horden der Nacht

fünf Tage.

Wenn er sich rasch Pferde besorgte und ohne

Unterbrechung zu Dragons Heer durchritt, das sich zu

diesem Zeitpunkt bereits westlich von Eskis befinden

Page 112: Die Horden der Nacht

mußte, konnte er vielleicht noch einen Tag Vorsprung

herausholen.

Demnach konnte er sechs Tage vor den Horden der

Nacht zu Dragon stoßen. Aber ob dieser Vorsprung

ausreichen würde, daß Dragon genügend Silber

beschaffen und Waffen daraus schmieden lassen

konnte, das bezweifelte Nabib. Er konnte die Dinge

drehen und wenden wie er wollte, diesmal war

Cnossos hoch im Vorteil. Sechs Tage reichten einfach

nicht dazu aus, um ein Heer für einen Kampf gegen

zweitausend schier unverwundbare Wolfsmenschen

auszurüsten. Die Wölfe in ihrer Begleitung konnten

nach Bodos Aussage zwar mit herkömmlichen Waffen

besiegt werden. Aber immerhin waren es etwa

vierundzwanzigtausend an der Zahl und stellten

deshalb eine nicht zu unterschätzende Bedrohung dar.

Nabib fluchte leise.

Er mußte dennoch versuchen, Dragon wenigstens

rechtzeitig zu warnen, daß er sich auf die drohende

Gefahr vorbereiten konnte.

Zwei Tage noch, dann wurden sie die Bucht der

Kiesel erreichen – falls sich der Wind nicht plötzlich

drehte.

Nabib konnte den Zeitpunkt der Landung kaum

erwarten.

Page 113: Die Horden der Nacht

6.

Das Schiff hatte das Ziel viel früher als erwartet

erreicht. Nicht lange nach Sonnenaufgang ließ Nabib in

der Bucht der Kiesel den Anker werfen.

»Etwas stimmt hier nicht«, sagte der Händler aus

Thinayda, während er zum Strand hinüberblickte, wo

an die zwanzig Fischerhütten über die ganze Breite der

Bucht verstreut standen.

»Ich war schon einmal hier«, fuhr Nabib

nachdenklich fort. »Das war vor drei Sommern.

Damals wurde ich von den Fischern mit Jubel begrüßt.

Sie sind gesellige Leute ... Doch jetzt läßt sich keiner

von ihnen blicken. Die Bucht scheint wie ausgestorben,

kein einziges Boot ist zu sehen.«

»Vielleicht sind die Fischer vor den Horden der

Nacht geflüchtet?« vermutete Valys, der Steuermann.

Nabib schüttelte den Kopf.

»Sie können von der drohenden Gefahr noch gar

nichts wissen. Bodo war dabei, als der Gott der

Wolfsmenschen zum Sturm auf die Ostländer gerufen

hat. Die Kunde darüber kann ihnen nicht so weit

vorausgeeilt sein.«

»Das stimmt«, gab Bodo im recht. Er war in den

knapp zwei Tagen auf See wieder zu Kräften

Page 114: Die Horden der Nacht

gekommen. Nur der Verband auf seinem rechten

Oberarm wies auf seine Verwundung hin. »Es lag

ursprünglich nicht in der Absicht der Wolfsmenschen,

die Ostländer zu überfallen. Erst ihr Gott hat sie beim

Fest des Blutes dazu aufgefordert.«

Nabib zuckte die Achseln.

»Wie dem auch ist. Laß ein Boot zu Wasser, Valys,

und belade es mit fünf Weinwässern. Soviel werden

mich die Pferde schon kosten.«

»Willst du allein an Land gehen?« fragte Valys.

»Glaubst du, ich werde das Boot allein rudern?«

fragte Nabib zurück.

»Ich meinte aber ...«

»Ich weiß, was du meintest«, unterbrach Nabib

seinen Steuermann. »Aber ich brauche keine

Beschützer. Ich bin ein harmloser Händler. Wer sollte

mir etwas antun wollen? Außerdem wird Bodo mich

begleiten. Sein Arm ist wieder in Ordnung, daß er ein

Schwert fuhren kann.«

»Und was wird aus Gaidos?« wollte Valys wissen.

»Ihn nehme ich natürlich mit«, sagte Nabib. »Er hat

es auf das Schiff und die Fracht abgesehen. Und bei

allen Dämonen, wenn er an Bord bliebe, würde er die

Mannschaft zu einer weiteren Meuterei aufhetzen. Holt

diese Ratte herauf! Ich werde ihn in der Bucht

aussetzen.«

Die Männer verluden die Weinwasser ins Boot und

Page 115: Die Horden der Nacht

ließen es dann ins Wasser hinunter. Vier von ihnen

stiegen zu, um Nabib und Bodo an Land zu rudern.

Dann wurde Gaidos geholt. Er war an den Armen

gefesselt, und er verfluchte Nabib und alle anderen.

Nabib reichte seinem Steuermann die Hand zum

Abschied.

»Du wartest mit dem Schiff in der Bucht der Kiesel,

Valys. Wenn die Horden der Nacht auftauchen, dann

zieht euch weiter aufs Meer zurück. Dort wird euch

von ihnen keine Gefahr drohen. Wenn ich in fünfzehn

Tagen nicht zurück bin, dann könnt ihr auslaufen und

Kurs auf Myra nehmen.«

Nabib hatte seinen Steuermann schon vorher

darüber unterrichtet, was er zu tun hatte, so daß der

Abschied kurz ausfiel.

Der Händler kletterte vor Bodo über die Strickleiter

ins Boot hinunter und nahm im Heck Platz. Der

verräterische Gaidos saß im Bug.

Bodo stieß das Boot vom Schiff ab, die vier Männer

tauchten ihre Ruder ins Wasser und legten sich kräftig

in die Riemen.

»Wenn ich nur wüßte, was diese Stille zu bedeuten

hat«, murmelte Nabib vor sich hin, während sie sich

rasch dem Strand näherten.

»Die Stille ist unheimlich«, stimmte Bodo zu. Er

kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und

beobachtete die Fischerhütten. »Kein Anzeichen von

Page 116: Die Horden der Nacht

Leben. Aber es sind auch keine Spuren eines Kampfes

zu sehen. Die Hütten sind unversehrt, die Fischernetze

zum Trocknen aufgespannt ... Nur die Fischer selbst

und ihre Boote sind verschwunden ... Da!«

»Was ist?« erkundigte sich Nabib.

»Ich habe bei einer der Hütten eine Bewegung

gesehen«, behauptete Bodo aufgeregt. »Ich habe mich

bestimmt nicht geirrt. Bei der Hütte mit dem großen

Vordach war jemand.«

»Wir werden sehen«, sagte Nabib. Er blickte über

den Bootsrand ins Wasser. Als sie an eine seichte Stelle

kamen, wo ihm das Wasser höchstens bis an die Brust

reichte, befahl er den Ruderern:

»Halt! Wartet mit dem Boot hier draußen. Bodo und

ich werden uns an Land umsehen. Wenn wir in einen

Hinterhalt geraten, kehrt sofort zum Schiff zurück und

kommt mit Verstärkung wieder. Du, Gaidos, wirst uns

begleiten.«

Nabib ließ sich ins Wasser gleiten. Bodo kletterte auf

der anderen Seite aus dem Boot, watete bis zum Bug

und zog Gaidos am Kragen zu sich herunter.

»Ich wünsche dir die Pest auf den Hals, Nabib von

Thinayda!« schimpfte der Verräter, während ihn Bodo

vor sich her zum Ufer trieb.

Als sie an Land kamen, blieb Nabib stehen und

blickte sich um. Es lastete immer noch eine

unheimliche Stille über dem kleinen Fischerdorf,

Page 117: Die Horden der Nacht

nirgends war ein Anzeichen von Leben.

»Sieh einmal bei der Hütte nach, bei der du etwas

Verdächtiges gesehen hast, Bodo«, trug Nabib dem

jungen Mann aus dem Land der Wölfe auf.

Bodo zog sein Schwert und bewegte sich vorsichtig

auf die besagte Hütte zu. Er war darauf gefaßt, jeden

Augenblick von einem Pfeilhagel eingedeckt zu

werden. Aber nichts geschah. Er erreichte die Hütte

und verschwand darin. Kurz darauf drangen

Geräusche zu Nabib, und er sah, wie Bodo mit

jemandem herauskam.

»Ich habe nur diesen Alten hier gefunden«, rief

Bodo. »Er behauptet, allein zu sein.«

Nabib wandte sich dem Meer zu und rief seinen

Männern im Boot zu:

»Kommt an Land und ladet die Weinfässer aus.«

Dann stieg er, Gaidos vor sich herstoßend, zur

Fischerhütte hinauf, wo Bodo mit dem Alten wartete.

Sein Gesicht war über und über mit Runzeln bedeckt,

er sah aus, als hätte er schon hundert Sommer hinter

sich; sein Haar war gelichtet und so weiß wie der Sand

der Küste vor Thinayda, und die eingefallenen Lippen

ließen vermuten, daß kein einziger Zahn mehr in

seinem Mund war.

»Wie heißt du, Alter?« erkundigte sich Nabib,

nachdem er seinen Namen genannt hatte.

Page 118: Die Horden der Nacht

»Ich bin Ylzan«, sagte der Alte einsilbig; er zeigte

keine Angst.

»Wo sind die anderen Fischer?«

»Geflüchtet.«

»Wohin?«

»In das Lager der myranischen Krieger.«

»Vor wem sind sie geflüchtet?«

Der Alte schien etwas aufzutauen. Sein Adamsapfel

hüpfte auf und ab, während er erregt berichtete:

»Vor dem Weibervolk. Alle haben sie ihre Habe

zusammengepackt und sich in den Schutz der Krieger

begeben. Die Weiber benehmen sich wie verrückt.

Nach dem heiligen Monden des Gebärens trieben sie es

schon immer arg, und die jungen Burschen haben in

dieser Zeit gut daran getan, sich vor ihnen zu

verkriechen. Aber diesmal gebärden sie sich besonders

toll.«

Nabib konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Kannst du mir sagen, was der Grund für die

Tollheit der Amazonen ist, Ylzan?« erkundigte sich

Nabib. »Sind sie auf dem Kriegspfad? Oder feiern sie

eines ihrer Feste?«

»Dämonon allein mag wissen, was in sie gefahren

ist«, sagte der Fischer bitter. »Sie kommen in Scharen

über die Grenze ihres Landes, überfallen Siedler und

harmlose Wanderer und rauben und plündern. Sie

nehmen den Menschen dieses Landes alles bis auf das

Page 119: Die Horden der Nacht

Leben. Ich sage euch, daß sie Dämonen verfallen sind.

Warum sollten sie sonst selbst unsere Boote stehlen?«

»Die Amazonen haben eure Boote?«

Der Alte nickte.

»So wahr ich hier stehe.« Er nickte noch einmal mit

Nachdruck. »Meine Freunde hatten Angst, deshalb

begaben sie sich in den Schutz der Krieger. Aber deren

gibt es etwa nur zehn Hände voll, und wenn die

Weiber wollen, dann werden sie sie überrennen.«

»Hm«, machte Nabib. Das Verhalten der Amazonen

war in der Tat seltsam. Der Händler hätte sich denken

können, daß sie Dragon im Kampf gegen die Myraner

unterstützen wollten und deshalb die

Heeresstützpunkte dieses Landstriches bekriegten.

Aber warum sie harmlose Fischer überfielen, wollte

ihm nicht einleuchten. Und dann – warum

bemächtigten sich die Katmahzari-Kriegerinnen der

Fischerboote, wo sie doch so gut wie keine Seefahrer

waren?

»Nabib!«

Bodo stieß den Händler an und richtete sich mit

stoßbereitem Schwert auf. »Krieger!«

Nabib sah auf dem Hügelkamm hinter den

Fischerhütten eine Reiterschar auftauchen und glaubte

im ersten Augenblick, daß es sich um Amazonen

handelte. Doch beim zweiten Blick stellte er fest, daß es

myranische Krieger waren.

Page 120: Die Horden der Nacht

Er hob die Hände wie einen Trichter an den Mund

und rief den Männern beim Boot, die die Weinfässer

bereits ausgeladen hatten, zu:

»Kehrt zum Schiff zurück. Valys soll einstweilen

noch nichts unternehmen!«

Bodo stellte sich mit gezücktem Schwert den zehn

Reitern entgegen, die bereits die ersten Fischerhütten

erreicht hatten.

»Werden wir kämpfen, Nabib?« fragte er gelassen.

»Nein, das hätte wenig Sinn«, antwortete der

Händler. Er grinste breit. »Außerdem liegt kein Grund

vor. Alle sind unsere Freunde, mit denen wir Geschäfte

machen können – auch die Myraner.«

Bodo steckte sein Schwert weg, blieb jedoch

wachsam.

Die Reiter kamen von allen Seiten heran und

kreisten sie ein. Einer von ihnen, der als besonderes

Kennzeichen für seinen gehobenen Rang einen

Lederhelm mit einem bunten Federbusch darauf trug,

trieb sein Pferd in den Kreis hinein.

»Gehört ihr zu dem Schiff?« erkundigte er sich mit

befehlsgewohnter Stimme.

»Jawohl, mein Herr«, sagte Nabib demütig und

verneigte sich leicht. »Wir sind Händler von der

Weißen Küste, die sich auf dem Weg nach Myra

befanden und durch widrige Winde in die Bucht der

Kiesel verschlagen wurden.«

Page 121: Die Horden der Nacht

Der Anführer der myranischen Krieger deutete auf

die Fässer am Strand.

»Was ist da drin? Und warum sind deine Männer

mit dem Boot vor uns aufs Meer geflüchtet?«

»In den Fässern ist Wein«, antwortete Nabib und

verneigte sich wieder. »Wein für die siegreichen Heere

von König Zogor. Wenn der Herrscher des

myranischen Reiches im Triumpf von seinem Feldzug

heimkehrt, dann wollen wir ihn mit dem besten Wein

beschenken, der je auf den Hängen von Thinayda

gereift ist.«

Der Anführer wechselte einen schnellen Blick mit

einem seiner Männer, und Nabib fragte sich, ob die

Kunde von König Zogors Tod bereits bis zu ihnen

vorgedrungen war und ob sie sie auch glaubten.

Der Myraner verzog spöttisch den Mund und sagte:

»Wenn dieser Wein für das myranische Königshaus

bestimmt ist, warum hast du fünf Fässer davon an

Land bringen lassen? Gib mir Antwort und sprich die

Wahrheit! Sonst lasse ich dich von hier bis zu unserem

Stützpunkt schleifen – und das würde dich einiges von

deinem Fett kosten.«

Die Krieger lachten über den derben Scherz.

Nabib machte ein beleidigtes Gesicht und sagte:

»Ich bin nicht fett, Herr. Ich bin gewichtig, das

schon, aber ich achte stets darauf, daß ich kein Fett

ansetze.« Nabib zuckte zusammen, als der Myraner

Page 122: Die Horden der Nacht

eine drohende Bewegung machte und fuhr schnell fort:

»Ich antworte schon, Herr! Die fünf Weinfässer sind

der Preis für zwei Pferde. Da mein Schiff für

unbestimmte Zeit in der Bucht der Kiesel festliegt,

wollte ich auf dem Landweg nach Myra vorauseilen,

um ...«

»Er lügt!«

Niemand hatte Gaidos bisher beachtet, weil er sich

still verhalten hatte. Doch jetzt sprang er plötzlich auf

den Myraner zu und reckte ihm die gefesselten Hände

entgegen.

»Nabib ist ein Lügner, ein Verräter!« schrie Gaidos.

»Er ist ein Feind der Myraner und hat vor ...«

Weiter kam er nicht. Bodo war ihm nachgesprungen

und hieb ihm mit aller Kraft das Schwert gegen die

linke Seite.

Sofort sprangen einige Myraner aus den Sätteln,

entwaffneten Bodo und hielten ihn dann fest. Nabib

ließ sich widerstandslos gefangennehmen.

»Schafft sie ins Lager«, befahl der Anführer. Dann

fügte er hinzu: »Und nehmt die Weinfässer mit.«

Der myranische Kriegerstützpunkt stand auf der

Kuppe eines unbewaldeten Hügels und bestand aus

mehreren Lehmgebäuden, die den etwa fünfzig

Kriegern Unterkunft boten. Ein mannshoher steinerner

Wall zog sich um das Lager und gab ihm einen

Page 123: Die Horden der Nacht

festungsähnlichen Charakter.

Nabib stellte mit Kennerblick fest, daß diese

»Festung« nicht besonders wehrhaft war und im ersten

Ansturm einer Reiterei fallen würde. Wahrscheinlich

war es mit den Amazonen nie zu ernsthaften

Zwischenfällen gekommen, so daß die myranischen

Krieger keine Notwendigkeit sahen, ihren Stützpunkt

besser zu sichern.

Und noch etwas fiel dem Händler sofort auf: Es gab

nicht mehr als die zehn Pferde jener Reitergruppe, die

Bodo und ihn gefangengenommen hatte und

hierherbrachte. Die Pferde waren für die Myraner

wahrscheinlich so wertvoll, daß Nabibs gesamte

Weinladung nicht ausgereicht hätte, um sie zu kaufen.

Obwohl ihm der Anführer der Myraner – er hieß

Toryen – ihm angedroht hatte, ihn bis ins Lager zu

schleifen, hatte er ihn bei einem der Krieger aufsitzen

lassen, so daß sie noch vor Mittag das Lager erreichten.

Nabib schätzte, daß der westliche Stützpunkt der

Katmahzari, die Grenzstadt Ad‘zhari, höchstens einen

halben Tagesmarsch von hier entfernt war. Wenn ihm

die Flucht gelänge, dann könnte er es auch zu Fuß

schaffen, sich bis zu den Amazonen durchzuschlagen

und sie um Hilfe zu bitten. Er war überzeugt, daß der

Name Agrions, der Trägerin des Mondringes und

Nachfolgerin der regierenden Königin, genügend

Wirkung auf die Amazonen haben würde, so daß sie

Page 124: Die Horden der Nacht

ihm die Unterstützung sicherlich nicht verweigerten.

Während des ganzen Rittes hatte sich Nabib

überlegt, wie er flüchten könnte. Für ihn war jede

Stunde kostbar – jede Stunde, die er früher bei Dragons

Heer eintraf, konnte im bevorstehenden Kampf gegen

die Horden der Nacht entscheidend sein. Er hatte sich

einen Vorsprung von sechs Tagen errechnet, aber wenn

er sich noch länger in der Gefangenschaft der Myraner

befand, dann wurde nichts mehr daraus.

Als Nabib und Bodo mit ihren Häschern den

Stützpunkt erreichten, befanden sich außer den

myranischen Kriegern noch mindestens hundert

weitere Personen hier. Es handelte sich zumeist um

Fischer aus der Bucht der Kiesel, aber auch Hirten,

wandernde Händler und andere hatten sich hier vor

den Katmahzari in Sicherheit gebracht.

Nabib mußte seine Fluchtgedanken aufschieben. Der

Stützpunkt war so angelegt, daß man die Umgebung in

weitem Umkreis überblicken konnte. Jeder, der sich am

Tage nähern oder entfernen wollte, konnte von den

Wachtposten mühelos im Auge behalten werden. Aus

diesem Grunde würde sich Nabib bis zur Nacht

gedulden müssen – erst dann konnte er versuchen, von

hier zu entkommen.

Das hieß, falls ihn Toryen solange am Leben ließ.

Der Anführer der Myraner ließ Nabib jedoch wenig

Hoffnung.

Page 125: Die Horden der Nacht

Gleich nach ihrer Ankunft wurden Nabib und Bodo

an einen Pfahl gebunden. Eine Menge Schaulustiger

scharte sich um sie, als man ihnen die Kleider vom

Oberkörper riß und sich vor Ihnen ein

peitschenschwingender Hüne aufbaute.

Toryen kam zu Nabib und faßte nach dem silbernen

Amulett, das er an einer Silberkette um den Hals trug.

»Ein schönes Stück«, sagte der Myraner

anerkennend. »Woher hast du es, Nabib?«

»Es ist das Geschenk einer Fürstin, die bei mir Glück

und Liebe fand«, antwortete Nabib. »Es ist ein teures

Stück, und mir bedeutet es tausendmal mehr als sein

Silberwert. Aber ich wäre bereit, es gegen ein Pferd

einzutauschen.«

Ȇber diesen Handel sprechen wir erst, wenn du dir

dein Leben erkauft hast«, sagte Toryen.

»Solche unermeßlichen Schätze besitze ich nicht«,

meinte Nabib bedauernd.

Toryen grinste abfällig.

»Ich gebe dir dein Leben billiger, als du denkst. Du

brauchst mir nur zu verraten, was mir dein Gefangener

mitteilen wollte, bevor ihn dein junger Freund

meuchlings tötete. Er hat dich einen Verräter und einen

Feind der Myraner genannt.«

»Würde ich das eingestehen, dann wäre ich erst

recht ein toter Mann«, entgegnete Nabib. »So kann ich

dir nur versichern, daß Gaidos der Schurke war. Er

Page 126: Die Horden der Nacht

wollte mir mein Schiff stehlen. Aber anstatt ihn den

Haien vorzuwerfen, schonte ich sein Leben. Als Dank

dafür hat er mich dann bei dir verleumdet, Toryen.« Im

Gesicht des Myraners zuckte es.

»Wenn du nicht gestehen willst, werde ich dich die

Peitsche spüren lassen. Ich bin sicher, daß das deine

Zunge lösen wird. Dieser Gaidos wollte mir mitteilen,

daß du etwas vorhast. Was wollte er mir sagen.

Nabib? «

»Lügen«, behauptete Nabib. »Er wollte sich durch

schändliche Lügen seine Freiheit bei dir erkaufen.

Toryen.«

»Und deshalb mußte er sterben?«

»Er hat den Tod verdient.« Toryen sah dem Händler

fest in die Augen und sagte zischend:

»Zwanzig Peitschenhiebe.«

Er schob Nabib das große Silberamulett in den

Mund und meinte dazu:

»Beiße darauf, wenn der Schmerz für dich

unerträglich wird. Auf diese Weise behelfen sich die

Katmahzari, um die Geburtswehen lautlos zu ertragen.

Ich möchte keinen Laut von dir hören, Nabib! Wenn

auch nur ein Schrei über deine Lippen kommt, dann

lasse ich dir die Zunge abschneiden und beschaffe mir

die gewünschten Auskünfte von deinem jungen

Freund.«

Toryen trat zurück, und die Peitsche sauste heran.

Page 127: Die Horden der Nacht

Der geknotete Lederriemen schnellte wieder zurück,

erreichte Nabib ein zweites Mal und schnalzte wie eine

brennende Schlange über seine Brust.

Nabib schloß die Augen und grub seine Zähne in

das Silberamulett.

Durch den Schmerz, der durch seinen Körper zuckte

und sich lähmend auf seine Sinne legte, hörte er dumpf

die Stimme Bodos, der die Maraner mit wüsten

Beschimpfungen bedachte. Dann erstarb Bodos Stimme

und ging in einen Schmerzensschrei über.

Und wieder zog der geknotete Lederriemen eine

brennende Spur über Nabibs Körper. Er hatte

mitgezählt, es war der vierte Peitschenhieb. Als die

Peitsche das fünfte Mal über seinen Körper zuckte,

spürte er es kaum. Er dachte, daß er gegen den

Schmerz bereits unempfindlich sei – aber da raste er

plötzlich mit doppelter Heftigkeit durch seinen Körper.

Unwillkürlich öffnete er den Mund, das Amulett

entglitt seinen Zähnen, und ein Schrei löste sich aus

seiner Kehle.

Der bohrende Schmerz war mit einem Schlag

hinweggewischt. Stille senkte sich über Nabib.

Und in diese Stille hinein sagte Toryen:

»Ich bin ein Mann von Ehre und pflege mein Wort

zu halten.

Ich fordere deine Zunge, Nabib.«

Nabib sah starke Arme in seinem Blickfeld

Page 128: Die Horden der Nacht

auftauchen. Sie drückten seinen Kopf gegen den Pfahl

und hielten ihn fest umklammert. Jemand hielt ihm die

Nase zu, so daß er durch den Mund atmen mußte.

Dann krallte sich eine Hand in seinen Unterkiefer, zog

ihn gewaltsam herunter, und ein Ast wurde ihm

zwischen die Zähne gesteckt.

Nabib, gerade noch von Angst und Entsetzen

geschüttelt, spürte, wie eine seltsame Verwandlung mit

ihm vorging. Ruhe kehrte in ihn ein, die Angst

verschwand, als hätte es sie nie gegeben. Und er

dachte: Dann werde ich eben ein stummer Händler

sein, der seine Geschäfte in der Zeichensprache tätigt.

»Die Weiber greifen an!«

Der Ruf erscholl aus allen Richtungen, und so sehr

sich die Myraner bemühten, all ihre Verachtung in ihn

hineinzulegen, so klang doch die Ahnung von der

bevorstehenden Niederlage durch.

»Sie haben uns umzingelt und kommen von allen

Seiten herangeritten.«

Toryen ließ von Nabib ab und versuchte, Ordnung

in die Reihen seiner kopflos durcheinanderrennenden

Krieger zu bringen.

»Es sind viele! Zu viele! Zwei Hundertschaften ...

oder mehr!«

Nabib gelang es, sich des Astes zwischen seinen

Zähnen zu entledigen. Er blickte zu Bodo hinüber, der

wie verrückt an seinen Fesseln zerrte, und lächelte ihm

Page 129: Die Horden der Nacht

zu.

»Das ist unsere Rettung, Bodo«, sagte Nabib mit

schwerer Zunge.

Aber Bodo schien ihn nicht gehört zu haben. Er

versuchte weiterhin verzweifelt, sich aus eigener Kraft

von den Fesseln zu befreien.

Als die erste Reiterin über den Steinwall preschte,

schien ihr Anblick den jungen Jäger aus dem Wolfsland

zu lähmen. Er starrte sie aus großen, staunenden

Augen an, dabei erschien auf seinem Gesicht ein

Ausdruck der Ungläubigkeit.

»Frauen in Rüstungen, die reiten und kämpfen!«

entfuhr es ihm.

»Ist das so neu für dich?« erkundigte sich Nabib.

»Ich habe von ihnen gehört, aber noch keine von

ihnen mit eigenen Augen gesehen«, sagte Bodo,

während er zwischen den Kriegerinnen hin – und

herblickte, die nun in Scharen in die Festung

hereinströmten und die Myraner einfach überrannten.

Und mit einem bewundernden Unterton fügte er

hinzu: »Sie kämpfen wie die Männer.«

»Sie sind tapferer und gnadenloser«, fügte Nabib

hinzu.

Ja, gnadenlos, das waren sie. Sie töteten alle

Myraner, die sich ihnen mit der Waffe entgegenstellten.

Die Fischer, Hirten und Händler, die unbewaffnet

waren oder die Waffen gestreckt hatten, wurden auf

Page 130: Die Horden der Nacht

einem freien Platz zwischen den Hütten

zusammengedrängt.

»Mein Schwert!« schrie Bodo wütend. »Ich will mit

der Waffe in der Hand sterben, ehe ich mich von

Weibern gefangennehmen lasse.«

»Für uns besteht keine Gefahr«, erklärte ihm Nabib.

»Die Katmahzari sind unsere Freunde.«

»Freunde?« wiederholte Bodo fassungslos.

»Ja«, bestätigte Nabib. »Dragon hat sich mit ihnen

gegen die Myraner verbündet. Jetzt sind wir gerettet,

Bodo. Die Katmahzari werden uns Pferde, Ausrüstung

und Waffen geben ...«

Nabib unterbrach sich, als eine Kriegerin

herangeritten kam und keine zwei Schritte vor ihm aus

dem Sattel sprang. Ihn beachtete sie überhaupt nicht,

sondern hatte nur Augen für sein Amulett. Sie griff

danach und riß es ihm mit einer heftigen Bewegung

vom Hals.

»Wir sind froh, daß ihr endlich gekommen seid«,

sagte Nabib verwirrt. Als sich die Kriegerin wieder von

ihm abwandte, rief er ihr nach:

»Befreie uns von unseren Fesseln. Wir sind Freunde

Agrions, der Trägerin des Mondrings ...«

Nabib verstummte. Ohne sich noch einmal nach

ihnen umzudrehen, schwang sich die Amazone in den

Sattel und ritt mit ihrer Beute davon.

»Obwohl die Kriegerinnen unsere Freunde sind,

Page 131: Die Horden der Nacht

würde ich mich jetzt mit einem Schwert in der Hand

wohler fühlen«, meinte Bodo mit einer Mischung aus

Spott und Wut.

Nabib schüttelte den Kopf.

»Ich verstehe das einfach nicht ...«

7.

Nabib und Bodo wurden von ihren Fesseln befreit und

zu den anderen getrieben, die in der Festung Zuflucht

gefunden hatten. Ein altes Fischerweib erbarmte sich

des Händlers und behandelte seine Peitschenstriemen

mit Fischtran und Kräuterpulver. Die Alte erinnerte ihn

irgendwie an Iwa, die die Amme von Amee und Ada

war und sich ebenfalls auf Heilkräuter verstand.

Bodo kniete neben Nabib und sprach eindringlich

auf ihn ein.

»Die Sonne wird bald untergehen, dann müssen wir

die Flucht versuchen.«

Der Händler schüttelte den Kopf.

»Die Amazonen sind unsere Freunde, auch wenn es

im Augenblick nicht so aussieht. Ich bin sicher, daß sie

uns aus freien Stücken ziehen lassen und uns sogar

noch Pferde zur Verfügung stellen.«

»Ich sehe, dein Geist ist verwirrt«, meinte der junge

Page 132: Die Horden der Nacht

Mann aus dem Wolfsland mitleidig. »Du bist auch zu

schwach, um den beschwerlichen Ritt in den Süden zu

überstehen. Ich werde allein gehen.«

Nabib griff nach Bodos Arm.

»Mach keine Dummheiten, mein Freund«, sagte er

beschwörend. »Du darfst die Katmahzari nicht

unterschätzen. Sie würden dich nicht weit kommen

lassen. Es ist besser, wenn du mir vertraust. Früher

oder später wird sich mir die Gelegenheit bieten, mit

einer der Anführerinnen zu reden.«

Die alte Fischerin, die dem Gespräch der beiden

bisher unbeteiligt gelauscht hatte, meldete sich nun zu

Wort.

»Ihr braucht um euer Leben nicht zu bangen, wenn

ihr keine Myraner seid«, sagte sie. »Die Kriegerinnen

töten nur die Getreuen von König Zogor. Man sagt,

daß der König im Kampf gegen den jungen Gott aus

dem Schrein gefallen ist und die Kriegerinnen

Myranien für sich erobern läßt.«

»Es stimmt – wenigstens zum Teil«, erwiderte

Nabib, der Erleichterung darüber empfand, daß die

Kunde von Dragons Siegeszug und König Zogors Tod

bereits bis in die nördlichen Gebiete vorgedrungen

war. »König Zogor ist tot, und Dragon wird der neue

König von Myranien sein. Ist das der Grund, warum

sich die Katmahzari fast so wie die Horden der Nacht

gebärden?«

Page 133: Die Horden der Nacht

Die Alte zuckte bei diesen Worten zusammen und

murmelte schnell einige Beschwörungen.

»Die Götter mögen uns vor diesen Scheusalen

beschützen«, sagte sie dann. »Vielleicht glauben die

Kriegerinnen daran, daß sich die alten Weissagungen

erfüllen und plündern deshalb das Land, um den

Horden der Nacht keine Beute zu überlassen. Wer weiß

das schon? Wir sind arm, aber die Katmahzari nehmen

uns das wenige, das wir noch besitzen. Sie haben es vor

allem auf Pferde und Schmuck abgesehen.«

»Das habe ich gemerkt«, sagte Nabib und griff sich

unwillkürlich an den Hals, wo er das silberne Amulett

getragen hatte.

Plötzlich merkte er, daß die Geräusche rings um sie

erstarben. Selbst die alte Fischerin verstummte; sie

erhob sich und verschwand schnell in der Menge. Als

Nabib sich aufrichtete, sah er, wie sich ihnen vier

Kriegerinnen in vollem Kriegsschmuck näherten. Eine

von ihnen hielt das Silberamulett in der Hand, deutete

damit auf Nabib und redete leise auf eine andere

Kriegerin ein, die einen höheren Rang zu bekleiden

schien.

Nabib lächelte Bodo zu und meinte erleichtert:

»Jetzt trägt er Früchte, daß ich Agrions Namen

genannt habe. Du wirst sehen, in wenigen

Augenblicken sind wir freie Männer und werden uns

der Unterstützung der Katmahzari erfreuen.«

Page 134: Die Horden der Nacht

Die Anführerin der Katmahzari blieb vor ihm

stehen. Sie war groß und breit, mit festen muskulösen

Schenkeln, die dornenbewehrten Brustplatten spannten

sich über ihrem prallen Busen. Ihre Arme und Beine

waren behaart, und auch auf ihrer Oberlippe

kräuselten sich etliche dunkle Barthaare. Sie war das,

was man gemeinhin unter einem Mannweib verstand.

»Wer bist du?« fragte sie mit tiefer Stimme.

»Ich bin Nabib von Thinayada«, antwortete Nabib,

während er sich schnell erhob. Er ging der Amazone

bis knapp an die Schultern.

»Ich bin Händler ...«

Sie unterbrach ihn mit einer Handbewegung.

»Wie bist du in das Gebiet von Sapca gekommen?«

»Mit meinem Schiff«, antwortete Nabib

wahrheitsgetreu. Er erzählte ihr, daß er sich auf der

Fahrt nach Myra befunden hatte und Wein geladen

hatte. Bevor er auf das Zusammentreffen mit Bodo und

dessen Erzählung über die nach Osten stürmenden

Horden der Nacht zu sprechen kommen konnte,

schnitt sie ihm wieder mit einer Handbewegung das

Wort im Munde ab.

Sie betastete sein zerschlissenes Gewand und meinte

dann anerkennend:

»Das ist ein teurer Stoff. Du mußt ein reicher

Händler sein, wenn du solch kostbare Kleider trägst.«

»Es ist mir schon besser gegangen«, entgegnete

Page 135: Die Horden der Nacht

Nabib. Er deutete auf die Kriegerin, die ihm das

Silberamulett abgenommen hatte und fuhr fort: »Hat

sie dir nicht meine Botschaft überbracht? Ich bin ein

Freund von Agrion, der Trägerin des Mondringes. Ich

befinde mich auf dem Weg nach Süden, um ihr eine

wichtige Nachricht zu überbringen. Es geht um die ...«

»Als Händler bist du sicher weit gereist«, unterbrach

ihn die bärtige Katmahzari, »und hast wohl auch den

Namen der Trägerin des Mondringes gehört.«

»Ich kenne Agrion nicht nur vom Hörensagen,

sondern habe Seite an Seite mit ihr gegen die dunklen

Wächter des Gottes mit den vielen Namen und gegen

Zogors Krieger gekämpft«, berichtete Nabib.

»Agrions Freunde sind alle im Süden«, sagte die

Katmahzari. Sie betrachtete ihn lauernd und fragte:

»Oder besitzt du etwas, das ein Beweis für ein

Freundschaftsbündnis mit unserer zukünftigen

Königin ist?«

»Ich trage nichts am Leibe, mit dem ich dir meine

Freundschaft zu Agrion belegen könnte«, meinte Nabib

bedauernd. »Aber ich könnte dir Dinge über sie

erzählen, die nur der weiß, der lange an ihrer Seite

gelebt hat.«

»Du könntest mir viel erzählen, um dein Leben zu

retten«, entgegnete die Katmahzari. »Aber wenn du

wirklich lange Zeit mit der Trägerin des Mondringes

beisammen warst, dann müßtest du irgend etwas

Page 136: Die Horden der Nacht

besitzen, das an sie erinnert.«

Nabib sah hier seine Chance, seine Lage zu

verändern.

»Ich besitze Aufzeichnungen über die Zeit mit

Agrion und ihren Freunden«, sagte Nabib schnell.

»Aber die befinden sich alle auf meinem Schiff.«

»Dann wirst du sie von dort holen«, beschloß die

Katmahzari. »Wir werden dich zu deinem Schiff

geleiten.«

Nabib verstand in diesem Augenblick noch nicht,

warum die Kriegerin den mühevollen Weg zur Bucht

der Kiesel auf sich nehmen wollte, nur um an seine

persönlichen Aufzeichnungen heranzukommen. Aber

er grübelte nicht darüber nach. Ihm war es nur recht so,

denn wenn ihm die Katmahzari auch dann nicht

glauben wollten, so besaß er die Hoffnung, daß ihn

seine Männer aus dieser mißlichen Lage notfalls mit

Gewalt befreien würden.

Als sie in der Bucht der Kiesel eintrafen, erkannte

Nabib plötzlich, daß es den Katmahzari nicht bloß um

seine persönlichen Aufzeichnungen ging. Aber da war

es bereits zu spät.

Die bärtige Kriegerin hatte ihn und Bodo mit einer

zehnköpfigen Reiterschar in eine Bucht gebracht, die

westlich vom Landeplatz seines Schiffes lag. Und dort

entdeckte Nabib die von den Amazonen geraubten

Page 137: Die Horden der Nacht

Fischerboote. Es waren vierzehn Stück, und jedes war

mit Kriegerinnen voll besetzt.

Die vierzehn Boote liefen alle aus und verteilten sich

über die gesamte Breite der schmalen Meerenge, so daß

Nabibs Schiff der Rückweg aufs offene Meer

abgeschnitten war.

Nabib und Bodo befanden sich mit der bärtigen

Katmahzari in einem Boot.

»Ihr werdet euch vollkommen ruhig verhalten«,

trug sie ihnen auf, während die vierzehn Boote fast

lautlos auf das wie ein dunkler Fels aufragende Schiff

zustrebten. »Wenn es einer von euch wagt, auch nur

einen Warnlaut von sich zu geben, dann schneide ich

ihm die Kehle durch!«

Das war durchaus ernst zu nehmen.

Nabib schluckte und sagte: »Warum sollte ich meine

Leute warnen? Ihr seid unsere Freunde und wollt doch

in friedlicher Absicht auf mein Schiff.«

Die Anführerin der Amazonen lächelte und meinte:

»Das wirst du deinen Männern auch zum richtigen

Zeitpunkt vermelden, daß wir Freunde sind und sie

nicht zu den Waffen greifen zu brauchen.«

»Sie wollen uns überrumpeln, Nabib!« rief Bodo mit

verhaltener Wut aus. »Merkst du denn nicht ...«

Weiter kam er nicht, denn die bärtige Katmahzari

hieb ihm den Knauf ihres Kurzschwertes über den

Schädel. Bodo brach stöhnend zusammen.

Page 138: Die Horden der Nacht

»Nur ruhig Blut, mein Freund«, redete Nabib ihm

zu, als er merkte, daß Bodo Anstalten machte, sich auf

die Kriegerin zu stürzen. »Es ist keine Schmach, von

einer Katmahzari besiegt zu werden.«

»Mund halten, Dicker!«

Nabib verstummte gehorsam. Die Boote mit den

etwa hundert Kriegerinnen waren höchstens noch

fünfzig Mannslängen von seinem Schiff entfernt, als

ihm die Anführerin befahl:

»Verständige jetzt deine Männer von unserem

Kommen. Aber vergiß nicht, ihnen mitzuteilen, daß für

sie kein Grund besteht, zu den Waffen zu greifen.«

»So sicher bin ich nun gar nicht mehr«, wagte Nabib

einzuwenden.

»Du wirst tun, was ich von dir verlange, oder ...«,

die Katmahzari vollendete den Satz nicht, so daß es

Nabibs Einfallsreichtum überlassen blieb, was mit ihm

geschehen würde, falls er sich den Befehlen

widersetzte.

Er hob die Hände an den Mund und rief:

»Ahoi! Valys, hier ist Nabib! Ich befinde mich in

Begleitung von Katmahzari-Kriegerinnen.«

»Ahoi, Nabib!« ertönte Valys‘ Stimme vom Schiff.

»Ich habe die Boote schon längst entdeckt. Wir sind

vorbereitet. Die Weibsteufel sollen nur kommen!«

In diesem Augenblick wurden an Bord einige Feuer

entzündet und eine Reihe brennender Ölfackeln flogen

Page 139: Die Horden der Nacht

in hohem Bogen auf die Schiffe zu. Als sie auf das

Wasser auftrafen, erloschen sie nicht, sondern brannten

weiter. In ihrem Schein boten die Boote ein gutes Ziel

für die Bogenschützen.

Nabib spürte das kalte Eisen eines Dolches in

seinem Nacken und rief schnell:

»Nicht schießen, Valys. Die Kriegerinnen kommen

in Freundschaft. Ich bin nicht ihr Gefangener, sondern

ihr Gast.«

»Und für deine Freilassung verlangen sie wohl ein

Lösegeld!« rief Valys voll Hohn.

»Ihr dürft trotzdem den Kampf nicht eröffnen«, rief

Nabib zurück, als sich der Druck des Dolches

verstärkte.

»Es wird sich alles auf friedlichem Wege beilegen

lassen.«

Obwohl Nabib jetzt nicht mehr so recht daran

glauben wollte, hoffte er dennoch, daß Valys seine

Anordnungen befolgte. Irgendwann würde sich das

Mißverständnis schon noch aufklären.

Valys behielt einen kühlen Kopf. Die Boote legten

beim Schiff an, ohne daß von dort auch nur ein einziger

Pfeil abgeschossen worden wäre. Die Kriegerinnen

kletterten nicht gerade geschickt über Enterseile und

das Tauwerk des Schiffs die Bordwand hinauf.

Nabib lauschte von unten den Geräuschen. Er hörte

die Männer fluchen und schimpfen, stellte aber

Page 140: Die Horden der Nacht

erleichtert fest, daß kein Kampflärm ertönte. Als er als

einer der letzten an Bord kam, sah er, daß seine Leute

im Mittelschiff zusammengedrängt worden waren,

während die Mehrzahl der Amazonen sie in Schach

hielt. Andere Kriegerinnen waren in den Schiffsbauch

hinuntergestiegen.

»Wir wären lieber im Kampf gefallen, als uns in die

Gefangenschaft dieser Weibsteufel zu begeben«, sagte

Valys vorwurfsvoll.

»Wer redet von Gefangenschaft«, sagte Nabib in

Richtung der Anführerin. »Wir sind Freunde der

Katmahzari. Sie sind nur an Bord gekommen, um sich

davon zu überzeugen. Dafür habe ich das Wort ihrer

Anführerin.«

Die bärtige Kriegerin hatte dafür nur ein abfälliges

Lächeln übrig. Eine Amazone kletterte aus einer Luke

an Deck und berichtete ihr:

»Die Laderäume sind voll mit Fässern. Es scheint

sich um Wein zu handeln. Weinfässer und nichts als

Weinfässer!«

Die bärtige Katmahzari gab eine Reihe von Flüchen

von sich, die selbst die Seemänner erröten ließ und

befahl: »Sucht weiter.«

Nabib grinste.

»Ich habe dir doch erklärt, daß ich nur Wein geladen

habe. Davon könnt ihr haben, soviel ihr wollt. Welche

Beute hast du dir denn erwartet?‘ Nabib war schon

Page 141: Die Horden der Nacht

beim Anblick der mit Kriegerinnen besetzten

Fischerboote klargeworden, daß die Katmahzari

keineswegs an seinen Aufzeichnungen über die Zeit

mit Agrion interessiert war, sondern nur daran dachte,

sein Schiff zu plündern.

Jetzt zeigte sie offen ihre Enttäuschung darüber, daß

ihre Kriegerinnen nur auf eine Ladung Weinwässer

stießen. Sie wandte sich Nabib wütend zu und sagte:

»Man sieht es deiner Kleidung an, daß du ein reicher

Händler bist. Wo hast du deine Schätze versteckt? Zeig

mir, wo du deine Reichtümer verborgen hast, dann

lasse ich dich mit deinem Schiff ziehen. Wenn du sie

mir vorenthalten willst, dann wirst du vom höchsten

Mast deines Schiffes baumeln.«

»Ich habe keine Schätze an Bord«, erklärte Nabib,

und es entsprach der Wahrheit. »Ich habe Besitztümer

an der Weißen Küste, dieses Schiff und eine Ladung

Wein. Schätze aber wirst du auf diesem Schiff keine

finden. Welch Narr wäre ich, wenn ich Gold und Silber

mit mir führen würde!«

Die Katmahzari hielt ihm drohend den Dolch ans

Kinn.

»Silber«, sagte sie, als hätte das Wort für sie eine

magische Bedeutung. »Ich will alles Silber, das du auf

deinem Schiff hast.«

»Silber?« wiederholte Nabib und starrte die

Anführerin der Katmahzari an. Er dachte daran, daß

Page 142: Die Horden der Nacht

die Horden der Nacht nur mit Waffen aus diesem

kostbaren Metall zu bekämpfen waren, und eine

Ahnung überkam ihn, die die Raubzüge der

Amazonen plötzlich in einem ganz anderen Licht

erscheinen ließen.

Er sagte bedächtig und ohne die Kriegerin aus den

Augen zu lassen:

»Ich wünsche mir, daß ich hundert Pferdelasten in

Silber hätte, dann würde ich daraus Waffen für

Dragons Krieger schmieden lassen, damit sie sich der

Horden der Nacht erwehren könnten.«

Die Katmahzari packte ihn an den Oberarmen.

»Wer hat dir gesagt, daß wir das Silber für diesen

Zweck benötigen?« herrschte sie ihn an.

Damit war für Nabib das Verhalten der Amazonen

endgültig klar.

Dieses Wissen befriedigte ihn zutiefst, aber es

reichte nicht aus, um ihm zur Freiheit zu verhelfen.

Die Amazonen hatten die Seeleute von Bord geholt

und sie in den leerstehenden Fischerhütten

untergebracht.

Nabib teilte eine der Hütten mit Bodo und Valys.

Er hatte alles mit sich geschehen lassen und seinen

Leuten aufgetragen, keinen Widerstand zu leisten. Jetzt

saß er in Gedanken versunken an einem Fenster der

Page 143: Die Horden der Nacht

Hütte und starrte auf die Bucht hinaus. Der

abnehmende Mond spiegelte sich auf der glatten

Oberfläche des Wassers, die nur dann in Unruhe geriet,

wenn eines der Boote, beladen mit den Weinfässern,

zum Ufer gefahren kam. Nabib hatte die wildesten

Vermutungen das Verhalten der Amazonen betreffend,

aber sie befriedigten ihn allesamt nicht. Für ihn stand

nur fest, daß die Katmahzari mit dem Überfall der

Horden der Nacht rechnen mußten, denn sonst würden

sie nicht so sehr darauf versessen sein, Silber zu horten,

um Waffen daraus zu schmieden.

Es war klar, daß ihre Raubzüge nur dem Zweck

dienten, Silber zu beschaffen!

Der Händler hätte sich gerne mit der Anführerin der

Amazonen unterhalten, um sie davon zu unterrichten,

daß die Horden der Nacht sich bereits dem engen

Wasser näherten, wo sie nach Myranien übersetzen

wollten. Aber die bärtige Katmahzari hatte sich nicht

mehr blicken lassen. Es schien fast so, als ginge sie ihm

und seinen Männern aus dem Weg. Einen Grund dafür

konnte sich Nabib nicht denken.

Bodo und Valys unterhielten sich gedämpft

miteinander, aber Nabib konnte jedes ihrer Worte

verstehen.

»Er hat vollkommen den Verstand verloren«, sagte

Valys im Brustton der Überzeugung. »Anstatt sich

gegen die Willkür der Weibsteufel aufzulehnen, hockt

Page 144: Die Horden der Nacht

er nur da wie ein Götze, der seine Zauberkraft verloren

hat.«

»Er hofft immer noch auf Gnade«, meinte Bodo

abfällig. »Ich habe ihn ganz anders eingeschätzt. Als

ich zum erstenmal in seine Augen blickte, da glaubte

ich, daß er ein Kämpfer sei. Aber jetzt erkenne ich, daß

er ein Schwächling ist, der lieber in Armut lebt, als in

Glorie zu sterben.«

»So verwerflich, wie du es darstellst, ist das gar

nicht«, mischte sich Nabib ein. »Nicht zufällig leben

zumeist die weisesten Männer in Armut.«

Bodo wandte sich ihm wütend zu.

»Soll ich dir ins Gesicht sagen, was du bist, Nabib?«

Nabib zeigte ihm ein feines Lächeln.

»Sage es lieber nicht. Ich erkenne eure Absicht, aber

es wird euch nicht gelingen, mich zu irgendeiner

unsinnigen Handlung zu reizen.«

»Du nennst es einen Unsinn, gegen diese

Weibsteufel um unser Leben zu kämpfen!« rief Valys

aufgebracht. »Was warst du früher für ein Kerl, Nabib

– und was für ein erbärmlicher Feigling ist aus dir

geworden. Laßt dich von Frauen im Harnisch

ängstigen.«

»Still«, herrschte Nabib ihn an. »Wir bekommen

Besuch.«

Drei Katmahzari näherten sich ihrer Hütte. Sie

blieben vor dem Eingang stehen. Eine der Kriegerinnen

Page 145: Die Horden der Nacht

nahm eine der beiden dort aufgepflanzten Fackeln an

sich und trat ein.

Sie war noch ziemlich jung und wirkte viel

weiblicher als die meisten Katmahzari. Im Schein der

Fackel sah Nabib, daß ihr herbes Gesicht von exotischer

Schönheit war. Sie beachtete die beiden anderen

überhaupt nicht, sondern hatte nur Augen für Nabib.

Plötzlich lächelte sie, und die Härte verschwand

vollkommen aus ihrem Gesicht.

»Ich bin Grisha«, sagte sie. »Erkennst du mich nicht

wieder, Nabib?«

Der Händler sprang auf die Beine, wollte einen

Schritt auf sie zumachen, überlegte er es sich dann aber

anders. Bei den Amazonen konnte man nie wissen; ein

freundliches Lächeln bedeutete noch lange nicht, daß

sie den Dolch im Gürtel ließen.

»Verzeih mir, schöne Kriegerin, wenn mir meine

Erinnerung nichts über dich aussagt«, kam es

schmeichelnd über seine Lippen. »Aber allein, daß du

mich kennst und keinen Zweifel über meine Person

hast, läßt mein Herz höher schlagen. Denn es bedeutet,

daß du deinen Gefährtinnen bestätigen kannst, daß ich

ein Freund Agrions bin. Aber willst du meinem

Gedächtnis nicht nachhelfen und mir verraten, woher

du mich kennst?«

»Ich komme von Agrion«, sagte die Katmahzari.

»Ich war unter den vierhundert Kriegerinnen, die mit

Page 146: Die Horden der Nacht

Prinzessin Jnessa als Vorhut der großen Streitmacht in

das Gebiet von Urgor entsandt wurden. Jnessa machte

mich zur Wächterin von Agrion. Jetzt ist die Prinzessin

tot, und ich gehorche dem Befehl der Trägerin des

Mondrings.«

»Den Windgöttern sei Dank, daß sie dich nach hier

verweht haben«, pries Nabib sein Schicksal.

Die Amazone lächelte.

»Es waren nicht die Götter, die mich nach hier

verschlagen haben, sondern Agrion hat mich

ausgeschickt. Ich habe den Auftrag, alles erreichbare

Silber zusammenzutragen und Waffen für den Kampf

gegen die Horden der Nacht daraus schmieden zu

lassen.«

Nabib hatte ihr staunend gelauscht, aber was er jetzt

hörte, verschlug ihm die Sprache. Es dauerte eine

Weile, bis er sich gefaßt hatte und sagen konnte:

»Dann weiß Dragon von der drohenden Gefahr! Wie

hat dieser Teufelskerl nur herausgefunden, daß sich die

Horden der Nacht zum Sturm auf Myranien rüsten? Er

muß es gewußt haben, noch bevor Cnossos den

Wolfsmenschen den Befehl dazu gab.«

»Du sprichst, als hättest du Gewißheit«, sagte die

Kriegerin stirnrunzelnd. »Deinen Worten nach zu

schließen, haben sich die Weissagungen erfüllt, und die

Horden der Nacht befinden sich bereits auf dem Weg

nach Osten.«

Page 147: Die Horden der Nacht

Nabib deutete auf Bodo, der wie erstarrt dahockte

und Crisha nicht aus den Augen ließ.

»Er hat es mit erlebt, als die Wolfsmenschen zu

ihrem Feldzug gegen die Ostländer aufbrachen.« Er

hielt inne und sah die Kriegerin überrascht an. »Aber

warum bezweifelst du das, wo du hier bist, um Waffen

aus Silber schmieden zu lassen? Wenn Dragon die

Bedrohung ernst nahm, so hast du keinen Grund zu

zweifeln.«

»Dragon ist ein Narr«, sagte die Kriegerin voll

Überzeugung. »Er hat alle Warnungen in den Wind

geschlagen. Es war Agrion, die von dem Hirten Sardak

die Geschichte über die Horden der Nacht erfuhr und

sich der alten Weissagungen erinnerte. Sie war es, die

mich ohne Dragons Wissen ausschickte, um

Silberwaffen schmieden zu lassen.«

»Demnach weiß Dragon noch gar nicht, daß sich die

Horden der Nacht bereits auf den Weg gemacht haben

und bald das enge Wasser erreichen werden«, meinte

Nabib. »Agrions Maßnahme beruht einzig und allein

auf den alten Weissagungen ...«

»... und auf der Warnung des Hirten Sardak«, fügte

Grisha hinzu.

Nabib nickte.

»Ich dachte schon, daß all meine Mühen umsonst

gewesen seien. Aber jetzt merke ich, daß ich nicht

umhin kann, Dragon doch zu warnen. Was nützen all

Page 148: Die Horden der Nacht

die Silberwaffen, wenn Dragon nicht ahnt, wie nahe

die Gefahr bereits ist. Ich muß zu ihm reiten. Bekomme

ich von dir zwei Pferde, Grisha?«

»Du bekommst die besten Pferde – aber erst

morgen«, sagte sie.

»Aber wenn ich bis morgen warte, verlieren wir

zuviel Zeit«, erklärte Nabib.

»Ich werde dir den gegenwärtigen Standort von

Dragons Heer verraten, so kannst du auf geradem Weg

zu ihm reiten und die verlorene Zeit gutmachen«,

entgegnete Grisha. »Ich sehe dir an, wie abgekämpft du

bist. So würdest du nicht weit kommen.«

Nabib mußte ihr beipflichten. Es war sicher besser,

wenn er die Nacht durchschlief und sich am nächsten

Morgen ausgeruht auf den Weg machte.

»Läßt du auch meine Männer frei?« wollte Nabib

wissen.

»Meine Kriegerinnen können es kaum mehr

erwarten. Ich muß dir gestehen, Nabib, daß sie deine

Weinfässer angezapft haben ... Übrigens ein

vorzüglicher Wein.«

»Das Beste, das je auf den Hängen von Thinayda

gereift ist«, versicherte Nabib etwas wehmütig, weil es,

bei aller Freundschaft, sein Händlerherz zutiefst

schmerzte, zusehen zu müssen, wie sein Wein die

durstigen Kehlen der Katmahzari hinunterfloß und mit

dem Wein auch die Gewinnspanne immer geringer

Page 149: Die Horden der Nacht

wurde.

ENDE

Während Dragon in Richtung Myra zieht, nähert sich

unaufhaltsam von Nordwesten her, aus dem Land der

Wolfsmenschen kommend, eine unheimliche Armee.

Es sind die Horden der Nacht mit ihren vierbeinigen

Kampfgefährten. Cnossos, ihr Herr und Gebieter, hat ihnen

Blut versprochen – und sie suchen die Entscheidung IM

ZEICHEN DES MONDES ...

IM ZEICHEN DES MONDES das ist auch der Titel des

nächsten Dragon-Bandes. Der Roman wurde ebenfalls von

Ernst Vlcek geschrieben.


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