+ All Categories
Home > Documents > Die Frucht des Paradieses

Die Frucht des Paradieses

Date post: 07-Feb-2017
Category:
Upload: vodang
View: 213 times
Download: 1 times
Share this document with a friend
6
1 3 STANDPUNKT STANDORT (2013) 37:270–275 DOI 10.1007/s00548-013-0303-z Die Frucht des Paradieses Reflektion über den Besuch einer Favela in Sao Paulo Hannes Taubenböck Michael Wurm Was kommt einem in den Sinn, wenn man an eine Favela denkt? Wie sehr ist der persönliche Erwartungshorizont von der eigenen kulturellen Soziali- sation geprägt? Kann man die „Favela an sich“ überhaupt treffend beschrei- ben, oder ist – wie so oft – alles nur eine Frage der Perspektive? Zwei Europäer wagen den Selbstversuch und reflektieren ihre Vorurteile und Erfahrungen mit der Begegnung einer brasilianischen Favela. Vorher A: Hältst Du es immer noch für eine gute Idee, nach Paraisópolis zu fahren? B: Zweifelst Du jetzt etwa? Wir woll- ten doch mit eigenen Augen sehen, hören, fühlen, riechen und spüren, was eine Favela bedeutet. A: Was aber, wenn alles, was uns deutsche Medien von Favelas er- zählen, zutrifft: Dreck, Armut und Gewalt. Was passiert, wenn etwas schief geht? Hast Du „City of God“ (Buch von Paulo Lins, verfilmt von Fernando Meirelles; Anm. d. Au- toren) nicht gelesen oder gesehen? Der Film suggeriert, dass ein Men- schenleben zwischen all der Ver- zweiflung, Hoffnungslosigkeit und den oftmals von Kindern geführten Kriegen der Drogenbanden wertlos ist. Man hört auch immer wieder von Menschen, die sich gegen die Banditenkommandos stellen und dabei ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben riskieren. B: „City of God“ ist ein Film, der die Extreme stark hervorhebt. Wird es in der Realität so schlimm sein? Denk doch mal an das Buch „An- kunftsstadt“ (von Doug Saunders 2010). Der Autor hat selbst in einer Favela gelebt und beschreibt diese als Orte der Ankunft, als Zwi- schenstation für Menschen, deren Lebenssituation auf dem Land ver- heerend war und nun Anschluss an eine urbane Gesellschaft suchen. Menschen, die bereit sind, dafür im Elend zu leben und jeden, wirklich jeden Job anzunehmen, angespornt von der Hoffnung, irgendwann mehr zu verdienen. Diese Hoffnung auf eine bessere Zukunft treibt sie unaufhörlich an. Und wenn nicht für sich selbst, dann nehmen sie den Kampf für ihre Kinder auf. Im Prin- zip kann man es auch als Wette auf die eigene Zukunft verstehen – man nimmt die Lebensbedingungen der Favela in Kauf, um die Chancen auf einen Aufstieg zu maximieren. A: Das Bild, das Du zeichnest, ist mir zu einseitig: Favelas sind si- cher nicht nur Orte der Ankunft, der Hoffnung, des Aufbruchs und der Zukunft. Vielleicht können sie es sein, sie müssen es aber nicht. Möglicherweise bündeln sie ganz einfach Sehnsüchte – insbesonde- re, wenn Armut und Ungleichheit immens sind und die Lichter der Stadt verheißungsvoll locken. Wer nichts zu verlieren hat, ist bereit, große Risiken einzugehen. Die Kri- minalitätsrate ist nachgewiesener- maßen sehr hoch, die Bereitschaft zur Gewalt ebenso. B: Aber Armut ist immer auch rela- tiv. In unseren Augen mögen die Bewohner der Favelas extrem arm sein. Im Verhältnis zu den länd- lichen Regionen, aus denen sie ursprünglich kommen, sind die Menschen dort allerdings besser gestellt. Das Einkommen in den Städten ist meist viel höher als auf dem Land, auch bei den einfachs- ten Jobs. Meist reicht das Geld sogar noch aus, die zurückgelas- senen Verwandten auf dem Land finanziell zu unterstützen. Womit wir beim sozialen Zusammenhalt in armen Gesellschaften wären. Wo findet man das noch in unseren Breitengraden? In Deutschland ist doch jeder froh, der seine Eltern bzw. Großeltern nicht mehr an der Backe hat. A: Ich habe dennoch ein schlechtes Gefühl bei dieser Art von Touris- mus. Egal wie wir es anstellen, wie wir uns kleiden, wie wir uns ver- halten, man sieht uns unsere Her- kunft doch von weitem an. B: Wenn wir jetzt nicht gehen, wenn wir uns jetzt nicht ein eigenes Bild machen, dann müssen wir der kli- scheebeladenen medialen Bericht- erstattung glauben, die wir zur Fußball-WM 2014 in Brasilien mit Sicherheit erleben werden. A: Du meinst wie beim letzten Mal in Südafrika, als live genau das in die Wohnzimmer übertragen wurde, was der europäischen Fernseh- zuschauer erwartet? Die Medien haben weitgehend ins gleiche Horn gestoßen. Im Grunde konnte sich jedermann zuhause vor dem Fern- seher seine vorgefertigte Meinung über den schwarzen Kontinent be- stätigen lassen. Und sich dabei auf seinem Sofa wohl und sicher fühlen. B: Genau. Und man wird für Brasilien sicherlich mit vorhersehbaren und einfach transportierbaren Wider- sprüchen arbeiten: Samba, Copaca- bana, Karneval und Fußball stehen Online publiziert: 14. November 2013
Transcript

1 3

STANDPUNKT

Standort (2013) 37:270–275doI 10.1007/s00548-013-0303-z

Die Frucht des Paradieses

Reflektion über den Besuch einer Favela in Sao Paulo

Hannes taubenböckMichael Wurm

Was kommt einem in den Sinn, wenn man an eine Favela denkt? Wie sehr ist der persönliche Erwartungshorizont von der eigenen kulturellen Soziali-sation geprägt? Kann man die „Favela an sich“ überhaupt treffend beschrei-ben, oder ist – wie so oft – alles nur eine Frage der Perspektive? Zwei Europäer wagen den Selbstversuch und reflektieren ihre Vorurteile und Erfahrungen mit der Begegnung einer brasilianischen Favela.

Vorher

a: Hältst du es immer noch für eine gute Idee, nach Paraisópolis zu fahren?

B: Zweifelst du jetzt etwa? Wir woll-ten doch mit eigenen augen sehen, hören, fühlen, riechen und spüren, was eine Favela bedeutet.

a: Was aber, wenn alles, was uns deutsche Medien von Favelas er-zählen, zutrifft: dreck, armut und Gewalt. Was passiert, wenn etwas schief geht? Hast du „City of God“ (Buch von Paulo Lins, verfilmt von Fernando Meirelles; anm. d. au-toren) nicht gelesen oder gesehen? der Film suggeriert, dass ein Men-schenleben zwischen all der Ver-zweiflung, Hoffnungslosigkeit und den oftmals von Kindern geführten Kriegen der drogenbanden wertlos ist. Man hört auch immer wieder von Menschen, die sich gegen die Banditenkommandos stellen und

dabei ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben riskieren.

B: „City of God“ ist ein Film, der die Extreme stark hervorhebt. Wird es in der realität so schlimm sein? denk doch mal an das Buch „an-kunftsstadt“ (von doug Saunders 2010). der autor hat selbst in einer Favela gelebt und beschreibt diese als orte der ankunft, als Zwi-schenstation für Menschen, deren Lebenssituation auf dem Land ver-heerend war und nun anschluss an eine urbane Gesellschaft suchen. Menschen, die bereit sind, dafür im Elend zu leben und jeden, wirklich jeden Job anzunehmen, angespornt von der Hoffnung, irgendwann mehr zu verdienen. diese Hoffnung auf eine bessere Zukunft treibt sie unaufhörlich an. Und wenn nicht für sich selbst, dann nehmen sie den Kampf für ihre Kinder auf. Im Prin-zip kann man es auch als Wette auf die eigene Zukunft verstehen – man nimmt die Lebensbedingungen der Favela in Kauf, um die Chancen auf einen aufstieg zu maximieren.

a: das Bild, das du zeichnest, ist mir zu einseitig: Favelas sind si-cher nicht nur orte der ankunft, der Hoffnung, des aufbruchs und der Zukunft. Vielleicht können sie es sein, sie müssen es aber nicht. Möglicherweise bündeln sie ganz einfach Sehnsüchte – insbesonde-re, wenn armut und Ungleichheit immens sind und die Lichter der Stadt verheißungsvoll locken. Wer nichts zu verlieren hat, ist bereit, große risiken einzugehen. die Kri-minalitätsrate ist nachgewiesener-maßen sehr hoch, die Bereitschaft zur Gewalt ebenso.

B: aber armut ist immer auch rela-tiv. In unseren augen mögen die Bewohner der Favelas extrem arm sein. Im Verhältnis zu den länd-

lichen regionen, aus denen sie ursprünglich kommen, sind die Menschen dort allerdings besser gestellt. das Einkommen in den Städten ist meist viel höher als auf dem Land, auch bei den einfachs-ten Jobs. Meist reicht das Geld sogar noch aus, die zurückgelas-senen Verwandten auf dem Land finanziell zu unterstützen. Womit wir beim sozialen Zusammenhalt in armen Gesellschaften wären. Wo findet man das noch in unseren Breitengraden? In deutschland ist doch jeder froh, der seine Eltern bzw. Großeltern nicht mehr an der Backe hat.

a: Ich habe dennoch ein schlechtes Gefühl bei dieser art von touris-mus. Egal wie wir es anstellen, wie wir uns kleiden, wie wir uns ver-halten, man sieht uns unsere Her-kunft doch von weitem an.

B: Wenn wir jetzt nicht gehen, wenn wir uns jetzt nicht ein eigenes Bild machen, dann müssen wir der kli-scheebeladenen medialen Bericht-erstattung glauben, die wir zur Fußball-WM 2014 in Brasilien mit Sicherheit erleben werden.

a: du meinst wie beim letzten Mal in Südafrika, als live genau das in die Wohnzimmer übertragen wurde, was der europäischen Fernseh-zuschauer erwartet? die Medien haben weitgehend ins gleiche Horn gestoßen. Im Grunde konnte sich jedermann zuhause vor dem Fern-seher seine vorgefertigte Meinung über den schwarzen Kontinent be-stätigen lassen. Und sich dabei auf seinem Sofa wohl und sicher fühlen.

B: Genau. Und man wird für Brasilien sicherlich mit vorhersehbaren und einfach transportierbaren Wider-sprüchen arbeiten: Samba, Copaca-bana, Karneval und Fußball stehen

online publiziert: 14. november 2013

271

1 3

Standpunkt

für brasilianische Lebenslust; Fa-velas für drogen, Gewaltexzesse und Kriminalität, also für das ma-nifestierte Böse.

A: Vielleicht sind wir einfach zu pes-simistisch und man wird sich dem thema differenzierter nähern. die demonstrationen gegen die im-mensen Investitionen bei so einer Großveranstaltung sowie gegen das soziale Ungleichgewicht wäh-rend des Confed-Cups in Brasilien haben es doch geschafft, diese glo-balen Klischees zumindest in Frage zu stellen.

B: die demonstrationen haben auch gezeigt, wie explosiv die Stim-mung im Land ist und wie es mo-derne technologien ermöglichen, dass sich die Massen organisieren. Von einer gesellschaftlichen Läh-mung oder fatalistischer akzeptanz ist man inzwischen weit entfernt. auch die Betrachtung von außen verändert sich. die Menschen in den Favelas werden immer mehr als teil der Gesellschaft wahrge-nommen, wenn auch mit minderem sozialen Status. Selbst die brasi-lianische Präsidentin ist während ihres Wahlkampfs in die Favela Paraisópolis gegangen und hat den Menschen dort aufmerksamkeit, achtung und Wertschätzung ge-schenkt. das ist doch ein gewalti-ges Statement für die Bewohner.

a: aber sie hat die Favela in dem Wissen besucht, dass die Macht

der Politiker auf den Schultern der armen liegt. durch die schie-re Masse an Menschen dort und die geringe abhängigkeit der sehr reichen von staatlichen Mitteln werden Wahlen nur mehr durch die nähe zu den armen gewonnen. Und die Präsidentin hat die Fave-la mit einer Schar an Bodyguards besucht. Womit wir wieder zu dem Punkt kommen, dass unsere neu-gier, dieses abenteuer, sich auch als unnötiges, ja dummes Spiel mit der Gefahr herausstellen könnte! In all unserem Zögern spielen doch Unsicherheit und angst die größte rolle.

B: Wir verlassen uns einfach auf unser Gefühl, wenn wir dort sind. Unser aktuelles Gefühl ist doch haupt-sächlich medial vorgeprägt. Wenn wir uns nur im Geringsten unwohl fühlen, hauen wir ab.

a: na gut, wollen wir hoffen, dass wir mögliche Gefahren früh genug er-ahnen. aber auch wenn wir unsere Ängste beiseiteschieben – bleibt es nicht irgendwie ein perverser Voyeurismus, Armut zu begaffen? Sich vom „Mysterium Favela“ faszinieren zu lassen? Menschen, Schicksale, die Schattenseiten der Gesellschaft mit Sehenswürdigkei-ten zu verwechseln? Ist das mora-lisch tragbar? dürfen wir uns das ansehen?

B: Lautet die Frage nicht vielmehr: Müssen wir uns das nicht ansehen?

Nachher

C: Erzählt doch mal, wie war Euer abenteuertrip in das brasilianische Slumgebiet?

a: die Favela kam aus dem nichts. Gerade waren wir noch im wohl-habenden Morumbi (nachbar-viertel, anm. d. autoren), wo sich Villen und moderne Luxushoch-häuser aneinander reihen, wo sich die reichen einigeln, geschützt von hohen Mauern, Eisengittern und Stacheldraht, dann bogen wir um die Ecke und – peng – standen wir mittendrin. Kein Schild, keine Vorwarnung. Armut wurde ganz plötzlich sichtbar, vor allem durch den Unterschied der baulichen Strukturen. räumlich war die dis-tanz zwischen reich und arm nur ein Schritt, sozial hingegen war sie immens (vgl. abb. 1).

B: Mich hat überwältigt, auf einmal vor diesem unendlich dichten Meer an Gebäuden zu stehen, über- und nebeneinander aufgetürmt an ext-rem steilen Hängen, die eigentlich viel zu steil zum Bebauen sind. Wie in einem mittelalterlichen Gassen-gewirr begrenzen Hausfassaden die engen Straßen direkt. Überrascht hat mich allerdings, wie solide ge-mauert viele Gebäude waren – bis zu vier Stockwerken hoch. Irgend-wie hatte ich mit ausschließlich kleinen Wellblechhütten gerechnet (vgl. abb. 2a und f). Und ich habe gar keine angst verspürt, die mit-gebrachte Unsicherheit war schnell verflogen.

A: Mir ging es genauso. Das Vier-tel war voller Leben, voller Ge-schäftigkeit. Im reichen Morumbi waren die Boulevards breit, aber menschenleer. der öffentliche raum war vom privaten raum durch Hochsicherheitszäune strikt getrennt – eine unangenehme at-mosphäre. In Paraisópolis waren die Straßen eng, aber sie waren le-bendige orte der Begegnung (vgl. abb. 2c). Überall gab es kleine,

Abb. 1 Soziale diskrepanz und phy-sische Manifestation. (Foto © Tuca Viera)

272

1 3

Standpunkt

Slum-upgradings ersetzt Baracken durch solide gemauerte Wohn-blocks und überführt die Bewohner aus der Informalität in die Forma-lität. allerdings müssen die ehe-maligen Slumbewohner nun selbst für Strom und Wasser aufkommen – beides wird in der Favela eigent-lich illegal angezapft –, außerdem müssen sie Steuern bezahlen. die finanzielle Belastung gefährdet plötzlich ihre Existenzgrundlage. damit ist der Eingriff in die phy-sische Struktur der Favela auch ein Eingriff in die soziale Struktur.

a: Ungleichheit war überall sicht-bar… Besonders aufgefallen ist mir das am anderen Ende der Favela,

da gab es in meiner Wahrnehmung kein Gefühl von resignation oder gar depression. Kein Gefühl von bedrückender armut, sondern ein faszinierendes Gewimmel von Menschen, die ihre individuellen Ziele verfolgen. Und zumindest auf der Hauptstraße war viel zu viel los, als dass es unheimlich hätte werden können.

B: Interessant fand ich auch das neu-baugebiet am rand der Favela mit symmetrisch angeordneten Wohn-blöcken, die eine unübersehbare physische trennung zur organisch-chaotischen Siedlungsstruktur der Favela darstellen (abb. 2d). der top-down verordnete Versuch eines

florierende Läden im Erdgeschoss, in denen man alles bekommen konnte: von Gegenständen wie Fahrrädern, Möbeln oder Wasch-maschinen bis hin zu Essen oder dienstleistungen wie Haareschnei-den. die informelle Wirtschaft dort scheint zu blühen. außerdem gab es eine Busverbindung, die die Fa-vela an die Stadt anschließt, einen Fußballplatz, Schulen, ein Lokal-radio und eine individuelle, model-lierte architektur beim Haus eines Künstlers – Bestandteile einer funktionsfähigen Gemeinschaft, verbunden durch den sozialen Kitt einer Gesellschaft, die sich inner-halb der Favela selbst organisiert.

Abb. 2 Eindrücke aus Paraisópo-lis a das Häusermeer der Favela b Physische Zementierung von Ungleichheit c die Lebendigkeit der Straße d Slum-Upgrading oder soziale Spaltung? e Holzhüt-ten f die Steilheit des Geländes. (Fotos: taubenböck und Wurm)

273

1 3

Standpunkt

zieren. Wobei dies fast automatisch zur Frage führt: War unser Besuch denn nun authentisch …

a: … oder haben wir nur eine Mo-mentaufnahme erlebt, geschossen zu einer friedlichen und geschäfti-gen tageszeit, die das wahre Ge-sicht dieser Gegend verschleiert?

B: Es bleibt ein dilemma. Ein di-lemma der Perspektive, der Sub-jektivität, des Zufalls und der Erwartungshaltung. aber gemessen am Zugewinn an neuen Einblicken, ist das dilemma vergleichsweise klein. Eine richtige oder falsche Einschätzung von Slums gibt es eben nicht. Genauso wenig wie einfache rezepte zur Hilfe und zur Verbesserung der Situation. Was kann unser Besuch oder wenn man so will, unser Voyeurismus, denn bewirken? Was können wir mit die-ser persönlichen Erfahrung schon anfangen?

a: Wir können darüber berichten, dass eine Favela, ein Slum, mehr ist als eine wilde ansammlung ver-wahrloster Menschen, Hütten und Infrastrukturen, voller Ungleich-heit, armut und Kriminalität: Sie beheimatet kreative und hoff-nungsvolle Menschen mit großer risikobereitschaft, die eine gewal-tige informelle Wirtschaftskraft ge-nerieren. Zwar ist mit diesen orten ein bestimmter sozialer Status ver-bunden, aber sie sind keineswegs Exklaven urbaner Gesellschaften, sondern integraler teil erfolgrei-cher Städte. So ein Bericht wäre doch zumindest ein anfang.

C: dann solltet ihr versuchen, darüber zu schreiben. auch wenn es sicher-lich nicht einfach ist.

Hintergrund

die Favela „Paraisopolis“ [paraisó (Hisp.): Paradies; -opolis (Griech.): Stadt] ist eine Favela in Brasiliens Megastadt Sao Paulo, mit 20 Mio. Ein-wohnern sechstgrößte Stadt der Welt

der Muttermilch aufgesogen, sind total „street smart“. Ganz nebenbei fragten sie dich, ob sie einmal eine europäische Münze sehen könnten. du zeigtest ihnen, dass du nur ein paar real in der Hosentasche hast – und schon waren die glänzenden Münzen weg. Erinnerst du dich, wie gierig die Jungs nach den um-gerechnet vielleicht 50 Cent in deiner Hand gegriffen haben? Sie haben sie regelrecht weggerissen. die Wucht und Bestimmtheit des kurzen physischen Kontaktes hat dich sofort wieder alarmiert. Über die kurze Unachtsamkeit hast du dich sehr geärgert.

C: Ihr wart also da, habt die Favela tatsächlich gespürt, gesehen und erlebt. Wie ist Euer Gefühl jetzt?

B: die Kontraste haben mich ge-troffen. der Gleichmut und die Ignoranz, mit der die reichen im benachbarten Morumbi ihre Mau-ern bauen, um sich den Blick auf die Favela zu ersparen; die ab-scheu, mit der sie damit die soziale distanz physisch zementieren, war schockierend (abb. 2b). außerdem hat mich die Heterogenität inner-halb der Favela überrascht. die atmosphäre von Gefahr mitten am tag im unbelebten teil hat mir angst gemacht, der dreck dort hat mich erschüttert. Im belebten teil fand ich viel Positives: Ich hatte den Eindruck, dass viele Menschen bereit sind, sich den durch die Ge-burt gegebenen Ungerechtigkeiten des Lebens zu stellen, ich habe eine aufbruchsstimmung wahrge-nommen, ein Lächeln in vielen Ge-sichtern gesehen und fühlte mich relativ sicher.

C: Und, war das nun im nachhinein armseliger, perverser Voyeurismus?

B: Keine ahnung. Mit der Sicher-heit im rücken, nur für kurze Zeit Gast in der Favela zu sein, könnte man es so bezeichnen. aber die-ser Voyeurismus erlaubt uns nun zumindest, das vorgefertigte Mei-nungsbild ein wenig zu differen-

wo es kaum mehr Geschäfte gab, wo es nur noch Bretterverschläge anstelle gemauerter Gebäude gab, wo die Straßen nicht mehr geteert waren, wo sich stinkender Müll auftürmte, wo viele Jugendliche herumlungerten, wo die Blicke allzu neugierig, argwöhnisch und misstrauisch wurden, wo wir uns als fette Beute fühlten (abb. 2e). Wo unser Bauchgefühl „Halt!“ rief. die atmosphäre dort war komplett anders, es lag spürbar Gefahr in der Luft. dort haben wir sofort kehrt gemacht. Sogar innerhalb der Fa-vela war eine Ghettoisierung sicht- und spürbar.

B: Ja, wir wirkten dort wie außerirdi-sche. aber ist dir aufgefallen, dass wir auch im belebten teil nicht in der Masse untertauchen konn-ten: Wir waren zwar Beobachter, wir wurden aber auch beobachtet. Vor allem wurde genau registriert, wovon wir Fotos machten. Solan-ge wir nur Gebäude fotografierten, war alles ok, aber sobald unsere Linsen die Jugendlichen an der Straßenecke einfingen, wurde uns freundlich, aber unmissverständ-lich klar gemacht, dass wir das unterlassen sollten.

a: Eine art der sozialen Kontrolle war deutlich spürbar. als ich auf der einen Kreuzung fotografieren wollte, kam sofort ein aufpasser und hat mich gefragt, was ich dort mache. Erst dadurch habe ich ge-merkt, dass die Gegend an jeder strategisch wichtigen Kreuzung kontrolliert wird. Eine subtile Überwachung!

B: natürlich wechseln in so einem Spannungsfeld die rollen sehr schnell. Urplötzlich waren wir nicht mehr Beobachter, sondern die Beobachteten. Spannend war auch die Situation mit den neugierigen kleinen Jungs, die auf der Stra-ße Fußball spielten. Es war sehr nett, mit ihnen zu kicken und von deutschland zu erzählen. aber sie haben das Gesetz der Straße mit

274

1 3

Standpunkt

Gesellschaft zu integrieren, wurden entwickelt.die heutige Favela „Paraisópolis“ in Sao Paulo umfasst nur etwa einen Quadratkilometer und entstand auf einem ehemaligen Farmgebiet, das in den 1920er Jahren für den Bau von Häusern für die oberschicht beplant wurde (Estadao 2005). daher rührt auch die charakteristische schach-brettartige Struktur von Paraisópolis: angelegt wurden Straßenblöcke mit einer Größe von 10 mal 50 Metern mit über 2.000 Parzellen (Präfektur Sao Paulo 2005). die sehr steile und exponierte orographie (abb. 3c und 2f) lockte allerdings keine Interes-senten an, so dass der zentrumsnahe Freiraum nach und nach informell mit Hütten bebaut wurde. Verstärkt seit den 1950er Jahren begann die Inva-sion in das zu dieser Zeit noch länd-lich geprägte Gebiet durch Familien mit niedrigem Einkommen, meistens Migranten aus den nordöstlichen tei-len des Landes um Bahia de Salva-dor, die auf arbeitsmöglichkeiten im Baugewerbe hofften. Lange dürren in ihren Heimatregionen hatten das

nannten sie „Morro da Favela“, nach einer Strauchart, die sie im Krieg von Canudos unangenehm kennengelernt hatten, da sie bei Berührung schmerz-hafte Verbrennungen verursachte (dietz 2001). In den Jahren von 1902 bis 1906 wurde das Zentrum rio de Janeiros radikal umgestaltet mit dem Ziel, moderne Siedlungsstrukturen für die Hauptstadt der neu gegründeten republik zu bauen, was zur massen-haften Zerstörung preiswerter Miet-wohnungen führte. der Großteil der vertriebenen Bevölkerung begann die über das Stadtgebiet verstreuten Hügel („morros“) zu besetzen, womit der Beginn des Favelawachstums in rio de Janeiro markiert wurde (dietz 2001). Favelas werden medial häufig als orte von Kriminalität und Gewalt assoziiert, welche die ordnung und Sicherheit der Städte gefährden (rivera 2009). In Zeiten der Militär-diktatur Brasiliens wurden Favelas über zwei Jahrzehnte von der regie-rung als aufgegebene orte ignoriert. Erst mit dem Wechsel zur demokra-tie setzte ein Prozess des Umdenkens ein; Strategien, um die Favelas in die

und wirtschaftliches Zentrum Brasi-liens (United nations 2012). Favelas sind informelle Siedlungen, die durch illegale Landnahme einer oft durch Landflucht in die Städte getriebenen ökonomischen Unterschicht entste-hen und durch einfache Behausungen in einer hoch verdichteten, organisch wachsenden ungeplanten Struktur morphologisch charakterisiert wer-den. Sie entstehen entweder auf ver-lassenen Gebieten oder Grundstücken, deren Besitzverhältnisse ungeklärt sind, auf öffentlichem Land in der nähe von transportwegen (Flüssen oder Straßen) oder auf Flächen, wel-che irregulär zerteilt und verkauft wurden (rivera 2009).das Wort Favela kommt aus den Por-tugiesischen und bedeutet Elends- oder armutsviertel, als Begriff geprägt wurde es in rio de Janeiro Ende des 19. Jahrhunderts, als Söld-ner eine Hüttensiedlung auf dem „Morro da Providencia“ unweit des Kriegsministeriums gründeten, um druck auf die regierung bezüglich einer versprochenen Landvergabe auszuüben. Ihren besetzten Hügel

Abb. 3 die Favela Paraisópolis a Luftbild von 1958 (Quelle © geoportal.com.br) b Luftbild von 2008 (Quelle © geoportal.com.br) c Perspektivischer dreidimen-sionaler detailausschnitt der hoch verdichteten Gebäudestruktur (Quelle © dLr) d organische, komplexe Gebäudestruktur (Quelle © Google Earth)

275

1 3

Standpunkt

Literatur

arimah BC (2010) the face of urban pover-ty. United nations University, UnU-WI-dEr. Working paper no. 2010/30. www.wider.unu.edu/stc/repec/pdfs/wp2010/wp2010-30.pdf. Zugegriffen: 28. okt 2013

dietz J (2001) Favela-Sanierung in rio de Ja-neiro: aufwertung ganzer Stadtteile. In: topicos 3/2001; Landeskunde. S. 16–17

Estadao (2005) Segunda maior de SP, favela Paraisópolis passa por mudança. www.estadao.com.br/noticias/cidades,segun-da-maior-de-sp-favela-de-paraisopo-lis-passa-por-mudanca,317413,0.htm. Zugegriffen: 28. okt 2013

IBGE (2010) Censo Demografico 2010, 259 S. www.ibge.gov.br/home/estatisti-ca/populacao/censo2010/aglomerados_subnormais/agsn2010.pdf

Präfektur Sao Paulo (2005) donos de ter-renos em Paraisópolis fazem doação à Prefeitura e têm dívida perdoada. www.prefeitura.sp.gov.br/cidade/secretarias/habitacao/noticias/?p=4291. Zugegrif-fen: 28. okt 2013

Präfektur Sao Paulo (2006) Paraisópolis: Lotes em Paraisópolis são trocados por perdão de dívida de IPtU. www.prefeitu-ra.sp.gov.br/cidade/secretarias/comuni-cacao/noticias/?p=136907. Zugegriffen: 28. okt 2013

rivera G (2009) Favelas, public housing and the reconfiguration of urban space in Brazilian slums. the Urban reinventors Paper Series © 2005–2009 the Urban reinventors www.urbanreinventors.net. Zugegriffen: 28. okt 2013

Saunders D (2010) Arrival City – the final migration and our next world. Karl Blessing Verlag, München, 576 S. ISBN 9783896673923, geb.

United nations (2012) World urbanization prospects – the 2011 revision. depart-ment of Economic and Social affairs, new York

Interesse) oder Vila (portugiesisch für Kleinstadt) zu ersetzen. Ungeach-tet der physischen und sprachlichen transformationen bleibt die Barriere zwischen Favela und formaler nach-barschaft trotz massiver Investitio-nen der öffentlichen Hand immanent (rivera 2009).die urbane Struktur Paraisópolis ist nach wie vor chaotisch, auch wenn das ursprüngliche Schachbrett eine gewisse orientierung erlaubt (vgl. abb. 3). die Gebäudedichte ist über-wältigend: Während die Breite der geplanten Straßen etwa zehn Meter beträgt, sind die Gassen zwischen den Gebäuden nur etwa einen Meter breit und aus der Luft schwer zu erkennen. die Bebauungsdichte beträgt in teil-bereichen über 80 % (vgl. abb. 3c und d). Zum Vergleich: Im Münchner Zentrum ergibt sich eine Bebauungs-dichte von 48,9 % und in vorstädti-schen Wohnsiedlungen liegt sie bei rund 20 Prozent. In Paraisópolis sind die Hänge bis zu 35 Grad geneigt, der maximale Höhenunterschied beträgt mehr als 41 Meter. Heute leben dort mehr als 42.000 Menschen auf etwa einem Quadratkilometer (IBGE 2010), in München wohnen im Schnitt nur etwa 4.500 Menschen auf einem Quadratkilometer. Paraisópolis gilt dennoch als Beispiel dafür, wie ein maßvoller staatlicher Eingriff die Lebensbedingungen in einer Favela signifikant verbessern kann. „Bald werden 1,5 Milliarden Menschen weltweit in Slums leben“ (arimah, 2010). Für die globale Gesellschaft wird es zukünftig entscheidend sein, inweit es gelingen kann, die Bewohner von Slums zu integralen teilen urba-ner Gesellschaften zu machen.

Danksagung

Wir bedanken uns bei Luis Paulo Simardi für seine herzliche Betreuung in Sao Paulo und die Informationen zu Paraisópolis sowie bei nicolas Kraff für die Bildanalyse.

Land ausgezehrt, viele Menschen lebten am Existenzminimum. In den 1970er Jahren siedelten bereits 20.000 Menschen auf dem Gebiet, das sich inmitten der gehobenen Wohnvier-tel entwickelte. In den 1980er Jahren wurde ein Straßenbauprojekt gestoppt, das mitten durch Paraisópolis geplant wurde. Zu Beginn des 21. Jahrhun-derts setzte ein Umdenken ein, von öffentlicher Seite wurden Investitio-nen vorgenommen, um die Favela ins Stadtgefüge zu integrieren. ab 2005 wurden Urbanisierungs- und regulie-rungsprozesse durchgeführt, die von der kommunalen, der Landes- und der Bundesregierung sowie durch private Investoren mit mehr als 250 Mio. real finanziert wurden (rd. 80 Mio. €) (Prä-fektur Sao Paulo 2006).Straßen wurden asphaltiert, ein Fuß-ballplatz wurde angelegt, Buslinien eingerichtet, die Paraisópolis nun in das öffentliche transportnetzwerk Sao Paulos einbinden. Zur finan-ziellen Unterstützung der Bewoh-ner wurden Programme aufgelegt, um die einfachen Hütten durch sta-bile Ziegelbauten zu ersetzen und Gesundheitseinrichtungen sowie Gemeinschaftszentren zu errichten. die Stadt hat sich also entschieden, die illegale Landnahme nachträglich zu legalisieren und den Bewohnern Eigentumsrechte zu gewähren. Über dieses sogenannte Slum-upgrading versucht die regierung, die Favelas in formale nachbarschaften umzu-wandeln und die Bewohner in die soziale Struktur der Stadt zu integ-rieren. damit zielt man darauf ab, den Favela-Bewohnern eine Perspek-tive und – noch viel wichtiger – eine anbindung an die urbane Gesellschaft zu bieten. Ironischerweise werden zur gleichen Zeit in rio de Janeiro die Favelas von der regierung mit einer drei Meter hohen Mauer vor den Bli-cken der umgebenden nachbarschaf-ten abgeschirmt. Gleichzeitig wird versucht, den Begriff Favela durch politisch korrekte Bezeichnungen wie ZEIS (Zonen mit speziellem sozialem


Recommended