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Die Fremde. Fotografien und Texte.

Date post: 06-Apr-2016
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Das Ausstellungsprojekt bringt bekannte und unbekannte Ansichten von Chemnitz zusammen, als fotografische und lyrische Streifzüge durch eine Stadt mit einer wechselvollen Geschichte. In seinen fotografischen Memento Mori spürt Ulrich Halfter den Spuren menschlichen Tuns nach – vergessen, überwuchert und vergeblich scheint alles – verlassene Wohnungen, Industriebrachen, Zeichen einer untergegangenen Welt. Silvia Halfter wendet sich den Wurzeln des alten Chemnitz zu und findet in der weiblichen slawischen Form Kamenice ein Motiv für ihren Gedichtzyklus. www.chemnitzdiefremde.tumblr.com
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Beatrix Nehmen Sie eine Altbauwohnung auf dem Sonnenberg mit Ausblick auf das Haus von Morgen. Sie werden sehen: kein Schachspiel befindet sich in der Diele und im Hof rattert, eingeklemmt zwischen Vorderhaus, Seitenflügeln und Hinterhaus DIE VERSSCHMIEDE. Nicht einen Vers bei den Nieten dieser Stahlbrücke, zwischen den Gleisen des Güterbahnhofs, nicht einen in den schlecht beleuchteten Straßen, den leeren Geschäften, Plätzen, Betten! Saxonia ist keine griechische Göttin- Eine prosaische Proletarierbraut ist’s! Nicht einen Vers haben sie gebraucht. Bis DIE VERSSCHMIEDE kam. Liebe mit Endreimen wurde am meisten verlangt. Auf dem Sonnenberg zog die Poesie ein. Die Fremde Der Hochzeitsgesellschaft entsprungen Denn Quellen musste es geben in Der sozialistischen Betonwüste Streifte sie sich den taunassen Schleier vom Roten lockigen Haar – ich seufzte Ihrer Schönheit wegen auf den Trotzigen Mund folgten hohe Wangenknochen und klare Augen. Auf dem Weg zu Picassos Frauen ließ Ich mich dermaßen ablenken, Verzaubern und berauschen, Dass ich nicht nur mein Ziel, sondern Auch ihr Antlitz aus den Augen Verlor – ihres rauschenden Kleides entfernt am Betonkopf Ansichtig werdend. Wild loderte das Haupt bei Ihren kätzischen, schwebenden Schritten. Ich hastete zu ihr und nun schien Das Brautkleid einer kürzeren Robe Gewichen und ihre roten Stiefel Glänzten begafft von mir und unter Den strengen Augen des Schädels bevor Die rote Ampel das Mädchen verschwinden ließ. Wo war sie? Ich rauschte vorbei an Einer rot glühenden Stadthalle, dem Turm, Und auf die Zentralhaltestelle zu - wo Rote Neonschnüre mir den Weg wiesen. Unauffällig, glaube ich, wäre sie im Markttreiben verschwunden zumal Das Feuer von ihr gewichen, sie fast Einer schwarzen Katze glich. Ihre Macht über mich hielt Und nun War ich des Wahns Ihre Zeichen galten mir Im Schatten der Kirche fand ich sie Uns war ein kurzer Augenblick beschieden - Ich stürzte in grüne Augen entgegen Der Hast voller Ruhe. Eine Sekunde Und die Fremde war fort. Verzweifelt irre ich zum Bach An der Markthalle und blickte lange In dieses steinige Gewäsch, bis Ihre Konturen rein wie am Brunnen Deutlich hervorschimmerten, als die Sanfte Strömung mein Geheimnis gleichmütig Forttrug, die Fremde war mir geflohen, Und suchte mich doch. Irene Einem körnigen Grau verleiht sie wärmstes Empfinden – stellen Sie sich einen Schwenk vom müden Löwenzahn über eine rissige Fläche Lieblingsgraus zum durchscheinenden Weiß dieses Himmels einmal vor: Wer sollte nicht schier irre werden beim Treiben dieser merkwürdig gehemmten, stets bevorzugten Und gehemmten Braut, ihrem Leichtsinn, ihrem Trotz und ihren lausigen Streichen, die noch immer zu Poesie führten: Und zwar einer solchen Hinterhof- Wildwuchs- und Erstickungspoesie wie reinerer Wässer Töchter nicht zu denken imstande wären, wobei ihr bei aller Unschuld der Draht zum Gigantischen logisch fehlte, der dieses Versagen himmlisch macht. Leporello_Endversion.indd 1 26.11.2014 12:27:33
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Page 1: Die Fremde. Fotografien und Texte.

BeatrixNehmen Sie eine Altbauwohnungauf dem Sonnenberg mit Ausblickauf das Haus von Morgen.Sie werden sehen: kein Schachspielbefindet sich in der Dieleund im Hof rattert, eingeklemmtzwischen Vorderhaus, Seitenflügelnund Hinterhaus DIE VERSSCHMIEDE.

Nicht einen Vers bei den Nieten dieser Stahlbrücke,zwischen den Gleisen des Güterbahnhofs,nicht einen in den schlecht beleuchteten Straßen,den leeren Geschäften, Plätzen, Betten!Saxonia ist keine griechische Göttin-Eine prosaische Proletarierbraut ist’s!Nicht einen Vers haben sie gebraucht.

Bis DIE VERSSCHMIEDE kam.Liebe mit Endreimen wurdeam meisten verlangt.Auf dem Sonnenberg zog die Poesie ein.

Die FremdeDer Hochzeitsgesellschaft entsprungenDenn Quellen musste es geben inDer sozialistischen BetonwüsteStreifte sie sich den taunassen Schleier vomRoten lockigen Haar – ich seufzteIhrer Schönheit wegen auf denTrotzigen Mund folgten hoheWangenknochen und klare Augen.

Auf dem Weg zu Picassos Frauen ließIch mich dermaßen ablenken,Verzaubern und berauschen,Dass ich nicht nur mein Ziel, sondernAuch ihr Antlitz aus den AugenVerlor – ihres rauschendenKleides entfernt am BetonkopfAnsichtig werdend.

Wild loderte das Haupt beiIhren kätzischen, schwebenden Schritten.Ich hastete zu ihr und nun schienDas Brautkleid einer kürzeren RobeGewichen und ihre roten StiefelGlänzten begafft von mir und unterDen strengen Augen des Schädels bevorDie rote Ampel das Mädchen verschwinden ließ.

Wo war sie? Ich rauschte vorbei anEiner rot glühenden Stadthalle, dem Turm,Und auf die Zentralhaltestelle zu - woRote Neonschnüre mir den Weg wiesen.Unauffällig, glaube ich, wäre sie imMarkttreiben verschwunden zumalDas Feuer von ihr gewichen, sie fastEiner schwarzen Katze glich.

Ihre Macht über mich hieltUnd nun War ich des WahnsIhre Zeichen galten mirIm Schatten der Kirche fand ich sieUns war ein kurzer Augenblick beschieden -Ich stürzte in grüne Augen entgegenDer Hast voller Ruhe. Eine SekundeUnd die Fremde war fort.

Verzweifelt irre ich zum BachAn der Markthalle und blickte langeIn dieses steinige Gewäsch, bisIhre Konturen rein wie am BrunnenDeutlich hervorschimmerten, als dieSanfte Strömung mein Geheimnis gleichmütigForttrug, die Fremde war mir geflohen,Und suchte mich doch.

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Page 2: Die Fremde. Fotografien und Texte.

Hermine

Poseidon in einem FichtenhainIst wie ein Maß gebender VerlagBei uns hier, hier im GeisteDer Werkhallen, perfektioniertVon arbeitenden ApparaturenUnd ausgespuckt von einemDing genannt Maschine:Druckfrischer moderner Roman.

Natürlich müsste PoseidonDann nicht nur Herr der MeereAuch Gebieter der Mittelgebirge sein -Und die Ludolf’schen UntatenKönnten später von einemDing genannt Versschmiede:Gerächt werden, zu Chemnitz.

Eine amüsante Zeit modernenLebens bricht an, wenn die KollektivsündeDes Proletarier- und NationenvereinigersIn Andenken ans JustizopferHermine vergeben wird – inEinem Tempel im Fichtenhain.

Die Fremde. Fotografien und Texte.

Das Ausstellungsprojekt bringt bekannte und unbekannte Ansichten von Chemnitz zusammen, als fotografische und lyrische Streifzüge durch eine Stadt mit einer wechselvollen und schmerzhaften Geschichte. In seinen fotografischen Memento Mori spürt Ulrich Halfter den Spuren menschlichen Tuns nach – vergessen, überwuchert und vergeblich scheint alles – verlassene Wohnungen, Industriebrachen, Zeichen einer untergegangenen Welt.

Er hat ein Auge auf Details geworfen und Strukturen dokumentiert, die sich wie ein Muster in verschiedenen Kontexten wiederholen. Ulrichs Schwerpunkt liegt auf analoger Fotografie und die Aufnahmen wurden mit unterschiedlichen alten Kamramodellen und –formaten gemacht. Wie die Objekte vor der Linse ist also auch das Medium selbst überholt, nichts-destotrotz aber von einer pittoresken Aura umgeben.

Silvia Halfter wandte sich den Wurzeln des alten Chemnitz zu und fand in der weiblichen slawischen Form Kamenice ein Motiv für ihren Gedichtzyklus. Im Fokus stehen tatsächliche und imaginierte Frauenfiguren aus Chemnitz, die sich schlaf- wandlerisch oder festen Trittes durch die Stadt bewegen, mit der ihre Schicksale eng verknüpft sind. Silvia zeichnet ein augenzwinkerndes Panorama der Stadt von ihrer Gründung bis zum heutigen Tag aus der Sicht von Außenseiterinnen, von denen manche völlig in Vergessenheit geraten sind.

Zwischen dem Schreiben und Fotografieren bestehen ohnehin faszinierende strukturelle Ähnlichkeiten, auf die Susan Sontag hingewiesen hat: „Man beginnt, die Wirklichkeit selbst als eine Art Schrift zu begreifen, die es zu entschlüsseln gilt – genau wie fotografische Bilder selbst zunächst mit der Schrift verglichen wurden .“ (Über Fotografie: Die Bilderwelt)

Nichts ist in Beton gegossen, der Zeiten ewig überdauert.

Die Fremde. Fotografien und Texte.

Medusa. Galerie für zeitgenössische Photographie.

Eröffnung am 4.12.2014, 20 Uhrdanach bis zum 31.12.2014 täglich, 9-16 Uhr Kulturhaus Arthur (Arthur e.V.)Hohe Straße 3309112 Chemnitz

0371 302538 chemnitzdiefremde.tumblr.com

Fotografien: Ulrich Halfter | ulrich-halfter.de Texte: Silvia Halfter | cafemelange.euLayout: Carla Fischer | cf-design.media

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