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„Dichten heißt immer unterwegs sein“. Literarische Grenzüberschreitungen am...

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JÜRGEN LEHMANN „Dichten heißt immer unterwegs sein" Literarische Grenzüberschreitungen am Beispiel Paul Celans* Innerhalb des für Paul Celan sehr wichtigen Briefwechsels mit dem Freund Reinhard Federmann findet sich im Schreiben vom 23. Februar 1962 folgende merkwürdig klingende Unterschrift 1 : Herzlich Dein alter Freund und (Nichtnur-) Zwetschkenröster b%w. mit seinen Zwetschken gerösteter Paul Pawel Lwowitsch Tselan Russkij poet in partibus nemetskicb inßdelium 's ist nur ein Jud Die Formulierung erscheint etwas verändert kurze Zeit später nochmals als Unterschrift im Brief an einen anderen, für Celan ebenfalls wichtigen Gesprächspartner, nämlich den Schriftsteller Alfred Margul- Sperber. 2 Jedem nur ansatzweise mit Celans Sprachverhalten Vertrauten ist klar, daß eine solche Äußerung mit Bedacht gewählt und mit größter Sorgfalt formuliert worden ist. Erstaunen muß zunächst die Auswahl und Zusammensetzung der sprachlichen Bestandteile. Celan verwendet nicht nur vier verschiedene Sprachen, nämlich das Deutsche, das Jiddische, das Russische und das Lateinische, sondern bezieht sie im Rahmen einer sprachlichen Diktion aufeinander, die ganz offenkundig dem Bereich kirch- lichen Rechts entstammt: ,episcopus in partibus infidelium c — ein Titelzu- satz für sogenannte Titularbischöfe besagt, daß sich die bei der Titulatur genannten Gebiete im Bereich von Ungläubigen oder Schismatikern befin- den. Und als ob es der Orientierung an fremder Rede noch nicht genug sei, repliziert die Schlußformulierung der Unterschrift 's ist nur ein Jud auf * Leicht veränderte Fassung der am 8. Juli 1991 vor der Philosophischen Fakultät II der Universität Erlangen-Nürnberg gehaltenen Antrittsvorlesung» 1 In memoriam Paul Celan Briefe [an Reinhard FedermannJ, in: Die Pestsäule l, Sept. *1972, 17 21; hier: 18; Übersetzung der vorletzten Zeile: „Pawel Lwowitsch fCelans Vater hieß Leo] Tselan, russischer Dichter in den Gebieten deutscher Ungläubiger". 2 Brief vom 9. März 1962, in: Neue Literatur 26/7 (1975), 58. Der früheste Beleg für diese Formulierung findet sich in einer maschinenschriftlichen Variante zum Gedicht Eine Gauner- und Ganovenmise aus dem Gedichtband Die Niemandsrose^ datiert vom 26. 02, 1961. arcadia Band 28 (1993) Heft 2 Brought to you by | University of Glasgow Library Authenticated | 130.209.6.50 Download Date | 9/22/13 3:28 AM
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JÜRGEN LEHMANN

„Dichten heißt immer unterwegs sein"Literarische Grenzüberschreitungen am Beispiel Paul Celans*

Innerhalb des für Paul Celan sehr wichtigen Briefwechsels mit demFreund Reinhard Federmann findet sich im Schreiben vom 23. Februar1962 folgende merkwürdig klingende Unterschrift1:

HerzlichDein alter Freund und (Nichtnur-)Zwetschkenröster b%w. mit seinenZwetschken gerösteterPaul

Pawel Lwowitsch TselanRusskij poet in partibus nemetskicb inßdelium's ist nur ein Jud —

Die Formulierung erscheint — etwas verändert — kurze Zeit späternochmals als Unterschrift im Brief an einen anderen, für Celan ebenfallswichtigen Gesprächspartner, nämlich den Schriftsteller Alfred Margul-Sperber.2 Jedem nur ansatzweise mit Celans Sprachverhalten Vertrautenist klar, daß eine solche Äußerung mit Bedacht gewählt und mit größterSorgfalt formuliert worden ist. Erstaunen muß zunächst die Auswahl undZusammensetzung der sprachlichen Bestandteile. Celan verwendet nichtnur vier verschiedene Sprachen, nämlich das Deutsche, das Jiddische, dasRussische und das Lateinische, sondern bezieht sie im Rahmen einersprachlichen Diktion aufeinander, die ganz offenkundig dem Bereich kirch-lichen Rechts entstammt: ,episcopus in partibus infideliumc — ein Titelzu-satz für sogenannte Titularbischöfe — besagt, daß sich die bei der Titulaturgenannten Gebiete im Bereich von Ungläubigen oder Schismatikern befin-den. Und als ob es der Orientierung an fremder Rede noch nicht genugsei, repliziert die Schlußformulierung der Unterschrift 's ist nur ein Jud auf

* Leicht veränderte Fassung der am 8. Juli 1991 vor der Philosophischen Fakultät IIder Universität Erlangen-Nürnberg gehaltenen Antrittsvorlesung»

1 In memoriam Paul Celan — Briefe [an Reinhard FedermannJ, in: Die Pestsäule l, Sept.*1972, 17 — 21; hier: 18; Übersetzung der vorletzten Zeile: „Pawel Lwowitsch fCelansVater hieß Leo] Tselan, russischer Dichter in den Gebieten deutscher Ungläubiger".

2 Brief vom 9. März 1962, in: Neue Literatur 26/7 (1975), 58. Der früheste Beleg fürdiese Formulierung findet sich in einer maschinenschriftlichen Variante zum GedichtEine Gauner- und Ganovenmise aus dem Gedichtband Die Niemandsrose^ datiert vom26. 02, 1961.

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den von Cclan hochgeschätzten Franz Kafka, nämlich auf die in KafkasErzählung Ein Landarzt formulierte Verszeile 'S ist nur ein Ar%t, 's ist nurein

Rtisskij poet in partibus mmetskich infidelium — das ist zunächst vorallem zweierlei, nämlich Selbstkennzeichnung und — damit verbunden —Standortbestimmung. Die Selbstcharakterisierung als russischer Dichterist Ausdruck einer Neuorientierung, Manifestation einer spätestens seitMitte der 50er Jahre beginnenden intensiven Auseinandersetzung Celansmit russischen Dichtern wie Alexandr Blök, Osip Mandel'stam, SergejEsenin, Marina Cvetaeva u. a. Davon zeugen nicht nur die umfänglichenÜbersetzungsarbeiten, sondern auch bislang noch nicht veröffentlichtehistorische, philosophische und literaturtheoretische Äußerungen Celans.Bevorzugter Gegenstand dieser Auseinandersetzungen ist bekanntlich OsipManderstam, der vornehmlich in der Eigenschaft als russischer Dichterjüdischer Herkunft auf Motivik und Struktur der Celanschen Lyrik derspäten 50er und frühen 60er Jahre einen unübersehbaren Einfluß ausgeübthat. Dieser Aspekt der Selbstcharakterisierung als russischer Dichter wirdin der zitierten Unterschrift noch deutlicher durch die Formulierung 's istnur ein //#/, wobei die oben genannte Verbindung von Dichter und Judedurch den Bezug auf den aus einem slavischen Land stammenden, deutschschreibenden Juden Kafka noch akzentuiert wird.

Die Selbstcharakterisierung wird durch eine Standortbestimmung er-gänzt und vertieft. Die Verwendung kirchenrechtlicher Diktion markierteine Position, die durch Ausgrenzung, Vertreibung und sprachliche Ohn-macht gekennzeichnet ist. Ähnlich dem Episcopus in partibus infideliumpräsentiert sich Celan als ein Dichter, der in dem ihm eigenen, demsprachlichen Bereich offenkundig nichts mehr zu sagen hat, der ausdem ihm eigenen sprachlichen, nämlich dem deutschen Territorium durchDeutsche, durch die deutschen Ungläubigen, wie es in der zitierten Unter-schrift heißt, vertrieben worden ist. Diese Vertreibung erscheint um sogravierender, als die deutsche Sprache und Literatur trotz der Celan ständigquälenden Erfahrungen von Judenverfolgung und Vernichtung bis zumBeginn der 60er Jahre für diesen rumänischen, in Frankreich lebendenJuden Orientierung, Zufluchtort, Heimat gewesen sind. Die mit Hilfe derkirchenrechtlichen Diktion akzentuierte Distanz zwischen dem DichterCelan und den Deutschen wird ergänzt und differenziert durch die russisch-sprachige Formulierung Russkij poet in partibus mmetskich infidelium. Ermög-licht wird die Differenzierung durch eine Mehrdeutigkeit der dem russi-schen Lexem nemetskij zugrunde liegenden Wortwurzel nem-, die nichtnur die Bezeichnung ,deutschc, sondern auch ,fremdc, Barbarisch4, jS

3 Fran2 Kafka: Gesammelte Werke: Erzählungen, hg. von Max Brod, Frankfurt a. M.o.J., 152. Brought to you by | University of Glasgow Library

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impliziert. Wenn also der in Bezug auf sprachliche Nuancierungen soungemein sensible Celan in dieser Weise russisch spricht, so geschieht dasnicht, um seine russische Sprachkompetenz zu belegen, soridern offenkun-dig um aus der sprachlichen Perspektive des Russen den Aspekt derDistanz, der Ausgegrenztheit, der Exiliertheit, des Verlustes besondersdeutlich erscheinen zu lassen. Der existentiellen Isolierung als Jude unterDeutschen entspricht die sprachliche Isolierung des Dichters unter Stum-men und Fremden.

Versteht man die zitierte Briefstelle in diesem Sinne, so würde sichCelan mit dieser Art Selbstcharakterisierung und Standortbestimmung ineine bestimmte Tradition europäischer Literatur einreihen, deren Repräsen-tanten und ihre Werke in hohem Maße durch erzwungene Wanderschaft,Exil und damit verbundene Fremderfahrung geprägt worden sind. Dasgilt nicht nur für Dichtergestalten wie Ovid, Dante oder Heine, auf dieCelan in seinem Werk immer wieder repliziert, sondern auch für zeitlichuns näherstehende Autoren wie Thomas Mann, Marina Cvetaeva u. a.Hat doch vornehmlich unser zu Ende gehendes Jahrhundert besonderszahlreiche und vielfältige Bearbeitungen des Themas Dichtung und Exilentstehen lassen. Form und Inhalt der zitierten Briefunterschrift implizierenfreilich eine besondere und außerordentlich intensive Erfahrung von Ver-treibung. Der sich da als Vertriebener präsentiert, ist ein aus der SpracheVertriebener, und zwar aus derjenigen Sprache Vertriebener, die einst —im 18. und 19. Jahrhundert — zumindestens den Juden Osteuropas,also auch denen aus Celans Heimat, zur neuen sprachlichen, geistigen,kulturellen Heimat geworden war. Wie erfolgreich diese Grenzüberschrei-tung für Juden und Deutsche war, belegen Namen wie Sigmund Freud,Edmund Husserl, Elias Canetti, Gustav Mahler u. a. Vor diesem Hinter-grund nimmt sich die zitierte Selbstcharakterisierung und Standortbestim-mung Celans noch deprimierender aus, markiert sie doch die Vertreibungaus dieser geistigen Heimat und eine damit verbundene erneute sprachlicheGrenzüberschreitung. Dabei wird diese nicht nur benannt, sondern durchdie sprachliche Form der Unterschrift auch realisiert. Der sich da inAnspielung an die Ahasver-Gestalt als isolierter, heimatloser Dichter vor-stellt, ist offenkundig vor allem heimatlos in bezug auf die Sprache; wozubrauchte er sonst so verschiedene Sprachen und Sprechweisen, um sichals Dichter vorzustellen?

Was die polyphone Formulierung der Unterschrift angeht, könnte siefreilich auch in anderer Weise interpretiert werden, nämlich als Hinweisauf Besonderheiten der Celanschen Dichtung. Sie wäre dann als Charakteri-sierung eines dichterischen Sprechens zu verstehen, das sich nach demVerlust eines vertrauten sprachlichen Bereichs nicht mehr an einen be-stimmten sprachlichen Rahmen gebunden weiß und die sprachliche Grenz-überschreitung in verschiedene Richtungen als besonderes Merkmal dereigenen Dichtung vorstellen will. Polyphonic und Mehrdeutigkeit würden

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nicht nur Sprachverlust und Isolation anzeigen, sondern auch auf Möglich-keiten ihrer Aufhebung verweisen. Die Selbstkennzeichnung in Formdieser Unterschrift würde auf eine dichterische Existenzweise aufmerksammachen, die im Rahmen einer erneuten Grenzüberschreitung nicht nureine, die deutsche Sprache, sondern Sprache generell, mit all ihren ver-schiedenen Artikulationsmöglichkeiten, in ihren unterschiedlichen Realisa-tionen gerade im Bereich dichterischer Rede zum neuen Fluchtraum er-klärt. Das Hypothetische dieser Äußerungen legt es nahe, sie am WerkCelans zu überprüfen. Als Beispiel wähle ich das Gedicht Und mit demBuch aus Tarussa, das in seiner umfassenden Berücksichtigung der ThemenWanderschaft, Exil, Sprache, seiner komplizierten Struktur und seinerbesonders intensiven Bezugnahme auf die russische Literatur der hiervorgestellten Selbstcharakterisierung besonders zu entsprechen scheint.

Und mit dem Buch aus Tarussa gehört zu den umfangreichsten undkompliziertesten Gedichten aus Celans Zyklus Die Niemandsrose\ Kommen-tierung und Interpretation erweisen sich als äußerst schwierig, und so hatdie Celan-Forschung bislang auch darauf verzichtet, sich mit diesem Textso umfänglich und intensiv auseinanderzusetzen, wie es ihm eigentlichgebührte. Auch die folgenden Ausführungen sind nur Teil einer umfassen-den Kommentierung und Interpretation4; im Rahmen der vorliegendenAusführungen werde ich lediglich auf die zu Beginn aufgerufenen Themender sprachlichen Grenzüberschreitung, der Wanderschaft, des Exils nähereingehen.

UND MIT DEM BUCH AUS TARUSSABce noambi xcudhi

Marina Zwetajewa

1 VomSternbild des Hundes, vomHellstern darin und der Zwerg-leuchte, die mitwebt

5 an erdwärts gespiegelten Wegen,

vonPilger stoben, auch dort, von Südlichem, fremdund nachtfasernahwie unbestattete Worte,

W streunendim Bannkreis erreichter ' 'Ziele und Stelen und Wiegen.

VonWahr- und Voraus- und Vorüber-%u-dir- ,

4 Diese Kommentierung wird ein demnächst erscheinender Kommentarband zurNiemandsrose enthalten.

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15 vonHinaufgesagtem}

das dort bereitliegt) einemder eigenen Her^steine gleich) die man ausspiemitsamt ihrem un-

20 verwüstlichen Uhrwerk) hinausin Unland und Unweit. Von solchemTicken und Ticken inmittender Kies-Kuben mitder auf Hyänenspur rückwärts,

25 aufwärts verfolgbarenAhnen-reihe Derer-vom-Namen-und-Seiner-Rundschlucht.

30 Voneinem Baum, von einem.Ja, auch von ihm. Und vom Wald um ihn her. Vom WaldUnbetreten) vomGedanken, dem er entwuchs, als Laut

35 und Halblaut und Ablaut und Auslaut) skythisch^usammengereimtim Taktder Verschlagenen-Schläfe9

mit40 geatmeten Steppen-

halmen geschrieben ins Her^der Stunden^äsur — in das Reich)in der Reicheweitestes) in

45 den Großbinnenreimjenseitsder Stummvölker-Zoney in dichSprachwaage) Wortwaage) Heimat-waage Exil.

50 Von diesem Baum, diesem Wald.

Von der Brücken-quader, von derer ins Leben hinüber-prallte) flügge

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55 von Wunden, — vomPont Mirabeau.Wo die Oka nicht mitfließt. Et quelsamours! (Kyrillisches, Freunde, auch dasritt ich über die Seine,

60 ritts übern Rhein.)

Von einem Brief, von ihm.Vom Ein-Brief, vom Ost-Brief. Vom harten,windigen Worthaufen, vomunbewaffneten Auge, das er

65 den dreiGürtelsternen Orions — Jakobs-stab, du,abermals kommst du gegangen! —

%uführt auf der70 Himmelskarte, die sich ihm aufschlug.

Vom Tisch, wo das geschah.

Von einem Wort, aus dem Haufen,an dem er, der Tisch,%ur Ruderbank wurde, vom Oka-Fluß her

75 und den Wassern.

Vom Nebenwort, dasein Ruderknecht nachknirscht, ins Spätsommerohrseiner hell-hörigen Dolle:

80 Kolchis*

Das Gedicht besteht aus zwölf Abschnitten unterschiedlichen Umfangs,die von Celan nach Auskunft eines Textzeugen als Strophen verstandenworden sind. Die fast ausnahmslos mit der Präposition von bzw. vomeingeleiteten Passagen erweisen sich bei genauerer Betrachtung als Artiku-lation von Themen, die den Gedichtband Die Niemandsrose in hohem Maßebestimmen. Das Gedicht spricht vom Schicksal der Juden, von damitverbundener Wanderschaft und Exil, sowie von Dichtung, von ihrensprachlichen Voraussetzungen, ihren verschlungenen Wegen. Seine ellipti-sche Strukturierung erweckt den Eindruck, daß hier eine bereits begonneneRede weitergesprochen wird. In Verbindung mit dem Titel und dem

5 Paul Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden^ hg, von Beda Allemann und StefanReichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher, Frankfurt a. M. 1983, III, 287-289,Sigle GW. " ·Brought to you by | University of Glasgow Library

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Motto kann es eine Reaktion auf das dichterische Sprechen der russischenDichterin Marina Cvetaeva und der ihr nahestehenden russischen Autorensein; im Kontext der Niemandsrose kann es auch als ein Weitersprechen desunmittelbar vorangegangenen Gedichtes Es ist alles anders verstandenwerden. Korrespondenzen zwischen beiden Texten ergeben sich aufgrundder unübersehbaren Bezugnahme auf die russische Literatur, aufgrundverwandter Themen (Dialogizität, Probleme und Voraussetzung dichteri-schen Sprechens) und Motive (Stein, Dichtung als Schiffahrt u. a.) sowiehinsichtlich struktureller Besonderheiten (Langgedicht, durch Einzelstel-lung und Doppelpunkt herausgehoben, semantisch ungemein befrachteterEigenname am Gedichtschluß und weiteres). Im Rahmen der hier bereitserkennbaren Bezugnahme auf andere Texte und Autoren verbindet Undmit dem Buch aus Tarussa Dichtung und Judentum durch die AspekteFremdheit, Wanderschaft, Exil und akzentuiert so einmal mehr die Auffas-sung von der Kunst als besonderer, durch Vertreibung, Isolation undBedrohtheit (flügge von Wunden) geprägter und ausgezeichneter Existenz-form. In Verbindung mit der für die letzten Gedichte der Niemandsrose socharakteristischen Sternenmetaphorik betont das Gedicht aber auch dieim Gedichtband so nachdrücklich angesprochene Vermittlungsfunktionsolcherart Dichtung, ihre Fähigkeit, >Meridian< zu sein, verschiedene Spra-chen wie die deutsche, russische und französische auf eine so verbindendeLinie zu bringen. Zugleich artikuliert es Voraussetzungen und Problemedichterischen Sprechens in der Diskussion des Verhältnisses von Gedanke,Laut und Zeichen, von Atmen, Sprechen und Verstummen.

Von besonderer Relevanz sind dabei der die Mittelachse bildende Ab-schnitt sowie die ihm folgenden Strophen; hier wird das Gedicht zurgrundsätzlichen Reflexion über Voraussetzungen dichterischen Sprechens,über Möglichkeiten der Sprache, Exil zu sein bzw. zu werden. Celanspricht im impliziten Verweis auf die eigene und die Baum-Metaphorikbei Mandel'stam, Rilke, Baudelaire und Cvetaeva6 von den lautlichen und

6 O. Mandel'stams Langgedicht Nasedsij podkovu (Der Hufeisenfinder) verbindet dasMotiv des Baumes mit dem der Schiffahrt und der Dichtung. M. Cvetaevas imSammelband Tarusskie stranicy (Blätter aus Tarussa) veröffentlichtes, u. a. den ThemenTrennung, Judentum gewidmetes Langgedicht Derev'ja (Bäume) bezeichnet in derVerbindung Baum —Thora den Baum als Ort der Wahrheit und des ewigen Wissens.Noch deutlicher werden Baum und Wald als Artikulationsraum eines engagierten,lebendigen Dichtens in ihrem Zyklus Stol (Der Tisch) vorgestellt. Insbesonderedie Verschränkung von Baum —Tisch—Brett—Dichtung (,die Bretter werden zu

% Blättern*) läßt Korrespondenzen zum vorliegenden Tarussa-Gedicht erkennen. Bau-delaire spricht vom Gedicht als forets de symboles (Vgl. dazu: Bernd Witte: DerZyklische Charakter der „Niemandsrose" von Paul Celan, in: Argumentum e Silentio.Internationales Paul-Celan-Symposium, Berlin/New York 1987, 85.), eine Formulie-rung, die von Mandel'Stam im Essay „Utro akmeizma" (Der Morgen des Akmcismus)diskutiert wird. Die dichtungstheoretische Relevanz der Baummetaphorik zeigt sich

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schriftlichen Besonderheiten einer neuen unbetretenen Sprache, die, wie esim Gedicht heißt, — auf der Lautebene skythisch zusammengereimt, schrift-lich angeatmeten Steppenhalmen fixiert — eine neue Dimension des Raumeseröffnet. Als Großbinnenreim wird diese besondere Sprache zum ,Großbin-nenraum', zum weitesten der Reiche, zum eigentlichen Exil. Voraussetzungdafür ist freilich eine Grenzüberschreitung, liegt doch dieses Exil jenseitsder Stiimmvolker-Zone, mit anderen Worten: Grundlage dieses sprachlichenExils ist die Reduktion des Sprechens bis an die Grenze des Verstummens,Dichtung als Atmen (mit geatmeten Steppenhalmen}1', hier nicht verstandenals geprägt durch eine wie auch immer geartete Inspiration, sondern alsReduktion und äußerste Konzentration auf das einzelne Wort, als behutsa-mer Umgang mit dem Laut, dem Buchstaben, Dichtung als Sprachwaage,die erst als solche das Verhältnis von Heimat und Exil abwägend und aufneue Weise bestimmen kann.8 Doch ist diese zu überschreitende Grenzenoch genauer zu bestimmen, heißt es doch im Text nicht Jenseits desVerstummens', sondern jenseits der Stummvölker-Zone. Bei der Bestimmungdieser Grenze spielt Celan ganz offensichtlich mit der zu Beginn angespro-chenen Korrelation von stumm und deutsch über die russische Wortwurzelnem-. Die Relevanz dieser Verbindung ergibt sich aus den russischenKontexten, die — wie noch zu zeigen sein wird — dieses Gedicht inungewöhnlich starkem Maße prägen. Dichten jenseits der Stummvölker- Z onemeint daher von Paris aus gesehen jenseits: eines Bereichs von Deutschen,Stummen, Fremden, aber auch jenseits des durch Deutsche ausgelöstenVerstummens; Celan widerspricht hier implizit einmal mehr dem oft zitier-ten und viel diskutierten Verdikt Adornos, für den Lyrik nach Auschwitznicht möglich war. Die Konzeption einer neuen Sprache betont im Gegen-satz dazu gerade die existentielle Notwendigkeit dichterischen Sprechens,dessen Besonderheit vor allem in seiner Offenheit, in seiner Bewegtheit,in seinem Entwurfscharakter besteht. Dichten jenseits des Verstummensist also nicht nur möglich, sondern geradezu lebensnotwendig, und damitnach dem Verstummen die Sprache wieder stimmhaft wird — wie Celan inder Büchner-Preisrede sagt9 — bedarf es weiterer Grenzüberschreitungen.

Eine für Celan zentrale Form der sprachlichen Grenzüberschreitung,nämlich das Übersetzen, spricht die folgende Strophe an: In der metaphori-schen Wendung Kyrillisches ritt ich über die Seine, ritts übern Rhein wird das

auch dort, wo sie mit der dafür besonders wichtigen Stem-Metaphorik verbundenwird, z.B. in Verszeilen wie diese: Stein, [...] ich schnittt dich als Baum (GWl, 91).

7 Vgl. dazu Vf.: Atmen und Verstummen, Anmerkungen %u einem Motwkomplex bei Mandel'-stam und Celan, in: Paul Celan: Atemwende — Materialien, hg. von Gerhard Buhr u.Roland Reuß, Würzburg 1991, 187-199.

8 Zugleich unterstreicht dies einmal mehr die sowohl bei MandePstam als auch beiCelan dominierende Identifizierung von Dichten und Existieren.

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Übersetzen zum Übersetzen erklärt, erscheint in Verbindung mit demBild der Brücke die Überwindung geographischer als Überschreitungsprachlicher Grenzen zwischen Deutschen, Russen, Franzosen. Ausgehendvon Formulierungen wie skythisch ^usammengereimt und ,Kyrillisches reiten*wird hier Dichten und Übersetzen in eins gesetzt; integraler Bestandteilvon Dichtung ist folglich die sprachliche Grenzüberschreitung in Formdes Übersetzens. Celan spielt hier offenkundig auf seine Übersetzungenan, die in der Tat für sein eigenes dichterisches Schaffen von kaum zuüberschätzender Bedeutung gewesen sind. Er selbst hat ihnen den gleichenpoetischen Wert zuerkannt wie den Gedichten. Und auch hier verzichtetCelan nicht auf den Aspekt der Erinnerung. Im erneuten Aufnehmen derStein-Metaphorik in Verbindung mit dem Topos vom Dichten = Fliegen(flügge von Wunden) wird einmal mehr auf die durch Vertreibung undVerletzung im umfassendsten Sinn geprägten existentiellen Voraussetzun-gen einer solchen neuen Dichtung aufmerksam gemacht, auf ihre Kreatur-lichkeit, wobei nicht unerwähnt bleiben soll, daß an dem hier besprochenenBrückenquader·, dem Pont Mirabeau in Paris, Celan im Jahre 1970 seinemLeben ein Ende gemacht hat.

In den letzten drei Abschnitten wendet sich das Gedicht zunächst denbiographischen Voraussetzungen seiner Entstehung zu, um in Verbindungmit einer besonders komplizierten und kühnen Fügung sprachlicher Bilderden dialogischen Charakter dieser neuen Art dichterischen Sprechens vor-zustellen. Die in den ersten Verszeilen formulierten Hinweise auf den Ein-Brief, auf den Ost-Brief sind auf ein Schreiben zu beziehen, das Celan vonseinem Freund Erich Einhorn kurz vor der Entstehung des Gedichts ausMoskau erhalten hat und in dem von einer bevorstehenden Reise nachRußlands Süden, nach Kolchis, wie es dort heißt, gesprochen wird.10

In Korrespondenz zur Titelformulierung Brief-Ostwärts aus einer nichtveröffentlichten Vorstufe wird die Passage zur Charakterisierung: Sieverweist auf die dialogische Strukturierung dieses Textes, auf seine inten-sive Bezogenheit auf fremde Rede. Bestätigt wird dies durch die folgendenVerszeilen, die unter Berücksichtigung der oben angesprochenen Korre-spondenzen von Baum — Tisch — Dichtung davon sprechen, daß einWort aus dem Brief und aus dem Buch aus Tarussa den Tisch, auf dem derBrief liegt, zur Ruderbank, den Dichter zum Ruderknecht machen; dieLektüre wird zur Ecriture, hier verstanden als ein Weiterschreiben desvon einem anderen Begonnenen. In erneuter Umformulierung des Toposvon der Dichtung als Schiffahrt wird jene hier am Schluß noch einmal alsBewegung, als Unterwegssein charakterisiert. Die Richtung dieser Bewegungist mit dem letzten besonders herausgehobenen Wort bezeichnet: Kolchis^

10 Darauf hat Bernhard Böschenstein in seinem Beitrag Celan und MandeHtam —Beobachtungen %u ihrem Verhältnis, in: Celan-Jahrbuch 2 (1988), 167, verwiesen.

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wobei in Verbindung mit der Baum- und Schiffahrtsmetaphorik ein weite-rer intertextueller Bezug, nämlich der zur griechischen Mythologie, erkenn-bar wird. Die Anspielung auf die Sage vom Goldenen Vlies ist nicht nurdurch das Namenszitat Kolchis, sondern auch durch die Eigenschaft desSchiffes Argo begründet, Schiff und sprechendes Holz zu sein.11 Kolchismeint sowohl die Richtung dieser sprachlichen Bewegung als auch ihreHerkunft. Korrespondierend mit Charakterisierungen wie skythisch, kyril-lisch, mit Steppenhalmen geatmet und in Verbindung mit Anspielungen aufOvid und Mandel'stam bezeichnet das Wort nicht so sehr einen an derGrenze zwischen Europa und Asien situierten geographischen, sondernvor allem sprachlichen Raum, in dem das Verschiedene der Sprachen undKulturen, auf besondere Weise zusammengereimt', zur Einheit gelangensoll; so wie das Wort fast gleichlautend dem Deutschen, dem Russischenund Französischen angehört. Kolchis ist Aufscheinen eines noch zu erfor-schenden, durch Sprache zu entwerfenden Raumes, das, was Celan inseiner Büchner-Preisrede als U-topie bezeichnet hat.12

Die das Gedicht bestimmenden Themen Wanderschaft— Sprache, dieBezogenheit auf anderes, Offenheit für anderes, Grenzüberschreitung etc.werden nun nicht allein benannt, sondern auch in der sprachlichen Gestaltdes Gedichts eindrucksvoll realisiert. Auf der syntaktischen Ebene zeigtsich dies insbesondere an der bereits erwähnten Dominanz der Ellipse:Das gesamte Gedicht besteht aus Sätzen ohne finites Verb, jeweils eingelei-tet durch die Präposition , * bzw. ,vome, eine Art der syntaktischenStrukturierung, die den Aspekt der Bewegung und der Unabgeschlossen-heit unterstreicht. Durch die Art der syntagmatischen Fügung erscheintdas Gedicht als Folge kaum von einander abgegrenzter sprachlicher Bilder,deren Endpunkt das dann auch graphisch und syntaktisch herausgehobeneletzte Wort Kolchis ist. Diese auf Offenheit und Bewegtheit angelegteVerwendung der Syntax hat zugleich gravierende Auswirkungen auf dieZeitstruktur dieses Gedichtes, denn sie artikuliert bereits hier etwas, dasCelan an anderer Stelle als Zeitoffenheit bezeichnet hat.13 Ohne Verben unddie durch sie vermittelte Möglichkeit, zeitliche Relationen abzubilden,werden die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftverwischt bzw. aufgehoben, eine der Voraussetzungen für die weitgehendnahtlose Integration historisch zurückliegender Texte und Autoren in dasWerk Celans.

Die Öffnung auf andere Texte hin ist mit bestimmten Formen vonsprachlichen und literarischen Grenzüberschreitungen verbunden; die drei

11 Die Argo, das mit Hilfe der Göttin Athene gebaute Schiff der nach Kolchis fahrendenArgonauten, enthielt an ihrem Bug ein redendes Stück Holz aus dem Stamm einerdem heiligen Hain von Dodona entstammenden Eiche.

12 GW III, 199.13 Böschenstein [Anm. 10] 158 ff.

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bedeutendsten will ich im folgenden vorstellen. Es sind: 1. Die Überschnei-dung verschiedener Sinnebenen und sprachlicher Kontexte im einzelnenWort und dessen damit verbundene semantische Veränderung in RichtungAmbivalenz und Polyphonic — das, was der russische LiteraturtheoretikerM. Bachtin mit dem Begriff der „inneren Dialogizität"14 zu kennzeichnenversucht hat; 2. die intertextuelle Grenzüberschreitung in Form von deut-lich markierter Bezugnahme auf andere Texte; 3. die sprachliche Grenz-überschreitung als Transformation diskursiver, poetologischer in poetischeRede.

Mit dem Begriff „innere Dialogizität des Wortes" ist die Eigenschaftvon Worten gemeint, nicht konventionell festgelegtes und so mit einerfesten Bedeutung versehenes Zeichen, sondern ein Element der Sprachezu sein, das seine semantische Kontur bei jeder Begegnung mit einemanderen Wort, bei jedem Wechsel der Kontexte ändert. Sprache in solchdialogisierter Form ist geprägt durch Ambivalenz und Prozessualität, sieist Reaktion, Bewegung, die keine festgelegte, ständig präsente Sinnzuwei-sung erlaubt. Im Rahmen einer ständigen Verschmelzung eigener undfremder Rede enthält solch dialogisiertes Wort zugleich immer die Spurender Kontexte, innerhalb derer es einst präsent war und erweist sich sohäufig als kulturelles Gedächtnis. Charakteristisch für die innere, dasEinzelwort betreffende Dialogizität des Celanschen Werkes (insbesondereder Niemandsrose) ist die bevorzugte Berücksichtigung von zwei Verwen-dungsbereichen, deren Spuren bestimmte Worte in unübersehbarer Weiseprägen: Das ist zum einen die das erwähnte Verstummen auslösendeRede der deutschen Faschisten und der ihre Taten legitimierenden oderverharmlosenden Texte. Durch diese Kontexte gezeichnete Worte nimmtCelan in seine dichterische Sprache auf, um ihre Geltung zu prüfen bzw.zu dementieren. Das geschieht u. a. durch morphologische Veränderungen,durch an Mallarme erinnernde negative Präfigierung u.a. Zum anderenerscheinen Worte, die in sich die Spuren einer Literatur erkennen lassen,die den oben skizzierten (Leidens-)Weg in Richtung Verstummen bereitsgegangen sind und zugleich Möglichkeiten aufzeigen, durch die das Ver-stummen überwunden werden kann, durch die — wie Celan an andererStelle sagt15 — die verstummte dichterische Rede wieder stimmhaft wird;in diesem Gedicht sind das z. B. die Stimmen russischer Autoren.

Celans Lexik ist geradezu gesättigt mit dieser Art Dialogizität. Sehrdeutlich zeigt sich das u. a. an zwei Lexemen, nämlich skythisch und Heimat,die über die für das Gedicht zentrale Thematik Exil —Sprache— Heimateng aufeinander bezogen sind. Was das Wort Heimat angeht, so muß eserstaunen, daß Celan einen durch so viele und vor allem ideologisch

14 Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevski}*, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1985,205 ff.

15 VgL Anm. 9,

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belastete Kontexte gegangenen Begriff verwendet. Gerade auch in derLiteratur verbindet sich mit diesem Wort leicht der Vorgang sentimentalerErinnerung an scheinbar konfliktfreie, grüne, einfache, vertraute Räume.Cclans dialogischer Umgang mit diesem Wort bezieht sich sowohl auf denAspekt des unreflektierten und ungenauen Gebrauchs als auch auf dender ideologischen Belastung. Was letzteres angeht, so spielt hier seineVerwendung in der vom Nationalsozialismus lange Zeit geförderten Blut-und Bodenliteratur eine wichtige Rolle, seine Inanspruchnahme durchAutoren wie Wilhelm Griese, Will Vesper u.a., die in der Niemandsroseund in Briefen aus deren Entstehungszeit als Protagonisten einer von denNationalsozialisten verdorbenen Sprache z. T. direkt genannt werden. DieErinnerung an diese Kontexte zwingt dazu, sich mit der Ungenauigkeitund Verdorbenheit der Sprache und ihrer Begriffe kritisch zu beschäftigen.Die Aufnahme des Wortes , Heimat' in das vorliegende Gedicht und die Artseiner Behandlung läßt erkennen, daß es Bestandteil einer hier realisiertenAuseinandersetzung mit Sprache ist, in deren Rahmen Celan außerordent-lich subtil und differenziert mit solchen von bestimmten Kontexten gepräg-ten bzw. belasteten Worten umgeht. Der Vorgang der inneren Dialogizitätwird hier durch die Art der Kompositabildung und durch deren graphischeGestaltung transparent gemacht. Durch die Integration in das Komposi-tum Heimatwaage ist,Heimat' zum einen mit all seinen Kontexten präsent,wird aber zum anderen zugleich in seinem Eigenwert in Frage gestellt. Eswird relativiert, abgewogen, wobei der Vorgang des Wagens sowie diedamit verbundene Distanz und Nähe zu diesem Wort nicht nur benannt,sondern auch in der graphischen Gestaltung und verstechnischen Behand-lung des Kompositums realisiert wird. Auf diese Weise entsteht einemetasprachliche Relation zwischen seinen Bestandteilen Heimat undWaage, eine Relation, die dann auf Sprache generell (Sprachwaage] erweitertwird. Celans Dichtung prüft so die Sprache auf ihre Möglichkeiten hin,Heimat oder Exil zu sein und zugleich die Voraussetzungen dafür zuschaffen, selbst Heimat zu sein bzw. zu werden.

Skythtsch hingegen bezeichnet die Art des Zusammenreimens, die Weise,durch die aus den Einzelelementen der Sprache der Großbinnenreim alszukünftiges Exil, ja vielleicht sogar Heimat, gestaltet werden sollte. Dabeibezeichnet dieses Wort nicht nur diesen Sachverhalt, in ihm und mit ihmerhält dieses Zusammenreimen seine sprachliche Gestalt. Vorbereitet durcheine Fülle von Markierungen, auf die ich im folgenden wenigstens teilweisenoch eingehen werde, läßt das Wort die Spuren folgender Texte undKontexte erkennen: Neben Herodots Geschichtsschreibung, in deren Rah-men das Wort zur Bezeichnung eines in der südrussischen Steppe nomadi-sierenden Volksstammes16 vorgestellt wird, sind es hier eine Reihe von

16 Dabei ist in bezug auf die Thematik Atmen und Verstummen Herodots Hinweisvon Interesse, daß es sich bei der Sprache der Skythen um ein auf das Lautlichereduziertes Sprechen, ein „Schwirren", handelt.

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Arbeiten der von Celan übersetzten Autoren Osip Mandel'stam, AlexanderBlök und Marina Cvetaeva, In bezug auf Mandel'stam ist hier besondersder Gedichtzyklus Tristia relevant, in dessen Rahmen nicht 'nur der unterden Skythen lebende, exilierte Dichter Ovid erscheint17, sondern auch diedurch die Dichtung zu realisierende Verbindung von Osten und Westenzum Gegenstand poetischer Darstellung wird. Diese Thematik prägt auchu. a. Alexander Bloks Gedicht Skythen — Blök, der ja auch zu den Mitbe-gründern der 1917 in Rußland entstandenen literarischen GruppierungDie Skythen gehörte, die in für Celan faszinierenden, auf der Erfahrungvon Revolution und Zeitenwende gründenden messianischen Entwürfendas Skythische als Ausdruck künstlerischer Erneuerung feierte. In diesemZusammenhang ist es vielleicht nicht ganz uninteressant, daß Bloks PoemDie Zwölf und sein Gedicht Die Skythen™ in dem von Reinhold vonWalther 1920 gegründeten Skythen-Verlag erstmals in deutscher Spracheerschienen sind. Als letzter aus einer Vielzahl von möglichen weiterenBelegen soll hier der kleine Gedichtszyklus Skythische der russischen Dich-terin Marina Cvetaeva genannt werden, in dem u. a. das Prinzip desDialogischen als zentraler Aspekt dichterischer Existenz gefeiert wird.19

In all diesen Texten erhält das Wort ^kythisch* eine neue positive Bedeu-tung, und ausgehend davon kann es auch Celan hier als Merkmal einesneuen Sprechens vorstellen, das den neuen Barbaren, den Deutschen derStummvölkerzone, in den partes nemetskich infidelium, gegenübergestelltwird.

Wir sind damit bereits bei der zweiten der oben erwähnten Grenzüber-schreitungen angelangt, nämlich der mehr oder minder deutlich markiertenintertextuellen Verweise auf bestimmte literarische Texte von Rilke, Blök,Apollinaire, MandePstam, Cvetaeva u. a. Diese durch Verfahren wie Zitat,Namenszitat, Anspielung und anderes realisierten Bezugnahmen sind nichtAusdruck ästhetischen Spiels oder gelehrter Renommiersucht, sondernnotwendiger Bestandteil der hier dominierenden, in mehrfacher Hinsichtgrenzüberschreitenden dialogischen Strategie. Die im Gedicht zunächstbenannten Grenzüberschreitungen werden nun in der Textstruktur selbstrealisiert; es werden nicht nur geographische, sondern auch sprachlicheGrenzen überschritten. Der so hergestellten Verbindung von Frankreich,Deutschland und Rußland korrespondiert im Verweis auf ,heimatlose'

17 Weitere Korrespondenzen bestehen hinsichtlich der durch das Exil begründetenSprachlosigkeit und des Verstummens einerseits und einem daraus folgenden poly-phonen Dichten andererseits (z.B. in Tristia V 3,14,45 —50).

18 Das Gedicht behandelt u. a. die von Blök als notwendig erachtete Integration vonRußland und Europa.

19 Marina Cvetaeva: Stichotvorenija i poemy v pjati tomach. Tom tretij. Stichotvorenija.Perevody 1922—1941 (Gedichte und Versepen in fünf Bänden. Band drei. Gedichte,Übersetzungen), New York 1983, 48-50.

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Dichter wie Rilke, Cvetaeva und Apollinaire die Verschmelzung sprach-licher Räume. Dabei ist von besonderem Belang, daß Rilke und Cvetaevain allen drei genannten Sprachen gedichtet haben und Apollinaire von denfranzösischen Lyrikern der Moderne derjenige ist, der am engsten mitOsteuropa verbunden war.20 Auf diese Autoren bezieht sich Celans Gedichtin besonderem Maße. Im Rahmen einer für Celan spezifischen Konzeptionliterarischer Mimesis bestimmen dabei nicht Analogie oder Imitatio, son-

dern Berührung und Partizipation die Beziehung zu anderen Texten. DasGedicht entwirft sich als Replik auf andere sprachliche Gebilde, die fürseine Entstehung und dialogische Konzeption von besonderer Relevanzsind, um sie zugleich zu verändern und weiterzuschreiben.

Nirgendwo wird dies deutlicher als in bezug auf die hier nicht zufalligschon mehrfach erwähnte Marina Cvetaeva. Der gleich zu Beginn desGedichtes plazierte Hinweis im Motto auf sie („Alle Dichter sind Juden.Marina Zwetajewa") scheint zunächst identifikatorischer Natur zu sein,repräsentiert diese Autorin in ihrem Leben wie in ihrem dichterischenWerk doch wie kaum eine andere das in Celans Tarussa-Gedicht gestalteteMotiv der Wanderschaft, der Grenzüberschreitung und des Exils. MarinaCvetaeva, geboren 1892 in Moskau, gestorben durch Selbstmord 1941 inder durch den Einmarsch der deutschen Truppen verursachten Verban-nung, lebte seit ihrer Kindheit in Rußland, Italien, Deutschland undFrankreich. Ihr Lebensweg ist geprägt durch Isolation, ständigen Orts-wechsel, Heimatlosigkeit. In ihrem Essay Der Dichter und die Zeit heißt esdazu21: „Eigentlich ist jeder Dichter ein Emigrant, auch einer in Rußland.Ein Emigrant aus dem Himmelreich und dem irdischen Paradies der Natur.Der Dichter trägt — und so alle Leute in der Kunst — aber der Dichterbesonders — den Stempel des Unbehausten, an dem man den Dichter nochin seinem eigenen Hause erkennt. Emigrant aus der UNSTERBLICHKEIT indie Zeit, der nicht zurückkehrt in seinen Himmel." Zu ihren zentralenThemen gehören das Schicksal der Unterprivüegierten, der Besiegten undder Dialog der sich in Wirklichkeit nie Begegnenden; letzteres ist in ihrerBiographie realisiert im Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke. Als Autorinhat sie sich niemals einer bestimmten literarischen Richtung zugehöriggefühlt und wurde deshalb von Kollegen auch als ,Niemandc bezeichnet.Ihre Dichtung ist — um mit Celan zu sprechen — ,Gegenwort', einunter dem Einsatz der eigenen Existenz gewagtes Aufbegehren gegenVorschriften, bestimmte Erwartungen, geistige und literarische Einengun-gen, von welcher Seite sie auch gekommen sein mögen. ''

20 Apollinaire ist nicht nur im (veränderten) Zitat aus dem Gedicht Sous lepont Mirabeau[...], sondern auch im indirekten Hinweis auf Les colchiques präsent. Vgl. dazu auchChristoph Perels: Zeitlose und Kolchis — Zur Entwicklung eines Motivkomplexes bei PaulCelan, in: GRM N. R 29 (1979), 47-74.

21 Marina Zwetajewa: Vogelbeerbaum, hg. von Fritz Mierau, Berlin 1986, 117.Brought to you by | University of Glasgow Library

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Cvetaevas Werk ist in intensiver und vielfältiger Weise im vorliegendenGedicht präsent. Das gilt für Elemente der graphischen Gestaltung, derbesonderen Interpunktion, der Lexik, bestimmte Bilder22; unübersehbaraber in bezug auf Überschrift und Motto des Gedichts. Die ÜberschriftUnd mit dem Buch aus Tarussa ist sowohl von biographischer als auchliteraturgeschichtlicher Relevanz. In der südwestlich von Moskau an derOka gelegenen Kleinstadt Tarussa (der Fluß wird ja auch im Gedichtgenannt) hat Marina Cvetaeva einen Teil ihrer Kindheit verbracht, inTarussa wünschte sie begraben zu werden. Was den literarhistorischenHintergrund betrifft, so erinnert der Titel unseres Gedichtes an einen kurzvor der Niederschrift des Celanschen Textes erschienenen SammelbandTarusskie Stranicy (Blätter aus Tarussa).23 Es ist eines der wichtigstenDokumente der Tauwetterperiode in Rußland; hier wurden erstmals in derSowjetunion Gedichte der bis dahin verfemten Cvetaeva publiziert, hierwurden — und vor allem das ist für Celan außerordentlich wichtig gewe-sen — während der Herrschaft Stalins zum Verstummen gebrachte Dichterwieder sprachlich präsent, auf deren mit der auf Hyänenspur rückwärts,aufwärts verfolgbaren Ahnenreihe das Gedicht zu Beginn verweist. TarusskieStranicy ist Manifestation für das Überschreiten von ideologischen undkulturpolitisch zementierten Begrenzungen, für die Überwindung des da-mit verbundenen Verstummens der Dichter; die in diesem Sammelbandveröffentlichten Texte stehen für poetologische Konzeptionen und literari-sche Verfahren, welche die Monotonie und Eindimensionalität der vomsozialistischen Realismus bestimmten Dichtung radikal in Frage stellen.Noch bedeutungsvoller erscheint freilich das Motto Bce noamw ^cuöbi,dessen Formulierung anzeigt, daß es nicht um reine Identifikation geht:Die hier erscheinende Verszeile entstammt Cvetaevas Gedicht Za Gorodom(Im Umkreis der Stadt), das sich in Cvetaeva-typischer, kämpferischer,affektbetonter Diktion mit dem Thema ,Ewiger Jude*, Ghettoisierung,Pogrom und daraus resultierendem Exil auseinandersetzt. Celans Motto-Formulierung verändert die Vorlage. Heißt es bei Cvetaeva V sem Christian-nejsem i% mirov poety — %idy24, so bei Celan Bce noambi ^cuöw (Alle Dichter

22 Das betrifft z. B. das Sternbild des Hundes. Das damit gleich zu Beginn angeschlageneMotiv der Wanderschaft zwischen Osten und Westen (der Canis major folgt demOrion) ist insofern mit der Gestalt der wandernden Dichterin Cvetaeva zu verbinden,als diese sich in ihrem Briefwechsel mit Rilke (als Exilantin in Paris) mehrfach miteinem Hund identifiziert. (In: Rilke und Rußland — Briefe, Erinnerungen, Gedichte^ hg.von Konstantin Asedowaskii, Berlin/Weimar 1986, 392 u. 409.)

i3 Tarusskie stranicy. Literaturno-cbudo^estvenyj illjustrirovannyj sbornik (Blätter aus Tarussa.Literarisch-künstlerischer illustrierter Sammelband), Kaluga 1961.

24 Marina Cvetaeva [Anm. 19] 185; dt.: „Die Dichter sind Juden in dieser christlichstenaller Welten." Nach Auskunft von Gisele Celan-Lestrange hat sich Celan lange undintensiv mit Cvetaeva beschäftigt, ihr dichterisches Werk hat er fast ebenso hocheingeschätzt wie dasjenige MandePStams, Das bezeugen u.a. auch die vielfaltigen

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sind Juden); ist der Aspekt des Unterwegsseins von Dichtung bei Cvetaevaan bestimmte Voraussetzungen gebunden, so gilt dies Unterwegssein beiCelan für Dichtung generell. Zugleich wird durch die Veränderung desCvetaeva-Zitats das Motiv des Wandernden, des ewigen Juden zur poetolo-gischen Metapher, mit der die für Dichtung einzig mögliche Existenzformartikuliert wird.

Ich komme abschließend zur dritten der genannten sprachlichen Grenz-* Überschreitungen, nämlich der von diskursiver zu poetischer Rede. DieArt der partizipierenden Begegnung mit anderer dichterischer Sprachebetrifft offenkundig auch konventionelle, in der literarischen Traditionwiederholt verwendete Worte, Verfahren, Bilder, Schemata. Sie werdenaufgerufen, um in ihrer Statik aufgelöst bzw. weiterentwickelt zu werden.Beispielhaft zeigt sich dies nicht nur in der bereits erwähnten Abwägenden"Behandlung bestimmter Lexeme, sondern auch in der Modifizierung be-stimmter Topoi, z. B. dem von der Dichtung als Schiffahrt. Mit seiner Hilfewird die das Gedicht prägende Thematik der Bewegtheit von Dichtungangezeigt und zugleich in Bildern vom Übersetzen = Übersetzen odervom Dichter als Ruderknecht befragt, verändert, weiterbewegt. In seinerBüchner-Preisrede hat Celan den hier aufgezeigten Umgang mit traditionel-len poetischen Bildern als Toposforschung im Licht der U-topie2S bezeichnet;mit anderen Worten: Das im vorliegenden Gedicht angesprochene abwä-gende und meist mit radikaler Veränderung verbundene Untersuchenvon Worten, sprachlichen Bildern etc. ist identisch mit einem Suchenund letztlich auch Entwerfen eines noch fremden, unbekannten Lebens-raums, einer Utopie freilich, die nur im Vollzug des Sprechens existentsein kann. Die in solchen Äußerungen erkennbare Korrespondenz vondichterischer Verfahrensweise und poetologischer Reflexion wird nochmanifester, wenn man Äußerungen wie diese berücksichtigt: Das Gedichtkann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nachdialogisch ist, eine Flaschenpost sein [...] Gedichte sind auch in dieser Weiseunterwegs: sie halten auf etwas %tt.26

Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibtihm mitgegeben. Aber steht das Gedicht nicht gerade dadurch, also schon hier, inder Begegnung — im Geheimnis der Begegnung?21

Es ist bezeichnend für die Polyphonic des Celanschen Werkes, daß auchdiese in das Tarussa-Gedicht eingegangenen theoretischen Äußerungenaus den Literaturpreisreden als Replik auf andere fremdsprachige Texteverstanden werden müssen, als Replik auf den von Celan so intensiv

Anstreichungen in der mit Cvetaeva-Ausgaben gut bestückten Bibliothek Celans.Celan plante außerdem, eine Reihe von Cvetaeva-Gedichten zu übersetzen.

25 GW III, 199.26 GW III, 186.27 GW III, 198.

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rezipierten russischen Dichter Osip Mandel'stam. Das betrifft nicht nurdie inzwischen berühmte Flaschenpost-Metaphorik, sondern auch geradedie hier angesprochene Problematik der Grenzüberschreitüng.

Ich kann auf diese von der Celan-Forschung bestenfalls ansatzweisewahrgenommene Beziehung auf poetologischer Ebene zwischen Celan undMandel'stam hier nur in wenigen Worten eingehen, die vor allem denbehandelten Aspekten der Offenheit, Bewegtheit sowie der zeitlichenund gattungsbezogenen Grenzüberschreitung gelten. Wenn Celan z.B.im Rahmen des erwähnten Prinzips der Zeitoffenheit zeitliche Grenzen,Epochenschwellen nicht mehr gelten läßt, so erinnert das unverkennbaran entsprechende Formulierungen MandePstams, der sowohl in seinerLyrik als auch in seinen Essays die Synchronie und Glossolalie der durchJahrhunderte getrennten Ereignisse, Namen, Texte und Traditionen be-tont; so werden Ovid, Catull, Puskin zu Zeitgenossen; Gewährsmann fürdiese Grenzüberschreitungen ist der immer wieder genannte Dante28:Soediniv nesoedinimoe, Dant i^menil strukturu vremeni, a, mo^et byf, i naoborot:vynu^den by l pojti na glossolaliju faktov, na sinchroni^m ra^orvannych vekamisobytij, imen i predanij, imenno potomu, cto sly salober tony vremeni. Dem Prinzipder Überschreitung von zeitlichen Grenzen korrespondiert nach MandeP-stam die Überschreitung von Gattungen, Sprachen, Sprechweisen, Diskur-sen29: EsK by %aly Ermita^a vdrug sosli s uma, esli by kartinj vsech skolm as t erov vdrug sonwits' s gvo^dej, vosli drug v druga, smesilis* i napolnili komnatnyjvo^duch futuristiceskim revom i mistovym krasocnym voybu^demem, to polucilos'by necto podobnoe dantovskoj Komedii. Damit ist eine Auffassung von Dichtungumschrieben, die den Einzeltext als in ständiger Bewegung befindlichversteht. Die mit den genannten zeitlichen, sprachlichen und gattungsbezo-genen Überschreitungen verbundene Offenheit verdankt sich nach Auffas-sung von Mandel'stam — und hier sind seine Äußerungen mit denen desihm unbekannten Bachtin fast identisch — der oben beschriebenen innerenDialogizität, der ununterbrochenen Überschneidung von Stimmen im Ein-

28 Osip Mandel'stam: Sobranie softnenij v dvuch tomacb (Gesammelte Werke in zweiBänden), New York 1966, II 448; dt.: „Indem er Unvereinbares vereinte, änderteDante die Struktur der Zeit, vielleicht war es aber auch umgekehrt: gerade deshalb,weil er die Obertöne der Zeit hörte, war er genötigt, zur Glossolalie der Faktenund zum Synchronismus von Ereignissen, Namen und Überlieferungen zu gelangen,die durch Jahrhunderte von einander getrennt waren." (Übersetzungen der Zitatewenn nicht anders angegeben vom Vf.).

29 Ebd., 450; dt.: „Wenn die Säle der Ermitage plötzlich den Verstand verlören, wenndie Bilder aller Schulen und Meister plötzlich von den Nägeln abrissen, eins insandere eingingen, sich vermischten und die Zimmerluft mit futuristischem Gebrüllund blindwütiger farblicher Erregung erfüllten, dann würde sich etwas der Dami-schen »Komödie* Ähnliches ergeben."

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130 *rAfft l-thmann

ycKvort30: I.jubo€ slovojavljaetsja putkom, i smysl torlit / nego v raqnye storony,a nt ustnmljaetsja odnu oficiafnuju toiku ... Poi^tja tern i otlifattsja o titvtoMiitüeskoj nli> fto budit nas / vstrjachivaet na stredine slova. Togda onooka^yvattsja gpra^do dlinnet, fern my dumalit i my pripominaemt Ito govorit9 qnafttvstgfL· nachodit*sja v doroge,

Wenn Celan in seinen literaturtheoretischen Äußerungen, z. B, in denhier mehrfach erwähnten Literaturpreisreden davon spricht, daß DichtenEreignis, Bewegung, Unterwegssein bedeutet, dann schließt er in unübersehba-rer Weise an Formulierungen Mandel'Stams an. Doch auch dies ist nichtWiederholung, sondern Partizipation und Weitersprechen. Mandel'Stamversteht das Unterwegssein der Dichtung, die ständig präsente Bezogenheitauf andere literarische Texte, sowie die damit verbundenen Grenzüber-schreitungen als Weg zum alles in sich begreifenden, ewig existierendengöttlichen Wort, zum Logos. Celans abwägender, die Stimmen andererTexte prüfender Umgang mit Sprache ist hingegen als Orientierungs ver-such eines Individuums zu interpretieren, das sich selbst und seine Bindun-gen an die Welt radikal in Frage gestellt sieht und im Vollzug eines invielfältiger Weise Grenzen überschreitenden Dichtens einen neuen Stand-ort, eine neue Heimat zu finden hofft. Es ist nach Aussage Celans derWeg dessen, der mit seinem Dasein %ur Sprache geht, wirklichkeitswund undWirklichkeit suchend^, suchend in Orientierung an Dichtern, die zugleichWanderer, Juden und Russen sind. In diesem Sinn ist Dichtung immerunterwegs und in diesem Sinn ist Celan — und sicher nicht nur er — einRusskij poet in partibus nemetskich inßdelium.

30 Ebd., 413 f.; dt.: „Jedes beliebige Wort ist ein Bündel und der Sinn starrt aus ihmhervor in verschiedene Richtungen, strebt aber keinem offiziellen Punkt zu [...] DieDichtung unterscheidet sich gerade dadurch vom automatischen Sprechen, daß sieuns mitten im Wort weckt und aufrüttelt. Dann zeigt sich, daß dieses weitaus längerist, als wir dachten, und wir erinnern uns, daß Sprechen immer unterwegs seinbedeutet."

31 GW III, 186.Brought to you by | University of Glasgow Library

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