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Diagnostik und Therapie von Lernstörungen im ...psylux.psych.tu-dresden.de/ordnungen/bpb.pdf ·...

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1 1 praktikumsberichtbeispiel Technische Universität Dresden, Fakultät Mathematik und Naturwissenschaften Fachrichtung Psychologie Berufsorientierte Ausbildung Praktikumsbericht zum Thema Diagnostik und Therapie von Lernstörungen im Sozialpädiatrischen Zentrum N. N. eingereicht von: cand. psych. N. N. Matrikelnummer: 0000000 e-mail: [email protected] Abgabe: August 2006 Praktikumsbetreuer/in: Dipl.-Psych. N. N.
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praktikumsberichtbeispiel

Technische Universität Dresden, Fakultät Mathematik und Naturwissenschaften Fachrichtung Psychologie Berufsorientierte Ausbildung

Praktikumsbericht zum Thema

Diagnostik und Therapie von Lernstörungen

im Sozialpädiatrischen Zentrum N. N.

eingereicht von: cand. psych. N. N. Matrikelnummer: 0000000 e-mail: [email protected] Abgabe: August 2006 Praktikumsbetreuer/in: Dipl.-Psych. N. N.

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Inhaltsverzeichnis

Einführung 3

Darstellung der Praktikumseinrichtung 3

Überblick über die Inhalte der Praktikumtätigkeit 7

Theoretischer Hintergrund zum Thema Lernstörungen 9

Lernstörungen als Teufelskreis 9

Klassifikation von Lernstörungen nach DSM IV (ICD-10) 13

Lernstörungen durch cerebral bedingte Informationsverarbeitungs- 14

Störungen

Darstellung der eigenen Auggabenbearbeitung bzw. das Vorgehen der 21

Einrichtung zum Thema Lernstörungen

Diskussion der Praxiserfahrungen 26

Literaturverzeichnis 33

Anlage/n: Praktikumszeugniss/e

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Einführung

„Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zurecht.“ (Goethe) Wo sich das erste Knopfloch für eine erfolgreiche Schullaufbahn eines Kindes befindet, ist

nicht genau festzulegen. Sicher aber ist, je länger sich ein Kind in einer belastenden

Dauersituation befindet, also Woche für Woche mit der Gewissheit in die Schule geht, mit

den Lernleistungen anderer Schüler nicht mithalten zu können, umso mehr wird sein

Selbstwertgefühl schwinden, Hilflosigkeit sich ausbreiten, Verhaltensauffälligkeiten und /oder

psychosomatische Beschwerden werden auftreten. Der Diagnostik und Therapie von

Lernstörungen kommt die wichtige Aufgabe zu, derartige fehlgelaufene Prozesse zu stoppen

bzw. deren Entstehung zu verhindern.

Darstellung der Praktikumseinrichtung

Das Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) ist eine ambulant arbeitende, interdisziplinäre

Einrichtung, in der die Berufsgruppen Kinderärzte, Krankenschwestern, Psychologen,

Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Logopäden und Sozialpädagogen vertreten sind.

Hauptschwerpunkt ihrer Arbeit ist die Diagnostik und Therapie von Entwicklungsstörungen

bei Kindern und Jugendlichen. Der Zugang zum SPZ erfolgt nur durch Überweisung vom

Kinderarzt. Die Kosten der Behandlung werden von den Krankenkassen getragen.

Die Leitung der Einrichtung obliegt einem Kinderarzt. Die integrative Vernetzung der

Einrichtung erfolgt vor allem durch die tägliche halbstündige gemeinsame Besprechung aller

Mitarbeiter des SPZ, sowie den sich anschließenden kleineren Fallbesprechungen zwischen

einzelnen Mitarbeitern.

Im folgenden werden kurz die Arbeitsschwerpunkte der vertretenen Berufsgruppen

vorgestellt.

Sozialpädagogen

Aufgabe der Sozialpädagogen ist vor allem die Information und Beratung der Eltern in Bezug

sozialer Angelegenheiten. Dies betrifft insbesondere Hilfe bei der Durchsetzung

sozialrechtlicher Ansprüche, z.B. Information über aktuelle Verordnungen, Hilfe bei

Antragstellung, Widerspruchseinlegung bei Hilfsmittelablehnung. Zu sozialrechtlichen

Themen werden auch Informationsabende mit Gastreferenten organisiert. Aber auch

Beratung der Eltern bezüglich geeigneter Fördermöglichkeiten in Kindereinrichtungen und

Schulen, sowie Frühförderungsanmeldung und Begleitung der durchgeführten Maßnahmen

sind wichtige Punkte. Die Mitarbeiterinnen kennen hier besonders das vorhandene soziale

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Netzwerk und halten auch Kontakt zu den verschiedensten Einrichtungen. Auch arbeiten sie

selbst in bestimmten Gremien und Arbeitsgruppen mit, wie z.B. im Verein interdisziplinäre

Frühförderung (VIFF) oder in Stadtteilrunden von Dresden.

In den Elterngruppen im SPZ selbst arbeiten sie gemeinsam mit den Psychologen. Diese

Elterngruppen sollen eine Plattform für den Erfahrungsaustausch zwischen Eltern mit Kindern

ähnlicher Krankheitsbilder und Bewältigungshilfe sein. Zur Zeit gibt es Gruppen für Eltern

mit Kindern die an einer progradienten Erkrankung leiden, sowie Kindern bei denen sich eine

schwere geistige Behinderung schon im Säuglingsalter zeigt und eine Gruppe für Eltern, die

gerade verarbeiten müssen, dass sich ihr Kind nicht normal entwickeln wird, wo also

Entwicklungstrauerarbeit im Vordergrund steht. Ebenfalls wieder geplant ist eine Gruppe für

Eltern, deren Kinder unter einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit oder ohne

Hyperaktivität (ADS/ ADHS) leiden.

Die Sozialpädagogen sehen einen Punkt ihrer Arbeit auch in Assistenzarbeit fürs Team. Das

sind zum Teil einige organisatorische Dinge, aber auch Hospitationen in Kindergärten und

Schulen, die sie zum Beispiel im Auftrag der Psychologen durchführen.

Logopäden

Das Gebiet der Logopädie sind allgemein die Sprachentwicklungsstörungen

(Sprachverständnis, auditive Verarbeitung, Sprachproduktion/Wortschatz, Dysgrammatismus,

phonematische Differenzierung). Von den Mitarbeitern wird eine umfassende Diagnostik

angefordert, wenn sich z.B. bei der kinderärztlichen oder psychologischen Diagnostik

sprachliche Auffälligkeiten zeigen bzw. wenn dies der Schwerpunkt der Fragestellung ist, mit

der sich Eltern ans SPZ wenden. Standardisierte Testverfahren sind hier z.B. der aktive

Wortschatztest (AWST 3-6) oder der Marburger Sprachverständnistest.

Wenn es von Seiten der Erreichbarkeit möglich ist, werden auch längerfristige logopädische

Therapien im SPZ durchgeführt, andernfalls werden die Eltern auch an wohnortnahe Stellen

vermittelt bzw. bezüglich möglicher Therapeuten beraten.

Ein Randgebiet, auf das sich die Mitarbeiter spezialisiert haben, sind oraphaziale

Dysfunktionen (z.B. Saugschwäche, gestörter Schluckreflex – häufig bei Frühgeborenen,

Hypotonus bei Morbus Down Syndrom), die sich in Essproblemen bei Säuglingen zeigen.

Dabei spielt die Beratung und Anleitung der Eltern eine große Rolle. Aber auch bei den

Sprachentwicklungsstörungen werden die Eltern beraten, wie sie ihr Kind selbst fördern

können, wie sie günstig mit ihm umgehen bzw. wird immer wieder auch Unterstützung

gegeben, die Behinderung des Kindes anzunehmen und zu verarbeiten.

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Ergotherapeuten

Schwerpunkt der Ergotherapeuten ist die Diagnostik und Therapie von

Wahrnehmungsstörungen, Sensorische Integrationsstörungen, Dyspraxie (gestörte

Handlungsplanung), Entwicklung der Grob- und Feinmotorik, Ausdauer, Konzentration und

Belastbarkeit. Häufig wird auch eine sekundäre Verhaltensproblematik in der therapeutischen

Beziehung mit bearbeitet (Verhaltensregulation/Grenzsetzung). Auch bei den

Ergotherapeuten ist die Anleitung und Beratung der Eltern bezüglich geeigneter

Spielmaterialien und Entwicklungsförderung ein wichtiger Punkt.

In der Regel erfolgt zu Beginn der Diagnostik ein Anamnesegespräch mit den Eltern. Unter

Umständen wird, wenn das Kind mit anwesend ist, dabei dessen freies Spiel beobachtet (was

für Spielmaterial sucht es sich, wie bleibt es dabei, wie ist die Interaktion zwischen Eltern und

Kind...). Beim nächsten Termin wird dann mittels gezielter Beobachtung mehr auf bestimmte

Sachen geachtet. Hier wird auch die Videodokumentation genutzt. Es kommen auch

standardisierte Tests zum Einsatz, so z.B. der Frostig-Test zur visuellen Wahrnehmung, der

Händigkeitstest (HTT) oder der Motoriktest (MOT).

Therapeutisch arbeiten die Mitarbeiter unter anderem mit der Sensorischen

Integrationstherapie, die vor allem von Jean Ayres bzw. Marianne Frostig entwickelt wurde.

Außerdem wird auch die Bobath-Therapie genutzt, die physiologische Bewegungen fördert.

Es erfolgt meist Einzeltherapie, es gibt aber auch eine Psychomotorikgruppe sowie

Konzentrationsgruppen. Bei den Konzentrationsgruppen arbeitet im Moment noch eine

Psychologin hospitierend mit.

Kinderärzte

Über den Kinderarzt erfolgt in der Regel der erste Kontakt mit dem SPZ. Dieser erfasst zuerst

das Anliegen der Eltern, eventuelle Vorbefunde und führt eine grundlegende Anamnese

durch. Außerdem erhebt er den körperlichen Status des Kindes, sowie dessen allgemeine

Entwicklung. Je nach Fragestellung und Auffälligkeiten bezieht er dann die anderen

Berufsgruppen in die Diagnostik und Therapie mit ein. In gewisser Weise ist der Kinderarzt

der Koordinator der Begleitung und Betreuung eines Kindes und dessen Eltern durch das

SPZ. Seinen Schwerpunkt hat er vor allem bei den Kindern mit kinderneurologischen

Erkrankungen wie z.B. Epilepsie, zerebralen Bewegungsstörungen, Muskelerkrankungen und

bei Kindern mit schweren komplexen geistigen Behinderungen. Hier spielt die EEG-

Diagnostik sowie medikamentöse Therapie eine große Rolle. Aber auch die

Entwicklungsberatung läuft mit über die kinderärztliche Schiene, und wird in bestimmten

Fällen durch die Psychologen ergänzt.

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Krankenschwestern

Die Krankenschwestern haben ihren Hauptschwerpunkt im organisatorischen Ablauf des SPZ.

Patientenanmeldung, Terminvergabe, kassenärztliche Abrechnung, Abwicklung von

Schriftverkehr etc. gehören zu ihren Aufgaben. Außerdem unterstützen sie die Kinderärzte bei

notwendigen medizinischen Maßnahmen.

Physiotherapeuten

Physiotherapeutisch behandelt werden vor allem Kinder mit Bewegungsstörungen, deren

Ursache einmal in der gestörten zentralen Verarbeitung im Gehirn liegen kann, anderseits

auch in einer gestörten peripheren Weiterleitung von nervösen Impulsen. Eine häufige

Ursache von zentralen Verarbeitungsstörungen sind Blutungen im Gehirn vor, während und

nach der Geburt, vor allem bei Frühgeborenen. Diese Kinder sind meist seit der Geburt in

dauernder Behandlung. Durch Bewegungsübungen wird versucht, die propriozeptive

Wahrnehmung und die Grobmotorik zu fördern sowie pathologischen Bewegungsmustern

vorzubeugen, bzw. diese abzubremsen.

Psychologen

Das Aufgabengebiet der Psychologen im SPZ erstreckt sich vor allem auf

Entwicklungsdiagnostik; Leistungsdiagnostik bezüglich anstehender Einschulung oder

angemessener bestehender Beschulung in Abhängigkeit von den intellektuellen

Voraussetzungen eines Kindes; Diagnostik von Teilleistungsstörungen;

Konzentrationsdiagnostik; Diagnostik von ADS/ ADHS und allgemeinen

Verhaltensauffälligkeiten; Entwicklungs- und Erziehungsberatung von Eltern sowie die

Elterngruppenarbeit. Der Schwerpunkt liegt aus Kapazitätsgründen vor allem im

diagnostischen Bereich. Längerfristige psychologische Therapien werden nur im begrenztem

Maße durchgeführt. In vielen Fällen werden die Kinder bei Therapiebedarf weitervermittelt,

z.B. an eine Beratungsstelle.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten wie die Betreuung eines Kindes im SPZ gestaltet wird.

Bestimmte Fragestellungen können nach einer Diagnostikphase durch den Kinderarzt und

weitere erforderliche Berufsgruppen abgeschlossen werden, da entweder keine

Weiterbetreuung nötig ist, oder diese komplett in einer anderen Einrichtung weitergeführt

wird.

In anderen Fällen bleibt nach einer intensiveren Diagnostikphase, eine recht grobmaschige

Betreuung (so ca. halbjährige Termine) bestehen, die bei Bedarf auch wieder engmaschiger

werden kann.

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Bestimmte Therapien (wie z.B. Logopädie, Physiotherapie, Ergotherapie) erfolgen im

wöchentlichen Rhythmus. Diese Kinder werden im größeren Abstand kinderärztlich und

häufig auch psychologisch weiterbetreut. Hier steht häufig der elternberatende Aspekt im

Vordergrund, bzw. bei medikamentösen Einstellungen der Kinder auch eine regelmäßige

Kontrolle z.B. von bestimmten Laborwerten.

Damit kann man insgesamt sagen, dass der Schwerpunkt des SPZ einerseits auf der

Früherkennung und Behandlung von Entwicklungsstörungen bei Säuglingen, Kindern und

Jugendlichen sowie in der Betreuung von Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen und

mehrfachen Behinderungen liegt.

Überblick über die Inhalte der Praktikumtätigkeit

Im Bereich der Leistungsdiagnostik hospitierte ich bei Anamnesegesprächen, bei

Testdurchführungen und Auswertungsgesprächen der im SPZ arbeitenden Psychologen.

Relativ selbständig arbeitete ich mich in die gängigen durchgeführten Testverfahren ein,

einerseits durch Durcharbeitung der Testmanuale, anderseits durch Probedurchführung der

Tests mit Kindern aus dem Bekanntenkreis. Dann führte ich einige Testverfahren selbständig

im SPZ durch. Zuerst unter Aufsicht eines Psychologen, später dann auch ohne Kontrolle. Bei

einigen Diagnostikterminen führte ich vor der Testdurchführung das Anamnesegespräch mit

einem Elternteil. Ebenso wertete ich die Testergebnisse selbständig aus. In einem Fall führte

ich mit einem Psychologen zusammen ein Auswertungsgespräch mit den Eltern. Des öfteren

besprach ich Testergebnisse in ihrer Bedeutung mit den dort arbeitenden Psychologen.

Praktisch durchgeführte Tests:

- Hamburg-Wechsler Intelligenztest für Kinder (HAWIK III)

- Kaufman–Assessment Battery for Children (K- ABC)

- Grundintelligenztest (CFT 20)

- Testreihe zur Prüfung der Konzentrationsfähigkeit (TPK)

- Aufmerksamkeits- und Belastungstest d2

- Konzentration- und Handlungsverfahren (KHV)

- Zürcher Lese–Test (ZLT)

- Diagnostischer Rechtschreibtest (DRT) Form 2 und 5

- Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese–Rechtschreibschwierigkeiten

(BISC)

- Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung (OTZ)

- Nachsprechprobe von Mottier

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- Differenzierungsprobe von Breuer & Weuffen

Übersicht über Tests bei denen ich nur hospitierte, bzw. in die ich mich nur theoretisch

eingearbeitet habe:

- Snijders-Oomen Non-verbaler Intelligenztest (SON -R 2,5 –7)

- Grundintelligenztest (CFT 1)

- Wiener Entwicklungstest (WET)

- Entwicklungstest (ET 6-6)

- Testverfahren zur Dyskalkulie (ZAREKI)

- Salzburger Lese- und Rechtschreibtest (SLRT)

- Diagnosticum für Cerebralschädigung (DCS)

- Zeichnerischer Reproduktionsversuch von Kugler

Während der Testdurchführung versuchte ich außerdem auf beobachtbare Verhaltensweisen

des Kindes zu achten. Die Schwierigkeit bestand darin, dass noch zuviel eigene

Aufmerksamkeit an den Ablauf der Testdurchführung gebunden war. Bei Verfahren die

häufiger durchgeführt wurden, besserte es sich im Verlauf der Praktikumszeit.

Die verschiedenen Beobachtungsbereiche waren:

- äußere Erscheinung

- Grobmotorik

- Feinmotorik / Graphomotorik (z.B. Stifthaltung, Kraftdosierung, Händigkeit...)

- Verhalten (z.B. Aktivität, Verantwortungsübernahme, psychosoziale Reife, motorische

Unruhe, Motivation, Reaktion auf Lob...)

- Leistungsvoraussetzungen (z.B. Arbeitshaltung, Mitarbeitsbereitschaft, Arbeitsstil,

systematisches Herangehen an Aufgaben, Konzentrationsdauer...)

- Sprechmotorik / Sprache (z.B. Dysgrammatismus, Dyslalie, Sprachverständnis...)

Ebenfalls wurde der Ablauf der Testdurchführungen mit eventuellen Besonderheiten,

Störungen notiert, um dadurch eventuell beeinflusste Testergebnisse bei der Interpretation zu

relativieren.

Ein weiterer Bereich meiner Tätigkeit umfasste Hospitationen bei

Erziehungsberatungsgesprächen, bei der Durchführung einer Elterngruppe sowie einer

Konzentrationsgruppe.

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Ich nahm regelmäßig an der täglichen Mittagsbesprechung aller Mitarbeiter des SPZ teil, und

vereinzelt an den kleineren Fallbesprechungen (in Abhängigkeit davon, ob mir das

entsprechende Kind bekannt war oder nicht).

Im Rahmen eines über das SPZ laufenden Schädel–Hirn-Trauma Projekts arbeitete ich mit an

der Testdurchführung und Auswertung einiger Konzentrationsverfahren sowie an der

Systematisierung schon erhobener Daten.

Durch die Zugehörigkeit des SPZ zum Städtischen Krankenhaus Dresden Neustadt war es mir

möglich, einen Einblick in die Arbeit einer Psychologin im kinderklinischen Bereich zu

bekommen. So begleitete ich hier einige Fälle, indem ich an Gesprächen teilnahm, bzw.

einige Testverfahren selbst durchführte.

Theoretischer Hintergrund zum Thema Lernstörungen

Lernstörungen als Teufelskreis (Betz & Breuninger 1998)

Nach den beiden Autoren handelt es sich bei Lernstörungen um tägliche Phänomene, die

jeden Lebensweg zeichnen. Danach seien jede Sportart, jedes Wissensgebiet, dass nach

anfänglicher Begeisterung aufgrund ausbleibender Erfolge wieder liegen gelassen werde,

einer Lernstörung erlegen. Dies bleibe im allgemeinen folgenlos, außer wenn man in ein

System eingespannt sei, das auf einer bestimmten Leistung bestehe, und man diesem System

nicht entkommen könne. Dann bekäme die Lernstörung ein neues Gesicht und werde zur

persönlichen Tragödie.

Dass der Schüler sich in einem solchen System befindet, ist sicher für jeden leicht

nachvollziehbar. Für ihn gilt die Schulpflicht und bei nicht erbrachter Leistung droht das

Sitzen bleiben.

Abgrenzen wollen die Autoren Lernstörungen von schwierigen Lernprozessen. So könne der

Lernstoff schwierig sein, oder das Lernen unter ungünstigen Bedingungen stattfinden (z.B.

Müdigkeit, Ablenkung...), dies würde aber noch keine Lernstörung darstellen, da diese eben

nicht einfach am mangelnden Erfolg festzustellen sei. Vielmehr sei der Lernprozess selbst

„angegriffen“, was bedeute, dass direkt mit dem Lernen in Verbindung stehende Variablen

über längere Zeit ungünstig verändert seien.

Die Variablen werden von ihnen über Kognition und Motivation hinaus gesehen. Sie beziehen

Gefühle und soziale Verflechtungen mit ein. Die Gesamtheit der um jeden Lernprozess

existierenden Variablen (die miteinander vernetzt sind und sich gegenseitig beeinflussen)

bezeichnen sie als „Lernstruktur“ und sehen sie als entscheidend an, den Lernprozess zu

begünstigen (positive Lernstruktur) oder zu be- bzw. verhindern (negative Lernstruktur).

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Innerhalb dieser Lernstruktur unterscheiden sie noch Variablen, die nicht nur mit dem Lernen

in Verbindung stehen, sondern in einem engeren Sinne seine Grundlage, seine Vorraussetzung

bilden würden. Abhängig vom Lerngegenstand seien dies verschiedene Funktionen

(Werkzeuge), auf die der Lernende zurückgreifen kann (z.B. braucht ein Tänzer den

koordinierten Gebrauch beider Beine, ohne dies kann er kein Tänzer werden).

Sie unterscheiden bei diesen Funktionen, ob eine Funktion ganz ausgefallen, beeinträchtigt

oder verzögert ist.

Ausgefallene notwendige Grundfunktionen würden zunächst das Lernen völlig verhindern,

würden aber in vielen Fällen durch den Ausbau anderer Fähigkeiten kompensiert werden

können, was Lernen über „Umweg“ möglich mache. (z.B. Lesen für einen Blinden über

Verfeinerung des Tastsinns mittels Blindenschrift)

Beeinträchtigte Grundfunktionen ergäben zunächst ein Defizit, das besonderer Therapie

bedürfe und gelegentlich immer spürbar bleibe (permanentes Defizit, z.B. spastisch gelähmter

Schüler) oder manchmal auch kompensiert werden könne (in diesem Fall werde es zu einem

temporären Defizit, z.B. kurzsichtiger Schüler).

Funktionen, die relativ zu anderen Kindern verzögert seien, bzw. nur zeitweise nicht

verfügbar, bezeichnen sie als temporäre Defizite, die im Prinzip von selbst verschwänden. Sie

sollten dennoch behandelt werden, um einer negativen Lernstruktur vorzubeugen. (Beispiele

dafür seien heranreifende oder trainierbare Funktionen wie visuelle Wahrnehmung oder

Feinmotorik).

Die durch Defizite entstandene Lernstörung bezeichnen die Autoren als „defizitäre

Lernstörung“ (auch „Werkzeugstörungen“).

Seien auch Variablen außerhalb der Grundfunktionen betroffen, wie Erleben und Verhalten

der beteiligten Personen, nennen sie die entstehende Lernstörung „strukturell“.

Strukturelle Lernstörungen seien durch eine Vernetzung ihrer Wirkungsgrößen

gekennzeichnet, die unsere Vorstellung von Verursachung übersteigen würde (lineares vs.

komplexes Denken). Auftretende Lawineneffekte würden die einmal aufgetretene Störung

aufrechterhalten und zunehmend verschlimmern. Aus ihnen, und weniger aus den defizitären

Lernstörungen, würden die persönlichen Tragödien erwachsen. Leider würde die Eigenart und

Gewalt der strukturellen Lernstörung oft nicht gesehen, da unser Denken auf einfachere

lineare Zusammenhänge ausgerichtet sei und sich dafür die defizitären Störungen als Folge

einer klaren Ursache anbieten. Teile der strukturellen Störung würden zwar durchaus noch

gesehen, aber meist nur als „Sekundärsymptomatik“ am Rande behandelt. Auch die

Forschung beschäftige sich lieber mit den defizitären Störungen.

Die beiden Autoren richten in ihrem Ansatz das Hauptaugenmerk auf diese strukturellen

Lernstörungen und ziehen daraus verschiedene Konsequenzen für die Lerntherapie:

11 11

Da defizitäre Lernstörungen später häufig in strukturelle übergängen, sollten bestehende

Defizite unbedingt so frühzeitig wie möglich erkannt und behandelt werden.

Die Behandlung der strukturellen Lernstörungen erfordere eine strukturelle Lerntherapie,

welche durch ein systemisches Vorgehen, aufgrund des komplexen Wirkungsgefüges,

gekennzeichnet sei. Ziel dabei ist die Umwandlung der negativen in eine positive

Lernstruktur. Der Bereich der dabei zu berücksichtigenden Variablen sei sehr groß, außerdem

würden Maßnahmen an anderer Stelle als der beabsichtigten wirken können, bzw. in anderer

Form. Dies erfordere auch ein Ansetzen an Stellen, die auf den ersten Blick gar nichts mit

dem auffälligen Symptom zu tun haben.

Außerdem entstünden im Wirkungsgefüge neue Formen der Verursachung, sogenannte

Teufelskreise, bei denen es zu einer Vermischung von Ursache und Wirkung komme und die,

wenn sie einmal durch ein Auslöseereignis angeregt seien, selbständig aufrechterhalten

würden. Auslöseereignisse seien recht vielfältig und austauschbar. Ein einmal in Gang

gekommener Teufelskreis bedürfe seines Auslösers nicht mehr. Ihn zu stoppen sei schwierig,

da man dazu die Struktur des Kreises und darauf abgestimmte hemmende Eingriffe genau

kennen müsse.

Grundkomponenten des Wirkungsgefüges seien der Leistungsbereich (L) des Schülers, sein

Selbstwertgefühl (S) und seine soziale Umwelt (U). Diese bezeichnen die Autoren als Blöcke,

in denen mehrere Variablen zusammengefasst seien (kondensiert seien), die bei einem

näheren Betrachtungsabstand auch einzelne Wirkketten darstellen würden.

Die Ausbildung einer strukturellen Lernstörung beschreiben sie in mehreren Stadien. Im

ersten Stadium könne sich z.B. ein Defizit in Form einer visuellen Differenzierungsschwäche

auf den Leistungsbereich negativ auswirken und z.B. in auffälligem Leseverhalten zeigen.

Vom Leistungsbereich (L) würden Wirkungen durch Selbststigmatisierung und

Selbstattribution des Schülers auf das Selbstwertgefühl (S) ausgehen. So stelle sich der

Schüler vielleicht vor, er habe einen Defekt und sei von den anderen isoliert. Ebenso wirke L

auf die Umwelt (U), die das Verhalten oft nicht verstehen könne und enttäuscht sei. In U

ausgelöste Reaktionen, die den Schüler vielleicht tatsächlich sozial isolieren würden, würden

wieder auf S wirken (angegriffenes Selbstwertgefühl werde weiter geschädigt).

Im zweiten Stadium versuche der Schüler für das eigene Versagen eine hinreichende

Erklärung zu finden, die möglichst wenig abwertend sei. Anbieten würden sich dafür z.B. „ich

will gar nicht lesen lernen“ oder von der Umwelt (U) ausgegangene Erklärungen der

„Unkonzentriertheit“. Um kognitive Dissonanz zu vermeiden, würde der Schüler

Verhaltensweisen annehmen, die zu seinem Erklärungsmodell passten, was wiederum

bestehende Annahmen von U bestätige. Die ihm versagt bleibende Anerkennung durch U

versuche sich der Schüler über Kompensationsstrategien (z.B. Klassenkasper sein) zu holen.

12 12

Die auftretenden Verhaltensstörungen seien damit ein ableitbarer Bestandteil der

Gesamtstruktur der Lernstörung. S und U würden nun einen Kreisprozess bilden, der sich

selbst erhält, auch wenn die anfängliche Differenzierungsschwäche durch Nachreifung

eventuell überwunden sei. Als Folge würden sich beim Schüler im dritten Stadium immer

mehr Resignation ausbreiten, bei der Umwelt Verbitterung und Druck. In Hinblick auf die

aversiv belegten Lerninhalte entwickle der Schüler Vermeidensreaktionen, die wiederum zur

Entstehung immer größerer Lücken führe (auch dies sei für sich wieder ein Kreisprozess

zwischen S und L). Außerdem nehme der Schüler seine Minderleistung vorweg, bekäme

Angst, dies führe zur Blockierung der kognitiven Prozesse (Stressreaktion) und damit zu

einem Leistungsabfall gerade im Moment der Leistungsforderung. Diesen, in die

Gesamtstruktur eingebetteten Teilkreis, bezeichnen die Autoren als „Leistungsstörung“.

Im vierten Stadium komme es zum Aufbau einer misserfolgsorientierten Motivationslage. Die

Gründe für die Misserfolge sehe der Schüler bei sich selbst, gelegentliche Erfolge würden

dem Zufall zugeschrieben. Dies mache es zunehmend schwieriger, den Schüler über gute

Leistungen aus der negativen Haltung herauszubringen. In der Umwelt sei oft auch der

Glaube an die Leistungsfähigkeit des Kindes verlorengegangen, so dass diese auf vereinzelte

Erfolge möglicherweise mit Misstrauen reagiere, was wiederum auf das Selbstwertgefühl des

Kindes wirke. Insgesamt sei eine stabile negative Lernstruktur mit Misserfolgserwartung

entstanden. Dieses Endstadium sei eine psychoreaktive Störung, die je nach dem

imponierendsten Symptom als depressive Verstimmung, soziale Außenseiterproblematik,

psychosomatische Beschwerden, Verhaltens- oder Anpassungsstörung auffalle.

Die Stadien werden von den Autoren als Stufen der strukturellen Komplexität gesehen, nicht

als Stufen der biographischen Entwicklung. Sie müssen also nicht in dieser Folge

durchschritten werden, sondern die Störung könne im Prinzip mit Einflüssen aus jedem

Stadium beginnen. Zum Beispiel würden Lücken aus sehr vielfältigen Gründen entstehen

(längere Krankheit, Umzug, Lehrerwechsel, seelische Belastungen...).

Im praktischen Vorgehen solle nun die aktuelle Lernstruktur eines Schülers durch Aufstellung

eines Strukturmodells erfasst werden. Dabei habe die erhobene Struktur zunächst

hypothetischen Charakter, und müsse im Laufe der Lerntherapie geprüft, korrigiert und

ergänzt werden. Es habe sich aber gezeigt, dass sich an ihr individuelle

Behandlungsschwerpunkte, Beratungsvorschläge und Indikationen für die Lerntherapie

ableiten lassen.

Für die Therapie seien das soziale Feld, das Selbstwertgefühl des Schülers und die

vorhandenen Lücken die Angriffspunkte. So sollen noch bevor mit dem Schüler gearbeitet

wird, im sozialen Umfeld Bedingungen geschaffen werden (durch Elternarbeit, Beeinflussung

der Lehrer), die einen Therapieerfolg zulassen. Im Punkt Selbstwertgefühl ist der erste Punkt

13 13

das Aufbrechen der Misserfolgsmotivation. Dazu müsse erzwungen werden, dass der Schüler

Erfolge erziele, die er akzeptieren könne. Dazu würden sich Gebiete eignen, die zwar einen

Zusammenhang mit dem Störungsgebiet hätten, aber noch nicht negativ besetzt seien. Bei

jedem einzelnen Schritt sei dann eine konsequente Erfolgsrückmeldung nötig, damit dem

Schüler bewiesen werden könne, dass die Erfolge durch sein eigenes Verhalten zustande

kommen. Auf das Selbstwertgefühl wirke auch eine gute Therapiebeziehung, die dem Kind in

Form sozialer Anerkennung helfe. Auch ein Lehrerwechsel oder eine Umschulung könne

durch die veränderte soziale Lage das Selbstwertgefühl verbessern und einen

Besserungsprozess auslösen.

Der Angriffspunkt Lücken solle in der Therapie exemplarisch bearbeitet werden, so weit, bis

der Schüler in die Lage sei, ohne Hilfe weiterzulernen. Besondere Bedeutung käme hier auch

der Vermittlung von Lerntechniken zu.

Um die Fortschritte der Therapie auch auf die Schulsituation zu übertragen, müsse auch an

der Behandlung der Schulangst angesetzt werden.

Insgesamt sehen die Autoren die entscheidende Einstiegsstelle im Selbstwertgefühl des

Kindes, unterstreichen aber die Notwendigkeit, an mehreren Stellen gleichzeitig einzugreifen,

und alle Teufelskreise zu zerschlagen. Praktisch besteht die Behandlung aus den Teilen

Elternarbeit (Verständnis schaffen und grundlegende Techniken erarbeiten); psychologische

Gruppenarbeit mit den Schülern und begleitende Elternarbeit; Lerntherapie (Arbeit am

Symptom).

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Autoren die strukturelle Lernstörung als ein

komplexes Wirkungsgefüge sehen, welches nach anfänglichen Auslösemechanismen eine

Eigendynamik in Form von Teufelskreisen annimmt. Es ist wichtig diese Teufelskreise zu

hemmen, unabhängig davon was zu ihnen führte. Frühzeitig Defizite auszuräumen oder zu

kompensieren dient der Prävention von strukturellen Lernstörungen. Defizite sind aber keine

notwendige Bedingung für die Entwicklung einer strukturellen Lernstörung bzw. können sie

schon verschwunden sein, wenn die Lernstörung selbst weiter besteht. Damit weisen die

Autoren den Weg von eindimensionaler diagnostischer Ursachensuche einer Störung mit dem

Hauptziel der Klassifizierung, zu einem Begreifen der Komplexität der Störung und einer

Diagnostik, die an den Erfordernissen der Behandlung ausgerichtet ist.

Klassifikation von Lernstörungen nach dem DSM IV (ICD-10)

Innerhalb der Störungen, die gewöhnlich zuerst im Kleinkindalter, in der Kindheit oder der

Adoleszenz diagnostiziert werden sind unter dem Kapitel Lernstörungen im DSM IV die

Lesestörung, die Rechenstörung, die Störung des Schriftlichen Ausdrucks sowie die Nicht

Näher Bezeichnete Lernstörung aufgeführt. ( in der ICD- 10 entsprechen diese in etwa den

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unter Entwicklungsstörungen aufgeführten Umschriebenen Entwicklungsstörungen

schulischer Fertigkeiten)

Kennzeichnende diagnostische Merkmale sind:

- die Leistung einer Person im Lesen, Rechnen oder im schriftlichen Ausdruck bei

individuell durchgeführten standardisierten Tests liegen wesentlich unter den

Leistungen, die aufgrund der Altersstufe, der Schulbildung und des Intelligenzniveaus

zu erwarten wäre (deutlich unterdurchschnittlich ist üblicherweise definiert als ein

Unterschied von mehr als zwei Standardabweichungen zwischen Testleistung und IQ-

Wert; ein Unterschied zwischen ein und zwei Standardabweichungen wird

insbesondere in den Fällen angewandt, in denen die Leistung einer Person im IQ- Test

aus verschiedenen Gründen verfälscht sein könnte; z.B. durch kulturellen Hintergrund)

- die Lernprobleme beeinträchtigen deutlich die schulischen Leistungen oder die

Aktivitäten des täglichen Lebens, bei denen Lese-, Rechen-, oder Schreibfähigkeiten

benötigt werden

- liegt ein sensorisches Defizit vor, so müssen die Lernschwierigkeiten größer sein als

diejenigen, die normalerweise mit diesem Defizit verbunden sind

Lernstörungen durch cerebral bedingte Informationsverarbeitungsstörungen – eine

neuropsychologische Betrachtungsweise (Barth 1997)

Der Autor sieht in den cerebral bedingten Informationsverarbeitungsstörungen (in der

Literatur würden sie oft auch als „Teilleistungsstörungen“, „sensorische

Integrationsstörungen“ oder „Wahrnehmungsstörungen“ bezeichnet) nur eine von vielen

möglichen Ursachen für Entwicklungsauffälligkeiten und Lernstörungen, denen er sich

schwerpunktmäßig in seinem Buch zuwendet. Als große Ursachenbereiche für Lernstörungen

sieht er a) die Umwelt des Kindes (deprivierende Lebensbedingungen; gestörte Eltern–Kind-

Interaktion; geringe Lernangebote...); b) unangemessene Lern- und Unterrichtsformen und c)

organische Ursachen wie Seh- und Hörbehinderung, psychiatrische Erkrankungen und

cerebral bedingte Informationsverarbeitungsstörungen.

Die Darstellung dieses individuumszentrierten Ansatzes schließe aber nicht aus, dass der

sozio-ökologische Hintergrund des Schul- und Familiensystems mit berücksichtigt werden

müsse.

Neuropsychologen würden davon ausgehen, dass es ein kleines Basis–Set von Fähigkeiten

gebe, deren möglichst reibungsloses Funktionieren unsere Entwicklung und unser Lernen im

Grunde bestimmen würden. Als Ursache von Lern- und Entwicklungsauffälligkeiten würden

15 15

in neuropsychologischen Konzepten die mangelnde Integration einzelner Sinnesmodalitäten

in ein umfassendes funktionales System gesehen.

Nach Ayres (1984, in Barth 1997) ist sensorische Integration „der Prozess der Aufnahme und

Verarbeitung von Sinnesempfindungen und die Organisation von Gedanken und Gefühlen zu

sinnvollen und befriedigenden Handlungen auf der Basis sich vervollständigender

Hirnfunktionen“. Sensorische Integration sei somit ein Prozess, in dem das Gehirn

Informationen aus den Rezeptoren der verschiedenen Sinnesbereiche aufnehme, differenziere,

speichere, erkenne, deute, sortiere, hemme und eingliedere, um darauf mit einer passenden

Reaktion zu antworten. Als Grund für Lern- und Entwicklungsstörungen sieht Ayres deshalb

die mangelnde Fähigkeit des Kindes, die Reize aus verschiedenen Sinneskanälen zu

integrieren.

Barth (1997) geht davon aus, dass Störungen grundlegender Wahrnehmungsprozesse auch

komplexere Funktionen und Fähigkeiten wie Sprache und Sprechen, räumliches

Vorstellungsvermögen, Konzentration, Ausdauer, Gedächtnis, Motorik und natürlich auch

Lesen, Rechtschreiben und mathematisches Denken beeinträchtigt. Er sieht somit im

Erkennen von Funktionsstörungen in den verschiedenen Wahrnehmungsbereichen eine

Möglichkeit der Früherkennung für das Risiko späterer Lernstörungen. Hier könne eine

frühzeitige Förderung einsetzen und, wenn auch nicht Lernprobleme völlig verhindert werden

können, durch frühzeitige Elternberatung Entlastung und Verständnis für die Kinder

geschaffen werden. Dies könne vor allem die negativen Folgen des Versagens auf die

Persönlichkeitsentwicklung des Kindes reduzieren.

Barth diskutiert dabei auch die Gefahr der Stigmatisierung durch Früherkennung, Auslösung

unnötiger Ängste bei den Eltern oder einer Ursachenfokussierung auf das Kind, die Schule

und Unterrichtsformen von Verantwortung entbindet. Einen Verzicht auf Früherkennung sieht

er aber an den Interessen des Kindes vorbeigegriffen, wenn man die längerfristigen Folgen

von Lernstörungen für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes und seinen weiteren

Lebensweg betrachtet.

Barth gibt einen ausführlichen Überblick über die verschiedenen Wahrnehmungsbereiche und

ihre Funktionsstörungen sowie praktische Beobachtungsmöglichkeiten der Störungen. Er

weißt darauf hin, dass die getrennte Darstellung der einzelnen Sinnesbereiche nur einem

besseren Verständnis dient, und ansonsten alle Wahrnehmungsbereiche als gemeinsames

funktionelles System arbeiten.

Im folgenden werden aus den verschiedenen Bereichen exemplarisch Erkennungsmerkmale

und Folgen der Störung dargestellt:

16 16

-taktile Wahrnehmung

a) Überempfindlichkeit des taktilen Systems (taktile Reize werden zu stark

wahrgenommen, somit von den Kindern als unangenehm, schmerzhaft, nicht genau

lokalisierbar empfunden; Vermeidung von Körperkontakt, Berührung mit bestimmten

Materialien; Jammern bei geringfügigen Verletzungen; Angstreaktionen auf

Berührung; verzögerte Entwicklung des Körperempfindens durch ungenaue

Reizverarbeitung)

b) Unterempfindlichkeit des taktilen Systems (taktile Reize werden zu stark gehemmt,

dadurch muss der Reiz von großer Intensität sein, damit er wahrgenommen wird;

Kinder wirken schmerz- und temperaturempfindlich; um den Körper besser zu spüren,

stimulieren sie sich oft durch Selbstverletzung- beißen, kratzen)

- kinästhetische Wahrnehmung (Voraussetzung für das Erlernen und Ausführen schneller und

flüssiger Handlungsabläufe, Speicherung und Automatisierung bisheriger

Bewegungsabläufe, zielgerichteter Bewegungsplanung, Lautbildung, Entwicklung der

Formwahrnehmung und Raumvorstellung)

Kinder mit kinästhetischen Wahrnehmungsstörungen haben Schwierigkeiten mit dem

Erlernen komplizierter Bewegungsabläufe, die bei vielen grob- und feinmotorischen

Aufgaben erforderlich sind, in der Zielgenauigkeit wie z.B. Zeileneinhaltung,

Lautbildungs- und Artikulationsstörungen, in der Formwahrnehmung, Schätzen von

Strecken und Herstellung von Größenbeziehungen, in der Stifthaltung und im

Arbeitstempo.

Zusammen mit der vestibulären Wahrnehmung ist die kinästhetische Wahrnehmung

für die Steuerung des Muskeltonus zuständig. Störungen führen zu geringem

(hypoton) oder zu starkem (hyperton) Muskeltonus, was in beiden Fällen zu rascherer

Ermüdung bei Anforderungen führt.

- vestibuläre Wahrnehmung ( eine der wichtigsten Basissysteme, mit zentralnervösen

Verbindungen zu einer Reihe von Gehirnregionen; unter anderem auch Einfluss auf den

Wachheitsgrad)

Störungen wirken sich auf vielfältige Weise aus: Beeinträchtigungen der

Gesamtkörperkoordination, oft auch die Augenmuskelkontrolle mit Auswirkung auf

das beidäugige Sehen und die Fixierung von Gegenständen, der auditiven

Wahrnehmungsverarbeitung, der visuellen Wahrnehmung und der Auge-Hand–

Koordination.

17 17

a) Unterfunktion des vestibulären Systems (Gleichgewichtsreize werden zu stark

gehemmt; Kinder suchen deshalb vermehrt Stimulation durch Schaukeln, Hopsen...;

wirken oft motorisch sehr unruhig; können Risiken schlecht abschätzen; zeigen kaum

Nystagmus bei Drehbewegungen und kaum Schwindelgefühle)

b) Überfunktion des vestibulären Systems (Gleichgewichtsreize zu wenig gehemmt,

was Ängste und Unsicherheit vor Bewegungen auslöst; Kinder wollen sich nicht gern

bewegen, suchen Sicherheit durch Nähe zur Mutter, klammern sich an; haben bei

Drehbewegungen lang anhaltenden Nystagmus)

Nach Ayres sind die taktilen, kinästhetischen und vestibulären Wahrnehmungen die

sensomotorischen Grundlagen der Entwicklung, auf denen visuelle und auditive

Wahrnehmungsprozesse aufbauen. Störungen in den drei Bereichen führen zu:

- Körperschemastörungen (zeigen sich z.B. an nichtaltersgerechter Menschzeichnung, Kinder

können schlecht Körperteile benennen)

Das Körperschema ermöglicht, vom eigenen Körper als Bezugspunkt aus, sich im Raum zu

orientieren und motorische Handlungen zu planen und auszuführen.

- Bewegungsplanungsstörungen (Dyspraxien)

Dyspraktische Kinder haben Schwierigkeiten für gedanklich gesetzte Ziele die Abfolge der

Handlungsschritte zu planen und die Handlungsausführung mit dem Plan zu vergleichen. Hier

wirkt sich auch das wenig differenziert entwickelte Körperschema aus.

Auffällig werden sie vor allem beim Umgang mit Spielmaterial (eingeschränkte Nutzung,

schematische, stereotype Handlungen, häufiges Zerbrechen) mit Werkzeugen aller Art

(Probleme mit Schere, Essbesteck) sowie beim Anziehen. Motorische Anforderungen sind für

sie beängstigend und hindern sie am neugierigen Entdecken. Passivität wird zur inneren

Einstellung. Ihre Unsicherheit wirkt sich aufs Selbstwertgefühl und zwischenmenschliche

Kontakte aus.

- Störungen der Raumwahrnehmung

Das Kind kann sich an seinem Körper und im Raum schlecht orientieren. (z.B. stößt oft an

Gegenstände an, kann Entfernungen schlecht abschätzen, kann seine Sachen nicht in Ordnung

halten oder wiederfinden, verläuft sich leicht und ist somit nicht gern an fremden Plätzen, hat

Probleme mit Puzzlespielen und Labyrinthaufgaben)

-visuelle Wahrnehmung

Funktionsstörungen der visuellen Wahrnehmung kommen selten unabhängig von anderen

Integrationsstörungen vor, oft bestehen auch schlecht ausgebildete Körperschema sowie

taktile, kinästhetische und vestibuläre Integrationsstörungen. Visuelle

18 18

Wahrnehmungsstörungen können auch durch organische Ursachen entstehen (z.B. durch

Linsentrübung), so dass auch eine augenärztliche Untersuchung durchgeführt werden sollte.

a) Störungen der visuo-motorischen (Auge-Hand) Koordination

Kinder können beim Malen, Schneiden oder Schreiben schlecht Begrenzungslinien einhalten;

haben Schwierigkeiten beim Auffangen eines Balls, Ballprellen, Zielwürfen, Perlen auf eine

Schnur auffädeln, Einschütten von Flüssigkeit in ein Glas

Oft sind die Schwierigkeiten der Auge-Hand-Koordination mit Störungen der

Augenmuskelkontrolle verbunden, so dass Gegenstände nicht längere Zeit mit dem Auge

fixiert werden können.

b) Störungen der Figur-Grund-Unterscheidung

Kinder haben Probleme beim Nachzeichnen von zwei oder drei sich überlappenden Formen;

verlieren beim Lesen leicht die Zeile und das Abschreiben von der Tafel gelingt ihnen

schlecht

c) Störungen der Formkonstanz-Beachtung

Kinder erkennen geometrische Formen unterschiedlicher Lage und Größe nicht als identisch

an und erkennen gleiche Worte in der nächsten Reihe nicht wieder.

d) Störungen des Erkennens der Lage im Raum

Ähnlich aussehende Buchstaben wie b-d, p-q, n-u werden verwechselt, Zahlen vertauscht

geschrieben (86 statt 68) oder Zahlen und Buchstaben werden am Ende der 1. Klasse noch

spiegelbildlich geschrieben. Auch kann ein Lesen in gegensinnige Richtung vorkommen und

Ähnlichkeiten, Details, Unterschiede in Muster und Zeichnungen werden schlecht erkannt.

e) Störungen im Erfassen räumlicher Beziehungen

Kinder können Abstände und Größen schlecht eingeschätzten; Entfernungen eines

Gegenstandes zum Betrachter schlecht beurteilen; haben Unsicherheiten im Verstehen von

Begriffen wie „auf“, „unter“, „zwischen“, „davor“, so dass kleine Handlungsaufträge schlecht

ausgeführt werden können. Einfache geometrische Figuren (mit Holzstäbchen gebaut) können

schlecht aus dem Gedächtnis nachgebaut werden.

f) Störungen des visuellen Symbolgedächtnisses

Kinder können schlecht Reihenfolgen einfacher Symbole aus dem Gedächtnis nachlegen.

g) Störungen der visuellen Aufmerksamkeitsspanne

Kinder werden durch visuelle Reize sehr schnell abgelenkt und können sich nicht ausdauernd

mit einem Lerngegenstand beschäftigen.

19 19

- auditive Wahrnehmung

Auch hier müssen wieder organische Ursachen durch eine Untersuchung beim Hals-Nasen-

Ohren-Arzt ausgeschlossen werden, da z.B. eine Schwerhörigkeit auch zu Einschränkungen

der auditiven Wahrnehmung führen würde.

a) gestörte Schalllokalisation

Kinder können eine Schallquelle nicht im Raum lokalisieren; einer sich bewegenden

Schallquelle können sie nicht folgen

b) nicht altersgemäße Lautdiskriminationsfähigkeit

Kinder haben Schwierigkeiten im Erkennen und Unterscheiden von Sprachlauten. So können

ähnlich klingende Wörter (wie Nadel-Nagel) nicht hinreichend genau unterschieden werden,

und sie haben oft eine verwaschenen Sprache.

c) Beeinträchtigung der Figur-Grund-Wahrnehmung

Sprache kann in geräuscherfüllter Umgebung nicht ausreichend von den Störgeräuschen

unterschieden werden; Kinder verstehen in solchen Situationen oft die Anweisungen nicht

und fragen öfters nach, oder orientieren sich an anderen

d) verkürzte Hör-Gedächtnis-Spanne

Kindern können nacheinander eintreffende akustische Informationen (wie Wörter,

Zahlenreihen) nur begrenzt im Arbeitsgedächtnis speichern und wieder abrufen; die seriale

Verarbeitung akustischer Reize gelingt ihnen nicht altersentsprechend. Die Störung hat

großen Einfluss auf die Lese-/Rechtschreibentwicklung und die Durchführung von

Rechenoperationen.

e) Störungen der auditiv-visuellen Integration

Kinder haben Schwierigkeiten visuelle Reize in bedeutsame akustische Information

umzusetzen und umgekehrt; Phonem-Graphem (Laut-Buchstabe)-Zuordnung gelingt ihnen

schlecht

f) gestörte Lautanalyse und Lautsynthese

einzelne Laute können nicht oder schwer aus einem Wort herausgehört werden; Silben nicht

zu Wörtern zusammengezogen werden

Ein intaktes Kurzzeitgedächtnis ist eine notwendige Vorraussetzung für die Lautsynthese und

Lautanalyse. Störungen in dem Bereich führen zu Lese-/Rechtschreibproblemen.

g) nicht altersgemäße rhythmisch-melodische Differenzierung

Gehörtes kann nicht aufgrund seiner melodischen oder rhythmischen Struktur voneinander

unterschieden werden. So gelingt es nicht ein Wort nach Silben bzw. einfache

Klatschrhythmen nachzuklatschen oder Verse und Reime rhythmisch zu sprechen.

20 20

h) Störung bei der Wahrnehmung emotionaler Inhalte

Aus Musik oder Gesprochenem kann der emotionale Inhalt nicht altersentsprechend

entnommen werden.

i) Störung der Wahrnehmungskonstanz

Ein bestimmtes Geräusch, ein Ton oder eine bestimmte Lautfolge kann nicht wiedererkannt

werden, wenn es in veränderter Lautstärke, Klangfarbe, Tonhöhe oder gemeinsam mit

anderen Tönen, Lauten oder Geräuschen angeboten wird (z.B. ein vorgegebenes Stichwort

kann nicht aus einem vorgelesenen Text herausgehört werden).

j) Störungen der auditiven Aufmerksamkeit

Kinder können sich nicht auf wechselnde akustische Signale (wie Sprache des Lehrers)

dauerhaft einstellen. Dies zeigt sich in erhöhter Ablenkbarkeit durch Geräusche, zunehmender

Ermüdung und Unruhe im Unterricht, fehlender Ausdauer bei verbalen Aufgaben.

k) Störungen des Lautheitsempfindens

Schallereignisse werden als zu laut bzw. schmerzhaft und / oder normale Umgangssprache

wird als zu leise empfunden (z.B. Ohren zuhalten bei normalen Lärmpegel).

Barth geht in seinen weiteren Ausführungen auf die Möglichkeiten der Früherkennung von

Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten ein. Schreiben- und Lesenlernen sieht er als sehr

komplexe kognitive Fähigkeiten an, die sich nur gut entwickeln könnten, wenn zugrunde

liegende Wahrnehmungssysteme bzw. deren integratives Zusammenwirken zu großen

funktionellen Systemen, reibungslos vonstatten gehe. Er geht dann noch auf die einzelnen

funktionellen Systeme ein, die für die Rechtschreibung bzw. den Leselernprozess von

besonderer Bedeutung sind sowie auf Vorläuferfunktionen als Früherkennungshinweise.

Zusammenfassend aus derzeitigen Forschungsergebnissen zählt er zu den „Risikokindern“,

Kinder mit Auffälligkeiten bzw. Schwierigkeiten in:

- der phonologischen Bewusstheit

- in der grob- und feinmotorischen Entwicklung bzw. in der Körperkoordination ( hier

seien insbesondere die Zusammenhänge zu vestibulären Wahrnehmungsstörungen zu

sehen, die wiederum eine eingeschränkte auditive Merkfähigkeit, Schwierigkeiten der

Augenmuskelkontrolle, visuelle Wahrnehmungsstörungen und Auge-Hand-

Koordinationsstörungen zur Folge haben)

- in der Regulierung des Muskeltonus

- in der Sprachentwicklung

- im Aufmerksamkeits- und Konzentrationsverhalten

- im auditiven und visuellen Gedächtnis

- im binokularem Sehen

21 21

- in der visuellen Wahrnehmung

- in der Entwicklung der Lateralität

Als Möglichkeiten der Früherkennung geht er noch auf die bedeutenden Ansätze von Breuer

und Weuffen (1993), auf das von der Bielefelder Forschungsgruppe entwickelte Screening-

Verfahren zur Früherkennung von Kindern mit Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten (BISC),

sowie auf weitere testpsychologische Diagnostik ein (u.a. Frostig-Entwicklungstest der

visuellen Wahrnehmung, K-ABC, Rechtschreibtest wie DRT 2).

Darstellung der eigenen Aufgabenbearbeitung bzw. das Vorgehen der Einrichtung zum

Thema Lernstörungen

Das übliche Vorgehen im SPZ ist, dass ein Kind vom betreuenden Kinderarzt mit einer

bestimmten Fragestellung zur psychologischen Diagnostik angemeldet wird. Eine häufige

Fragestellung ist die nach der Schulfähigkeit des Kindes, bzw. welche Beschulungsform

angemessen ist, bzw. ob mit der jetzigen Schulform eine Überforderung vorliegt. Im weiteren

Sinne haben diese Fragestellungen alle mit dem Thema Lern- und Leistungsstörung zu tun.

Entweder ist diese schon eingetreten, und eine eventuelle schulische Überforderung soll

abgeklärt werden, oder durch die Diagnostik soll im voraus die angemessene

Beschulungsform herausgefunden werden, um Störungen möglichst zu vermeiden.

Auf der Anforderung zur psychologischen Diagnostik vermerkt der Kinderarzt ebenfalls

relevante Vorinformationen. Das können z.B. schon festgestellte Diagnosen sein, aber auch

von den Eltern berichtete Auffälligkeiten wie langsames Arbeitstempo, geringe

Konzentrationsfähigkeit, Klassenwiederholungen und anderes. Ausführlichere anamnestische

Daten sind dann in der Arztakte des Kindes zu finden, auch Befunde von behandelnden

anderen Einrichtungen (z.B. ambulante Ergotherapie, Rehabilitationseinrichtungen etc.) sowie

eventuell schon angeforderte Beurteilungen aus Schule bzw. Kindergarten.

Je nach vorhandenen Vorinformationen richtete sich dann die Intensität des ersten

Anamnesegesprächs mit den Eltern. In jedem Fall wurden aber die vorhandenen Erwartungen

der Eltern an die Arbeit des Psychologen erfragt. Also was ihr Problem bzw. Anliegen ist, ob

dies der weitergegebenen Fragestellung des Kinderarztes gleicht, und was sie sich von der

psychologischen Diagnostik bzw. Betreuung bzw. Beratung im SPZ erhoffen. Ansetzend an

der Problemschilderung der Eltern wurden vertiefende Fragen zur Entwicklung und

Lebensumwelt des Kindes gestellt. Wichtige Punkte dabei waren Interaktion Eltern-Kind;

Kind-Geschwister; Kind-Freunde, Stellung des Kindes in seiner Klasse, bisherige schulische

und soziale Entwicklung des Kindes (z.B. auch Klassenwiederholungen, Schulrückstellungen,

22 22

Schulwechsel,...), Entwicklungsauffälligkeiten, Krankheiten und therapeutische

Vorgeschichte.

Zur Beurteilung des schulischen Leistungsverhaltens wurde auch Einsicht in Schulmaterialien

genommen. In selteneren Fällen werden auch durch die Sozialpädagogen des SPZ

Schulhospitationen (bzw. Hospitation im Kindergarten) durchgeführt.

Nach der Erfragung der relevanten Informationen zum Problempunkt wurde dann noch ein

Überblick über das geplante Vorgehen gegeben und mit den Eltern abgestimmt. Im Anschluss

wurde mit der diagnostischen Arbeit mit dem Kind begonnen. Um ein Kind unter möglichst

günstigen Bedingungen zu diagnostizieren, wurden die Leistungstests prinzipiell am

Vormittag durchgeführt und die Nachmittage eher für Auswertungs- und Beratungsgespräche

genutzt.

Zur Beurteilung der intellektuellen Voraussetzungen wurde in der Regel ein relativ breites

Intelligenztestverfahren eingesetzt, mit dessen Hilfe man die Fähigkeiten des Kindes in Form

eines Profils beschreiben kann. Damit lässt sich einerseits erkennen, ob das Profil insgesamt

relativ homogen ist, anderseits bei starker Heterogenität, wo dann die entsprechenden Stärken

und Schwächen liegen. Neben numerischen Aussagen zu den einzelnen Fähigkeiten lassen

sich auch ein Gesamttestwert, bzw. Werte für die Zusammenfassung ähnlicher Fähigkeiten

ermitteln.

Gängige Verfahren sind das K-ABC, der HAWIK III und der SON 2,5-7, bzw. 7- 17 (Alter

für die entsprechende Testanwendung). Der Einsatz des SON ist vor allem für gehörlose und

hörgeschädigte Kinder gedacht. Er ist aber auch ein sehr brauchbares Verfahren bei allen

Kindern mit Sprachproblemen, da hier alle Antworten nonverbal gegeben werden können.

Das K-ABC ist schon für die Anwendung ab 2,5 Jahren bis 12,5 Jahre normiert. Der HAWIK

III für die Anwendung von 6 –16 Jahren. Somit ist das Alter ein Aspekt für die Entscheidung

für ein Verfahren. Der andere Aspekt sind die damit erfassten Fähigkeiten.

Zeigten sich in einzelnen Teilbereichen Auffälligkeiten, wurden dazu Hypothesen aufgestellt,

die mit Hilfe speziellerer Tests geprüft wurden. So können Auffälligkeiten im Mosaik-Test

des HAWIK III auf eine mögliche minimale hirnorganische Schädigung hinweisen, die dann

z.B. mit dem Diagnosticum für Cerebralschädigung (DCS), oder bei weniger vorhandener

Zeit mit dem zeichnerischen Reproduktionsversuch von Kugler (als Screening Verfahren)

weiterverfolgt wurde.

Beim K-ABC werden die intellektuellen Fähigkeiten in einzelheitliches und ganzheitliches

Denken unterschieden. Störungen im einzelheitlichen Denken weisen oft auf Schwierigkeiten

hin, dass beim Lesen- und Schreibenlernen notwendige Erfassen der seriellen Reihung der

Buchstaben zu bewältigen, vor allem im auditiven Bereich. Hier wurde das Risiko für

23 23

auftretende Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten unter anderem durch die Durchführung

des Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten

(BISC) weiter abgeklärt. Dieser prüft unter anderem die phonologische Bewusstheit, d.h. wie

gut ein Kind Einsicht in die lautliche Struktur der Sprache hat, zur Lautanalyse und

Lautsynthese in der Lage ist. Bei bestehenden Defiziten wurde ein Training dieser

Fähigkeiten durch logopädische Behandlung als eine gute Chance gesehen, die schulischen

Eingangsvoraussetzungen zu verbessern, bzw. wenn das Kind schon die Schule besuchte, die

Grundvoraussetzungen für den Lese- und Schreiblernprozess zu schaffen.

Zur Diagnostik von Sprachwahrnehmungsproblemen wurde neben dem BISC auch die

Differenzierungsprobe von Breuer und Weuffen genutzt. Hier werden die optisch-

graphomotorische, die phonematisch-akustische, die kinästhetisch-artikulatorische, die

melodisch-intonatorische und die rhythmische Differenzierungsfähigkeit geprüft.

Insgesamt gesehen wurde der Diagnostik eventueller Wahrnehmungsdefizite eine große

Bedeutung beigemessen.

Die Konzentrationsfähigkeit ist eine wichtige Leistungsvoraussetzung bei der Bewältigung

von schulischen Anforderungen, und damit auch eine mögliche Komponente bei

Lernstörungen.

Zur Erfassung der Konzentrationsfähigkeit wurde häufig ein standardisiertes Verfahren

angewendet. Für jüngere Kinder eignet sich hier das Konzentrations- und Handlungsverfahren

(KHV), da es einen hohen Aufforderungscharakter für diese Altersgruppe hat. Es handelt sich

hierbei um ein Sortierverfahren, bei dem 80 Karten mit zahlreichen Tierabbildungen nach

dem Vorhandensein von bestimmten Tieren in 4 Kategorien eingeordnet werden. Ab 9 Jahren

kann der d2 durchgeführt werden. Hier ist aber zu beachten, dass die Leistung von Kindern

mit Lese- und Rechtschreibstörungen durch Probleme mit der Auseinanderhaltung der

Buchstaben p und d verzerrt sein kann.

Da die Konzentration vor allem in Bezug auf die schulischen Anforderungen eine Rolle spielt,

wurde bei ausreichend vorhandener Zeit auch das TPK gern verwendet. Dieses besteht aus

drei Teilen, dem möglichst fehlerfreiem Abschreiben eines Textes, Merken von Tiernamen

aus einer Geschichte und dem Lösen von einfachen Rechenaufgaben. Entscheidend ist immer

die geschaffte Menge sowie die Qualität der Leistung. Allerdings spielen hier auch Geübtheit

im Lösen von Kopfrechenaufgaben eine Rolle, sowie schreibmotorische Aspekte.

Für die Beurteilung der Konzentrationsfähigkeit wurde auch die Beobachtung während der

gesamten Testdurchführung genutzt. Z.B. wurde darauf geachtet, wie lange das Kind am

Stück konzentriert arbeiten kann, welche Pausen nötig sind, wie ablenkbar es ist etc.

24 24

Durch die Beobachtung des Kindes während der gesamten Testdurchführung wurde außerdem

versucht Informationen zur Aufgabenhaltung (z.B. wie viel Führung durch den Erwachsenen

ist nötig, braucht es ständige Motivierung, gibt es vorzeitig auf...), zum Arbeitsstil

(systematisches Vorgehen, überlegtes Handeln, Impulsivität...)und zur allgemeinen

Belastbarkeit (ermüdet es schnell, wirkt relativ spannungslos...) zu bekommen. Diesen

Faktoren kommt bei günstiger Ausprägung eine gewisse Kompensationsmöglichkeit für

grenzwertige intellektuelle Voraussetzungen zu, bei negativer Ausprägung erhöhen sie das

Risiko einer Lernstörung noch. Auch die grobmotorische, feinmotorische und sprachliche

Entwicklung wird durch die Beobachtungsdaten mit beurteilt. Bei Auffälligkeiten wurden

dann die Logopäden bzw. Ergotherapeuten des SPZ mit in die Diagnostik eingebunden.

Bei Anhaltspunkten einer gestörten Aufmerksamkeit, bzw. hyperkinetischen Anzeichen, oder

eventuell von Anfang an in diese Richtung gehende Fragestellungen wurde auch die

Möglichkeit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit oder ohne Hyperaktivität

(hyperkinetische Störung) als mögliche Ursache für Schulleistungsprobleme angesehen. Zur

Diagnostik wurden die Verhaltensbeobachtungen während der Testdurchführung, Ergebnisse

in aufmerksamkeitsabhängigen Untertests der allgemeinen Intelligenztests sowie der

Konzentrationstests, und eine Verhaltensbeurteilung durch Eltern und Lehrer einbezogen.

Außerdem wurde das Kind selbst befragt zu seinem Verhalten in verschiedenen Situationen,

vor allem solchen, die erhöhte Anforderungen an die Aufmerksamkeit stellen (z.B. Unterricht,

Hausaufgaben...). Im Moment stellt sich in diesem Bereich das SPZ gerade auf die

Verwendung des Diagnostik-Systems für psychische Störungen im Kindes und Jugendalter

nach ICD-10 und DSM-IV, DISYPS-KJ (Döpfner und Lehmkuhl, 1998) um. Standardisierte

Selbst- und Fremdbeurteilungsbögen sowie Diagnosechecklisten erleichtern hier die

Beurteilung, ob die Diagnosekriterien für eine hyperkinetische Störung erfüllt werden.

Bei der Diagnostik von Lern- und Leistungsstörungen wurden Teilleistungsstörungen von

einer allgemeinen Intelligenzminderung abgegrenzt. Durch einen speziellen Test (z.B.

Diagnostischer Rechtschreibtest DRT) wurde der Bereich der vermuteten Störung erfasst.

Lag dann z.B. die Rechtschreibleistung deutlich unter der Altersnorm und unter der

allgemeinen Intelligenz des Kindes, ging man von einer Teilleistungsstörung aus. Deutlich

unterdurchschnittlich ist ein Unterschied von zwei Standardabweichungen zur Altersnorm und

zwei Standardabweichungen zwischen der Teilleistung und der allgemeinen

Intelligenzleistung. In der Literatur gibt es dazu aber unterschiedliche Angaben. So wird

teilweise auch 1,5 Standardabweichungen als ausreichend angesehen. Dieses Kriterium wurde

auch in der Einrichtung nicht so streng gehandhabt.

25 25

Liegt eine Teilleistungsstörung vor, wird Kontakt zur Schule aufgenommen, um dortige

Fördermöglichkeiten, sowie geeigneten Umgang mit den Besonderheiten des Kindes

abzuklären. Außerdem werden externe Möglichkeiten der Förderung mit den Eltern

besprochen, sowie spezielle Schulmöglichkeiten (z.B. Sprachheilschule; LRS-Klassen an

bestimmten Mittelschulen).

Ist die gestörte Teilleistung zwar unterdurchschnittlich, liegt aber im allgemeinen

Intelligenzniveau, ist von einer allgemeinen Intelligenzminderung auszugehen. Hier ist es

nicht mit einer Förderung in einem umgrenzten Gebiet getan, sondern auf allen Strecken

bedarf das Kind einer gezielten Förderung. Diese wird meist am besten im

sonderpädagogischen Bereich erreicht, da hier eine kleinere Klassenstärke und ein

langsameres Lerntempo gegeben sind.

Als grober Richtwert für die Indikation einer Beschulung im sonderpädagogischen Bereich

ist ein Intelligenzwert von < 85 IQ Punkten anzusehen. Bei der Beurteilung dieses

Gesamtwertes ist vor allem im Grenzbereich auch zu berücksichtigen, in welcher Weise er

sich zusammensetzt. Führt nur eine einzelne Teilfähigkeit als extreme Schwäche zu dem

Wert, die eventuell durch die anderen Bereiche ausgeglichen werden könnte, liegen alle

Fähigkeiten in diesem Niveau, oder gibt es mehrere Schwächen, aber auch einige Stärken.

Diese Dinge müssen bei einer Entscheidung mit abgewogen werden. Ebenfalls einzubeziehen

ist die Anstrengungsbereitschaft, der Fleiß, der Wille des Kindes, doch noch im

Normalschulbereich weiterzulernen sowie seine Belastbarkeit und eventuelle, schon

aufgetretene psychosomatische Beschwerden sowie die soziale Unterstützung, die es in

seinem Umfeld hat. So ist auch entscheidend, inwieweit eine Schule bereit und in der Lage ist

solche Kinder im Grenzbereich noch aufzufangen.

Die Arbeit eines Psychologen im SPZ hat an dieser Stelle auch nur eine beratende,

empfehlende Funktion. Die Entscheidung liegt in diesem Falle bei den Eltern, wenn sie ihr

Kind dann zur Schule anmelden, einen Antrag auf Überprüfung eines sonderpädagogischen

Förderbedarfs zu stellen, bzw. das bei laufendem Schulbesuch zu tun. Entscheiden sie sich

anders, wird dann erst nach einer entsprechend langen Versagensperiode des Kindes die

amtliche Überprüfung über die Schule eingeleitet. An der Stelle wurde es auch sehr wichtig

von den Psychologen im SPZ angesehen, die Aufmerksamkeit der Eltern auf die möglichen

Folgen eines ständigen Misserfolgserlebens und permanenter Überforderung zu lenken, und

eventuelle Vorurteile und Stigmatisierung des Sonderschulbereichs abzubauen.

Bei Kindern die aufgrund ihrer gesamten bisherigen Entwicklung schon eindeutig dem

sonderpädagogischen Bereich zuzuordnen sind, dient die Leistungsdiagnostik zur

Entscheidungshilfe, ob eine Beschulung im Bereich Lernbehinderung (L-Bereich) oder

Geistige Behinderung (G–Bereich) angezeigt ist. Im L–Bereich werden, wenn auch geringe,

26 26

Mindestanforderungen an die Leistung gestellt, welche erfüllt werden müssen. Bei

entsprechend niedrigem intellektuellen Voraussetzungen kann auch das eine Überforderung

sein. Der Grenzbereich zwischen L- und G–Bereich liegt, ebenfalls wieder als grober

Richtwert zu sehen, zwischen 70 – 60 IQ Punkten. Ab 70 IQ Punkten spricht man zwar schon

von einer intellektuellen Behinderung, aber aufgrund von Testunsicherheit und möglichen

Kompensationsmechanismen wird hier ein größerer Grenzbereich angenommen. Unter 60 IQ

Punkten wird eine Beschulung im L-Bereich aber ausgeschlossen.

Insgesamt gesehen wurden vielfältigen Faktoren mit in die Bewertung der optimalen

Beschulungsform einbezogen. Neben den bestehenden Defiziten wurde auch immer nach

vorhandenen Stärken, Kompensationsmöglichkeiten geschaut, das soziale Umfeld mit

betrachtet, die Erwartungen, Wünsche der Eltern und des Kindes mit einbezogen. Bei

Testergebnissen die sehr uneindeutig im Grenzbereich lagen, wurde auch eine praktische

Bewährung in dem höheren Schultyp empfohlen, mit den Hinweisen auf mögliche

Überforderungssignale. Es war also immer eine, an den individuellen Gegebenheiten eines

Kindes ausgerichtete Entscheidungsempfehlung, in der alle relevanten Informationen mit

berücksichtigt wurden. Diese Entscheidungsbäume waren aber mehr ein Raster im Kopf des

Psychologen, es gab also keine visualisierte Form über alle zu berücksichtigenden Kriterien.

Allerdings wurden alle erhobenen Testdaten, Gesprächsinformationen und Beobachtungen

schriftlich dokumentiert.

Diskussion der Praxiserfahrungen

Das SPZ ist aufgrund der Abrechnung seiner Leistungen über die Krankenkassen an die

Diagnosen nach ICD-10 gebunden, so dass es vordergründig um die Diagnostik von

Störungen mit Krankheitswert geht. Es wird in gewisser Weise gefordert, eine

Statusdiagnostik durchzuführen, die Aussagen über bestehende Fähigkeitsdefizite erlaubt. Im

Bereich der Lernstörungen sind das die allgemeine Intelligenz, die Lese- und Rechenleistung,

die Leistung im schriftlichen Ausdruck und die Aufmerksamkeitsleistung.

Bei der Feststellung der allgemeinen Intelligenz wird in der Regel ein sehr breites

Intelligenztestverfahren verwendet. Der Vorteil ist darin zu sehen, dass damit viele

Fähigkeitsbereiche geprüft werden, aus denen sich neben einem Gesamtwert für die

allgemeine Intelligenz, Anhaltspunkte für mögliche Defizite in Wahrnehmungs-, Gedächtnis-,

und neurologischen Bereichen ergeben. Außerdem besteht bei der individuellen

Testdurchführung die Möglichkeit, vielfältige Verhaltensweisen des Kindes in dieser

Leistungssituation zu beobachten. Den Nachteil könnte man in der relativ zeitaufwendigen

27 27

Durchführung sehen, so benötigt man in der Regel 1,5 – 2 Stunden für die Durchführung des

HAWIK III bzw. des K-ABC bzw. des SON. Betrachtet man aber nach Barth (1997) die

Wichtigkeit der Wahrnehmungsleistungen als Grundlage der komplexeren kognitiven

Funktionen die das Erlernen der Kulturtechniken erfordert, sollte dieser Aufwand schon

gerechtfertigt sein, anstatt ein kurzes ökonomisches Instrument zur Bestimmung der

allgemeinen Intelligenz zu nutzen.

Günstig beurteilen würde ich auch, dass bei Kindern mit starken Einschränkungen des

sprachlichen Ausdrucks (z.B. aufgrund geistiger Behinderung oder anderer Muttersprache)

das SON verwendet wird, da hier eine Intelligenzmessung ohne Einfluss der verbalen

Komponente möglich ist.

Die Auswahl des durchzuführenden Verfahrens wurde dabei immer wieder individuell von

der bestehenden Fragestellung bei dem zu untersuchenden Kind geleitet.

Die Beobachtung während der Testdurchführung wurde als sehr wichtig angesehen, um

Testergebnisse bei der Interpretation gegebenenfalls zu relativieren sowie weitere

Informationen über verschiedene Verhaltensweisen des Kindes zu erhalten.

Die Beobachtung ist aber sehr anfällig für Verzerrungen, da sie zusätzlich zur

Testdurchführung geleistet werden muss. Bestimmte Dinge gehen dem Beobachter, vor allem

beim Einsatz wenig benutzter Verfahren verloren, da seine Aufmerksamkeit gleichzeitig

durch die Testdurchführung gebunden ist. Hier würde der Einbau einer systematischen

Beobachtung des Kindes (mit Hilfe vorher festgelegter Kriterien des zu Erfassenden), die

Objektivität der Beobachtung verbessern, da der Beobachter da weniger auf die erbrachten

Ergebnisse achten müsste. Dagegen spricht aber, dass dies zu einer Verlängerung der

Testsituation für das Kind führen würde, die unter Umständen ja eine Belastung darstellt. Der

Einsatz eines zweiten Beobachters wäre denkbar, dies würde aber durch den erhöhten

personellen Bedarf die Wartezeit auf Termine im SPZ von derzeit ca. einem halben Jahr

weiter erhöhen.

Die Interpretation des Beobachteten erfolgt in eher klinischer Vorgehensweise. Die

Vergleichsgrundlagen sind in gewisser Weise die im Lauf der Zeit gesammelten

Erfahrungswerte des Beobachters. Da man als Praktikant da meist noch nicht allzu viele

besitzt, war die Beurteilung dieser Aspekte noch einer relativen subjektiven Willkür

unterzogen.

Die Bereiche, auf die vor allem bei der Beobachtung geachtet wurden (wie Sprache, Grob-

und Feinmotorik, Konzentration, Spannkraft/ Belastbarkeit...), decken schon einen großen

Teil der von Barth (1997) aufgeführten Risikoanzeichen für Lernstörungen ab. Zur

Objektivierung der Beobachtungen trägt vielleicht auch noch bei, dass bestimmte Bereiche,

wie z.B. die Motorik mindestens noch von der kinderärztlichen Seite, gegebenenfalls auch

28 28

von ergotherapeutischer Seite beurteilt werden. Im Team können dann Auffälligkeiten

diskutiert bzw. durch das mehrmalige Beobachten bestätigt, bzw. im entsprechenden

Fachbereich durch spezifischere Diagnostik abgeklärt werden.

Zur Feststellung der Lese- Rechen- und Rechtschreibleistung wurden prinzipiell

standardisierte Verfahren verwendet. Für die Diagnose einer Teilleistungsstörung wurde sich

schon an dem strengen Kriterium von zwei Standardabweichungen Unterschied zwischen

allgemeiner Intelligenz und der betreffenden Teilleistung orientiert, allerdings auch immer die

Möglichkeit einbezogen, dass die Testleistung der allgemeinen Intelligenz aufgrund

vielfältigster Einflüsse auch unter den wirklichen Fähigkeiten des Kindes liegen kann, und

somit dieses Kriterium nicht so streng gehandhabt. Mehr Wert wurde darauf gelegt, auch

durch andere Informationen (z.B. Schulberichte, Aussagen der Eltern, andere speziellere

Verfahren) die vermutete Teilleistungsstörung zu untermauern.

Gerade bei im Anfangsunterricht auftretenden Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten wurden

sehr gezielt die für diese Leistung notwendigen Vorläuferfunktionen diagnostiziert. Mit der

Verwendung der Differenzierungsprobe von Breuer und Weuffen sowie des BISC wurden

dabei Verfahren verwendet, die nach Barth (1997) geeignet für die Früherkennung sind.

Neben dem auditiven Wahrnehmungsbereich wird auch der visuelle Bereich betrachtet. Mit

dem Frostig-Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung steht auch hier ein Verfahren zur

Verfügung, welches bei Barth unter Möglichkeiten der testpsychologischen Diagnostik mit

aufgeführt ist. In der Zeit meiner Praktikumtätigkeit trat aber kein Fall auf, wo die

Auffälligkeiten in diese Richtung wiesen, so dass das Vorgehen in solchen Fällen weniger

beurteilt werden kann.

In den Auswertungsgesprächen mit den Eltern wurden die Diagnostikergebnisse sehr

differenziert dargestellt und erläutert, um bei den Eltern Verständnis für die Schwierigkeiten

des Kindes zu schaffen, dass es also aufgrund der Defizite einfach noch nicht in der Lage ist,

die zur Zeit geforderten Leistungen der Schule zu erbringen. Ebenso wurde auf die

Möglichkeit auftretender Verhaltensprobleme in so einer Überforderungssituation

hingewiesen, bzw. schon bestehende auch unter diesem Aspekt näher betrachtet. Wenn es von

den Eltern gewünscht war, wurde auch mit dem Lehrer des Kindes ein Gesprächstermin

vereinbart, um abzuklären, inwieweit die Schule mit den Besonderheiten des Kindes

umgehen kann, oder ob nach anderen Lösungen gesucht werden muss.

Damit wurde insgesamt schon recht gut auf die Umweltkomponente des bei Betz und

Breuninger (1998) dargestellten Modell für strukturelle Lernstörungen eingegangen, im

Rahmen der Möglichkeiten, die das SPZ aus Kapazitätsgründen dafür hat. So hatten Eltern

29 29

auch die Möglichkeit, in größeren Abständen (ca. aller drei Wochen) in der Beratung im SPZ

zu bleiben, wo es dann vor allem der Umgang mit der bestehenden Problematik bearbeitet

wurde. Dabei ging es z.B. um geeignete Fördermöglichkeiten ohne zu überfordern,

Einführung von Belohnungssystemen zur Motivierung, Alltagsstrukturierung usw.. Insgesamt

versuchte man, der Ausbildung negativer Interaktionsmuster entgegenzuwirken, indem den

Eltern auch Handlungsstrategien angeboten wurden, und sie bei der Einübung neuer

Verhaltensweisen systematisch unterstützt wurden.

War abzusehen, dass der Beratungsbedarf die Kapazitätsmöglichkeiten des SPZ übersteigt,

wurde eine Weitervermittlung angeboten. Dabei wird immer wieder beobachtet, dass dieses

erneute Wechseln den Eltern und dem Kind meist sehr schwer fällt, da durch die

Diagnostikphase auch schon ein Beziehungsaufbau stattgefunden hat. Es könnte weiterhin des

negative Selbstwertgefühl eines Kindes verstärken, weil es sich vielleicht abgeschoben fühlt.

Und nach Betz und Breuninger ist ja gerade das Selbstwertgefühl die wichtigste Ansatzstelle

zur Zerschlagung der Lernstörungs-Teufelskreise.

Auch die Psychologen des SPZ sehen die oft nötige Weitervermittlung als ungünstig an, aber

aufgrund der bestehenden Strukturen ist sie nicht so einfach änderbar.

Mit dem Kontaktaufbau zur Schule wird auch eine zweite, sehr wichtige Umweltkomponente

in die Diagnostik und Therapie mit einbezogen. Grundlage für die Handlungsmöglichkeit des

Psychologen in dieser Richtung ist aber immer das Einverständnis der Eltern und natürlich die

Bereitschaft der Schule zur Mitarbeit. In der Regel kamen die Schulen immer der

Aufforderung nach, den Schüler hinsichtlich seiner Leistungen und seines Verhaltens zu

beurteilen. Die Teilnahme an einem Gespräch im SPZ ist keine die Ausnahme, aber schon

geringer ausgeprägt. So fand leider im Zeitraum meiner Praktikumtätigkeit kein

Lehrergespräch statt, so dass die Bereitschaft seitens der Lehrer, ihre Reaktionen gegenüber

dem Schüler kritisch zu betrachten, nicht beobachtet werden konnte.

Das weitaus größere Gewicht liegt also auf der Elternarbeit, wo die Spielräume für

Veränderung sicher auch größer sind.

Zum Ansatz Selbstwertgefühl des Kindes ist es sicher ein wichtiger Aspekt, dass bei

Lernstörungen aller Art (und auch wenn die Fragestellung hauptsächlich eine

Verhaltensproblematik war), eine Diagnostik der allgemeinen Intelligenz durchgeführt wurde.

Nicht nur um das Differenzkriterium erfüllen zu können, sondern auch prinzipiell zu

überprüfen, ob sich das Kind in einer Über- oder Unterforderungssituation befindet. In einer

Schule mit zu den vorhandenen Leistungsvoraussetzungen passenden Anforderungen zu

lernen, ist eine wichtige Basis für ein positives Selbstwertgefühl. Die Erfahrung Dinge

bewältigen zu können, Erfolg zu haben motiviert zu weiterer Aktivität. Ständige Misserfolge

provozieren ein Ausweichverhalten in Bezug auf künftige Anforderungen, was wiederum die

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reale Leistungsfähigkeit sinken lässt. (Teufelskreis aversives Vermeiden und Lücken bei Betz

und Breuninger 1998) Eine Veränderung der schulischen Situation kann hier eingreifen, wenn

durch die passenderen Anforderungen Erfolge wieder möglich sind. Kritisch zu sehen ist

natürlich auch die Gefahr der Stigmatisierung, da im sozialen Umfeld der Besuch einer

Lernbehindertenschule wiederum Geringschätzung hervorrufen könnte. Eine Alternative dazu

besteht in der Möglichkeit der Integration an einer Normalschule, wenn die Schule dafür die

Voraussetzungen schaffen kann. Die Eltern wurden hier über bestehende Möglichkeiten mit

ihren Vor- und Nachteilen beraten, ihnen wurden Ansprechpartner genannt, sowie Adressen

vermittelt.

Prinzipiell lässt sich das Selektionsprinzip sicher hinterfragen, aber in Hinblick auf das

bestehende Schulsystem bestehen anders kaum Möglichkeiten, Überforderungen zu

vermeiden. Wichtig dabei ist, dass bei der Diagnostik eben nicht nur der Aspekt der

Empfehlung für einen Schultyp die Rolle spielt, sondern auch der Aspekt der möglichen

Förderansätze. Diese Politik wurde auf alle Fälle im SPZ verfolgt. Dies zeigt sich auch in der

recht breit angelegten Diagnostik, die bemüht ist das Kind ganzheitlich mit seinen Defiziten

aber auch Ressourcen, und eingebetet in seine Umwelt, zu betrachten. Die Stärken des Kindes

auch wieder mehr ins Blickfeld der Eltern zu rücken, war ein wichtiger Punkt bei der

Ergebnisrückmeldung. So wurden nicht nur einseitig die Schwächen des Kindes diskutiert,

sondern auch gezeigt wo es vergleichsweise recht gut ist.

In der Leistungsdiagnostik mit dem Kind wurde immer die Anstrengung eines Kindes positiv

verstärkt, unabhängig von der erbrachten Leistung. Es wurde auf eine entspannte Atmosphäre

geachtet und versucht eine gute Beziehung zum Kind aufzubauen. Konnte das Kind Aufgaben

nicht lösen, wurde immer versucht Rückmeldungen zu geben, die verhinderten, dass das Kind

es als Versagen erlebt.

Im Bereich Selbstwertgefühl wurde neben den Elternberichten auch das Gespräch mit dem

Kind genutzt. So wurde unter anderem erfragt, wie es seine Leistungen in der Schule

einschätzt, was es gut kann, weniger gut kann, (auch in anderen Bereichen), ob es meint, sich

genug anzustrengen, ob es da noch Reserven gibt, wie zufrieden es mit den Leistungen ist,

wie die Eltern das sehen, ob es Freunde hat usw. Fiel es dem Kind nicht so leicht darüber zu

berichten, wurden auch projektive Verfahren wie „Satzanfänge“, „Familie in Tieren“, „Drei

Wünsche“ genutzt, in der Weise, dass man dadurch Anhaltspunkte bekam (z.B. über

bestehende Ängste), die dann im Gespräch genauer beleuchtet werden konnten.

Der Leistungsbereich wurde über testdiagnostische Daten, Schuleinschätzungen,

Elternberichte und vorliegende Schulmaterialien erfasst. Wie wichtig die Umweltkomponente

für die Ausbildung von Lernstörungen zu sein scheint, zeigt die Tatsache, dass vereinzelt

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Kinder mit zum Teil guten testdiagnostischen Ergebnissen diese nicht in gute Schulleistung

umsetzen können, anderseits Kinder trotz schlechter Testergebnisse noch ganz gut in der

Schule zurechtkommen.

Insgesamt kann man schon sagen, dass die im SPZ durchgeführte Diagnostik die von Betz

und Breuninger (1998) als wichtig erachteten Strukturkomponenten prinzipiell erfasst, auch

wenn sie nicht so explizit in einem Strukturmodell weiter verarbeitet werden. Für diese

Aufstellung spräche, dass dies auch ein geeignetes Erklärungsmodell für die Eltern wäre.

Dabei könnte auch noch genauer auf das Wirkungsgefüge der Komponenten eingegangen

werden. Eine Aufstellung des Modells gleich bei der Exploration (wie von Betz und

Breuninger vorgeschlagen wird), würde die Transparenz des Modells für die Eltern erhöhen,

da sie die Aufstellung aus denen von ihnen berichteten Daten miterleben würden. Das könnte

sich auch positiv auf ihre Bereitschaft, ihre negativen Reaktionsmuster zu verändern,

auswirken. Allerdings stellt ein solches Vorgehen auch sehr hohe Anforderungen an die

Informationsverarbeitungskapazität des Diagnostikers, da neben der Exploration der

Informationen diese gleichzeitig in das Strukturmodell eingeordnet werden müssen.

Der Vorteil der Verwendung des Modells wäre unter anderem die größere Ausrichtung der

Diagnostik auf den Lernprozess, ergänzend zur Statusdiagnostik, die vordergründig die

Fähigkeiten bzw. Defizite des Kindes erfasst, und die aus den anfangs geschilderten Gründen

aus dem SPZ nicht wegzudenken ist. So könnte z.B. eine Diagnostik des Lernprozesses

genauer festhalten, welche Reaktionen der Umwelt und Selbstattributionen des Kindes in

Bezug auf seine Leistungen, in welcher Art auf sein Selbstwertgefühl wirken. Da ein

negatives Selbstwertgefühl oft für Vermeidungsverhalten und daraus folgend entstehende

Lücken verantwortlich ist, die wieder zu Leistungsstörungen führen, würde diese Diagnostik

viele therapeutische Ansatzstellen aufzeigen.

Sehr positiv muss aber bei der sehr differenziert durchgeführten Statusdiagnostik im SPZ

gesehen werden, dass durch die frühzeitige Erkennung eventueller Defizite und deren

Kompensation, der Entwicklung struktureller Lernstörungen vorgebeugt werden kann. An

dieser Stelle ist auch der große Vorteil des SPZ als interdisziplinäre Einrichtung zu sehen.

Durch das Vorhandensein der verschiedenartigen Berufsgruppen wird ganzheitlich an den

Entwicklungsdefiziten verschiedener Bereiche gearbeitet. Das betrifft zum einen die

Zusammenarbeit bei der Diagnostik und Therapie, aber auch den Erfahrungsgewinn durch

den gegenseitigen Austausch, der auch für das Erkennen von Defiziten aus den anderen

Fachbereichen sensibilisiert. So war mein Eindruck, dass jede Berufsgruppe auch über

ziemlich viel Wissen aus den anderen Fachbereichen verfügte.

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Zusammenfassend würde ich feststellen, dass im SPZ bedingt durch seine Struktur, der

Schwerpunkt auf dem Erkennen von Störungen liegt, und Therapien (vor allem im

psychologischen Bereich) häufig in Wohnortnähe bzw. an Einrichtungen mit größeren

Kapazitäten vermittelt werden. Lernprozessdiagnostik hat aber vor allem großen Wert für das

Finden von therapeutischen Ansatzpunkten, und läuft in gewisser Weise auch

therapiebegleitend ab, da sich diese Prozesse nicht in ein bis zwei Diagnostiksitzungen

vollständig zeigen werden.

Somit ist das in der Einrichtung derzeitig praktizierte diagnostische Vorgehen bei

Lernschwierigkeiten als gut einzuschätzen, da es dem Zweck angemessen ist, dem die

Einrichtung dient. Es orientiert sich an wissenschaftlich fundierten Diagnoserichtlinien (ICD-

10 /DSM IV), und ist in der Entscheidungsberatung auf die derzeitig bestehenden schulischen

Strukturen ausgerichtet. Veränderte Schulstrukturen mit weniger Separation und

individuumszentrierter Leistungsfortschrittsmessung würden sicher auch die psychologischen

Diagnostikschwerpunkte verändern, mit noch größerem Gewicht auf Richtung Förderung und

sicher auch mehr prozess- als statusorientiert.

Die ganze kritische Diskussion insgesamt relativierend, möchte ich noch anmerken, dass bei

einer achtwöchigen Praktikumtätigkeit und oft zeitlich angespannten Abläufen im SPZ, dass

von mir wahrgenommene praktische Vorgehen zum Thema Lernschwierigkeiten nicht den

Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann.

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Literaturverzeichnis

Barth K. (1997): Lernschwächen früh erkennen. Reinhardt, München

Betz D.; Breuninger H. (1998): Lernstörungen als Teufelskreis. Psychologie Verlags Union, Weinheim

Breuer H.; Weuffen M. (1993): Lernschwierigkeiten am Schulanfang. Beltz, Weinheim und Basel Saß H.; Wittchen H.-U.; Zaudig M. (2001): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM IV. Hogrefe, Göttingen Döpfner; Lehmkuhl (1998): Diagnostik-System für psychische Störungen im Kindes und Jugendalter nach ICD-10 und DSM-IV, DISYPS-KJ. Hogrefe, Göttingen


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