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DEUTSCHLAND & EUROPA · Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, ISSN 1864-2942 Deutsch,...

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Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, ISSN 1864-2942 Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft DEUTSCHLAND & EUROPA Politische Partizipation in Europa Heft 62 2011
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Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, ISSN 1864-2942

Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft

DEUTSCHLAND & EUROPA

Politische Partizipationin Europa

Heft 62 – 2011

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DEUTSCHLAND & EUROPA

Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch,Geographie, Kunst und Wirtschaft

Der Euro und die Schuldenkrise in Europa

THEMA IM FOLGEHEFT 62 (APRIL 2012)

HEFT 62–2011

„Deutschland & Europa” wird von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben.

DIREKTOR DER LANDESZENTRALELothar Frick

REDAKTIONJürgen Kalb, [email protected]

REDAKTIONSASSISTENZSylvia Rösch, [email protected]

BEIRATGünter Gerstberger, Robert Bosch Stiftung GmbH, StuttgartRenzo Costantino, Studiendirektor, Ministerium für Kultus, Jugend und SportProf. Dr. emer. Lothar Burchardt, Universität KonstanzDietrich Rolbetzki, Oberstudienrat i. R., FilderstadtLothar Schaechterle, Professor am Staatlichen Semi-nar für Didaktik und Lehrerbildung Esslingen /NeckarDr. Beate Rosenzweig, Universität Freiburg und Studien haus WiesneckDr. Georg Weinmann, Studiendirektor, Dietrich-Bon-hoeffer-Gymnasium WertheimLothar Frick, Direktor der Landeszentrale für politische BildungJürgen Kalb, Studiendirektor, Landeszentrale für politische Bildung

ANSCHRIFT DER REDAKTIONStafflenbergstraße 38, 70184 StuttgartTelefon: 0711.16 40 99-45 oder -43; Fax: 0711.16 40 99-77

SATZSchwabenverlag Media der Schwabenverlag AGSenefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-RuitTelefon: 0711.44 06-0, Fax: 0711.44 06-179

DRUCKSüddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm mbH89079 Ulm

Deutschland & Europa erscheint zweimal im Jahr. Preis der Einzelnummer: 3,– EURJahresbezugspreis: 6,– EURAuflage 20.000

Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung.

Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion.

Mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport, der Robert Bosch Stiftung sowie der Heidehof Stiftung.

Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21 demonstrierten am 8.08.2011 in Stuttgart gegen den Bau von Stuttgart 21. Im Anschluss an die 86. Montagsdemonstration bildeten die Demonst-ranten eine sitzende Menschenkette im Schlossgarten in Stuttgart. © Franziska Kraufmann, picture alliance, dpa

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Politische Partizipation in EuropaVorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

Geleitwort des Ministeriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

I. POLITISCHE PARTIZIPATION IN EUROPA

1. Über Volksabstimmungen zu mehr Legitima tion in Europa? Jürgen Kalb . . . . . . . . . . . . 3

2. Mehr Demokratie durch mehr Partizipation? – Aktuelle demokratietheoretische Debatten Beate Rosenzweig/Ulrich Eith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

3. Erfahrungen mit direkter Demokratie in Deutschland und der Schweiz Otmar Jung . . . . 18

4. Politische Partizipation und Parlamentarismus im EU-Mehrebenensystem Martin Große Hüttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

5. Neue Konturen der Parteienlandschaft in Europa Frank Decker . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

6. Politische Partizipation am Beispiel »Stuttgart 21« Andreas Brunold . . . . . . . . . . . . . . . 46

7. Die Schlichtung zu Stuttgart 21: Vorbild für eine neue Form des Dialogs? Lothar Frick . . 54

8. Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängste. Sozialer Wandel und politische Beteiligung in Europa Alexander Ruser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

9. Jugendproteste – ein Blick auf Frankreich im 21. Jahrhundert Judith Spaeth-Goes/Frieder Spaeth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN

»… mehr als nur Schlagzeilen« – LpB-Dossiers im Internet Wolfgang Herterich . . . . . . . . . . 78

»Heidelberger Didaktikforum« Wolfgang Berger, Sven Hauser, Birte Meske . . . . . . . . . . . . 79

D&E Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

D&E

Inhalt I n h a l t

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I n h a l tHeft 62 · 2011

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Lothar Frick Jürgen Kalb, LpB,Direktor der Landeszentrale Chefredakteur vonfür politische Bildung »Deutschland & Europa«in Baden-Württemberg

Renzo CostantinoMinisterium für Kultus, Jugend und Sportin Baden-Württemberg

Politische Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger ist wesentli-cher Bestandteil jeder funktionsfähigen Demokratie. Sinkende Wahlbeteiligungen, rückläufige Mitgliederzahlen bei Parteien und Gewerkschaften sowie alarmierende Meinungsumfragen über das Ansehen von Politikern zeugen für viele bereits seit län-gerem von einem immer tiefer sitzenden Vertrauensverlust in die Politik, einer wachsenden Distanz vieler Bürgerinnen und Bürger zum politischen System und zur politischen Klasse in unserer re-präsentativen Demokratie. Andererseits lassen sich nicht erst seit der aktuellen Finanz- und Schuldenkrise zunehmend Protestformen beobachten, die dem etwas vordergründigen Bild von der »Politikverdrossenheit« zu widersprechen scheinen. Umweltverbände und Bürgerinitiativen verzeichnen seit Jahren regen Zulauf. Soziologen sprechen in die-sem Zusammenhang nicht nur von einem nachhaltigen Werte-wandel hin zu »postmateriellen Werten«, sondern bezogen auf das politische System von einem Wechsel »von Werten der Füg- und Folgsamkeit auf Werte der Selbstbestimmung und Gleichbe-rechtigung« (Christian Welzel, 2009). Nicht selten werden in die-sem Zusammenhang Forderungen laut, die im Grundgesetz verankerte repräsentative Demokratie vermehrt durch plebiszi-täre Formen der direkten Demokratie in Form von Volksabstim-mungen zu ergänzen. Die aktuelle Ausgabe von »Deutschland & Europa« geht deshalb der Frage nach, welche Art der »Volksherrschaft« denn welche Vorzüge böte bzw. welche Probleme mit sich brächte. Gleichzeitig wird untersucht, von wem denn die Forderungen nach größerer und direkter politischer Beteiligung ausgehen. Sind es nicht zu-meist Menschen mit überdurchschnittlichen sozialen, wirtschaft-lichen und kulturellen Ressourcen, die nach mehr direkter Demo-kratie rufen? Und wie stellt sich die Jugend dazu? Wäre sie eventuell über mehr Partizipationschancen wieder näher an das politische System heranzuführen?Ist dieses »Mehr an Demokratie« ein Modell, um verloren gegan-genes Vertrauen wieder herzustellen? Sollte es auf die Bundes- oder gar die Ebene der Europäischen Union übertragen werden? So kontrovers die Diskussionen dazu auch verlaufen mögen, grö-ßere Transparenz und rationale öffentliche Diskussionen sind an-gesagt. Die politische Bildung bietet die Grundvoraussetzung dazu.

In Europa gilt es sich bewusst zu machen, wie gegensätzlich und zerrissen die vergangenen 100 Jahre gewesen sind. In der ersten Hälfte dieser 100 Jahre waren zwei Weltkriege, die Shoa, die Welt-wirtschaftskrise, die Trennung Europas und der Welt durch die Mauer und den Eisernen Vorhang im Kalten Krieg. In den zweiten 50 Jahren wurde viel Positives geschaffen, erst im Westen Euro-pas, dann in ganz Europa: Frieden nach Jahrtausenden kriegeri-schen Auseinandersetzungen, ein gemeinsamer Binnenmarkt, ein Raum der Freiheit, des Rechts und der Demokratie.

Demokratie in Deutschland und Europa ist also nicht selbstver-ständlich. Sie musste in einem langen historischen Prozess errun-gen werden. Angesichts aktueller Krisen ist es die Aufgabe der Menschen in Europa, die Demokratie und ihre Errungenschaften in der Zukunft fortzuschreiben. Anlässlich der 4. Tagung der Wirt-schaftsnobelpreisträger am 24. August 2011 in Lindau hat es Bun-despräsident Christian Wulff so formuliert: »Unser Europa muss uns alle Anstrengung wert sein. Nichts ist selbstverständlich. Nichts darf verspielt werden. Das Schicksal Europas ist letztlich das Schicksal aller seiner Völker.«

Demokratie und demokratisches Handeln können und müssen gelernt werden. Das ist eine zentrale Aufgabe für Schule und Ju-gendbildung. Kinder und Jugendliche müssen bereits in jungen Jahren Vorzüge, Leistungen und Chancen der Demokratie erfah-ren und erkennen, dass demokratische Grundwerte niemals zur Disposition stehen dürfen – auch nicht in Zeiten eines tiefgreifen-den gesellschaftlichen Wandels.

Dazu leistet die aktuelle Ausgabe von »Deutschland & Europa« einen wertvollen Beitrag, indem sie Möglichkeiten und Grenzen der politischen Partizipation in Europa differenziert in den Blick nimmt. Die Bandbreite der Themen reicht von einer Darstellung der aktuellen demokratietheoretischen Debatten über die Partei-enlandschaft in Europa bis zu den Jugendprotesten im Frankreich der Gegenwart.

Begleitwort des Ministeriums

Vorwortdes Herausgebers

V o r w o r t & G e l e i t w o r t

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Heft 62 · 2011D&E

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POLITISCHE PARTIZIPATION IN EUROPA

1. Über Volksabstimmungen zu mehr Legitima tion in Europa?

JÜRGEN KALB

Europa ist plötzlich in aller Munde, auch wenn der derzeitige Anlass, zumeist als

»Euro- oder Schuldenkrise« diskutiert, überzeugten Europäern vor allem Sorgen-falten ins Gesicht treibt. »Fragt das Volk!« titelte aus diesem Anlass jüngst »Die ZEIT« (29.9.2011) in einem Kommentar von Hein-rich Wefing. Seine These (| M 2 |) lautet, nur Referenden, mithin also direkte Volksab-stimmungen, könnten das bestehende De-mokratie- und Legitimationsdefizit in der Europäischen Union beseitigen. Dabei muss all jenen, die diesen Vorschlag unter-breiten, bewusst sein, dass der Ausgang solcher Plebiszite in Europa beileibe nicht sicher wäre. In vielen Ländern haben sich inzwischen populistische, antieuropäische Parteien etabliert. Demoskopen beobach-ten eine zunehmende europakritische Hal-tung in großen Teilen der Bevölkerung der 27 Mitgliedstaaten. Und so vertreten die Forderung nach einer Volksabstimmung zur Europäischen Union in Deutschland häufig gerade auch Europaskeptiker wie z. B. der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler, um damit Prozesse der Renationalisierung zu befördern. Heinrich Wefing vertritt seine Forderung dennoch in seinem Leitartikel, denn nur so könne die EU eine neue Legitimation gewinnen und ihre der-zeitige »Unterdemokratisierung« überwinden. Auch der inter-national renommierte Philosoph Jürgen Habermas plädierte in diesem Jahr bereits in mehreren Aufsätzen und Zeitungsar-tikeln für eine breite öffentliche Diskussion in ganz Europa über die demokratische Legitimierung der EU und die Notwen-digkeit, eine »unvollendete und auf halbem Weg stecken ge-bliebene politische Union« (Habermas 2011) umzusetzen. Zudem äußerte Andreas Voßkule, Präsident des Bundesver-fassungsgerichts in Karlsruhe, in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (| M 3 |) angesichts der Ur-teile des BVerfG zum Lissaboner Vertrag und zum »Euro-Ret-tungsschirm« (genauer EFSF bzw. »Europäischen Finanzstabi-lisierungsfazilität«) öffentlich, dass es seiner Meinung nach bei weiteren wesentlichen Integrationsschritten in Richtung politische europäische Union der »direkten Zustimmung des Volkes« bedürfe (vgl. Art. 146), also einer Überwindung oder Erweiterung der in Deutschland geltenden Verfassung, dem Grundgesetz, mithilfe eines Instruments der direkten Demo-kratie, der Volksabstimmung. Dazu bedarf es allerdings einer breiten sachlichen Diskussion in den 27 Mitgliedstaaten.

Die Diskussion um die »repräsentative« sowie die »direkte Demokratie«

Hatten die Väter und Mütter des Grundgesetzes noch 1949 äu-ßerst zurückhaltend auf die Möglichkeit von Volksabstimmungen reagiert, sie zwar in Artikel 20, in dem von »Wahlen und Abstim-mungen« die Rede ist, nicht ganz ausgeschlossen, sie aber kon-kret lediglich für die Frage der Länderneugliederung verfas-

sungsmäßig verbindlich vorgeschrieben (Art. 29, 2), so zeigen aktuelle Diskussionen auf nahezu allen Ebenen des demokrati-schen Meinungs- und Willensbildungsprozesses in Europa, dass die Frage nach der Art und Weise der »Volksherrschaft« wieder breit diskutiert wird. Martin Große Hüttmann erläutert und ana-lysiert in seinem Beitrag »Politische Partizipation und Parlamentaris-mus im EU-Mehrebenensystem« die derzeitigen Möglichkeiten und Grenzen der politischen Partizipation auf europäischer Ebene. Dabei gerät insbesondere das Instrument der »europäischen Bür-gerinitiative« ins Blickfeld, das im Lissaboner Vertrag nunmehr auch rechtlich kodifiziert ist und somit die Möglichkeit von lände-rübergreifenden Initiativen ermöglicht. Noch ist keine solche Ini-tiative erfolgreich durchgeführt geworden und sie bedeutet der-zeit auch nicht mehr als eine Verpflichtung der Europäischen Kommission, sich mit dem Anliegen einer solchen Initiative zu beschäftigen. Frank Decker wirft in seinem Beitrag »Neue Konturen der Parteien-landschaft in Europa« einen Blick auf die Tendenzen der nationalen und auch europäischen Parteienentwicklung. Dabei macht er eine Tendenz zu einer stärker werdenden Fragmentierung, aber auch der Zunahme insbesonderer antieuropäischer, rechtspopu-listischer Parteien aus. Aktuell ist es noch schwierig zu beurtei-len, ob der für viele überraschende Wahlsieg einer Partei wie der »Piraten« in Berlin bei den Senatswahlen im September 2011 als singuläres Ereignis betrachtet werden muss oder sich gar als wei-teres Zeichen für die nachhaltige Krise des derzeitigen Parteien-systems in Europa herauskristallisieren kann.Otmar Jung betrachtet in seinem Beitrag »Erfahrungen mit direkter Demokratie in Deutschland und der Schweiz« dagegen, wie unter-schiedliche Verfahrensregeln den politischen Willensbildungs-prozess prägen und verändern können. Anhand von zahlreichen Beispielen aus den einzelnen Bundesländern und der Schweiz entwickelt er schließlich ein Plädoyer für eine mutige Ergänzung des parlamentarischen Systems durch plebiszitäre Elemente, wie

Abb. 1 »Die Europäische Union heute … » © Gerhard Mester, 4.10.2011

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sie seit langem in der Schweiz, aber z. B. auch in Bayern, ausgeübt wird. Beate Rosenzweig und Ulrich Eith dokumentieren und analysie-ren gleich zu Beginn dieser Ausgabe von D&E in ihrem Beitrag »Mehr Demokratie durch mehr Partizipation? Aktuelle demokratietheo-retische Debatten« die Theoriediskussion zur Frage der Art der Volksherrschaft, wobei sie anhand von einigen aktuellen Ansät-zen anschaulich aufzeigen, welche Implikationen Forderungen nach mehr direkter Demokratie bedeuteten, welche Chancen, aber auch Risiken plebiszitäre Ergänzungen der repräsentativen Demokratie bergen könnten. Geführt wird diese Diskussion auch, weil verschiedene Untersuchungen in den letzten Jahren europa-weit eine anhaltende »Politikverdrossenheit« in großen Teilen der Bevölkerungen festgestellt haben. Die Europäische Kommission beauftragt für solche Untersuchungen nicht nur die regelmäßig durchgeführten Eurobarometer-Umfragen (http://ec.europa.eu/ public_ opinion/index_en.htm), sondern derzeit auch ein Team von Psychologen der Universität Jena, das dazu eine mehrjährige Be-fragung in 9 EU-Mitgliedstaaten mit Schwerpunkt auf junge Euro-päer durchführt: www.fahs.surrey.ac.uk/pidop/.

Vertrauensverluste und Protestkulturen

Eine im Jahr 2009 veröffentlichte, breit angelegte wissenschaftli-che Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung in Deutschland hatte erst jüngst belegt, wie sehr das Vertrauen weiter Teile unse-rer Gesellschaft bereits erodiert ist. Vor allem bei jungen Men-schen zeigte sich eine nachhaltige »Parteien- und Politikverdros-senheit«, was in der Folge insbesondere in den Medien immer wieder breit diskutiert wurde: Rückläufige Wahlbeteiligungen, ein extremer Mitgliederschwund bei Parteien und Gewerkschaf-ten, ein anhaltender Ansehensverlust von Politikern | Abb. 3 |) korrespondieren seit Jahren mit einer fundamentalen Parteien-kritik, denen Bundespräsident Richard von Weizsäcker bereits 1990 mit einer Rede zur »Machtvergessenheit und Machtbeses-senheit der Parteien« sehr zum Ärger des damaligen Bundeskanz-lers Helmut Kohl eine Stimme verliehen hatte. Allerdings ergaben die von der Shell-Stiftung in regelmäßigen Ab-ständen vorgelegten Jugendstudien immer wieder ein differen-ziertes Bild, dass es sich nämlich nicht um eine »Politikverdros-senheit« im Allgemeinen, sondern eher um eine Verlagerung des politischen Engagements weg von den Parteien hin zu gesell-schaftlichen Initiativen, Umweltverbänden und ad-hoc entste-henden Bürgerinitiativen bei Jugendlichen handele (www.shell.de/

home/content/deu/aboutshell/our_commitment/shell_youth_study). Aktuell weisen die zahlrei-che Kommentierungen in der internationa-len Press (www.eurotopics.net) darauf hin, wie besorgt sich die europäische Öffentlich-keit über eine mögliche Abkehr von Teilen der Jugend gegenüber dem »europäischen meh-rebenensystem« zeigt. Alexander Ruser ist in seinem Beitrag »Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängste. Sozialer Wandel und politische Beteiligung in Europa« diesen Prozessen analy-tisch nachgegangen. Nicht jeder Protest ist direkt politisch motiviert, hat aber doch möglicherweise tiefe ökonomische und poli-tische Ursachen. Anhand der Jugendproteste in Frankreich in den Jahren 2005 und 2010 sowie der enormen Wirkung eines kleinen Pamphlets von Stéphane Hessel »Empört Euch!« zeigen Judith Spaeth-Goes und Frie-der Spaeth auf, mit welcher Vehemenz »Ju-gendproteste – ein Blick auf Frankreich im 21. Jahrhundert« in unserem größten Nachbar-land ausgetragen werden, aber auch, nach Einschätzung der beiden Autoren, weitge-

hend folgenlos verlaufen. Sowohl das Autorenteam als auch Alex-ander Ruser betonen in ihren vor allem gesellschaftskritischen Analysen, vor welchen Herausforderungen heute junge Leute, auch wenn sie akademisch gebildet sind, stehen, um überhaupt eine berufliche Perspektive zu bekommen. Die »Generation P« (für Praktikum) fand bereits ihren Einzug in eine SPIEGEL-Titelge-schichte. Oder handelt es sich dabei nur um ein großes Missverständnis? Fehlt es den jungen Menschen einfach an Einsicht in die komplexen Verhandlungswege und notwendigen Kompromisse einer reprä-sentativen Demokratie? Sind es, wie z. B. Werner J. Patzelt bereits 2001 in einem Beitrag für die Konrad-Adenauer-Stiftung zusam-menfasste (| M 7 |), etwa überzogene Erwartungen in der Bevölke-

Abb. 2 »Demo – Kratie = griechisch: Volks – Herrschaft« © Oliver Schopf, 14.10.2010

Abb. 3 Umfrage des GFK-Marktforschungsinstituts zum Vertrauen in einzelne Berufsgruppen in Deutschland im Jahre 2011 (im Vergleich zu 2010) © dpa info-Grafik

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Heft 62 · 2011

JÜRG

EN K

ALB

D&E

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rung oder ist es einfach der »Negativismus massenmedialer Politik-darstellung«: »Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten«? Läge es nur an diesen Ursachen, so könnte eine größere Anstren-gung im Bereich der politischen Bildung hier Abhalife schaffen.

Fallbeispiel »Stuttgart 21«

Als Beispiel für die Chancen und Risiken unterschiedlicher Demo-kratiekonzepte erscheinen in der aktuellen Ausgabe von D&E dabei zwei Beiträge zu »Stuttgart 21«. Es geht längst um mehr als die mögliche Tieferlegung eines Bahnhofs oder eine europäische Tangentiale von Paris bis Bratislava, die in Stuttgart von einem ehrgeizigen Bauprojekt begleitet werden sollte. Seit Mitte der Neunzigerjahre war das Projekt in Parlamenten (Bundestag, Landtag und Gemeinderat) beraten und beschlossen und von der Deutsche Bahn AG konzipiert worden, bis es dann im Jahre 2010 durch einen breiten Bürgerprotest nahezu weltweit Beachtung fand. Andreas Brunold stellt in seinem Beitrag insbesondere die »Politische Partizipation am Beispiel Stuttgart 21« vor und setzt sich dabei engagiert für eine Volksabstimmung ein, die die am 27. März 2011 neu gewählte grün-rote Landesregierung am 27. November 2011 nun als Plebiszit in Baden-Württemberg durchführen lässt (| Abb. 4 |). Der Landtag hatte es zwar abge-lehnt, das Quorum für die Annahme einer solchen Volksabstim-mung zu senken, die Oppositionsparteien hatten aber trotz juris-tischer Bedenken davon abgesehen, gegen die »Rechtmäßigkeit« eines solchen Plebiszits zu beklagen. Alle im Landtag vertretenen Parteien versichern, sie wollten das Votum des Volkes akzeptie-ren. Ob dies auch die Demonstranten, die inzwischen (Oktober 2011) nahezu 100 Montagsdemonstrationen mit jeweils mehreren tausend Bürgerinnen und Bürgern auf die Straße gebracht haben, auch tun werden, bleibt abzuwarten. Längst macht hier der vom Spiegel-Autor Dirk Kurbjuweit (www.spiegel.de/spiegel/print/ d-74184564.html) geprägte Begriff des »Wutbürgers« international Schlagzeilen. Interessante Untersuchungen über die (Stuttgar-ter) Demonstranten (| M 5 |), die in ihrer Mehrheit wohl zu den eher Privilegierten in unserer Gesellschaft zählen, liefern hier ein differenziertes Bild jenseits jenes häufig bemühten Klischees von typischen »Berufsdemonstranten«. Der Direktor der LpB Baden-Württemberg, Lothar Frick, gibt schließlich in seinem Beitrag »Die Schlichtung zu »Stuttgart 21«: Vorbild für eine neue Form des Dia-logs?« Einblick in seine, den Schlichter Heiner Geißler beratende und unterstützende Tätigkeit während der nach der Eskalation bei einer Demonstration am 30.9.2010 einberufenen Schlichtung durch den ehemaligen CDU-Generalsekretär: Konsens herrscht darüber, dass mehr Transparenz bei politischen Entscheidungen in einem frühen Planungsstadium Not tue. Strittig bleibt jedoch die Frage der (demokratischen) Legitimierung eines solchen »Ein-griffes von außen«, ob man ihn nun als Schlichtung, Moderation oder anders bezeichnen mag.

Mehr direkte Demokratie wagen?

Von den Befürwortern der Parole »Mehr direkte Demokratie« wird jede höhere Beteiligung der Bevölkerung an der politischen Meinungs- und Willensbildung gerne rundum als ein Gewinn ohne Einschränkung betrachtet. Und in der Tat scheint dieser Vorgang den grundsätzlichen Vorgang der Identität von Herr-schenden und Beherrschten in immer höherem Maße zu verwirk-lichen. Er scheint zunächst den Einfluss der Bevölkerung auf die Herrschaftsgewalt zu vergrößern. »Scheint« bedeutet, dass das nicht unbedingt geschehen muss. Die Schlichtung zu »Stuttgart 21« und ihre massenmediale Beachtung sowie Direktübertragung beim öffentlich-rechtlichen TV-Sender »Phoenix« sowie dem zivil-gesellschaftlichen Fluegel-tv-Sender (www.fluegel.tv) im Internet konnten in Baden-Württemberg Exemplarisches bewirken. Ist das beständig möglich? Und unter welchen Bedingungen ist

solch eine – exemplarische – Versachlichung und Transparenz wiederholbar?Immer komplexer werdende Regierungsentscheidungen erfor-dern bei einer plebiszitären Partizipation Methoden der Redu-zierung von Komplexität. Gefahren lauern dabei etwa in der zuneh menden Verwendung scheinbar unpolitischer Werbungs-methoden sowie der unsachlichen Personifizierung der politi-schen Entscheidungen. Die Suche nach sympathischen oder unsym pathischen Gallionsfiguren (wie z. B. die Rufe von Demons-tranten gegen Stuttgart 21: »Lügenpack!«) könnten die Diskus-sion emotionalisieren. »Mehr Demokratie« bedeutet also nicht nur mehr und andauernde Konflikte, die manche immer noch schrecken, sondern könnte auch zu weniger Rationalität und Ef-fektivität führen. Wäre sie jedoch mit sachlichen öffentlichen Dis-kussionen verbunden, könnte sie nicht nur zu Stärkung einer rati-onalen politischen Kultur führen, sondern auch zum Instrument werden, das wieder mehr Bürgerinnen und Bürger an politische Entscheidungen heranführt, nicht nur im lokalen, auch im euro-päischen Bereich. Nicht nur die Bertelsmann-Studie hat gezeigt, dass das die Mehrheit der Bevölkerung wünscht.

Literaturhinweise

Bertelsmann Stiftung (2009): Vertrauen in Deutschland. Eine qualitative Wertestudie der Bertelsmann Stiftung. Task Force »Perspektive 2020 – Deutschland nach der Krise«. www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_30530_30531_2.pdf

Geißler, Heiner (2011): Das Experiment. Bürgeraufstand Zivilgesellschaft De-mokratie. Berlin. Ullstein-Verlag.

Göttinger Institut für Demokratieforschung (Hrsg.) (2011): »Stuttgart 21«. Göttingen. www.demokratie-goettingen.de/content/uploads/2011/08/Stuttgart21_II.pdf

Habermas, Jürgen (2011): Wie demokratisch ist die EU? Blätter für deutsche und internationale Politik. 8/2011

Heußner, Hermann K./Jung, Otmar (Hrsg.) (2/2009): Mehr direkte Demokra-tie wagen. Volksentscheid und Bürgerentscheid, München, Olzog-Verlag.

Abb. 4 Stimmzettel zur Volksabstimmung am 27. November 2011 über das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 vor dem Hauptbahnhof in Stuttgart. »Stimmen Sie der Gesetzesvorlage ›Gesetz über die Ausübung von Kündigungs-rechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21‹ (S21-Kündigungsgesetz) zu?« – Nach Aussagen der grün-roten Landesregierung wurde die sperrige Formulierung aus juristischen Gründen so kompliziert formu-liert. Sprecher der CDU-Opposition halten die Formulierung dagegen für rechts-widrig, da es laut Vertrag mit der Deutsche Bahn AG kein Kündigungsrecht des Landes Baden-Württemberg zum Ausstieg aus dem Projekt gebe. © Bernd Weißbrod dpa/lsw, picture alliance, 30.9.2011

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MATERIALIEN

M 2 Heinrich Wefing: »Fragt das Volk!« (Die ZEIT)

Noch ist es nur ein ferner Gedanke. Hingemurmelt in Halbsätzen, verpackt in Konjunktive, eine Idee für die Zukunft. Aber der bei-nahe revolutionäre Gedanke taucht immer öfter auf. Er geht so: Wenn wir mehr Europa wollen, eine weitere deutliche Vertiefung der Integration, dann funktioniert das nicht mehr wie bisher mit nächtlichen Regierungsbeschlüssen in Brüssel und einer Abstim-mung im Bundestag. Es genügt auch keine bloße Änderung des Grundgesetzes. Wir brauchen dann etwas, das es noch nie gege-ben hat in der Geschichte der Bundesrepublik: eine Volksabstim-mung im Bund. Wir brauchen ein Referendum über Europa.Noch nicht für die erweiterte Griechenlandhilfe, über die gerade der Bundestag entschieden hat. Wohl auch noch nicht für den permanenten Rettungsmechanismus ESM, der 2013 installiert sein soll. Noch gibt es ein bisschen Spielraum, einen Puffer für bessere Koordination, für ein paar weitere Projekte, wahrschein-lich sogar für die eine oder andere neue Institution, die die Regie-rungschefs miteinander verabreden. (…) Aber dann, beim nächsten großen Integrationsschritt, ist Schluss. Nicht mit der Integration, keineswegs. Aber mit der Integration ohne direkte Bürgerbeteiligung, so wie sie seit Gründung der EU betrieben wird. Seit Jahren, seit Jahrzehnten überträgt die Bun-desrepublik Souveränität an Brüssel, »doppelzentnerweise«, wie der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog gerade im ZEIT-Interview formuliert hat. Nur: Irgendwann geht Souveräni-tätstransfer nicht mehr ohne den Souverän – das Volk.Deshalb brauchen wir in absehbarer Zeit ein Referendum. Weil das Grundgesetz dazu zwingt. Weil die innere Verfassung der Re-publik danach verlangt. Und weil anders Europa nicht mehr zu legitimieren sein wird. (…) Mehrfach hat das Bundesverfassungsgericht zuletzt geurteilt, dass die Integrationsreserven des Grundgesetzes nahezu aufge-braucht seien. Wenn das Haushaltsrecht des Bundestages ausge-hebelt oder wenn sonst die »Verfassungsidentität« des Grundge-setzes verändert werden solle, dann sei das mit der bestehenden Verfassung nicht zu machen. Dann muss eine neue her. Und das Grundgesetz stellt dafür, in Artikel 146, ein Mittel zur Verfügung: eine Volksabstimmung.

Das ist die juristische Seite. Aber es geht nicht nur um die geschriebene Verfassung. Mehr noch geht es um die innere Verfassung des Landes. Um das Unbehagen an der EU. Ein Unbehagen, das sich nicht gegen Eu-ropa insgesamt richtet, sondern gegen die Art und Weise, wie es ge-baut wird, wie es agiert. Was die Karlsruher Richter in fein ziselierten Sätzen sagen, spüren auch die Bür-ger: Es gibt ein Legitimationsdefizit in Europa – und ein Demokratiedefi-zit.Die EU ist nicht undemokratisch, bei-leibe nicht. Aber sie ist unterdemo-kratisiert. Und bislang sind eben doch die Nationalstaaten die Orte und die Gehäuse der Demokratie. Dort leben und erleben die Bürger die demokratische Politik, von dort leitet auch die EU ihre Legitimation ab. Kann sein, dass das in einer wirk-lich global organisierten Welt anders werden muss. Aber dann werden auch die Nationalstaaten absterben

und mit ihnen die eingeübten Formen der Demokratie. Das geht nicht, ohne den Souverän dazu zu hören. Das Volk.Ja, eine solche Volksabstimmung würde enorme politische Kräfte binden, Kräfte, die in der permanenten Krise ohnehin wahnsinnig angespannt sind. Wie die hypernervösen Märkte auf ein Referen-dum reagieren würden, wie die Welt darauf schauen würde, ist nicht schwer zu prognostizieren. Beunruhigt vermutlich. Ja, auch wahr, ein solches Referendum würde parteipolitisch verein-nahmt, es würde Protestwähler geben, taktische Spielereien, Ar-gumente, die gar nichts mit Europa zu tun haben, sondern aus-schließlich mit Berliner Machtkämpfen. Daran lässt sich nichts ändern, so ist Demokratie.Und ja, das vor allem, der Ausgang eines Referendums wäre nicht sicher. Durchaus möglich, dass die Volksabstimmung gegen Eu-ropa ausfiele. Das ist ein Risiko, aber es ist auch die Vorausset-zung, neue Legitimation für Europa zu gewinnen. Überall in Eu-ropa ist schon über Europa abgestimmt worden. Nur nicht in Deutschland. Das geht nun nicht mehr. Mag ein deutsches Nein auch folgenreicher sein als ein niederländisches oder französi-sches, mag Deutschland auch immer noch international unter Verdacht stehen: Wer den Bürgern misstraut, wird sie auf Dauer verlieren. Wir müssen heraus aus der Heimlichkeit des schlei-chenden Souveränitätstransfers, hin zur Verantwortung. Wer die-sen Schritt nicht geht, der gefährdet Europa.Genau das wäre, jenseits aller verfassungsdogmatischen und de-mokratietheoretischen Erwägungen, die politische Funktion eines Referendums. Es müsste eine Debatte beginnen, eine große, leidenschaftliche, vielleicht sogar emotionale Debatte. Nicht über Details der Griechenlandhilfe oder die Feinheiten der Euro-Stabilisierung. Sondern über das große Ganze, über alles: über Europa. Wie es sein soll, was es uns wert ist. Und was wir dafür aufzugeben bereit sind.Wenn wir diese Debatte endlich führen, dann können wir Souve-ränität gewinnen, selbst wenn wir darauf verzichten. Und Europa kann auf einen ganz neuen Sockel der Legitimation gestellt wer-den. Auf einen Sockel, der leicht die nächsten fünfundzwanzig Jahre tragen könnte.

© Heinrich Wefing: Fragt das Volk, Die Zeit, 29.9.2011, S. 1, http://pdf.zeit.de/2011/40/01-Europa.pdf

M 1 »Du schaffst das …« © Klaus Stuttmann, 27.10.2010

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M 3 Andreas Voßkuhle: »Mehr Europa lässt das Grundgesetz kaum zu«

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Vorsitz von Andreas Voßkuhle verkündete am 7. September 2011 sein Urteil über die Gesetze zur Rettung des Euro. Andreas Voßkuhle ist der jüngste Präsident, den das Verfassungsgericht je hatte.

FAZ: Herr Präsident Voßkuhle, das Bundesverfas-sungsgericht hat die Euro-Rettungspakete durch-gewunken. Hatten Sie Angst vor den Finanzmärk-ten?Voßkuhle: Nein, sicher nicht. Angst ist nie ein guter Ratgeber, und wovor sollten wir Angst haben? Alle Richter sind auf zwölf Jahre gewählt und danach ist Schluss. Verfassungs-richter schreckt deshalb wenig!FAZ: Man hätte Ihren Senat für einen Zusammen-bruch der Märkte mit allen realwirtschaftlichen Folgen verantwortlich machen können.Voßkuhle: Damit hätten wir dann leben müs-sen. Wir können unsere Entscheidungen nicht an Prognosen über die Reaktion der Fi-nanzmärkte ausrichten, von denen man im Übrigen nicht weiß, was sie tun, sonst wären alle Spekulanten reich.FAZ: Wie macht man sich frei von dem politischen Druck, der in den Tagen vor dem Urteil auf Ihnen gelastet haben muss?Voßkuhle: Unser Entscheidungsmaßstab ist allein das Grundge-setz. Das Bundesverfassungsgericht steckt den verfassungs-rechtlichen Rahmen ab, innerhalb dessen die Politik Lösungen für Probleme entwickeln muss. Die Gesetze zur Griechenland-Hilfe und zum Euro-Rettungsschirm haben diese Rahmenvorgaben be-achtet. (…)FAZ: Kein Mitglied Ihres Gerichts versteht viel von Finanzmärkten, die wenigsten sind Experten für Wirtschaftsrecht. Ist das zeitgemäß?Voßkuhle: Wir sind kein Fachgericht für Finanzrecht, sondern für Verfassungsfragen. Gleichwohl haben wir uns mit den zu prüfen-den Gesetzen sehr intensiv befasst. In den 60 Jahren seit Beste-hen des Gerichts haben sich die Richter in alle erdenklichen Le-bens- und Rechtsbereiche hineingedacht, vom Gentechnikrecht über Fragen der Hühnerhaltung bis eben hin zum Euro-Rettungs-schirm. Es hat Vorteile, mit einem gewissen Abstand aus unter-schiedlichen Perspektiven auf die Dinge zu blicken. Das war einer der Leitgedanken bei der Gründung des Gerichts. (…) FAZ: Wie kann das Grundgesetz verhindern, dass eine europäische Wirt-schaftsregierung uns regiert und nicht deutsche Staatsorgane?Voßkuhle: In der Informalisierung politisch weitreichender Ent-scheidungen liegt in der Tat eine Gefahr. Deshalb betont das Ge-richt immer wieder die starke Stellung des Parlaments, im festen Vertrauen darauf, dass es diesen Bestrebungen entgegentritt. Deutschland hat eine große Affinität zum Rechtsstaat, das Recht besitzt hier eine hohe Verbindlichkeit. Die Menschen erwarten, dass sich auch die Politik an Regeln hält. Mit diesem Grundver-ständnis sind wir in den letzten Jahrzehnten sehr gut gefahren.FAZ: Was bedeutet das für die Idee der Wirtschaftsregierung?Voßkuhle: Versuche, Recht und Regeln im Hinterzimmer oder unter Hinweis auf konkrete Nöte zu umgehen, haben ungeahnte Langzeitwirkungen, vor denen ich nur warnen kann. Wir müssen aufpassen, dass wir da nicht in ein falsches Fahrwasser geraten.FAZ: Erlaubt das Grundgesetzes eine weitere europäische Integration?Voßkuhle: Ich denke, der Rahmen ist wohl weitgehend ausge-schöpft.FAZ: Und wenn die Politik doch weitergehen will?Voßkuhle: Die souveräne Staatlichkeit Deutschlands wird durch das Grundgesetz unabänderbar garantiert. Sie darf auch durch den verfassungsändernden Gesetzgeber aufgrund der im Grund-

gesetz verankerten Ewigkeitsgarantie nicht aufgegeben werden. Danach sind Änderungen des Grundgesetzes, die Strukturprinzi-pien berühren – Demokratieprinzip, Rechtsstaatsprinzip, Sozial-staatsprinzip, Bundesstaatlichkeit –, unzulässig.FAZ: Könnte man die Budgethoheit des Bundestags teilweise europäi-schen Institutionen übertragen?Voßkuhle: Für eine Abgabe weiterer Kernkompetenzen an die Eu-ropäische Union dürfte nicht mehr viel Spielraum bestehen. Wollte man diese Grenze überschreiten, was politisch ja durchaus richtig und gewollt sein kann, müsste Deutschland sich eine neue Verfassung geben. Dafür wäre ein Volksentscheid nötig. Ohne das Volk geht es nicht!FAZ: Was bleibt von der Idee eines starken Parlaments, wenn der Verzicht auf Rettungsgesetze katastrophale wirtschaftliche Folgen hätte?Voßkuhle: Politik hat immer mit faktischen Zwängen zu kämpfen. Zur Verantwortungsübernahme durch das Parlament gibt es keine überzeugende Alternative. Der Bundestag ist und bleibt der Ort, an dem die wesentlichen Entscheidungen für unser Gemein-wesen getroffen werden müssen.FAZ: Die Abgeordneten sind für Sie noch »Herren ihrer Entschlüsse«, wie es in Ihrem Urteil heißt?Voßkuhle: Wir erleben doch gerade, wie intensiv die Abgeordne-ten über die Rettungsmechanismen diskutieren. Sie pochen auf ihre Rechte und mischen sich ein. Das ist richtig und macht mich hoffnungsvoll. (…)FAZ: Auch Ihr Gericht steht im Wettbewerb, nämlich zum Europäischen Gerichtshof und zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Wie wol-len Sie sich behaupten?Voßkuhle: Unsere Aufgabe der nächsten Jahre wird es sein, uns im Verbund mit den europäischen Gerichten deutlich zu positio-nieren und unser Zusammenspiel weiter zu verbessern. (…) FAZ: Immer öfter gehen Kläger erst vergeblich nach Karlsruhe, um dann in Luxemburg oder Straßburg zu siegen – schlecht für Ihr Image.Voßkuhle: Da die drei Gerichte auf unterschiedlicher normativer Grundlage entscheiden, kann es in Einzelfällen tatsächlich zu di-vergierenden Entscheidungen kommen. Damit müssen alle Betei-ligten leben. Wir sollten nur aufpassen, dass die Bürger nicht ins-gesamt das Vertrauen in die höchsten Gerichte verlieren. Deshalb muss die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten und die Ab-stimmung ihrer Entscheidungstätigkeit weiter intensiviert wer-den.

© Im Gespräch: Andreas Voßkuhle, Mehr Europa lässt das Grundgesetz kaum zu, FAZ, 25.9.2011, www.faz.net/-027166

M 4 Festakt zum 60-jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts am 28.09.2011 im Badischen Staatstheater Karlsruhe, von links: Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des Bundesverfassungs-gerichts, Bundestagspräsident Norbert Lammert, Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfas-sungsgerichts, Bundespräsident Christian Wulff, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Winfried Kretschmann (Grüne), Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Das Bundesverfas-sungsgericht hat die Kompetenz, Bundesgesetze für nichtig zu erklären, wenn sie gegen das Grundgesetz verstoßen. © Uli Deck dpa/lsw, picture alliance

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M 5 Ana Belle Becké: »Wutbürger?«

Derzeit gibt es kaum ein Großprojekt, das nicht von Protesten begleitet wird. Nicht nur »Stuttgart 21«, auch andere infrastrukturelle Maßnahmen wie die Feh-marnbelt-Überquerung oder die Olympiabewerbung Mün-chens riefen eine Protest-welle des Bürgertums hervor, das aufbegehrt gegen ver-krustete Entscheidungs-strukturen in der Bundesre-publik. Seit letztem Sommer gibt es für dieses Phänomen auch einen handlichen Namen: Als buhende und schreiende »Wutbürger« wer-den die protestierenden Mit-telschichtsangehörigen in den Medien bezeichnet. Das Bild des empörten Besitz-standswahrers, der jegliche Reformen und Bauprojekte aus Angst vor Veränderung und aus Egoismus ablehnt, wird seitdem häufig bemüht, egal um welche Form des Protests es sich handelt. Dabei zeigt das Beispiel der Bürgerinitiativen gegen Windkraftanlagen und Stromtrassen, dass eine differen-ziertere Sichtweise angebracht ist.Gegen den Ausbau der Windenergie, die spätestens seit der Atomkatastrophe von Japan einhellig von der Politik in Deutsch-land gefordert und gefördert wird, formiert sich schon seit Jahren Protest. Hinzu kommt: Der Ausbau der Windenergie hat auch einen Ausbau der Leitungsnetze zur Folge. Dabei sollen die »Stromautobahnen« ausgebaut werden, um den Strom sicher in die Netze einzuspeisen. Unter dem Synonym »Windkraftgegner« agieren ca. 70 Bürgerinitiativen, die gut vernetzt sind. Die EPAW (»European Platform Against Windfarms«) ist die europäische Schaltstelle, die europaweit Initiativen vereint und auch in Deutschland eine erstaunliche Anzahl an Interessengruppen auf-listet. Ähnliches zeigt sich im Bereich des Netzausbaus, auch hier ist die Anzahl an Bürgerinitiativen beachtlich.Eine Arbeitsgruppe des Göttinger Instituts für Demokratiefor-schung hat nun herausgefunden: Der Protest gegen den Ausbau von Windkraftanlagen und Stromtrassen passt nicht zum medial verbreiteten Bild des grantelnden Wutbürgers, welches, geprägt durch den Spiegel-Autor Dirk Kurbjuweit, als Synonym für eine neue bürgerliche Protestbewegung steht. Zwar stammen die »Protestler« zweifelsfrei aus der Mitte der Gesellschaft. Sie befin-den sich in einem gesetzten Alter zwischen 45 und 59 Jahren und zählen überwiegend zu der Berufsgruppe der »Besserverdienen-den« – diese Daten ergeben sich aus einer Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, in der zweiundfünfzig Bürger-initiativen befragt wurden. Allerdings zeigt sich auch, dass die Hälfte der Initiativen gegen den Ausbau von Windenergie und Stromnetze sich bereits zwischen den Jahren 2007 und 2009 ge-gründet hat. Es handelt sich mithin nicht um ein neues Phäno-men.Außerdem agieren die Mitglieder der Initiativen äußerst maßvoll. Wirft man einen Blick auf die Organisationsstruktur, so zeigen sich ruhige Formen des Protestes. Eine Mehrzahl setzt auf eine produktive Vernetzung und Kontaktpflege mit Vertretern aus Po-litik und Wirtschaft. Im Rahmen dieser Kooperation kommt es zur Organisation gemeinsamer Veranstaltungen. Statt Demonst-rationen gibt es Mahnwachen, Lichterketten und Unterschriften-

aktionen. Die Bürgerinitiativen sind bemüht, komplexe Themati-ken durch eine engagierte Pressearbeit für die breite Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Hierin zeigt sich ein weite-res Charakteristikum der Bürgerinitiativen: Die Mitglieder sind überdurchschnittlich gut mit dem Protestgegenstand vertraut. Statt »Spaßprotest« geht es um »Protest mit Tiefgang«.Glaubt man dem übereinstimmenden Bild der Medien, dann sind es vor allem piefige Hausbesitzer, die um die Lebensqualität im eigenen Garten fürchten – sei es durch den Schlagschatten der Rotorenblätter der Windkraftanlagen oder das unerträgliche Sur-ren der Oberlandleitungen. Die Befragung der Bürgerinitiativen zeigt hingegen, dass persönliche Anliegen und der Schutz des persönlichen Eigentums im Hintergrund der Proteste stehen. Den Initiativlern geht es vielmehr um eine neue Beteiligungskul-tur in der Bundesrepublik. Etwa die Hälfte unter ihnen fordert, dass der Umgang mit dem Bürger bei anstehenden Entschei-dungsprozessen generell überdacht werden soll. Dabei soll die neue Partizipation direkt am und vor allem vor dem Gesetzge-bungsprozess eingreifen und nicht nur nachträglich und über das Mittel des Volksentscheides umgesetzt werden.Der gesellschaftliche Diskurs stilisiert den »Wutbürger« als Phä-nomen unseres jungen Jahrzehnts. Kaum eine Protestform, die nicht postwendend mit dem Begriff des sich ereifernden Prota-gonisten Dirk Kurbjuweits assoziiert wird. Doch wie die Analyse der Bürgerinitiativen zeigt, hat die bürgerliche Mitte keineswegs jedes Maß verloren. Im Gegenteil fordert sie, direkt an der Pla-nung von Bauprojekten beteiligt zu werden. Ihre Ziele sind größ-tenteils konstruktiv und vor allem lokal begrenzt, und ihr Empö-rungspotential scheint eher gering. Zumindest in ihrer Selbsteinschätzung sind sich die Bürgerinitiativen einig: Sie sch-reiben sich ein extrem hohes Bedeutungsmaß zu und sind über-zeugt, als unabhängiger und objektiver Informationslieferant an einer wichtigen Schaltstelle zwischen Politik und Wirtschaft zu sitzen. Je kleiner dabei die Initiative ist, desto höher wird auch der eigene Einfluss bewertet. Diese Selbstüberschätzung der eigenen Rolle ist vermutlich nicht zuletzt auf die hysterische »Wutbürger-debatte« zurückzuführen.

© Ana Belle Becké (2011): Wutbürger?. www.demokratie-goettingen.de/blog/ «wutburger«

M 6 Bertelsmann-Studie: »Welche Formen der politischen Mitbestimmungen bevorzugen die Deutschen?« © nach Bertelsmann-Studie, 2009

Welche Formen der politischen Beteiligung werden von den Bürgern praktiziert oder sind für sie inter-essant?

Form der Beteiligung

Teilnahme an Wahlen 94 5

21

29

36

44

45

45

48

52

53

54

Volksentscheide, Bürgerbegehren

Abstimmung über Infrastrukturprojekte

Teilnahme an einer Bürgerversammlung

Mitgliedschaft in einem Interessenverband

Schreiben eines Leserbriefes

Beschwerde/Eingabe bei Abgeordneten

Online-Umfrage im Internet

Beratungen über kommunalen Bürgerhaushalt

Teilnahme an einer Demonstration

Abstimmung über bestimmte Fragen im Internet

Elektronische Petition

Teilnahme an einem Bürgerforum/Zukunftswerkstatt

Mitgliedschaft in einer Bürgerinitiative

Mitwirken in Partei ohne Mitgliedschaft

Verfassen von Beiträgen in Internet-Foren/Blogs

Mitgliedschaft in einer Partei

Einsatz als Sachkundiger Bürger in Rat

Habe ich schon einmal gemacht oder käme für mich infrage Kommt für mich nicht infrage Weiß nicht, keine Angabe

39

39

34

33

32

30

27

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M 7 Werner J. Patzelt: »Politikverdrossenheit entsteht durch Missverständnisse«

System- und Politikverdrossenheit haben sicher auch politische Gründe. Es ist zu Ende gegangen mit der Überflussgesellschaft des europäischen Wirtschafts-wunders, die Wohlstand, soziale Sicherheit und das Gefühl bescherte, allein an Verbesserungen zu arbei-ten sei unsere Aufgabe. Jetzt steht der Rückbau des Erreichten, jetzt stehen an die Substanz gehende Verteilungskonflikte auf der Tagesordnung. Die Folge sind Unzufriedenheit und Murren. Hinzu kom-men die Reaktionsträgheit politischer Institutionen, so manche Politikblockade und die Neigung der poli-tischen Klasse, Probleme erst dann anzugehen, wenn sie sich gar nicht mehr verbergen lassen. Der inzwischen nachgewiesene und völlig plausible Ne-gativismus massenmedialer Politikdarstellung (»Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten«) tut ein Übriges. Außerdem stellen die Bürger an die Leis-tungen von Politik und Politikern höhere Ansprüche und werden ihrerseits immer selbstbewusster: Er-wartungen steigen, Folgebereitschaft lässt nach, Missmut resultiert. Der wird weiter angefacht durch immer wieder aufkommende Politikskandale.Demonstrative Politikverdrossenheit, Wahlabstinenz und Partizi-pationsverweigerung können dann ihrerseits zu politischen Akten werden. Noch mehr trägt zu Beteiligungsdefiziten aber bei, dass die fortgeschrittene Auflösung lebenslang prägender Milieus, große Mobilität der Elitegruppen und die Individualisie-rung von Lebensstilen den traditionellen Partizipationsformen in Parteien und Kommunalpolitik die Wurzeln vertrocknen lässt. Leicht greift man da zum Argument, verdrossen und politikabsti-nent seien die Bürger, weil man sie von wirklicher, nämlich plebis-zitärer Teilhabe ausschlösse. Indessen kennen so gut wie alle deutschen Kommunalverfassungen plebiszitäre Instrumente, be-sitzen alle deutschen Länder die Hebel des Volksbegehrens und Volksentscheides. Aber auch dies hat das bürgerschaftliche Enga-gement in Kommunen und Ländern nicht hochgetrieben.Es hat aber den Anschein, als stamme ein Großteil politikverdros-senen Grummelns aus noch viel tieferen Schichten politischer Kultur. Das sind die Tiefen überkommener Bilder vom Staat, die Überholtes bewahren. Veraltetes politisches Denken wendet sich dann gegen moderne Institutionen, unkritisch in Geltung gehal-tene Verfassungsideologie gegen eine durch Erfahrung belehrte Verfassungspraxis. Eine solche Lage der Dinge lässt sich als laten-

ter Verfassungskonflikt bezeichnen: ein Konflikt zwischen ver-muteter und gelebter Verfassung.Vor wenigen Jahren wurde er demoskopisch nachgewiesen (…). Es zeigte sich, dass unser Regierungssystem von der Mehrheit der Deutschen nicht nur schlecht gekannt, sondern überdies anhand von Erwartungen beurteilt wird, die seine Eigentümlichkeiten verfehlen. Es funktioniert einfach anders, als viele Bürger glau-ben, und die politische Klasse folgt oft völlig systemadäquaten Regeln, wo das Volk Unrat wittert. (…)Selbst unbegründete Vorwürfe führen nämlich zu wirklicher Ver-drossenheit, auch Missverständnisse wirken entlegitimierend. Das gibt einesteils besten Humus für wuchernden Radikalismus, für den immer wieder reale Politikdefizite zeugen. Andernteils öffnet sich so das Tor für die Suche nach grundsätzlichen Alter- nativen. Statt evolutionär Bewährtes zu verbessern, werden dann riskante Veränderungsvorschläge populär. (…) Sollen wir also eher unser politisches System dem Vorstellungs-horizont der Bürger oder lieber deren politisches Wissen und Ver-ständnis der Komplexität unseres Institutionensystems anpas-sen? Hätte unsere Demokratie vor allem Fehlleistungen produziert, läge die erste Antwort nahe. Unsere politischen Insti-tutionen haben sich im Wesentlichen aber bewährt. Darum ist anzuraten, zwar unser politisches System dort zu verbessern, wo

es mangelhaft funktioniert. Noch dringender aber ist es, an den Schulen und in den Massenmedien immer wieder solche politische Bildungsarbeit zu versu-chen, welche die erreichbaren Bürger von ihren je-weils bedrohlichsten Kenntnislücken, Missverständ-nissen und Vorurteilen kuriert. (…)Verbessern wir also das Funktionieren des deutschen Föderalismus. Eröffnen wir über Bürgerforen und Planungszellen viel mehr Bürgern die Möglichkeit, auch ohne langfristiges Engagement an sie betref-fenden Entscheidungen mitzuwirken. Führen wir vielleicht auch umsichtig plebiszitäre Elemente auf Bundesebene ein. Stärken wir die Position des einzel-nen Abgeordneten durch zusätzliche Mitarbeiter. Hüten wir uns aber davor, antiquierten oder inkon-sistenten Systemvorstellungen nur deshalb zu fol-gen, weil sie populär sind.

© Werner J. Patzelt (2001): Deutschlands latenter Verfassungskonflikt, (2001), www.kas.de/wf/doc/kas_1522–544–1-30.pdf?040415181013

M 8 Bürgerinnen und Bürger wünschen mehr Beteiligung an politischen Entscheidungen © nach Bertelsmann-Studie, 2009

M 9 »Die Piraten kommen!« Bei der Senatswahl im September 2011 in Berlin hatte die Partei der »Piraten« überraschend 8,9 % der Stimmen bekommen und lag auch bei bundeswei-ten Umfragen im Oktober 2011 plötzlich bei 8 %. © Gerhard Mester, 4.10.2011

Wünschen Sie sich mehr politische Beteiligungs-

möglichkeiten für die Bürger?

Wären Sie bereit, sich über Wahlen hinaus an politischen

Prozessen zu beteiligen?

Glauben Sie, dass die Politiker grundsätzlich mehr Mitbestim-mung durch die Bürger wollen?

81

60

22

16

39

76

Ja Nein Weiß nicht, keine Angabe

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dem politischen Prozess der institutionellen Entscheidungsfin-dung liegt.

Input- und Outputdimensionen der Demokratie

Schon mit der berühmten Lincoln’schen Bestimmung der Demo-kratie als »government of the people – by the people, for the peo-ple« werden unterschiedliche Perspektiven demokratietheoreti-scher Ansätze deutlich. Legt man den Schwerpunkt auf die Dimension »by the people«, steht die sogenannte »Input-Legiti-mation« des politischen Systems im Zentrum. Gefragt wird nach der demokratischen Inklusion und Beteiligung sowie nach dem Umfang demokratischer Teilhabe- und Entscheidungsrechte. In idealtypischer Zuspitzung bezeichnet »government by the peo-ple« die Selbstregierung der Bürgerinnen und Bürger und erfor-dert somit deren Bereitschaft zum aktiven Engagement, zur in-formierten und reflektierten direkten Beteiligung im politischen Entscheidungsprozess. Die Dimension »for the people« hingegen verweist auf die »Output-Legitimation« des politischen Systems. Dies lenkt den Blick auf die Effizienz, die Angemessenheit und die Wirkung von politischen Entscheidungen. Idealtypisch beschreibt »government for the people« die Herrschaft von (gewählten) Re-präsentanten im Namen der Bürgerinnen und Bürger, wobei ent-sprechende Demokratiemodelle zumeist auf die konkrete Ausge-staltung von Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle – die Verschränkung staatlicher Institutionen im politischen Entschei-dungsprozess – und weniger auf die zu erwartende Qualität von politischen Ergebnisse abheben. Aus dieser Perspektive sind Bür-gerinnen und Bürger dann lediglich aufgerufen, ihre Repräsen-tanten durch regelmäßige Wahlen auszuwählen und zum Han-deln zu legitimieren. So führt bereits diese erste Unterscheidung zweier grundsätzlicher Blickwinkel auf die Demokratie zu be-trächtlichen Unterschieden hinsichtlich der Bedeutung und Rolle von Bürgerinnen und Bürgern in der Demokratie (| M 1 |).

Repräsentative Demokratie und Bürgerbeteiligung

Aus der Sicht repräsentativer Demokratiemodelle ist die Beteili-gung der Bürgerinnen und Bürger durch Wahl und Abwahl der

Glaubt man den politischen Kommentatoren, dann markiert das Jahr 2010 den Beginn einer neuen demokra-

tischen Protestkultur. Gegen »Stuttgart 21«, die Einführung der Hamburger Gemeinschaftsschule, gegen die Münchner Olympiabewerbung und für den Atomausstieg – an vielen Orten der Bundesrepublik gingen Bürger und Bürgerinnen in Deutschland auf die Straße, um ihrem Unmut über die politi-schen Entscheidungsträger und ihrem Recht auf demokrati-sche Mitsprache Ausdruck zu verleihen. Europaweit häufen sich Proteste gegen die Haushaltssanierungs- und sozialen Einsparpolitiken der Regierungen. Die Gesellschaft für deut-sche Sprache (GfdS) erklärte den Begriff »Wutbürger« zum Wort des Jahres 2010. Dieser Begriff stehe, so die Begrün-dung, für die Empörung in der Bevölkerung, »dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden«

Nun liegt es bereits am Konstruktionsprinzip von repräsentati-ven Demokratien, dass die politischen Sachentscheidungen von den gewählten Repräsentanten und somit über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg getroffen werden. Bei den auch überregional wahrzunehmenden Protestaktionen der letzten Monate wurde zudem nicht zweifelsfrei klar, ob es den Protestie-renden tatsächlich um mehr direkte Beteiligung oder schlicht um bessere bzw. andere politische Ergebnisse geht. Die demo-kratischen Erwartungshaltungen verschiedener Bevölkerungs-gruppen haben sich über die letzten beiden Jahrzehnte hinweg deutlich ausdifferenziert. Eine bis zu 20 Prozent umfassende Gruppe von »Aktivbürgern« fordert nachdrücklich und generell vermehrte Möglichkeiten der direkten Beteiligung im politi-schen Entscheidungsprozess. Sie verfügen über die entspre-chenden Ressourcen, vor allem über Zeit und Fachkenntnisse, um im politischen Prozess eine aktivere Rolle nicht nur einfor-dern, sondern auch ausfüllen zu können. Demgegenüber be-schränkt sich etwa die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger vor-wiegend auf die kritische Beobachtung der Ergebnisse des Regierungshandelns. Eine aktive Beteiligung ist für sie vor allem dann geboten, wenn die politischen Ergebnisse offenkundig den individuellen Erwartungen entgegen laufen. Bis zu einem knap-pen Drittel der Bürgerinnen und Bürger schließlich verliert zu-nehmend den Bezug zur Politik. Eine unterdurchschnittliche for-male Bildung, ein geringes politisches Interesse und lediglich rudimentäre Kenntnisse über den politischen Prozess machen diese Bevölkerungsgruppe in Krisenzeiten anfällig für populisti-sche Politikangebote.Demokratietheoretische Diskussionen konzentrieren sich vor allem auf den Stellenwert und das Ausmaß direkter politischer Beteiligung. Eine einhellige Antwort darauf, in welchem Umfang und in welchen Formen die politische Partizipation von Bürgerin-nen und Bürgern für das Gelingen einer Demokratie notwendig oder hinreichend ist, gibt es allerdings nicht. Das Spektrum der Demokratiekonzeptionen reicht von minimalistisch-elitentheo-retischen über pluralistisch-repräsentative bis hin zu deliberati-ven oder radikaldemokratischen Ansätzen. Trotz aller positiven Wertschätzung von Demokratien im Grundsätzlichen unterschei-den sich die Demokratiemodelle hinsichtlich der Beteiligungs-möglichkeiten und Entscheidungsstrukturen doch beträchtlich. Im Folgenden werden repräsentative und partizipatorische An-sätze gegenüber gestellt, wobei der Schwerpunkt auf dem Bür-gerbild, den jeweiligen Arenen demokratischer Beteiligung sowie

POLITISCHE PARTIZIPATION IN EUROPA

2. Mehr Demokratie durch mehr Partizipation? – Aktuelle demokratietheoretische Debatten

BEATE ROSENZWEIG / ULRICH EITH

Abb. 1 »Stuttgarter Wutbürger« © Klaus Stuttmann, 15.6.2011

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Regierenden sowie durch eine pluralistische Interessenvermittlung und Parteienkonkur-renz ausreichend verwirklicht. Bürgerinnen und Bürger besitzen daher individuelle (Au-tonomie-)Rechte zur politischen Beteiligung bzw. Nichtbeteiligung. Aus einer elitentheo-retischen Perspektive hat Joseph A. Schum-peter in diesem Sinne Demokratie definiert als diejenige Methode, bei welcher »einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen des Volkes erwerben« (Schumpeter 1993, S. 428). Für Schumpeter verengt sich der Begriff der demokratischen Beteiligung des Volkes vor allem deshalb auf den Wahlakt, weil es kein eindeutig bestimmbares Gemeinwohl gibt und die Bürger im Allgemeinen irrational, as-soziativ und aus emotional bestimmten Ei-geninteressen handeln. Aus diesem Grund muss Demokratie auf der Anerkennung von Führung, pluralistischer Interessenvertre-tung und der freien Konkurrenz um die Wäh-lerstimmen beruhen. Hierfür erscheinen ins-besondere die Presse- und Meinungsfreiheit und die gleiche Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger, sich um politische Ämter zu bewerben, als unabdingbar. Ihre Kontroll-funktion gegenüber den Regierenden nehmen sie durch deren Wahl oder Abwahl wahr. Das demokratische Gleichheitsprinzip verwirklicht sich im aktiven und passiven Wahlrecht aller Bürger und Bürgerinnen.Der von Schumpeter vorgenommene Ausschluss direkter Beteili-gungsrechte über den regelmäßigen Wahlakt hinaus gründet sich vor allem auf sein pessimistisches Bürgerbild. Nach Schum-peter fällt »der typische Bürger auf eine tiefere Stufe der gedank-lichen Leistung, sobald er das politische Gebiet betritt. Er argu-mentiert und analysiert auf eine Art und Weise, die er innerhalb der Sphäre seiner wirklichen Interessen bereitwillig als infantil anerkennen würde.« (Schumpeter 1993, S. 416) Anders stellt sich dies im repräsentativ-pluralistischen Demokratiemodell von Ernst Fraenkel dar, das vor allem den Prozess der politischen Wil-lensbildung – die Transformation gesellschaftlicher Vorstellun-gen in politische Handlungskonzepte – ins Zentrum der Diskus-sion rückt. Ausgehend von der Annahme, dass pluralistische Gesellschaften stets einen kontroversen und einen nicht-kontro-versen Sektor des gesellschaftlichen Lebens aufweisen, sieht Fra-enkel die erfolgreiche Herstellung eines »a posteriori-Gemein-wohls« vor allem durch die Einhaltung von fairen Spielregeln und Verfahren des politischen Wettbewerbs gewährleistet. Den Bür-gerinnen und Bürgen kommt hierbei die Aufgabe zu, sich über die Teilnahme an Wahlen hinaus in Parteien und Verbänden für ihre Interessen zu engagieren und so Einfluss auf den gesellschaftli-chen Meinungsbildungsprozess zu nehmen. »Mitarbeit des Bür-gers in der parlamentarischen Demokratie gewährt dem einzel-nen das unmittelbare politische Wahlrecht; Mitarbeit des Bürgers in der pluralistischen Demokratie gewährt dem einzelnen ein mittelbares, durch die Parteien und Verbände geltend zu ma-chendes Mitgestaltungsrecht auf die öffentliche Meinung, die Fraktionen und auch Regierungen und Parlament« (Fraenkel 1991, S. 275/276) (| M 6 |).Fraenkels Demokratiekonzeption basiert somit ganz im Gegen-satz zum Modell von Schumpeter auf einem positiven Bürgerbild. Allerdings belegen vielfältige Studien zum Partizipationsverhal-ten, dass Fraenkel die individuellen Fähigkeiten und vor allem die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zur aktiven politischen Teilnahme eher überschätzt. In der Kritik steht zudem die reich-lich idealistische Vorstellung Fraenkels, das »A-posteriori-Ge-meinwohl« würde sich als Parallelogramm der gesellschaftlichen Kräfte nahezu von selbst herauskristallisieren. Die politische Re-alität hat immer wieder gezeigt, dass die materiellen und finanzi-

ellen Ressourcen von gesellschaftlichen Interessenverbänden äußerst ungleich verteilt sind. So erreichen etwa die nur schwer organisierbaren Interessen von Wohnungslosen oder auch Mig-rantengruppen nicht annähernd die politische Wirkungsmacht wie die einflussreichen Verbände der Agrar- oder Chemieindust-rie.

Deliberative Demokratie: Bürgerbeteiligung durch rationalen Diskurs

Die von Schumpeter und Fraenkel mit unterschiedlichen Schwer-punktsetzungen begründete Notwendigkeit repräsentativdemo-kratischer Strukturen wird in jüngerer Zeit nicht nur aus der Pers-pektive eines »rationalistischen« Demokratieverständnisses, sondern auch von Seiten deliberativer Demokratiemodelle bestä-tigt. Das demokratische Repräsentationsprinzip erscheint auf-grund der pluralistischen Interessenvielfalt und Komplexität mo-derner Politik als unabdingbare Voraussetzung effektiven Regierens. Es gilt als Heilmittel gegen die u. a. von Schumpeter zugespitzten Gefahren direkter Demokratie – wie populistische Meinungsmache, affektgesteuertes politisches Handeln, die mögliche Tyrannei der Mehrheit oder auch die Gefahr ständiger politischer Instabilität. Weniger negativ ausgerichtet betonen neuere Ansätze darüber hinaus die partizipativen Zugewinne des Repräsentationsprinzips. Demnach liegt die Bedeutung der Re-präsentation nicht so sehr im Wahlakt selbst, sondern vielmehr in den ständigen diskursiven Beziehungen zwischen den Repräsen-tanten und den Repräsentierten. Als Advokaten der Repräsen-tierten sind die Repräsentanten an ihre jeweilige Partei gebun-den und zu andauernder Überzeugung und Diskussion mit ihren Wählern und Wählerinnen gezwungen. Insofern erscheint die Re-präsentationsbeziehung als ein zeitlich befristeter Prozess stän-diger argumentativer Auseinandersetzung und Rechtfertigung. Damit erhalten die Bürger auch zwischen den Wahlen die »nega-tive Macht« zur Kontrolle, Beurteilung und Beeinflussung ihrer gewählten Repräsentanten.Insbesondere Jürgen Habermas plädiert in seinem deliberativen Demokratiemodell für einen Mittelweg zwischen institutionell-verfahrensrechtlicher Entscheidungsfindung und »informell ge-bildeten öffentlichen Meinungen« (Habermas 1998, S. 362). Dabei kommt neben den repräsentativen Verfahren politischer Willens- und Entscheidungsbildung der zivilgesellschaftlich und medial organisierten Öffentlichkeit eine gleichermaßen zentrale Bedeu-tung zu. Unter den Bedingungen pluralistischer Interessenvielfalt

Abb. 2 Grundgesetz Artikel 20, Absatz 2: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt:« – Bild: Letzte Sitzung des Bundestags vor der Sommerpause am 8.7.2011, Beratung zur Situation des Handwerks. © Tobias Kleinschmidt, picture alliance

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können Habermas zufolge nur »die Regelungen Legitimität bean-spruchen (…), denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilneh-mer an rationalen Diskursen zustimmen könnten« (Habermas 1998, S. 138). Der politische Meinungs- und Willensbildungsprozess bildet demzufolge den Mittelpunkt der deliberativen Demokratie. Die Bürger, die zugleich Urheber und Adressaten des demokratischen Rechtsstaates sind, besitzen als gleiche und freie Rechtsperso-nen in einer pluralistischen Gesellschaft nicht nur das Recht zur Beteiligung an den institutionalisierten Verfahren parlamentari-scher Entscheidungsfindung, sondern auch die Freiheit zur offe-nen, informellen Meinungsbildung. Deliberative Demokratie be-deutet die Möglichkeit einer freien und gleichberechtigten kommunikativen Auseinandersetzung über politische Fragen. Die Bürger sind nur dann gleich und frei, wenn die politische Öffent-lichkeit für jede und jeden gleichermaßen offen ist und ein ratio-naler kommunikativer Austausch – frei von Macht- und Herr-schaftsverhältnissen – auf argumentativer Verständigung beruht. Die politische Öffentlichkeit bildet Habermas zufolge »eine Arena für die Wahrnehmung, Identifizierung und Behandlung gesamt-gesellschaftlicher Probleme« (Habermas 1998, S. 365). Ihren Ein-fluss auf die institutionalisierte Politik üben die Bürger – über das aktive Wahlrecht hinaus – durch freie politische Meinungsbildung und die damit verbundene informelle Beeinflussung der politi-schen und administrativen Entscheidungsträger aus. Entschei-dend für die Verwirklichung der deliberativen Demokratie ist somit das Zusammenspiel von politischen Kommunikations- und Teilhaberechten, das heißt die Offenheit und Inklusivität der Ver-fahren demokratischer Willensbildung, parlamentarischer Bera-tung und Entscheidung. Kritisch lässt sich dem entgegenhalten, dass öffentliche Meinungsbildungsprozesse in der Regel gerade nicht nach dem Ideal eines herrschaftsfreien, rationalen Diskur-ses ablaufen. Die politische Praxis öffentlicher Diskurse ist weit-gehend bestimmt von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, den ungleichen Ressourcen zu rational-kommunikativem Handeln sowie den Bedingungen medialer Aufmerksamkeit.

Partizipatorische Demokratie und Bürgerentscheidung

Aus der Sicht radikaldemokratisch-partizipativer Demokratiemo-delle greift die Einschränkung bürgerschaftlicher Beteiligung auf

die öffentliche Meinungsbildung vor allem deshalb zu kurz, weil sie auf den informellen Bereich der Politik beschränkt bleibt und keine direktdemokratische Entscheidungs-kompetenz der Bürgerinnen und Bürger vor-sieht. Repräsentation, so der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber, ist die Kapitulation der Demokratie vor der mo-dernen Massengesellschaft (vgl. Barber 1994, S. 142f.) (| M 7 |). Gegen das Modell einer »mageren« repräsentativen Demokra-tie, nach dem die Wähler nur an dem Tag ver-meintlich frei sind, an dem sie zur Wahl gehen (ebd., S. 138), stellt Barber das Modell einer modernen Form der partizipatorischen Demokratie. Die Freiheit der Bürger zur poli-tischen Beteiligung und direktdemokrati-schen Selbstregierung steht dabei im Zent-rum. Demokratie erscheint als Lebensform, in der die mündigen Bürgerinnen und Bürger die eigenen Angelegenheiten selbst ent-scheiden. Demokratische Freiheit heißt Frei-heit zum gemeinsamen politischen Handeln. Nicht individuelle Eigeninteressen im Sinne Schumpeters bestimmen das Bürgerbild par-tizipatorischer Demokratiemodelle, sondern

die gemeinsame Überprüfung »gemeinschaftlicher Normen und (…) öffentlicher Güter«. (Barber 1994, S. 167). Erst im partizipato-rischen Prozess der Selbstgesetzgebung und – hier folgt Barber den deliberativen Ansätzen – im gemeinsamen Sprechen, Urtei-len und Entscheiden über die politischen Angelegenheiten ver-wirklicht sich die demokratische Freiheit und Gleichheit aktiver Staatsbürger. »Bürger zu sein heißt, auf eine bestimmte, be-wusste Weise an etwas teilzunehmen, auf eine Weise, die voraus-setzt, dass man andere wahrnimmt und gemeinsam mit ihnen handelt.« (Barber 1994, S. 152).Zur praktischen Umsetzung und Institutionalisierung seiner Kon-zeption schlägt Barber konkrete Reformmaßnahmen vor. Als Grundlage gemeinschaftsbildender Diskussionsprozesse nennt er den Ausbau neuer Kommunikationstechnologien, vielfältige Angebote zur politischen Information und Bildung sowie die Ein-richtung eines allgemeinen Bürgerdienstes. Im kommunalen Be-reich sollen lokale Nachbarschaftsversammlungen nach und nach legislative Kompetenzen übernehmen. Hinzu kommt die Besetzung kommunaler Ämter durch Losentscheid mit finanziel-len Anreizen. Überregionale Debatten und Volksentscheide wer-den durch nationale Kommunikationsgenossenschaften organi-siert. Barber setzt auf die Aktivierung und Befähigung der Bürgerinnen und Bürger zur politischen Teilnahme und Über-nahme von politischer Verantwortung. Die von Barber vorgeschlagene »neue Architektur des öffentli-chen Raumes« (Barber 1994, S. 291) erfordert allerdings eine neue Verteilung der Entscheidungsmacht und somit einen weitreichen-den Wandel der herkömmlichen Rollenverständnisse von Regie-renden und Regierten in repräsentativen Demokratien.

Demokratie und Beteiligung in Europa

Barbers Vorstellungen einer partizipatorischen Demokratie fin-den insbesondere im kommunalen Bereich günstige Rahmenbe-dingungen zur Realisierung. Ebenfalls anschlussfähig ist die nati-onalstaatliche Ebene. Auf die Europäische Union hingegen ist Barbers Demokratiemodell für absehbare Zeit wohl nicht über-tragbar. Die hierfür notwendigen gemeinschaftsstiftenden Grundvoraussetzungen einer europäischen Bürgergesellschaft sind bislang bestenfalls in Ansätzen erkennbar. Nach wie vor do-minieren im Entscheidungsprozess der EU an zentraler Stelle die Regierungen der Mitgliedsländer, in den supranationalen Berei-

Abb. 3 Stand der Aktion »Mehr Demokratie« am 12.6.2006 in Freiburg für ein landesweites Bürger-begehren, das mehr kommunale Bürgerentscheide in Baden-Württemberg etablieren wollte. © Rolf Haid, picture alliance

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chen europäischen Regierens inzwischen zusammen mit der Eu-ropäischen Kommission und dem Europäischen Parlament.Gleichwohl stellt sich für die Europäische Union angesichts des inzwischen erreichten Umfangs der vergemeinschafteten, supra-nationalen Politikbereiche die Frage nach ihrer weiteren Demo-kratisierung. Die hierzu aktuell diskutierten Vorschläge umfassen einen weiten Bogen von Maßnahmen. Strategien einer stärkeren Parlamentarisierung setzen ganz im Sinne der repräsentativen Demokratie auf den weiteren Ausbau der Zuständigkeiten und Befugnisse des Europäischen Parlaments und teilweise auch auf die stärkere Einbeziehung der nationalen Parlamente. Dem lässt sich entgegenhalten, dass dadurch das bereits auf nationaler Ebene bestehende grundlegende Repräsentationsproblem, die Nichtvertretung unorganisierter Interessen und der potentielle Ausschluss von Minderheiten, auf europäischer Ebene noch ver-schärft wird. Auch von Seiten partizipatorischer Demokratiemo-delle wird die Frage, wie ein »Minimum an Demokratie« – im Sinne von individueller Selbstbestimmung – auch in supranatio-nalen Strukturen verwirklicht werden kann, bislang nicht allseits überzeugend beantwortet. Erscheint den Befürwortern das mit dem Vertrag von Lissabon eingeführte europäische Bürgerbegeh-ren als ein überfälliger erster Schritt, so stehen für andere dem weiteren Ausbau direktdemokratischer Elemente das Fehlen einer entwickelten europäischen Öffentlichkeit und die nach wie vor bestehende nationalstaatliche politische Interessenkonzent-ration entgegen. Um unter den gegebenen europäischen Bedin-gungen dennoch ein »demokratisches Optimum« (Abromeit 2002, S. 202) zu erreichen, plädiert die Politikwissenschaftlerin Heidrun Abromeit (| M 9 |) für die Etablierung von Widerspruchs-rechten der Bürgerinnen und Bürger. Die von ihr vorgeschlagene Einführung von fakultativen Referenden erlaubt zwar keine aktive Mitgestaltung, sie sichert aber in Form von Vetorechten den euro-päischen Bürgern und Bürgerinnen direktdemokratische Ein-flussnahme und zwingt die europäischen Eliten zur Rechenschaft. Deutlich wird, dass die jeweils vorgeschlagenen Maßnahmen zur Demokratisierung der EU eng mit der jeweiligen Zukunftsvision der EU als eines Staatenbundes oder als eines sich abzeichnender Bundesstaates zusammen hängen.

Mehr Demokratie durch mehr Partizipation?

Ganz ohne Zweifel gehört die institutionalisierte Bürgerbeteili-gung zum unverzichtbaren Kernbestand einer Demokratie. Schon ein erster Blick auf die Bandbreite demokratietheoretischer Kon-zeptionen zeigt aber auch, dass es über die Formen und das not-wendige Ausmaß von politischer Partizipation in Demokratien keinen allgemeinen Konsens gibt, sie vielmehr abhängen vom zugrunde gelegten Bürgerbild. Die Akzeptanz und Stabilität von Demokratien bemisst sich zudem nicht allein am Umfang der po-litischen Beteiligung der Regierten. Mehr Bürgerbeteiligung führt nicht automatisch zu besseren, sondern – in Ermangelung von absoluten Maßstäben – zunächst einmal zu anderen politi-schen Ergebnissen. Diese mag man je nach politischem Stand-punkt begrüßen oder auch nicht. Der Erfolg von Demokratien je-denfalls beruht auf der grundsätzlichen Eröffnung von gleichen Beteiligungschancen, der Herstellung von konsensfähigen oder zumindest weithin akzeptierbaren Entscheidungen sowie einem institutionellen Arrangement, das Fairness, Verlässlichkeit und Überprüfbarkeit der rechtsstaatlichen Verfahren sicherstellt.

Literaturhinweise

Abromeit, Heidrun (2002): Wozu braucht man Demokratie? Die postnatio-nale Herausforderung der Demokratietheorie, Opladen, Leske und Budrich.

Barber, Benjamin (1994): Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politi-schen, Hamburg, Rotbuch Verlag.

Buchstein, Hubertus/Dirk Jörke (2003): Das Unbehagen an der Demokratie-theorie, in: Leviathan 31, 4, 2003, S. 470–495.

Fraenkel, Ernst (1991): Möglichkeit und Grenzen politischer Mitarbeit der Bürger in einer modernen parlamentarischen Demokratie, in: ders.: Deutschland und die westlichen Demokratien, hrsg. von Alexander v. Brünneck, Frankfurt am Main, Suhrkamp, S. 261–276.

Habermas, Jürgen (1998): Deliberative Politik – ein Verfahrensbegriff der De-mokratie, in: ders: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main, Suhr-kamp, S. 349–399.

Manin, Bernard (1997): Kritik der repräsentativen Demokratie, Berlin, Mat-thes & Seitz.

Massing, Peter/Gotthard Breit (2006) (Hg.): Demokratietheorien, 7. Aufl., Schwalbach/Ts., Wochenschau Verlag.

Neugebauer, Gero (2007): Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, Verlag J. H. W. Dietz Nachf.

Scharpf, Fritz W. (1999): Demokratie in einer kapitalistischen Gesellschaft, in: ders.: Regieren in Europa. Effektiv und demokratisch, Frankfurt am Main, Campus Verlag, S. 16–22.

Schmidt, Manfred G. (2008): Demokratietheorien, 4. Aufl., Wiesbaden, VS Verlag.

Schumpeter, Joseph A. (1993): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. 7. erw. Auflage, Tübingen, Francke.

Abb. 4 »Ein bisschen mehr direkte Demokratie« © Klaus Stuttmann, 13.2.2011

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MATERIALIEN

M 1 Fritz Scharpf: »Input- und Output- Orientierung demokratischer Herr-schaft«

Wie Demokratie selbst, ist auch Selbstbe-stimmung ein wertbehafteter, umstrittener und komplexer Begriff. Dennoch lassen sich in der Geschichte der normativen politischen Theorie zwei unterschiedliche, aber komple-mentäre Perspektiven feststellen – eine be-tont den ersten Teil, die andere den zweiten des Kompositums »Demokratie«. In meinen eigenen Arbeiten habe ich sie als »Input-ori-entierte » und »Output-orientierte« Legitimi-tätsargumente bezeichnet.Die Input-orientierte Perspektive betont die »Herrschaft durch das Volk«. Politische Ent-scheidungen sind legitim, wenn und weil sie den »Willen des Volkes« widerspiegeln – das heißt, wenn sie von den authentischen Präfe-renzen der Mitglieder einer Gemeinschaft abgeleitet werden können. Im Unterschied dazu stellt die Output-orientierte Perspektive den Aspekt der »Herrschaft für das Volk« in den Vordergrund. Danach sind politi-sche Entscheidungen legitim, wenn und weil sie auf wirksame Weise das allgemeine Wohl im jeweiligen Gemeinwesen fördern. Obwohl beide Argumente komplementär verwendet werden, sind sie analytisch zu unterscheiden und sie beruhen bei separater Be-trachtung auf höchst unterschiedlichen Vorbedingungen. […] In-put-orientierte Argumente stützen sich häufig gleichzeitig auf die Formeln der »Partizipation« und des »Konsenses«. Das ist plausibel, wenn der empirische Schwerpunkt bei lokalen Proble-men liegt, bei denen die von einer Entscheidung betroffenen Per-sonen oder mit ihnen eng verbundene Vertreter zur Beratung über Lösungen zusammenkommen, die im »gemeinsamen Inter-esse liegen« und denen deshalb alle zustimmen können. Die Überzeugungskraft der Partizipations-Formel schwindet jedoch in dem Maße, wie sich die Distanz zwischen den direkt betroffe-nen Personen und ihren Vertretern vergrößert; und die Konsens- Formel versagt, wenn Lösungen zum Nutzen aller nicht möglich sind und demzufolge Mehrheitsentscheidungen getroffen werden müssen. Deswegen muss unter pragmatischen Gesichts-punkten die Rechtfertigung der Mehrheitsherrschaft als Zentral-problem Input-orientierter Theorien demokratischer Legitima-tion angesehen werden.Wenn man unterstellt, dass sich die »Herrschaft durch das Volk« auf Individuen und nicht auf kollektive Organismen bezieht, dann folgt daraus logischerweise, dass die Konsensformel – die ihre Rechtfertigung in der römischen Maxime »volenti non fit iniuria« hat – nicht zur Rechtfertigung einer Mehrheitsentscheidung, die der dissentierenden Minderheit aufgezwungen wird, herangezo-gen werden kann. Nicht viel besser steht es um die Partizipations-formel der gleichen Teilnahme am politischen Entscheidungspro-zess. Deren Legitimationskraft beruht auf der Logik des Duells, der in einem fairen Kampf Unterlegene kann sich über das Ergeb-nis nicht beklagen. Aber welche Überzeugungskraft hätten sol-che Argumente für den einzelnen Bürger in der modernen Mas-sen-, Parteien- und Mediendemokratie? Angesichts der Gefahr, dass feindselige Mehrheiten die Minderheit vernichten könnten, und Beispiele dafür gibt es genug, reicht das formale Partizipati-onsargument keineswegs aus, um die moralische Pflicht zur Res-pektierung des Mehrheitsvotums zu begründen. Mehr noch: Es lässt sich analytisch nachweisen, dass die Mehrheitsregel auch dann zu normativ nicht vertretbaren Entscheidungen führt, wenn die Mitglieder der Mehrheit der Minderheit nicht feindselig ge-genüberstehen, sondern lediglich ihre Eigeninteressen rational

verfolgen, und wenn das Abstimmungsverfahren diese Präferen-zen unverzerrt aggregiert. Unter den Standardprämissen des nor-mativen Individualismus lassen sich überzeugende Legitimitäts-rechtfertigungen nicht auf rein inputorientierte – »populistische« oder »dezisionistische« – Demokratiekonzepte stützen. Um die Gehorsamspflicht rein input-orientiert zu begründen, bedarf es also, so zusätzlicher, und nicht rein formaler Argumente, die das Vertrauen der Minderheit in die Mehrheit – »the people can do no wrong« – begründen könnten. Letztlich erfordert dies die begrün-dete Unterstellung, dass die Prä ferenzfunktion jedes einzelnen Mitglieds des Gemeinwesens die Wohlfahrt aller Mitglieder als ein Argument enthält. Meine Pflicht, so Claus Offe (1998), zur Ak-zeptanz der Opfer, die mir im Namen der Allgemeinheit auf erlegt werden, setzt mein Vertrauen auf den guten Willen meiner Mit-bürger voraus. Soziopsychische Grundlage dieses Vertrauens ist ein »Gemeinsam keitsglauben« (Max Weber), der sich auf präexis-tente geschichtliche, sprach liche, kulturelle oder ethnische Ge-meinsamkeiten gründet. Kann diese starke kollektive Identität vorausgesetzt werden, so verliert die Mehrheitsherr schaft in der Tat ihren bedrohlichen Charakter und kann dann auch Maß-nahmen der interpersonellen und interregionalen Umverteilung legitimieren, die anderenfalls nicht akzeptabel wären.(…) Die »Herrschaft für das Volk« leitet Legitimität von der Fähig-keit zur Lösung von Problemen ab, die kollektiver Lösungen be-dürfen, weil sie weder durch individuelles Handeln noch durch den Markt und auch nicht durch freiwillig-gemeinsames Handeln in der Zivilgesellschaft gelöst werden könnten. Da solche Prob-leme häufig aus Bedingungen entstehen, die viele Personen in ähnlicher Weise betreffen oder ihre Ursache in der Interdepen-denz individueller Handlungen haben, erfordert ihre Lösung typi-scherweise nicht einmalige und eng spezialisierte, sondern dau-erhafte und multifunktionale Strukturen. Aus praktischen Gründen setzt deswegen auch outputorientierte Legitimität die Existenz einer politischen Einheit mit abgrenzbarer Mitglied-schaft voraus. Aber diese Anforderungen sind geringer als die Vo-raussetzungen input- orientierter Legitimität. Nötig ist lediglich ein Bestand gemeinsamer Interessen, der hinreichend groß und dauerhaft erscheint, um institutionelle Arrangements für kollek-tives Handeln zu rechtfertigen. Legitimität kann also auch in poli-tischen Einheiten erreicht werden, deren schwache Identität kei-nerlei organismische Interpretationen zuließe. (…)

© Fritz Scharpf (1999): Demokratie in einer kapitalistischen Wirtschaft, in: ders.: Regieren in Europa. Effektiv und demokratisch? Frankfurt/M, Campus, S. 16–22

M 2 Regierungserklärung des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) am 25.5.2011 im Landtag. Kretschmann steht einer grün-roten Landes-regierung vor. © Marijan Murat, picture alliance

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M 3 Bernard Manin: »Das Aufkommen von nicht-institutionalisierten For-men politischer Partizipation«

Mit der Erosion der Stammwählerschaft ging auch ein bedeutender Wandel der politi-schen Partizipation einher, die sich zuneh-mend auf nicht-institutionalisierte Formen verlagerte. Offenbar beteiligt sich eine wach-sende Zahl von Bürgern an Demonstrationen und Petitionen oder verleiht ihren Forderun-gen an die Entscheidungsträger auf direktem Wege Nachdruck. Diese Aktivitäten sind im Vergleich zum Wahlverhalten schwieriger zu beurteilen. Und um sie zu charakterisieren, mangelt es den Wissenschaftlern zudem an einem einheitlichen Begriff. Es kursieren Be-zeichnungen wie »Partizipation außerhalb von Wahlen«, »nicht-institutionalisierte Par-tizipation«, »unkonventionelle Partizipation« oder aber »Protest-Politik«. Abgesehen von begrifflichen Unsicherheiten besteht wenig Zweifel darüber, dass sich in den letzten Jahr-zehnten bedeutende Formen bürgerlichen Engagements herausgebildet haben. Immer mehr Bürger sagen sowohl in regionalen (z. B. dem »Eurobarometer«) als auch weltweiten Meinungsum-fragen (z. B. den drei Wellen des »World Values Survey«) aus, an einer oder mehreren der folgenden Aktivitäten tatsächlich betei-ligt gewesen zu sein: der Unterzeichnung von Petitionen, der Teil-nahme an Demonstrationen, am Konsumentenboykott und an inoffiziellen Streiks, an der Besetzung von Gebäuden oder Fabri-ken.Aussagen, die auf Umfragen beruhen, haben sicherlich ihre Gren-zen. Die Entwicklungstendenz jedoch, die diese Erhebungen auf-decken, hält nun bereits über Jahre und (was noch wichtiger ist) in verschiedenen Ländern an und ist deshalb zu gewichtig, um vernachlässigt werden zu können. Richtig ist auch, dass im Allge-meinen Befragungen besser auf Einstellungen und Werte schlie-ßen lassen als das tatsächliche Verhalten. Verhaltensstudien zu einzelnen Ländern bestätigen die Zunahme von Aktivitäten wie Straßendemonstrationen. Grundsätzlich stimmen die empiri-schen Untersuchungen zu Demokratien darin überein, dass das veränderte Repertoire kollektiven Handelns zunehmend auf nicht-institutionalisierte Formen politischer Partizipation hin tendiert. Aktions- und Organisationsformen der sozialen und Anti-System-Bewegungen der 1960er-Jahre haben sich normali-siert und sind zu alltäglichen Bestandteilen von Repräsentativ-systemen geworden. Formen nicht-institutionalisierter politi-scher Partizipation teilen offenbar drei Haupteigenschaften. – Erstens treten sie episodisch auf, und zwar abhängig von der

Gemengelage, die sich in bestimmten Kontexten ergibt. De-monstrationen, Besetzungen und inoffizielle Streiks werden gewöhnlich durch bestimmte Ereignisse und Umstände aus-gelöst. Bürger und Aktivisten nehmen daran nicht aufgrund von Loyalität und Veranlagung teil, sondern in erster Linie weil sich die Chance dazu bietet.

– Zweitens sind diese Episoden kollektiven Handelns themen-spezifisch. Bürger werden durch ein bestimmtes Anliegen mo-bilisiert, das für sie besonders relevant ist, und nicht durch Themenbündel und öffentliche Entscheidungen. Darüber hin-aus wechseln die Koalitionen in Abhängigkeit davon, was genau auf dem Spiel steht. Jedes politische Thema adressiert ein unterschiedliches Publikum und unterschiedliche Aktivis-ten. In dieser Hinsicht entsprechen die Formen nicht-instituti-onalisierter politischer Partizipation den zuvor analysierten Formen der Wahlbeteiligung.

– Und schließlich adressieren Bürger, die an den kollektiven Aktionen teilnehmen, ihre Forderungen direkt an die Ent-

scheidungsträger. Darin weicht die nicht-institutionalisierte politische Partizipation offenbar von den Grundsätzen der re-präsentativen Demokratie ab und gefährdet diese vielleicht. In einigen Analysen wertete man die Zunahme dieser Formen der Partizipation als Anzeichen für eine Krise der politischen Repräsentation.

Diese Einschätzung wird von den verschiedenen länderübergrei-fenden Studien des letzten Jahrzehnts jedoch nicht bestätigt. Be-merkenswert ist, dass diese Studien von unterschiedlichen Ge-sichtspunkten aus allesamt betonen, die repräsentative Demokratie habe sich zwar gewandelt, doch sei sie keinesfalls durch die wachsende Bedeutung politischer Partizipation außer-halb der Wahlen unterminiert worden. Hans-Dieter Klingemann und Dieter Fuchs haben in ihrer Untersuchung zu westeuropäi-schen Ländern gezeigt, dass das Aufkommen nicht-institutionali-sierter Partizipation kein Zeichen der Unzufriedenheit mit der re-präsentativen Demokratie ist. Während sich das Verhältnis zwischen Bürgern und Staat »wandelte«, genießen die wesentli-chen Strukturelemente der repräsentativen Demokratie seitens der Bürger ungemindert Unterstützung. Wie sie betonen, seien die Veränderungen in den Wechselbeziehungen zwischen den Bürgern und der Regierung »innerhalb des institutionellen Rah-mens der repräsentativen Demokratien« aufgetreten. Die Angst vor einer Krise rührt daher, dass das Anpassungsvermögen der repräsentativen Institutionen unterschätzt werde. In einer jünge-ren Studie, die untersucht, wie Demokratien durch den erweiter-ten Zugang von Bürgern zu öffentlichen Beschlüssen umgestaltet werden, heißt es richtig, es werde auf den bestehenden repräsen-tativen Institutionen aufgebaut, anstatt diese zu ersetzen. Und schließlich stellt Pippa Norris in ihrer Untersuchung zu Demokra-tien weltweit noch einen anderen Aspekt in den Vordergrund. Sie betont, dass sich der heutige Bürger nicht von seinem zivilen Leben verabschiedet hat. Der politische Aktivismus ist nicht aus-gestorben, und Bürger richten ihre Aufmerksamkeit keineswegs ausschließlich auf persönliche Belange. Aus dieser Perspektive scheinen die aufgekommenen alternativen Formen des Handelns die repräsentative Demokratie sogar neu zu beleben.

© Manin, Bernard (2007): Kritik der repräsentativen Demokratie. Berlin. Matthes & Seitz, S. 342–346

M 4 Die Polizei räumte am 9.8.2011 an einer Baustellenzufahrt am Hauptbahnhof in Stuttgart eine Sitzblockade von Gegnern des Bahnprojekts »Stuttgart 21« © Franziska Kraufmann, picture alliance

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M 6 Ernst Fraenkel: »Möglichkeiten und Grenzen politischer Mitarbeit der Bürger in einer modernen parlamentarischen Demokratie«

Die pluralistischen Verbände sind dazu berufen, dem Einzelnen die Möglichkeit zu eröffnen, einen Ausweg aus der Isolierung und Vereinsamung zu finden, die ihn im Industriezeitalter ständig be-droht. Denn die Mitwirkung des Bürgers an öffentlichen Angele-genheiten darf sich nicht darauf beschränken, alle vier Jahre zur Wahlurne zu gehen und durch seine Stimmabgabe Einfluss darauf auszuüben, welches Team im Bereich der hohen Politik regieren soll – so wichtig dies auch ist. Die Mitwirkung des Bürgers muss die Möglichkeit einschließen, durch Mitgliedschaft und Mitarbeit in den Interessenorganisationen an der Regelung der Alltagsfra-gen teilzunehmen, die ihn unmittelbar berühren. Letzten Endes ist der Sinn der kollektiven Demokratie darin zu suchen, ohne den utopischen Versuch zu unternehmen, die Wirkungen der Ent-fremdung völlig abzustellen und aufzuheben, sie doch soweit wie möglich abzuschwächen und erträglich zu machen. Durch aktive Mitarbeit in den Verbänden und Parteien soll das Gefühl der pas-siven Hilflosigkeit überwunden werden, das den Einzelnen befal-len muss, wenn er keinen Ausweg aus dem Prozess der Vermas-sung sieht, die uns alle tagtäglich bedroht. Mitarbeit des Bürgers in der parlamentarischen Demokratie gewährt dem Einzelnen das unmittelbare politische Wahlrecht; Mitarbeit des Bürgers in der pluralistischen Demokratie gewährt dem Einzelnen ein mit-telbares durch die Parteien und Verbände geltend zu machendes Mitgestaltungsrecht auf die öffentliche Meinung, die Fraktionen und damit auch auf Regierung und Parlament.(…) Pluralismus er-möglicht eine durch die Parteien und Gruppen zu bewerkstelli-gende demokratische Mitwirkung der Bürger im Staat nur dann, wenn die Gruppen und Parteien selber demokratisch konstituiert sind und sich gegenüber dem ehernen Gesetz der Partei- und Gruppenoligarchie immun erweisen. Die Existenz einer pluralisti-schen Demokratie setzt nicht nur voraus, dass der Staat pluralis-tisch, sie setzt auch voraus, dass die pluralistischen Parteien und Verbände demokratisch sind, das heißt, dass sie offene Gesell-schaften darstellen, die nicht von Eliten, die sich durch Kooption ergänzen, beherrscht werden, sondern als Stätten zu dienen ver-mögen, an denen jeder Bürger sich aktiv zu betätigen in der Lage ist, an denen er nicht nur reden kann, sondern auch eine Chance besitzt, gehört zu werden, an denen er nicht nur fragen kann, sondern auch eine Antwort erhält, an denen er nicht als Nummer

behandelt, sondern als Mitglied respektiert wird.Denn diese Gruppen – Parteien und Ver-bände – stellen ihrer Idee nach Stätten der politischen Bildung im doppelten Sinne des Wortes dar – einer politischen Bildung im Sinn einer Erziehung zum demokratischen Staatsbürger und einer politischen Bildung im Sinn der Formung eines demokratischen Staatswesens.

© Ernst Fraenkel (1991): Möglichkeiten und Grenzen politischer Mitarbeit der Bürger in einer modernen parlamentarischen Demokratie (1966), Frankfurt/M., S. 274–276

M 7 Benjamin Barber: »Starke Demokratie«

Die Zukunft der Demokratie liegt in der star-ken Demokratie – in der Wiederbelebung einer Form von Gemeinschaft, die nicht kol-lektivistisch, einer Form des öffentlichen Ar-gumentierens, die nicht konformistisch ist, und einer Reihe bürgerlicher Institutionen, die mit einer modernen Gesellschaft verein-

bar sind. Starke Demokratie ist durch eine Politik der Bürgerbe-teiligung definiert; sie ist buchstäblich die Selbstregierung der Bürger, keine stellvertretende Regierung, die im Namen der Bür-ger handelt. Tätige Bürger regieren sich unmittelbar selbst, nicht notwendigerweise auf jeder Ebene und jederzeit, aber ausrei-chend häufig und insbesondere dann, wenn über grundlegende Maßnahmen entschieden und bedeutende Macht entfaltet wird, Selbstregierung wird durch Institutionen betrieben, die eine dau-erhafte Beteiligung der Bürger an der Festlegung der Tagesord-nung, der Beratung, Gesetzgebung und Durchführung von Maß-nahmen (in der Form »gemeinsamer Arbeit«) erleichtern. Die starke Demokratie setzt kein grenzenloses Vertrauen in die Fä-higkeit der Individuen, sich selbst zu regieren, hält aber wie Ma-chiavelli daran fest, dass die Menge im Großen und Ganzen ebenso einsichtig, wenn nicht gar einsichtiger als die Fürsten sein wird. Sie pflichtet Theodore Roosevelts Ansicht bei, dass »die Mehrheit des einfachen Volkes tagein tagaus weniger Fehler ma-chen wird, wenn sie sich selbst regiert, als jede kleinere Gruppe von Männern, die versucht das Volk zu regieren.«Als Antwort auf die Dilemmata der politischen Ausgangsbedin-gung betrachtet, lässt sich starke Demokratie formal so definie-ren: Starke Demokratie als Bürgerbeteiligung löst Uneinigkeit bei Fehlen eines unabhängigen Grundes durch den partizipatori-schen Prozess fortwährender, direkter Selbstgesetzgebung sowie die Schaffung einer politischen Gemeinschaft, die abhängige, private Individuen in freie Bürger und partikularistische wie pri-vate Interessen in öffentliche Güter zu transformieren vermag. (…) Eine Politik der Bürgerbeteiligung handhabt öffentliche Streitfragen und Interessenskonflikte so, dass sie einem endlo-sen Prozess der Beratung, Entscheidung und des Handelns unter-worfen werden, jeder Schritt des Prozesses vollzieht sich auf eine flexible Weise im Rahmen anhaltender Verfahren, die in konkrete historische Bedingungen, soziale und wirtschaftliche Gegeben-heiten eingebettet sind. (…) Starke Demokratie scheint demnach potenziell in der Lage zu sein, die Grenzen des Prinzips der Reprä-sentation und das Vertrauen auf vermeintlich unabhängige Gründe zu überschreiten, ohne so entscheidende demokratische Werte wie Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit aufzuge-ben. Tatsächlich gewinnen diese Werte eine reichere und gehalt-vollere Bedeutung, als Ihnen jemals im instrumentellen Rahmen liberaler Demokratie zukommen könnte. Denn die starkdemo-kratische Lösung für die politische Ausgangsbedingung entsteht aus einer sich selbst zuarbeitenden Dialektik aktiver Bürgerbetei-

M 5 23. Bundesparteitag der CDU Deutschlands am 16.11.2010 in Karlsruhe © Bernd Weißbrod, picture alliance

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ligung und ununterbrochener Schaffung einer Gemeinschaft, in der Freiheit und Gleichheit gefördert und politisches Leben aufrechterhalten werden. Gemeinschaft er-wächst aus Bürgerbeteiligung und ermög-licht zugleich Partizipation. Nehmen Indivi-duen ihre Aufgaben als Bürger wahr, dann werden sie dazu erzogen, öffentlich als Bür-ger zu denken, so wie die Bürgerschaft die staatsbürgerliche Tätigkeit mit dem erfor-derlichen Sinn für Öffentlichkeit und Gerech-tigkeit erfüllt. (…)

Ein stark demokratisches Programm zur Wie-derbelebung der Bürgerschaft:1. Ein. landesweites System von Nachbar-

schaftsversammlungen, die aus jeweils eintausend bis fünftausend Bürgern be-stehen; sie hätten anfangs nur Bera-tungsfunktionen, später dann auch legis-lative Kompetenz im kommunalen Bereich.

2. Eine nationale Kommunikationsgenos-senschaft der Bürger, die die staatsbür-gerlich förderliche Nutzung neuer Kom-munikationstechnologien regelt und überwacht, und gleichzeitig Debatte und Diskussion von Fra-gen beaufsichtigt, die zur Volksabstimmung vorliegen.

3. Ein Videotext-Dienst und eine Postverordnung zur staatsbür-gerlichen Erziehung, um den Zugang zu Informationen für alle zu gewährleisten und die staatsbürgerliche Erziehung aller Bürger zu fördern.

4. Versuche in Entkriminalisierung und informeller Laienjustiz durch eine engagierte Bürgergemeinschaft.

5. Ein nationales Volksbegehren- und Volksabstimmungsverfah-ren, das Volksbegehren und Volksabstimmungen über die Ge-setzgebung des Kongresses möglich macht. Dazu gehören Multiple-Choice-Format und ein Abstimmungsprozess in zwei Phasen.

6. Versuche mit elektronischer Abstimmung, anfangs aus-schließlich zu erzieherischen Zwecken und zur Meinungsfor-schung, unter Supervision der Kommunikationsgenossen-schaft der Bürger.

7. Besetzung kommunaler Ämter in ausgewählten Bereichen durch Losentscheid, mit finanziellen Anreizen.

8. Versuche mit einem internen Gutscheinsystem für ausge-wählte Schulen, öffentlichen Wohnungsbau sowie Transport und Verkehr.

9. Ein allgemeiner Bürgerdienst, mit der Möglichkeit für alle Bür-ger, Militärdienst zu leisten.

10. Öffentliche Finanzierung von kommunalen Programmen mit Freiwilligen.

11. Öffentliche Förderung von Versuchen zur Demokratisierung der Arbeitswelt, wobei öffentliche Einrichtungen als Beispiele alternativer Wirtschaftsformen zu dienen hätten.

12. Eine neue Architektur des öffentlichen Raumes.Dieses Programm ist keine Illusion starker Demokratie; es ist starke Demokratie.

© Benjamin Barber (1994): Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen. Berlin (Rotbuch Verlag), S- 146–153, 290f.

M 9 Heidrun Abromeit: »Das demokratische Optimum«

Und wie sähe nun das unter den gegebenen Kontextbedingungen erzielbare »demokratische Optimum« aus? Welche Beteiligungs-formen erfüllen den Zweck, auch in einem trans- bzw. supranatio-nalen Entscheidungssystem den Individuen ein Minimum an »Selbstbestimmung im Kollektiv« zu gewährleisten? Ansprüche auf aktive Mitgestaltung sind hier notgedrungen zurückzuste-cken, nicht zuletzt weil die Organisationen und Foren fehlen, die solches vorbereitend und strukturierend ermöglichen. (…) (1) Wahlen werden damit nicht überflüssig. Sie sind indessen nur

in eng begrenztem Sinne als »Autorisierung« zu verstehen: nämlich als Autorisierung zur Entscheidungsvorbereitung und zur Regierungskontrolle. (…)

(2) Das »demokratische Optimum« impliziert unter den gegebe-nen Bedingungen darum zwingend und entscheidend die Eta-blierung von Widerspruchsrechten der Bürger, sprich: das fa-kultative Referendum. Nur auf diesem – negativen – Wege lassen sich die Entscheidungen der von der gesellschaftlichen Basis weit entfernten supranationalen Regierungsinstitutio-nen effektiv an die Zustimmung der Regierten binden. Hier muss nun noch einmal an die Logik des fakultativen Referen-dums erinnert werden: Es funktioniert als Minderheitenrecht, und zwar in der Weise, dass es diejenigen, die sich von einer Regelung intensiv in ihren Rechten/Präferenzen beeinträch-tigt sehen, gegenüber einer eher desinteressierten Mehrheit schützt. (…)

(6) Voraussetzung auch der »Sparversion« ist ein Mindestmaß an transnationaler Öffentlichkeit. Glaubt man neueren For-schungen, ist diese in Form sektoraler bzw. issue-spezifischer Teil-Öffentlichkeiten in Europa in der Tat im Entstehen begrif-fen. Interessanterweise deutet manches daraufhin, dass sie sich primär auf Grund, negativer Resonanz auf europäische Politik herausbilden (…). Demnach existiert im Ansatz und be-reichsweise bereits eine Basis für die Aktualisierung von Wi-derspruch. Umgekehrt ist wohl der Schluss erlaubt, dass die bloße Existenz von Widerspruchsrechten die Ausbildung sol-cher Teil-Öffentlichkeiten weiter befördert (…). Dagegen zählt das Vorhandensein eines identitär geeinten Demos gerade nicht zu den Voraussetzungen des hier vorgestellten Opti-mums an demokratischer Beteiligung

© Heidrun Abromeit (2002): Wozu braucht man Demokratie? Die postnationale Herausfor-derung der Demokratietheorie. Opladen (Leske&Budrich), S. 202–204

M 8 »Mehr Demokratie – wollen wir das wirklich?« (Anspielung auf die Tea-Party-Bewegung in den USA) © Klaus Stuttmann, 2011

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auflösende Referendum für dringliche Bundesbeschlüsse und 2002 die allgemeine Volksinitiative.Wenn sich diese Entwicklung auch rasch liest, sei doch nicht ver-gessen, dass sie sich über zwei Jahrhunderte erstreckte. Die Schweizer waren hierbei oft innovativ im Weltmaßstab, freilich nicht durchgängig, das erste Verfassungsreferendum im moder-nen Sinne fand in Amerika (Massachusetts 1778) statt; so verwun-dert es nicht, dass sie dabei äußerst vorsichtig vorgingen. Hier wurde nicht ideologisch eine große Idee umgesetzt, sondern Schritt für Schritt etwas Neues probiert, wobei die Vielgliedrig-keit des Landes mit den vielen Kantonen, der Eidgenossenschaft und natürlich den Gemeinden gewissermaßen Experimentierfel-der bot (vgl. Moeckli 2003, S. 102). Aber auch dieses tentative Vorgehen war nicht abstrakt-ideolo-gisch motiviert, sondern sollte – wie es ja eigentlich »normal« ist – zur Lösung handfester Konfliktlagen der schweizerischen Politik dienen, konnte aber auch zu Konflikten führen, die dann weitere kreative Lösungen notwendig machten. Da mochte »Re-volutionsgeruch« in der Luft liegen wie bei der Durchsetzung des Gesetzesvetos in St. Gallen am sogenannten Steckli-Donnerstag 1831. Oder es kam nach 1874 zu Referendumskämpfen, die das Regieren massiv erschwerten. Die eidgenössische Gesetzgebung war geradezu blockiert, was erst durch die Einbindung der katho-lisch-konservativen Opposition in die schweizerische Regierung und damit die Entwicklung zur Konkordanzdemokratie gelöst wurde.

Politik ist in der Schweiz so wenig harmonisch wie anderswo. Es gibt entgegengesetzte Interessen, es entstehen Konflikte, man streitet. Charakteristisch ist jedoch die pragmatische Einstel-lung. Während man in Deutschland, um das vorwegzunehmen, auch schon mal die Axt an eine ganze Institution legt, beschrän-ken sich die Eidgenossen auf Verbessern und Weiterentwickeln. So erklärt sich, dass durch alle Konflikte dieser 200 Jahre hin-

Während die Schweiz auf eine lange Tradition der soge-

nannten »Volksrechte« zurückbli-cken kann, mehren sich in Deutsch-land erst seit einigen Jahren die Stimmen, auch hierzulande Ele-mente der direkten Demokratie verstärkt zu etablieren. Spiegelt das Grundgesetz trotz prinzipieller Offenheit in dieser Frage noch Zu-rückhaltung wider, so haben sich die Landes- und Kommunalverfas-sungen in Deutschland längst, wenn auch unterschiedlich, Formen der direkten Bürgerbeteiligung ge-genüber geöffnet. Zurückgehend auf deutsche Traditionen sind diese Formen im Vergleich zur Schweiz oder etwa auch den US-Bundes-staaten aber zumeist mit typisch »deutschen Hürden« versehen. Ein Blick auf die unterschiedlichen Ent-stehungsbedingungen in der Schweiz und Deutschland zeigt deren Wurzeln.

Schweizerische Direkte-Demokratie-Geschichte

Die Schweiz hat ein Fundament bäuerlicher, kleinräumiger Di-rektdemokratie seit dem Mittelalter, das heute noch in den soge-nannten »Landsgemeinden« der Kantone Appenzell Innerrhoden (| Abb. 1 |) und Glarus zu sehen ist. Ein vergleichsweise moderner Impuls kam mit der französischen Revolution. Unter ihrem geisti-gen Einfluss – man denke nur an das einschlägige Dekret des Na-tionalkonvents vom 21. September 1792: »La Convention nationale déclare: (…) Qu’il ne peut y avoir de Constitution que celle qui est acceptée par le peuple.» – wurde 1802 in dem damaligen französischen Pro-tektorat die zweite Helvetische Verfassung den Stimmbürgern zum Entscheid vorgelegt (Möckli 1994, S. 60).Die nächste Entwicklungsphase vollzog sich in den Kantonen. Während der sogenannten Regenerationsbewegung (vgl. Sche-fold 1966) zu Beginn der 1830er-Jahre setzten sich Formen direk-ter Demokratie in vielen Kantonen durch: das obligatorische Ver-fassungsreferendum, vereinzelt auch die Verfassungsinitiative, das Volksveto und das Gesetzesreferendum. Die Verfassung des neugegründeten Bundesstaates von 1848 setzte auf der gesamt-staatlichen Ebene wichtige Akzente. Sie legte das obligatorische Referendum für Partial- und Totalrevisionen sowie für die Initia-tive auf Totalrevision der Verfassung fest. Die sogenannte demo-kratische Bewegung der 1860er-Jahre brachte in den meisten Kantonen das fakultative Gesetzesreferendum und die Gesetzes-initiative. Auch die neue Bundesverfassung von 1874 institutiona-lisierte das fakultative Gesetzesreferendum, und 1891 wurde im Bund die Verfassungsinitiative auf Teilrevision eingeführt. Damit war das Instrumentarium der direkten Demokratie innerhalb von 90 Jahren im Wesentlichen geschaffen.Die Ergänzungen der folgenden 120 Jahre muten eher als Verfei-nerungen an, so 1921 das Staatsvertragsreferendum, 1949 das

POLITISCHE PARTIZIPATION IN EUROPA

3. Erfahrungen mit direkter Demokratie in Deutschland und der Schweiz

OTMAR JUNG

Abb. 1 Schweizer Landgemeinde Appenzell Innerrhoden im Jahre 1987. Die Landgemeinde hatte sich in direkten Volksabstimmungen noch 1973, 1982 und 1989 gegen das Frauenwahlrecht gewandt, bis das Bundesgericht in Lausanne im Jahre 1990 diese Entscheide korrigierte. © picture alliance

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durch die Schweizer ziemlich unbeirrt Kurs hielten in Richtung auf sachunmittelbare De-mokratie.

Deutsche Direkte-Demokratie-Geschichte

In US-Einzelstaaten gab es seit 1778 Referen-den, in der Schweiz seit der sogenannten Re-generation von 1830 an verschiedene Formen direkter Demokratie auf kantonaler Ebene – diese Anregungen fielen in Deutschland auf fruchtbaren Boden während der Revolution von 1848, und zwar in den vier (wie sie damals hießen) Freien Städten, jenen aristokrati-schen Stadtrepubliken, die sich nun den aus-ländischen Vorbildern öffneten. Zu nennen sind insbesondere Bremen mit einem soge-nannten »arbitratorischen Plebiszit« bei Mei-nungsverschiedenheiten zwischen Senat und Bürgerschaft und einem sogenannten Ver-fassungsveto (vgl. Jung 1998) sowie Ham-burg mit dem obligatorischen Verfassungsreferendum.In den Referenzländern entfaltete sich die direkte Demokratie weiter. In Deutschland aber wurde die Rezeption blockiert und kippte das Verhältnis speziell zur Schweiz gar ins Negative durch zwei Entwicklungen. Das monarchische Prinzip, das ja gemäß Art. 57 der Wiener Schlussakte von 1820 für alle anderen Territorien des Deutschen Bundes (außer jenen Freien Städten) galt, ertrug zwar die demokratische Mitsprache des Volkes über die Wahl sei-ner Vertreter, nicht dagegen die Entscheidung eben dieses Volkes in der Sache selbst: Das wäre offenbar zu viel der Volkssouveräni-tät gewesen. Damit war die Einführung der direkten Demokratie bis zum Sturz der Monarchie 1918 blockiert.Hinzu kam, dass die in Zukunft immer wichtiger werdende orga-nisierte Arbeiterbewegung sich zwiespältig zeigte. Einerseits for-derte sie seit dem »Eisenacher Programm« der Sozialdemokrati-schen Arbeiterpartei von 1869 kontinuierlich die »Einführung der direkten Gesetzgebung (das heißt Vorschlags- und Verfügungs-recht) durch das Volk« (| M 1 |). Andererseits setzte es dagegen harsche Kritik von kommunistischer Seite – Karl Marx und Fried-rich Engels – an solchen »rein demokratischen Forderungen«, die kein Programm der revolutionären Diktatur des Proletariats dar-stellten und mit denen man der Selbsttäuschung nachgebe, die Zustände in Deutschland »auf gesetzlichem Wege in die kommu-nistische Gesellschaft überführen« zu können (| M 2 |). Gerade Engels hatte schon 1847 in einem Pamphlet über die alten basis-demokratischen Institutionen der Schweiz mit einem Hochmut hergezogen (| M 3 |), der eine kritische Rezeption der dort sich gerade entwickelnden politischen Innovationen verbaute. Der führende Parteitheoretiker der SPD, Karl Kautsky, endlich wandte sich kurz nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes aus partei-egoistischen Motiven gegen die Gesetzgebung durch das Volk (| M 4 |).Die Novemberrevolution 1918 begründete die demokratische Re-publik als neuen politischen Ordnungsrahmen in Deutschland. In der neuen Freiheit der Volkssouveränität führten sowohl das Reich als auch die Länder (und diese zusätzlich für ihre Kommu-nalverfassungen) den Typus der gemischten Demokratie ein. Der repräsentativen Demokratie als der Basis des politischen Lebens in (großen) modernen Staaten wurden durchweg Elemente direk-ter Demokratie beigegeben, immer Volksbegehren und Volksent-scheid, aber oft auch referendielle Formen. Obwohl man in Deutschland dabei wahrlich nicht innovativ zu sein brauchte, sondern von den Referenzländern hätte lernen können, versetz-ten die neuen politischen Führer das Regelwerk mit zwei spezi-fisch deutschen Zutaten, die das direktdemokratische Gericht unbekömmlich machen sollten.

»Deutsche Zutaten« der direkten Demokratie

Erstens: Während in der Schweiz und den US-Bundesstaaten die erzdemokratische Regel galt (und gilt), dass beim Volksentscheid die Mehrheit der Aktivbürger – derer, die zu den Urnen kommen und mit Ja oder Nein stimmen – den Ausschlag gab, »erfand« man in Deutschland als Zusatzbedingung sogenannte Quoren. D. h. ein Volksentscheid war nur dann gültig, wenn eine Ja-Mehrheit an den Urnen erreicht war und diese Mehrheit zugleich einen be-stimmten Prozentsatz der Gesamtheit der Stimmberechtigten (Verreiste, Kranke, Desinteressierte – alle inbegriffen) ausmach-te. Da die Verfassungsgeber für die Sätze dieser Quoren gleich kräftig zulangten – 40, 50 und mehr Prozent –, waren die Verfah-ren von Anfang an weitgehend »verbaut«. Wie das praktisch aus-sah, illustriert der erste reichsweite Volksentscheid in Deutsch-land zur »Fürstenenteignung« 1926 (| M 5 |). Auf Landes- und Kommunalebene sah es strukturell genauso aus. Deshalb kam unter diesen Umständen in der Weimarer Zeit nie ein Volksgesetz zustande.Die zweite schlechte Zutat war das in allen Regelwerken einge-führte Finanztabu. Demnach waren grundsätzlich (die Formulie-rungen im einzelnen variierten, zitiert sei hier Art. 73 Abs. 4 der Weimarer Reichsverfassung) Volksbegehren und Volksentscheid »über den Haushaltsplan, über Abgabengesetze und Besoldungs-ordnungen« unzulässig. Ein krasser Gegensatz zur Schweiz und den US-Bundesstaaten, wo die Abstimmung des Volkes über Fi-nanzvorlagen – d. h. die steuerzahlenden Bürger bestimmen auch darüber, was mit ihren Steuergeldern geschieht – zu den vor-nehmsten Volksrechten gehört und geradezu den Kern der direk-ten Demokratie ausmacht. Mehr noch: Das obligatorische Fi-nanzreferendum, das man in diesen Referenzländern kennt, be-sagt: Von einer gewissen Größenordnung bei Ausgaben bzw. Schuldenaufnahme an müssen die Staatsbürger (gleich Steuer-zahler) gefragt werden, ob sie eine derartige Last schultern wol-len. In Deutschland hingegen endet die sachunmittelbare Demo-kratie wegen jener Finanztabus in der verschärfenden Auslegung der meisten Verfassungsgerichte oberhalb einer Bagatellgrenze. Da ohne Geld aber praktisch keine Politik zu machen ist, hat man durch jene Finanzklauseln die direkte Demokratie hierzulande »entkernt«.Das »Dritte Reich« darf in jener unglücklichen deutschen Direkte-Demokratie-Geschichte nicht fehlen, weil auch die Nationalsozia-listen drei Volksabstimmungen abhielten (1933, 1934 und 1938). Dies trug ebenfalls zur Diskreditierung der direktdemokratischen Elemente bei, obwohl die Diktatur diese Abstimmungen weniger verunstaltet hatte (immerhin war noch die Alternative »Ja« oder

Abb. 2 Forsa-Umfrage vom Juni 2009 im Auftrag von »Mehr Demokratie e. V.« im Zusammenhang mit der Kampagne »Volksentscheid ins Grundgesetz«

Sollte es Volksbegehren und Volksentscheide auch für bundespolitische Fragen in Deutschland geben?

Gesamt

JaNeinWeiß nicht

CDU/CSU-Anhänger

SPD-Anhänger

Grüne-Anhänger

Linke-Anhänger

FDP-Anhänger

6

68

554272

28

66

3263

31

6

2765

8 2 3

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»Nein« vorgesehen) als die ebenfalls dreimal abgehaltenen Reichstagswahlen (1933, 1936 und 1938), bei denen nur die NSDAP auf dem »Wahl«-Zettel stand. Und grundsätzlich sollte man die Erfahrungen mit Plebisziten in einer Diktatur nicht auf sachun-mittelbare Demokratie in einem freien Land übertragen – bei Wahlen hat man das ja auch nicht getan.Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Chance des demokrati-schen Neuaufbaus, die auch weitgehend genutzt wurde. Sämtli-che 13 Landesverfassungen, die 1946/47 in Kraft traten – nämlich in Württemberg-Baden, Bayern, Hessen, Thüringen, Sachsen-An-halt, Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen, Rheinland-Pfalz, Württemberg-Hohenzollern, Baden, Bremen und dem Saar-land –, enthielten die Möglichkeit von Volksentscheiden, und fast alle richteten Systeme der Volksgesetzgebung ein; die sieben Ver-fassungen in der amerikanischen und französischen Besatzungs-zone wurden überdies einer Volksabstimmung unterworfen. Auch in den Ländern, die sich erst später Verfassungen gaben (Schles-wig-Holstein, Niedersachsen, Hamburg), wurde 1946/47 noch das Konzept der gemischten Demokratie zugrunde gelegt. Bayern und Hessen schafften sogar unter schweizerischem Einfluss bzw. bestimmt von der US-amerikanischen Besatzungsmacht die »deutschen« Quoren beim Volksentscheid ab. Zusammen mit der nach dem Maßstab der Referenzländer zwar hohen, aber noch überwindbaren Hürde von 10 % beim Volksbegehren schuf dies die Grundlage für die sich später entwickelnde, gute bayerische Praxis direkter Demokratie, während Hessen, ebenso wie Rhein-land-Pfalz und Bremen sowie später Nordrhein-Westfalen und Berlin mit einer 20 %-Hürde beim Volksbegehren das Verfahren »zuverlässig« verriegelten.Auf diesen kurzen »Frühling« direkter Demokratie folgte schon bald der nächste Frost mit dem Ausbruch des Kalten Krieges 1948. Während das Grundgesetz in Bonn beraten wurde, hielt die Sowjetunion mit ihrer Blockade West-Berlin im Griff. So traf der Parlamentarische Rat eine komplizierte Entscheidung: Einerseits schrieb er in die Staatsfundamentalnorm des Art. 20 Abs. 2 GG, dessen »Grundsätze« nach Art. 79 Abs. 3 GG unveränderlich sind: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wah-len und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetz-gebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung aus-geübt.«. Damit war die Tradition der gemischten Demokratie wieder aufgenommen. Andererseits wehrte er alle Vorstöße ab, die direkte Demokratie ebenso in Einzelvorschriften auszugestal-ten wie die repräsentative Demokratie. Das wichtigste Motiv dafür innerhalb einer komplizierten Teilstaatsgründung kann

man prägnant zusammenfassen: »Kein Volksentscheid im Kalten Krieg!«. Schließlich lehnten es die »Eltern des Grundgesetzes« zweimal ausdrücklich ab, die Worte »und Abstimmungen«, da an-geblich funktionslos, zu streichen. Für die Interpretation dieser Entscheidung habe ich den Begriff der »plebiszitären Strukturop-tion« geprägt. Die direkte Demokratie ist demnach strukturell angelegt – es ist also falsch, zu behaupten, das Grundgesetz schreibe eine rein repräsentative Demokratie fest. Aber die di-rekte Demokratie ist nur optional in der Verfassung enthalten, konkrete Regelungen zur Ausführung fehlen; sie wurden aus situ-ativen Gründen unterlassen (vgl. Jung 1994, S. 313–322). Diese komplizierte Entscheidung wurde oft vereinfacht dahinge-hend, dass das Grundgesetz (aktuell gewiss!) Volksbegehren und Volksentscheid nicht vorsehe. Zudem bildete sich jetzt erst die Legende von den schlechten (nun auf die politischen Inhalte, nicht auf das fehlerhafte Regelwerk bezogen) »Weimarer Erfah-rungen«, die man 1946/47, zeitlich näher »dran«, so gar nicht ge-sehen hatte (vgl. Wirsching 2003, S. 337ff.). Zusammen führte dies dazu, dass die nachgrundgesetzlichen Verfassungen in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Hamburg sich rein reprä-sentativ-demokratisch organisierten.Das Frostklima bewirkte auch, dass, als Baden-Württemberg 1956 – wohl von der benachbarten Schweiz inspiriert – Bürgerbe-gehren und Bürgerentscheid in seine Kommunalverfassung auf-nahm, dies bei den anderen Bundesländern keinerlei Nachah-mung fand. Selbst der positive Befund der ersten Nachkriegsjahre in normati-ver Hinsicht wurde durch die Praxis bzw. Nicht-Praxis getrübt. In Bayern vergingen mehr als 21 Jahre, ehe 1968 der erste Volksent-scheid (zur Christlichen Gemeinschaftsschule) stattfand.Das Jahr 1989 brachte endlich die Wende, als Schleswig-Holstein eine wegweisende Verfassungsrevision durchführte und die wie-derbegründeten ostdeutschen Länder sich alsbald neue Verfas-sungen gaben.

Zwei grundsätzliche Änderungen

Zwei grundsätzliche Änderungen zum Positiven setzten ein: Erstens: Volksbegehren und Volksentscheid, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid wurden jetzt überall eingeführt, wo sie noch fehlten. Mit der Reform in Hamburg war 1996 die Flächen-deckung auf Landesebene erreicht, ebenso mit der Reform im Saarland 2007 auf der Kommunalebene für die Flächenländer. Be-merkenswerterweise wurde der kommunale Bürgerentscheid in Bayern (1995) und Hamburg (1998) durch Volksentscheid durch-gesetzt. Und Berlin brauchte noch bis 2005, um das imperfekte Bürgerbegehren auf Bezirksebene durch den Bürgerentscheid zu vervollständigen.Zweitens: Sowohl in den neuen Regelwerken als auch bei Refor-men in Ländern, die Volksbegehren und Volksentscheid schon kannten, wurde der Gedanke der Praktikabilität ernstgenommen. Die überzogenen Hürden und Quoren der Nachkriegszeit wurden nun, manchmal schrittweise, gesenkt, auf Werte, die etwa das Volksbegehren noch als Relevanztest taugen ließen, aber die Ini-tiativen nicht mehr abschreckten. Entsprechend wurde der Ge-setzgeber tätig, um die von den Verfassungsgerichten meist ex-tensiv ausgelegten Finanztabus zurückzuschneiden. So galt etwa in Berlin das Tabu für Volksbegehren »zum Landeshaushalt«, wor-unter man jedes Vorhaben mit größeren finanziellen Auswirkun-gen verstehen konnte. Die Reform von 2006 schränkte den Tabu-bereich nun auf Volksbegehren »zum Landeshaushaltsgesetz« ein.Auch auf der Bundesebene blieb diese neue, aufgeschlossene po-litische Grundströmung nicht ohne Wirkung. Nach dem Ende des Kalten Krieges fehlte es nicht an Versuchen, jene Strukturoption im Wege der Verfassungsreform einzulösen. Das rot-grüne Pro-jekt eines Gesetzes »zur Einführung von Volksinitiative, Volksbe-gehren und Volksentscheid in das Grundgesetz« fand 2002 im

Abb. 3 Abstimmungskampagne 1970 zum Volksentscheid über den Fortbe-stand des Landes Baden-Württemberg in Mannheim. Nach jahrelangen gericht-lichen Auseinandersetzungen bis hin zum BVerfG musste die Volksabstimmung zur Länderneugliederung nach Artikel 29 GG zur Gründung des Südweststaates aus dem Jahre 1952 im Landesteil Baden im Jahre 1970 wiederholt werden. © picture alliance

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Bundestag eine einfache Mehrheit, aber nicht die zur Verfas-sungsänderung nötige Zweidrittelmehrheit. Dabei zeigte sich eine parteipolitische Struktur, die bis heute unverändert ist. SPD, Grüne, Linke und FDP sind für direkte Demokratie auf Bundes-ebene (wie ernst bzw. lauter das im Einzelfall auch immer gemeint sein mag). Die Unionsparteien hingegen sind in ihrer Mehrheit dagegen und verfügen immer noch über eine Sperrminorität (vgl. Jung 2010b, S. 156f.).

Gemeinsame Merkmale

Außer den großen Belastungen der deutschen Geschichte durch Weltkriege, Diktaturen und die jahrzehntelange Teilung, die auch auf die Direkte-Demokratie-Geschichte durchschlugen, ist vor allem der obrigkeitliche Zug der politischen Kultur des Landes festzustellen. Sowohl bei den Regierenden als auch bei den Re-gierten, bei den Volksvertretern wie dem vertretenen Volk, wäre es naiv, anzunehmen, dass mit dem Sturz der gekrönten Häupter 1918 automatisch ein freier Bürgersinn alle ergriffen hätte. Die seit Jahrhunderten eingeübten Mentalitäten brauchten offenbar Generationen, um sich zu ändern. Die halbherzige Einführung der direktdemokratischen Elemente seit der Weimarer Zeit mit den »verbauten« Verfahren bezeugt das mangelnde Vertrauen der po-litischen Elite zu dem eigenen Volk (| M 6 |), von dem sie jetzt ihre Legitimation bezog. Dass dieses es sich umgekehrt noch in der Bundesrepublik gefallen ließ, dass selbst Entscheidungen von größter Tragweite – genannt seien nur der NATO-Beitritt, die Wiedervereinigung, die Aufgabe der DM zugunsten einer europä-ischen Gemeinschaftswährung und zuletzt die Europäische Ver-fassung bzw. der Lissaboner Vertrag – nur für das Volk, aber nicht durch das Volk getroffen wurden, belegt eine korrespondierende Untertanenhaltung. Die Rufe etwa nach einer Volksabstimmung über die Europäische Verfassung (wie in Frankreich und den Nie-derlanden) waren immer relativ schwach. Wenn man bedenkt, wie lange und wie oft die Schweiz nun schon Pionierleistungen in Sachen direkter Demokratie erbringt, staunt man doch, wie schwer man sich in Deutschland auch nur mit dem Verlangen nach schlichtem »Gleichziehen« tut.Speziell das Finanztabu bei der Volksgesetzgebung hat man tref-fend als eine »demokratische Misanthropie« gekennzeichnet (vgl. Kühne 1991, S. 118). Die Politiker misstrauten der moralischen Festigkeit der Bürger und wollten ihnen daher verwehren, selbst über Finanzfragen zu entscheiden – mit dem offenkundigen Hin-tergedanken, dass die Bürger ansonsten entweder auf der Ein-nahmeseite (»Abschaffung der Steuern«) oder bei den Ausgaben (»Wohltaten für alle«) die Staatsfinanzen ruinieren würden.So entwickelte die politische Klasse eine spezifische Form des Pseudo-Entgegenkommens mit der sogenannten symbolischen Politik: Man räumte Rechte ein, aber es änderte sich nichts. Man führte Beteiligung ein, aber gab keine Macht ab. Und man »ge-währte« direkte Demokratie, die aber nicht praktikabel war. Erst in den letzten fünfzehn Jahren etwa zeichnete sich hier eine Bes-serung ab.

Erfahrungen mit dem »Wie« der direkten Demokratie

Das Design der direkten Demokratie sieht in der Schweiz ganz an-ders aus als in Deutschland, was bei dieser »verfahrenssensiblen« Materie gravierende Folgen hat. Die Hürden bei der »Volksinitiative«, wie der »Relevanztest« auf Schweizerisch heißt, sind niedrig und liegen für Gesetzes- wie Verfassungsinitiativen auf kantonaler Ebene zwischen 0,8 % (Ap-penzell Ausserrhoden) und 5,7 % (Neuenburg) der Stimmberech-tigten, im Durchschnitt bei 2,2 % (Linder 2005, S. 271). Das Minimum für deutsche Volksbegehren verlangt Brandenburg mit umgerechnet 3,7 %; ansonsten geht die Hürde in Deutsch-

land hinauf bis zu den »prohibitiven« 20 %, die heute noch in Hes-sen und im Saarland die Volksgesetzgebung praktisch unmöglich machen. Ferner ist das Verfahren in der Schweiz langsam angelegt. Die Fristen für die Unterschriftensammlung – selbstverständlich immer die freie Sammlung auf Straßen und Plätzen – sind lang; sie betragen zwischen zwei und 18 Monaten. Hingegen müssen etwa in Bayern 10 % der Stimmberechtigten ihre Unterstützung innerhalb von 14 Tagen erklären, und zwar durch sogenannte Amtseintragung auf dem Rathaus oder bei anderen amtlichen Eintragungsstellen. Dies erfordert regelrechte Kampagnen, wel-che die Schweiz so nicht kennt. Der auf den Initiatoren lastende Mobilisierungsdruck ist daher in Deutschland um ein Vielfaches höher – was auch ihre häufigen Misserfolge erklärt.Daraus kann man freilich nicht schließen, dass Volksbegehren in Deutschland nur als sogenannte »Parteibegehren« möglich seien – das Gegenteil ist bereits erwiesen. Ebenso wenig, dass bloß Großorganisationen eine Durchsetzungschance hätten – vielmehr hat sich vor allem bei Gewerkschaften oft eine große Mobilisierungsschwäche gezeigt. Aber es wird kleinen Gruppen und neuen politischen Akteuren in Deutschland sehr viel schwe-rer gemacht, ihre Gedanken direktdemokratisch zu verbreiten.Bei der Volksabstimmung entscheidet in der Schweiz – urdemo-kratisch – die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen (vgl. Art. 142 Abs. 1 BV 1999 [| M 7 |]). Dies gilt in Deutschland ebenso in drei Bundesländern: Bayern, Hessen und Sachsen. Ansonsten hat man in der Regel Zustimmungsquoren aufgestellt, die von

Abb. 4 »Direkte Demokratie in den Bundesländern«. Stand 8.8.2010. In Berlin fand inzwischen am 13. Februar 2011 eine weitere Volksabstimmung zur Teil-privatisierung der Wasserbetriebe statt. Am 27.11.2011 folgt in Baden-Württem-berg eine Volksabstimmung zu einem eventuellen Kündigungsgesetz zu »Stutt-gart 21«. © picture alliance

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15 % (Nordrhein-Westfalen) über 20 % (Bremen, Hamburg), 25 % (Berlin, Thüringen) und 33 % (Baden-Württemberg, Mecklen-burg-Vorpommern) zu dem Extremwert von 50 % im Saarland rei-chen. Dies gilt für einfache Gesetze. Bei verfassungsändernden Gesetzen bleibt die Schweiz bei ihrer Grundregel. In Deutschland hingegen werden dann Hindernisse aufgetürmt, die bis zum Er-fordernis einer Zweidrittelmehrheit der Abstimmenden bei einem Zustimmungsquorum von 50 % reichen – so in Berlin, Branden-burg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sach-sen-Anhalt und Schleswig-Holstein –, womit der Bereich des Prak-tikablen weit verlassen ist. Quintessenz: Das schweizerische Regelwerk will den Initiatoren eine faire Chance geben. Die deut-schen Regelwerke hingegen unterwerfen die Initiatoren einem Stresstest, wenn sie nicht von vornherein nur als symbolische Po-litik gemeint sind.Zum Bereich der Volksgesetzgebung kommen die Referenden, die in der Schweiz ungleich zahlreicher sind als in Deutschland, wo sie freilich durchaus »echten Entscheidungscharakter« haben können (| M 8 |): Das obligatorische Verfassungsreferendum auf eidgenössischer und kantonaler Ebene sowie beim Bund über den Beitritt u. a. zu supranationalen Gemeinschaften (z. B. dem Beitritt zur EU), ferner das fakultative Referendum über Bundes-gesetze und bestimmte völkerrechtliche Verträge (| M 7 |) sowie auf kantonaler Ebene eine Fülle von Partizipationsmöglichkeiten, die in der Literatur nicht von ungefähr als »Kaleidoskop« bzw. deren Nutzung als »Feuerwerk« umschrieben werden (Trechsel 2000).

Quantitative Praxis – Vertrautheit bzw. Fremdheit

Für die Eidgenossen lässt sich nach ihrer Geschichte sagen, dass sie die direkte Demokratie gleichsam mit der »Muttermilch ein-

gesogen« haben. Gewiss gibt es Unterschiede in der praktischen Nutzung der Instrumente nach Kantonen; ferner wird die direkte Demokratie in der Deutschschweiz intensiver genutzt als in der Romandie. Man kann auch auf ein- und derselben Ebene durch-aus »Konjunkturen« der Nutzung feststellen. Endlich lassen sich innerhalb der Stimmbürgerschaft drei Gruppen unterscheiden: 26 % sind »regelmäßige Urnengänger«, 18 % gehören zu den »Ab-stinenten«, und 56 % sind »unregelmäßige Urnengänger« (»Sie gehen ›à la carte‹ zur Urne« (Linder 2005, S. 286)). Aber über all diesen Differenzierungen bleibt es wahr, dass bei regelmäßig vier eidgenössischen Abstimmungsterminen im Jahr, den kantonalen Volksabstimmungen und zusätzlich noch den Abstimmungen in den Gemeinden der normale Schweizerbürger mit den direktde-mokratischen Instrumenten bestens vertraut ist.Die Belastung der Bürgerinnen und Bürger durch Volksabstim-mungen auf allen drei Ebenen (dazu kommen ja noch die Wahlen) kann beträchtlich sein. So standen beispielsweise am 18. Mai 2003 neun eidgenössische Abstimmungen an, das Abstimmungs-büchlein dazu umfasste 95 Seiten. Am 30. November 2008 hatten die Zürcher vier städtische, fünf kantonale und fünf eidgenössi-sche, zusammen also 14 Abstimmungen zu bewältigen. Hier könnte man fast schon ein Überforderungsproblem sehen.Für Deutschland sind drei Gruppen von Ländern zu unterschei-den. Die erste umfasst Länder wie Hessen und das Saarland, aber auch Baden-Württemberg und Brandenburg, wo noch nie auch nur ein Volksbegehren zustande kam, geschweige denn, dass ein Volksentscheid stattgefunden hätte. Allerdings muss man jetzt noch einmal differenzieren, ob das daran liegt, dass das Verfah-ren »verriegelt« ist – so die Diagnose für Hessen und das Saar-land –, oder ob die politische Elite eine »Abfangtechnik« entwi-ckelt hat, dass sie jeder Volksinitiative soweit entgegenkommt, dass der verbleibende Unmut gar nicht mehr für ein Volksbegeh-ren ausreicht – dies ist z. B. der Befund für Brandenburg. In einer zweiten Gruppe ist eine mäßige Praxis zu verzeichnen. In diesen Ländern findet »alle heilige Zeit« ein Volksbegehren statt, viel-leicht sogar einmal ein Volksentscheid – Nordrhein-Westfalen mit dem »Koop«-Volksbegehren 1978, Sachsen-Anhalt mit dem »Kinderbetreuungs«-Volksentscheid 2005 und Bremen mit dem Volksbegehren zur Wahlrechtsreform 2006 seien dafür genannt. Die dritte Gruppe umfasst jene Länder, in denen direkte Demo-kratie regelmäßig praktiziert wird mit durchaus gutem Erfolg: vor allem Bayern, aber auch Hamburg, Berlin und Thüringen. Volks-gesetze – also Entwürfe »von unten«, die alle Verfahrensstufen durchlaufen haben und nach dem positiven Volksentscheid nun für alle geltendes Recht gesetzt haben – gibt es in Bayern, Sach-sen, Hamburg und Berlin. Auf der Kommunalebene ist Ähnliches wie zur Landesebene fest-zustellen. Es gibt Länder, in denen Bürgerbegehren kaum ver-sucht werden bzw. in mehr als der Hälfte der Fälle an »Verfahrens-fehlern« scheitern (wobei man schon fragen kann, ob die Leute zu unbedacht vorgehen, oder ob die Verfahrensordnungen voller Fallstricke sind und ausgeräumt gehören). In anderen Ländern taugt das Verfahren, können die Leute damit umgehen und wer-den die Instrumente regelmäßig benutzt. Bayern ist insoweit ab-solute Spitze (| M 9 |). Allein in den ersten 15 Jahren (bis Ende Au-gust 2010) verzeichnete man 1.694 Bürgerbegehren und 903 Bürgerentscheide, dazu 78 Gemeindereferenden (vgl. Socher/Rehmet/Reidinger 2010, S. 4).Da die Praxis hier natürlich die beste Lehrmeisterin ist, bleibt eine höchst unterschiedliche Vertrautheit mit der direkten Demo-kratie in Deutschland festzustellen. Ländern wie Bayern, wo die Leute schon etliche Male Volksgesetzgebung und obligatorisches Verfassungsreferendum, dazu auf der Kommunalebene viele Bür-gerbegehren und Bürgerentscheide sowie Gemeindereferenden erlebt haben, stehen andere Länder gegenüber, wo mangels Nut-zung (Nutzbarkeit?) der Verfahren überhaupt keine oder kaum eine praktische Anschauung besteht, wie so etwas »funktioniert« und was man damit erreichen kann.

Abb. 5 Gegner der sechsjährigen Primarschule bedanken sich auf einem Plakat bei ihren Wählern, nachdem sie am 18.7.2010 einen Volksentscheid gegen die Pläne der damaligen schwarz-grünen Landesregierung in Hamburg gewonnen hatten. © picture alliance, 2010

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Die Stellung des Volkes in der direkten Demokratie und die Hal-tung der repräsentativ-demokra-tischen Institutionen

Hier sind die Unterschiede zwischen der Schweiz und Deutschland am größten. In der Eidgenossenschaft handelt das abstim-mende Volk (fast) souverän. Da die Verfas-sungsinitiative zur Verfügung steht und auch für weniger bedeutsame Angelegenheiten eingesetzt wird, sind die verfassungsändern-den Bürger in ihrer Entscheidung prinzipiell frei. Das heißt nicht, dass bei der direkten Demokratie Willkür erlaubt wäre; auch die Schweiz versteht sich als Rechtsstaat (vgl. Art. 5 BV 1999 [| M 7 |]). Aber die Grenzen, die das Recht einer Volksinitiative setzt, sind sehr weit gesteckt. Selbstverständlich muss immer die Kompetenzordnung im Bundes-staat beachtet werden, d. h. dass z. B. ein Kanton nicht Bundeszuständigkeiten verlet-zen darf. Prominenter Fall: Als nach der Ein-führung des Frauenstimmrechts durch eidge-nössische Volksabstimmung 1971 die Landsgemeinde des Kantons Appenzell Innerrhoden noch dreimal (1973, 1982 und 1989) an ihrer Männerdemokratie festzuhalten beschloss, korrigierte sie das Bundesgericht in Lausanne in einem Entscheid vom 27. No-vember 1990 (| Abb. 1 |) (vgl. Linder 2005, S. 179ff.). Die Einheit der Form und die Einheit der Materie müssen gewahrt sein, d. h. es dürfen nicht mehrere verschiedene Anliegen in einem einzigen In-itiativbegehren zusammengefasst werden, das sogenannte »Kop-pelungsverbot«. Endlich dürfen keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts verletzt werden. In den beiden letztgenannten Fällen erklärt die Bundesversammlung (das schweizerische Parla-ment) eine entsprechende Initiative für ganz oder teilweise ungül-tig (vgl. Art. 139 Abs. 3 BV 1999 [| M 7 |]). Dies zeigt, dass auch das abstimmende »Schweizer Volk« Staatsorgan ist.Es gibt in der Schweiz weiterhin keine Verfassungsgerichtsbarkeit im umfassenden Sinne. Die Bundesgesetze sind für das Bundes-gericht »maßgebend« (Art. 190 BV 1999 [| M 7 |]) – das ist das Ge-genteil von verfassungsgerichtlicher Normenkontrolle. In Deutschland hingegen kann nicht einmal der Anschein der Souveränität für das abstimmende Volk aufkommen. Die Volks-gesetzgebung ist – wie die parlamentarische Gesetzgebung – an »die verfassungsmäßige Ordnung« gebunden (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG); es besteht eine vollausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit, und alle Bundesländer haben eine verfassungsgerichtliche Vor-abkontrolle eingerichtet. Diese wird von den repräsentativ-de-mokratischen Organen regelmäßig angerufen und führt zu einer vergleichsweise engen Prüfung der vorgelegten Entwürfe auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht. Sowohl Deutschland als auch die Schweiz sind also rechtsstaatli-che Demokratien, aber die Akzente sind jeweils deutlich anders gesetzt.Entsprechend unterschiedlich ist auch der Umgang mit den Er-gebnissen einer Volksabstimmung. Nach der politischen Kultur der Schweiz ist ein Volksentscheid »sakrosankt« (Linder 2005, S. 282) und wirkt wie ein »Gottesurteil« (Möckli 1994, S. 354). Hin-gegen kann in Deutschland die Verfassungsjustiz auch nachträg-lich gegen ein Volksgesetz angerufen werden. So wurden gegen das durch Volksentscheid vom 1. Oktober 1995 beschlossene bay-erische Gesetz zur Einführung des kommunalen Bürgerent-scheids Popularklagen zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof erhoben, der mit Entscheidung vom 29. August 1997 einige Kor-rekturen an jenem Volksgesetz anbrachte, die der bayerische Landtag dann durch eine Novellierung der Gemeindeordnung nachvollzog.

Erst recht undenkbar erscheint für die Schweiz eine parlamentari-sche Konterlegislatur, über die in Deutschland seit dem heftig umstrittenen Volksentscheid zur Fürstenenteignung 1926 theore-tisch debattiert wurde. Praktisch wurde dies ausgerechnet in Schleswig-Holstein, das sich 1989 für die Entwicklung der direk-ten Demokratie in Deutschland verdient gemacht hatte: 1999 hob der Landtag in Kiel das erste Volksgesetz im Norden auf (Fall »Rechtschreibreform«) – nicht einmal ein Jahr nach dem Volks-entscheid vom 27. September 1998 (Jung 2010a). Neuerdings ist in der Schweiz eine Entwicklung zu beobachten, die hier am Beispiel des Volksentscheids zum Minarettverbot (Art. 72 Abs. 3 BV 1999 [| M 7 |]) gezeigt sei. Weit entfernt von einer Hinnahme als »Gottesurteil« war diese Entscheidung viel-mehr heftig umstritten und wurde in ihrer Legitimation in Zweifel gezogen. Bloßem Wunschrecht folgten freilich jene, die forder-ten, diese Volksinitiative hätte nach Art. 139 Abs. 3 BV 1999 (| M 7 |) für ungültig erklärt und gar nicht zur Abstimmung zuge-lassen werden dürfen. Man mag ja den Bau von Minaretten durch die Religionsausübungs-Freiheit nach Art. 9 Abs. 1 Halbs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 geschützt sehen. Aber dieses letztlich architektonische Detail zu jenem in-nersten Kern des Völkerrechts zu zählen, der zwingend gilt, er-scheint überzogen. Andere forderten verfassungspolitisch eine Einschränkung der Volksrechte durch die Ausweitung des Tabu-bereichs über die »zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts« hinaus auf bestimmte menschenrechtliche Positionen, und wie-der andere setzten auf den Europäischen Gerichtshof für Men-schenrechte, der feststellen möge, dass jene Verfassungsände-rung der Schweiz in Widerspruch mit ihren Verpflichtungen aus der Menschenrechtskonvention stehe. Hier fand also eine juristi-sche bzw. rechtspolitische Auseinandersetzung statt, die dem deutschen Beobachter bekannt vorkommt – nur eine normative Ebene höher. Gestritten wurde nicht über die Verfassungsmäßig-keit einer (geplanten) Gesetzesänderung, wie es in Deutschland die Regel ist, sondern über die Völkerrechtsmäßigkeit einer di-rektdemokratisch durchgesetzten Verfassungsänderung.

Die Wirkungen direkter Demokratie

Sinn direkter Demokratie ist nicht, möglichst oft abstimmen zu gehen. Vielmehr setzen ihre Befürworte auf die systemische Wir-kung von Kontrollinstitutionen bzw. Korrekturverfahren, die man auch anderweit beobachten kann: Die Verwaltung arbeitet effek-

Abb. 6 Mitglieder der Initiative für mehr Bürgerbeteiligung feiern vor dem Erfurter Landtag die An-nahme eines Gesetzes, das die Quoren für Bürgerbegehren in Kreisen, Städten und Gemeinden in Thürin-gen senkt. Die Initiative hatte einen Volksentscheid erzwungen, woraufhin der Landtag bei nur drei Gegen stimmen der Vorlage zustimmte. Die Vorlage der Unterschriften lag mitten im Wahlkampf zum Landtag. © picture alliance, 24.2009

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tiver, wenn sie einen Rechnungshof über sich weiß. Der Gesetzge-ber wird auf die Verfassung besonders sorgfältig achten, wenn ein Verfassungsgericht existiert, das zur Normenkontrolle befugt ist. Entsprechend »läuft« ein ganzer Politikbetrieb anders, wenn den Akteuren bewusst ist, dass die einfachen Bürger gegebenen-falls eine Sachentscheidung an sich ziehen und die Lösung der politischen Profis verwerfen können. Es geht also bei der direkt-demokratischen Ergänzung des repräsentativ-demokratischen Systems darum, dass die professionellen Politikakteure anders, nämlich responsiver, besser »geerdet«, Politik betreiben.Einiges davon ist trotz des geringen Erfahrungsgutes in Deutsch-land schon zu beobachten: So lenkte der Landtag von Nordrhein-Westfalen 1978 nach dem beeindruckenden Volksbegehren gegen die »Koop«-Schule ein und hob das Gesetz für diese den Bürgern nicht vermittelte Reform auf. 1994 genügte in Rheinland-Pfalz bereits die Ankündigung eines Volksbegehrens für ein – nur in diesem Lande mögliches – fakultatives Gesetzesreferendum, damit Regierung und Koalition von ihrem offenkundig missrate-nen Vorhaben eines Landes-Transplantationsgesetzes abließen. 2006 hatten die Initiatoren des Volksbegehrens »Mehr Demokra-tie beim Wählen – Mehr Einfluss für Bürgerinnen und Bürger« in Bremen solchen Erfolg, dass die Bürgerschaft den begehrten Ge-setzentwurf übernahm. Eine Reihe kleinerer Fälle kommt hinzu, die alle die gewonnene höhere Responsivität der repräsentativ-demokratischen Politik belegen (vgl. Jung 2010b, S. 112–118).Gut ist auch die befriedende Wirkung direkter Demokratie zu zei-gen. Mit der Einführung des kommunalen Bürgerentscheids 1995 und der Abschaffung des Bayerischen Senats – der zweiten Kam-mer – 1998 im Freistaat, jeweils durch Volksentscheid, sind die entsprechenden Kontroversen erledigt. Der Hamburger Volks-entscheid über die Primarschule 2010 hat einer Politik hektischer Bildungsreformen aller Voraussicht nach ein definitives Ende be-reitet. Die Akzeptanz dieser politischen Richtungsentscheidun-gen ist hoch.Eine Systemtransformation, wie sie als Schreckgespenst oft an die Wand gemalt wurde, ist bislang nicht zu beobachten. Weder Bayern noch Hamburg oder Berlin, wo Volksbegehren und Volks-entscheid häufiger eingesetzt wurden, haben sich in Richtung auf eine »Konkordanzdemokratie«, d. h. den Einbezug möglichst vie-ler Akteure wie Parteien, Verbände und Initiativen in die Entschei-dungen, entwickelt. Für eine solche Entwicklung, die im Übrigen nicht von vornherein negativ eingeschätzt werden sollte, be-dürfte es offenbar stärkerer Dosen (vgl. Schiller 2002, S. 157–161).Typisch deutsch erscheint die Unsicherheit, wie sich eine stärkere Nutzung direktdemokratischer Elemente auf die beklagenswert

gesunkene Wahlbeteiligung auswirken würde. Wäre die Folge, dass wieder mehr Leute wählen gehen würden (»Stimulations-ansatz«)? Oder ist da keine Hoffnung in Sicht, aber die direktdemokratische Partizipation der Bürger würde ausgleichend wirken (»Kompensationsansatz«)? Die Schweizer können aufgrund ihrer reichen Erfahrungen bei dem ersten Ansatz nur abwinken. Der langfristige Trend der eidgenössischen Wahl-beteiligung ist sinkend und liegt inzwischen etwa auf der Höhe der Stimmbeteiligung bei Volksabstimmungen, je 40 plus Prozent (vgl. Jung 2011, S. 69).

Die Grundeinstellung zur direkten Demokratie

Die Grundeinstellung zur direkten Demokra-tie ist in beiden Ländern verschieden. In der Schweiz gehört aufgrund der relativ kontinu-ierlichen geschichtlichen Entwicklung die di-rekte Demokratie fest zur politischen Kultur

des Landes. Sie ist akzeptiert, man ist sogar stolz auf sie, und nie-mand stellt sie fundamental in Frage – Streits wie jener nach dem Minarettverbots-Volksentscheid gehen sozusagen nicht an die Substanz. Die Reife des Umgangs der Schweizer mit ihrer direk-ten Demokratie geht soweit, dass sie auch »zurückrudern« können, wo es notwendig erscheint. So geschah es bei der »Allge-meinen Volksinitiative« (anstelle der bisherigen »Verfassungs-initiative«), die durch eidgenössischen Volksentscheid vom 9. Feb ruar 2003 angenommen worden war. Als bei der Ausfüh-rungsgesetzgebung beide Kammern des schweizerischen Parla-ments zu dem Schluss kamen, dass das neue Volksrecht praktisch nicht umsetzbar sei, schlugen sie einen Verzicht auf die Einfüh-rung der Allgemeinen Volksinitiative vor, was das Volk in einer Ab-stimmung am 27. September 2009 billigte. Ähnlich im Kanton Zürich, wo eine breite politische Allianz ein spezielles Volksrecht – das Referendum mit Gegenvorschlag –, 2006 erst eingeführt, nun wieder abschaffen will, und dafür – selbstverständlich – wiede-rum die Zustimmung des Kantonsvolks erbittet.In Deutschland mit seiner gebrochenen Geschichte fehlen bis-lang nicht nur direktdemokratische Elemente auf der gesamt-staatlichen Ebene. Auch die öffentliche Diskussion – und beson-ders die parlamentarische Debatte – über deren Einführung liegt einfach zurück. Allmählich nur kommt man von der Fehlverarbei-tung der deutschen Geschichte weg, als welche die Legende von den angeblich »schlechten Weimarer Erfahrungen mit Volksbe-gehren und Volksentscheid« kurz auf den Punkt gebracht werden kann. Viele Einwände gegen direkte Demokratie entsprechen den Argumenten, die noch vor 100 Jahren gegen die demokratischen Wahlrechtsreformen vorgebracht wurden (vgl. Wassermann 1986, S. 185). Deutlich zeigt sich dies bei Leuten, die sich zunächst für direkte Demokratie erklären, an ihren Tabu-Strategien, und zwar über das klassische Finanztabu und das Verfassungstabu, wie es von 1995 bis 2006 in Berlin galt und heute noch im Saar-land gilt, hinaus. Die Bürger könnten, heißt es besorgt, ja auch auf anderen wichtigen Politikfeldern törichte Beschlüsse fassen – also schließt man sie von diesen Feldern vorsorglich ebenfalls aus: Das Volk soll auch über Außenpolitik nicht abstimmen dür-fen, selbstverständlich nicht über Sicherheits- bzw. Verteidi-gungsfragen, nicht über Währungspolitik, nicht über Entwick-lungshilfe, und nach einem Vorschlag der damaligen größeren Regierungspartei SPD von 2001 sollten auch Wahlen bzw. das Wahlrecht tabu sein. Je wichtiger eine Materie ist, umso weniger verträgt sie für diese Demokraten eine »Einmischung« der Bürger, um so mehr ist im Gegenteil ihre Tabuisierung vonnöten. Am Ende ähnelt das Design direkter Demokratie, wenn der Scherz er-

Abb. 7 »Sie nennen es Demokratie!« Der Volksentscheid zum Verbot des weiteren Baus von Minaretten in der Schweiz wurde angenommen © Gerhard Mester, 30.11.2009

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laubt ist, einem Schweizer Käse, wo man vor lauter Löchern kaum noch die Masse findet – was manche Bedenkenträger mit der Empfehlung »krönen«, es gleich ganz zu lassen.

Schlussfolgerungen

Geschichte erklärt viel, aber sie bestimmt nicht alles. Man kann, jedenfalls bei unserem Thema, aus ihrem Schatten heraustreten. Es wäre schon viel gewonnen, wenn man sich von der Fixierung auf die eigene Geschichte, die ja weithin nicht wissenschaftlicher Erkenntnis folgt, sondern als Waffe im politischen Kampf einge-setzt wird, lösen könnte und statt dessen unvoreingenommen auf die Erfahrungen des Nachbarlandes im Südwesten, dem es doch nach allgemeiner Einschätzung recht gut geht, schauen würde. Dann ergäbe sich, dass es weise ist, wenn die politische Elite sich ein Stück zurücknimmt und Macht an die Bürger abgibt; dass die eigenen Einbußen dabei durch den Gewinn für das Gemeinwesen mehr als ausgeglichen werden. In diesem Sinne könnte man die direktdemokratischen Elemente in Deutschland, wo es sie schon gibt, praktikabel, »bürgerfreundlich« ausgestalten und sie da, wo sie noch fehlen und von den Bürgern nach allen Umfragen mit großen Mehrheiten gewünscht werden, endlich einführen. Ein Stück »Verschweizerung« – das wäre doch ganz gut für Deutsch-land.

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Abb. 8 »Sind wir uns ja einig. Bin auch für den bundesweiten Volksentscheid!« (Im Jahre 2002 hatte die rot-grüne Bundesregierung einen Gesetzentwurf für bundesweite Volksabstimmungen in den Bundestag eingebracht., der aber nicht die notwendige 2/3 Mehrheit für eine Grundgesetzänderung erhielt. © Horst Haitzinger, 21.2. 2002

Abb. 9 Der baden-württembergische Landtag lehnte am 28.10.2010 einen An-trag der SPD-Fraktion auf einen landesweiten Volksentscheid über das Bahnpro-jekt Stuttgart 21 ab. Gegen den Antrag votierten die damaligen Regierungsfrak-tionen von CDU und FDP. © picture alliance, dpa

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MATERIALIEN

M 1 Zur Programmatik der deutschen Sozialdemokratie

a) Als die nächsten Forderungen in der Agitation der Sozialdemokrati-schen Arbeiterpartei sind geltend zu machen: 1. [allgemeines Wahlrecht] (…)2. Einführung der direkten Gesetzgebung (das heißt Vor-

schlags- und Verfügungsrecht) durch das Volk.

b) Ausgehend von diesen Grundsätzen fordert die Sozialdemokratische Partei Deutschlands zunächst: (…)2. Direkte Gesetzgebung durch das Volk vermittels des Vor-

schlags- und Verwerfungsrechts.

Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, beschlossen in Eisenach 1869, und Programm der Sozialistischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem Parteitag in Er-furt 1891, abgedruckt bei: Abendroth (1974) Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemo-kratie. 3. Aufl., Stimme-Verlag, Mainz, S. 91f. und S. 95–98 (96).

c) Die politisch mündigen Bürger eines Gemeinwesens, in wel-chem das öffentliche Leben kräftig sich regt, können sich je-doch nicht damit begnügen, einer Körperschaft die Gesetzge-bung zu übertragen, ohne sich die Mittel der Aufsicht, der Prüfung und der Berichtigung zu sichern. Es reicht nicht aus, dass die Wahlperioden kurz befristet sind. Diejenigen, für welche die Gesetze geschaffen werden, diejenigen, welche an ihrem Leibe die Wirkungen der Parlamentsbeschlüsse erfah-ren und mit ihrem Gut und Blut dafür einzustehen haben, die-jenigen, auf deren Schultern die öffentlichen Lasten ruhen, die breiten Massen des Volkes müssen zu Wort kommen, sie müssen ihre Ansicht zum Ausdruck und zur Geltung bringen können. Ihnen muss in letzter Linie die Entscheidung über die gesetzgeberisch bedeutsamen Fragen zufallen. Wie wir die Volkswehr und das Volksgericht fordern, so auch die Volksge-setzgebung. (…) Die naturnothwendige Folge der Repräsenta-tiv-Verfassung, d. h. derjenigen Verfassung, bei welcher das Volk durch seine Vertreter (Repräsentanten) an der Gesetzge-bung mitwirkt, ist die direkte Gesetzgebung durch das Volk.

Schoenlank, Bruno (1893), in: Kautsky, Karl / ders.: Grundsätze und Forderungen der Sozi-aldemokratie. Erläuterungen zum Erfurter Programm. 2. Aufl., Vorwärts, Berlin, S. 34f.

M 2 Friedrich Engels gegen die Volksgesetzgebung

a) Das alles haben unsere Leute den Lassalleanern zu Gefallen getan. Und was haben die anderen nachgegeben? Dass ein Haufen ziemlicher verworrener rein demokratischer Forde-rungen im Programm figurieren, von denen manche reine Modesache sind, wie z. B. die »Gesetzgebung durch das Volk«, die in der Schweiz besteht und mehr Schaden als Nutzen an-richtet, wenn sie überhaupt was anrichtet (…).

Engels, Friedrich: Brief an August Bebel v. 18./28.3.1875, in: MEW 19, S. 3–9 (6).

b) Von allen diesen Sachen wird nicht viel ins Programm kom-men dürfen. Ich erwähne sie auch hauptsächlich, um die Zu-stände in Deutschland zu kennzeichnen, wo so etwas zu sagen nicht angeht, und damit gleichzeitig die Selbsttäuschung, die solche Zustände auf gesetzlichem Weg in die kommunistische Gesellschaft überführen will. Und ferner, um dem Parteivor-stand in Erinnerung zu bringen, dass es noch andre politische Fragen von Wichtigkeit gibt als die direkte Gesetzgebung durch das Volk und die unentgeltliche Rechtspflege, ohne die wir am Ende auch vorankommen.

Engels, Friedrich: Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, MEW 22, S. 225–240 (236).

M 3 Friedrich Engels über die »Urschweizer« (1847)

Sie beschäftigten sich in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit mit Kühemelken, Käsemachen, Keuschheit und Jodeln. Von Zeit zu Zeit hielten sie Volksversammlungen, worin sie sich in Hornmän-ner, Klauenmänner und andre bestialische Klassen spalteten und nie ohne eine herzliche, christlich-germanische Prügelei ausein-andergingen. Sie waren arm, aber rein von Sitten, dumm, aber fromm und wohlgefällig vor dem Herrn, brutal, aber breit von Schultern und hatten wenig Gehirn, aber viel Wade (…)

Engels, Friedrich: Der Schweizer Bürgerkrieg, (zuerst in der »Deutschen-Brüsseler-Zeitung« vom 14. November 1847) abgedruckt in: MEW 4, S. 391–398 (392f.).

M 4 Karl Kautsky: Klassenkampf statt Gesetzgebung durch das Volk (1893)

Die direkte Gesetzgebung durch das Volk hat die Tendenz, die Scheidung der Bevölkerung in Parteien zu hemmen, nicht zu för-dern; sie schlägt immer wieder neue Brücken zwischen den nach verschiedenen Richtungen auseinandergehenden Parteien.Gleichzeitig aber wirkt sie auch dahin, die Geschlossenheit inner-halb der einzelnen Parteien zu vermindern. (…) auch schon das Referendum und die Initiative nach schweizerischem Muster kön-nen unter Umständen der Verschärfung der Parteigegensätze auf der einen, der Zusammenschließung und Disziplinierung der Par-teien auf der anderen Seite stark entgegen wirken. Dies liegt aber gar nicht im Interesse der Sozialdemokratie. (…) Unter der direkten Gesetzgebung durch das Volk wäre also eine sozialdemokratische Partei unmöglich, und noch weniger mög-lich die Diktatur des Proletariats.

Kautsky, Karl (1893): Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung und die Sozialdemo-kratie. Dietz, Stuttgart, S. 131ff.

M 5 Der Volksentscheid »Enteignung der Fürstenvermögen« am 20. Juni 1926

Stimmberechtigte 39.786.182 100 %

Abgegebene Stimmen 15.599.828

davon ungültig 558.916

gültige Stimmen 15.040.912 100 %

davon stimmten mit Ja: 14.455.167 96,1 % 36,3 %

mit Nein: 585.745 3,9 %

In der Schweiz und den US-Bundesstaaten hätte bei einem solchen Ergeb-nis das volksbegehrte Gesetz triumphal gesiegt. In Deutschland war der Volksentscheid ungültig, weil sich nicht die Mehrheit der Stimmberechtig-ten beteiligt hatte. Selbstredend wusste die politische Klasse in Deutsch-land, dass sie hier zweierlei Maß anlegte: Hätte seinerzeit bei einer Reichstagswahl eine Partei 14,5 Mio. Wählerstimmen auf sich vereinigt, hätte sie die absolute Mehrheit der Mandate im Parlament errungen.

Nach Jung, Otmar (2001): Historische Erfahrungen mit direkt-demokratischen Elementen in der deutschen (Verfassungs-)Geschichte, in: Thüringer Landtag (Hrsg.): Demokratie le-bendiger gestalten. Ettersburger Gespräche am 10. und 11. November 2000 im Hotel Ama-lienhof Weimar (XI. Ettersburger Gespräche). Thüringer Landtag, Erfurt, S. 11–39 (38).

M 6 Ein deutsch-schweizerischer Beobachter zur politischen Kultur in Deutschland (1968)

Das Verfahren zeigt wiederum, dass in Deutschland Volksrechte nicht als Ausdruck der obersten Volkssouveränität verstanden werden. (…) Die unsinnigen Mindestbeteiligungsauflagen des deutschen Rechts zeugen hingegen von einer verfehlten Qualifi-kation der Volksrechte als artfremder Eingriff in die eingerichtete staatliche Ordnung. (…) Das deutsche und das österreichische

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Page 29: DEUTSCHLAND & EUROPA · Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, ISSN 1864-2942 Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft DEUTSCHLAND & EUROPA Politische Partizipation in Europa

Recht haben die Volksrechte von Anfang an als Ausnahmetatbe-stände begriffen und als Widerspruch an ein in sich geschlosse-nes, vollendetes repräsentativ-demokratisches Verfassungssys-tem angehängt. Sie sind nicht als organische Ergänzung und Beförderung der Staatsmaschinerie, sondern in dem Sinn ange-legt worden, dass dem Volk gestattet werde, dem auf Touren dre-henden politischen Apparat von außen eingreifend das Bein zu stellen. Wer die Initiative ergreift, der steht auf wider den Staat, ja gegen sein eigenes Volk, aufs beste organisiert und legitim ver-körpert in Volksvertretung und Regierung. So gerieten die Volks-rechte von allen Anfängen an in den üblen Geruch eines Be-schwerdebuchs der Unzufriedenen, wenn nicht einer von unberufener Hand willkürlich gezogenen Vierradbremse. Das ge-genwärtige deutsche und österreichische Recht legt die Verant-wortung ausschließlich in die Hände der repräsentativen Organe der Regierung und der Regierungsparteien und blockiert mit dem Übergewicht der parlamentarischen Demokratie die ver-kümmernden Volksrechte. Wer eine Initiative ergreift, maßt sich an, in Angelegenheiten einzugreifen, welche zur Verantwortung anderer gehören. So verstanden und angelegt, konnte den Volks-rechten in Deutschland und in Österreich kein Erfolg beschieden sein.«

Neumayer, Karl (1968): Betrachtungen zum Volksinitiativverfahren im Staatsrecht der Län-der des deutschen Sprachgebietes außerhalb der Schweiz, in: Université de Lausanne: Mé-langes Marcel Bridel. Imprimeries réunies, Lausanne, S. 321–345 (341ff.).

M 7 Bestimmungen der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (1999)

Art. 5 Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns1. Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.2. Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen

und verhältnismäßig sein.3. Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glau-

ben.4. Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.Art. 72 Kirche und Staat3. Der Bau von Minaretten ist verboten. Art. 139 Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung3. Verletzt die Initiative die Einheit der Form, die Einheit der Ma-

terie oder zwingende Bestimmungen des Völkerrechts, so er-klärt die Bundesversammlung sie für ganz oder teilweise un-gültig.

Art. 140 Obligatorisches Referendum1. Volk und Ständen werden zur Abstimmung unterbreitet:

a. die Änderungen der Bundesverfassung;b. der Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit

oder zu supranationalen Gemeinschaften;c. die dringlich erklärten Bundesgesetze, die keine Verfas-

sungsgrundlage haben und deren Geltungsdauer ein Jahr übersteigt; diese Bundesgesetze müssen innerhalb eines Jahres nach Annahme durch die Bundesversammlung zur Abstimmung unterbreitet werden.

2. Dem Volk werden zur Abstimmung unterbreitet:a. die Volksinitiativen auf Totalrevision der Bundesverfas-

sung;b. die Volksinitiativen auf Teilrevision der Bundesverfassung

in der Form der allgemeinen Anregung, die von der Bun-desversammlung abgelehnt worden sind;

c. die Frage, ob eine Totalrevision der Bundesverfassung durchzuführen ist, bei Uneinigkeit der beiden Räte.

Art. 141 Fakultatives Referendum1. Verlangen es 50.000 Stimmberechtigte oder acht Kantone in-

nerhalb von 100 Tagen seit der amtlichen Veröffentlichung des Erlasses, so werden dem Volk zur Abstimmung vorgelegt: a. Bundesgesetze;

b. dringlich erklärte Bundesgesetze, deren Geltungsdauer ein Jahr übersteigt;

c. Bundesbeschlüsse, soweit Verfassung oder Gesetz dies vorsehen;

d. völkerrechtliche Verträge, die: 1. unbefristet und unkündbar sind; 2. den Beitritt zu einer internationalen Organisation vor-

sehen; 3. wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder

deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen er-fordert.

Art. 142 Erforderliche Mehrheiten1. Die Vorlagen, die dem Volk zur Abstimmung unterbreitet wer-

den, sind angenommen, wenn die Mehrheit der Stimmenden sich dafür ausspricht.

2. Die Vorlagen, die Volk und Ständen zur Abstimmung unter-breitet werden, sind angenommen, wenn die Mehrheit der Stimmenden und die Mehrheit der Stände sich dafür ausspre-chen.

3. Das Ergebnis der Volksabstimmung im Kanton gilt als dessen Standesstimme. (…)

Art. 190 Maßgebendes RechtBundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.

M 8 Ergebnis der Volksabstimmung in Hessen am 19. Feb-ruar 1995 über die Herabsetzung des Wählbarkeits alters

Stimmberechtigte 4.275.027 100 %

Abgegebene Stimmen 2.813.285

davon ungültig 165.859

gültige Stimmen 2.647.426 100 %

davon stimmten mit Ja: 987.002 37,3 % 23,1 %

mit Nein: 1.660.424 62,7 % 38,8 %

Nach: Staatsanzeiger für das Land Hessen 1995, S. 976 (Nr. 12 v. 20.3.1995). Prozentwerte in der letzten Spalte: eigene Berechnung.

M 9 Der Bayerische Staatsminister des Innern, Günther Beckstein, räumt eine Fehleinschätzung ein (2005)

Die 10 Jahre Bürgerentscheid haben jedenfalls nicht bedeutet, dass es irgendwo zu Stillstand und besonderen Schwierigkeiten gekommen ist. Die Befürchtungen, die an vielen Orten geäußert wurden, haben sich jedenfalls nicht bewahrheitet. Die anfängli-che Skepsis des politischen Spektrums ist verflogen. Die Mehr-heit der Kommunalpolitiker in unserem Land ist zu einer positi-ven und unterstützenden Haltung gelangt. (…) Bürgerbegehren und Bürgerentscheid haben dazu beigetragen, die Bürgergesell-schaft zu stärken, eine neue politische Kultur in den Gemeinden aufzubauen und zahlreiche Chancen auch für die Politiker und Mandatsträger zu eröffnen. Das befürchtete Chaos ist nicht ein-getreten. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid haben vielmehr zu einer näher am Bürger orientierten Kommunalpolitik geführt. Die Mandatsträger müssen umstrittene Projekte vor der Öffent-lichkeit nachhaltiger vertreten. Die dadurch entstehende Not-wendigkeit, klare Positionen zu beziehen und für die eigenen Ideen verstärkt zu werben, fördert die Demokratie. (…)

Nach Jung 2010b, S. 128f.

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Page 30: DEUTSCHLAND & EUROPA · Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, ISSN 1864-2942 Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft DEUTSCHLAND & EUROPA Politische Partizipation in Europa

Neben dem instrumentellen Charakter von Partizipation steht das normative Verständnis von Partizipation; der Begriff »norma-tiv« bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die politische Teil-habe der Bürger ein Wert an sich darstellt und Partizipation in einem demokratischen politischen System und in einer liberalen Gesellschaft in diesem Sinne etwas Wünschenswertes und auch Selbstverständliches darstellt und zur Stabilität von System und Gesellschaft beiträgt.Es lassen sich nicht nur unterschiedliche Ziele, sondern auch For-men der politischen Partizipation unterscheiden (vgl. Schultze 2011): Partizipation ist entweder in der Verfassung festgeschrie-ben wie bei allgemeinen Wahlen, die über die Zusammensetzung im Parlament und damit über die Wahl einer neuen Regierung bestimmen oder bei Referenden, bei denen die Bürgerinnen und Bürger nur zu bestimmten Sachfragen ein Votum abgeben; dazu gehört auch das Streikrecht, sofern es in der Verfassung festge-schrieben ist (»verfasste Partizipation«). Davon zu unterscheiden sind »unkonventionelle« Formen der Partizipation, die nicht in der Verfassung festgeschrieben sein müssen wie etwa Bürgerini-tiativen, wilde Streiks oder Hausbesetzungen, sofern sie politi-sche Ziele verfolgen. Diese unterschiedlichen Formen der politi-schen Partizipation lassen sich in allen EU-Staaten – abhängig von der politischen Kultur und ihrer »gelebten« und »geschriebe-nen« Verfassung beobachten; aber auch die Europäische Union und »Brüssel« als Ort, an dem wichtige politische Entscheidun-gen getroffen werden, ist immer wieder von Streiks der europäi-schen Bauern oder von Tierschützern, die vor dem Gebäude der EU-Kommission für ihre Forderungen demonstrieren oder den Brüsseler Verkehr lahmlegen, betroffen. Im Sommer 2011 hat sich aber auch gezeigt, dass die Eurokrisen-politik und die damit einhergehende rigide Sparpolitik in den strauchelnden Euro-Staaten massenhaft, vor allem auch junge Menschen auf die Straße getrieben haben, um gegen Kürzungen zu demonstrieren, die ihre Regierungen aufgrund des Drucks von

Form und Funktion der politi-schen Partizipation in der Euro-

päischen Union unterscheiden sich in mancherlei Hinsicht von der Teil-habe der Bürgerinnen und Bürger in ›normalen‹ politischen Systemen. Die EU ist kein Staat im klassischen Sinne, aber auch keine Internatio-nale Organisation (z. B. Vereinte Nationen), sondern ein »Mehrebe-nensystem«, welches sich aus 27 einzelnen Mitgliedstaaten zusam-mensetzt, die in vielen Bereichen (z. B. Währungs- oder Energiepoli-tik) eine aufeinander abgestimmte bzw. von Brüssel aus koordinierte Politik verfolgen. Dass dies häufig nur unter Mühen – wenn über-haupt – gelingt, zeigt die seit Früh-jahr 2010 sich verschärfende Euro- und Staatsschuldenkrise und die Probleme der Euro-Staaten, sich auf Maßnahmen zur »Rettung« des Euro zu verständigen. Im vorliegen-den Beitrag soll gezeigt werden, ob und wie politische Partizipation in einem »Mehrebenensystem« gelingt bzw. wo sie an ihre Gren-zen stößt. Wir verwenden dabei einen breiten Begriff von »Partizipation«, der die Teilhabe der individuellen Bürger in der EU-Politik genauso umfasst wie die Mitwirkung und Kont-rolle der Brüsseler Entscheidungen durch die einzelnen Parla-mente in den EU-Staaten und die wichtige Rolle, die dem Euro-päischen Parlament in Straßburg bzw. in Brüssel zukommt.

»Partizipation im EU-Mehrebenensystem« – eine Begriffsklärung

Beim Begriff Partizipation lassen sich zwei Dimensionen unter-scheiden (vgl. Schultze 2011: 437): Zum einen besitzt der Begriff eine instrumentelle bzw. zweckrationale Bedeutung, das heißt, man kann Partizipation verstehen als ein Mittel zur Erreichung eines politischen Zweckes. Die Partizipation im Sinne der Teil-nahme an den alle fünf Jahre stattfindenden Wahlen zum Europä-ischen Parlament (EP) verfolgt das Ziel, den Bürgerinnen und Bürger durch ihre Stimmabgabe die Möglichkeit zu geben, direkt und unmittelbar Einfluss zu nehmen auf die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments. Dies schafft eine Form der direk-ten Legitimation der vom EP künftig mitverantworteten EU-Poli-tik. Da das Europäische Parlament das einzige, direkt gewählte Organ der EU ist, sind die Europa-Wahlen die Gelegenheit, der Europäischen Union eine gesamteuropäische Legitimation zu vermitteln. Da jedoch seit 1979, als das Europäische Parlament zum ersten Mal direkt gewählt worden ist, die Wahlbeteiligung in allen Mitgliedstaaten der EU kontinuierlich gesunken ist und sie bei der letzten Europawahl im Jahre 2009 in einigen Mitgliedstaa-ten unter die 30-Prozent-Marke gesunken ist, wird der Anteil die-ser Form der Partizipation eher als gering angesehen (| Abb. 2 |).

POLITISCHE PARTIZIPATION IN EUROPA

4. Politische Partizipation und Parlamen-tarismus im EU-Mehrebenensystem

MARTIN GROSSE HÜTTMANN

Abb. 1 »Die Generalprobe« © Heiko Sakurai, 8.6.2009

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Page 31: DEUTSCHLAND & EUROPA · Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, ISSN 1864-2942 Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft DEUTSCHLAND & EUROPA Politische Partizipation in Europa

der »Troika« (Experten von EU-Kommission, Europäi-scher Zentralbank und Inter-nationalem Währungsfonds, IWF) und anderer europäi-scher Regierungen angekün-digt und teilweise schon um-gesetzt haben. Die friedlichen Demonstrationen und Zeltlager auf den großen öffentlichen Plätzen in Mad-rid, Barcelona und in Athen haben wochenlang die Nach-richten bestimmt; auch diese Formen lassen sich als un-konventionelle politische Partizipation verstehen – ein Problem bestand freilich darin, dass nicht immer klar war, gegen wen sich die De-monstranten auflehnten (| M 9 |). Das Nachrichtenma-gazin DER SPIEGEL fragte deshalb: »Kann man gegen die Schul-den protestieren?« (Der Spiegel 25/2011, S. 49).

Unterschiedliche Formen der politischen Partizipation sind auch in der Europäischen Union zu beobachten; dazu gehören etwa Online-Debatten und Internet-Konsultationen, das Petitions-recht beim Europäischen Parlament und vieles mehr. Eine Beson-derheit – im Unterschied zur nationalen Politik – besteht darin, dass die EU als »Mehrebenensystem« zu verstehen ist und des-halb auch auf unterschiedlichen Ebenen Partizipation stattfinden kann.

Politik und Partizipation im EU-Mehrebenensystem

Die Europäische Union wird in der EU-Forschung als »Mehrebe-nensystem« beschrieben; diese Bezeichnung hat sich inzwischen eingebürgert, weil damit deutlich gemacht werden kann, dass die Europäische Union und die nationalen politischen Systeme ganz eng miteinander verwoben und verflochten sind – wie eine »russi-sche Puppe«, die sich aus verschiedenen Puppen, die ineinander gesteckt werden, zusammensetzt, so bildet gewissermaßen die Europäische Union die äußerste Hülle des Mehrebenensystems, dann kommen die 27 nationalen politischen Systeme, dann die Regionen bzw. die Länder wie Baden-Württemberg oder Sachsen und schließlich auch die Kommunen. Politik, die in Brüssel von der EU beschlossen wird, wirkt sich in den meisten Fällen bis auf die unterste Ebene aus.

Beim Beispiel der EU-Feinstaubrichtlinie lässt sich dies veran-schaulichen. Während die Grenzwerte und Richtlinien vom Minis-terrat, das ist das Vertretungsorgan der Regierungen der EU-Staaten, in Brüssel festgelegt worden sind, müssen aus der EU-Richtlinie erst ein nationales Gesetz abgeleitet werden, ehe in Stuttgart oder in Tübingen von der Kommunalverwaltung ent-sprechende Verkehrszonen und Verbotsschilder aufgestellt wer-den können. Der Begriff »Mehrebenensystem« macht aber nicht nur anschaulich, dass von oben nach unten »durchregiert« wer-den kann, sondern dass alle politischen Ebenen an der Entschei-dung häufig schon im Vorfeld beteiligt sind. Das Konzept des »Mehrebenenregierens« (engl.: »Multi-level governance«) ist kennzeichnend für die Europäische Union. »Mehrebenenregie-ren« heißt also auch, dass den Regierungen, Bürgern, Parlamen-ten, Verbänden, Lobbyisten und der Zivilgesellschaft im Prinzip unterschiedliche »Kanäle« offen stehen, über die sie ihre Interes-sen einbringen können.

Ein international erfolgreiches Automobilunternehmen aus Ba-den-Württemberg wird zum Beispiel den Kanal zur Interessenver-mittlung nutzen, von dem es sich den größten Erfolg verspricht – das kann die Landesregierung in Stuttgart sein oder die Bundesregierung in Berlin, aber auch die Europäische Kommis-sion in Brüssel oder der einzelne Abgeordnete im Europäischen Parlament, der als Berichterstatter an der EU-Richtlinie zur Redu-zierung des CO2-Ausstoßes von Pkws mitarbeitet.

Ein Problem der Partizipation in der Europäischen Union besteht in der Zweiteilung von Kompetenzen auf der einen Seite und der Organisation der politischen Verantwortlichkeit auf der anderen: Dass die politischen und rechtlichen Kompetenzen mehr und mehr von den Mitgliedstaaten auf die EU-Ebene übertragen wor-den sind und inzwischen fast jedes Politikfeld in irgendeiner Art und Weise von der EU-Rechtsetzung betroffen ist und die politi-sche Verantwortung jedoch weiterhin auf der nationalen Ebene verankert ist, führt zu der Frage, wie Entscheidungen der EU de-mokratisch legitimiert sind (vgl. Magnette 2003).

In der Öffentlichkeit und vor allem in den Europa-Wissenschaften wird seit den 1990er-Jahren darüber diskutiert, wie das soge-nannte Demokratiedefizit der EU abgebaut werden kann (vgl. Abels u. a. 2010). Der Begriff unterstellt, dass die EU – verglichen mit ›normalen‹ politischen Systemen – ein geringeres Maß an de-mokratischer Legitimität vorzuweisen habe, weil das Europäische Parlament, trotz der politischen Stärkung seiner Kontroll- und Mitwirkungsrechte in den vergangenen Jahrzehnten, noch immer kein ›richtiges‹ Parlament sei. Wenngleich das Europäische Parla-ment zuletzt durch den im Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon gestärkt wurde und nun in fast allen Politik-feldern mitentscheiden kann, werden in der Öffentlichkeit immer noch Zweifel an der Legitimation der EU geäußert. Das Straßburger Parlament hat jedoch die neuen Rechte – kaum dass der Vertrag in Kraft getreten ist – sogleich genutzt und der Europäischen Kommission und dem Ministerrat (dort sind die Re-gierungen der EU-Staaten vertreten) eine politische Schlappe be-schert, als die Abgeordneten im Europäischen Parlament bei der Abstimmung über das sogenannte SWIFT-Abkommen zum Jahres-beginn 2010 mit einer Mehrheit dagegen gestimmt haben, sodass es neu verhandelt werden musste. Dieses Abkommen regelt den Austausch von Kontodaten mit Drittstaaten, wie etwa den USA; das Abkommen spielt eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, weil durch die Überwachung der Kontobewegungen, so das Argument der US-Administration, auch die Täter aufgespürt werden können. Nach Ansicht der EU-Parlamentarier entsprach der Datenschutz jedoch nicht den eu-

Abb. 2 Wahlbeteiligung bei den Europawahlen im Jahre 2009 – einzelne Länder haben Wahlpflicht: Belgien, Griechenland, Italien, Luxemburg und Zypern. © dpa-Infografik

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ropäischen Standards. Der Vertrag von Lissabon hat darüber hin-aus eine Reihe weiterer Veränderungen gebracht, die die Demokratie in der EU und die Möglichkeiten der politischen Par-tizipation deutlich verbessert haben.

Der neue EU-Vertrag wagt mehr Demokratie und Partizipation

Der im Dezember 2009 nach langem Hin und Her in Kraft getre-tene Vertrag von Lissabon hat der Demokratie sogar ein eigenes Kapitel (»Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze«) gewidmet (| M 1 |). In Artikel 10 des EU-Vertrags steht der schlichte Satz: »Die Arbeitsweise der Union beruht auf der repräsentativen Demokratie«. Wenige Zeilen später ist zu lesen, dass die EU auch dem Prinzip der »partizipativen Demokratie« verpflichtet ist, wenn sie den Bürgern der EU eine direkte und unmittelbare Rolle in den Entscheidungsprozessen der Europäischen Union zuweist: »Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindes-tens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsange-hörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten handeln muss, können die Initiative ergreifen und die Europäische Kom-mission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vor-schläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsaktes bedarf, um die Verträge umzusetzen« (Art. 11, Abs. 4 EU-Vertrag) (| M 3 |).

Das Europäische Parlament – durch den Vertrag politisch gestärkt

Der Vertrag von Lissabon hat dem EU-Parlament – wie andere Vertragsänderungen in der Vergangenheit auch schon – neue Mitwirkungsrechte in zusätzlichen Politikfeldern beschert. Es ist nun in fast allen Bereichen ein dem Ministerrat ebenbürtiger Mit-spieler. Das Europäische Parlament ist an der Ernennung des Kommissions-Präsidenten direkt beteiligt und es wählt den Euro-päischen Bürgerbeauftragten (»Ombudsman«). Wichtig für die Parlamentspraxis sind auch die stärkeren Kontrollrechte des EP bei der Aufstellung des EU-Haushalts – über die Kontrolle des Haushaltes kann das Parlament auch inhaltlich Einfluss nehmen, wenn es sich zum Beispiel für eine Umschichtung der Mittel im Haushalt von der Agrarpolitik zur Bildungspolitik stark macht. Auch bei Internationalen Übereinkommen, etwa bei Wirtschafts-

abkommen mit Drittstaaten, kann das Parla-ment nun seinen Einfluss geltend machen. Da die Europäische Union mit dem Projekt »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« mehr und mehr eine eigenständige Justiz- und Innenpolitik verfolgt, soweit sie eine grenzüberschreitende Dimension an-nimmt (z. B. Harmonisierung des Asylrechts in den EU-Staaten), ist das EP auch hier ein Wächter der Bürgerrechte. Sein »neues Selbstbewusstsein« (Kietz/Ondarza 2010) hat das Parlament schon bald nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags demonstriert, z. B. bei den Verhandlungen über den neuen Euro-päischen Auswärtigen Dienst mit der neuen Hohen Repräsentantin für die EU-Außenpoli-tik, Catherine Ashton. Hier machte das EP erfolgreich Druck und konnte viele seiner Forderungen durchsetzen; das EP war an den Details der Statuten beteiligt, weil es hier um Personal- und Finanzfragen ging. Trotz dieser neuen Kontrollrechte hat es das EP schwer, als ›richtiges‹ Parlament wahrge-nommen zu werden, weil die nationalen Me-dien nicht annähernd so ausführlich über die

Parlamentsarbeit in Brüssel oder Straßburg berichten wie über die Abgeordnetenarbeit in Berlin oder Stuttgart oder Hamburg. Die Wahlen zum Europäischen Parlament werden deshalb von den Bürgerinnen und Bürgern in der Mehrzahl der EU-Staaten als eher weniger wichtige Wahlen (»second order elections«) angese-hen; bei den letzten Europawahlen 2009 war die Wahlbeteiligung in vielen Staaten weit unter die 50 Prozent-Marke gefallen. Es wird sich zeigen, ob bei den nächsten Wahlen im Jahr 2014 das Europä-ische Parlament aus dem Schatten heraustreten und der Bevölke-rung in den EU-Staaten seine wahre Rolle als Mitgesetzgeber in der EU vermitteln kann. Eine weitere Neuerung sind die Rechte, die der Vertrag den mit-gliedstaatlichen Parlamenten im Rahmen der »Subsidiaritätskon-trolle« zuschreibt; in der Politikwissenschaft wird aufgrund der parlamentarischen Zusammenarbeit und Koordination zwischen den unterschiedlichen politischen Entscheidungsebenen von einem »Mehrebenenparlamentarismus« (Maurer 2002, 2009; Abels/ Eppler 2011) gesprochen.

Die »Subsidiaritätskontrolle« durch die Parlamente in den EU-Staaten

Im Vertrag von Maastricht, der 1993 in Kraft getreten ist, wurde zum ersten Mal das »Subsidiaritätsprinzip« verankert. Der Begriff stammt aus dem Lateinischen (subsidium = Hilfe); er spielt in der Philosophie und der Katholischen Soziallehre eine wichtige Rolle, weil er prinzipiell der kleinsten sozialen oder politischen Einheit (z. B. der Familie oder der Kommune) die Erledigung von Aufga-ben zuschreibt; denn vor Ort, so die Logik des Prinzips, wüssten die Menschen am besten, was zur Lösung von Problemen not-wendig sei. Das Subsidiaritätsprinzip soll in der Europäischen Union als poli-tische Richtschnur dienen für die Frage, wann ein Problem von der EU gelöst werden soll, weil die Mitgliedstaaten damit überfor-dert sind und die Europäische Union durch gemeinsames Vorge-hen mehr Aussicht auf Erfolg hat: Eine rein deutsche oder däni-sche »Klimapolitik« ist unsinnig, weil eine Reduzierung des CO2-Ausstoßes in Deutschland oder Dänemark im globalen Maß-stab kaum Wirkung erlangen wird. Hier ist es offensichtlich, dass die Europäische Union gemeinsam handeln und andere Staaten wie die USA oder China ins Boot holen muss. In der Theorie leuchtet das Prinzip ein, in der Praxis ist die Ent-scheidung, wann ein Problem eher auf der unteren politischen

Abb. 3 »Barrosos Autorität« © Heiko Sakurai, 20.6.2009

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Ebene besser aufgehoben ist als auf der nächst höheren nicht so eindeutig – denn große Staaten wie Deutsch-land oder Frankreich können viele Aufgaben (z. B. For-schungspolitik) im Notfall auch alleine besser stemmen als kleine und ökonomisch weniger starke Staaten wie Malta oder Portugal. Das Subsidiaritätsprinzip wirkt also in zwei Richtun-gen: zum einen kann es als Begründung für ein politi-sches Handeln der EU heran-gezogen werden und zum anderen lässt es sich aber auch als Argument nutzen, um die EU von einem Tätig-werden abzuhalten, weil ge-sagt wird, die Mitgliedstaa-ten können es selbst besser. In Deutschland spielt vor allem die zuletzt genannte Lesart eine wichtige Rolle: Das Subsidiaritätsprinzip wird hier häufig als ein Stoppschild oder als Rückversicherung angesehen, um ein »unkontrolliertes« Tätigwerden der Europäischen Kommission zu verhindern.

Der Vertrag von Lissabon hat mit dem »Frühwarnmechanismus« ein Verfahren eingeführt, das den Parlamenten in den EU-Staaten die Aufgabe des Subsidiaritätswächters zuschreibt. Damit sind die nationalen Parlamente zum ersten Mal unmittelbar und schon in einer ganz frühen Phase in die EU-Rechtsetzung eingebunden. Bislang waren – und das sind sie noch heute – die Parlamente erst am Ende, wenn »Brüssel« nach langwierigen Verhandlungen eine Richtlinie beschlossen hat, zum Zuge gekommen. Jede EU-Richtlinie wird erst dann rechtswirksam, wenn sie in allen 27 EU-Mitgliedstaaten von den dortigen Parlamenten (in Deutschland also von Bundestag und Bundesrat und auch von den Landtagen in Stuttgart oder Schwerin) in ein nationales Ge-setz »übersetzt« worden sind und von den Behörden in Deutsch-land, Polen oder Schweden angewendet werden. Die Europäische Union hat keinen eigenen Verwaltungsunterbau und nutzt die Bürokratie in den Mitgliedstaaten – auch dies ein Beispiel für die besondere Form des »Mehrebenen-Regierens« in der Europäi-schen Union. Die Praxis des Frühwarnsystems sieht so aus, dass die Europäische Kommission, die als »Motor der Integration« den Anstoß für jede rechtliche Einzelmaßnahme geben muss, jeden Entwurf und jedes Papier nicht nur an die anderen Mitspieler, das sind der Ministerrat und das Europäische Parlament, in der EU verschickt, sondern zeitgleich an alle Kammern der mitglied-staatlichen Parlamente. Da dies in der Regel auf elektronischem Wege geschieht, ist dies kein allzu großer bürokratischer Auf-wand. Die Verwaltungen in den Parlamenten müssen diese Men-gen an Papier – der Deutsche Bundestag bekommt auf diesem Wege tausende von Dokumenten übermittelt – sortieren und einer ersten Bewertung unterziehen. Manche Vorhaben der EU sind für die Abgeordneten nicht von In-teresse, andere dagegen sehr. Die als relevant erachteten Vorha-ben der EU werden dann den zuständigen Fachausschüssen und dem Europa-Ausschuss im Bundestag zur weiteren Bearbeitung zugeleitet. Das geschieht parallel in allen anderen EU-Staaten. Insgesamt arbeiten etwa 10.000 Abgeordnete in den entspre-chenden Kammern der nationalen Parlamente und sind nun – im Prinzip – zusätzlich zu ihren alten Aufgaben noch mit der »euro-päischen« Aufgabe betraut zu prüfen, ob die EU-Kommission aus ihrer Sicht sich in Bereiche einmischt, die nach dem Subsidiari-

tätsprinzip allein den nationalen Parlamenten vorbehalten sind. Um noch schneller reagieren zu können, haben einige Parla-mente, etwa der Bundestag und auch der Landtag von Baden-Württemberg, eigene Büros als »Horchposten« in Brüssel einge-richtet, damit sie noch früher über Maßnahmen und Überlegungen, die in der Kommission angestellt werden, infor-miert sind.Die Parlamente sollen jedoch nicht nur die EU-Kommission kont-rollieren, sondern vor allem »ihre« Regierungen, wenn diese in Brüssel sich mit den anderen Regierungsvertretern treffen und Beschlüsse fassen, die zu Hause auf Widerstände treffen würden, aber dem heimischen Publikum als ein »Diktat aus Brüssel« ver-kauft werden können, das man – trotz heftigen Widerstandes – nicht habe verhindern können. Bei der Kontrolle der nationalen Europapolitik unterscheidet sich die parlamentarische Praxis in den EU-Staaten zum Teil sehr deut-lich. Alle Kammern der nationalen Parlamente haben zwar inzwi-schen für EU-Angelegenheiten spezialisierte Ausschüsse, die die Hauptarbeit der Kontrolle der Regierungen übernehmen. Der Be-griff »Kontrolle« sollte dabei nicht zu eng gesehen werden, denn in parlamentarischen Systemen wie der Bundesrepublik Deutsch-land kann sich die Regierung in der Regel auf die Unterstützung ihrer Fraktionen im Bundestag verlassen – in politischen Syste-men wie etwa in Skandinavien gibt es häufig Minderheitenregie-rungen und »Regenbogen-Koalitionen« wie in Finnland, die sich von Abstimmung zu Abstimmung ihre Mehrheiten organisieren und auch in Europafragen immer wieder Kompromisse eingehen müssen. So musste etwa der im April 2011 gewählte finnische Mi-nisterpräsident Jyrki Katainen die Sondierungsgespräche mit den europaskeptischen Vertretern der »Wahren Finnen« aussetzen, um die Zustimmung des zuständigen Ausschusses im Parlament einzuholen, sodass er auf dem EU-Gipfel am 16. Mai 2011 der Hilfe für das schwächelnde Euro-Mitglied Portugal überhaupt zustim-men konnte. In Dänemark und Österreich ist die europapolitische Kontrolle der eigenen Regierung streng, in den anderen EU-Staa-ten beschränkt sich die Überwachung in der Regel auf Informati-onen im Vorfeld oder im Anschluss an wichtige EU-Entscheidun-gen.

Mit dem »Frühwarnsystem« kommt also auf die nationalen Parla-mente eine neue Aufgabe zu: Die EU-Kommission hat im Juni 2011 einen Bericht vorgelegt, in dem sie die ersten Erfahrungen mit dem neuen System zusammengetragen hat (Europäische Kom-

Abb. 4 Manuel José Barroso, EU-Kommissionspräsident, nach seiner Wiederwahl mit den 26 weiteren Kommissaren. Vor ihrer Ernennung muss die Kommission vom Europäischen Parlament bestätigt werden. Dabei wurde an mehreren Kandidaten Kritik wegen ihrer mangelnden inhaltlichen Kompetenz geäußert. Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion S&D, Martin Schulz, kündigte zudem an, das Parlament werde sein Zustimmungsvotum für die Kommission nur dann geben, wenn diese zuvor zusichere, dass sie während ihrer Amtszeit alle Gesetzesinitiativen des Parlaments aufgreifen werde. Das Initiativ-recht für EU-Rechtsakte liegt formal ausschließlich bei der Kommission. © European Union 2009, PE-EP

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mission 2011). Neben diesem Verfah-ren existiert seit 2006 parallel ein so-genannter »Politischer Dialog« zwischen EU-Kommission und den nationalen Parlamenten. Hier hat sich die Kommission unter ihrem Prä-sidenten José Manuel Barroso dazu verpflichtet, die Forderungen der mitgliedstaatlichen Parlamente ernst zu nehmen und, soweit dies möglich ist, in der eigenen Arbeit zu berücksichtigen. Dies ist also auch eine Art »Frühwarnsystem«, nur ist es eher informell angelegt und rechtlich nicht bindend. In ihrem Bericht hat die Kommission beide Formen der Kommunikation aufgearbeitet: Nach eigenen Angaben hat die EU-Kom-mission im Jahre 2010 insgesamt 387 Stellungnahmen von den mitglied-staatlichen Parlamenten übermittelt bekommen; das war im Vergleich zum Vorjahr eine Zunahme von knapp 60 Prozent.Die mitgliedstaatlichen Parlamente nutzen nach der Analyse der EU-Kommission das neue Instrument unterschiedlich häufig. Hier gibt es offensichtlich einen Zusammenhang zwischen der Stellung eines Parlaments oder einer Kammer im nationalen System und der Häufigkeit der Nutzung des »Politi-schen Dialogs« oder des ›Subsidiaritätsmechanismus‹. Ist das Parlament oder die Kammer eher schwach, bietet die europäi-sche Ebene neue und zusätzliche Möglichkeiten, sich bei der ei-genen Regierung oder auch in Brüssel politisch Gehör zu ver-schaffen.

Die Europäische Bürgerinitiative – ein neues Instrument, um Themen zu setzen

Die »Europäische Bürgerinitiative« (EBI) wurde erst in der Schluss-phase der Verhandlungen des EU-Verfassungskonventes, der im Juli 2003 das Ergebnis seiner Beratungen vorlegte, eingefügt. Der Verfassungsentwurf des Konventes war dann wiederum die Vor-lage für den Vertrag von Lissabon, der nach langem Hin und Her schließlich im Dezember 2009 in Kraft getreten ist. Die EBI ist ein Instrument, mit dem den Bürgerinnen und Bürgern der EU-Staa-ten die Möglichkeit gegeben werden soll, selbst »initiativ« zu wer-den: Sie können, wenn innerhalb von 12 Monaten mindestens eine Million Unterschriften aus mehreren EU-Staaten gesammelt wer-den konnte, die EU-Kommission, welche in der Rechtsetzung das Initiativrecht besitzt, zu der Vorlage eines Gesetzes auffordern. Die Details sind nicht im EU-Vertrag festgeschrieben, sondern in einer Verordnung vom 16. Februar 2011; die Kommission ist im Moment noch dabei, die letzten Fragen etwa in Bezug auf die technische Umsetzung (z. B. Online-Registrierung) zu klären. Dieses neue Instrument ist nicht zu verwechseln mit einem Refe-rendum oder einer Volksabstimmung, wie wir es aus der Schweiz, dem Musterbeispiel der direkten Demokratie, kennen. Der An-spruch und Ansatz der Europäischen Bürgerinitiative ist sehr viel bescheidener – sie soll den Bürgern nur die Möglichkeit geben, die Kommission auf Themen aufmerksam zu machen, die nach Ansicht derjenigen, die hier initiativ geworden sind, ein Problem darstellen, für das eine gesamteuropäische Lösung notwendig ist. Im Unterschied zu Petitionen (»Beschwerden«), die schon nach dem alten Vertrag an das Europäische Parlament gerichtet werden konnten, ist die EBI die direkte Aufforderung an den EU-Gesetzgeber, tätig zu werden. Die EU-Kommission gibt sich in

einem Infoblatt zuversichtlich, dass das neue Instrument, das erst ab dem April 2012 wirksam wird, die Demokratie bereichern werde: »Mit der Bürgerinitiative erhält die öffentliche Debatte (…) mehr Raum. Die Bürger können sich dank dieses Instruments der partizipativen Demokratie intensiver am demokratischen Leben der Union beteiligen« (Europäische Kommission 2010: 3). Es wurde zwar auch viel Kritik an dem neuen Instrument geübt, aber es wird künftig für die politische Partizipation der Bürger als zu-sätzlicher Kanal der Interessenvermittlung wichtig werden. Und es könnte die Rolle von allgemeinen Interessen gegenüber einer mächtig erscheinenden Lobby in Brüssel stärken.

Interessenvertretung und Lobbying in der EU

Brüssel gehört neben Washington zu den Städten auf der Welt, in denen pro Quadratmeter die größte Zahl an Interessenvertreter oder Lobbyisten versammelt sind. Die genaue Zahl kennt nie-mand, aber es sind mehrere zehntausend Vertreter aus ganz un-terschiedlichen Bereichen – Wirtschaftsverbände auf der einen Seite, aber auch Verbrauchergruppen auf der anderen Seite –, die alle versuchen, auf unterschiedliche Art und Weise, die Kommis-sion oder andere Institutionen in Brüssel von ihrem Anliegen zu überzeugen. Da die »ear time« der Kommissionsbeamten und der Abgeordneten im Europäischen Parlament begrenzt ist, haben diejenigen Interessenvertreter die besten Chancen gehört zu werden, welche sich zu europäischen Dachverbänden zusammen-geschlossen haben und deutlich machen können, dass bestimmte Regelungen nicht nur speziell deutsche Unternehmen betreffen, sondern in anderen EU-Staaten auch zum Tragen kommen. Lob-bying ist ein hartes Geschäft und wird – häufig zu recht – auch von vielen Beobachtern und Bürgern sehr kritisch gesehen. Einer-seits sieht sich die EU wie auch der Deutsche Bundestag ver-pflichtet, dem Allgemeinwohl zu dienen und die Gesetze so zu formulieren, dass sie diesem Ziel förderlich sind. In der Praxis sind die Abgeordneten und Kommissionsbeamten aber häufig nur dann in der Lage, technisch und handwerklich gute Gesetze zu formulieren, wenn sie auf Informationen der In-teressengruppen zurückgreifen – der Grat, den sie dabei be-schreiten, ist freilich schmal und eine kritische Öffentlichkeit

Abb. 5 »Alles unter Kontrolle« © Burkhard Mohr, 14.4.2010

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muss immer wieder prüfen, ob wirklich Ein-zelinteressen mehr Gewicht beigemessen wird als den Interessen der Allgemeinheit. Wenn der Eindruck entsteht, dass die Inter-essen eines Industriezweiges dominieren, dann regt sich zu Recht in der Öffentlichkeit, in den Medien, aber auch im Europäischen Parlament entsprechender Widerstand. Dies war zum Beispiel zu beobachten bei den langwierigen Verhandlungen um die Neuge-staltung der europaweiten Lebensmittel-kennzeichnung; das von den meisten Ver-braucherschützern bevorzugte Modell der »Ampel« scheiterte am Ende. Die Lebensmit-telindustrie war durch den massiven Einsatz von Geld und Personal, so die Kritik auch im Europäischen Parlament, in dieser Frage vor kurzem als »Sieger« hervorgegangen (| M 10|–| M 13 |); in anderen Fällen kommt wieder die »Gegenseite« zum Zug.

Fazit

Die Ausführungen haben zeigt, dass die »Bürgermacht« (Roth 2011) im Mehrebenen-system der Europäischen Union durch unter-schiedliche Instrumente gestärkt worden ist – nun kommt es freilich darauf an, dass diese potentielle Macht verantwortungsvoll genutzt wird und der Politik der Europäischen Union eine ähnlich hohe Aufmerksam-keit in den Medien, in der Politik und in der Bevölkerung zu-kommt, wie dies für die nationale Politik selbstverständlich ist. Spätestens die Euro- und Staatsschuldenkrise macht deutlich, dass die Zukunft der Demokratie in Europa abhängig ist von einer Politik, die Verantwortung auf allen Ebenen des Mehrebenensys-tems wahrnimmt (vgl. Große Hüttmann/Knodt 2011).

Literaturhinweise

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Europäische Kommission (2010): Europäische Bürgerinitiative, MEMO/ 10/683, Brüssel, den 15. Dezember 2010.

Europäische Kommission (2011): Bericht der Kommission: Jahresbericht 2010 über die Beziehungen zwischen der Europäischen Kommission und den nati-onalen Parlamenten, Brüssel, den 10.6.2011, KOM(2011) 345 endgültig.

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Große Hüttmann, Martin (2010): Der neue EU-Vertrag und die Perspektiven der europäischen Integration, in: Der Bürger im Staat, Heft 3, S. 244–255.

Große Hüttmann, Martin/Knodt, Michèle (2011): Das Ende der Demokratie in Europa? Intergouvernementalismus, Euro-Krisenpolitik und »Mehrebenen-parlamentarismus« in der EU, in: Gabriele Abels und Annegret Eppler (Hrsg.), Auf dem Weg zum Mehrebenenparlamentarismus? Zukünftige Funk-tionen von Parlamenten im EU-Mehrebenensystem, Baden-Baden (im Er-scheinen).

Große Hüttmann, Martin/Wehling, Hans-Georg (Hrsg.) (2012): Europalexi-kon. Begriffe, Namen, Institutionen, 2., aktualisierte und erweiterte Auf-lage, Bonn (im Erscheinen).

Hrbek, Rudolf (1995): Der Vertrag von Maastricht und das Demokratie-Defi-zit der Europäischen Union – Auf dem Weg zu stärkerer demokratischer Le-gitimation?; in: Randelzhofer, Albrecht/Scholz, Rupert/Wilke, Dieter (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz München, S. 171–193.

Kaczynski, Piotr Maciej (2011): Paper tigers or sleeping beauties? National Parliaments in the post-Lisbon European Political System, CEPS Special Re-port, Februar 2011, Brüssel.

Kietz, Daniela/Ondarza, Nicolai von (2010): Willkommen in der Lissaboner Wirklichkeit; SWP-Aktuell 29, Berlin.

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Roth, Roland (2011): Bürgermacht. Eine Streitschrift für mehr Partizipation, Hamburg.

Schultze, Rainer-Olaf (2011): Partizipation, in: Kleines Lexikon der Politik, he-rausgegeben von Dieter Nohlen und Florian Grotz, 5. Aufl., München, 437–440.

Abb. 6 Demonstration europäischer Milchbauern am 4.5.2011 auf dem »Place du Luxembourg« in Brüssel gegen drohende Einkommensverluste. In Brüssel sind nach Schätzungen rund 10.000 Lobbyisten tätig. © picture alliance

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MATERIALIEN

M 1 Der Vertrag von Lissabon

Titel II: Bestimmungen über die demokrati-schen Grundsätze:Artikel 9:Die Union achtet in ihrem gesamten Handeln den Grundsatz der Gleichheit ihrer Bürgerin-nen und Bürger, denen ein gleiches Maß an Aufmerksamkeit seitens der Organe, Einrich-tungen und sonstigen Stellen der Union zu-teil wird. Unionsbürger ist, wer die Staatsan-gehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.Artikel 10:(1) Die Arbeitsweise der Union beruht auf

der repräsentativen Demokratie.(2) Die Bürgerinnen und Bürger sind auf Uni-

onsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten. Die Mitgliedstaaten werden im Europäischen Rat von ihrem jeweiligen Staats- oder Regierungschef und im Rat von ihrer jeweiligen Regierung vertreten, die ihrerseits in demokrati-scher Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen.

(3) Alle Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, am demokrati-schen Leben der Union teilzunehmen. Die Entscheidungen werden so offen und bürgernah wie möglich getroffen.

(4) Politische Parteien auf europäischer Ebene tragen zur Heraus-bildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union bei.

Artikel 11:(1) Die Organe geben den Bürgerinnen und Bürgern und den re-

präsentativen Verbänden in geeigneter Weise die Möglich-keit, ihre Ansichten in allen Bereichen des Handelns der Union öffentlich bekannt zu geben und auszutauschen.

(2) Die Organe pflegen einen offenen, transparenten und regel-mäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft.

(3) Um die Kohärenz und die Transparenz des Handelns der Union zu gewährleisten, führt die Europäische Kommission umfang-reiche Anhörungen der Betroffenen durch.

(4) Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindes-tens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsan-gehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten han-deln muss, können die Initiative ergreifen und die Europäische Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse geeig-nete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsaktes der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen. (…)

Artikel 12:Die nationalen Parlamente tragen aktiv zur guten Arbeitsweise der Union bei, indem siea) von den Organen der Union unterrichtet werden und ihnen

die Entwürfe von Gesetzgebungsakten der Union gemäß dem Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Eu-ropäischen Union zugeleitet werden;

b) dafür sorgen, dass der Grundsatz der Subsidiarität gemäß dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsi-diarität und der Verhältnismäßigkeit vorgesehenen Verfahren beachtet wird (…).

© Europäische Kommission

M 3 Das Europäische Parlament als »multi-nationales« Parlament

Das Europäische Parlament steht angesichts seiner vielfältigen Zusammensetzung (seine Mitglieder kommen aus über 170 natio-nalen Parteien) vor der Aufgabe, sehr unterschiedliche Interessen zu aggregieren. Eine Schlüsselstellung kommt dabei den Fraktio-nen zu. Schon seit 1952 sind diese nicht nach nationaler Herkunft, sondern nach politischer Ausrichtung organisiert (…). Die Ge-schäftsordnung des Parlaments schreibt vor, dass eine Fraktion aus mindestens 25 Abgeordneten, die in mindestens einem Vier-tel der Mitgliedstaaten gewählt worden sind, zu bestehen hat. Mit dieser Regelung, die gerade bei Parteien des rechten politischen Randes oftmals zu Schwierigkeiten bei der Faktionsbildung führt, soll der transnationale Charakter der Fraktionen sichergestellt werden. Zunehmend spielt auch beim Abstimmungsverhalten der Abgeordneten die Zugehörigkeit zu den Fraktionen eine wichti-gere Rolle als die Nationalität. (…).Eine Besonderheit gegenüber nationalen Parlamenten ist die Ab-wesenheit eines klassischen Regierungs-Oppositions-Schemas. Keine politische Gruppierung verfügt über eine ausreichende Mehrheit und je nach Sachfrage werden Ad-hoc-Mehrheiten ge-sucht. Zwar wird dies von den meisten Abgeordneten begrüßt, da sich dadurch immer wieder neu Möglichkeiten zur persönlichen Einflussnahme bieten; für die Öffentlichkeit ist es dadurch aller-dings schwieriger, politische Verantwortung zuzuordnen.

© Werner Weidenfeld unter Mitarbeit von Edmund Ratka (2010): Die Europäische Union, Paderborn, S. 115–116. Prof. Dr. Werner Weidenfeld ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Europäische Einigung an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung CAP, München.

M 2 Abgeordnete im Europäischen Parlament nach Ländern (seit 2009) © dpa- Infografik

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M 4 Allgemeine Fragen und Antworten zur Europäischen Bürgerinitiative

1. Was steht im Lissabon-Vertrag zur Europäischen Bürgerinitiative?Die Europäische Bürgerinitiative, also ein Volks- oder Bürgerbegehren auf europäi-scher Ebene, wird mit dem Vertrag von Lissa-bon eingeführt. »Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten handeln muss, können die Initiative ergreifen und die Europäische Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechts-akts der Union bedarf, um die Verträge um-zusetzen.« (Artikel 11 Absatz 4 des Vertrags über die Europäische Union). (…) 4. Welchen Nutzen hat die Bürgerinitiative als neues Instrument des Vertrags?Die EU wird weiterhin nach dem Prinzip der repräsentativen Demokratie funktionieren, und die Bürger sind auf EU-Ebene durch das Europäische Parla-ment unmittelbar vertreten. Diese Grundsätze werden im Vertrag von Lissabon erneut bestätigt. Mit der Bürgerinitiative erhält die öffentliche Debatte allerdings mehr Raum. Die Bürger können sich dank dieses Instruments der partizipativen Demokratie in-tensiver am demokratischen Leben der Union beteiligen. Die Kommission behält zwar das Initiativrecht und kann daher nicht gezwungen werden, auf eine Bürgerinitiative hin einen Rechtsakt vorzuschlagen, aber sie muss alle in ihre Zuständigkeit fallenden Initiativen sorgfältig prüfen und abwägen, ob ein Gesetzge-bungsvorschlag angebracht ist. Deswegen ist die Kommission zuversichtlich, dass dieses neue Instrument viel Positives nicht nur zur europäischen Demokratie, sondern auch zur politischen Willensbildung auf der EU-Ebene beitragen wird.5. Was ist der Unterschied zwischen einer Bürgerinitiative und einer Peti-tion?Das Recht, eine Petition an das Europäische Parlament zu rich-ten, gab es schon unter den früheren Verträgen. Es unterscheidet sich ganz erheblich von der mit dem Vertrag von Lissabon einge-führten Bürgerinitiative. Alle Bürger der Union und sämtliche na-türlichen und juristischen Personen mit Wohn- oder Geschäfts-sitz in einem Mitgliedstaat können sich einzeln oder mit anderen gemeinsam mit einer Petition an das Parlament wenden, wenn ihr Anliegen die Tätigkeitsfelder der EU berührt und sie unmittelbar betroffen sind (z. B. Beschwerden). In Petitionen geht es daher nicht notwendigerweise um neue Gesetzgebungsvorschläge. Eine Petition wird an das Europäische Parlament als die direkte Bürgervertretung auf der EU-Ebene gerichtet.Die Bürgerinitiative hingegen ist eine direkte Aufforderung an die Kommission, einen neuen Rechtsakt vorzuschlagen. Allerdings müssen sich mindestens eine Million Bürger dafür aussprechen.

II. Fragen und Antworten zur Verordnung: wie funktioniert die Bürgerini-tiative?1. Wer darf eine Bürgerinitiative organisieren?Bürgerinitiativen müssen von einem Bürgerausschuss mit min-destens 7 Bürgern organisiert werden, die in mindestens 7 ver-schiedenen Mitgliedstaaten wohnen. Die Mitglieder des Bürge-rausschusses müssen Unionsbürger sein und das für die Europawahlen erforderliche Wahlalter erreicht haben (18 in allen Mitgliedstaaten außer Österreich; dort ab 16).

© Europäische Kommission, http://europa.eu/

M 6 Christoph Ziedler: »Europa rückt näher an seine Bürger«, StZ

Die ersten Unterschriften sind schon da. Am vergangenen Don-nerstag übergab die Umweltschutzorganisation Greenpeace in der Brüsseler Kommission Listen mit den Namen von mehr als einer Million EU-Bürgern, die einen Anbaustopp für gentechnisch veränderte Pflanzen fordern. Welche Konsequenzen das hat, ist aber noch unklar, obwohl die Grundzüge schon im seit einem Jahr geltenden Lissabonner Vertrag festgehalten sind. Die exakten Re-gularien aber, wie solche Bürgerwünsche in Europa behandelt werden, sind erst gestern vereinbart worden.Nachdem die 27 Außenminister das Verhandlungsergebnis mit dem Europaparlament absegneten (…), sagte Guido Westerwelle, die neue Bürgerinitiative werde »das manchmal ferne Europa sehr viel näher ans Volk bringen«. Das Ganze sei als »Einladung« zu verstehen, in Brüssel mitzumischen. »Das wird eine grenzüber-schreitende Debatte darüber befördern, was wir in der EU tun und was wir tun sollten«, sagte Maroš Šefcovic, der Vizepräsident der EU-Kommission, zur StZ: »Das kann dazu beitragen, dass sich eine echte europäische Öffentlichkeit entwickelt.«Carsten Berg hat dafür lang gekämpft. Der Brüsseler Vertreter des deutschen Dachverbandes »Mehr Demokratie e. V. » bearbei-tete schon vor acht Jahren die Vertreter des Europäischen Kon-vents während ihrer Arbeit am EU-Verfassungsentwurf, aus dem schließlich der Lissabonner Vertrag hervorging. Er wertet die neue Bürgerinitiative – »das erste transnationale, plebiszitäre Element überhaupt« – denn auch als »Riesenerfolg«, weil sie »nicht auf der Wunschliste der Staats- und Regierungschefs« stand. Jetzt muss sie innerhalb eines Jahres in die nationale Ge-setzgebung der 27 EU-Staaten übernommen werden. Trotzdem stellt das neue Instrument im Vergleich zu den viel weiter gehen-den Wünschen von Carsten Bergs Organisation nur »einen aller-ersten Schritt« dar. Die Hürden, die dafür übersprungen werden müssen, fallen nach der Intervention des Parlaments niedriger aus, als das die Kommission im ersten Gesetzesvorschlag vorge-sehen hat. Es geht damit los, dass sich sieben Menschen aus sie-ben Mitgliedstaaten zu einem sogenannten Bürgerausschuss zu-sammentun müssen. (…) ein klassisches Bürgerbegehren, womit eine bindende Volksabstimmung vorgesehen ist, gehört nicht mit zu dem neuen Gesetzespaket.

© Christoph Ziedler, Europa rückt näher an seine Bürger, Stuttgarter Zeitung, 15.12.2010, S. 2

M 5 Unterzeichnung einer Vereinbarung für die Europäische Bürgerinitiative im Europäischen Parla-ment am 16.2.2011 mit Karol Buzek (Polen), dem Präsidenten des EP. © Europäische Union, 2011, PE-EP

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M 7 Dieter Spöri: »Europa in der Krise: Empört euch!«

So langsam kann einem als Europäer um die Zukunft der EU himmelangst werden. Als ob das Krisenmanage-ment zur Stabilisierung des Euro nicht schon schwierig genug wäre, verstärkt sich jetzt auch noch die Erosion der demokratischen Subs-tanz und damit des eigentlichen ide-ellen Kerns Europas. Das Bedrohliche daran ist jedoch nicht etwa »nur« der Abbau demokratischer Mindeststan-dards in wichtigen Mitgliedsländern, sondern die unfassbare Lethargie und Gelassenheit, mit der die Zerstö-rung zentraler Grundpfeiler einer de-mokratischen Gesellschaft mitten in Europa zur Kenntnis genommen wird.Demokratie wird abgebaut. Es ist doch unfassbar, dass gerade in Ungarn, das mit der EU-Ratspräsi-dentschaft eigentlich eine Avant-garde-Rolle bei der Verteidigung de-mokratischer Grundstandards in Europa spielen sollte, nach der fata-len gesetzlichen Strangulierung der Medienfreiheit jetzt auch noch über eine sogenannte Verfassungsreform Mindestkompe-tenzen des Verfassungsgerichts und künftig zu wählender Regie-rungen mit Zwei-Drittel-Mehrheit ausgehebelt werden.Hier wird Demokratie mitten in der EU legal abgebaut, und was ist die Reaktion in Europa? Ein lauer und damit unwirksamer Pflichtprotest in Brüssel; Leisetreterei, Wegsehen oder gar be-schönigende Solidaritätsadressen europäischer Bruderparteien.Wo ist die Empörung? Diese erschreckende politische Lethargie der europäischen Institutionen wird auch mit Blick auf die Aus-höhlung demokratischer Mindeststandards in einem Gründer-land der EU deutlich: Wo ist der massive Protest der europäischen Demokraten gegen die Verquickung medialer und politischer Macht in Italien, eine Verfilzung, die Berlusconi eine permanente Selbstamnestierung – zuletzt in Form verkürzter Verjährungsfris-ten – erst möglich macht.Oder wo ist der konsequente demokratische Kampf und politi-sche Druck Brüssels gegen die korrupte Verluderung von Justiz und Verwaltung in Rumänien oder Bulgarien? Fehlanzeige, nichts als laue Pflichtübungen und business as usual in Brüssel.Ich frage mich, mit welchem ideellen und moralischen Anspruch eine nach innen so lasche und morsche EU die Fahne demokrati-scher Mindeststandards den autoritären politischen Repräsen-tanten Osteuropas oder den Potentaten in der arabischen Welt präsentieren will.Eine solche EU, die nur ihre ökonomischen Probleme in administ-rativen Expertenkreisen aushandelt und als demokratische Wer-tegemeinschaft verludert, kann einfach keine Begeisterung bei den Menschen entfachen. Nein, die wird so immer mehr zum Spielball nationalistischer Populisten werden – ob in Holland, Finnland, Ungarn oder demnächst Frankreich.

© Dieter Spöri, Europa in der Krise. Empört euch, www.theeuropean.de/dieter-spoeri/ 6460-europa-in-der-krise, 24.4.2011

M 9 »Die Eurofighter«: Junge Menschen demonstrierten im Sommer 2011 angesichts der »Eurokrise« und stellten die Frage, was »Europa« bringt

Europa wackelt finanztechnisch, als historisches Projekt ist es schon bankrott. Die Bürger, besonders die jungen, wissen mit ihrer Union nichts mehr anzufangen, sie sind bestürzt darüber, was die Regierungen mit ihrem Geld veranstalten – und gehen zu Millionen auf die Straße. Wenn man den Griechen Kostas Decou-mes, 24 Jahre alt, nach Europa fragt, beginnt er, auf Angela Mer-kel zu schimpfen. Wenn man den Spanier Oleguer Sagarra, 25 Jahre alt, fragt, dann ist Europa die letzte Chance auf Arbeit. Wenn man den Iren Karl Gill, 21 Jahre alt, fragt, dann schimpft er auf die Banken. (…) Europa – so sehen sie es – ist dabei, sie arm zu machen. Sie melden sich zu Wort, üben Druck aus auf ihre Regie-rungen, so wie die Finanzmärkte Druck ausüben. (…)Nun, wo es ungemütlich wird und vielleicht teuer, wird die euro-päische Idee neu geprüft, gerade von denen, deren Zukunft von dieser Idee bestimmt wird wie nie zuvor. Und sie, die sich bisher kaum für diese [Europäische] Kommission, dieses Parlament, diese Bürokratie interessierten, weil sie davon ausgingen, dass sie sich dafür nicht interessieren sollten, lesen nun jeden Tag, dass die europäischen Staatsmänner mit der europäischen Idee seltsame Dinge veranstaltet haben: ihre eigenen Vorschriften hintergangen, Statistiken gefälscht, Versprechungen gebrochen zum Beispiel. (…) Gerade die jungen Europäer aus Lissabon, Bar-celona, Lyon, Dublin, Athen und sonst wo – das ist das Paradoxe – brauchen eine starke Union. Eine Union, die die Arbeit neu ver-teilt in Europa; die Banken und Spekulanten anders kontrolliert, als es nationale Regierungen können; die den Umgang mit Atom-kraft und Atommüll und die Energiewende europäisch regelt; die den Klimaschutz der Länder koordiniert. Kurzum: Sie brauchen eine [Europäische] Union, die nicht mehr lebt, weil politische Ro-mantiker aus der Nachkriegsgeneration sie am Leben halten wol-len, sondern die lebt, weil die Europäer von morgen sie als große Chance begreifen.

© Der Spiegel, Nr. 25/2011, S. 47ff.: »Die Eurofighter«

M 8 »Der EU- Kommission« – neue Aufschrift auf dem Deutschen Bundestag? © Klaus Stuttmann 2005

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M 10 Pressemitteilung Nr. 17391/10 des EU-Ministerrates zur Neufassung der europaweit einheitlichen Kenn-zeichnung von Lebensmitteln vom 17.12.2010

The Council on charge of Employment, Social Policy, Health and Consumer Affairs (EPSCO) today reached political agreement, at first reading, on a draft regulation on food infor-mation to consumers (…). This new piece of legislation is aimed to ensure that food labels carry essential information in a clear and leg-ible way, enabling herewith consumers to make informed and balanced dietary choices.One of the key elements agreed by the Coun-cil is the mandatory nature of the nutrition declaration: the labelling of the energy value and the quantities of some nutrients (fat, saturates, carbohydrates, protein, sugars and salt) should be-come compulsory.As a general principle, the energy value and the amounts of these nutrients would have to be expressed per 100 g or per 100 ml, but could also be indicated as a percentage of reference intakes. However, food business operators could also use additional forms of expression or presentation as long as certain conditions are met (e.g they do not mislead consumers and are supported by evidence of understanding of such forms of expression or presen-tation by the average consumer). All elements of the nutrition declaration should appear together in the same field of vision but some elements may be presented on the “front of pack”.The Council also agreed that the labelling of the country of origin should, as currently, be compulsory if a failure to do so would mislead the consumers. Moreover, compulsory labelling of the country of origin would be requested for several types of meat (porc, lamb, and poultry), subject to implementing rules. [Foot-note: Beef is already subject of compulsory labelling of the coun-try of origin through a separate piece of legislation]. In addition, the Commission should submit within three years after the entry into force of the new regulation a report examining the possible extension of the compulsory labelling of the country of origin to further products (milk, milk used as an ingredient, meat used as an ingredient, unprocessed foods, single-ingredient products, ingredients that represent more than 50 % of a food).

© Council of the European Union: Council agrees on new labelling rules for food, Brussels, 7 December 2010, 17391/10, PRESSE 332 (Download über: http://www.consilium.europa.eu/Newsroom).

M 11 Die Verbraucherschutzorganisation »Foodwatch« zuM Aus für das »Ampel«-Modell bei der Lebensmittel-kennzeichnung

Keine Nährwertangabe auf der Vorderseite von Verpackungen, eine Mini-Schriftgröße von 1,2 Millimetern und der Ausschluss einer verpflichtenden Ampel – der Beschluss der EU-Minister zur Lebensmittelkennzeichnung ist eine schallende Ohrfeige für die Verbraucher. Das Ziel, mit einer leicht verständlichen Nährwert-kennzeichnung gegen Übergewicht und ernährungsbedingte Krankheiten vorzugehen, haben die Minister zugunsten der Le-bensmittelindustrie geopfert. Was die Verbraucherminister der 27 EU-Minister heute in Brüssel zur Kennzeichnung von Lebens-mitteln beschlossen haben, freut die Lebensmittelindustrie: »Die Lebensmittelwirtschaft hat die Entscheidung der EU-Verbrau-cherminister für eine einheitliche Nährwertkennzeichnung in Eu-ropa begrüßt. Ihr Spitzenverband, der Bund für Lebensmittel-recht und Lebensmittelkunde e. V. (BLL), sieht darin auch eine

Anerkennung für die Bemühungen der Branche, (…)«, trium-phierte sie in einer Pressemitteilung. Wessen Interessen für die Entscheidung ausschlaggebend waren, lässt sich kaum deutli-cher ausdrücken. Der Beschluss der Minister [vom 7.12.2010] ist die Grundlage für die Verhandlungen des Rates mit dem Europäi-schen Parlament über eine neue Lebensmittelkennzeichnung. (…) Mit diesen Entscheidungen fallen die europäischen Verbrau-cherschutzminister weit hinter das Votum des EU-Parlaments vom Juni 2010 zurück. Bei der Abstimmung im Europäischen Par-lament waren auch Anträge zu einer verpflichtenden Ampelkenn-zeichnung eingebracht worden und relativ knapp gescheitert. Wie geht es nun weiter? Der Verordnungsentwurf geht nun vom Ministerrat wieder zurück an das Parlament. Damit die Verord-nung in Kraft treten kann, müssen sich Ministerrat und EU-Parla-ment über die neue Vorschriften einigen – formal entschieden ist also noch nichts.

© »Foodwatch«: »EU-Minister: Rot für die Ampel und Mini-Schrift«, 7.12.2010, www. foodwatch.de

M 13 Die Reaktion von »Foodwatch« auf den Beschluss des Europäischen Parlaments im Juli 2011

Nach jahrelangen Diskussionen darüber, welche Informationen Verbraucher in Zukunft im Supermarkt bekommen sollen, hat das EU-Parlament die Lebensmittelinformationsverordnung heute endgültig verabschiedet. Fazit: Die Ernährungsindustrie hat sich durchgesetzt. Nicht nur keine Ampel, sondern gar keine Pflicht-Angaben zum Nährwert auf der Vorderseite. Keine Information über die Herkunft außer bei Frischfleisch. Mini-Schriftgröße von 1,2 Millimetern. Die Strategie der Lebensmittellobby im jahrelan-gen Kampf hinter den Kulissen ist aufgegangen: Verkaufspsycho-logen, Texter und Werbegrafiker dürfen potenzielle Kunden auf der Produktvorderseite weiter nach Lust und Laune verführen und verwirren. Angaben zum Nährwert müssen sich zwar auf ein-heitliche 100 Gramm bzw. Millimeter beziehen, dürfen aber auf der Rückseite der Verpackung versteckt werden. Um die ver-pflichtende Nährwert-Ampel zu verhindern, hatte die Ernäh-rungsindustrie eine Milliarde investiert. (…) Im Europäischen Par-lament hat sich zwar eine Reihe von Abgeordneten redlich um mehr Verbraucherrechte durch bessere Kennzeichnungsregeln bemüht. Doch die Machtverhältnisse in Europa liegen anders.

© Foodwatch«: »EU-Parlament beschließt neue Kennzeichnungsregeln«, 6.7.2010, www.foodwatch.de

M 12 Das »Aus« für die Kennzeichnungspflicht mit Hilfe einer Ampel in der EU, wie sie in Großbritan-nien üblich ist. Die Verbraucherorganisation Foodwatch macht dafür den Lobbyismus in der EU verantwortlich © picture alliance, dpa

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derer Stelle und eine Politik für mehr Chancengerechtigkeit zu ergänzen. Auch von den Wählern der aufstiegsorientierten Mit-telschichten, die man zuvor erfolgreich umworben hatte, wand-ten sich die meisten jetzt enttäuscht wieder ab.

»Mehr Pluralität – weniger Polarisierung«

Der Wandel der Parteiensysteme in den westeuropäischen Demo-kratien lässt sich auf die Kurzformel bringen: »Mehr Pluralität – weniger Polarisierung« (Richard Stöss). Die Zunahme der Frag-mentierung ist am rückläufigen Stimmenanteil der beiden großen – sozialdemokratischen und christdemokratisch-konser-vativen – Parteienfamilien ablesbar. Deren Verlusten stehen Zu-wächse anderer, kleinerer Parteien gegenüber, von denen einige in den Parteiensystemen bereits vorhanden waren, aber bis dahin eine Randrolle gespielt hatten, während andere Parteien ganz neu entstanden und sich in der Folgezeit fest etablieren konnten. Zu der erstgenannten Gruppe gehören unter anderem die libera-len Parteien und einige regionalistische Vertreter, zu der letztge-nannten Gruppe die ökologischen und die rechtspopulistischen Parteien. Eine nochmals eigene Gruppe bilden jene alteingeses-sene Parteien, die – wie die österreichische FPÖ oder die Schwei-zerische Volkspartei – einen nachhaltigen Gestaltwandel durch-liefen und somit de facto Neuerscheinungen darstellten.Hinter den Durchschnittswerten (| Abb. 2 |) verbergen sich enorme Unterschiede zwischen den einzelnen politischen Syste-men. Zu den Ländern mit der geringsten Fragmentierung gehö-ren – aufgrund des Wahlrechts – erwartungsgemäß Großbritan-nien, aber auch die jungen Demokratien Griechenlands, Spaniens und Portugals, die erst 1981 bzw. 1986 zur Europäischen Union dazu stießen. In diesen vier Ländern lag die Zahl der effektiven Parteien auf der elektoralen Ebene im betrachteten Zeitraum stets unter vier, allerdings mit unterschiedlicher Entwicklungs-

Ein Vergleich der Parteiensystement-wicklung in den europäischen Demo-

kratien offenbart neben charakteristi-schen Unterschieden einige signifikante Gemeinsamkeiten. Die Unterschiede rüh-ren einerseits aus den spezifischen histori-schen Entstehungsbedingungen der Par-teiensysteme, andererseits aus den ungleichen Startpunkten der Demokrati-sierung. So lassen sich z. B. Abweichungen der Parteiensystemstrukturen in den jun-gen Demokratien Ostmitteleuropas von den älteren Demokratien erklären oder bis heute nachwirkende Unterschiede zwi-schen den nord- und westeuropäischen Systemen und den demokratischen Nach-züglern an der südeuropäischen Peripherie (Spanien, Portugal, Griechenland). Für die Gemeinsamkeiten zeichnen wiederum übergreifende gesellschaftliche und politi-sche Entwicklungen verantwortlich, die über die verschiedenen Länder zur selben Zeit und in ähnlicher Weise hereingebro-chen sind und sie in ähnlicher Weise betref-fen. Ablesen lassen sich diese Entwicklun-gen an der Entstehung neuer Parteien infolge neuer gesellschaftlicher Konfliktlinien und an wech-selnden Phasen der Regierungsdominanz. So trug die mit der Entstehung der Grünen einhergehende Schwächung der Sozi-aldemokratie in den Achtzigerjahren zur Hegemonie der Mitte-Rechts-Parteien bei, während die Wahlerfolge der neuen Rechtsparteien in den Neunzigerjahren umgekehrt mithalfen, dass zu dieser Zeit überwiegend Mitte-Links-Par-teien die Regierungen stellten. Aus dem von Ralf Dahrendorf in den Siebzigerjahren ausgerufenen »Ende des sozialdemo-kratischen Zeitalters« war unverhofft oder unerwartet »das sozialdemokratische Jahrzehnt« geworden, so der damalige österreichische Bundeskanzler Viktor Klima.

»Das sozialdemokratische Jahrzehnt« (1990–2000)

Ursächlich für das Rollback der Sozialdemokratie war zum einen die veränderte Bündnisstrategie des Mitte-Rechts-Lagers, das sich koalitionspolitisch in Richtung der Rechtspopulisten öff-nete. Zum anderen bewegte sich die sozialdemokratische Regie-rungspolitik durchaus im Einklang mit dem neoliberalen Main-stream der Sozial- und Wirtschaftspolitik, den sie zum Teil noch beförderte. Dass die Stimmenverluste der sozialdemokratischen Parteien in dieser Dekade deutlich höher ausfielen als in den Achtzigerjahren, lag vor allem am Ansehens- und Glaubwürdig-keitsverfall unter ihren Traditionswählern. Von diesen liefen ei-nige direkt zu den Rechtspopulisten über, während andere der Wahl fernblieben oder in den linkssozialistischen Parteien eine neue Heimat fanden. Die Sozialdemokraten bemühten sich zwar, die von ihnen eingeleiteten oder übernommenen Umbaumaß-nahmen des Wohlfahrtsstaates programmatisch anschlussfähig zu machen. Dies taten sie aber entweder erst nachträglich, oder sie versäumten es, die Einschnitte durch Umverteilungen an an-

POLITISCHE PARTIZIPATION IN EUROPA

5. Neue Konturen der Parteienlandschaft in Europa

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Abb. 1 Sitzverteilung im Europaparlament nach der letzten Wahl 2009 © dpa-Infografik

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tendenz: Während in Groß-britannien die Fragmentie-rung seit 1991 kontinuierlich zugenommen hat, ist sie in Griechenland und Portugal konstant geblieben, in Spa-nien sogar gesunken.Unter den Ländern mit tradi-tionell eher geringer Frag-mentierung verzeichneten Österreich und die Bundesre-publik Deutschland zuletzt einen deutlichen Anstieg, während die Werte für Irland nahezu gleich blieben und für Luxemburg leicht abnahmen. Bemerkenswert ist, dass unter den Ländern mit hoher Fragmentierung – die Zahl der effektiven Parteien liegt hier über fünf – nur ein einzi-ges Land (Frankreich) eine rückläufige Tendenz auf-weist; in den übrigen Fällen blieb der Wert auf hohem Ni-veau (Belgien, Finnland, Schweden) oder nahm er noch weiter zu (Dänemark, Niederlande). Unter dem Strich ergibt sich damit für die westeuropäischen Län-der ein (nur) leichter Anstieg der Fragmentierung, der mit einer Abschwächung vorhandener Asymmetrien in den Parteiensyste-men einhergeht (so z. B. in Schweden oder Italien).Dass die zunehmende Fragmentierung der Parteiensysteme nicht von einer gleichlautenden Polarisierung begleitet wurde, lag vor allem im Niedergang des Kommunismus begründet. Der Um-bruch in Osteuropa und die Auflösung der Sowjetunion führten dazu, dass die kommunistischen Parteien auch im Westen an Un-terstützung stark verloren oder sich zu quasi-sozialdemokrati-schen Parteien transformierten. Auch am rechten Rand des Par-teiensystems wurden die seit Mitte der Achtzigerjahre erzielten Wahlerfolge weniger von den extremistischen als von den neu entstandenen populistischen Vertretern gespeist, die eine gemä-ßigtere Linie verfolgten. Weil die Parteien der etablierten Rech-ten deren Positionen in der Folge zum Teil übernahmen, haben sich die Parteiensysteme in Westeuropa auf der kulturellen Kon-fliktachse zuletzt nach rechts bewegt, nachdem sie in den Achtzi-ger- und Neunzigerjahren einen Wandel in der umgekehrten Richtung durchlaufen hatten.

Der neue Rechtspopulismus

Die einschneidendste Veränderung der westeuropäischen Partei-ensysteme in den letzten beiden Jahrzehnten ist von den neuen Rechtspopulisten ausgegangen. Als Front National, Lega Nord, Vlaams Blok und FPÖ Mitte der Achtzigerjahre auf den Plan traten und die ersten spektakulären Wahlerfolge erzielten, war man ge-neigt, sie als flüchtige Protesterscheinungen abzutun, wie es sie in den westlichen Demokratien schon immer gegeben hatte. Die nachfolgende Entwicklung sollte dies widerlegen. Nicht nur, dass die Pioniere des neuen Populismus ihre Stellung halten und sogar noch weiter ausbauen konnten. Das Phänomen begann sich nun auch auf andere Länder zu erstrecken und die gesamte Sphäre der Wahlauseinandersetzung zu umfassen. Sieht man von einigen Ländern an der westeuropäischen Periphe-rie ab (Großbritannien, Irland, Spanien, Griechenland), sind die rechtspopulistischen Herausforderer heute fast überall präsent. In Dänemark und Norwegen feierten die Neugründungen schon in den Siebzigerjahren Erfolge, an die sie – nach einer Durststre-

cke – ab Ende der Achtzigerjahre mit einer veränderten program-matischen Agenda anknüpfen konnten. In anderen Fällen ent-puppten sich die populistischen Vertreter als erfolgreiche Nachahmer und Nachzügler, so z. B. in der Schweiz, wo die Volks-partei unter Christoph Blocher ihre Wandlung zum Populismus erst in den Neunzigerjahren vollzog und in der Folge zur stärksten Partei des Landes avancierte. In Italien war Silvio Berlusconi die-ses Kunststück schon vorher gelungen. Die von ihm 1994 gegrün-dete Sammlungsbewegung Forza Italia traf freilich auf besonders günstige Bedingungen, konnte sie doch in ein elektorales Va-kuum hineinstoßen, das nach dem Totalzusammenbruch des ita-lienischen Parteiensystems Anfang der Neunzigerjahre entstan-den war. Besonders spektakulär geriet des Weiteren der Aufstieg des Niederländers Pim Fortuyn, der bei den Parlamentswahlen im Jahre 2002 mit seiner Liste aus dem Stand 17 Prozent der Stim-men erzielte. Fortuyns Ermordung bremste den Siegeszug des Rechtspopulismus nur kurzzeitig. Dessen Banner wurde anschlie-ßend von der Freiheitspartei unter Geert Wilders weiter getragen, die Fortuyns Erfolg bei der Parlamentswahl 2010 wiederholte und seither sogar an der Regierung des Landes mittelbar beteiligt ist. Einen vergleichbaren Wahlerfolg erzielten – als vorerst letzter Neuankömmling – im April 2011 die »Wahren Finnen« unter Timo Soini, die mit einer Kampagne gegen den Euro und die von der EU beschlossenen Transferzahlungen ihr Ergebnis von 2007 auf 19 Prozent annähernd verfünffachen konnten.Das in etwa zeitgleiche Aufkommen der rechtspopulistischen He-rausforderer in den Achtzigerjahren lenkt den Blick auf die ge-meinsamen, länderübergreifenden Ursachen. Die Parteienfor-schung hat die neuen Rechtsparteien als eine Folgeerscheinung gesellschaftlicher Modernisierungskrisen interpretiert. Dies ist keine sonderlich originelle Erkenntnis. Populistische Bewegun-gen, die gegen die Konsequenzen von Modernisierungsprozessen zu Felde ziehen, hat es bereits zu früheren Zeiten gegeben – man denke nur an die ausgangs des 19. Jahrhunderts in den USA ent-standene »Populist Party« (der das Phänomen seinen Namen ver-dankt) oder die »Poujadisten« in der IV. Französischen Republik.

Globalisierung als Chiffre der Systemkritik

Die heutigen Modernisierungsfolgen unterscheiden sich von ihren historischen Vorläufern freilich in einem entscheidenden

Abb. 2 Wahlergebnisse der sozialdemokratischen und christdemokratisch-konservativen Parteien in Westeuropa seit 1976 (EU 15) © Frank Decker, 2011

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Christdemokraten/KonservativeSozialdemokraten

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Punkt: Handelte es sich früher um räumlich und zeitlich versetzte Erscheinungen, so rücken im Zeichen der Globalisierung die Ge-sellschaften in ihrer Problembetroffenheit immer mehr zusam-men. Die Globalisierung ist deshalb zu einer Chiffre der System-kritik ganz unterschiedlicher (nicht nur rechter) ideologischer Positionen geworden, die die Gleichzeitigkeit des Parteiensys-temwandels in den einzelnen Ländern erklärt.

Ihre Auswirkungen lassen sich in drei Aspekten beschreiben: – Ökonomisch münden sie in einen allmählichen Abbau wohl-

fahrtsstaatlicher Sicherungen, der die Polarisierung zwischen Arm und Reich verschärft und wachsende Teile der Mittel-schicht mit Abstieg bedroht. Die Betroffenen müssen dabei nicht zwingend objektive Verluste erleiden (des Einkommens oder des Arbeitsplatzes). Entscheidend ist das Gefühl der ei-genen Benachteiligung, das sich aus der Orientierung an be-stimmten Erwartungen oder Referenzgruppen ergibt. Ein sol-ches Gefühl kann sich auch bei Gewinnern einstellen, wenn sie glauben, im Verteilungskampf von anderen ausgenommen zu werden.

– In kultureller Hinsicht bedeutet Globalisierung, dass Diffe-renzen des Lebensstils und der moralischen Orientierung sichtbarer werden. Da sich die Migration heute – anders als früher – in zunehmenden Maße auch auf Angehörige anderer Kulturkreise erstreckt, verwandeln sich die einstmals homo-genen Nationen über kurz oder lang in multiethnische und -kulturelle Gesellschaften. Die Konfrontation mit den Frem-den wird von Teilen der eingesessenen Bevölkerung als Verlust der hergebrachten Identität empfunden. Dieser Verlust wiegt um so schwerer, als im Zuge von Individualisierungsprozessen auch andere Gruppenbindungen in Auflösung geraten.

– Soziale Unsicherheit und Entfremdung führen schließlich dazu, dass Teile der Gesellschaft sich politisch nicht mehr aus-reichend repräsentiert fühlen. Da der Staat seiner souveränen Handlungsfähigkeit durch die Globalisierung zunehmend be-raubt wird, kann er dies nicht mehr ohne Weiteres durch Leis-tungssteigerung wettmachen. Verloren gegangene Hand-lungsspielräume lassen sich zwar auf der supra- und transnationalen Ebene partiell zurückgewinnen; gerade da-durch werden sie aber der demokratischen Kontrolle und Be-

einflussbarkeit entzogen, die bislang aus-schließlich im nationalstaatlichen Rahmen ihren Platz hatten.

Regionalistische Populismen und die europäische Integration

Richtet man die Aufmerksamkeit auf die Par-teien im einzelnen, so geraten neben diesen allgemeinen Ursachen eine Reihe von ande-ren Entstehungsgründen in den Blick, die stärker system- und kontextspezifisch inter-pretiert werden müssen. Während die öko-nomischen (verteilungsbezogenen) und kul-turellen (wertebezogenen) Konflikte durch die gesellschaftsübergreifenden Modernisie-rungsprozesse in dieselbe Richtung gelenkt werden, wurzeln die systemischen Konflikte primär in den historischen, institutionellen und kulturellen Eigenarten der nationalen Politik. Die Virulenz der politischen Faktoren zeigt sich besonders geballt bei den regiona-listischen Populismen – wenn eine Partei oder Bewegung für größere Autonomie oder die Loslösung ihrer Region vom Gesamtstaat streitet – sowie in sogenannten Konkordanz-demokratien, in denen die großen Parteien ein Herrschaftskartell errichten und die Eli-

ten zur Abgehobenheit neigen (Beispiele sind Österreich oder die Niederlande). Wie der Fall der Lega Nord zeigt, können beide As-pekte auch zusammentreffen und damit ein besonders explosi-ves Gemisch bilden. Überhaupt werden populistische Parteien umso erfolgreicher sein, je mehr es ihnen gelingt, aus den ökono-mischen, kulturellen und politischen Krisenerscheinungen gleichzeitig Kapital zu schlagen und sie zu einer programmati-schen Gewinnerformel zu verbinden. Letzteres könnte auch erklären, warum die europäische Einigung in den letzten Jahren zu einem immer wichtigeren Mobilisie-rungsthema der neuen Rechtsparteien geworden ist. Folgt man der Argumentation der Rechtspopulisten, dann steht die EU stell-vertretend für sämtliche Negativfolgen, die den Modernisie-rungsprozess tatsächlich oder angeblich begleiten: materielle Wohlstandsverluste, multikulturelle Überfremdung und Krise der politischen Repräsentation. Die sonst so abstrakte Globalisie-rung findet mit ihr einen konkreten Schuldigen. Die Gewinnerformel des neuen Rechtspopulismus wird in Europa heute unter anderem von der österreichischen FPÖ, der Schwei-zerischen Volkspartei und die niederländische »Partei für die Frei-heit« verkörpert. Dass diese Parteien ideologisch zu den eher ge-mäßigten Populismen gehören, dürfte zu ihrem Erfolg gewiss mit beigetragen haben. Allerdings zeigt das Beispiel »Front Natio-nal«, dass auch extremistisch ausgerichtete Vertreter hohe Wahl-ergebnisse erzielen können, wenn sie über ein entsprechendes programmatisches Fundament verfügen.

Parteiensystem in Mittelosteuropa: rückläufige Fragmentierung

Aufschlussreich ist ein Vergleich der Parteiensystementwicklung in den alten und jungen Demokratien. Die Angleichungs- treten hier gegenüber den abweichenden Tendenzen zunehmend her-vor. Die Angleichung vollzieht sich dabei in beiden Richtungen. Auf der einen Seite nehmen die Parteiensysteme der jungen De-mokratien Phänomene vorweg, die sich auch in den alten Demo-kratien beobachten lassen: hohe Volatilitätswerte, Abwahl der amtierenden Regierungen, starke Resonanz populistischer Kräfte. Auf der anderen Seite haben sie sich den westeuropäi-

Abb. 3 Rechtspopulismus in den Niederlanden: Geert Wilders, Vorsitzender der PVV (Mitte), wurde 2011 in den Niederlanden wegen Volksverhetzung angeklagt, schließlich aber freigesprochen. Die Partei »Partij voor de Vrijheid« (PVV, deutsch Partei für die Freiheit), ist eine rechtspopulistische Partei. Sie er-hielt bei den Parlamentswahlen von 2010 24 Mandate (15,5 Prozent). Damit ist die PVV die drittstärkste politische Kraft in den Niederlanden. Die Partei hat als einziges Mitglied ihren Gründer Geert Wilders. Das Hauptthema der Partei ist der Islam, zu dessen Bekämpfung sie offen aufruft. © picture alliance, 2011

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schen Ländern in positiver Hinsicht angenähert, indem die Konzentration der Partei-ensysteme und deren Stabili-tät insgesamt zugenommen hat. Am Zahlenwert der ef-fektiven Parteien gemessen wiesen die mittelosteuropäi-schen Parteiensysteme im Zeitraum 2006 bis 2010 den-selben Fragmentierungsgrad auf wie die westeuropäi-schen. Auch die Bandbreite der effektiven Parteienzahl ist in beiden Teilen des Konti-nents ähnlich groß; sie reicht in Mittelosteuropa von unter drei (Ungarn) bis über sechs bzw. sieben (Tschechien und Lettland).Die rückläufige Fragmentie-rung weist darauf hin, dass sich Parteibindungen allmäh-lich auch in den mittelosteu-ropäischen Staaten aufbauen und das Wahlverhalten ent-lang sozialer Merkmale strukturieren. Alter, Bildung, Religion, ethnische Herkunft und berufliche Stellung wir-ken auf die ideologischen Präferenzen ein, und die Wähler ent-scheiden sich für diejenigen Parteien, die programmatisch ihren Interessen am meisten entgegenkommen. Das Verhalten von Parteien und Wählern wird in den postkommunistischen Staaten demnach ebenso von gesellschaftlichen Konfliktlinien (»cleava-ges«) geprägt wie in den alten Demokratien Westeuropas. Es bleiben allerdings einige markante Unterschiede. Erstens sind die sozialen Gruppenzugehörigkeiten in Mittelosteuropa infolge des gesellschaftlichen Transformationsprozesses unbeständiger und das Wahlverhalten entsprechend wechselhafter. Zweitens weichen die Strukturen der Konfliktlinien deutlich voneinander ab. Der sozialökonomische Konflikt ist durch eine noch größere Kluft zwischen Gewinnern und Verlieren der Modernisierung ge-kennzeichnet, als sie sich in den westeuropäischen Ländern auf-tut. Auf der kulturellen Achse drängen Nationalitätenprobleme sowie Fragen der Außenpolitik und europäischen Integration in den Vordergrund, während die in Westeuropa dominierenden Themen Einwanderung und Umwelt nur eine Randrolle spielen. Zentrale Bedeutung kommt schließlich dem vergangenheitspoli-tischen Cleavage zu, also dem Umgang mit dem untergegange-nen kommunistischen Regime. Die Konfliktstrukturen erklären, warum die mittelosteuropäi-schen Parteiensysteme wesentlich stärker polarisiert sind als die westeuropäischen. Statt zu versuchen, die durch die Cleavages aufgerissenen Gräben zu überwinden, begegnen sich die politi-schen Eliten hier zum Teil in unverhohlener Feindschaft. Die positive Kehrseite der Polarisierung besteht darin, dass sie die Parteiensysteme auch nach den Rändern hin integriert; dies wirkt der Fragmentierung entgegen. Symptomatisch dafür ist, dass der Populismus in einigen mittelosteuropäischen Ländern nicht nur ein Außenseiterphänomen darstellt, sondern – inner-halb des Mitte-Rechts-Lagers – die ideologische Hauptströmung repräsentiert (Polen, Slowakei, Ungarn).

Elitegesteuerte Parteien als Trendsetter

Auch in organisatorischer Hinsicht sind die Entwicklungen zum Teil gegenläufig. Elitengesteuerte Parteien, die ohne breite Mit-

gliederorganisation auskommen, über die Massenmedien unmit-telbar mit den Wählern kommunizieren und in ihren Ressourcen überwiegend vom Staat abhängig sind, bildeten in den jungen Demokratien von Beginn an den Normalfall. Die mittelosteuropä-ischen Parteiensysteme erwiesen sich damit als Trendsetter für die westeuropäischen Länder, wo die schwächer werdende gesell-schaftliche Verankerung der Parteien einen vergleichbaren Orga-nisationswandel bedingt. Gleichzeitig bleibt jedoch der Professi-onalitätsgrad der Parteieliten in den MOE-Staaten gering. Das hat zum einen mit dem diskontinuierlichen Wahlverhalten der Bevölkerungen zu tun, das eine solche Professionalisierung be-wusst nicht zulässt, zum anderen liegt es an fehlenden histori-schen Erfahrungen. Die einstweilen noch größere Krisenanfällig-keit der mittelosteuropäischen Parteiensysteme, die an der raschen Folge von Abspaltungen und Neugründungen abgelesen werden kann, stellt also primär ein Problem der Akteursseite dar.

Literaturhinweise

Decker, Frank (2004): Der neue Rechtspopulismus, 2. Aufl., Opladen.

Decker, Frank, Hg. (2006): Populismus in Europa. Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv?, Bonn.

Hartleb, Florian (2011): Nach ihrer Etablierung – Rechtspopulistische Par-teien in Europa, Sankt Augustin / Berlin (Konrad-Adenauer-Stiftung).

Helms, Ludger (2008): Konvergenz- und Divergenzaspekte der Parteiensys-tementwicklung in der Ära der Europäisierung: Ost- und Westeuropa im Ver-gleich, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 37 (1), S. 11–27.

Niedermayer, Oskar (2010): Konvergenz oder andauernde Diversität? Die strukturelle Entwicklung der europäischen Parteiensysteme 1990–2010, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 8 (3), S. 340–357.

Tiemann, Guido (2011): Parteiensysteme: Interaktionsmuster und Konsoli-dierungsgrad, in: Florian Grotz / Ferdinand Müller-Rommel (Hg.), Regie-rungssysteme in Mittel- und Osteuropa, Wiesbaden, S. 127–146.

Abb. 4 Fragmentierung der Parteiensysteme in West- und Mittelosteuropa (EU 15 + MOE 10, außer Malta und Zypern). © Frank Decker, 2011, eigene Berechnungen. Zugrunde gelegt wurden die Durchschnittswerte der effektiven Parteien auf der elektoralen Ebene.

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Materialien

M 1 Patrick Seyd: »Entwicklung der Mitgliedschaft bei den europäischen Parteien der Mitte.«

Im Jahr 1954 sagte der berühmte französische Politikwissenschaftler Maurice Duverger in einer Publika-tion voraus, dass die mitglieder-starke Volkspartei – also die Partei, in der einzelne, beitragszahlende Mitglieder in Ortsvereinen organi-siert sind, in denen sie bei der Festle-gung der politischen Ziele eine wich-tige Rolle spielen – die Partei der modernen Demokratien sei. Über 50 Jahre später hat sich seine Vorher-sage aufgrund der aktuellen Situa-tion in Europa als falsch erwiesen. Während Parteien in der Regierung stark bleiben, sind sie an der Basis schwach geworden.Die Mitgliederzahlen der Parteien gehen zurück. Forschungsergebnisse zeigen, dass die Anzahl der Partei-mitglieder zwischen 1980 und 2000 in fast allen europäischen Ländern ge-sunken ist. Die jüngsten europäi-schen Sozialstudien (…) haben erge-ben, dass unter 20 europäischen Ländern in nur sechs (Dänemark, Griechenland, Irland, Luxemburg, den Niederlanden und Spa-nien) die Parteimitgliedschaft gestiegen ist. Die mitgliederstarke Volkspartei ist durch einen neuen Parteitypus ersetzt worden: eine Partei, die einen professionellen Wahlkampf organisiert und in der die wichtigen, führenden Politiker wirksam vermarktet werden und von Meinungsforschern und Werbefachleuten umge-ben sind. In solchen Parteien spielen die Mitglieder in den Orts-vereinen nur eine geringe Rolle und haben wenig Bedeutung.Es gibt zahlreiche Gründe für diesen Rückgang der Parteimit-gliedschaft. Erstens sind die Menschen weniger motiviert, partei-politisch aktiv zu werden. Ihr Leben ist sicherer geworden, und sie haben sich einen individuellen Lebensstil angewöhnt. Zweitens haben sich viele der gesellschaftlichen Gruppen, aus denen Mit-glieder rekrutiert wurden, verändert. Heute sind beispielsweise mehr Frauen berufstätig. Das führt dazu, dass die Anzahl derer, die früher die Zeit hatten, sich an den Aktivitäten der Partei zu beteiligen, gesunken ist. Drittens gibt es heute viel mehr Interes-sengruppen, die nun mit den Parteien um das Engagement der Mitglieder in der Öffentlichkeit konkurrieren. Viertens brauchen die Parteien heute ihre Mitglieder nicht mehr so sehr für den Wahlkampf oder das Beschaffen von Geldmitteln.Der Wahlkampf wird heutzutage hauptsächlich über die Medien und die Werbung ausgetragen, und die Parteien bekommen ihre finanziellen Ressourcen entweder vom Staat oder von wohlha-benden Spendern und Unternehmen.Warum sollten führende Politiker alles in ihrer Macht Stehende tun, um diesen Trend umzukehren? Erstens: weil die Mitglieder den Parteien ihre politische Legitimität an der Basis geben. Sie sind die Botschafter der Partei auf lokaler Ebene, sie vertreten die Partei vor Ort, hören zu und leiten Meinungen und Ideen an ihre Politiker weiter. Zweitens: Sie sind die politischen Kommunikato-ren an der Basis. Politische Information muss in einem Prozess, der in zwei Richtungen verläuft, weitergetragen werden. Zwar be-zieht die Bevölkerung ihre Information hauptsächlich aus den Medien, aber diese werden in persönlichen Gesprächen bewer-tet. Parteimitglieder können eine wichtige Rolle im politischen

Kommunikationsprozess spielen, indem sie in den Gemeinden oder den Familien an der Meinungsbildung mitwirken. Drittens: Parteimitglieder sind die Bürger, die politisch gebildeter sind, unter ihnen finden sich zukünftige Politiker.Wie können die Parteien neue Mitglieder gewinnen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir wissen, wie Personen über-haupt dazu bewogen werden können, einer Partei beizutreten. In Großbritannien wurde festgestellt, dass sie aus unterschiedli-chen Gründen beitreten. Einige werden Mitglied, weil sie sich mit den politischen Zielen einer Partei identifizieren wollen; andere möchten ihre persönlichen politischen Ambitionen verwirkli-chen; und wiederum andere wollen Gleichgesinnte treffen und mit ihnen Zeit verbringen. Das lässt darauf schließen, dass die Parteien potentiellen Mitgliedern zahlreiche Anreize bieten müs-sen, wenn sie sie zu einem Beitritt überzeugen wollen. Wenn die Parteien neue Mitglieder für sich gewinnen wollen, müssen sie erstens eine Reihe klarer politischer Werte definieren, und sie müssen deutlich aufzeigen, dass eine eindeutige Beziehung zwi-schen diesen Werten und ihrer Parteipolitik besteht. Zweitens müssen Parteien klare Strukturen schaffen, die die Möglichkeit bieten, persönliche politische Ambitionen zufrieden zu stellen. Und drittens müssen Parteien sicherstellen, dass durch gute sozi-ale Netze Gleichgesinnte zusammengeführt werden, damit sie sich leicht austauschen können.Was sollte also die demokratische Partei des 21. Jahrhunderts auszeichnen, deren Ziel es ist, neue Mitglieder zu gewinnen? Sie sollte den Mitgliedern durch politische Foren, Diskussionsgrup-pen im Internet und Videokonferenzen die Möglichkeit bieten, ihre Ideen und Meinungen einzubringen. Mit der heutigen Infor-mationstechnologie ist es leicht, Netzwerke zwischen Mitglie-dern und Anhängern herzustellen. Diesem Medium sollten Par-teien Geldressourcen widmen. Die Partei sollte ihren Mitgliedern ermöglichen, alle Politiker in Schlüsselpositionen, vor allem alle Führungspersönlichkeiten auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene, zu wählen. Sie sollte Möglichkeiten schaffen, auf lokaler Ebene in Leistungspositionen Verantwortung zu übernehmen und Politik mitzugestalten, sodass die Parteimitglieder einen

Parteimitglieder – Eintritte und AustritteEintritte und Austritte von Mitgliedern politischer Parteien in Deutschland im Jahr 2010

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CDU SPD Grüne Linke FDP CSU

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Lesehilfe: Die Statisik zeigt die Eintritte und Austritte von Mitgliedern politischer Parteien im Jahr 2010. Im Jahr 2010 traten 13.415 Personen in die CDU ein, während 18.624 Mitglieder die Partei verließen.

M 2 Eintritte und Austritte aus politischen Parteien im Jahre 2010/11 © nach Oskar Niedermayer, Freie Universität Berlin

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Einfluss auf das Leben der Menschen in ihrer unmittel-baren Umgebung ausüben können.Keiner dieser Schritte ist leicht zu machen. Es wird un-möglich sein, zu den golde-nen Zeiten der Vergangenheit zurückzukehren, als einige Parteien Millionen von Mit-gliedern hatten. Aber es deu-tet auch nicht alles darauf hin, dass es keine Alternative zum unerbittlichen Nieder-gang gibt; einige Parteien haben die Zahl ihrer Mitglie-der erhöhen können (zum Beispiel die britische Labour Party zwischen 1994 und 1997 oder die französische Parti Socialiste zwischen 2005 und 2006). Aber wenn die Par-teien, die sich klar zu ihren Werten bekennen, den Men-schen eindeutige Möglichkei-ten bieten, sich an der Dis-kussion über Politik und der Auswahl derer, die Ämter in-nerhalb der Partei bekleiden, zu beteiligen, kann der Ab-wärtstrend der Parteimit-gliedschaft umgekehrtwerden.

© Patrick Seyd: »Entwicklung der Mitgliedschaft bei den europäischen Parteien der Mitte«, policy Nr. 18, Friedrich-Ebert-Stiftung, 2007, S. 3f.

M 3 Interview mit Frank Walter: »Das Konservative vernach-lässigt«

Frankfurter Rundschau (FR): Herr Professor Walter, was ist eine Volkspartei?Walter: Bei Politikwissenschaftlern war der Begriff nie beliebt, weil er unscharf ist. Die Volkspartei versucht, verschiedene Schichten anzusprechen, sich nicht nur aus einer Weltanschau-ung zu speisen und offen für unterschiedliche Koalitionen zu sein. Die Hochzeit der Volksparteien war, als sie auf die 40 Pro-zent zugingen.FR: Was ist mit den ehemaligen Supermächten der deutschenNachkriegsgeschichte passiert?Walter: Sie haben funktioniert, solange sie noch vorvolksparteili-chen Stoff hatten. Der Kern der CDU/CSU war katholisch, mit einer genauen Weltanschauung. Bei den Sozialdemokraten waren das die gewerkschaftlichen Basisaktivisten, die sich über ihre so-zialistische Weltanschauung mit der Partei verbunden fühlten. Solange es diese Loyalitätspolster aus gemeinsamer Weltan-schauung gegeben hat, konnten die Volksparteien elastisch sein. Seitdem CDU und SPD nicht mehr Weltanschauungspartei sind, schmelzen sie von ihrer Mitte aus. Die SPD hat in den vergange-nen Jahren die meisten Stimmen bei den gewerkschaftlich orga-nisierten Arbeitern verloren, die CDU verliert besonders stark bei den Unternehmern und Katholiken.FR: Ist es klug, dass etwa die CDU unter Kanzlerin Merkel ihren Kurs immer wieder neu ausrichtet?Walter: Es ist nicht falsch, dass eine Partei sich verändert, aber den roten Faden sollte man noch erkennen. Die Parteien ändern ihre Meinung, ohne das zu erörtern. Man sagt, die Wähler seien wechselhaft geworden. Ich glaube, dass die Parteien wechselhaft

geworden sind. Die Menschen haben eigentlich ein Set von Maß-stäben, wie sie Kinder erziehen, mit dem Partner umgehen, am Arbeitsplatz agieren und wen sie wählen.FR: Dann haben SPD und CDU alles falsch gemacht?Walter: Für eine Partei ist es auch schwierig, sich zu verändern und gleichzeitig die Über-60-Jährigen, bei denen etwa die CDU nur noch Volkspartei ist, nicht zu verprellen. Deswegen ist Frau Merkel zur Pssst-Strategie übergegangen.FR: Warum leiden nur die Grünen nicht unter dem derzeitigen Politikver-druss?Walter: SPD und CDU waren in den vergangenen Jahren sehr wechselhaft in ihren Ansagen. Nur die Grünen nicht, was ideal für die komplexitätsmüden Wähler ist. Und Joschka Fischer hat jede Veränderung in seiner Biografie als ein Erweckungserlebnis dar-gestellt. Er hat seine Zerrissenheit zwischen Pazifismus und Kriegseinsätzen so groß gemacht, dass es immer mindestens darum ging, Auschwitz zu verhindern. Wir alle in dieser Genera-tion sind älter geworden, halten uns für realpolitisch, und das haben die Grünen mitreflektiert. Man ist nicht mehr so rebellisch wie damals, aber im Grunde ist man immer noch derselbe, fährt immer noch zweimal im Jahr zu Anti-AKW-Demos. Aber jetzt mit Kindern, mehr als Volksvergnügen. Den Konservatismus, den jede Veränderung braucht, haben CDU und SPD vernachlässigt.FR: Also sind die Grünen die eigentlichen Konservativen?Walter: Ja. Jürgen Trittin und Claudia Roth sind schon gefühlte 50 Jahre an der Parteispitze. Und sie agieren ganz als Bewahrer: Die CDU trat in ihrer erfolgreichen Zeit als Schutzmacht des Christli-chen auf. Die Grünen gewinnen derzeit als Wahrer von Schöpfung und Natur.

© Frankfurter Rundschau online, 9.6.2011, www.fr-online.de/politik/-das-konservative-vernachlaessigt-/-/1472596/8537362/-/index.html

Quelle: 1946-1969: Recker / Tenfelde (2005); 1970-1989: Jesse (1997); 1990-2008: Niedermayer (2009); Angaben der Parteien

Mitgliedszahlen der Bundestagsparteien, in Tausend gerundet, 1946 bis 2008

Bundeszentrale für politische Bildung, 2009, www.bpb.deLizenz: Creative Commons by-nc-nd/3.0/de

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* 2007 schlossen sich Linkspartei.PDS und WASG zur Partei Die Linke. zusammen.

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M 4 Mitgliederentwicklung der Parteien in Deutschland, 1946–2008 © bpb, www.bpb.de/files/IMO9KZ.pdf

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M 6 Armin Nassehi: »Die großen Vereinfacher«

Die »Wahren Finnen« – dieser Name trifft sehr gut, was populisti-sche Parteien und Bewegungen umtreibt: Sie wollen Gesellschaf-ten als Schicksalsgemeinschaften darstellen. Dies ist eine merk-würdig moderne und antimoderne Haltung zugleich. Antimodern ist sie darin, dass sie nicht mit dem Pluralismus einer modernen Gesellschaft zurechtkommt. Modern ist sie darin, dass das Mo-dell europäischer Nationalstaaten spätestens seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts darauf gesetzt hat, eine Solidarität unter Fremden zu stiften, die wie eine Schicksalsgemeinschaft aussah. Dass die Bewohner europäischer Nationalstaaten ihre unveräu-ßerlichen Rechte als Menschen in Gestalt veräußerlicher Rechte als Bürger eines konkreten Staates genossen, gehört zu den bis heute nicht geheilten Wunden des Modernisierungsprozesses.In diese offene Wunde streut der politische Populismus sein Salz. Allerdings muss man vorsichtig sein – populistische Bewegungen sind pluralistischer, als es zunächst den Anschein hat. Während Le Pens Front National oder Pia KjaersgaardsDansk Folkeparti traditionell nationalistisch- konservative Positionen vertreten, kann man etwa Geert Wilders in den Niederlanden oder auch der belgischen Nieuw Vlaamse Aliantie von Bart de Wever weltoffene und liberale Positionen nicht absprechen. Was populistische Be-wegungen gemeinsam haben, ist dreierlei: Sie bauen insbeson-dere Einwanderung und ihre Folgen als grundlegendes Problem der Gesellschaft auf, sie sind weitgehend europaskeptisch, und sie bringen komplexe gesellschaftliche Probleme auf leicht ver-ständliche und kommunizierbare Nenner.Diese Welt ist in der Tat komplizierter geworden – vor allem seit sich der Traum von wachsender Prosperität und steigendem Le-bensstandard nicht mehr träumen lässt. Konkurrenten um knappe Ressourcen und Lebenschancen werden aber immer schwieriger benennbar. Der Konkurrent wird abstrakt und un-sichtbar. Er ist im Wettbewerb um Ausbildung, Arbeit, Wohnung, soziale Sicherheit, sogar um intime Zuneigung und soziale Aner-kennung letztlich nur noch eine statistisch wahrnehmbare Größe, ein Konglomerat ähnlicher Merkmale. Damit werden auch Ver-antwortliche und Schuldige immer weniger adressierbar und identifizierbar, und gesellschaftliche Konflikte lassen sich dann auch nicht mehr einfach auf die sichtbare und benennbare Dicho-tomie von Kapital und Arbeit oder von konservativ und fort-schrittlich bringen. Auch deshalb sind die politischen Parteien als Repräsentanten der ehemalig stabilen Milieus in ihrer Ähnlichkeit konturenlos geworden.

Die Ressourcen Sichtbarkeit und Benennbar-keit sind also knapp geworden – und werden dafür von populistischen Bewegungen umso erfolgreicher angeboten. Populistische Par-teien bieten einfache Lösungen für kompli-zierte Probleme und können deshalb deut-lich sagen, was zu tun sei. Und sie können sich gerade deshalb als Bewegungen darstel-len, die gegen den Mainstream gerichtet sind.Der Mainstream – das sind die üblichen, langsamen politischen Verfahren. Die Demo-kratie ist ein großer Langsamkeitsgenerator. Sie baut Unterbrechungen und Kompromisse in Entscheidungsverfahren ein. Populistische Lösungen können sich dagegen als die wahre Demokratie ausgeben, weil sie die schnelle Umsetzbarkeit von Volks- und Wählerwillen suggerieren können. Sie stellen jene Sicht-barkeit her, die der Mainstream nicht mehr anbieten kann. Auf eine subtile Weise sicht-bar sind Migranten, vor allem Migranten aus außereuropäischen Regionen. An ihnen kann eine schwierige Welt einfach erklärt werden. Sie bieten sich für die Simulation schneller

Lösungen an, sie können durch ihre Sichtbarkeit unsichtbar ma-chen, wie plural und multikulturell, wie kompliziert und undurch-schaubar, wie unübersichtlich und wie sozial ungleich ein Land auch ohne Einwanderer wäre. Auch wenn in Deutschland bis heute keine populistische Partei Fuß fassen konnte – die Popula-rität von Thilo Sarrazins Thesen über die angebliche Selbstab-schaffung Deutschlands zeugt davon, wie erfolgreich Vereinfa-chungen auch hierzulande sein können.Die besondere Potenz populistischer Bewegungen besteht darin, dass sie auf eine elementare Weise wirklich Politik machen. Der Politik wird üblicherweise die Funktion zugeschrieben, für Ent-scheidungen zu sorgen, die für alle gelten und denen auch jene loyal folgen, die sie so nicht gewollt haben. Diese Entschärfung von politischen Konflikten ist das große Potential dieses westli-chen Politikmodells. Vergessen wird dabei aber manchmal, dass Politik nicht nur in der Herstellung kollektiv bindender Entschei-dungen liegt, sondern auch in der Herstellung von Gemeinschaf-ten, die sich an sich selbst binden. Die »Erfindung« der europäi-schen Nationen im 19. Jahrhundert war deshalb eine eminent politische Tat. Sobald die Welt unübersichtlicher wird und Ent-scheidungen unplausibel werden, weil sich ja doch nichts ändert, gewinnt der Aspekt der Gemeinschaft an Bedeutung – wer dazu gehört, wer nicht, welche Gruppen zum volkswirtschaftlichen Gewinn beitragen, welche nicht. Aus Sachproblemen werden dann Probleme der Zugehörigkeit. All das lässt sich schnell kom-munizieren, und es lässt sich an konkreten Personengruppen und Lebensformen vorführen: am muslimischen Migranten.Der politische Populismus vergiftet Sachdebatten dadurch, dass man nicht mehr über Herausforderungen verhandeln kann, ohne in den Sog des populistischen Arguments hineinzugeraten. Ge-rade die Konzentration auf das Migrationsproblem verhindert dann seine Lösung als Sachproblem. Denn darum geht es gar nicht mehr. Eine besondere Qualität übrigens bringen die »Wah-ren Finnen« in die Debatte. Sie sind nicht nur skeptisch gegen-über Migranten und gegenüber Europa. Sie kämpfen auch leiden-schaftlich gegen den »pseudokünstlerischen Postmodernismus« in der Kunst. Das bringt das ganze Problem sehr schön auf den Begriff, denn die Kunst macht sichtbar, dass es für nichts einfa-che und alternativlose Lösungen geben kann; sie fügt der Realität immer noch eine weitere Möglichkeit hinzu. Worum es dem Popu-lismus geht, wird an dieser Kunstfeindschaft auf eine brisante Weise deutlich. Hier scheint sich eine antidemokratische Interna-tionale weit über Europa hinaus zu formieren.

© Armin Nassehi: »Die großen Vereinfacher«, Süddeutsche Zeitung, 28.4.2011, S. 2

M 5 Der Vorsitzende der Partei »Wahre Finnen«, Timo Soini, bei der Parlamentswahl in Finnland. Der Siegeszug von Populisten in Nordeuropa sorgte für grelle Schlagzeilen, zuletzt in Finnland mit dem Wahlsieg der »Wahren Finnen«, die nicht mehr für die »Nachtclubrechnungen« verschuldeter Länder in Südeuropa aufkommen wollen. Mit solchen Parolen eroberte Parteichef Timo Soini 19 Prozent der Stimmen bei den nationalen Parlamentswahlen. © picture alliance, 17.4.2011

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M 7 »Rosige Zeiten für die Piraten«

Der etablierten Parteien müssen sich nach dem Erfolg der Piratenpartei bei der Berlin-Wahl nach Einschät-zung des Politologen Oskar Nieder-mayer auch über die Hauptstadt hin-aus auf die neue Konkurrenz einstellen. »Das ist kein Berliner Phä-nomen. Ich glaube, dass die Piraten mit dem Thema Transparenz einen sehr guten Markenkern haben«, sagte Niedermayer am Montag im In-terview mit der Nachrichtenagentur Reuters. Die Partei treffe damit einen Nerv der jüngeren Generation.Ähnlich wie die Umweltbewegung einst einen klaren Wertbezug ge-sucht und ihn bei den Grünen gefun-den habe, erkennten heute viele Wähler die Transparenz in der Politik als zentralen Wert. Das nutze den Pi-raten auch über Berlin hinaus. »Sie haben mit dem Abgeordnetenhaus jetzt eine Bühne für ihre Forderun-gen. Wenn sie die sinnvoll nutzen, könnten sie auch in anderen Ländern Erfolge feiern«, sagte Niedermayer. Ihre mittelfristige Existenz hätten sie durch die staatliche Parteienfinanzierung nunmehr gesichert.Zudem hätten sie vom Frust der Nichtwähler profitiert, sagte Niedermayer. Nach Zahlen von Infratest Dimap lockte die Pira-tenpartei rund 23.000 Bürger zurück an die Urne, die zuvor nicht gewählt hatten. Und sie zogen Wähler von allen etablierten Par-teien ab. Allein von den Grünen wechselten rund 17.000 Wähler zu ihnen. Dabei mobilisierte die Netz-Partei nicht nur junge Wähler: In allen Alters- und Berufsgruppen außer bei Rentnern waren sie erfolgreich, erreichten in Berlin sogar 17 Prozent bei den 25- bis 34-Jährigen. Insgesamt reichte es für 8,9 Prozent und 15 Sitze im Abgeordnetenhaus. Mehr Kandidaten hatte die Partei auch gar nicht aufgestellt.

Ein weiterer Grund für den rasanten Aufstieg kurz vor der Wahl ist nach Ansicht Niedermayers die Aufmerksamkeit in den Medien. Fernsehen, Radio und Zeitungen haben sich spätestens ab Mitte August ganz besonders auf die junge Partei gestürzt. Da tauchten die Piraten in Wahlumfragen regelmäßig gesondert auf, nachdem sie mehr über drei Prozent lagen. »Das ist ein riesiges Mobilisie-rungsinstrument«, sagte Niedermayer.Auch davon abgesehen hätten die Piraten in Berlin optimale Wahlkampfbedingungen vorgefunden, sagte Niedermayer. »In einem Stadtstaat sind die Wähler leichter zu erreichen als in einem Flächenland.« Der Wahlkampf sei günstiger zu finanzieren als in Flächenländern wie Nordrhein-Westfalen oder Niedersach-sen. Daher dürfe man auch noch nicht von einem bundespoliti-schen Erfolg der Piraten ausgehen. »Das ist noch zu weit weg, und ich glaube, es gibt in Berlin erstmal genügend zu tun und genü-gend für uns zu lernen«, sagte auch ihr Spitzenkandidat Martin

Delius zu n-tv.

© Handelsblatt, 19.9.2011, www.han-delsblatt.com/politik/deutschland/ro-sige-zeiten-fuer-die-piraten/4623476.html

M 9 Abgeordnete der »Piratenpartei« posieren am 19.09.2011 im Abgeordnetenhaus in Berlin für ein Gruppen-foto. Die Piratenpartei hatte bei den Senatswahlen in Berlin sensationell 8,9 % der Stimmen und 15 Abgeordneten-sitze errungen. Die Piratenpartei verfügt im Oktober 2011 nach eigenen Angaben bundesweit ca. 12.000 Mitglieder. ©picture alliance, dpa

M 8 »Youth On the Move«. Flash Eurobarometer 319a, Youth Participation. Summary, p. 5 © Eurobarometer, May 2011

Participation in activities of various organizations

A sports club

A youth club, leisure-time club or any kind of youth organization

A cultural organization

A local organization aimed at improving your local community and/or local environment

Any other non-government organizations

An organization promoting human rights or global development

A political organization or a political party

An organization active in the domain of global climate change/global warming

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3Q1: Have you in the past year participated in any activities of the following organisations?Base: all respondents, % of »Yes« answers shown, EU 27

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Inhaltlich lässt sich der Protest bei diesem Infrastrukturprojekt vor allem an dem vom 22. Oktober bis zum 30. November 2010 stattgefundenen Vermittlungsverfahren festmachen, während dem in neun Sitzungsrunden die kontroversen Streitpunkte »auf Augenhöhe« (Geißler) ausgetragen wurden. Das von dem ehemaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler moderierte so-genannte »Schlichtungsverfahren« wurde als »Sach- und Fakten-schlich tung« durchgeführt und betrat als sogenanntes »Demo-kratieexperiment« partizipatives Neuland. Die »Schlichtung« sollte dazu dienen, ein Millionenpublikum von Fernsehzuschau-ern, Radiohörern und Internet-Usern via Liveübertragungen über Zahlen, Daten und Fakten des Projekts zu informieren, um diesen nach dem Motto »Alle an einen Tisch, alles auf den Tisch« ein ei-genes rationales politisches Urteil im Sinne von Immanuel Kant (1724–1804) zu ermöglichen. Nach diesem Verständnis soll sich das Individuum aus seiner »selbstverschuldeten Unmündigkeit« befreien und den Mut aufbringen, »sich seines eigenen Verstan-des zu bedienen«.Ein wichtiges Ziel des Verfahrens war es, durch Versachlichung und eine »neue Form unmittelbarer Demokratie« wieder ein Stück »politische Glaubwürdigkeit und mehr Vertrauen in die Demokra-tie zurückzugewinnen« (Geißler). Das Verfahren sollte mit dem Austausch von Argumenten unter gleichberechtigter Teilnahme von Bürgerinnen und Bürgern aus der Zivilgesellschaft ein Forum eröffnen, welches eigentlich am Beginn der Raumordnungs- und Planfeststellungsverfahren zu dem Großprojekt »Stuttgart 21« hätte stattfinden müssen. Das politische Kunststück für die Zu-kunft bestehe darin, »einerseits mehr Bürger beteiligung zu insti-tutionalisieren, andererseits aber konsensfähige Planungsver-fahren zu entwickeln, deren Legitimation dafür ausreiche, die getroffenen Entscheidungen auch in die Tat umzusetzen« (Frick 2011, S. 23). Die »Schlichtung« konnte jedoch diesen nachgelager-ten Fehler nur teilweise reparieren, was auch an dem »Schlichter-spruch« zu »Stuttgart 21 Plus« (20.10.2010) deutlich wurde, der den weiteren Planungsprozess vor allem von einem zu erstellen-

Das Thema Stuttgart 21 hält in Baden-Württemberg die politische Arena schon seit einiger Zeit in Atem

und hat insbesondere in der Region Stuttgart – und viel mehr noch in der Landeshauptstadt Stuttgart selbst – zum Teil zu heftigen Kontroversen und Auseinander-setzungen zwischen Gegnern und Befürwortern des Bahnprojekts geführt. Der Konflikt um einen »Bahn-hof« entwickelte sich zur Nagelprobe für Politik und Gesellschaft und hat inzwischen ebenfalls verfas-sungsrechtliche Debatten im Landtag aufgeworfen, vor allem, nachdem am 27. März 2011 eine grün-rote Koalition zur neuen Landes regierung gewählt wurde. Diese hatte in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, die Hürden bzw. Quoren für Bürgerbeteiligungsverfahren auf kommunaler und auf Landesebene zu senken und in einem Volksentscheid die Bürgerinnen und Bürger über das Projekt »Stuttgart 21«, genauer über die fi-nanzielle Beteiligung des Landes über einen Betrag von 4,526 Milliarden Euro hinaus, entscheiden zu lassen. Dies sollte gleichzeitig den Anspruch der neuen Regie-rung verdeutlichen, einen Aufbruch zu einem neuen Politikstil als Regierung für eine Bürgergesellschaft zu wagen.

Der Protest um »Stuttgart 21«

Der Konflikt um Stuttgart 21 kann auch als ein asymmetrischer Machtkampf zwischen der etablierten Parteienpolitik der Stutt-gart 21-Befürworter bzw. der mächtigen und hierarchisch organi-sierten Deutsche Bahn AG und gut organisierten zivilgesell-schaftlichen Gruppen verstanden werden. Nicht ohne Grund hatte die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) den Begriff des »Wutbürgers« zum Wort des Jahres 2010 erklärt, »um einer Empörung in der Bevölkerung darüber Ausdruck zu verleihen, dass politische Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg getroffen werden«, so die Begründung zur Wahl dieser Wortschöpfung. Das wichtigste Beispiel hierfür bildete der Begriff »Stuttgart 21«, der von den Sprachexperten auf den zweiten Platz gewählt wurde. Der Begriff des »Wutbürgers« stieß bei den Gegnern von »Stutt-gart 21« zunächst auf Widerstand, da man nicht pauschaliert gegen etwas demonstrieren wolle, sondern sich für die alterna-tive Planung »Kopfbahnhof 21« und für mehr demokratische Mit-bestimmung und Beteiligungsrechte einsetze. Vor allem aber die Sorge um die Erhaltung der vielfältigen urbanen Lebensqualität war und ist hier ein bestimmendes Motiv, hatte doch Stuttgart nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges weitere große Verluste an historischer Bausubstanz durch die Planungen zu einer verkehrsgerechten Stadt erlitten (Brunold 1992).Die Protestbewegung erfuhr durch die Zuspitzung des Konflikts am 30. September 2010 im Schlossgarten sowohl eine erhöhte Aufmerksamkeit in den Medien als auch eine gesteigerte Zustim-mung in der Bevölkerung. Vor dem Hintergrund einer massiven Vertrauenskrise in die Politik der CDU-geführten Landesregie-rung eskalierte der Konflikt um das Projekt »Stuttgart 21« in der Folge dermaßen, dass sowohl Regierung als auch Opposition im Landtag wenig später als friedensstiftende Lösung die Vermitt-lung eines neutralen Vermittlers vorschlugen, der in Person von Heiner Geißler auch auf allseitige Akzeptanz stieß.

POLITISCHE PARTIZIPATION IN EUROPA

6. Politische Partizipation am Beispiel »Stuttgart 21«

ANDREAS BRUNOLD

Abb. 1 Die Eskalation der Auseinandersetzungen am 30. September 2010. Die Polizei setzte gegen Demonstranten, darunter viele Jugendliche, im Stuttgarter Schlossgarten Wasserwerfer und Pfefferspray ein. Der baden-württembergische Landtag setzte darauf-hin einen Untersuchungsausschuss zur Klärung der Vorfälle ein. © picture alliance, dpa

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den Stresstest abhängig machte. Dieser wurde am 29.7.2011 öffentlich präsentiert, erbrachte jedoch er-wartungsgemäß keine Konsenslösung, ebenso wenig wie Geißlers dort vorgestellter Kompromissvor-schlag eines Kombi-Bahnhofs, niedergelegt in seiner Schrift »Frieden in Stuttgart« (ebenfalls am 29.7.2011).

Direktes versus parlamentarisches Demokratie modell

An der Argumentation der am 27. März 2011 abge-wählten schwarz-gelben Regierungskoalition lassen sich die Vorbehalte aufzeigen, die in Deutschland immer wieder gegenüber direktdemokratischen Ver-fahren ins Feld geführt werden, was wohl durch die repräsentativ-demokratisch geprägte politische Kul-tur begründet ist (| M 6 |–| M 9 |). Unterstellt wird unter anderem eine Unverträglichkeit mit der auf Parteienkonkurrenz ausgerichteten Funktionslogik des politischen Systems. Auch besteht die Befürch-tung, dass die Entscheidungsqualität der etablierten Politik gemindert werden könnte, da eine Überforde-rung der Bürger angesichts komplexer poli tischer Fragen nicht auszuschließen sei. Insbesondere bei als zu alltagsfern eingeschätzten Entscheidungspro-blemen glauben die Anhänger der repräsentativen Demokratie, dass eine weitestgehend medienvermit-telte öffentliche Diskussion keine hinlängliche Entscheidungs-grundlage liefern könne (Schneider 2004, 26). Die »Legitimation durch Verfahren« (Luhmann, 1969) in bürokratisch-institutionali-sierten Verwaltungsprozessen mit ihren fraktionsinternen Spezia-lisierungen und ministerialen Expertenapparaten gilt ihnen als leistungsfähiger. Hier kommt auch eine Eigendynamik politisch ideologischen Denkens zum Tragen, die in dem Begriff des »tech-nischen Staates« ihren Ausdruck findet (Hacke 2011). Dieser steht für ein technokratisches und fortschrittsgläubiges Demokratie-verständnis, bei dem die »Logik zum Sachzwang« sowie die Ein-stellung zur »Alternativlosigkeit und Unumkehrbarkeit« von tech-nischen Projekten den Hauptantrieb für ein dem Fortschritt verpflichtetes staatliches Handeln diktieren. Diese Praxis bein-haltet aber auch die Tendenz, Transparenz und Ablauf der Verfah-ren hauptsächlich auf die rechtsstaatlich vorgesehenen Instituti-onen und Ebenen von Kommunalverwaltungen, Landratsämtern, Regierungspräsidien oder Ministerien etc. zu beschränken. Kriti-sche Gutachterstimmen könnten so leicht von vornherein ausge-schaltet oder alternative Pläne erst gar nicht in Betracht gezogen werden. Die Bürgerschaft oder einzelne Bürger hingegen hätten in diesem Geflecht der wenig öffentlichkeitswirksam arbeitenden Institutionen jedoch oft das Nachsehen und sähen sich darüber hinaus mit eingeschränkten Einspruchs- und Klagerechten kon-frontiert, die für sie kaum anwendbar seien. Befürworter der direkten Demokratie halten diesen Bürgerstatus für unzureichend entwickelt, da damit unterstellt werde, dass die Bürger zwar ihre Repräsentanten entsprechend ihren Interessen und Wertorientierungen wählen, sich aber kein eigenes Urteil zu bestimmten politischen Sachfragen bilden könnten. Auch wollten die Bürger, dass »mit« ihnen und nicht »zu« ihnen gesprochen werde. Es kann daher die berechtigte Frage aufgeworfen werden, ob unter den Bedingungen einer Abstimmungskampagne im Zuge eines direktdemokratischen Verfahrens – wie des geplanten Volksentscheids zu Stuttgart 21 am 27. November 2011 – eine bes-sere Qualität der öffentlichen Kommunikation entfaltet wird als unter den Bedingungen eines repräsentativdemokratisch domi-nierten Entscheidungsprozesses. Es muss in diesem Zusammen-hang erwähnt werden, dass direktdemokratische bzw. zivilgesell-schaftliche Verfahren bereits in den 1990er-Jahren in Deutschland und weltweit durch zahlreiche Lokale Agenda 21-Initiativen insti-tutionalisiert wurden, die nicht in Konkurrenz, sondern in Ergän-

zung zu den bestehenden politischen Entscheidungsstrukturen das Konzept der nachhaltigen Entwicklung auf kommunaler Ebene zu etablieren suchten.Dabei ist der Ruf nach partizipativer bzw. direkter Demokratie in den letzten Jahren und Jahrzehnten lauter geworden, da es den etablierten Parteien und Regierungskoalitionen in der Parteien-demokratie nicht mehr ohne weiteres zugetraut wird, die Bürger-interessen durch ihr Expertenwissen und durch bestimmte kalku-lierte und strategische Machtkoalitionen in ausreichendem Maße zu vertreten. Dagegen verkörpert die Zivilgesellschaft die Idee einer »demokratischen Alltagskultur, die von der identifizierten Beteiligung der Menschen an ihrem Gemeinwesen lebt« (Behrin-ger 2007, 209). In einer zunehmend komplexer und globalisierter werdenden Welt sei mehr denn je auch die Demokratie als Le-bensform und nicht nur als Staatsform angebracht. Somit könne die Partizipationsbereitschaft der Bürgerschaft mitunter sogar durch Wahlen gehemmt und Eigeninitiativen könnten hinsicht-lich bürgerschaftlichen Engagements verdrängt werden, wenn parteipolitische Ideologien diesen zu sehr entgegenstehen. Hier zeigt sich auch die Stärke direktdemokratischer Partizipations-formen wie »Bürgerentscheide« bzw. »Volksentscheide«, die sich als lernende Verfahren routinierter Argumente seitens der Politik verschließen. Bürger differenzieren im Allgemeinen sehr viel stär-ker politische Sachverhalte in ihrer eigenen Lebenswelt, sodass sie ein feines Sensorium für kommunikative Mängel in der Politik entwickeln. Angebotsplanungen und Verfahren »scheinbarer« Bürgerbeteiligung mit mangelhafter Transparenz, offensichtli-chen Gemeinwohlverletzungen, hohen Quoren und restriktiven Ausschlusskriterien wirken auf Bürgerinnen und Bürger eher de-motivierend und konterkarieren die Bedürfnisse einer Bürgerge-sellschaft an Beteiligungsrechten. So hatten bereits die mehr als 67.000 Unterschriften im Rahmen eines Stuttgarter Bürgerbe-gehrens gegen die weitere finanzielle Beteiligung der Stadt Stuttgart am Projekt Stuttgart 21 im Jahr 2007 durchaus eine seis-mographische Funktion und bildeten sozusagen schon das Fun-dament des Wahlkampfes für den 27. März 2011. Die Schwächen der repräsentativen Demokratie und deren unzu-reichende Durchlässigkeit waren auch erkennbar an den Schwie-rigkeiten, ein sogenanntes »Ausstiegsgesetz« für eine Volksab-stimmung über »Stuttgart 21« im Landtag nach Art. 60 der Landesverfassung zu verabschieden, da die Landesverfassung ein

Abb. 2 »Geschlossene Gesellschaft«, Karikatur vom 16.3.1996 (!) © Friederike Groß, Stuttgarter Zeitung 1996

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Volksbegehren über diese Frage direkt nicht zulässt und nur über ein bewusst zum Scheitern eingebrachtes Gesetz »zur Ablehnung des Projekts Stuttgart 21« ein Volksentscheid ermöglicht werden kann. Verfassungsrechtlich, so jedenfalls die Position von Gutach-tern, die von der grün-roten Landesregierung beauftragt wurden, sei eine solche Prozedur wohl mit der Landesverfassung vereinbar, doch zeigt dieser Vorgang auch die Probleme der Praktikabilität direktdemokratischer Entscheidungsverfahren in der bisher gel-tenden Landesverfassung. Darüber hinaus scheint ein notwendi-ges Quorum von mindestens einem Drittel der Stimmberechtig-ten aller Bürgerinnen und Bürger im Land eine kaum zu überwindende Hürde zu sein (| M 6 |–| M 9 |). Für eine Verfassungs-änderung ist allerdings eine 2/3 Mehrheit im Landtag nötig.

Stuttgart 21 als Beispiel eines politischen Entscheidungsprozesses

Im Falle des Projekts Stuttgart 21 stehen sich drei Typen von de-mokratischen Entscheidungsprinzipien ge-genüber, die sich folgendermaßen charakte-risieren lassen:(1) Als Signum für ein »hierarchisch struktu-

riertes Entscheidungsprinzip« können die bahninternen Planungsabläufe des Staatskonzerns der Deutschen Bahn AG identifiziert werden, die sich nur mit Mühe parlamentarischen Kontrollgre-mien unterziehen lassen, obwohl der Bund als Haupteigentümer der Bahn-AG fungiert.

(2) Entscheidungen nach dem Mehrheits-prinzip wurden und werden vor allem in den parlamentarischen Instanzen wie dem Bundestag, dem Landtag sowie dem Gemeinderat, in Gremien der Parteien, bzw. auf den exekutiven Regierungsebe-nen gefällt. Diese berufen sich vor allem auf bewährte Verfahrensabläufe des Rechtsstaats und die sie bestätigenden Urteile der über sie wachenden Gerichte.

(3) »Entscheidungen« in Form von Verhand-lungs- bzw. Konsenslösungen wurden da-gegen in den in den beiden »Schlich-tungsverfahren« erprobt, um eine möglichst transparente und breite öffent-liche Kommunikation herzustellen. Am Ende des »Demokratieexperiments« stand – quasi für eine »Als-Ob-Entschei-dung« – ein trotz der Popularität des »Schlichtungsverfahrens« umstrittener Schlichterspruch, sodass im Vergleich der Entscheidungsprinzipien hier die Frage nach der »Legitimität von Entscheidun-gen der repräsentativen Demokratie« aufgeworfen wurde.

Eine »Schlichtung« mit einem »unabhängi-gen« Moderator steht aber auch im Wider-spruch zu den plebiszitären Formen der di-rekten Demokratie. Befürworter der direkten Demokratie betonen immer wieder, dass diese Demokratieform der weit verbreiteten Politikverdrossenheit entgegenarbeiten könne. Sie ermöglicht einen Weg zur »Waf-fengleichheit« der Zivilgesellschaft in der Po-litik, in der sie selbst eine Art von Wahl-kampfsituation einleiten kann und dazu führt, dass sich die Politik stärker öffnen

müsse, um verlorenes Vertrauen gegenüber dem Wahlvolk zu-rückzugewinnen sowie ihre Glaubwürdigkeit stets rückzubinden, vor allem bei solch komplexen und weitreichenden Entscheidun-gen wie dem »Projekt Stuttgart 21«. Nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung, die im Jahr 2009 das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik ermittelt hat, spricht sich inzwischen die große Mehrzahl der Bürger für mehr politische Beteiligung und direktdemokratische Verfahren aus (Bertels-mann Stiftung 2009). Danach haben etwa 70 Prozent der Deut-schen das Vertrauen in Politik und Wirtschaft verloren. Partizipa-tive Verfahren wie Bürger- und Volksentscheide vermögen dagegen, so glaubt die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in-zwischen, die Kluft zwischen Bürgern und der Politik zu schlie-ßen. Diese stellten ein belebendes Element der Demokratie dar, weshalb dies im Übrigen z. B. in Bayern schon seit vielen Jahren mit großem Erfolg und großer Akzeptanz praktiziert wird.Nicht zuletzt ist das Vertrauen in die politischen Eliten und Par-teien seit der Finanzkrise erheblich erodiert, da diese es auch in den Kontrollgremien der Banken nicht vermocht hatten, ihr Ex-

Abb. 3 »Stuttgart 21«: Aus dem bisherigen Kopfbahnhof soll ein unterirdischer Durchgangsbahnhof werden. Auf dem frei werdenden Terrain soll dann, so die Planungen, ein neuer Stadtteil entstehen. © picture alliance, 2010

Abb. 4 Grafik zum geplanten unterirdischen Durchgangsbahnhof »Stuttgart 21« hinter dem Bonatzbau © Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2010

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pertenwissen bzw. ihre Kompetenzen zur Kontrolle der Finanzinstitute einzubringen. Auch hier zeigen sich Bezüge zu Baden-Würt-temberg. Immerhin hatte auch die Landes-bank Baden-Württemberg allein im Jahr 2008 2,112 Milliarden Euro sowie im Jahr 2009 1,482 Milliarden Euro in ihren Bilanzen als Verluste ausgewiesen, was den Vertrauensverlust der Bürger in die etablierte Parteienpolitik im Land noch stärker beförderte. Dieser Um-stand spielte bei dem Protest gegen Stutt-gart 21 mit Sicherheit eine tragende Rolle, da dies bei den Bürgerinnen und Bürgern auch die Entscheidungskompetenz der Politik be-züglich von »Stuttgart 21« in Zweifel zog (Rucht).Im bundesdeutschen Kontext ist der Fall »Stuttgart 21« einzigartig, da er zeigt, dass direktdemokratische Bewegungen nicht ein-fach nur als Konfrontation »zivilgesellschaft-licher« Initiativen und demokratischen Re-präsentanten, die sich gouvernementaler Bürgerferne schuldig gemacht haben, be-griffen werden können. Das Thema »Stutt-gart 21« zeigt spätestens mit dem nach dem 30. September 2010 in Gang gekommenen »Schlichtungsprozess«, dass die in Gang gekommene Mobilisierung der Zivilgesellschaft sowohl zur Klä-rung sachlich komplexer Zusammenhänge als auch zur Artikula-tion bürgerschaftlichen Gemeinwohlinteressen geführt hat. Ge-rade die seit vielen Jahren anhaltende Diskussion erfordert hier eine erneute »Objektivierung des Bürgerwillens« durch einen Volksentscheid, die eine immer wieder befürchtete »Zufallsab-stimmung« zum aktuellen Zeitpunkt und zu dieser sachunmittel-baren Entscheidungsfrage wenig wahrscheinlich macht. Die mit-unter gesehene Gefahr, dass eine laute Minderheit über eine schweigende Mehrheit dominieren könne, wird durch eine Volks-abstimmung weitgehend ausgeschlossen.

Rechtliche Paradoxien im Wahlrecht

Ein Blick auf das Wahlrecht bzw. die Landesverfassung in Baden-Württemberg verdeutlicht hier zudem einen widersprüchlichen, »doppelten Standard« in den Wahl- und Abstimmungssystemen zumindest im kommunalen Bereich. So konnte beispielsweise der Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster bei seiner Wiederwahl im Jahr 2004 im zweiten Wahlgang zwar rund 54 Pro-zent der Stimmenanteile für sich gewinnen, tatsächlich ver-mochte er bei einer Wahlbeteiligung von etwa 43 Prozent letzt-lich nur 22,7 Prozent der mehr als 393.000 Wahlberechtigten auf sich zu vereinen. Ähnliches gilt zum Beispiel regelmäßig für die Wahl des US-amerikanischen Präsidenten.Dies zeigt, dass auch in der repräsentativen Demokratie die Re-präsentanten mit einer Minderheit der Wahlberechtigten regie-ren können. Demgegenüber erscheint ein Quorum von einem Drittel der Abstimmungsberechtigten als Hürde für einen erfolg-reichen landesweiten Volksentscheid in Baden-Württemberg un-angemessen hoch zu sein. Direkte demokratische Entscheidun-gen stehen demgemäß vor Hürden, die Wahlen und die Legitimation von Exekutiven für sich selbst gar nicht in Anspruch nehmen können. So könnte man durchaus auch zu dem Umkehr-schluss gelangen, dass bei komplexen Fragestellungen und Groß-projekten, die über mehrere Legislaturperioden hinausgehen, Wahlen alle 4 oder 5 Jahre zu deren Legitimation allein nicht mehr ausreichen.

Fazit

Die auf die Zivilgesellschaft bezogene international populär ge-wordene Devise »Global denken, lokal handeln« hat daraus be-reits die Konsequenz gezogen und die Ebene des Staates aus dem Fokus bürgerschaftlichen Engagements herausgenommen. Unter dem doppelten Zugriff globaler Herausforderungen und lokaler Betroffenheiten hat der Staat und ein auf ihn zentriertes politi-sches Engagement bereits einen deutlichen Bedeutungsverlust zu verkraften und den Anspruch auf die letztlich gültige Verbind-lichkeit seiner Entscheidungen verloren. (Münkler 2011, 17f.) Di-rekt-demokratische Entscheidungen wie die zu »Stuttgart 21« am 27. November 2011 in Baden-Württemberg könnten dagegen ver-loren gegangenes Vertrauen in die Demokratie wieder zurück ge-winnen.

Literaturhinweise

Behringer, Jeanette (2007): Zivilgesellschaft in der Demokratie. In: Der Bür-ger im Staat. Bürgerschaftliches Engagement, Heft 4, S. 204–211.

Bertelsmann Stiftung (2009): Vertrauen in Deutschland. Eine qualitative Wertestudie der Bertelsmann Stiftung. Task Force »Perspektive 2020 – Deutschland nach der Krise«. Zusammenfassung der Ergebnisse, Gütersloh, S. 1–12.

Brunold, Andreas (1992): Verkehrsplanung und Stadtentwicklung. Die städ-tebauliche Entwicklung des Stuttgarter Bahnhofgeländes – eine Fallstudie, Stuttgart.

Frick, Lothar (2011): Vorbild für eine neue Form des Dialogs? Die Schlichtung zu Stuttgart 21: Eskalation und Deeskalation eines Konflikts. In: Die Politi-sche Meinung, Nr. 498, S. 19–23.

Hacke, Jens (2011): Stuttgart 21: Das lange Leben des technischen Staates. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 3, S. 97–106.

Münkler, Herfried (2011): Aktive Bürgerschaft oder bürgerschaftliches Enga-gement? Über das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Parteiendemokratie. In: Journal für politische Bildung. Zukunftsfähigkeit und Zivilgesellschaft, Heft 1, S. 10–19.

Schneider, Maria-Luise (2004): Vom Nutzen von Volksabstimmungen. In: WZB-Mitteilungen, Heft 103, S. 26–28.

Weikard, Hans-Peter (1999): Wahlfreiheit für zukünftige Generationen, Mar-burg.

Abb. 5 »Upps!« © Gerhard Mester, 2010

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MATERIALIEN

M 1 Dieter Rucht : Befragung von Demonstranten gegen »Stuttgart 21« am 18.10.2010

Stuttgart 21, obgleich »nur« ein lokales bzw. regionales Bauprojekt, polarisiert nicht nur die Bürgerschaft der Stadt. Dieser Fall ver-deutlicht auch eine generell sich abzeich-nende Kluft zwischen Regierenden und Re-gierten. Er wirft damit Fragen auf nach dem Zustand der Demokratie in Deutschland. Nur daraus erklärt sich auch das enorme mediale Interesse für das Projekt und den damit ver-bundenen Konflikt. Die vielfach anzutreffen-den, aber bisher nicht wirklich geprüften Aussagen über die Zusammensetzung und die Motive der Demonstrierenden veranlass-ten uns, genauer hinzusehen. Konkret: In Form einer relativ detaillierten Fragebogen-aktion.Die Entscheidung dazu fiel schnell und spon-tan. Dann kam der Prozess sofort in Gang. Sicherung der Finanzierung, Erstellung und Test des Fragebo-gens, Druck, Rekrutierung von Helfern, Verteilung von 1500 Fra-gebogen vor Ort in Stuttgart bei der 48. Montagsdemonstration am 18. Oktober im mittleren Schlossgarten, wo sich Schätzungen zufolge 10.000 Demonstrierende laut Polizei, 22.000 laut Veran-staltern, zu einer lauten und friedlichen Kundgebung eingefun-den hatten.Die Befragung liefert allerdings nur eine Momentaufnahme – und zwar wenige Tage nach dem ersten offiziellen Vermittlungsge-spräch mit Heiner Geißler. Es gibt konkrete Hinweise dazu, dass eine Samstagsdemonstration eine etwas anders zusammenge-setzte Gruppe versammelt hätte – mehr jüngere Teilnehmer, mehr Familien mit Kindern, auch mehr Teilnehmer von den Rand-bezirken oder ganz außerhalb Stuttgarts. Laut unserer Befragung stammten drei Viertel der Teilnehmer aus Stuttgart und 98 Pro-zent aus Baden-Württemberg. Von reisenden Berufsdemonstran-ten kann also keine Rede sein. (…)Wir haben während der Montagsdemonstration 1500 Fragebögen nach dem Zufallsprinzip verteilt. 1 814 Personen haben den Frage-bogen bis Montag, den 25. Oktober vollständig oder weitgehend ausgefüllt an uns zurückgeschickt.Dieses Verfahren der massenhaften, standardisierten und me-thodisch kontrollierten Befragung von Protestteilnehmern vor Ort ist relativ neu. Es wurde erstmals in größerem Umfang in Bel-gien und dann kurz darauf mehrfach von uns in der Bundesrepu-blik praktiziert, u. a. bei einer großen Friedensdemonstration und bei Demonstrationen gegen Hartz IV.

© Dieter Rucht, u. a.: Pressekonferenz am 17.10.2010 im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, www.wzb.eu/sites/default/files/personen/schneider.kerstin.468/s21_kurzbericht_2.pdf

M 2 Wolfgang Merkel: »Entmachten Volksentscheide das Volk?«

Es gibt große Herausforderungen und Probleme, die unsere De-mokratien auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts plagen. Zwei von ihnen sollen hier genannt werden: Der Vertrauensverlust in die Politik ist insbesondere in Europa unverkennbar. Er kristallisiert sich in der Verachtung der Parteien, im Misstrauen gegenüber der »politischen Klasse« und dem Reputationsverlust der Parla-mente. Die empirische Demokratieforschung schreibt dies vor allem den gestiegenen Ansprüchen kritischer Bürger gegenüber

der staatlichen Politik zu. Neben dieser subjektiven Dimension verschärft sich eine objektive Malaise der fortgeschrittenen De-mokratien. In Deutschland und anderswo öffnet sich eine Partizi-pations-Repräsentationslücke, die zunehmend das untere Drittel der Gesellschaft ausschließt. Wenn sich Angehörige der unteren Schichten aber seltener als andere Bevölkerungsgruppen an Wahlen beteiligen, dann hat dies erhebliche Konsequenzen für die Repräsentation ihrer Interessen. Das politische Gleichheits-prinzip wird ausgehöhlt. Die Erosion der großen Volksparteien ist Ursache wie Folge dieser Entwicklung. Die konventionelle politi-sche Partizipation ist zurückgegangen. Die empirischen Befunde sind eindeutig. Es muss über Reformen nachgedacht werden. Nicht um ein goldenes Zeitalter der Demokratie – das es nie ge-geben hat – wiederzubeleben, sondern um unsere Demokratie widerstands- und anpassungsfähig zu machen gegenüber den Herausforderungen der Demokratie im 21. Jahrhundert. Befeuert von den publizistisch überhöhten lokalen Demonstrationen um Stuttgart 21, werden nun wieder einmal Referenden als »Gegen-gifte« gegen die allgemeine Krise der Parteien, der politischen »Klasse«, ja der gesamten Demokratie angepriesen. (…) Volksentscheide: Vier Paradoxa.Volksentscheide haben Nebenwirkungen und nicht intendierte Effekte, die ihren Befürwortern ganz offensichtlich verborgen sind. Ich will vier davon nennen.Soziale Selektion: »Das« Volk soll entscheiden: direkt und unmit-telbar, nicht gebrochen durch wirtschaftliche oder parteipoliti-sche Interessen. Doch geht »das« Volk tatsächlich zu den Volks-abstimmungen? Aus der empirischen Forschung wissen wir, dass die Teilnahme an Volksabstimmungen auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene hinter der Beteiligung an allgemeinen Wahlen zurückbleibt. Dies gilt insbesondere für Wahlen zu den nationalen Parlamenten. Hohe Beteiligungsquoten etwa wie beim Beitritt der Schweiz zur UNO blieben die große Ausnahme. Niedrige Partizipationsraten bedeuten aber stets auch eine sozi-ale Selektion: Die unteren Schichten bleiben überproportional häufig zu Hause. Je niedriger die Beteiligung, umso höher die so-ziale Exklusion. Nicht das Volk in seiner Gesamtheit, sondern die höheren Schichten, die Zwei-Drittel Gesellschaft stimmen typi-scherweise bei Referenden ab. Das untere Drittel des Volkes bleibt weitgehend außen vor. Volksabstimmungen haben eine größere soziale Schieflage als allgemeine Wahlen. Auch der re-flexhafte Appell, das müsse eben verändert werden, zeugt eher von naiver Wirklichkeitsferne denn von empirischen Einsichten in das politische Partizipationsverhalten.

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M 3 Demonstrantenbefragung: »Welches Ereignis hat Sie erstmals veranlasst, sich gegen Stuttgart 21 zu engagieren?« © Dieter Rucht u.a., a.a.O., S. 5

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Selbstexklusion der Unkundigen: Eine jüngere Studie von mehr als 150 Volksabstimmungen in der Schweiz hat gezeigt, dass die Bürger, die an den Abstimmungen teilnehmen, weit kompetenter in politischen Fragen sind als die Gesamtheit der Stimmberech-tigten. Es kommt zu einer »Selbst-Selektion der Inkompetentes-ten«, wie der Schweizer Autor Kriesi schreibt: Die »Inkompeten-testen nehmen typischerweise nicht an den Abstimmungen teil«. Es sind die besser gebildeten Bürger, die das »Volk« in Referenden vertreten. Vertreter einer elitären Demokratie könnten argumen-tieren, dass dies durchaus wünschenswert ist, da dadurch auf gleichsam »natürliche« Weise unvernünftige Entscheidungen »unvernünftiger« Bevölkerungsschichten unwahrscheinlich wer-den. Dass dies ein elitär-konservatives Argument ist, scheint den Referendumsbefürwortern verborgen sein.Kampagnenfähigkeit: Volksreferenden werden nicht vom Volk in-itiiert. Es bedarf der Initiatoren – und die kommen aus den mei-nungsstarken politisierten Mittelschichten, Interessengruppen, NGOs, bisweilen auch aus Regierung und Parteien. Der Erfolg ist keineswegs nur, aber stets auch von der Kampagnenfähigkeit der Initiatoren abhängig. Dafür bedarf es der Ressourcen: politisch, organisatorisch und finanziell. Über solche Ressourcen verfügen vor allem politische Organisatoren oder wirtschaftliche Interes-sengruppen. In Kalifornien haben bei Referenden die überlegenen finanziellen Ressourcen großer Wirtschaftslobbys eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf den Ausgang der Referenden ent-faltet. In der Schweiz ist diese Wirkung weit geringer, aber den-noch nicht verschwunden. Dort spielt häufig die Koalitionsbildung politischer Eliten, die sich für oder gegen ein bestimmtes Ergebnis positionieren, die ausschlaggebende Rolle. Eine solche repräsen-tative Kontrolle der Referendumsergebnisse lässt sich auch in Ita-lien nachweisen. Das Volk ist in Volksabstimmungen wesentlich abhängiger von den etablierten politischen und wirtschaftlichen Gruppen, als dies ihre Befürworter wahrhaben wollen.Ergebniskonservatismus: Die Erfahrungen mit Volksabstim-mungen in der Schweiz und in Kalifornien zeigen im Ergebnis häufig die Durchsetzung konservativer, neoliberaler und biswei-len auch dumpf rechtspopulistischer Politikinhalte. Der über Re-ferenden verhinderte Bau von Moscheen oder die erleichterte»Ausschaffung« von Asylsuchenden und Migranten in der Schweiz sollen nur erwähnt werden. Neoliberale Politikmuster zeigen sich in Referenden zur Steuerpolitik. Wenn in Referenden über haus-haltspolitische Materien entschieden wird, sinken Steuereinnah-men und Staatsausgaben. Dies heben etwa neo-klassische Öko-nomen in ihren international vergleichenden Studien und ihren Analysen zu den Schweizer Kantonen stets hervor. In Kalifornien haben steuerwirksame Referenden mit dazu beigetragen, dem Staat Steuern zu entziehen und ihn an den Rand des Bankrotts zu treiben. Dieser Fiskalkonservatismus mag den haushaltspoliti-schen Präferenzen von Neoliberalen entsprechen, er schadet

aber vor allem denjenigen, die auf finanzielle Transfers und Un-terstützung jenseits des Marktes angewiesen sind. Dies gilt für die Bildung, Gesundheit, Alterssicherung und Arbeitslosigkeit. Der Zusammenhang zwischen fiskalkonservativem Abstimmver-halten und Beteiligung liegt auf der Hand: Die unteren Schichten, die der Hilfe des Staates bedürfen, gehen weit unterdurchschnitt-lich, die Besserverdienenden, die mit ihren Steuern diese staatli-chen Leistungen maßgeblich mitfinanzieren, überdurchschnitt-lich oft zu Referenden. Volksabstimmungen in haushaltpolitischen Bereichen haben einen eingebauten Trend zur Besitzstandswah-rung der Besitzenden gegenüber den einkommensschwachen Schichten. Sowohl die Beteiligungslogik wie auch die empirische Forschung deuten auf eine Privilegierung des Partikular- gegen-über dem Gemeinwohl hin. Die Volksabstimmung in Hamburg zur Schulgliederung hat noch einmal die Dominanz der gutsituierten Bürger mit ihrem unverhohlenen Interesse an der Privilegienwah-rung auch hierzulande deutlich gemacht. (…)Es soll kein Zweifel aufkommen: Referenden können eine vitali-sierende Komplementärwirkung auf die repräsentativen Demo-kratien von Flächenstaaten entfalten. Ihre legitimierende Funk-tion soll nicht verschwiegen werden. Doch die vier Paradoxa entzaubern die basisdemokratischen Erwartungen der Befürwor-

ter direktdemokratischer Verfahren. Sie sind nicht die üblichen konserva-tiven Einwände gegen die Unsicher-heit von Volksabstimmungen und ihre angeblich destabilisierenden Wirkungen. Es ist vielmehr die Pers-pektive des unteren Drittels unserer Gesellschaft. So paradox es auch klingen mag: Dessen Interessen sind in repräsentativen Institutionen bes-ser aufgehoben als in Entscheidun-gen, die »das« Volk trifft. Denn wer in Volksentscheiden vor allem initiiert und abstimmt, ist nicht ein repräsen-tativer Querschnitt oder gar das Volk selbst. Beides ist eine Fiktion.

© Wolfgang Merkel: Entmachten Volksentscheide das Volk? in: WZB, Mitteilungen, Heft 131, März 2011, S. 10ff.

M 5 Demonstrantenbefragung in Stuttgart: »Welche drei Argumente gegen Stuttgart 21 sind für Sie am wichtigsten?« © Dieter Rucht, u.a., a.a.O., S. 6

M 4 Demonstrantenbefragung: »Aussagen zum politischen System und zu Politikern« © Dieter Rucht, u. a., a. a. O, S. 13

Reihenfolge der Nennung Häufig-keit

Hohe Kosten des Projekts 377

Profit nur auf Seiten der Banken und Baukonzerne 271

Demokratiedefizite bei der Planung des Projekts 255

Demokratiedefizite beim Umgang mit ProjektkritikerInnen 255

Geringere Kapazität des 8-gleisigen Durchgangsbahnhofes 224

Geologische Gefahren beim Tunnelbau 179

Finanzielle Beeinträchtigung anderer Bahnprojekte durch Stuttgart 21

147

Zukünftige Beeinträchtigung des Betriebsablaufs im Nah-verkehr

144

Umweltschutz 138

Nicht abschätzbare weitere Probleme 124

Anderes Argument gegen Stuttgart 21 115

Beeinträchtigung von Mineralwasservorkommen 104

Denkmalschutz 63

Lärm- und Verkehrsbelastung während der Bauphase 40

Stimme völlig zu

Stimme eher zu

Neutral Lehne eher ab

Lehne völlig ab

Ich sehe keinen Nutzen in Wahlen. Parteien machen ohnehin was sie wollen. 8,0 18,5 13,8 31,8 27,9

In der Politik passieren viele Dinge im Verbor-genen. 73,1 24,2 2,1 0,5 0,1

Politische Parteien sind nur an meiner Stimme, aber nicht an meinen Ideen interes-siet.

39,5 41,2 14,4 4,6 0,4

Für Leute wie mich ist Politik viel zu kompli-ziert; man muss Experte sein, um Politik zu verstehen.

1,4 7,3 14,3 38,6 38,4

Wenn Leute wie ich ihre Meinung gegen über Politikern kundtun, dann wird diese Meinung auch berücksichtigt

0,6 4,7 20,0 47,0 27,8

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M 6 Die Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung Gisela Erler (Grüne) im baden-württembergi-schen Landtag

(…) Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger oben auf den Rängen, liebe Schülerinnen und Schüler, qua meines Amtes spreche ich auch Sie an. Die neue Landesregierung hat sich das Ziel gesetzt, Baden-Württemberg zu einem Musterland und wieder zu einem Vor-reiter bei der demokratischen Beteiligung zu machen. (…) Mein Amt, das der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, ist ja eingerichtet worden, um genau diese vielfältigen Ebenen der demokratischen Be-teiligung im Land zu unterstützen, zu syste-matisieren und zu bündeln. (…)Ich teile die Meinung von Herrn Geißler, dass es in Zukunft so sein wird: Wenn frühzeitig eingebunden, diskutiert und gehört wird, wird die Meinungsbildung leichter vorange-hen. Dann können wir viele Konflikte einfan-gen, bevor sie überhaupt in Bürgerbegehren und Volksentscheide münden müssen. (…) Alle Menschen, die über Demokratie nach-denken, sind sich, glaube ich, einig, dass die einzige funktionierende und sinnvolle Pers-pektive darin liegt, die repräsentative Demo-kratie um partizipatorische Elemente zu ergänzen. (…) Im Jahr 1974 haben Sie hier mit dem Volksentscheid ein wegweisendes Gesetz eingebracht, allerdings eines mit so vielen Restriktionen, dass hier im Unterschied zu anderen Ländern der Volksentscheid seit dieser Gesetzesänderung noch niemals umgesetzt wurde. Das ist gewissermaßen ein Auto, das zwar Räder hat, für das das Volk aber keinen Zündschlüssel hat. Wir haben einen Verfas-sungsmodus, in dem der Volksentscheid theoretisch enthalten ist – aber nicht als reale Option. Machen Sie sich doch bitte noch einmal klar, dass ein Quorum von 33 % bedeutet, dass über 60 % der Stimmberechtigten zu einem Volksentscheid gehen müssen. Alle, die mit solchen Quoren Erfahrung haben, wissen, dass bei einem normalen Volksentscheid, der nicht an einem großen Wahltag stattfindet, die 40- oder 50-%-Grenze praktisch niemals überschritten wird. (…) Also geht es darum, eine Volksabstim-mung zu ermöglichen, die auch real durchführbar ist. (…)Das Ziel dieses Gesetzentwurfs ist die Absenkung des Quorums auf ein Fünftel. Das ist ein großer Unterschied zu einem Quorum von 25 %. Um auf ein Quorum von 20 % zu kommen, müssen – sagen wir einmal – 40 % der Stimmberechtigten zu einem Volks-entscheid gehen, und das ist schon ein sportliches Ziel. Um auf 25 % zu kommen, brauchen Sie eine Beteiligung von 50 %, und das ist nicht sehr realistisch. Es geht um einen realistischen, im Gefüge von Gesamtdeutschland plausiblen Entwurf. (…) Baden-Württemberg ist kein Zauberland, kein Ausnahmeland, sondern ein ganz normales Land mit ganz normalen Bürgern. (…) Ein Quo-rum von 20 % ist heutzutage im Hinblick auf die Entwicklung der normalen parlamentarischen und direkten Demokratie ein eher hoher Wert. (…) Normalerweise hätten wir – wie es in Bundeslän-dern wie Bayern der Fall ist – kein Quorum beantragt, weil dies in der demokratischen Praxis gar nicht nötig ist. In den Ländern, in denen diese Mittel angewendet werden, herrscht in keiner Weise Chaos. (…) Als unsere Verfassung von 1948 bis 1951 entwickelt wurde, war das Land zutiefst geprägt, gebeutelt und zerstört durch die vorangegangenen Zeiten: die gescheiterte Weimarer Demokratie und den Nationalsozialismus. (…) Die heutige Demo-kratie hat ein anderes Problem: Sie droht von innen zu vertrock-nen. Die Menschen verabschieden sich, haben kein Vertrauen mehr. Wenn wir wieder eine Demokratie wollen, die funktioniert, müssen wir das Vertrauen wiederherstellen. Ganz wichtig ist

doch: Wir haben hier kein Quorum für demagogische, verfas-sungsfeindliche Entscheidungen. Jeder Volksentscheid, jede Volksabstimmung muss erst einmal auf die Verfassungsmäßig-keit hin geprüft werden. (…) Volksentscheide heutzutage grund-sätzlich mit Demagogie gleichzusetzen oder in ihre Nähe zu brin-gen, ist eigentlich – pardon – wirklich populistisch und billig. (…)Was die Frage betrifft, ob dieser Volksentscheid zugunsten mei-ner Partei, der Grünen, ausgeht, so wissen Sie, dass es sehr we-nige Menschen gibt, die das glauben. Ich stehe grundsätzlich dafür, dass unabhängig davon, wie ich mit meiner Meinung ver-treten werden will, ein niedrigeres Quorum für einen Volksent-scheid in unsere Landesverfassung aufgenommen werden muss. Darum möchte ich Sie herzlich bitten. Danke schön.

© Erste Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktion GRÜNE und der Fraktion der SPD – Ge-setz zur Änderung der Verfassung des Landes Baden-Württemberg – Landtagsdrucksache 15/216, 20.7.2011

M 8 Gesetz zur Änderung der Verfassung des Landes Baden-Württemberg: Zweite und dritte Beratung des Gesetz-entwurfs der Fraktionen GRÜNE und SPD am 20.7.2011

Abg. Peter Hauk, Fraktionsvorsitzender der CDU: Herr Präsi-dent, meine sehr verehrten Damen und Herren! (…) Es ist kein Zufall, dass die Landesregierung dieser Tage den Fahrplan für die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 verkündet. Daher ist es mehr als durchsichtig, dass jetzt noch schnell die Verfassung geändert werden soll, um die »Erfolgsbedingungen« zu verbessern. (…) Bürgerbeteiligung darf eben nicht auf die Frage von Volksabstim-mungen reduziert werden. Mit Ihrem jetzt vorliegenden Gesetz-entwurf tun Sie aber genau dies. Sie stellen damit einen Gegen-satz zwischen der repräsentativen parlamentarischen Demokratie und der direkten Demokratie her. Was wir aber brauchen, ist eine deutlich höhere Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in unse-rem System der repräsentativen parlamentarischen Demokratie. (…) Sie erwecken den Eindruck, allein mit der Senkung eines Quo-rums bei Volksabstimmungen wäre die Frage nach den demokra-tischen Mitwirkungsmöglichkeiten beantwortet. Mitwirkung be-deutet aber eben nicht, erst am Ende eines Prozesses zwischen

M 7 »Der mündige Bürger!« (Im Bundestag lehnten Union und FDP im Jahre 2002 den Vorstoß der rot-grünen Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) zur Einführung von Volks-entscheiden auf Bundesebene ab.) © Heiko Sakurai, 8.6.2002

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einem einfachen Ja oder Nein entscheiden zu können. Mitwirkung bedeutet doch, an einem Prozess aktiv teilzunehmen, sich einzu-bringen, Alternativen zu entwickeln und Meinungen abwägen zu können. Stuttgart 21 ist ein Beispiel hierfür. Wenn es zu einer Volksabstimmung kommt, geht es nicht darum, zwischen S 21 und K 21 oder zwischen S 21 und einer ganz anderen Alternative zu entscheiden. Es geht auch nicht darum, ob alle Projektpartner – Bund, Bahn, Land, Region und Stadt – zum Ausstieg gezwungen werden. Es geht lediglich um die Frage, ob sich das Land aus sei-nen vertraglichen Verpflichtungen zurückzieht oder nicht. Wären Sie ehrlich, würden Sie dies den Bürgerinnen und Bürgern klar sagen. (…) Die Frage der Bürgerbeteiligung im 21. Jahrhundert ist komplex. (…) Ein Blick über die Grenzen ist dabei manchmal ganz hilfreich. In einem Demokratieranking der Universität Zürich lag die Schweiz deutlich hinter Deutschland. Ein Grund dafür ist die mangelnde Beteiligung an Volksabstimmungen. (…) Nach Anga-ben des Schweizer Bundesamts für Statistik lag die Beteiligung an Volksabstimmungen zwischen den Jahren 2000 und 2009 im Durchschnitt bei 45,2 %. Bei den Abstimmenden – das ist soziolo-gisch ganz interessant – handelt es sich mehrheitlich um Wohlha-bende, um Ältere, um Gebildete und um überproportional viele Männer. Wenn also Volksabstimmungen nur die Präferenzen be-stimmter Gruppen darstellen, stellt sich sehr wohl die Frage, ob dabei das Gewünschte, nämlich das breite Meinungsbild der ge-samten Gesellschaft, abgebildet wird. (…) Es geht nicht darum, wer Repräsentant einer repräsentativen Demokratie ist, sondern es geht darum, dass man eine möglichst breite Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an einem demokratischen Mitwirkungs-prozess erreicht. (…) Mit Volksabstimmungen erreichen Sie ge-rade das nicht oder nur unzureichend, weil Sie am Ende eines Pro-zesses eine Beteiligung herbeiführen, die aber am Anfang von Verfahren notwendig ist. (…) Wollen Sie mit der Volksabstim-mung als Hintertürchen lediglich Ihren Willen zu Stuttgart 21 durchsetzen und damit den Konflikt innerhalb der Sozialdemo-kratie und den Konflikt innerhalb der Koalition zwischen SPD und Grünen lösen? Oder geht es, wie Sie stets proklamieren, tatsäch-lich darum, die Bürger zu hören und deren Meinung künftig mehr und auch sinnvoll in einem fairen und transparenten Verfahren einzubinden? (…)Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: Herr Präsident, meine Damen und Herren! Den Keim für neue Unzufriedenheit, Herr Hauk, legen Sie und die CDU heute. (…) Ihnen geht es nicht um eine Stärkung der Bürgerbeteiligung, sondern es geht Ihnen um Blo-ckadepolitik bei Stuttgart 21. (…) Ihnen muss klar sein, dass Sie damit Baden-Württemberg, der Bürgergesellschaft, der Stadt Stuttgart und der Region keinen Gefallen tun. (…) Wir könnten uns im wohlverstandenen demokratischen Interesse heute dar-auf verständigen: Wir senken das Quorum auf 20 %. (…) Wir strei-ten uns in den nächsten Wochen gern mit Ihnen über das Thema der Verfassungsmäßigkeit eines Ausstiegsgesetzes. Das wird ja vorgelegt werden. (…) Sie vertrösten die Bürgergesellschaft heute auf den Sankt-Nimmerleins-Tag, Herr Hauk. (…) Abg. Ulrich Goll (FDP/DVD), ehemaliger Justizminister des Lan-des Baden-Württemberg: Meine Damen und Herren, eine Volks-abstimmung zu Stuttgart 21 wäre jahrelang möglich gewesen. (…) Sie wäre jahrelang möglich gewesen und wäre mit Sicherheit auch von uns unterstützt worden. (…) Eine Volksabstimmung jetzt zu Stuttgart 21 ist erstens unsinnig, weil es gar kein vernünf-tiges Ziel dieser Volksabstimmung gibt. (…) Die Volksabstim-mung ist zweitens schädlich für das Land, weil es natürlich ein ruinöses Signal ist, zu sagen: Wenn eine Investition wie die in Stuttgart 21 auf ordentlichem Weg jahrelang vorbereitet ist, dann kann sie unter diesen Umständen noch gekippt werden. Die Ge-fahr steht doch im Raum, dass kein Investor mehr in diesem Land investieren wird, wenn hier so etwas möglich ist. Eine Volksab-stimmung zu Stuttgart 21 ist aus meiner Sicht auch rechtswidrig, weil verfassungsmäßige Wege der Entscheidungsfindung miss-achtet werden und weil im Grunde genommen der Rechtsbruch vorbereitet wird. Denn einer der ältesten Rechtsgrundsätze im

nationalen Recht, im Völkerrecht und überhaupt ist der Grund-satz »Pacta sunt servanda«. Aus dieser Situation wollen Sie über den Weg einer Volksabstimmung herauskommen. Das halte ich für einen Missbrauch. Wir stimmen dem Gesetzentwurf heute zu. Aber die andere Sache steht genauso im Raum: Bitte kein Miss-brauch des Instruments Volksabstimmung, um ein Projekt zu kip-pen, das auf ordentlichem Weg beschlossen worden ist, abgese-hen davon, dass es hoch sinnvoll ist.Abg. Reinhold Gall (SPD), Innenminister des Landes Baden-Württemberg: Werter Herr Präsident, werte Kolleginnen, werte Kollegen! Die jetzige Plenardebatte hat einmal mehr gezeigt, dass das richtige Verhältnis zwischen der repräsentativen Demo-kratie und der direkten Demokratie offenbar schwer zu finden ist – zumindest hier im Plenum des Landtags von Baden-Würt-temberg. Herr Hauk, (…) unstrittig sollte aber meines Erachtens sein, dass es, losgelöst von dieser Detailfrage, wie hoch denn Quoren sein sollen, eine große, eine deutlich vernehmbare Mehr-heit bei den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes für mehr Mitbestimmung im Bereich der politischen Teilhabe gibt. Deshalb haben Grüne und SPD dies in ihrem Koalitionsvertrag aufgegrif-fen, auch weil uns dieses Thema nicht erst seit Stuttgart 21 be-schäftigt. Vielmehr haben wir dieses Thema in den zurückliegen-den zehn Jahren wiederholt in dieser Runde hier diskutiert – und weil es meines Erachtens und aus der Sicht der Landesregierung keinen Grund gibt, den Menschen in Baden-Württemberg weni-ger Mitbestimmung zuzusprechen als den Menschen in anderen Bundesländern. (…) In ihrem Koalitionsvertrag haben Grün und Rot vereinbart, das Quorum bei der Volksabstimmung gänzlich abzuschaffen, also keine Quoren hierfür festzulegen. (…) Der vor-liegende Gesetzentwurf sieht eine Absenkung des Quorums für Volksabstimmungen auf 20 % vor. Ich finde schon, dass dies ein deutliches Zeichen, ein Handreichen an Ihre Fraktion ist, Herr Hauk, damit Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen können. (…) In keinem einzigen Fall waren die Bürgerinnen und Bürger in der Lage, die Verfahren, die theoretisch bestehen, zu nutzen, weil letztendlich einfach die Hürden zu groß waren. (…) Abgesehen von Baden-Württemberg haben acht andere Bundesländer ein Zustimmungsquorum für Volksabstimmungen über einfache Ge-setze, das über 25 % liegt, und sieben Bundesländer ein Quorum, das darunter liegt. Das heißt, wenn der vorliegende Gesetzent-wurf eine Mehrheit findet, dann befinden wir uns nirgendwo an-ders als in einem ausgewogenen Mittelfeld. Diese Neuregelung kann also nicht den Untergang des Abendlands und schon gar nicht von Baden-Württemberg bedeuten. (…)

© Zweite und Dritte Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktion GRÜNE und der Fraktion der SPD am 20. Juli 2011 – Gesetz zur Änderung der Verfassung des Landes Baden-Würt-temberg – Landtagsdrucksache 15/216

M 9 Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Finanz- und Wirt-schaftsminister Nils Schmid (SPD) auf der Regierungsbank. Am Redner-pult der Verkehrsminister Winfried Herrmann (Grüne): Der Gesetzentwurf der Fraktionen der Landesregierung erhält nicht die erforderliche 2/3-Mehrheit im Landtag. Abgegeben wurden insgesamt 136 Stimmen. Mit Ja haben 77 Abgeordnete gestimmt, mit Nein haben 59 Abgeordnete gestimmt. Damit wurde die Änderung der Verfassung abgelehnt. © picture alliance, 20.7.2011

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2010 zu einem nicht öffentlichen Sondierungsgespräch im Stutt-garter Rathaus zusammenzubringen.Hinter den Kulissen wird heftig um die Bedingungen für einen Schlichtungsprozess zu Stuttgart 21 gerungen – Geißler übt sich in Pendeldiplomatie und versucht mit immer neuen Vorschlägen, eine Brücke zu bauen. Die Forderung des »Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21« nach einem sofortigen und kompletten Bau-stopp ist für Landesregierung und Bahn AG unannehmbar. Nach stundenlangen Verhandlungen gelingt ein Kompromiss, am 22. Oktober 2010 können die Schlichtungsgespräche beginnen. Voraussetzung dafür ist die Einhaltung der ausgehandelten »Frie-denspflicht«: Sämtliche Bauarbeiten werden ab Beginn der Schlichtungsgespräche eingestellt. Einzige Ausnahmen hiervon sind die Arbeiten am Gleisvorfeld des Hauptbahnhofs und die Ar-beiten am sogenannten »Grundwassermanagement« zur Verhin-derung eines Vermischens des Grundwassers mit dem Mineral-wasser unter Stuttgart, dem zweitgrößten Heilwasseraufkommenin Europa.In dem Sondierungsgespräch sowie im Rahmen einer kleinen Ar-beitsgruppe werden weitere Bedingungen vereinbart, unter denen die Schlichtungsgespräche unter dem Leitmotiv »Alle an einen Tisch, alles auf den Tisch« abgehalten werden sollen:1) Parität: Beide Seiten sollen mit jeweils sieben Vertreterinnen und Vertre-tern an den Schlichtungsgesprächen teilnehmen. Jeder Seite ist es erlaubt, zu den Beratungen bis zu sieben Expertinnen und Ex-perten sowie bis zu drei Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinzu-ziehen. Am Beginn des ersten Schlichtungsgesprächs soll je ein Vortrag der S-21-Befürworter und der S-21-Gegner stehen, dan-nach soll eine Diskussion zu Haupt- und Unterthemen geführt werden. Im Wesentlichen würde man sich während der Diskussi-onsrunden daran auch halten.(2) Dialog »auf Augenhöhe«: Die Projektgegner erhalten die Zusage, auf Kosten des Landes in Abstimmung mit dem Schlichter kleinere Gutachten und Experti-

Was ist mit den braven Schwaben los?, fragten sich nicht wenige: Am 1. Oktober 2010 geht das Bild

eines schwer an den Augen verletzten Demonstranten um die ganze Welt – Symbol des Konflikts um ein Groß-projekt, der aus dem Ruder gelaufen ist. Wenn der missglückte Polizeieinsatz am 30. September 2010 im Rahmen einer Großdemonstration gegen das Bahnhof-sprojekt Stuttgart 21 (S 21) mit über hundert verletzten Demonstranten und mehreren Dutzend verletzten Poli-zisten einen Sinn gehabt haben sollte, dann den, dass er allen am Konflikt Beteiligten gezeigt hat, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Aber was tun?

Eskalation und Deeskalation eines Konflikts

Bemühungen des katholischen Stuttgarter Stadtdekans, Prälat Michael Brock, sowie eine Initiative von Minister-präsident Stefan Mappus (CDU) und des Grünen-Land-tagsfraktionsvorsitzenden Winfried Kretschmann, die Befürworter und Gegner von Stuttgart 21 an einen Tisch zu bringen und eine Gesprächsbasis zu schaffen, waren wenige Wochen und Tage zuvor gescheitert. Würde ein dritter Anlauf gewagt, und würde er zum Erfolg führen? Am 6. Oktober 2010 greift Ministerpräsident Mappus in einer Re-gierungserklärung zu Stuttgart 21 überraschend den Vorschlag des Grünen-Landtagsabgeordneten und Fraktionsvorsitzenden im Stuttgarter Gemeinderat, Werner Wölfle, auf: Der frühere CDU-Generalsekretär und Bundesminister Heiner Geißler soll einen Gesprächsprozess moderieren und Gegner wie Befürworter von Stuttgart 21 an einen Tisch holen. Der Vorschlag wird partei-übergreifend begrüßt, am darauffolgenden Tag übernimmt Geiß-ler sein Amt. Am 8. Oktober erfahre ich, dass ich für die Zeit des Moderationsprozesses Geißlers Büro leiten soll – und werde in den darauffolgenden acht Wochen Anschauungsunterricht einer neuen Form des Dialogs erhalten, in dessen Organisation ich eng eingebunden bin. Als Begriff dafür würde sich schließlich »Schlichtung« durchsetzen, auch wenn von vornherein klar ist, dass es einen Kompromiss in der Sache – wird in Stuttgart ein un-terirdischer Tiefbahnhof oder ein oberirdischer Kopfbahnhof ge-baut? – nicht geben konnte. Vor diesem Hintergrund wurden die Erfolgsaussichten der Schlichtung trotz grundsätzlicher Unter-stützung des Dialogversuchs in Politik, Medien und Gesellschaft überwiegend skeptisch eingeschätzt. Geißler, der sich in den letzten zwanzig Jahren zunehmend einen Ruf als unabhängiger Denker über den politischen Lagern erarbeitet hat, wird es je-doch zugetraut, wenigstens eine Gesprächsbasis zu schaffen. Po-litisch kommt ihm zugute, dass sowohl die Regierungs- wie auch die Oppositionsparteien ein halbes Jahr vor einer Landtagswahl großes Interesse haben, dass der Konflikt nicht weiter eskaliert, sondern beruhigt werden kann.

»Alle an einen Tisch, alles auf den Tisch«

Heiner Geißler nutzt die erste Woche in seiner Aufgabe dazu, mit allen am Konflikt beteiligten Kräften interne und getrennte Ge-spräche zu führen. Es gelingt ihm, jeweils siebenköpfige Delega-tionen der S-21-Gegner und der S-21-Befürworter am 15. Oktober

POLITISCHE PARTIZIPATION IN EUROPA

7. Die Schlichtung zu Stuttgart 21: Vorbild für eine neue Form des Dialogs?

LOTHAR FRICK

Abb. 1 Durch einen Wasserwerfer auf einer Demonstration gegen »Stuttgart 21« am 30.9.2010 verlor Dietrich Wagner (Mitte) nahezu sein ganzes Augenlicht © Marijan Murat, picture alliance

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sen anfertigen zu lassen. Zudem wird ihnen umfassender Zugang zu allen Projektunterla-gen zugebilligt, sofern diese nicht Geschäfts-geheimnisse der Bahn AG enthalten. Mit der Prüfung der Kostenrechnung der Bahn AG soll eine unabhängige Wirtschaftsprüfungs-gesellschaft beauftragt werden.(3) Öffentlichkeit und Transparenz: Sämtliche Gesprächsrunden sollen im Fern-sehen und im Internet live übertragen wer-den, zudem soll auf eine für jedermann zu-gängliche Großleinwand übertragen werden. Von allen Sitzungen sollen stenografische Protokolle angefertigt werden. Jede Sitzung soll ein Thema behandeln, der Ablauf wird von einer kleinen Arbeitsgruppe unter Lei-tung des Schlichters festgelegt, bei der beide Seiten paritätisch vertreten sein müssen.(4) Fixe Dauer: Die Schlichtungsgespräche beginnen am 22. Oktober und müs-sen bis Ende November abgeschlossen sein. Dann endet auch die Friedenspflicht.(5) Faktenschlichtung: Ziel der Schlichtung ist kein Kompromiss zwischen Gegnern und Befürwortern, sondern ein Abgleich der Fakten. Am Ende der Schlichtung sollen Empfehlungen des Schlichters stehen, in wel-cher Form bleibt zunächst offen.Die Organisation der Schlichtung unter den eben genannten Vor-aussetzungen wäre in der brutalen Kürze der dafür zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich gewesen, wenn nicht das Stuttgar-ter Rathaus ganz kurzfristig als Tagungsort zur Verfügung ge-standen und der Fernsehsender Phoenix sowie der Südwestrund-funk praktisch über Nacht Übertragungen der Gespräche möglich gemacht hätten.In den Wochen bis zur Verkündung des Schlichterspruchs am 30. November 2010 folgen in insgesamt neun Schlichtungsrunden vor laufenden Kameras 81 Stunden Vortrag und Diskussion – eine Transparenz in einem Konflikt um ein Großprojekt, wie es sie in diesem Umfang bisher nicht gegeben haben dürfte. Das Medien-interesse darüber hinaus ist immens, Stuttgart 21 und die Schlich-tung sind ein europaweites Thema.

Zivilgesellschaft kontra parlamentarische Demokratie?

Heiner Geißler empfiehlt in seinem Schlichterspruch einen Wei-terbau von Stuttgart 21 unter der Überschrift »Stuttgart 21 PLUS«. Da seine Empfehlungen keinerlei rechtliche Bindungskraft haben und er das Baurecht der Bahn, das sämtliche parlamentarischen, exekutiven und gerichtlichen Entscheidungsprozeduren bestä-tigt haben, nicht rückwirkend außer Kraft setzen kann, nimmt er sämtliche Kritikpunkte der S-21-Gegner auf, die sich im Verlauf der Schlichtungsgespräche als stichhaltig herausgestellt haben:– Verbesserung der Zulaufstrecken zum Tiefbahnhof,– bessere Anbindung des Flughafens,– optimiertes Sicherheitskonzept, – Nachweis der Leistungsfähigkeit des neuen Bahnhofs in

einem umfassenden »Stresstest«,– Vorkehrungen für einen erhöhten Verkehrsbedarf, – Verhinderung von Grundstücksspekulationen um frei wer-

dende Flächen, – gesicherte Bürgerbeteiligung bei deren Gestaltung.

Zudem fordert er künftige Volksabstimmungen zu Großprojekten nach Schweizer Vorbild. Wäre es möglich gewesen, zwischen bei-den Projekten in einem früheren Stadium der Auseinandersetzun-gen eine wirkliche Wahl zu treffen, hätte die Empfehlung auch auf »Kopfbahnhof 21« (K 21) oder eine Kompromisslösung lauten

können. Bei allem darf nicht vergessen werden: Ob S 21 oder K 21 – es geht in beiden Fällen um viel Geld und Faktoren wie Ein-fluss und Prestige. Auch K 21 ist ein Milliardenprojekt mit allem, was dazugehört.Die für mich mit Abstand interessanteste Erfahrung – in politi-scher Hinsicht und mit Blick auf die politische Bildung – war die hautnahe Beobachtung einer wichtigen Auseinandersetzung um ein politisch hochbrisantes Thema zwischen einer in vielfältigen Netzwerken organisierten Bürgerbewegung ohne feste Führung und hierarchisch aufgebauten Institutionen der Politik und der Wirtschaft mit festgefügten Abläufen, klar geordneten Zustän-digkeiten und Chefinnen und Chefs mit Entscheidungsrecht. Nicht dass das neu wäre – das hautnahe Erlebnis dieser Auseinan-dersetzung im Rahmen eines vorher nicht da gewesenen Prozes-ses war das Entscheidende. Dies dürfte auch der wichtigste Grund für das unglaublich große öffentliche Interesse, auch Me-dieninteresse gewesen sein.Die S-21-Gegner haben den Schlichtungsprozess von Anfang an positiv aufgenommen und als Chance verstanden, aus der »Protestler«-Ecke herauszukommen und ihre Positionen in der Sache für eine breite Öffentlichkeit nachvollziehbar darzustellen. Sie haben absolut professionelle Medienarbeit gemacht. Im Hin-tergrund hatten sie Beobachter und Mitarbeiter, die in die laufen-den Schlichtungsgespräche hinein Rückmeldungen und Argu-mentationshilfen gaben, laufend gespeist aus Mailverkehr, Internetrecherchen und einem Netzwerk mit ehrenamtlich arbei-tenden Fachleuten. Die vermeintlichen Vorteile der großen Appa-rate (wie Ministerien und Bahnkonzern) gegenüber einem zum Großteil ehrenamtlichen bürgerschaftlichen Netzwerk waren keine.Man sollte im Nachgang der Schlichtung jedoch nicht der Versu-chung erliegen, es habe sich hier um einen grundlegenden Kon-flikt zwischen der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie und einer bürgerschaftlichen Bewegung aus der viel beschwore-nen Zivilgesellschaft gehandelt. Das wäre zu einfach.Zunächst einmal muss dazu festgestellt werden, dass es sich bei den S-21- Gegnern um alles andere als eine festgefügte Gemein-schaft mit klaren gemeinsamen Zielen handelt. Das einzige ei-nende Band ist die gemeinsame Gegnerschaft zum Bahnhofspro-jekt Stuttgart 21. Darüber hinaus gibt es keine Verbindlichkeit der Positionen und der Verantwortlichkeiten. Zudem fällt auf, dass die Vertreterinnen und Vertreter der S-21-Gegner und des dahin-ter stehenden bürgerschaftlichen Netzwerks – über die Kriterien der Auswahl habe ich keine Kenntnis – erfahrene Leute in Sachen parlamentarische Demokratie und Gremienarbeit sind. Winfried Kretschmann und Werner Wölfle sind Landtagsabgeordnete, Boris Palmer war im Landtag und ist OB von Tübingen, Peter Con-radi war lange Jahre SPD-Bundestagsabgeordneter, Gangolf Sto-cker und Hannes Rockenbauch sind Stadträte in Stuttgart, Bri-gitte Dahlbender als Landesvorsitzende des BUND und Klaus

Abb. 2 Beginn der Schlichtungsgespräche zu »Stuttgart 21« unter Vorsitz von Dr. Heiner Geißler am 22.10.2010 im Stuttgarter Rathaus. Links neben ihm sein Büroleiter Lothar Frick, Direkt0r der LpB Baden-Württemberg © picture alliance

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Arnoldi als Vizechef des Verkehrsclubs Deutschland sind aus zahl-reichen Anhörungen und Gesprächen mit Abgeordneten vieler Parlamente gremienerfahren und kennen die politischen Ent-scheidungsabläufe in Deutschland und Baden-Württemberg aus dem Effeff.Die Vertreter der Zivilgesellschaft sind Politprofis im positiven Sinne des Wortes – ein Zufall ist das wohl nicht. Zudem hat die Schlichtung ebenso wie der Schlichterspruch keinerlei rechtliche Bindungskraft, sondern allenfalls eine gewisse politische Bin-dungswirkung. Aber auch die ist gering, da der Schlichterspruch kein von allen Seiten getragener Kompromiss sein konnte, wie das beispielsweise bei Tarifverhandlungen der Fall sein kann. Dementsprechend haben die Konfliktparteien aus dem Schlich-terspruch jeweils das herausgelesen, was ihren bekannten Positi-onen zu Stuttgart 21 entspricht.

Die Schlichtung – »Prototyp« für Bürger-beteiligung?

Der Hohenheimer Kommunikations-wissenschaftler Frank Brettschneider hat in einer Befragung in Stuttgart und Region untersucht, wie die Men-schen in Baden-Württemberg den Schlichtungsprozess um Stuttgart 21 beurteilen (»Die Schlichtung zu ›Stuttgart 21‹: Ein Prototyp für Bür-gerbeteiligung bei Großprojekten«, Forum Stadt, 1/2011). Insgesamt ist das Urteil der Bürgerinnen und Bür-ger positiv:– 58 Prozent der (vor und nach der

Schlichtung) Befragten fühlten sich nach der Schlichtung besser in der Lage, Stuttgart 21 zu be-werten.

– Deutlich mehr Menschen waren nach der Schlichtung der Ansicht, dass es zu S 21 ausreichend Infor-mationen gebe (aber immerhin noch 45 Prozent teilten die Mei-nung, es solle mehr informiert werden).

– Der Schlichterspruch wurde von 54 Prozent der Befragten positiv beurteilt, von 28 Prozent negativ, achtzehn Prozent emp-fanden positive und negative Seiten im sel-ben Ausmaß.– Achtzig Prozent der Befragten äu-ßerten zudem die Meinung, dass eine stär-kere Bürgerbeteiligung die Akzeptanz von Großprojekten erhöht. – 85 Prozent sprachen sich für eine stärkere Einbeziehung der Bürger in die Pla-nung von Großprojekten aus.

Die Schlichtung zu Stuttgart 21 hat sicherlich in vielerlei Hinsicht Maßstäbe gesetzt. Sie hat zu einer Versachlichung des lange Zeit vergifteten Diskussionsklimas beigetragen. Zur Mäßigung der radikalen S-21-Gegner hat die Schlichtung allerdings erwartungsgemäß nicht beitragen können. Sie war ein Prozess von beispielgebender Transparenz, zualler-erst dank der Live-Übertragungen im Fernse-hen und im Internet; alle Diskussionen und Dokumente sind im Netz unter »Schlichtung-S21.de« weiterhin abrufbar.

Die Übertragungssender Phoenix und SWR haben mit ihren Live-Sendungen zum Teil Rekordquoten erzielt, ein schlagender Beleg für das riesige Interesse an Verfahren und Inhalten der Schlich-tung in der Bevölkerung.Heiner Geißler selbst hat als ehrenamtlich arbeitender Schlichter mit Vertrauen auf beiden Seiten der Konfliktparteien vermocht, dem Schlichtungsprozess seinen Stempel aufzudrücken: Nicht nur dass es ihm glückte, über acht Wochen und achtzig Live-Übertragungsstunden hinweg mit großer Autorität und sprachli-chem Geschick ein konstruktives Gesprächsklima zu erhalten. Es gelang ihm weithin auch, die für die Öffentlichkeit wichtige Ver-ständlichkeit der Unterredungen herzustellen; kein leichtes Unter fangen im Zusammenhang mit einem technischen Riesen-projekt: »Heiner Geißler«, so die Stuttgarter Zeitung in ihrer Sil-vesterausgabe 2010, »befreite die Diskussionen aus dem Korsett der Sprachbilder, die sie prägten.« Ihm »gelang es, die Diskussion zu versachlichen – auch wenn dies nur eine Momentaufnahme ist.Die Debatte wurde so anschaulich wie nie zuvor, weil der Schlich-ter keine Worthülsen durchgehen ließ. Die Zuschauer erlebten, wie Überwerfungsbauwerke zu Brücken zusammenschrumpften

Abb. 3 Befragung (am 22.10. 2010 und am 30.11.2010)zur Schlichtung »Stuttgart 21« durch den Kom-munikationswissenschaftler Frank Brettschneider, Universität Hohenheim, unter 585 Befragten in Stutt-gart. © Frank Brettschneider, Dez. 2010

Abb. 4 Befragung (am 22.10. 2010 und am 30.11.2010)zur Schlichtung »Stuttgart 21«durch den Kommuni-kationswissenschaftler Frank Brettschneider, Universität Hohenheim, unter 585 Befragten in Stuttgart. © Frank Brettschneider, Dez. 2010

Frage: »Hier finden Sie einige Aussagen über die Inhalte der Schlichtungsgespräche. Uns interessiert, was Sie persönlich von diesen Aussagen halten?«

(»Bitte stufen Sie Ihre Meinung wieder auf der 7-Punkte-Skala ab?«)

Die Schlichtungsgespräche waren gut verständlich.

Die Schlichtungsgespräche waren spannend.

Der Ablauf der Gespräche war so organisiert, dass man sich ein gutes Bild von den einzel-

nen Argumenten machen konnte.

Die Schlichtungsgespräche waren eine reine Show- Veranstaltung.

Die Schlichtungsgespräche waren Zeitverschwendung.

Es wäre besser gewesen, wenn die Schlichtungs gespräche unter Ausschluss der

Öffentlichkeit statt gefunden hätten.

Die Schlichtungsgespräche musste man einfach verfolgen, um danach mitreden zu

können

10 % 67 %

47 %

61 %

18 %

17 %

8 %

43 %

16 %

7 %

62 %

68 %

85 %

24 %

negativ positiv

Frage: »›Stuttgart 21‹ besteht ja aus einer ganzen Reihe unterschiedlicher Teilaspekte: Wie bewerten Sie die folgenden Teilaspekte?«

(»Bitte bewerten Sie jeden Teilaspekt. Stufen Sie Ihre Bewertung auf folgender 7-Punkte-Skala ab.«)

11 % 63 %12 % 61 %

50 %27 %51 %28 %

53 %20 %58 %20 %

41 %36 %39 %35 %

26 %49 %26 %52 %

15 %72 %13 %69 %

Die Folgen für den Wirtschaftsstandort.

Die Gestaltung neuer Stadtteile.

Die Veränderung im Fernverkehr.

Die Verändung im Nahverkehr.

Die Folgen für die Umwelt.

Die Finanzierung.

Dezember 2010

Dezember 2010

Dezember 2010

Dezember 2010

Dezember 2010

Dezember 2010

Oktober 2010

Oktober 2010

Oktober 2010

Oktober 2010

Oktober 2010

Oktober 2010

negativ positiv

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Internethinweise

www.uni-hohenheim.de/fileadmin/einrichtungen/komm/PDFs/Komm/ Publikationen/Umfrage_S21_01.pdf, Frank Brettschneider: Umfrage zu Stuttgart 21

www.schlichtung-s21.de/, Offizielle Website der Schlichtungskommission Stuttgart 21

www.lpb-bw.de/schlichtung_s21.html, Schlichtung 21 – Zusammenfassung der Schlichtungsgespräche durch die LpB Baden-Württemberg (weiterfüh-rende Links)

www.stuttgart.de/schlichtung_stuttgart21, Schlichtungsgespräche zu Stuttgart 21. Zusammenstellung der Stadt Stuttgart

[…] Die Schlichtung entwickelte sich zu einer Sternstunde der deutschen Sprache – und zum Nachhilfeunterricht für Politiker und Manager.«Ein »Prototyp« für künftige Bürgerbeteiligung bei neuen Groß-projekten ist die Stuttgarter Schlichtung nur mit Abstrichen, schon gar keine Blaupause, auch wenn man viel aus ihr lernen kann. Dies gilt vor allem für die Frage, wie Bürgerinformation im Zeitalter der Neuen Medien zu gestalten ist. Sie war vorrangig oh-nehin eher ein Informations- denn ein Beteiligungsprojekt. Als Prototyp kann sie gesehen werden für die Versachlichung von gesellschaftlich-politischen Großkonflikten, deren Lösung bishernicht gelungen ist; die Energiepolitik mit ihrem großen Konflikt-potenzial mag dafür ein Beispiel sein. Es scheint kein Zufall, dass die von Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Fukushima einge-setzte Ethik-Kommission sich für ihre Beratungen einiger der Ele-mente aus der S-21-Schlichtung bedient.

Bürgerbeteiligung muss am Anfang von Großprojekten stehen, nicht an deren Baubeginn. Das politische Kunststück für die Zu-kunft besteht darin, einerseits mehr Bürgerbeteiligung zu insti-tutionalisieren, andererseits Planungs- und sonstige Verfahren dennoch zu verkürzen sowie konsensfähige Entscheidungsver-fahren irgendwo zwischen Volksabstimmung und Parlamentsent-scheiden zu entwickeln, deren Legitimation ausreichend dafür ist, dass getroffene Entscheidungen dann auch in die Tat umge-setzt werden.Beteiligung und Transparenz stellen sich im Zeitalter von »Face-book« und »Wikileaks« zudem fast von selbst her, mit allen Vor- und Nachteilen. Das Internet, soziale Netzwerke, weltweiter Gesprächs- und Mailverkehr über am Körper tragbare Kleinstge-räte – die Neuen Medien und ihre Möglichkeiten schaffen ein grundlegend neues Verhältnis zwischen etablierter Politik und Zivilgesellschaft.

Ob dies zu einer Annäherung oder einer weiteren Entfremdung führen wird, muss einstweilen offen bleiben. Parteien, Parla-mente und Regierungen sind aber sicher gut beraten, sich auf die neuen Formen der Kommunikation und der Bürgerbeteiligungeinzulassen – aber nur dann, wenn sie dies auch ernst nehmen wollen. Das Zeitalter der weitgehenden Einbahnstraßenkommu-nikation ist abgelaufen.

Abb. 6 » Infratest-Befragung vor und nach der S 21-Schlichtung« © Infratest, 2010, Grafik nach StZ: zap

Abb. 5 Infratest-Befragung vor und nach der S 21-Schlichtung © Infratest, 2010, Grafik nach StZ: zap

Guter SchiedsspruchHalten Sie Geißlers Schlichterspruch alles in allem für gut oder schlecht?

nach Parteianhänger

Gesamt

CDU-Anhänger

SPD-Anhänger

FDP-Anhänger

Grünen-Anhänger

Linke-Anhänger

StZ-Grafik: zap Quelle: Infratest

eher schlecht

eher gut

24 68

87

68

67

60

40

6

28

26

35

60

Die Umfrage dokumentiert das Stimmungsbild im LandSind Sie grundsätzlich für oder gegen das Projekt Stuttgart 21?

nach Altersgruppen nach Parteianhängerdagegen dagegen

Gesamt Gesamt38

5438

5454

3554

35

6946

8359

6539

7054

4932

5239

4930

327

5335

2514

2539

1328

2951

2746

4562

3850

4158

6371

3952

6680

18–24 Jahre CDU-Anhänger

25–34 Jahre FDP-Anhänger

35–44 Jahre SPD-Anhänger

45–59 Jahre Linke-Anhänger

über 60 Jahre Grünen-Anhänger

dafür dafür

StZ-Grafik: zap Fehlende zu 100 %: weiß nicht/keine Angaben Quelle: Infratest

Umfrage Dezember

Umfrage September

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MATERIALIEN

M 1 Heiner Geißler: »Die direkte Bürger-beteiligung«

Deutschland braucht eine Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch eine Verstärkung der unmittelbaren Demokratie sowie eine grundlegende Reform des öffent-lichen Planungs- und Baurechts.Neben den in den Verfassungen der Länder vorgesehenen Volksinitiativen, Volksbegeh-ren und Volksentscheiden schlage ich eine neue Form der Bürgermitbestimmung vor: Die direkte Bürgerbeteiligung. Die besonde-ren Formen sollen obligatorisch zunächst für Großprojekte der Öffentlichen Hand oder für Investitionen, an denen die Öffentliche Hand beteiligt ist, gelten.1. Im vorhandenen Baurecht leistet sich

Deutschland ein hochbürokratisches Ver-fahren mit vielen Doppel- und Dreifach-prüfungen, unzumutbarem Zeitaufwand und kostspieligen Mehrfachgutachten. Im europäischen Ver-gleich rangiert Deutschland in puncto Bürgernähe und Öf-fentlichkeitsbeteiligung auf den hinteren Plätzen. In keinem anderen EU-Staat sind die Ausschlussregeln so streng: Wer in Deutschland seine Bedenken nicht innerhalb knapper Frist vorbringt, ist damit für immer ausgeschlossen. In den Plan-feststellungsverfahren gibt es keine Mitsprache, sondern nur Bescheide von oben.

2. Die Behauptung, bei einer Verstärkung der unmittelbaren De-mokratie sei die Realisierung von Großprojekten in Deutsch-land nicht mehr gewährleistet, ist falsch. Das Gegenteil ist richtig. Eine Fortsetzung der bisherigen obrigkeitlichen Ver-fahren verbunden mit dem Ausschluss echter bürgerschaftli-cher Mitwirkungsrechte führt, wie die Vorgänge der letzten Jahre beweisen, zu lang anhaltenden massiven Protesten und Auseinandersetzungen, erheblichen politischen Verwicklun-gen und jahrelanger Lähmung der Entscheidungsprozesse. Durch diese neue Form unmittelbarer Demokratie soll ein Stück Glaubwürdigkeit und mehr Vertrauen für die Demokra-tie zurückgewonnen werden. In einer Zeit der Mediendemo-kratie mit Internet, Facebook, Twitter, einer Billion Webseiten und der möglichen Mobilisierung von 10.000enMenschen innerhalb kurzer Frist per Mausklick kann die De-mokratie nicht mehr so funktionieren wie im letzten Jahrhun-dert. Die Zeit der Basta-Politik, wo den Bürgern von oben nach unten Projekte ohne relevante Beteiligung der betroffe-nen Bürger verordnet werden, ist vorbei.

3. Die direkte Bürgerbeteiligung kann in unterschiedlichen For-men erfolgen, die im Einzelnen diskutiert werden müssen. Zum Beispiel als verbesserte Mediation, aber auch als Fach- und Sachschlichtung, d. h. durch den sachlichen Austausch von Fak-ten und Argumenten auch mit Hilfe der neuesten technischen Möglichkeiten, unter gleichberechtigter Teilnahme von Bürgern aus der Zivilgesellschaft. In Umkehrung der bisherigen Verfah-ren steht am Anfang eines Vorhabens die Formulierung des Zie-les eines Projektes, z. B. einer Brücke, eines Flughafens, eines Bahnhofs. Dieses ist Gegenstand einer allgemeinen öffentlichen Erörterung einschließlich der Diskussion von Alternativen.

4. Diese öffentliche Debatte kann von einem öffentlichen Forum begleitet werden, auf dem sich Bürgerinitiativen aus der Zivil-gesellschaft, Projektgegner wie -befürworter, Regierungsmit-glieder, Unternehmensvorstände, Bürgermeister, Abgeord-nete an einen Tisch setzen. Die Diskussion erfolgt auf Augenhöhe. Alle Fakten und Alternativen werden auf den Tisch gelegt. In einem strukturierten Faktencheck werden die

Argumente Punkt für Punkt einander gegenübergestellt. Die Diskussion erfolgt unter totaler Öffentlichkeit und Transpa-renz, d. h. sie muss von Anfang bis zum Ende im Fernsehen (auch Lokal- und Regionalfernsehen) übertragen und ins In-ternet gestellt werden. Dieses Verfahren stellt eine Gegenpo-sition dar zu der bisher praktizierten Geheimhaltung und Konservierung von Herrschaftswissen. Die gleichberechtigte Teilnahme der Bürger aus der Zivilgesellschaft wird dadurch sichergestellt, dass ihre Ausgaben für Gutachten und Sach-verständige von der Öffentlichen Hand übernommen werden.

5. Danach erfolgt die Grundsatzentscheidung: Das Projekt und seine Alternativen werden zur Abstimmung gestellt. Dieses Verfahren kann münden in einer Volksinitiative, einem Volks-begehren, einem Volksentscheid oder die Abstimmung und Entscheidung erfolgt in den Parlamenten, Kreistagen, Stadt- und Gemeinderäten. Dieses Verfahren verhindert eine Emoti-onalisierung der Debatte und trägt nicht nur zur Versachli-chung der Diskussion bei, sondern eröffnet jedem interessierten Bürger im besten Sinne der Aufklärung die Bil-dung eines eigenen Urteils. Danach beginnt die detaillierte Planung, z. B. die Trassenführung, mit möglichen Alternativen. Auch diese werden öffentlich erörtert, in gestrafften Planfest-stellungsverfahren geprüft und schließlich endgültig ent-schieden. Auch nach der Abstimmung müssen die Beschlüsse und deren Realisierung, vor allem wenn dies Jahre dauert, immer wieder in der Öffentlichkeit begründet und erläutert werden. Der Faden zwischen den verantwortlichen Projektträ-gern und den Bürgerinnen und Bürgern darf nicht reißen.

6. Für den Beginn des Verfahrens und die Einhaltung der Verfah-rensregeln kann ein Schlichter/ Ombudsmann/Moderator durch die jeweiligen Parlamente bestimmt werden, der für einen fairen Verfahrensablauf zu sorgen hat und je nach Auf-fassung der Beteiligten auch ein Votum abgeben kann. Die Vertreter der Zivilgesellschaft ergeben und entwickeln sich aus den vorhandenen und sich neu bildenden Bürgerinitiati-ven (Selbstinszenierung der Zivilgesellschaft).

7. Ich stelle diesen Vorschlag zur Diskussion und halte ihn prinzi-piell für geeignet, den Konsens für ökonomische, soziale und technologische Projekte in der Bürgerschaft zu ermöglichen und zu stärken und dadurch auch die Verfahren selber zu beschleu nigen. Ich bin der Auffassung, dass in einer demokra-tischen Gesellschaft Protest und Kritik nicht als Störung, son-dern als unverzichtbare Voraussetzung für eine fortschrittli-che, qualitativ hochstehende technische und gleichzeitig humane Entwicklung angesehen werden muss.

© Heiner Geißler, 2010–2011, 16.2.2011, · www.heiner-geissler.de

M 2 Schlichtung zu »Stuttgart 21« © Gerhard Mester, 2011

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M 4 Günter Nonnenmacher: »Der anmaßende Schlichter«, FAZ

Landauf, landab zieht Heiner Geißler und singt das Loblied seiner Schlichtung des Konflikts über »Stuttgart 21«. Er spricht von einer »neuen Form unmittelbarer Demokratie«, der »weite Verbreitung in Deutschland« zu wünschen sei. Das ist, schaut man auf das Er-gebnis, ein kühner, um nicht zu sagen anmaßender Wunsch. Richtig ist, dass das in Internet und Fernsehen zu verfolgende Schlichtungsspektakel (vorerst) der Auseinandersetzung das Gift der Gewalt entzogen und (…) die Stimmung gedreht hat: Zwar ist am Wochenende in Stuttgart wieder demonstriert worden, doch inzwischen spricht sich eine Mehrheit der Bürger Baden-Würt-tembergs für das ausgehandelte »Stuttgart 21 plus« aus.Aber der Preis dafür ist hoch – im wörtlichen Sinn. Durch die Auf-lagen des Schlichters wird ein ohnehin teures Vorhaben noch teu-rer, was die sparsamen Schwaben, die gegen die angebliche Ver-schwendung von Steuergeldern protestiert haben, nicht freuen wird. Die Grünen hoffen geradezu, dass die Kosten explodieren und mit ihnen das ganze Projekt, weil sie den Schlichterspruch nicht akzeptieren – von radikalen Gegnern wie den Parkschüt-zern gar nicht zu reden, die eine andere Republik wollen. Da schwant selbst dem Tübinger Grünen-Oberbürgermeister Palmer Übles, der im Schlichtungsverfahren noch Wortführer der »Stutt-gart 21«-Gegner war: Weil ihm radikale Kräfte wegen eines Spar-haushaltes inzwischen aufs Rat-hausdach steigen, hat er vor der Gefahr einer »blockierten Republik« gewarnt, »wenn Ergebnisse von ordentlichen Verfahren nicht akzeptiert werden«. Der Fall »Stuttgart 21« liege anders, behauptet Palmer; aber Geißler hat er dennoch mit dem Satz widersprochen, das Stuttgarter Schlich-tungsverfahren müsse »in dieser Form eine absolute, einmalige Ausnahme bleiben. Sonst akzeptieren die Bürger gar nichts mehr.« Späte Einsicht?Es bleibt festzustellen, dass die Schlichtung den Konflikt um »Stuttgart 21« nicht gelöst hat. Eine Antwort wird letztlich erst die Wahl in Baden-Württemberg im März bringen. Bis dahin jeden-falls wollen die Grünen den außerparlamentarischen Protest nicht desavouieren, weil sie sich von dort einen Stimmenzufluss versprechen. Danach wird man sehen, ob sie die Wahlentschei-dung akzeptieren oder – als Regierungspartei – alles tun, um ein beschlossenes, in rechtmäßigen Verfahren gebilligtes Projekt doch noch auszuhebeln.Festzuhalten bleibt weiterhin, dass eine der Schlichtung ver-gleichbare Veranstaltung – wenn auch ohne die überdimensio-nierte Publizität – im Rahmen der bestehenden Gesetze und Ver-

fahren durchaus möglich gewesen wäre: die Bürger hätten es nur verlangen, die Stadt und das Land hätten es nur wollen müssen. Die Brisanz des Projektes »Stuttgart 21« unterschätzt zu haben ist der Vorwurf, den sich die Politik gefallen lassen muss.Geißlers Ambition trägt jedoch weiter, das zeigt sein Hinweis auf das »Schweizer Modell«: Letztlich geht es um die Einführung di-rekt-demokratischer Mitbestimmung in die politische Willensbil-dung, also um die Zulassung von Volksentscheiden. Die gibt es auf kommunaler und auf Landesebene, und davon wird auch reichlich Gebrauch gemacht. Das macht das Regieren nicht leich-ter. Denn dieses besteht eben auch darin, vor der Wahl einen Zu-ckerguss zu präsentieren, der die bitteren Pillen ummantelt, wel-che die Bürger anschließend auch schlucken müssen – was umso schwieriger wird, je weniger es zu verteilen gibt.Dennoch wird weiter an der Übertragung eines Bildes nach Deutschland gepinselt, in dem freie Bürger wie in der Schweiz ihre Gesetze selbst bestimmen. Damit wird ein Sonderfall zur Normalität erhoben, so wie in der politischen Romantik die von dem Genfer Bürger Jean-Jacques Rousseau für kleine, weltabge-wandte Republiken konzipierte direkt-demokratische Verfasst-heit (sein Verfassungsentwurf galt der Insel Korsika) als Maßstab für Demokratie missverstanden wurde. Die Schweiz hat eine Kon-kordanz-Demokratie mit einer schwachen, nach historischem Schlüssel gebildeten Allparteienregierung, und sie hat einen Wettbewerbsföderalismus, der das Steuerrecht einschließt. In diesem Rahmen funktionieren Volksabstimmungen anders als in der Bundesrepublik mit ih- rer Parteienkonkurrenz und einem ko-operativen Föderalismus. Und selbst in der Schweiz werden ange-sichts der Minarett-Abstimmung und der Ausschaffungs-(= Ab-schiebungs-)Initiative leise Zweifel daran laut, ob Volksentscheide ihren ursprünglichen Sinn behalten, wenn sie von einer Partei dazu benutzt (sprich: missbraucht) werden, um die Konkordanz-Demokratie aufzubrechen.Wie dem auch sei: die Vorschläge, die in Deutschland für Volksab-stimmungen auf Bundesebene gemacht wurden, folgen nicht dem »Schweizer Modell«, sondern stecken nur einen sorgfältig umgrenzten Raum ab: er ist umzäunt von hohen Quoren, Finanz- und Haushaltsfragen sollen ohnehin Tabu bleiben, gegen grund-legende deutsche Gesetze und gegen internationales Recht darf nicht verstoßen werden. Davon werden sich die »Wutbürger« nicht besänftigen lassen. Und: Die Mehrheit der Bürger, das zeigt die Erfahrung, ist darauf nicht erpicht.

© Günther Nonnenmacher: Der anmaßende Schlichter, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.12.2010, S. 1

M 3 Demonstration für das Projekt »Stuttgart 21«. Am 23.10.2010 versam-melten sich rund 7.000 Menschen auf dem Stuttgarter Schlossplatz © picture alliance

M 5 Demonstration der »S 21-Gegner« am Freitag, dem 1.10.2010. Laut Poli-zeiangaben waren es 50.000 Demonstranten. Nahezu jeden Montag Abend demonstrieren seit Mitte 2010 Tausende vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof, auch nach der Schlichtung. © picture alliance

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M 6 »Friedensplan für Stuttgart?«

Stuttgart-21-Schlichter Heiner Geißler hat überraschend einen weitreichenden Kom-promiss im Streit um den Tiefbahnhof vorge-schlagen. Geißler regte eine kombinierte Lösung aus Kopfbahnhof und Durchgangs-station an. Der Fernverkehr solle durch den neuen Tiefbahnhof mit vier statt acht Gleisen laufen, der Nahverkehr über einen verklei-nerten Kopfbahnhof. Er habe den Vorschlag der Bundesregierung und der Landesregie-rung zukommen lassen.Das Papier, das Geißler gemeinsam mit dem Schweizer Verkehrsberatungsbüro SMA erar-beitet hat, trägt den Titel: »Frieden in Stutt-gart.« »Angesichts der enormen Risiken und der verhärteten Fronten fühle ich mich als Schlichter verpflichtet, alle Beteiligten zu bitten, die Chancen einer Friedenslösung zu prüfen«, schreibt der frühere CDU-General-sekretär darin.Als Kompromiss schlägt Geißler konkret vor: »Die Grundidee einer durchgehenden Schnellfahrstrecke Mannheim-Stuttgart-Ulm mit einem tiefliegenden Durchgangsbahn-hof in Stuttgart an heutiger Lage bleibt bestehen. Dagegen soll ein etwas verkleinerter Kopfbahnhof mit seinen Zufahrten und die Gäubahn auf dem Stadtboden von Stuttgart weiterhin in Be-trieb bleiben.«Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) sagte, Geißlers Vorschlag sei es wert, geprüft zu werden. »Wir werden diesen Kompromissvorschlag nicht einfach vom Tisch fegen«, sagte Hermann. Es sei jedoch verfrüht, schon jetzt konkret Stellung in der Sache zu beziehen. Zudem könne er nicht für die gesamte Landesregierung sprechen, da es zwischen Grü-nen und SPD zu Stuttgart 21 verschiedene Meinungen gebe. Die Südwest-CDU lehnte den Kompromiss ab. Das Konzept sei veral-tet und schon früher verworfen worden, sagte eine Sprecherin. Tatsächlich hatten die Grünen einen ähnlichen Vorschlag in den 90er-Jahren gemacht. Bahnvorstand Volker Kefer zeigte sich im TV-Sender Phoenix verblüfft. Zugleich kündigte er an: »Wir wer-den wegen eines Vorschlags keinen Baustopp machen.«Die Kosten für das Kombi-Modell schätzen SMA und Geißler auf 2,5 bis 3 Milliarden Euro. Der Tiefbahnhof soll 4,1 Milliarden Euro kosten. In Geißlers Konzept würde der viergleisige, unterirdische Bahnhof direkt unter die heutigen Kopfbahnhofgleise gelegt. Die bisher geplante Durchgangsstation sollte quer zum bestehenden Bahnhof liegen.Bevor Geißler seinen Vorschlag den Gegnern und Befürwortern unterbreitete, hatten sich die Fronten verhärtet. Das Aktions-bündnis wollte bei der Präsentation der Ergebnisse des Stress-tests den Raum verlassen, weil die Bahn sich nicht bereit erklärte, den bestehenden Kopfbahnhof einem Stresstest zu unterziehen. Stattdessen willigte die Bahn nur ein, einen zentralen Bestandteil des Tests für Stuttgart 21 zu wiederholen.

© nach: dpa und Badische Zeitung vom 30.7.2011

M 7 Heribert Prantl: »Ein Bahnhof, der vom Himmel fällt«

Hinter dem neuen Geißler-Plan für Stuttgart 21 steckt viel mehr als ein Schlussgag des Schlichters. Die deutsche Pünktlichkeit ist heute in der Schweiz zu Hause. Die Züge dort fahren nach Fahr-plan. Die Schweizer müssen auch keine Tarnbegriffe erfinden: Man sagt dort »pünktlich«, wenn ein Zug pünktlich ist, und man sagt »verspätet«, wenn der Zug verspätet ist; man redet nicht heuchlerisch, wie die Deutsche Bahn bei Stuttgart 21, von einem

»wirtschaftlich optimalen Leistungsbereich«. In der Schweiz funktioniert der Nahverkehr so gut wie der Fernverkehr. Glückli-che Schweiz. Man kann dieses Glück nach Deutschland importie-ren. Allerdings nicht, indem man der Schweizer Firma SMA auf-gibt zu prüfen, ob Stuttgart 21 die von der Deutschen Bahn formulierten Wirtschaftlichkeitskriterien einhält; sondern da-durch, dass man diese Firma beauftragt, die Schweizer Erfahrun-gen ins deutsche Bahnwesen einfließen zu lassen.Das hat Heiner Geißler gemacht. Er hat die Firma SMA, die das verblüffend gute Schweizer Bahnsystem mitentwickelt hat, gebe-ten, Stuttgart 21 zu überarbeiten.Der Plan »Frieden in Stuttgart« ist nicht hopplahopp entstanden, sondern ausgetüftelt worden. Geißler und die Ingenieure haben im Kurort Leukerbad darüber gebrütet. Das Oben- und Unten- Modell für Stuttgart (Fernverkehr unten, Nahverkehr oben) hat ein Vorbild: den Bahnhof Zürich, einer der meistfrequentierten Bahnhöfe der Welt. Den Oben- und Unten-Plan für Stuttgart gab es schon einmal; er wurde verworfen. Das muss nichts heißen. In der Geschichte von Stuttgart 21 ist schon vieles falsch gemacht worden; vielleicht auch das. Jetzt freilich kommt der Plan irrsinnig spät; aber die Schlichtung war ja auch irrsinnig spät. Für die Bahn ist derGeißler-Plan viel verlockender, als es ihre ersten Reaktio-nen vermuten lassen.Warum? Die Eskalation der Proteste würde wohl gestoppt, die zu erwartende Kostenexplosion auch, weil weniger Tunnels gebohrt werden müssen. Und es baut sich auch anders, wenn Lastwagen nicht unter Polizeischutz fahren müssen. Die Aufträge, die die Bahn soeben vergeben hat, sind keine Entscheidung gegen Geiß-ler: Sie beziehen sich auf die Bohrgeräte – die bräuchte man auch für die noch verbleibenden Tunnels. Die Bahn als Bauherrin dürfte durchaus liebäugeln mit dem Geißler-Modell; die CDU weniger. Für sie ist das Festhalten an »Stuttgart 21alt« ein Politikum. Ers-tens will man, nach dem Atomausstieg, nicht schon wieder umfal-len. Zweitens sieht man die Chance, die grün-rote Regierung zu sprengen. Bauherrin ist aber die Bahn. Sie wird Kosten und Risi-ken abwägen. DasGeißler-Modell bringt Verzögerungen (selbst wenn zum Teil die alte Planfeststellung genutzt werden kann); die Bauzeit verkürzt sich aber. Der Oben-und Unten-Bahnhof ist ein Deus-ex-Machina-Vorschlag. Im antiken Theaterkamein Gott, den eine Maschinerie auf die Bühne hievte, zum Einsatz, wenn das Stück so verworren war, dass es sonst nicht zu einem Ende gekommen wäre. Das passt auch zu Suttgart 21.

© Heribert Prantl, Ein Bahnhof, der vom Himmel fällt, Süddeutsche Zeitung vom 1.8.2011, S. 4

M 8 »Wo bleibt die überirdische Lösung?« Karikatur von Oliver Schopf in der Süddeutschen Zeitung zur abermaligen Schlichtung von Heiner Geißler und seiner Erklärung »Frieden in Stuttgart« © Oliver Schopf, 2011

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M 9 Michael Schlieben: »Demokratie nach Geißler«,Die ZEIT

Alle Parteien wollen die Bürger künftig mehr in die Politik einbinden. Aber wie soll diese Beteiligung aussehen? Schlichtung als Nor-malfall?Die deutsche Politik hat ein neues Top-Thema. Von FDP bis Linke, alle beschäftigen sich damit. Auf Bundes- wie auf den Landes-ebenen werden Enquete-Kommissionen ge-gründet, Fachtagungen organisiert, Refe-renten aus dem Ausland eingeladen, Ideen vorgestellt und wieder verworfen. Der Name des Themas klingt leicht sperrig. Analog zur Umwelt-Politik in den Achtzigerjahren oder zur Internet-Politik im vergangenen Jahr-zehnt streitet man derzeit über die Demokra-tie-Politik. Die Politik beschäftigt sich also mit sich selbst. Zu viele Krisensymptome hat sie zuletzt erlebt. Umfragen zeigen, dass die Deutschen den Parteien, den Politikern, selbst der Demokratie als solcher immer we-niger vertrauen. Auch die seit Jahren voran-schreitende Überalterung der Parteien und anderer Großorganisationen lässt nicht auf ein intaktes demokratisches Gemeinwesen schließen.Hinzu kommt eine neuere Tendenz, die eben-falls auf einen wachsenden Widerstand gegen die Politik hindeutet: 2010 war schließlich das Jahr der Bür-gerproteste. Die Stuttgarter kämpften gegen den neuen Tief-bahnhof, die Hamburger gegen die neue Schulreform, die Bayern gegen das zu lasche Rauchergesetz, die Wendländer und viele andere gegen die Castor-Transporte, die Dresdener immer mal wieder gegen die Waldschlösschenbrücke. Auch in Schleswig-Holstein formiert sich Widerstand gegen die Fehmarnbelt-Brü-cke, in Berlin gegen den neuen Großflughafen Berlin-Branden-burg und den Ausbau der A 100.Sieht so eine Gesellschaft aus, die der Demokratie nichts mehr zutraut? Natürlich nicht. Interesse, Engagement und Diskursbe-reitschaft sind vorhanden. Insofern ist es sinnvoll, dass sich die Politiker als Repräsentanten einer zunehmend diskreditierten Staatsform darüber Gedanken machen, wie sie diese attraktiver gestalten können. (…) Verschiedene Modelle sind in der Debatte. Selbst die baden-würt-tembergische CDU, die lange Zeit die Proteste gegen Stuttgart 21 am liebsten komplett ignoriert hätte, möchte künftig als »Avant-garde für Bürgerbeteiligung« wahrgenommen werden (…). Künf-tig sollen die Bürger an der Planung und Realisierung von »Groß-projekten« beteiligt werden. Sie sollen frühzeitig und umfassend informiert werden; der Prozess soll transparent ablaufen, auf Ge-genvorschläge soll fair und sachlich eingegangen werden. (…) Ab wann ist ein Projekt beispielsweise ein Großprojekt? Warum be-schränkt man sich weitgehend auf Infrastrukturprojekte? Alles noch recht neu für die konservative Partei in Baden-Württem-berg. (…)Alle anderen Parteien gehen in ihren Vorschlägen weiter. Die FDP beispielsweise macht sich für die Einrichtung von so genannten Bürgerkammern stark. Nach dem Vorbild der Laien im Gerichts-wesen sollen diese künftig die Arbeit der Parlamentarier ergän-zen und kontrollieren. (…) Ausgewählt werden sollen die Bürger zufällig, nach repräsentativen Kriterien. So hätte man die Mög-lichkeit, parallel zum parlamentarischen Politikbetrieb, »Störfak-toren« zu institutionalisieren, die mit ihrer »Alltagsperspektive« für eine »Rückkopplung« in die Gesellschaft sorgen können und frei von Lobbyismus sind. Das mit den Lobbygruppen hingegen bezweifeln die Experten, die Erfahrung gemacht haben mit dem Versuch, Bürgerbeteiligung zu institutionalisieren. In vielen Kom-

munen gibt es bereits sogenannte Bürgerhaushalte. Hier können interessierte Anwohner über die Ausgaben für das kommende Jahr debattieren und Vorschläge einreichen (auf dieser Karte fin-den Sie eine Übersicht, in welchen Städten das möglich ist). Tat-sächlich gibt es positive Beispiele, etwa Solingen: Der hoch ver-schuldeten Stadt gelang es, ein großes Sparpaket zu schnüren, das in Nordrhein-Westfalen als mustergültig galt.Die Bürger waren sogar mutiger und konsequenter als viele Lo-kalpolitiker. Für einen einmaligen Kraftakt mag das gut funktio-nieren, sagt Dieter Molthagen, der für die Friedrich-Ebert-Stif-tung über Bürgerbeteiligung geforscht hat. Nur eben allzu institutionalisiert und langwierig dürften solche Prozesse nicht sein. »Ab dem dritten Jahr nimmt nur noch die Freiwillige Feuer-wehr und der Sportverein daran teil«, sagt er. Auf ähnlichen Ver-anstaltungen, die seine Stiftung organisiert hat, habe sich ge-zeigt, dass die Rücklaufquote für freiwillige Gremien frappierend gering ist. Für eine Bürgerkonferenz in Gera musste er 4.000 Briefe versenden, bis er 25 Teilnehmer zusammen hatte. (…) In temporären Mitmach-Angeboten sehen manche Politiker des-halb eine Chance. Die SPD beispielsweise schwärmt augenblick-lich sehr von ihren Zukunftswerkstätten. Hier wird landauf, landab über die sozialdemokratischen Inhalte diskutiert. Die Ver-anstaltungen sind auch für Nicht-Parteimitglieder zugänglich – und erfreuen sich durchaus einer regen Beteiligung. (…) Die Ver-fechter der offenen Vorwahlen betonen, dass sich die alternden und schrumpfenden Parteien dringend öffnen müssen. Sie ver-weisen auf die USA: Ohne öffentliche Vorwahlen wäre Barack Obama nicht Präsident, da Hillary Clinton im Establishment der Demokraten einen besseren Stand hätte. (…)Alle bisher erwähnten Angebote verbindet allerdings, dass der Einfluss, den die Bürger auf die politischen Prozesse nehmen können, gering ist. Sie können sich besser informieren als früher, sie können beratend tätig werden und deutlicher sichtbar Kritik üben; aber direkt mitbestimmen können sie nicht. Deshalb wer-ben viele für verbindliche Volksentscheide. (…)

© Michael Schlieben: »Demokratie nach Geißler«, ZEIT online, 10.12.2010, www.zeit.de/po-litik/deutschland/2010–12/buergerbeteiligung-geissler-protest

M 10 Anhaltende Montagsdemonstrationen gegen Stuttgart21, hier vom 28.8.2011. Vor dem Stuttgar-ter Rathaus werden zudem sogenannte »Volksversammlungen« von Gegner von S 21 veranstaltet © picture alliance

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rungen der Zugangs- und Beteiligungschancen sozialer Gruppen ablesen lässt. In den Gesellschaften Europas werden die sozialen Positionen stark durch politische Rechte bestimmt. Trotz der je eigenen, un-terschiedlichen Geschichte der Mitgliedsstaaten der EU kann für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch kommunistischer Regime nach 1989 eine Ausbreitung und Festi-gung politischer Teilhaberechte, vor allem des allgemeinen Wahl-rechts, als Kennzeichen konstatiert werden. Das Verschwinden formal-rechtlicher Hürden für benachteiligte Gruppen hat aber noch lange nicht zu einer vollkommenen Durchsetzung des Leistungsprinzips geführt. Nach wie vor spielt vor allem die soziale Herkunft eine entscheidende Rolle.

Vom »Fahrstuhl zum Paternoster«

Sozialer Wandel kann sich sowohl als »Umbau«, d. h. Eingriff in die grundsätzliche Architektur wie z. B. die Verbreiterung und Verengung der Machpositionen an der Spitze der Gesellschaft, als

Die Frage nach der Zukunft politischer Beteiligung in Europa ist seit geraumer Zeit Gegenstand öffentlicher

Debatten und wissenschaftlicher Untersuchungen. Während einerseits Politik- und Politikerverdrossenheit insbesondere junger Menschen festgestellt werden (Noack 2011), gehen an-dererseits die sogenannten »Wutbürger« auf die Straße. Ins-besondere junge Südeuropäer protestieren gegen Perspektiv-losigkeit unter den gegenwärtigen ökonomischen und politischen Verhältnissen. Im August 2011 beunruhigten zudem in Großbritannien, dem sogenannten Mutterland der Demokratie, plündernde und randalierende Jugendliche ohne erkennbare politische Manifestationen die Weltöffentlich-keit. Sozialer Wandel ist dabei keineswegs ein gleichförmiger Prozess. Zwischen als auch innerhalb der Mitgliedsstaaten bestehen enorme Unterschiede (Liddle/Lerais 2007). In Bezug auf die Transformation von der Industrie- zur Dienstleistungs-gesellschaft, dem Wandel der Arbeitsmarktbedingungen in der globalen Wirtschaft und der fortschreitenden Individuali-sierung im Zuge der europäischen Bildungsexpansion kann durchaus von gesamteuropäischen Tendenzen sozialen Wan-dels gesprochen werden. Signifikant ist dabei insbesondere die Spaltung in Gewinner und Verlierer. Von besonderer Be-deutung ist zudem die Frage, ob die Aussicht auf sozialen Auf-stieg oder die Angst vor dem Abstieg Auslöser und Triebkraft politischer Partizipation sind.

Sozialer Wandel und Sozialstruktur

Sozialer Wandel bezeichnet die Veränderung einer Gesellschaft. Ganz allgemein kann er als Veränderung der Sozialstruktur, also der »relativ dauerhafte[n] Gliederung und Ordnung einer Gesell-schaft nach soziologisch relevanten Merkmalen« (Mau/Verwiebe 2009) beschrieben werden. Diese Merkmale beziehen sich dabei auf die sogenannte »meritokratische Triade«, also der Vorstel-lung, dass die sozialen Positionen nach dem Leistungsprinzip zu besetzen seien. Es geht um ein Beziehungsdreieck aus Bildung, Berufsprestige und Einkommen, welches Statuskongruenz, d. h. den positiven Zusammenhang zwischen Bildung, Beruf und Ein-kommen, wie etwa beim gutbezahlten Chefarzt, oder Statusin-kongruenz, etw einem Taxifahrer mit Doktortitel, anzeigen kann. Die »meritokratische Triade« ist dabei mehr als ein gesellschaftli-ches Ordnungsprinzip, sie ist ein Indikator für die Rechtmäßig-keit sozialer Ungleichheit: »Ist Chancengleichheit beim Zugang und Erwerb von Bildungsqualifikationen gegeben, gelten die dar-aus resultierenden Positions- und Einkommensungleichheiten als meritokratisch legitimiert.«(Kreckel 2008, 3) Der britisch-deut-sche Soziologe Ralf Dahrendorf fasst diese Gedanken zusammen und beschreibt die Sozialstruktur deshalb als Architektur eines Gemeinwesen (Dahrendorf 1965) in Form des berühmten Dahren-dorfschen Hauses. Die Anordnung der Räume entspricht hier den sozialen Positionen: die Eliten residieren im Penthouse, während sich etwa an- und ungelernte Arbeiter mit dem Souterrain zufrie-den geben müssen. Die mehr oder weniger hohe Durchlässigkeit der Wände zeigt die Chancen sozialer Auf- und Abstiege an.

Um den sozialen Wandel empirisch erfassen zu können, müssen insbesondere die Regeln der Statuszuweisung untersucht wer-den, da sich gesellschaftlicher Wandel vor allem an den Verände-

POLITISCHE PARTIZIPATION IN EUROPA

8. Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängste. Sozialer Wandel und politische Beteiligung in Europa

ALEXANDER RUSER

Abb. 1 Anteil der 25- bis 64-Jährigen mit einem akademischen Abschluss (1994 und 2006) © OECD, Education at a Glance, Paris, vgl. auch: Helbig/Nicolai

Niederlande

Norwegen

Dänemark

Deutschland

Griechenland

Schweden

Großbritannien

Finnland

Spanien

Belgien

Frankreich

Irland

Italien

Schweiz

Portugal

Österreich

0 % 5 % 10 % 15 % 20 % 25 % 35 % 45 % 55 % 60 % 65 % 70 %

21

16

14

13

12

12

12

11

11

10

9

9

8

8

7

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27

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15

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22

19

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auch als »Umzug«, d. h. Veränderung der Auf-stiegschancen und Abstiegsrisiken ausdrü-cken. Anfang der 1980er-Jahre hatte der So-ziologe Ulrich Beck sozialen Wandel noch mit dem Begriff des »Fahrstuhleffekts« beschrie-ben (1983): Der wirtschaftliche Aufschwung und die Bildungsexpansion in den Jahrzehn-ten nach dem Zweiten Weltkrieg schienen allen Gesellschaftsmitgliedern, gleich wel-cher Schicht, einen wachsenden Wohlstand und mehr individuelle Freiheit zu verspre-chen. Die Wände der gesellschaftlichen Häu-ser schienen durchlässiger geworden. Entsprechend des meritokratischen Prinzips eröffnet ein verbesserter Bildungszugang in-dividuelle Chancen der Berufswahl und Le-bensführung. In international vergleichen-den Längsschnittuntersuchungen kann diesie europäische Bildungsexpansion nach-gewiesen werden. So zeigt beispielsweise die Entwicklung der Akademikerquote (| Abb. 1 |) einen deutlichen Anstieg in ausgewählten eu-ropäischen Ländern.

Im Gegensatz dazu spricht der Politologe Christoph Butterwegge in jüngerer Zeit von einem »Paternoster-Effekt«: »In demselben Maße, wie die einen nach oben gelangen, geht es für die anderen nach unten« (2009). An die Stelle von Aufstiegshoffnung tritt ver-mehrt die »Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg« (Lengfeld/Hirschle 2009).

Beide Effekte beziehen sich auf Umbauprozesse im gesellschaftli-chen Haus. Während die Europäischen Gesellschaften bis in die 1990er-Jahre im Fahrstuhl nach oben fuhren, die Lebensbedin-gungen der Menschen im Keller spürbar besser wurden, wird die Lage in den unteren Stockwerken heute zusehends prekär.

Die Verbreitung höherer Bildungsabschlüsse hat zudem einen entscheidenden Einfluss auf das politische Interesse und die poli-tische Teilhabe. Längsschnittuntersuchungen des European So-cial Survey (ESS) belegen diesen Zusammenhang: Nur jeder vierte niedrig Gebildete (mehr als 6 Ausbildungsjahre) schätzt sich als »ziemlich« oder »sehr« interessiert ein. Die Zahl verdoppelt sich bei denjenigen mit 14 Ausbildungsjahren und steigt auf 70 % bei Personen mit 17 Bildungsjahren, z. B. einem Hochschulabschluss (ESS 2010). Im Zuge der europäischen Bildungsexpansion müsste der Zusam-menhang zwischen Bildungskarriere und politischem Interesse heute nun zu einem allgemeinen Anstieg der Politisierung führen. Obwohl die Daten für alle Mitgliedsstaaten auf eine verbesserte Bildungssituation hindeuten, sind Bildungs- und Herkunftsunter-schiede europaweit allerdings noch längstb nicht verschwunden, zeigen die »schichtspezifischen Benachteiligungen ein ausge-prägtes Beharrungsvermögen« (Geißler 2005). Mehr noch: An die Stelle ehemaliger Problemgruppen, vor allem Arbeiterkinder und Frauen, sind nunmehrb neue Benachteiligungsmuster getreten. Aus den legendären benachteiligten »katholischen Arbeitertöch-tern« als prototypischen Sorgenkindern der Bildungssysteme sind nunmehr »Migrantensöhne« (ebd.) geworden. Politische Beteiligung müsste sich also, vermittelt über das politi-sche Interesse, vermehrt bei den Gewinnern der Bildungsexpan-sion vorfinden, während Bildungsverlierer, also Personen aus so-zial schwachen Familien mit Migrationshintergrund, (PISA-Studie, 2007) von regulärer politischer Teilhabe ausgeschlossen blieben. Unter Bezugnahme auf das Freiwilligensurvey zur Messung bür-gerschaftlichen Engagements stellt Engels fest: »Je höher das Ein-kommen ist, desto stärker engagieren sich die Bezieher dieser Einkommen auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen« (2004, 29).

Im Rahmen des von der Europäischen Kommission geförderten Projekts »Political Participation of Young People in Europe – De-velopment of Indicators for Comparative Research in the Euro-pean Union« (EUYOUPART) wurde hier tatsächlich ein Zusam-menhang zwischen der sozialen Lage und dem Stellenwert von Politik in den Elternhäusern konstatiert: Je niedriger die soziale Position der Herkunftsfamilie, desto wahrscheinlicher wachsen Jugendliche in unpolitischen Haushalten auf, werden schwächer politisch sozialisiert (EUYOUPART 2005, 92f.). Der Zusammen-hang zwischen sozialer Lage und politischer Partizipation variiert dabei je nach der Beteiligungsform (| Abb. 2 |).

Politische Partizipation in der EU

Betrachtet man die Muster politischer Partizipation in Europa, fällt zunächst ein erheblicher Unterschied zwischen klassischen, institutionalisierten und neuen, selbstorganisierten Formen der Beteiligung auf (| Abb. 3 |). Während die Beteiligung an Wahlen für die Mehrheit der EU Bürger eine selbstverständliche Partizi-pationsform darstellt, werden neue Formen des Engagements deutlich selektiver und insgesamt seltener ausgeübt.

Die eingangs aufgeworfene Frage, ob politische Beteiligung und politisches Interesse eher die Folge einer bürgerschaftlichen Emanzipation im Zuge der europäischen Bildungsexpansion oder aber Ausdruck sozialer Exklusion sind, kann auch auf der Ebene individueller Erwartungen gestellt werden: Ist politische Partizi-pation Zeichen einer allgemeinen Zufriedenheit mit den gesell-schaftlichen Verhältnissen oder ein Indikator für den Wunsch nach Veränderung marginalisierter Gruppen? Wie wir bereits ge-sehen haben, deutet die allgemein hohe Wahlbeteiligung auf eine verbreitete Akzeptanz des repräsentativen Systems hin. Aller-dings verweisen Merkel und Petring (2011, 11) auf die soziale Se-lektivität der Wahlbeteiligung in Europa. Vor diesem Hintergrund sind die Wahrnehmung persönlicher Aufstiegschancen und Ab-stiegsängsten entscheidend.

| Abb. 4 | zeigt zudem die regionale Verteilung von Karrierepessi-mismus. Es fällt auf, dass z. B. in Portugal, Slowenien und Grie-chenland jeder Dritte von einer Verschlechterung seiner persönli-chen beruflichen Situation ausgeht. Zieht man zusätzlich aktuelle Zahlen des Eurobarometers | Abb. 5 |) hinzu, wird deutlich, dass diese negative Einschätzung vor allem bei Arbeitslosen und Per-sonen im mittleren Alter vorzufinden sind. Jüngere Menschen, vor allem Schüler und Studenten, gehen dagegen häufiger von einer positiven Bildungsrendite aus und erwar ten eine Verbesserung

Abb. 2 Formen politischer Partizipation in Deutschland © nach: Kumulierter Datensatz der ALLBUS (Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften), 1980–2008

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

Wahlbeteiligung

Petition

Demonstration

Boykott

monatliches Haushaltseinkommen bis 1000 Euro

monatliches Haushaltseinkommen ab 2500 Euro

Frage: Welche Form der politischen Beteiligung würden Sie ausüben?

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ihrer beruflichen Situation. Trotz Erosionserscheinungen merito-kratisch legitimierter Aufstiegswertungen scheinen die Verspre-chungen der europäischen Bildungsexpansion noch weitgehend intakt.

Wandel der Erwartun-gen – Wandel der Par-tizipationsmuster?

Die insgesamt positive Be-wertung zeigt aber nur eine Seite sozialen Wandels. In der jüngsten Erhebung des Euro-barometers (Mai 2011) zu all-gemeinen Lebenszufrieden-heit treten gravierende Unterschiede zutage. Wäh-rend in Deutschland nur 12 % der Befragten angeben, mit ihren allgemeinen Lebens-umständen »nicht« oder »überhaupt nicht« zufrieden zu sein, ist es in Spanien bei-nahe jeder Vierte (23 %) und in Griechenland sogar die Mehrheit der Befragten (54 %). Besonders deutlich wird diese negative Einschät-zung bei, jungen Hochschul-absolventen. Europaweit ist bereits von der »Generation Praktikum« (Briedis/Minks 2007) die Rede. Selbst hoch-qualifizierte Berufsanfänger finden sich in schlecht be-zahlten, häufig perspektivlo-sen Praktika wieder und schaffen nicht den Sprung in ein reguläres Beschäfti-gungsverhältnis. Auch wenn monokausale Erklärungen zu kurz greifen, ist es dennoch wichtig, die Kontextbedin-

gungen politischen Engagements zu berücksichtigen. Die Aussicht auf eine bessere Zukunft führt zu Partizipation in-nerhalb und für das politische System. Geht der Glauben an die eigene Zukunft verloren, können Politikverdrossenheit (»stiller Ausstieg aus dem System«) oder Protest (»gegen den Status

Quo«) die Folge sein. Die der-zeit zu beobachtenden Ju-gendproteste könnten somit auch als Formen politischer Partizipation in den Pater-nostergesellschaften gedeu-tet werden. Sie finden zu-meist außerhalb etablierter Institutionen statt und zielen auf die Veränderung des Sta-tus Quo.

Fazit

Um Ausmaß und Formen po-litischer Partizipation ad-äquat erfassen zu können, müssen die sozialstrukturel-len Veränderungsprozesse europäischer Gesellschaften berücksichtigt werden. Vor allem die in den letzten Jah-ren zu beobachtende Verän-derung des allgemeinen Vor-

Wahlbeteili-gung

Kontakt zu Politikern

Mitarbeit Partei/polit. Gruppierung

Mitarbeit an-dere Organisa-

tion

Abzeichen getragen/Auf-

kleber befestigt

Unterschriften-sammlung

Genehmigte Demonstration

Produkt boykott

02/03 2004 02/03 2004 02/03 2004 02/03 2004 02/03 2004 02/03 2004 02/03 2004 02/03 2004

Belgien 79 85 18 14 5 4 23 15 7 5 34 22 8 7 13 10

Dänemark 88 85 18 19 4 5 17 24 5 8 28 29 8 5 23 28

Finnlang 72 73 24 22 4 4 31 31 16 14 24 26 2 2 27 29

Griechenland 83 85 15 14 5 6 6 5 3 3 5 3 5 5 9 5

Großbritannien 67 62 18 15 3 2 9 8 10 8 40 36 4 4 26 21

Luxemburg 51 61 18 22 4 5 16 24 5 6 29 21 21 15 16 14

Norwegen 80 78 23 23 9 9 28 25 22 23 36 39 8 11 19 24

Österreich 81 66 19 19 10 11 19 24 8 9 27 25 10 7 22 20

Portugal 69 65 12 6 4 2 4 3 7 2 7 5 4 4 3 2

Schweden 81 81 17 14 5 3 25 24 11 13 41 49 6 8 33 35

Schweiz 54 56 17 14 8 7 17 13 9 9 39 38 8 9 31 25

Spanien 71 77 12 13 6 7 17 18 10 12 24 25 18 34 8 14

Mittelwert Westeuropa

73 73 18 16 6 5 18 18 9 9 28 26 9 9 19 19

Westdeutsch-land

80 76 13 11 4 4 19 22 7 5 30 33 10 8 29 25

Ostdeutschland 78 71 14 13 4 4 20 20 5 3 34 33 14 13 19 16

Mittelwert Osteuropa

66 59 14 12 4 3 8 5 3 3 12 10 3 2 7 5

Polen 61 60 10 7 3 3 6 6 3 4 7 9 1 2 4 5

Slowenien 74 66 12 11 4 3 2 2 2 2 12 6 3 2 5 2

Tschechische Republik

63 52 23 17 5 3 15 8 5 5 16 14 5 3 11 7

Abb. 3 Politische Partizipation in Europa (2002/02 und 2004 [in Prozent]) © nach: Katja Neller / Jan W. van Deth: Politisches Engagement in Europa. in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 30-31/2006, S. 33

Legende: 1. Wahlbeteiligung: Teilnahme an der letzten nationalen Wahl2. Fragetext: »Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit denen man versuchen kann, etwas zu verbessern oder zu verhindern, dass

sich etwas verschlechtert. Haben Sie im Verlauf der letzten 12 Monate irgend etwas davon unternommen?«

Abb. 4 Individuelle Zukunftserwartung © Eurobarometer 73, S. 35 (Herbst 2010)

Welche Erwartungen haben Sie an die nächsten 12 Monate? Werden die nächsten 12 Monate besser, schlech-ter, oder gleich sein, wenn es um Folgendes geht? Ihre persönliche berufliche Situation.

Besser Schlechter Gleich Weiß nicht/keine An-gabe

EU 27 18 % 11 % 60 % 11 %

Alter

15–24 34 % 8 % 45 % 13 %

25–39 29 % 12 % 54 % 5 %

40–54 16 % 16 % 63 % 5 %

55+ 5 % 9 % 68 % 18 %

Berufliche Situation der Befragten

Selbstständige 24 % 15 % 58 % 3 %

Leitende Angestellte 21 % 9 % 68 % 2 %

Andere Angestellte 20 % 13 % 64 % 3 %

Arbeiter 20 % 14 % 62 % 4 %

Hausfrauen/-männer 11 % 13 % 61 % 15 %

Arbeitslose 38 % 20 % 33 % 9 %

Renter/Pensionäre 4 % 7 % 67 % 22 %

Schüler/Studenten 31 % 6 % 47 % 16 %

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zeichens sozialen Wandels – Abschied von der Aufstiegshoffnung und Aufstieg der Ab-stiegsängste – hat Spuren in den Partizipati-onsmustern hinterlassen. Es stellt sich die Frage, ob sich junge Europäer als Adressaten ökonomischer und sozialer Veränderungen oder aber als Protagonisten und als aktive Gestalter sozialen Wandels begreifen.

Literaturhinweise

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Briedis, Kolja/Minks, Karl-Heinz (2007): Generation Praktikum – Mythos oder Massenphänomen? HIS Projektbericht, BMBF

Butterwegge, Christoph (2009): Krise und Zukunft des Sozialstaates, in: Michael Bauer/Alexander End-reß (Hrsg.): Armut. Aspekte sozialer und ökonomi-scher Unterprivilegierung, S. 12–26

Dahrendorf, Ralf (1965): Gesellschaft und Demo-kratie in Deutschland. Pieper Verlag, München.

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Europäische Kommission (2010) Eurobarometer 73. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union.

Geißler, Reiner (1996): Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftli-chen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung. 2. Auflage, Westdeut-scher Verlag

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Helbig, Marcel/Nikolai, Rita (2008): Wenn Zahlen lügen. Vom ungerechtes-ten zum gerechtesten Bildungssystem in fünf Jahren. WZB Brief Bildung 03

Institute for Social Research and Analysis (2005): EUYOUPART, Final Compa-rative Report

Lengfeld, Holger/Hirschle, Jochen (2009): Die Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg. Eine Längsschnittanalyse 1984–2007. Zeitschrift für Soziologie Jg. 38, Heft 5, S. 379–398

Liddle, Roger/ Lerais, Fréderic (2007) Soziale Wirklichkeit in Europa. Konsul-tationspapier des Beratergremiums für Europäische Politik.

Mau, Stefen/Verwiebe, Roland (2009): Die Sozialstruktur Europas. UTB

Merkel, Wolfgang / Petring, Alexander (2011): Demokratie in Deutschland 2011. Report der Friedrich Ebert Stiftung

Neller, Katja / van Deth, Jan (2006): Politisches Engagement in Europa. APuZ 30–31/2006

Noack, Peter (2011): Informationsdienst Wissenschaft – idw – Pressemittei-lung Friedrich-Schiller-Universität Jena, Axel Burchardt, 27.4.2011

Kreckel, Reinhard (2008): Aufhaltsamer Aufstieg. Karriere und Geschlecht in Bildung, Wissenschaft und Gesellschaft. In: Löw, M. (Hrsg.) Geschlecht und Macht. VS Verlag

OECD (2007): The Program International for International Student Asses-ment (PISA).PISA 2006: Science Competencies for Tomorrow’s World

Abb. 5 Wie schätzen Sie Ihre aktuelle persönliche Arbeitssituation ein? Besser, schlechter oder gleich (2011 im Vergleich zu 2010) © Eurobarometer, http://ec.europa.eu/public_opinion/cf/index_en.cfm

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MATERIALIEN

M 1 »Krawalle in England – Gesellschaft vor der Kern-schmelze«

Mit den Krawallen von London erlebt der Westen sein soziales Fukushima. Aber wer hatte denn gedacht, die Vermehrung des Reichtums durch ei-nige wenige bei gleichzeitiger Ver-elendung der Vielen könne so weiter-gehen? (…)Der britische Premier Cameron hat ein paar Tage gebraucht, um die rich-tigen Worte zu finden. Erst in dieser Woche sagte er: »Die sozialen Prob-leme, die sich seit Jahrzehnten entwi-ckelt haben, sind vor unseren Augen explodiert.« Und er sprach von der »kaputten Gesellschaft«. Für einen Tory ist das ein Fortschritt. »Gesell-schaft« – das Wort kommt dem briti-schen Konservativen nicht leicht von den Lippen. Für Margaret Thatcher war das der springende Punkt: »Wäh-rend die Sozialisten von der Gesellschaft ausgehen und wie man sich in sie einfügt, nehmen wir den Menschen als Ausgangs-punkt«, hat die eiserne Premierministerin gesagt. Aber wenn die Gesellschaft kaputt ist, geht auch der Mensch kaputt. Das woll-ten Thatcher und all die anderen neoliberalen Ideologen nach ihr nicht wahrhaben. Der Markt hat keine moralische Qualität, und ohne Moral werden wir alle zu Tieren. (…) Jetzt fällt es plötzlich allen auf. Im konservativen »Daily Telegraph« schreibt der Kon-servative Charles Moore, der die offizielle, erst nach ihrem Tod zu veröffentlichende Biografie über Thatcher verfasst hat: »Es hat mehr als 30 Jahre gedauert, bis ich mir als Journalist diese Frage stelle, aber in dieser Woche spüre ich, dass ich sie stellen muss: Hat die Linke nicht am Ende recht?« (…) Die Aufstände in London sind, so scheint es, für das soziale Selbstverständnis des Westens, was Fukushima für sein technolo-gisches Selbstverständnis war: der Super-GAU, die immer denk-bare, aber nie erwartete Katastrophe, der moralische Meltdown. Aber bei allem Respekt: Das Einzige, was hier verwunderlich ist – ist die Verwunderung. Wer hatte denn gedacht, es werde ewig so weitergehen? Wer hatte geglaubt, die Vermehrung des obszönen Reichtums durch einige wenige bei gleichzeitiger Verelendung der Vielen werde ohne Folgen bleiben? Die entgrenzte Akkumula-tion ist kein Unfall des kapitalistischen Systems. Sie ist das Sys-tem. So wie Mauer und Gulag keine Unfälle des Sozialismus waren, sondern seine Wahrheit. Kapitalismus bedeutet, einer be-sitzt die Yacht mit Swimmingpool und Hangar für den Heli, und Millionen haben seit Jahren keine Gehaltserhöhung bekommen. Sozialismus bedeutet für alle Menschen das Glück, und wer nicht mitmacht, kommt in den Knast. (…) Das vernachlässigte Gemein-wesen wird untergehen (…)Eine Demokratie ohne Demokraten hat keine guten Aussichten. Wir lernen aus der Geschichte bekanntlich wenig. Aber an diese Lehre von Weimar sollte man sich erinnern: Die res publica amissa, das vernachlässigte Gemeinwesen, wird am Ende unter-gehen. Wenn es darum geht, was uns wichtiger ist, die Demokra-tie oder der Kapitalismus – wie werden wir uns entscheiden?Und: Wird man uns überhaupt entscheiden lassen?

© Jakob Augstein: Krawalle in England – Gesellschaft vor der Kernschmelze, SPIEGEL on-line, 18.8.2011

M 3 »Krawalle – Die abgehängte Unterschicht«

Sind die Aufstände in den abgehängten Stadtteilen Englands eine erste Antwort auf die seit langem wachsende soziale Ungleich-heit, die Finanzkrise und die Sparpolitik? So direkt ist der Zusam-menhang wohl nicht. Was derzeit in London und Birmingham ge-schieht, ist eher mit den Ereignissen von 2005 in der Pariser Banlieue vergleichbar als mit den Demonstrationen dieses Jahres in Griechenland und Spanien.Wer nach anderen als wirtschaftlichen oder politischen Erklärun-gen sucht, findet, was er braucht: »Parallelgesellschaften«, die nach ihren eigenen Gesetzen leben, Jugendbanden und Jugend-kriminalität, Drogenhandel, eine Polizei zwischen Überforderung und Rassismus, zwischen Kapitulation und Schusswaffeneinsatz.Arbeits- und Hoffnungslosigkeit in den sogenannten sozialen Brennpunkten nicht nur Englands, sondern der westlichen Welt insgesamt, der Abstand zwischen ihnen und der Mehrheitsgesell-schaft nehmen seit langem zu. Laut OECD gehörte Großbritan-nien Mitte des vergangenen Jahrzehnts zu den Industrieländern, in denen der Unterschied zwischen Reich und Arm am größten war, trotz erfolgreicher Bemühungen von New Labour, ihn gegen-über den Thatcher-Jahren zu verringern. Der Anteil der Haushalte in Armut ging von 1995 bis 2005 von zehn auf acht Prozent zurück. Aber die Lohnspreizung nahm um 20 Prozent zu, und infolge der Arbeitslosigkeit waren 2005 nicht weniger als 16 Prozent der Haushalte ohne einen beschäftigten Erwachsenen.De-Industrialisierung und geringe soziale Mobilität sind durch Sozialpolitik allein nicht auszugleichen, selbst dann nicht, wenn der Staat wie Großbritannien unter Labour hohe Budgetdefizite und einen wachsenden Schuldenberg in Kauf nimmt. Mit den De-fiziten ist nun Schluss, und so wird die künstlich unterdrückte Armut rasch zurückkommen. Globalstatistiken sagen im Übrigen wenig über die örtliche Verteilung von Armut und Arbeits-, Chan-cen- und Hoffnungslosigkeit, und Aufstände finden vor Ort statt.Am härtesten trifft es die Jugend in den kaputten Stadtvierteln. Hier vor allem wirkt sich aus, dass es in Großbritannien trotz jahr-zehntelanger Bemühungen niemals gelungen ist, ein funktionie-rendes Berufsbildungssystem aufzubauen. Viele Jugendliche, vor allem die zweite und dritte Einwanderergeneration, haben nur die Wahl zwischen Arbeitslosigkeit und endlosen Runden in mise-rabel finanzierten staatlichen Aufbewahrungsprogrammen, die auch nur in Arbeitslosigkeit enden.

M 2 Plünderungen und Unruhen Anfang August 2011 in Londons Vororten © picture alliance

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1845 schrieb der spätere britische Premierminister Benjamin Disraeli von den »zwei Nationen«, die in Eng-land nebeneinander her lebten, Arm und Reich, zwischen denen es »kei-nen Umgang und kein Mitgefühl« gebe, die »so wenig über die Ge-wohnheiten, Gedanken und Gefühle der anderen« wüssten, als seien sie »Bewohner verschiedener Planeten« Der Traum der englischen Demokra-tie seit dem 19. Jahrhundert, dass aus den zwei Nationen eine werden könnte, durch Bürgerrechte und sozi-ale Reformen, erscheint heute, am Beginn der großen Konsolidierung, illusorischer als jemals nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Was denken die Jugendlichen in den Vier-teln am Rand der Gesellschaft, wenn sie im TV die Bilder von der Hochzeit von William und Kate und vom Auf-marsch der eingeladenen Eton-Alumni in ihren Edelklamotten sehen?Warum aber kommt es nicht zu poli-tischen Forderungen, sondern zu Straßenkämpfen, Plünderungen, Ju-gendrevolten? Zum Abgehängtsein der Quartiere derer, die Politik eigentlich mehr als alle anderen gebrauchen könnten, gehört, dass Politik in ihnen nicht mehr vorkommt. Sie ist längst Eigentum der anderen: Inszenierung ihres Zusammengehörigkeitsgefühls, Seifenoper ihrer Eitelkei-ten, Gelegenheit zur persönlichen Bereicherung. Dass Politik etwas mit ihrer Lebenssituation zu tun haben oder sie verbessern könnte, kommt der Unterschicht von heute anders als der des viktorianischen Englands mit ihren Gewerkschaften und Reform-bewegungen nicht in den Sinn.Die heutige Politik hat den Kontakt zu den neuen Unterschichten verloren, nicht nur in England. In Deutschland nimmt die Wahlbe-teiligung seit den 1990er-Jahren auf allen Ebenen ab, besonders in den Wohnvierteln mit hohen Anteilen an Arbeitslosen, Sozial-hilfeempfängern, zerbrochenen Familien. Von den Parteien eines Staates, der die soziale Abkopplung nicht verhindern konnte, er-warten die Betroffenen nichts. Wo aber niemand wählt, lohnt es nicht, Parteibüros zu unterhalten.Die Aufstände in den englischen Städten sind unpolitisch, und niemand muss fürchten, dass sie in einer Revolution münden könnten. Doch sind sie nicht notwendigerweise wirkungslos. Ohne die Brände in den US-Ghettos 1968 wäre die Bürgerrechts-gesetzgebung Lyndon Johnsons von seinen Nachfolgern wohl wieder kassiert worden. Durch sie sind die Schwarzen in den USA über Jahrzehnte Schritt für Schritt vorangekommen. Auch wenn Ausschreitungen den eigenen Leuten schaden: den anderen kön-nen sie Angst machen, und für die Mittel- und Oberschichten, die auf Steuersenkungen bestehen und gekürzten Sozialhaushalten, kann Angst ein guter Lehrmeister sein.

© Wolfgang Streck, Krawalle – die abgehängte Unterschicht, Handelsblatt 15.8.2011, S. 16

M 4 Klaus-Dieter Frankenberger (FAZ): »In Flammen«-

Fassungslos sind wohl die meisten Briten angesichts der Kra-walle, die sich in der Hauptstadt ausbreiten, sich aber nicht mehr auf London beschränken. Brennende Häuserzeilen, Plünderun-gen am helllichten Tage, ein Todesopfer der Randale – dieses Aus-maß an Gewalt, Aggressivität und an Konfrontationsbereitschaft seitens junger Leute aus sogenannten sozia-en Brennpunktvier-

teln – ein Synonym meist für soziale Verwahrlosung – hat das Land schon sehr lange nicht mehr erlebt. Offenkundig hat die Po-lizei eine solche Explosion krimineller Energie nicht erwartet; vor-bereitet war sie darauf nicht. Dass ein offenkundig schockierter Premierminister Cameron die Verstärkung der Polizei um zehn-tausend Einsatzkräfte angeordnet hat, kommt dem Einge-ständ-nis gleich, dass die Polizeiführung die Lage, die seit Samstag es-kalierte, falsch eingeschätzt hat. Unter Kontrolle hatte sie diese nicht. Das Zusammentreten des nationalen Krisenstabes und die für Donnerstag einberufene Sondersitzung des Parlaments sind Indizien dafür, für wie gefährlich die Lage mittlerweile gehalten wird.Aber nicht die Polizei steht am Pranger. Dorthin gehören die va-gabundierenden Randalierer, die ganze Stadtviertel mit Gewalt überziehen, der Polizei mit Rache drohen und die sich an dem verzweifelten Gefühl der Bürger weiden, die öffentliche Ordnung breche zusammen. Es ist viel, was den Briten in den vergangenen Monaten zugemutet worden ist, jetzt kommt auch noch Brandge-ruch hinzu. Was ist hier aus dem Ruder gelaufen? Sicher wird jetzt wieder über hohe Jugendarbeitslosigkeit, über soziale Ausgren-zung und Perspektivlosigkeit geredet werden. Das sind die Stich-wörter, die immer zur Erklärung, wenn nicht zur Rechtfertigung dienen müssen, wenn Jugendliche ihrer Gewaltbereitschaft freien Lauf lassen und schon gar die Autorität des Staates nicht aner-kennen. Vermutlich wird auch noch die britische Regierung wegen ihrer Sparpolitik zum Hauptschuldigen erklärt werden. Ja, triste soziale Verhältnisse können trist sein, aber sie sind keine Rechtfertigung für Gesetzlosigkeit. Die Polizei darf die Straßen Londons nicht den Krawallmachern überlassen. Die Politiker, die für die Polizisten Verantwortung tragen, sollten zudem überle-gen, ob die »sanfte« britische Polizeiarbeit zeitgemäß ist – oder eine Einladung zu brutaler Straßenkriminalität.

© Klaus-Dieter Frankenberger: In Flammen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10.2011, S. 1

M 5 »London brennt« © Gerhard Mester, August 2011

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M 6 Leo Wieland: »Rückkehr der Empörten«, FAZ

Die »Bewegung 15. Mai«, die sich auch unter dem Motto »Echte Demokratie jetzt« präsen-tiert, ist noch nicht in den Sommerferien. An diesem Samstag rüstet sie sich für einen Sternmarsch auf Madrid, wo die einheimi-schen »Empörten« sie mit Kost, Unterkunft und warmen Duschen schon freundschaft-lich erwarten. (…) Der Plan der Ankömm-linge, die durch Städte und Dörfer zogen, um dort über ihre Anliegen – Kampf für den Sozi-alstaat, gegen den Kapitalismus und »die Fi-nanzmärkte«, für mehr Schnellzüge und gegen die Korruption – mit lokalen Sympa-thisanten zu diskutieren, ist dieser: Bildung von fünf Kolonnen vor der Hauptstadt, Treff-punkt Puerta del Sol, Bestandsaufnahme, Debatte und Beschlüsse für ein heißes »Herbstprogramm«. Die »indignados«, die sich spontan über das Internet eine Woche vor den spanischen Kommunal- und Regio-nalwahlen am 22. Mai formierten und zent-rale Plätze in Madrid, Barcelona und anderen Städten in unbotmäßig quirlige Zeltlager verwandelten, haben noch immer gehörigen Zuspruch aus der Bevölkerung. Diese sieht, wie jüngste Umfragen ausweisen, ohnehin die »politische Klasse« als das dritte Hauptproblem des Landes an – nach der Arbeitslosigkeit (21 Prozent) und der Wirtschaftskrise. (…)Während die sozialistische Regierung unter Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero in den letzten Zügen liegt (…), pro-testieren die Empörten gegen die »brutalen Kürzungen« des Sozi-albudgets, gegen den »Europakt«, der Sparmaßnahmen und die Konsolidierung der Finanzen verlangt, gegen die schüchterne Reform des Arbeitsmarktes durch »verbilligte Kündigungen« und schmerzhafte Versuche, die Wettbewerbsfähigkeit Spaniens zu verbessern. Die Empörten, die in lauen Sommernächten zuletzt in der Nähe des Parlaments zu Madrid lagerten, protestierten auch gegen flexiblere Tarifverträge und verlangten bislang erfolglos General- und Verbraucherstreiks. Sie schwenkten im 75. Gedenk-jahr des Spanischen Bürgerkriegs auf dem Paseo del Prado repu-blikanische Fahnen und propagierten, die komplexen Probleme des Landes seien durch mehr Geld für Bildung, Gesundheit und Kultur sowie eine Wiedereinführung der Vermögensteuer zu lösen. Dazu soll eine Sonderabgabe für die Banken und Sparkas-sen, denen das Wasser teilweise noch bis zum Halse steht, Ar-beitsplätze schaffen.Das in der Krise steckende Spanien kann sich das, was sich die Empörten wünschen, kaum leisten. Das wissen die gewählten Linken und Rechten, die baskischen, katalanischen und galicis-chen Nationalisten (…). Die konservative Volkspartei, die mit ihrem Spitzenkandidaten Mariano Rajoy die nächsten Wahlen ge-winnen dürfte, macht daher keine Anstalten, sich bei den Empör-ten anzubiedern. (…) Die »Bewegung 15. Mai« verdient auch einen Blick auf die bloßen Zahlen. Als sie zuletzt Mitte Juni in den spani-schen Großstädten auf sich aufmerksam machte, wurden die De-monstrationsteilnehmer national auf rund zweihunderttausend geschätzt. Während sie beteuerten, die Politiker würden sie »nicht repräsentieren«, stimmten bei den Maiwahlen mehr als 23 Millionen Spanier über die Zusammensetzungen der Regional-parlamente und Rathäuser ab. Auch das Argument, dass »viele Gesetze ungerecht« seien und daher nicht beachtet werden müssten, stand auf tönernen Füßen. Die Empörten hatten schon mit stillschweigender Zustimmung des ehemaligen Innenminis-ters Rubalcaba am »Tag des Nachdenkens« vor der Wahl vom 22. Mai das Gesetz durch verbotene Demonstrationen gebro-chen. Ihre Belagerungen der Madrider Puerta del Sol und der Plaza de Catalunya in Barcelona hatten außerdem die Anrainer,

darunter kleine Handwerker und Ladenbesitzer, durch Verdienst-ausfälle viele Millionen Euro gekostet.Als sie vor einem Monat schließlich den Stützpunkt Puerta del Sol aufgaben und dort nur noch einen Informationsstand zurücklie-ßen, wurden die Aktivitäten in die »barrios« (hier: Vororte) ausge-lagert. Dort haben die Empörten seitdem in Madrid die Räumung von Wohnungen verhindert, deren Eigentümer entweder ihre Hy-pothek nicht mehr bedienen oder die Miete nicht mehr bezahlen konnten. (…) Es gehört im Übrigen einfach zur politischen Sozio-logie der Spanier, dass sie gern und häufig auf die Straße gehen, auch wenn nicht immer ganz klar wird, wofür oder wogegen. De-monstrationen am Wochenende sind Familienausflüge, Braut-schau, Flirtszene. Und am Ende wird dann doch wie bisher von der Mehrheit abgestimmt werden.

© Leo Wieland: Rückkehr der Empörten, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.7.2011, S. 4

M 8 Der spanische Soziologe César Rendueles: »Das hat es noch nie gegeben!«, taz

taz: Herr Rendueles, die Protestbewegung hat alle überrascht. Diejeni-gen, die politisch aktiv sind, vielleicht sogar am meisten.César Rendueles: Ja, wir haben den Aufruf zum 15. Mai für unpo-litisch gehalten. Er hat uns irgendwie an die Piratenpartei erin-nert. Viele dieser Prozesse im Netz sind ja von einem antipoliti-schen Gestus geprägt. Die Debatten der Bewegung haben sich aber schnell verändert. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Kritik der Politik, sondern die der Parteien. Man fordert Partizipations-möglichkeiten, und das hat eine Repolitisierung unter ganz neuen Vorzeichen ermöglicht.taz: Mich erinnern die Bilder an Lateinamerika, wo in den vergangenen 15 Jahren in vielen Ländern Repräsentationskrisen ausgebrochen sind.César Rendueles: Repräsentationskrise ist der richtige Begriff. Viele Medien behaupten, die Partido Popular hätte die Kommu-nalwahlen am 22. Mai gewonnen. Völliger Unsinn. Auch die Kon-servativen haben Stimmen verloren. Gestiegen ist nur die Wahlenthaltung. Interessant ist, dass von dieser Repräsentati-onskrise auch die Mehrheitsgewerkschaften betroffen sind, denen man ihre Nähe zu und Unternehmerverbänden vorwirft; und die alternative Linke. Auch sie fußt ja irgendwie auf der politi-schen Form Partei.taz: Im Zusammenhang mit den arabischen Revolten und jetzt der 15-M ist viel von Facebook-Revolutionen die Rede. Kritische Stimmen haben

M 7 Proteste auf dem Platz »Puerta Del Sol« in Madrid im Mai 2011. Die Proteste in Spanien sind spon-tane, parteiferne Demonstrationen, die soziale, wirtschaftliche und politische Missstände kritisie-ren. Spanische Medien bezeichnen sie auch als »Movimiento 15-M« (»Bewegung 15. Mai«) oder »In-dignados« (»Empörte«), einige internationale Medien auch als »spanische Revolution«. © wikipedia, 2011

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angemerkt, dass die Revolten der Vergangenheit auch nicht als Zeitungsrevolutionen bezeichnet werden, nur weil die Aufrufe damals in Zeitungen verbreitet wurden. Sie forschen zu Neuen Medien. Wie würden Sie deren Einfluss auf die Bewegung beschreiben?César Rendueles: Ich habe den Eindruck, dass der ständige Verweis auf die sozialen Netzwerke den politischen Gehalt der Re-volte stillstellt. Hinter dem Argument ver-birgt sich ein bizarrer Technikfetischismus. Im arabischen Raum, wo ja nur ein sehr be-grenzter Teil der Bevölkerung Zugang zum Internet hat, ist das fast schon lächerlich. In Libyen soll fünf Prozent der Bevölkerung das Internet nutzen. Mit dem Facebook-Diskurs wird unterschwellig postuliert, die fort-schrittliche, westliche Technologie ver-wandle rückständige, islamistische Gesell-schaften in Demokratien. Ich denke hingegen, dass es genau andersherum ist. Die Revolten waren möglich, weil es kommu-nitäre Strukturen, unmittelbare Kommunika-tionsnetze oder – im Fall Ägyptens – wichtige Gewerkschaftskämpfe gab. Erst in diesem Zusammenhang konnten soziale Netzwerke oder Kommunikationswege wie Twitter pro-duktive Wirkung entfalten. So wie auch Bü-cher oder Zeitungen.

© Interview mit dem spanischen Soziologen César Rendueles in der Tageszeitung, Berlin, vom 20.6.2011

M 9 Sibylle Haas: »Wut im Bauch«, SZ

In Europa demonstrieren Jugendliche für mehr Bildung. Die Ju-gend Spaniens ergreift jede Chance, um auf ihre schlechte Lage hinzuweisen. (…) Nirgendwo sonst in Europa sind so viele Men-schen im Alter von 15 bis 24 Jahren ohne eigenes Erwerbseinkom-men wie in Spanien. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Situ-ation der Jugend dort massiv verschlechtert. Denn seit Frühjahr 2008 hat sich die Jugendarbeitslosigkeit im Land auf heute 46 Prozent mehr als verdoppelt. Fast jeder zweite junge Spanier hat keine Arbeit. Sozialer Sprengstoff, den die Politikern nicht wahr-zunehmen scheinen. Seit Wochen belagern junge Spanier den Platz Puerta del Sol in Madrid.Auch in anderen Ländern der Europäische Union protestieren Ju-gendliche gegen Bildungsabbau und Sozialkürzungen. Oft wird der Aufstand als Randale abgetan. Doch es sind Sozialproteste, die sich hier äußern. Es sind nicht nur gewaltbereite Jugendliche – wie zuletzt in Großbritannien oder wie einst in den schwierigen Vorstadtmilieus französischer Großstädte – die ihre Wut nach draußen tragen. Diesmal ist es die Jugend aus der Mittelschicht, Menschen aus guten Verhältnissen, Studenten und Jugendliche mit gutem Schulabschluss, die es auf die Straßen treibt. Sie alle fordern eine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Es ist die Perspektivlo-sigkeit, die sie eint. Sie fühlen sich von ihren Regierungen im Stich gelassen. Viele Länder Europas sind hoch verschuldet und müssen sparen. Dies zeigt sich besonders bei der Bildung. Für viele junge Menschen agiert die Politik an deren Lebenswirklichkeit vorbei.Die Wirtschaftskrise trifft die Jugend besonders hart. Wie Daten des Statistischen Bundesamts zeigen, ist die Jugendarbeitslosig-keit seit Frühjahr 2008 von 15 auf heute 20 Prozent gestiegen. In sämtlichen Ländern ist die Jugendarbeitslosigkeit höher als die Arbeitslosigkeit insgesamt. In Spanien ist sie sogar mehr als dop-pelt so hoch. Auch in Deutschland ist die Situation junger Men-schen am Arbeitsmarkt nicht gerade rosig. Doch mit einer Ju-gendarbeitslosigkeit von weniger als zehn Prozent sieht es

hierzulande besser aus als im europäischen Durchschnitt.Die duale Berufsausbildung und die guten Startchancen von Akade-mikern wegen des Fachkräftemangels sind ein Grund dafür. (…) Dennoch gibt es auch in Deutschland Trends, die gefährlich wer-den können. Die befristeten Anstellungen junger Leute, die Anei-nanderreihung von Praktika und das Hängenbleiben junger Men-schen in der Leiharbeit – dies könnten Vorboten einer schwieriger werdenden Arbeitswelt sein. Die Statistiker des Bundesamtes zu-mindest weisen auf diese Entwicklung hin: Junge Deutsche sind öfter in »atypischen« Beschäftigungsverhältnissen angestellt. Das sind Jobs, die keine normalen Vollzeitstellen sind. Dazu zäh-len die Statistiker befristete Arbeitsverträge, Teilzeitarbeit bis zu 20 Stunden, geringfügige Beschäftigungsverhältnisse und Leih-arbeit. Fast 37 Prozent der jungen Erwerbstätigen in Deutschland sind demnach »atypisch« – meist befristet – beschäftigt.Es liegt an solchen Jobs, weshalb die Wirtschaftskrise in vielen Ländern besonders die Jugend getroffen hat. Denn während äl-tere Beschäftigte in festen Anstellungen mit teilweise langen Kündigungsfristen stecken, haben die Jungen prekäre Beschäfti-gungsverhältnisse – solche also, die meist schnell kündbar sind. Viele Firmen haben deshalb zuerst junge Mitarbeiter entlassen, als es in der Krise darum ging, Kosten zu senken und Stellen zu kürzen.Der Volkswirt Claus Schäfer von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf fordert, befristete Arbeitsplätze stärker zu regulieren. Auch hält er einen gesetzlichen Mindest-lohn für erstrebenswert und plädiert für bessere Angebote zur Kinderbetreuung. Eine der Ursachen für die gewaltsame Entla-dung des Frusts Jugendlicher wie in England sei die Auseinander-entwicklung von Arm und Reich. Hierzulande sei das Ost-West-Gefälle problematisch. So seien in Ostdeutschland die Löhne oft ein Viertel niedriger als im Westen. Deshalb könne man auch für Deutschland solche Konflikte nicht ausschließen.

© Sibylle Haas: Wut im Bauch, Süddeutsche Zeitung, 25.8.2011, S. 20

M 10 Jugendarbeitslosigkeit in Europa © Süddeutsche Zeitung, 25.8.2011, S. 20

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tischen Handelns Frankreichs bleiben. In seinem ersten Essay prangert er an, dass die damals vom nationalen Widerstandsrat formulierten und dann durchgesetzten Ziele der Nachkriegszeit, als da sind soziale Gerechtigkeit, gerechte Renten für alle, ein ausgeglichenes Versicherungsnetz für alle, Verstaatlichung der Energiequellen, die Unterordnung der Privatinteressen unter das Gemeinwohl, Pressefreiheit im tatsächlichen Sinn, gewaltfreies Handeln u. a. m., unter den Präsidenten Chirac und Sarkozy aus-gehöhlt würden und stark bedroht seien.Deshalb ruft Hessel in seinem Essay zur Empörung auf. Er ermu-tigt insbesondere junge Menschen nicht zuzusehen, wenn unver-äußerliche Grundrechte missachtet werden, nicht gleichgültig zu bleiben, nicht zu resignieren, sondern sich einen Gegenstand, ein Thema für die eigene Empörung zu suchen und vor allem die Em-pörung laut werden zu lassen. Erst dies mache den Menschen zum Mensch. Konkret prangert er selbst den Umgang der Regierung Sarkozy mit Wohnsitzlosen und Roma, die Bildungspolitik und die unge-rechte Verteilung der Reichtümer in Frankreich an. Gewaltfreien Widerstand exemplifiziert er an einer gewaltfreien Aktion der Pa-lästinenser gegen israelische Politik, was ihm u. a. massiven Wi-derspruch aus der jüdischen Gemeinde Frankreichs einbrachte und ihn sogar dem Vorwurf antisemitischer Äußerungen aus-setzte, obwohl er selbst jüdische Vorfahren hat.Der insgesamt einfach geschriebene Text erhält seinen Charme durch die Klarheit der Aussagen und den gemäßigten Ton, mit dem er dennoch einen radikalen Protest vom Leser einfordert. In einem Interview verteidigt er seine vereinfachenden, »martiali-schen« (»martiaux«) Titel (»Indignez-vous« und »Engagez-vous«) mit der Dringlichkeit der Themen um die es ihm geht. » Nous pou-vons dans quelques décennies ne plus pouvoir habiter sur cette terre », » les dangers sont plus grands qu’on ne le pense. » (Video: www.lexpress.fr/culture/livre/stéphane-hessel-je-suis-devenu-un-repère_ 970729. html)

Franzosen beschreiben sich gerne als eine Nation, in der Proteste und Protes-

tieren gegen den Staat zum alltäglichen Leben gehören. An Demonstrationen teil-zunehmen gehöre fast schon zum guten Ton. Sich nicht alles bieten zu lassen, sei selbstverständlich. Streiks gehörten zum politischen Alltag und seien keine Ausnah-mesituationen. Die meisten guten Errun-genschaften in Frankreich auf politischer und sozialer Ebene seien durch Proteste erreicht worden, ganz zu schweigen von den republikanischen Errungenschaften Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die einer besonders heftigen Form des Pro-tests, der blutigen Revolution von 1789, ge-schuldet sind. Dieses Bild der Franzosen findet sich auch im Ausland wieder. Frank-reich gilt als Vorreiter und Vorbild der Stu-dentenrevolte von 1968, die damals auch auf andere Länder übergriff. Die alljährli-chen Nachrichten von Streiks, die die ganze Nation tage –, manchmal sogar wochen-lang lahm legen, die Aufstände in den ban-lieues, die 2005 nur durch Notverordnung und Ausgangssperre in den Griff zu be-kommen waren, bestätigen das Bild einer protestwütigen Na-tion.

Das Phänomen Stéphane Hessel

Am 21. Oktober 2010 erschien in Montpellier unter dem Titel »In-dignez-vous« (deutscher Titel »Empört euch«) ein knapp 30seiti-ger Essay. Der Erfolg dieser Broschüre war durchschlagend: inner-halb weniger Monate wurden 1,3 Millionen Exemplare verkauft, der Text wurde inzwischen in viele Sprachen übersetzt und auch in Deutschland viel gelobt und viel gekauft. Autor war Stéphane Hessel, ein 93-jähriger Diplomat alter Schule, der im Dienste Frankreichs fast überall in der Welt tätig war und u. a. bei der Ab-fassung der allgemeinen Menschenrechte der UNO mit gearbei-tet hatte. Er gehört zu den wenigen heute noch lebenden und noch politisch aktiven Résistancekämpfern. Er überlebte nach seiner Gefangennahme in der Zeit der »Occupation« verschie-dene Konzentrations- und Arbeitslager in Deutschland, wo ihm der Publizist Eugen Kogon, deutscher Mithäftling, das Leben ret-tete, indem er ihm zu einer neuen Identität verhalf. Regelmäßig treffen sich Veteranen der Résistance in Glières in Savoyen um ihrer Mitkämpfer, die ihren Protest gegen die deut-schen Besatzer mit dem Leben bezahlten, zu gedenken. 2009 for-mulierte Hessel in einer Rede dort schon Kernpunkte der Bro-schüren »Indignez-vous« und auch »Engagez-vous«, einer zwar früher verfassten, aber später erschienenen (März 2011) Schrift, in der er als Gesprächpartner des jungen Journalisten Gilles Vander-pooten Wege von der »pathetischen Empörung« zur konkreten, die Welt etwas verbessernden Tat beschreibt. Bis heute sollen die 1944 vom nationalen Widerstandsrat (»Conseil National de la Ré-sistance«) für den nach der Besatzung neu entstehenden Staat formulierten Ziele Gültigkeit haben und die Richtschnur des poli-

POLITISCHE PARTIZIPATION IN EUROPA

9. Jugendproteste – ein Blick auf Frankreich im 21. Jahrhundert

JUDITH SPAETH-GOES / FRIEDER SPAETH

Abb. 1 Protestierende Jugendliche in Paris © Fred Dufour, 21.10.2010, getty images

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Die Reaktionen auf das Buch waren zunächst einmütig be-geistert, dann jedoch began-nen die in Frankreich im in-tellektuellen Diskurs üblichen Bedenken und Atta-cken. In unserem Kontext interes-siert hier vor allem, ob sich nach diesen spektakulären Veröffentlichungen – zumin-dest was die Verkaufszahlen anging – das Protestverhal-ten der Franzosen an jenen in den Schriften behandelten Themen wie Gewaltfreiheit, Ökologie, soziale Gerechtig-keit orientierte und ob sich dabei Veränderungen an-bahnten.Ende 2011 bleibt der Ein-druck, dass auch diese Bro-schüren wenig Wirkung er-zeugten: die protestierenden Jugendlichen, die in einigen Metropolen Frankreichs im Frühsommer 2011 nach spanischem Vorbild ihre Zelte aufschlu-gen und eine »wahre Demokratie« und ein »Ende der Ausbeutung durch unbezahlte Praktika« einforderten, waren einfach zu We-nige, um zu einer anhaltenden Massenbewegung zu werden: »Lo-kale Feuer, die aufloderten und wieder erloschen«, so die Stutt-garter Zeitung am 14. Juni 2011. Noch deutlicher ist das Bild, wenn man die Reaktionen auf den Kernreaktorunfall in Fukushima betrachtet, also die ökologische Frage nach der Bewahrung der Erde stellt, die Hessel besonders am Herzen liegt: Hier wurde kaum ein nennenswerter Protest der protestgewohnten Franzosen gegen Atomkraft oder alte Kern-kraftwerke bzw. für erneuerbare Energien über die Medien be-kannt.Die Veröffentlichung von Hessels Appell zur Empörung fiel 2010 zudem mitten in die heftigen Proteste gegen die Rentenreform der französischen Regierung (| Abb. 1 |, | Abb. 4 |). Die Proteste für mehr soziale Gerechtigkeit ebbten jedoch schnell wieder ab, als die Reform erst einmal im Parlament durchgekommen war. So sind Hessels zwei Broschüren eher wohlmeinende Texte, die gern gelesen werden und die den protestierenden Jugendlichen Spaniens einen Namen gaben (»indignados«) – aber auf deren nachhaltige Wirkung in Frankreich man immer noch wartet.Zwar drängt sich der Gedanke auf, dass in Frankreich bei interes-sengebundenen Protesten, z. B. zur Bewahrung des status quo gegenüber Reformplänen der Regierung, nach wie vor genügend Protestpotential vorhanden ist, um Massen zu mobilisieren, dass aber bei der Forderung nach der Umsetzung ethischer, insbeson-dere ökologischer Grundsätze in Frankreich ein breites Miss-trauen, wenn nicht sogar Desinteresse vorhanden ist.Dennoch gibt es auch interessante Beispiele für ethischen Unge-horsam, für Empörung im Sinne Hessels. In einem Artikel der Zeitschrift »Politis« vom Oktober/November 2010 ist z. B. die Rede von »Les nouveaux champions de la lutte« (»les désobéisseurs)«. Gemeint sind hier aber kleine Gruppierungen, die keiner Partei oder Gewerkschaft angehören, sich aber für präzise Projekte en-gagieren. Ihr Protest ist kreativ, humorvoll, individuell und gut vernetzt. So sei beispielhaft die Gruppe »Génération précaire« genannt, die Missstände bei der Arbeit von Praktikanten (»sta-giaires«) anprangert und die mit dazu beigetragen haben soll, die Regierung Villepin zu veranlassen ein Gesetz zur besseren Beglei-tung eines Praktikums zu verabschieden.Und es gibt Gruppen wie die aus der protestantischen Kirche kommende »La Cimade«, die seit 1939 Flüchtlinge, Hilfe und Asyl

suchende Immigranten in Rechtsfragen betreut und sich als Gruppe des politischen Protests und der tätigen Hilfe großes An-sehen verschaffen konnte. Es gilt abzuwarten, wie und ob sich derartige Nichtregierungsorganisationen in der französischen Protestkultur noch wirksamer etablieren können.

Der Aufstand Jugendlicher in den Banlieues 2005

Die Aufstände Jugendlicher im November 2005 in den Pariser Vor-orten und später in vielen französischen Städten (| Abb. 3 |) sind – gleichgültig wie man diese Revolten beurteilt – exemplarisch und spektakulär. Als der zentrale polizeiliche Nachrichtendienst im Dezember 2005 seine Analyse der zurückliegenden Gewaltex-zesse veröffentlicht, sprach er gar von einem »Volksaufstand« (»une révolte populaire«). Die Kosten des Aufstandes werden in-zwischen auf rund 250 Millionen Euros geschätzt.Die drei dramatischen Wochen vom 27. Oktober bis zum 18. No-vember sind rasch geschildert. Ausgelöst wurden die Krawalle durch den Tod zweier Jugendlicher im Département »Seine-Saint-Denis«. Sie hatten sich vor der Polizei in ein Transformatorhäus-chen geflüchtet und waren durch einen Stromschlag getötet wor-den. Das führte zu ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und Polizisten, Feuerwehrleuten und der berüchtigten Bereitschaftspolizei CRS in »Clichy-sous-Bois«. Die Unruhen erreichten schnell andere Städte. Vom 3. auf den 4. No-vember wurden im Gebiet der »Ile de France« fast 500 Autos ange-zündet. Die Regierung rief zur Ruhe auf; der damalige Innenmi-nister Sarkozy kündigte allerdings ein hartes Vorgehen an. Er sprach davon, die Banlieues mit einem »Kärcher« (einem auch in Frankreich bekannten deutschen Fabrikat von Hochdruckreini-gern) zu säubern. Das steigerte die Wut der Jugendlichen und führte zu weiteren Exzessen, die nun das ganze Land, z. B. Lyon, Lille, Marseille usw. erfassten mit Angriffen auf die Sicherheits-kräfte, Busdepots und die Feuerwehren. Ein Arbeiter, der sein Auto schützen wollte, starb bei einem Handgemenge mit Jugend-lichen. Der Protest erreichte am 7. November die Innenstädte. Am 8. November kündigte die Regierung auf dem Höhepunkt des Aufstands an, ein Notstandsgesetz aus dem Algerienkrieg anzu-wenden. Sie erließ Ausgangssperren für Jugendliche. Die Krawalle gingen auf vermindertem Niveau noch über eine Woche weiter. Bilanz: Mehr als 6.000 angezündete Autos. Mehr als 1.500 festge-

bis unter 1010 bis unter 1515 bis unter 2020 bis unter 2525 und mehr

Abb. 2 Jugendarbeitslosigkeit in Europa © www.faz.net/-00mj56, 25.8.2011,

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nommene Personen, wovon mehr als 130 Per-sonen Gefängnisstrafen erhielten.Dass sich in Frankreich wie in anderen Indus-trieländern in bestimmten Stadtteilen sozial problematische Entwicklungen sammelten, war seit langem bekannt und auch in der Öf-fentlichkeit reichlich diskutiert: Niedrige Fa-milieneinkommen, hohe Arbeitslosigkeit, dabei vor allem die deutlich über dem euro-päischen Durchschnitt liegende Jugendar-beitslosigkeit, hohe Sozialhilfequote, hoher Anteil von Jugendlichen ohne echten Bil-dungsabschluss, verringerte Bildungschan-cen sowie unterdurchschnittliche Ansiedlung von Betrieben, die Arbeitsplätze in der Nähe anbieten könnten. Zu diesen Faktoren, die sich im Übrigen ähnlich in Berlin oder Lon-don finden lassen, kommen allerdings spezi-fisch französische Entwicklungen hinzu.(1) Vielleicht am gravierendsten erweist sich

dabei die französische Variante des Sozi-alwohnungsbaus. Die »HLM« (»Habita-tions à Loyer Modéré«) sind Riesenkom-plexe (»Grands Ensembles«), die es erlauben, tatsächlich eine enorme Menge von Menschen billig unterzubringen. Waren anfänglich, in den 60er- und 70er-Jahren, als sie entstanden, die Blocks noch einigermaßen so-zial »durchmischt«, zogen jedoch in der Folgezeit mehr und mehr Familien, wenn sie es sich überhaupt leisten konnten, in andere Viertel um. Zurück blieben alle diejenigen, die auf Grund von finanzieller Knappheit oder sonstigen persönli-chen Faktoren auf dem Wohnungsmarkt chancenlos waren. So entstanden die sozial deklassierten und vor allem auch de-klassierenden sogenannten »Banlieues«.

(2) Fremdenfeindlichkeit wurde in allen europäischen Ländern im Zuge der Migrationsbewegungen des letzten Jahrhunderts zum Problem. Frankreich ist zwar in dieser Hinsicht sicherlich toleranter als manch anderes europäisches Land. Dennoch war sich ein großer Teil der Kommentatoren der Jugendauf-stände von 2005 einig, dass diese auch das Scheitern der fran-zösischen Integrationspolitik signalisierten. Es wurde sogar immer wieder die Frage gestellt, ob die Grundwerte der Repu-blik – »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« – noch in der Lage seien, das gesellschaftliche Zusammenleben zu gestalten. Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund jedenfalls empfin-den angesichts der häufig erfahrenen Abwertung die öffentli-chen Gleichheits- und Toleranzparolen sehr häufig als schein-heilig.

(3) Die Entfremdung zwischen den staatlichen Institutionen und den Jugendlichen hat brisant zugenommen. Der französische Staat und die Kommunen haben große Anstrengungen unter-nommen, um die Problemviertel zu befrieden. Eine ganze Reihe der »Mammut-Wohnkomplexe« wurde gesprengt und durch bewohnbarere Anlagen ersetzt. Unternehmen, die in den betreffenden Stadtteilen investieren, bekommen erhebli-che Steuervorteile. Die Schulen erhalten Sondermittel, kultu-relle Aktivitäten werden unterstützt. Sozialarbeiter und Bera-ter sollen Konfliktherde beseitigen. Doch in all dem sehen viele Jugendlichen nach wie vor vor allem staatliche Kontrolle und Disziplinierung.

(4) Die Jugendlichen werden von keinem Netz sozialer Bindun-gen aufgefangen. Der französischen Gesellschaft entspre-chend ist der Organisationsgrad in Jugendgruppen, Vereinen, politischen Verbänden, Gewerkschaften, religiösen Gruppen usw. gering. Familien leben häufig getrennt.

Proteste gegen die Rentenreform 2010

Ausgangspunkt der Proteste im Jahre 2010 war auch in Frank-reich, wie bereits oben erwähnt, zunächst die desolate Lage der öffentlichen Haushalte und angekündigte Reformen. Die hohe Staatsverschuldung sollte zurückgeführt werden. Besonders die zunehmenden Belastungen durch die Renten, die auch durch das deutlich steigende Durchschnittslebensalter entstanden, wurden als Kernproblem der Verschuldung empfunden. Während die Re-gierung unter Staatspräsident Sarkozy auf die Kürzung der Aus-gaben setzte, forderten die Gewerkschaften und die Sozialver-bände, die Einnahmen des Staates zu steigern und die Belastungen gerechter zu verteilen. »Es gibt kein demographi-sches, sondern ein Finanzproblem«, proklamierte z. B. ein Ex-perte der Gewerkschaft CGT.Der Gesetzentwurf der Regierung erschien deutschen Kommen-tatoren dabei zunächst wenig erschreckend: Das Alter für den Bezug von Renten sollte von 60 auf 62 Jahre angehoben werden. Das Alter für die volle Rente ohne Abzüge sollte von 65 auf 67 Jahre steigen. Allerdings muss dabei bedacht werden, dass die Rente mit 60 in Frankreich als soziale Errungenschaft einen enor-men Symbolwert hat. Das Reformwerk wurde deshalb von vorn-herein als Angriff auf den sozialen Besitzstand der Arbeitnehmer insgesamt empfunden.Was sich nun abspielte, war einer der größten gesellschaftlichen Kämpfe seit dem Mai ’68. Zunächst legte am 12. Oktober 2010 die vor allem bei den Eisenbahnern starke Gewerkschaft CGT einen großen Teil des Zugverkehrs lahm. Dem schlossen sich bald die Lastwagenfahrer (»routiers«) an, die an strategisch wichtigen Punkten wie Öl- und Benzindepots Straßenblockaden errichte-ten. Verschärft wurde die Verknappung von Kraftstoff zusätzlich durch den Streik in den zwölf Ölraffinerien Frankreichs. In den Großstädten traten viele Beschäftigten in den Streik: Hier vor allem die Müllwerker, aber auch Schulkantinen, Kindertagestäd-ten und öffentlicher Nahverkehr. Schließlich schlossen sich am 20. Oktober noch die studentischen Gewerkschaften der Bewe-gung an sowie die Schulen. 27 Universitäten, einige Hundert Schulen waren geschlossen.

Vorbereitet und begleitet wurden die Streiks von Demonstratio-nen (»Les manifestations«), die von den verschiedenen im Protest zusammengeschlossenen Gewerkschaften organisiert wurden.

Abb. 3 Erst nach der 13. Krawallnacht lassen am 8.11.2005 die Unruhen in Frankreich, hier in Lille (Nordfrankreich), deutlich nach. Im Bild: Feuerwehrleute beim Aufräumen ausgebrannter Autos. Die Unru-hen hatten zur Ausrufung des Ausnahmezustands in einigen französischen Städten einschließlich einer nächtlichen Ausgangssperre geführt. © EPA/STR, picture alliance

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Dabei wurden an 14 verschiedenen Terminen jeweils Millionen Menschen mobilisiert, etwa am 7. September zwischen anderthalb und zweieinhalb Millionen; am 23. November waren es nach Gewerkschaftsangaben ca. 3 Millionen in den verschiedenen Städten, davon in Paris alleine 300.000. In den drei Wochen kam es zudem noch zu einer ganzen Reihe von gewalttätigen Zwischenfällen.Überraschenderweise änderte der Protest an den Gesetzesvorlagen der Regierung jedoch nichts. Mit ihrer Mehrheit im Parlament ver-abschiedete die französische Regierung das Gesetz ohne Zugeständnisse am 27. Oktober 2010.Die Motive der Protestierenden, ihre Vor-würfe einer Ungerechtigkeit des Steuersys-tems mit der Bevorzugung großer Vermögen und deren Möglichkeit, Steuern zu reduzie-ren, blieben öffentlich weitgehend ungehört, besonders die Argumente der jungen Gene-ration, die durch das erhöhte Rentenalter ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt weiter schwinden sehen. Ohnehin hat Frankreich derzeit bereits im europäischen Vergleich eine hohe Jugendarbeitslosigkeit (| Abb. 2 |). Ihre besondere Wucht bekam die Protestbe-wegung aber sicherlich auch aus der Enttäu-schung und Wut über den als selbstherrlich empfundenen Regierungsstil des Präsiden-ten, der die französische Bevölkerung zwar räsonieren und pro-testieren lässt, die Entscheidungen aber nach eigenem Gutdün-ken und mit einer satten Mehrheit im Parlament trifft.

Protest und Effektivität

In der politischen Kultur Frankreichs sind einige Elemente beson-ders ausgeprägt, die Protestbewegungen zweifellos begünsti-gen: An erster Stelle rangiert dabei wohl das Misstrauen der Bür-ger gegenüber den staatlichen Institutionen und Funktionären. Die politischen Eliten (»la classe politique«) werden als abgeho-ben und egoistisch empfunden. Der ausgeprägte französische Individualismus führt andererseits dazu, dass sich die Gruppen-interessen in einer Vielzahl von protestierenden Gruppierungen aufsplittern. Deren Interessen werden zum Teil mit hoher Kon-fliktbereitschaft verfolgt. Trotz grundsätzlichem Misstrauen wer-den hier vom Staat alle Problemlösungen verlangt. (Vgl. dazu Schild, Uterwedde, Frankreich, 2006, S. 22f.)Es ist deshalb kein Wunder, wenn die Reformpolitik der verschie-denen Regierungen sich ständig mit Massenbewegungen der Be-völkerung konfrontiert sieht, die bestimmte Projekte zu blockie-ren versuchen. Bereits 2003 gab es Proteste von ca. einer Million Bürgerinnen und Bürgern gegen die Rentenreform Francois Fillons. Aus allen Bevölkerungsschichten, vor allem auch den Jugendlichen, rekru-tierten sich damals die bis zu drei Millionen Demonstranten der Protestbewegung gegen die Liberalisierung des Arbeitsrechts für Neueinstellungen. Dann die Unruhen im Jahre 2005 und die Mas-sendemonstrationen im Jahre 2010.Reformpolitik und soziale Protestbewegungen scheinen sich ge-genseitig zu bedingen. Dabei spielen Begriffe wie »contestation«, »mouvement de grève«, »mobilisation«, »jour d’action« eine zent-rale Rolle. Jeweils wurde versucht, den Konflikt auch auf die Straße zu tragen. Sollten andererseits diese vielen Proteste in Frankreich nur eine Art Ritual sein, das nach bestimmten, von allen Beteiligten inter-nalisierten Regeln abläuft, um dann wieder zu verebben und die Parteien wie üblich schalten und walten zu lassen?

Viele von der Regierung anvisierte Reformen hatten das Problem der politischen Durchsetzbarkeit und der gesellschaftlichen Legi-timation, eben weil bei nahezu allen Reformversuchen mit Pro-test auf breiter Front zu rechnen ist, selbst dann, wenn sich die Notwendigkeit der Reform weitgehend durchgesetzt zu haben scheint. Die »Ineffektivität« dieser Proteste mag dabei verwun-dern. Proteste scheinen aufzuflammen und dann wieder zu ver-glimmen, ohne entscheidende Veränderungen hervorgebracht zu haben. Frankreich ist heute ein Land, das sich mit Reformen besonders schwer tut: der Zentralismus ist trotz jahrzehntelanger Bemühun-gen zur Förderung dezentraler Strukturen immer noch weitge-hend ungebrochen. Zivilgesellschaftliche Proteste gegen die Mo-nopolisierung der Macht und des Kapitals bleiben marginal, selbst wenn es von Zeit zu Zeit gelingt, Massen auf die Straßen zu bringen. Hierarchien und ihre Akzeptanz scheinen unangefoch-ten. Die zum Teil enormen Anstrengungen von Regierungsseite her zur Eindämmung der Jugendgewalt in den Vorstädten zeitigen andererseits noch lange keine durchschlagenden Erfolge. Und eine zivilgesellschaftliche, ökologische Bewegung gilt vielen Französinnen und Franzosen nach wie vor als Idee einiger weniger »Gutmenschen«, die man nicht ganz so ernst nehmen müsse.

Literaturhinweise

Hessel, Stéphane (2011): Empört euch! Ullstein Verlag. Berlin.

Hessel, Stéphane (2011): Engagiert euch! Ullstein Verlag. Berlin.

Ottersbach, Markus (2004): Jugendliche in marginalisierten Quartieren. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden.

Schild, Joachim/Uterwedde, Henrik (2006): Frankreich. VS Verlag für Sozial-wissenschaften. Wiesbaden.

Schild, Joachim/Uterwedde, Henrik (Hrsg.) (2009): Die verunsicherte Franzö-sische Republik. Nomos Verlag, Baden-Baden.

Abb. 4 Massendemonstration von hunderttausenden Franzosen am 23.11.2010 in Paris, hier vor der »Alten Oper«, gegen die Rentenreform der Regierung, die das Rentenalter von 60 auf 62 anhebt. Zu den Demonstrationen hatten die Oppositionsparteien und zahlreiche Gewerkschaften aufgerufen. © EPA/IAN LANGSDON, picture alliance

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Materialien

M 1 Interview mit dem Philosophen und Publizisten André Glucksmann (2005)

Frankfurter Rundschau (FR): Sie beschreiben in Ihrem Buch den Hass als Urgewalt, wie er schon in der Antike vorgekommen ist und heute wieder mit Macht aufscheint. (…) André Glucksmann: Das Verhalten in Frank-reichs Vorstädten ist im Grunde selbstmör-derisch. Die Randalierer wollen sich nicht töten, aber sie setzen ihr Leben aufs Spiel: sie zünden die Vorschulen an, die Häuser, die Autos, aber es sind die Autos ihrer Nachbarn oder die Autos ihrer Väter. Sie zünden sogar die Fabrik an, die ihnen Arbeit anbietet. Zweitens handelt es sich um Wutausbrüche und um Raserei, um den Willen, ja die Ab-sicht zu töten. Wenn man in einen Autobus einsteigt und überall Benzin ausgießt, sogar auf Menschen, die behindert sind – da war tatsächlich eine behinderte Frau, die nicht aussteigen konnte und die mit Benzin über-gossen wurde! An einem anderen Ort hat man eine Busfahrerin mit Benzin übergos-sen. Hier haben Sie ein zweites Stadium des Mordes. Das dritte Stadium zeigt die Seite des Spiels. Das Vergnügen, das darin be-steht, die Welt in Flammen zu setzen, die Seite der Götterdämme-rung. (…)FR: Bedeutet das ein Ende der Integrationspolitik, ein Ende der laizisti-schen Moral, ein Ende des Prinzips der Gleichheit in der Schule und durch die Schule, nach dem Modell von Jules Ferry?Glucksmann: Ich glaube nicht, dass das das Ende der Integration ist. Im Gegenteil. Das sind jugendliche Franzosen. Gut, sie haben Eltern, die aus Schwarz- oder Nordafrika kommen, aber es sind junge Franzosen. Sie integrieren sich gerade dadurch, dass sie Autos anzünden sogar dadurch, dass sie Menschen anzünden. Sie integrieren sich durch den Protest. Das ist ganz aktuell in Frank-reich. (…) Alle, alle Parteien in Frankreich, die Unternehmer, die Arbeiter denken, dass man durch Gewalt etwas erreicht.

© Frankfurter Rundschau online. 10.11.2005

M 2 Interview mit dem Soziologen und Gewaltforscher Michel Wieviorka (2005)

Frankfurter Rundschau (FR): Hat Sie als Gewaltforscher das Ausmaß der Aufstände überrascht?Michel Wieviorka: Selbstverständlich hat es das, obwohl das Phänomen in Frankreich wahrlich nicht neu ist. Seit Ende der Siebzigerjahre haben wir mit den Problemen städtischer Gewalt zu kämpfen. Jede Nacht brannten in Frankreich im Durchschnitt 30 Autos. Neu ist, dass sich ein Krisenherd plötzlich wie ein Lauf-feuer ausgebreitet hat.FR: Sie sprechen von einem »neuen Paradigma der Gewalt«. Was soll man sich darunter vorstellen? Ist und bleibt Gewalt letztlich nicht immer das-selbe?Wieviorka: Ganz und gar nicht. Die Gewalt hat sich enorm verän-dert. Warum? Weil die Medien eine neue, ganz wichtige Rolle spielen. Weil sich die Opfer zeigen, weil sie vor die Kameras tre-ten, weil sich die Funktionsmodi verändert haben, was man be-sonders deutlich an der urbanen Gewalt der Jugendlichen sehen kann. Wenn sie heute Autos abfackeln, verabreden sie sich auf Zuruf mit Handys. Auch unser Verständnis der Gewalt hat sich verändert. In der Vergangenheit haben sich Sozial- und Politik-

wissenschaft auf grob gesagt drei Denkarten beschränkt: Sie haben Gewalt als Antwort auf ein Problem, eine Krise des Sys-tems interpretiert. Sie haben den instrumentalen Charakter von Gewalt beschrieben. Oder man interpretierte Gewalt als eine kul-turelle oder persönliche Disposition des Einzelnen.FR: Was bedeutet es, wenn Jugendliche die Autos abfackeln?Wieviorka: Ihre Gewalt ist mit Subjektivität geradezu aufgela-den, weil das ihre Sprache, ihr Ausdrucksmittel ist. Sie sagen uns: »Ich will existieren! Aber ich kann nur existieren in der Zerstö-rung, im Feuer, in den Medien.« FR: Warum sind sie in dieser völlig entleerten Subjektivität? Wieviorka: Weil sie sich in einer Krise befinden, gegen die von staatlicher Seite nichts unternommen wird.FR: Kann man, was Sie Subjektivität nennen, mit Identität übersetzen? Anders gefragt: Schaffen sich die Jugendlichen eine Identität durch Ge-walt?Wieviorka: Nein, das tun sie gerade nicht, weil es ein Diskurs ohne Inhalt ist. Es ist leerer Ausdruckswille, eben weil es keine Worte gibt, keine Führer, keine Organisation, keine Ideologie, nichts davon ist vorhanden, nur blinde Gewalt.FR: In Frankreich ist man Gewalt gewöhnt. Wenn Bauern Barrikaden an-zünden, dann ist das Teil der politischen Ikonographie, die bis auf die Re-volution zurückgeht. Haben die Jugendlichen womöglich das als einzige der republikanischen Lektionen gelernt, dass man mit Gewalt etwas er-reicht?Wieviorka: Nein. Schließlich haben sie das nicht in der Schule, sondern von den Medien gelernt. Die Medien kommen, wenn sie Autos verbrennen. Und je mehr man verbrennt, desto mehr kom-men. Und wenn wirklich viele brennen, kommen sogar die inter-nationalen Medien. Der Gipfel des Ruhmes ist CNN. Als ich in Straßburg Jugendliche befragte, erzählten sie mir stolz, dass ein landesweiter Privatsender gekommen sei. Die Jungs von nebenan hatten es nur ins Regionalfernsehen geschafft. Darum geht es ihnen.

© Frankfurter Rundschau online. 12.11.2005

M 3 Die Polizei untersucht die Schäden jugendlicher Gewalttäter vom 31.10.2005 in »Clichy-sous-Bois«. Jugendbanden hatten in dieser Nacht 68 Autos in Brand gesetzt. Vorangegangen war die Tötung zweier vor der Polizei flüchtender Jugendlicher im Pariser Vorort. © Epa/Eric Travers/Pascal Le Floc, picture alliance

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M 4 Stéphane Hessel »Indignez vous!«

« 93 ans. C’est un peu la toute dernière étape. La fin n’est plus bien loin. Quelle chance de pouvoir en profiter pour rappeler ce qui a servi de socle à mon engagement politique: les années de résis-tance et le programme élaboré il y a soixante-six ans par le Conseil National de la Résistance ! (…) De ces principes et de ces valeurs, nous avons aujourd’hui plus que jamais besoin. Il nous ap-partient de veiller tous ensemble à ce que notre société reste une société dont nous soyons fiers: pas cette société des sans-papiers, des expul-sions, des soupçons à l’égard des immigrés, pas cette société où l’on remet en cause les retraites, les acquis de la Sécurité sociale, pas cette société où les médias sont entre les mains des nantis, toutes choses que nous aurions refusé de cau-tionner si nous avions été les véritables héritiers du Conseil National de la Résistance.À partir de 1945, après un drame atroce, c’est une ambitieuse résurrection à laquelle se livrent les forces présentes au sein du Conseil de la Résis-tance. Rappelons-le, c’est alors qu’est créée la Sécurité sociale comme la Résistance le souhai-tait, comme son programme le stipulait. (…) C’est ce que ce programme préconisait encore, « le retour à la nation des grands moyens de pro-duction monopolisés, fruit du travail commun, des sources d’énergie, des richesses du sous-sol, des compagnies d’assurance et des grandes banques « ; « l’instauration d’une véri-table démocratie économique et sociale, impliquant l’éviction des grandes féodalités économiques et financières de la direc-tion de l’économie «. L’intérêt général doit primer sur l’intérêt particulier, le juste partage des richesses créées par le monde du travail primer sur le pouvoir de l’argent. (…) La Résistance en ap-pelait à « la possibilité effective pour tous les enfants français de bénéficier de l’instruction la plus développée «, sans discrimina-tion ; (…) C’est tout le socle des conquêtes sociales de la Résis-tance qui est aujourd’hui remis en cause. (…)Le motif de la résistance, c’est l’indignation. On ose nous dire que l’État ne peut plus assurer les coûts de ces mesures citoyennes. Mais comment peut-il manquer aujourd’hui de l’argent pour maintenir et prolonger ces conquêtes alors que la production de richesses a considérablement augmenté depuis la Libération, période où l’Europe était ruinée ? Sinon parce que le pouvoir de l’argent, tellement combattu par la Résistance, n’a jamais été aussi grand, insolent, égoïste, avec ses propres serviteurs jusque dans les plus hautes sphères de l’État. (…) Le motif de base de la Résistance était l’indignation. Nous, vétérans des mouvements de résistance et des forces combattantes de la France libre, nous appelons les jeunes générations à faire vivre, transmettre, l’héri-tage de la Résistance et ses idéaux. Nous leur disons: prenez le relais, indignez-vous ! «

© Stéphane Hessel: Indignez vous! Indigène éditions. Montpellier 2011. 11. Auflage, S. 9–12

M 5 Stéphane Hessel »Empört Euch!«

»93 Jahre. Das ist schon wie die allerletzte Etappe. Wie lange noch bis zum Ende? Die letzte Gelegenheit, die Nachkommenden teil-haben zu lassen an der Erfahrung, aus der mein politisches Enga-gement erwachsen ist: die Jahre des Widerstands gegen Diktatur und Besetzung – die Résistance – und ihr politisches Vermächt-nis. (…) Genau diese Grundsätze und Werte sind uns heute nöti-ger denn je. Wir alle sind aufgerufen, unsere Gesellschaft so zu bewahren, dass wir auf sie stolz sein können: nicht diese Gesell-schaft der in die Illegalität Gedrängten, der Abschiebungen, des

Misstrauens gegen Zuwanderer, in der die Sicherung des Alters, die Leistungen der Sozialversicherung brüchig geworden sind, in der die Reichen die Medien beherrschen – nichts davon hätten wir zugelassen, wenn wir uns dem Vermächtnis des Nationalen Widerstandsrates wirklich verpflichtet gefühlt hätten.1945, als das grauenhafte Drama beendet war, setzten die im Na-tionalen Widerstandsrat vereinigten Kräfte eine Erneuerung oh-negleichen ins Werk. Damals wurde das System der sozialen Si-cherheit geschaffen, wie es die Résistance in ihrem Programm vorgestellt hatte: (…) In diesem Sinne forderte das Programm »die Rückgabe der großen monopolisierten Produktionsmittel, der Früchte gemeinsamer Arbeit, der Energiequellen, der Boden-schätze, der Versicherungsgesellschaften und der Großbanken an die Nation«; »die Errichtung einer echten wirtschaftlichen und sozialen Demokratie unter Ausschaltung des Einflusses der gro-ßen im Wirtschafts- und Finanzbereich bestehenden privaten Herrschaftsdomänen auf die Gestaltung der Wirtschaft«. Das Ge-meinwohl sollte über dem Interesse des Einzelnen stehen, die ge-rechte Verteilung des in der Arbeitswelt geschaffenen Wohlstan-des über der Macht des Geldes. (…) Die Résistance forderte, »dass alle französischen Kinder die effektive Möglichkeit haben sollen, die bestmögliche Erziehung zu erhalten«, ohne Diskrimi-nierung. (…) Dieses gesamte Fundament der sozialen Errungen-schaften der Résistance ist heute in Frage gestellt.Widerstand kommt aus Empörung. Man wagt uns zu sagen, der Staat könne die Kosten dieser sozialen Errungenschaften nicht mehr tragen. Aber wie kann heute das Geld dafür fehlen, da doch der Wohlstand so viel größer ist als zur Zeit der Befreiung, als Eu-ropa in Trümmern lag? Doch nur deshalb, weil die Macht des Gel-des – die so sehr von der Résistance bekämpft wurde – niemals so groß, so anmaßend, so egoistisch war wie heute, mit Lobbyisten bis in die höchsten Ränge des Staates. (….) Das Grundmotiv der Résistance war die Empörung. Wir, die Veteranen der Wider-standsbewegungen und der Kampfgruppen des Freien Frank-reich, rufen die Jungen auf, das geistige und moralische Erbe der Résistance, ihre Ideale mit neuem Leben zu erfüllen und weiter-zugeben. Mischt euch ein, empört euch!

© Hessel, Stéphane (2011): Empört euch (deutsch von M. Kogon), © 2011 Ullstein Verlag, Berlin, S. 7–10

M 6 Stéphane Hessel: Deutsch-Franzose, geb. 1917 in Berlin. 1924 Übersiedlung nach Frankreich, seit 1937 französischer Staatsbürger. Widerstandskämpfer: 1941 Flucht aus einem Gefange-nenlager, Beitritt zur Widerstandsbewegung unter General de Gaulle. 1944 von der Gestapo zum Tode verurteilt und im KZ. Als Diplomat war er an der Universellen Menschenrechtserklä-rung der UNO von 1948 beteiligt. © picture alliance, 2011

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M 7 Marc Zitzmann: »Die Reformmüden proben den Wider-stand«

Gäbe es in Frankreich ein Wort des Jahres, wäre es für 2010 wohl »Résistance«: Zwar sind die Franzosen nicht erst seit 1789 ein wi-derspenstiges Volk, das vom bissigen Bonmot bis zur blutigen Revolution virtuos auf der ganzen Klaviatur des Widerstands gegen die Staatsgewalt zu spielen weiß. Aber seit zwei, drei Jah-ren hat das Wort wieder in besonderem Maß Konjunktur. Immer mehr Menschen nennen sich »résistants« – mit einem klein ge-schriebenen Anfangsbuchstaben zwar, um sich von den »Résis-tants« mit einer Majuskel abzusetzen, die während der Besat-zungszeit gegen die Nazis und ihre Handlanger kämpften. Aber doch klar inspiriert von den Werten und Prinzipien, die der Con-seil national de la Résistance (eine Vereinigung der wichtigsten Befreiungsgruppen, verbotenen Parteien und Gewerkschaften) Anfang 1944 in seinem Regierungsprogramm aufstellte. Und die nach dem Krieg in Form des »Modèle social francais« umgesetzt wurden. (…) Zum 60. Geburtstag dieses Programms hatte Stéphane Hessel gemeinsam mit zwölf namhaften Gleichgesinnten einen Aufruf veröffentlicht zu einem »friedlichen Aufstand« gegen »den Mas-senkonsum, die Verachtung der Schwächsten und der Kultur, den flächendeckenden Gedächtnisschwund und den unerbittlichen Wettstreit aller mit allen«. Der Ruf war 2004 auf einige Resonanz gestoßen. Kein Vergleich allerdings zu Hessels vor zweieinhalb Monaten publiziertem Appell »Indignez-vous!«: (…) Doch sollte man sich durch den reißenden Absatz der Broschüre nicht blen-den lassen. Was »Indignez-vous!« inhaltlich bietet, ist hochgradig konsensfähig – und entsprechend zahm. Bei allem Respekt für den Autor zeigen sich die meisten Kommentatoren denn auch re-serviert bis enttäuscht. Um sich über geldgierige Banken, absurd hoch bezahlte CEO oder den wachsenden Graben zwischen Arm und Reich zu empören, bedarf es wohl kaum eines solchen Auf-rufs. Hessels Rat an »die jungen Leute«, nicht durch Indifferenz die Fähigkeit zu Empörung und – als Reaktion darauf – Engage-ment zu verlieren, tönt eher vag. (…) So dürfte der eine Haupt-grund für den Erfolg der Broschüre in der moralischen Autorität des Autors liegen. Hessel, dessen Vater, der Schriftsteller Franz Hessel, Jude war, wurde 1917 in Berlin geboren. Eingebürgert nach der Übersiedlung der Familie nach Paris, stieß er 1941 zu de Gaulle in London. Drei Jahre später wurde er bei einer Mission in Paris von der Gestapo gefangen genommen, gefoltert und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Dem Tod entrann er dort und in zwei weiteren KZ nur knapp.Nach dem Krieg war Hessel einer der zwölf Redaktoren der UNO-Menschenrechtserklärung, focht für die Unabhängigkeit Algeri-ens, für die europäische Einigung, den Umweltschutz. (…) Ange-sichts dieses Lebenslaufs wundert es wenig, dass den heute 93-Jährigen die Aura eines Weisen umgibt.Der andere Hauptgrund für den reißenden Absatz, den »Indignez-vous!« findet, dürfte in dem zunehmenden Unbehagen gründen, das vielen Franzosen die Reformen des letzten Jahrzehnts – und insbesondere seit Nicolas Sarkozys Amtsübernahme 2007 – be-reiten. In weiten Kreisen herrscht das Gefühl vor, der »Service pu-blic«, die Sozialversicherung, die Unabhängigkeit der Presse usw. seien gefährdet. Kurz: Den eingangs genannten Errungenschaf-ten des »Conseil national de la Résistance« drohe der Abbau. (…) Von daher eine neue Art des »Widerstands«, die Elisabeth Weis-sman, Autorin eines von Hessel mit einem Vorwort versehenen Buchs zum Thema, als »Désobéissance éthique« bezeichnet. Deren zwei Hauptmerkmale seien, dass sie sich zum einen nicht in einer organisierten, kollektiven Bewegung äußere – etwa in einem durch Gewerkschaften orchestrierten Streik –, sondern in individuellen »Befehlsverweigerungen«. Und dass sie zum andern nicht »Privilegien« zu verteidigen suche, sondern Werte und Prin-zipien.So kommt es, dass man in Frankreich seit gut zwei Jahren Grund-schullehrer sieht, die sich – aus pädagogischen und weltanschau-

lichen Gründen – weigern, eine Lehrplanreform umzusetzen. Be-amte am Postschalter, die sich weigern, den Kunden systematisch als Erstes den teuersten Tarif anzubieten oder sie direkt an den Automaten zu schicken. Pfleger in der Psychiatrie, die sich wei-gern, ihre Patienten zu isolieren oder mit Medikamenten ruhigzu-stellen. Angestellte der staatlichen Elektrizitätswerke, die sich weigern, zahlungsunfähigen Konsumenten den Strom abzustel-len. Richter, die sich weigern, Wiederholungstätern automatisch Mindeststrafen aufzubrummen. Usw. usf. (…) Diese »Désobéisseurs«, so eine Wortschöpfung aus jüngerer Zeit, sind relativ gesehen eine kleine Minderheit, absolut betrachtet aber doch recht zahlreich. (Im Fall der Lehrer etwa beträgt die Zahl der erklärten »Ungehorsamen« 3000, die »Dunkelziffer« dürfte um vieles höher liegen.) Nach ihrem Empfinden fallen »legal« und »legitim«, »gesetzmässig« und »gerecht« in gewissen Fällen nicht in eins. In der hiesigen Jurisprudenz wie auch in jener des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte finden sich Entscheidungen, die diese Sichtweisen stützen mögen.

Neue Zürcher Zeitung, Nr. 6, S. 20 vom 8.1.2011

M 8 »Die Gymnasiasten auf den Demonstrationen.« Tochter: »Aber ich möchte auch mal ne richtige Rente bekommen.« Vater: »Mach erst mal dein Abi-tur!« © Aurel, Politis 21.10.2010

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M 9 Interview mit Stéphane Hessel: »Am Ende ist die Hoff-nung stärker« (taz)

taz: Ihr kleines Buch »Empört euch!« wurde in Frankreich seit Herbst über eine Million Mal verkauft. Wie erklären Sie sich diesen unglaublichen Er-folg?Stéphane Hessel: Als dieses Büchlein letzten Herbst entstand, begann man in Frankreich gerade über die Präsidentenwahlen 2012 zu diskutieren. Ich wollte in diesem Zusammenhang sagen, dass es Grundwerte gibt, auf die man bestehen muss. Das wurde dann wie ein Appell aufgenommen.taz: Sie haben damit offene Türen eingerannt, in einem Land, in dem tra-ditionell eine große politische Protestkultur existiert.Hessel: Es scheint so. Es gibt viele Demonstrationen wie die gegen die Rentenreform vom letzten Herbst. Doch die Fragen der Wirtschaftsordnung oder der Ökologie als Gesamtes werden dabei kaum in Betracht gezogen. Auch in Frankreich wird die Re-gierung einseitig von Wirtschafts- und Finanzmächten geleitet, und es vergrößert sich die Kluft zwischen Arm und Reich.Taz: Ihr Buch ist bereits in achtzehn Ländern erschienen.Hessel: Sogar in Japan! Das heißt, auch in Japan fragen sich die Leute, wie wir regiert werden, wie sich die Welt organisiert, und ob wir genug zur Erhaltung unseres Planeten tun.taz: Nun wirft man Ihnen vor, dass Sie zwar Probleme aufzeigen, aber keine Lösungen haben?Hessel: Mein Aufruf will ja nur ein Anstoß sein, keine Gebrauchs-anweisung. Natürlich soll man nicht in der Empörung verharren, sondern weitergehen, damit etwas Positives herausschaut. Ich erwähne deswegen gern Edgar Morins »Der Weg« und Susan Georges »Eure Krise, unsere Antworten«. Aber auch Stiglitz, von Weizsäcker, Habermas oder Amartya Sen. Ich benenne Probleme der Menschheit, ohne zu sagen, wie sie gelöst werden. Aber ich sage auch, dass wir direkt auf die Mauer zugehen, wenn diese jetzt von den Regierungen und internationalen Organisationen nicht angepackt werden. Wir können nicht einfach so wie die letz-ten zwei Jahrhunderte weitermachen nach der Devise »Immer mehr und mehr«, sonst ist es vielleicht aus für uns in fünfzig Jah-ren. Wer dies erkennt, muss sich als Weltbürger empören. Das ist die einzige Botschaft dieses Büchleins.taz: Das klingt etwas apokalyptisch.Hessel: Die letzten zehn Jahre des 20. Jahrhunderts schufen nach dem Mauerfall mit den großen UNO-Gipfelkonferenzen von Rio, Kopenhagen oder Peking und dann mit der Definition der Millen-niumsziele eine immense Erwartung. Die zehn ersten Jahre des 21. Jahrhunderts aber brachten nach der Attacke auf die Twin To-wers Rückschritte mit Kriegen wie im Irak und in Afghanistan und sehr wenige Fortschritte. Das waren zehn verlorene Jahre. Jetzt muss man auf die Millenniumsziele erneut zurückkommen, ebenso wie auf die Grundwerte der Menschenrechtserklärung und in Frankreich auf das Programm des Nationalen Widerstan-drats von 1945.taz: Woher nehmen Sie hier Ihre Leidenschaft, Ihre Zuversicht?Hessel: Es gibt in der Geschichte immer wieder Rückschläge. Doch meiner Überzeugung nach ist die Hoffnung am Ende stär-ker als die Schwierigkeit. Ein langes Leben genügt, um zu erfah-ren, dass das Schlimme überwunden werden kann.taz: Sie beziehen sich da auf Ihre persönliche Erfahrung?Hessel: Ja. Ich war als französischer Soldat zuerst Kriegsgefange-ner und konnte fliehen, ich ging dann zu de Gaulle nach London und kam 1944 als Verbindungsmann zur Résistance nach Frank-reich. Ich wurde von der Gestapo verhaftet und sollte eigentlich gehängt werden. Ich verdanke mein Überleben dem Deutschen Eugen Kogon und einem SS-Arzt, die mir und zwei Engländern die Identität von drei an Typhus gestorbenen Mitgefangenen ver-schafften. Als dann der Befehl kam, uns zu erschießen, hieß es: Der Hessel ist schon tot! Nachher wurde ich mit meinem falschen Namen ins Lager Dora transportiert und hatte das Glück, dort im Strafkommando und nicht im Tunnel arbeiten zu müssen, wo die wenigsten zwei Monate überlebt haben. Schließlich sollte ich

noch nach Bergen-Belsen gebracht werden, aber ich konnte vom Zug abspringen und landete bei den Amerikanern. Das heißt, lau-ter glückliche Wendungen, trotz aller Gefahren. Wenig später wurde ich nach New York zu den Vereinten Nationen berufen.taz: Sie sagen vorab den Jungen, sie sollen sich engagieren. Wo aber sind die großen Utopien, für die sie sich begeistern könnten?Hessel: Wir haben im letzten Jahrhundert viele Utopien erlebt, die schlimm ausgegangen sind, insbesondere die kommunisti-sche Utopie. Die Begeisterung für die Oktoberrevolution war in Europa enorm. Man hat so viel erwartet, und dann kam es so an-ders. Und auf der anderen Seite der Faschismus. Die Begeiste-rung birgt Gefahren. Ich rufe nicht zur Revolte, sondern zu einem Aufstand der Friedfertigkeit. Nicht Gewalt ist die Lösung, son-dern Gewaltlosigkeit. Das ist die Lektion der großen Revolutio-nen. (…) taz: Sie richten sich speziell an die Jugend, waren Sie als Jugendlicher selbst sehr engagiert?Hessel: Ich bin 1917 geboren. Und meinte zum Beispiel zur Zeit der Volksfrontregierung (1936) hätte man den spanischen Repub-likanern mehr Hilfe leisten müssen. Aber Kommunist bin ich nie geworden. Die stalinistischen Verbrechen mit den Moskauer Pro-zessen von 1935 haben mich abgeschreckt.taz: Und de Gaulle?Hessel: Als ich nach London kam, hat er mich zum Frühstück ein-geladen. Er war eine beeindruckende Persönlichkeit. Er war wäh-rend des Kriegs unersetzbar und hat Frankreichs Ehre gerettet. Ich wurde deswegen nicht Gaullist, fand aber die Art und Weise seines Abgangs 1969 als das Verhalten eines wahren Demokraten: Da er vom Volk nicht mehr unterstützt wurde, trat er zurück.

© Tageszeitung, Interview mit Stéphane Hessel, 11.2.2011, »Am Ende ist die Hoffnung stär-ker«, www.taz.de/!65788/

M 10 »Man muss Verbindungen zu diesem Gesindel, äh, will sagen: diesen Ju-gendlichen, herstellen!« Der Karikaturist spielt dabei auf eine Äußerung des heutigen Staatspräsidenten und damaligen Innenministers Nicolas Sarkozy an, der im Jahre 2005 bei den damaligen Unruhen die Jugendli-chen als »racaille«, also »Gesindel« oder »Abschaum«, bezeichnet hatte. Gleichzeitig wollte er die Randalierer »wegkärchern«, eine Anspielung auf eine auch in Frankreich häufig benutzte Marke eines deutschen Hochdruckreinigerherstellers. © Plantu in »le Monde«, 6.11.2005

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Heft 62 · 2011D&E

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Gedenktage werden häufig zum Anlass genommen, mit Hilfe von Geschichtsdossiers an historische Begebenheiten zu erinnern und sie in die geschichtlichen Bezüge einzuordnen.

In ihrem Dossier »Volksabstimmung zu Stutt-gart 21 am 27. November 2011« ruft die Lan-

deszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg die Wahlberechtigten in Baden-Württemberg auf, mit ihrer Stimmab-gabe bei der historischen ersten Volksabstim-mung ein klares Votum für oder gegen das »S21-Kündigungsgesetz« auszusprechen. Das Dossier erläutert, wie es zur Volksabstimmung kam, worüber abgestimmt wird und warum die Abstimmung rechtlich umstritten ist. Links zu den gesetzlichen Grundlagen und den Pro- und Contrapositionen sowie umfangreiche Hinter-grundinformationen vervollständigen das An-gebot. Das Dossier ist auf der Seite www.lpb-bw.de/volksabstimmung_stuttgart21.html abrufbar.

Zudem werden in weiteren Politikdossiers aktu-elle politische Themen, die im Mittelpunkt der politischen Diskussion stehen, ausführlich doku-mentiert. Dort werden nicht nur die Hinter-gründe der Themen ausführlich beleuchtet, es finden sich außerdem stets weiterführende Links und zum Thema passende Materialien in gebote-ner Kürze. Zu Wahlen wie z. B. den Kommunal-, Landtags-, Bun-destags- und Europawahlen bietet die Landeszentrale außerdem umfangreiche Portale mit grundlegenden Informationen für die Wählerinnen und Wähler.

DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN

»… mehr als nur Schlagzeilen« – LpB-Dossiers im InternetWOLFGANG HERTERICH

„Europa sind wir!“ aus der Reihe BAUSTEINE bietet:

• Ideen für aktivierende Einstiege ins Thema Europa

• eine schüler- und handlungsorientierte Herangehensweise

• die Möglichkeit, Europa spielerisch und inhaltlich fundiert zu entdecken

• vielfältige und erprobte Methoden sowie ausgearbeitete Materialien für die schulische und außerschuliche Jugendbildung

• Module zu grundlegenden Inhalten der europapolitischen Bildung

Band 1 kann als PDF heruntergeladen werden unterhttp://www.lpb-bw.de/bausteine0.html

Band 2 kann für 2 Euro zzgl. Versand bestellt werden per Fax 0711.16 40 99 77, [email protected] oder www.lpb-bw.de/shop

Europa sind wir!Methoden für die europapolitische Jugendbildung in zwei Bänden

BAUSTE INE»Europa sind wir!«

Methoden für die europapolitische Jugendbildung Band 2

Abb. 1 Dossier der LpB Baden-Württemberg: »Volksabstimmung zu Stuttgart 21 am 27. November 2011« © LpB

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D&EL p B - D o s s i e r s i m I n t e r n e t Heft 62 · 2011

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Prozesse. Das Formulieren und Diskutieren gegensätzlicher Standpunkte, die Übernahme auch einer ungeliebten Rolle und die Interaktion in verschiedenen Gremien befähigt die Teilneh-menden dazu, das Zustandekommen einer politischen Entschei-dung hautnah zu erfahren.Eine Übersicht von Planspielen aus dem deutschsprachigen Raum bietet dazu die neu konzipierte Datenbank der bpb (www.bpb.de/methodik/3IRIZ6). Die LpB stellte auf der Tagung zudem ihre altersgerechten Planspielangebote vor, die im Rahmen der »Poli-tischen Tage« für Schüler eingesetzt werden können. Auf einer Podiumsveranstaltung im Heidelberger Rathaus wurde schließ-lich kritisch über bisher gemachte Erfahrungen aus unterschiedli-chen Schularten berichtet. Positiv, so der allgemeine Konsens, waren stets Planspielsitzungen in Rathäusern wie z. B. in Heidel-berg, Pforzheim oder Schwäbisch Gmünd.

Beim Heidelberger Didaktikforum vom 5. bis 6. Oktober 2011 wurden nicht nur pädagogische Erfahrungen und

wissenschaftliche Erkenntnisse über Planspiele und Simulati-onen ausgetauscht. Die Teilnehmenden bekamen an zwei Tagen die Gelegenheit, theoretische Begründungen sowie konkrete Planspiele kennen zu lernen und zu erfahren. Das Fazit der Tagung lautete: Planspiele stellen eine besonders gewinnbringende Ergänzung der politischen Bildung im schu-lischen und außerschulischen Alltag dar.

Ausgerichtet wurde die Tagung von der Bundeszentrale für politi-sche Bildung sowie der Heidelberger Außenstelle der Landeszen-trale für politische Bildung in Baden-Württemberg. Unter der Fe-derführung von Detlef Dechant, BpB, Wolfgang Berger, LpB, und Dr. Stefan Rappenglück, Hochschule für angewandte Wissen-schaften München, wurde den Teilnehmenden die Möglichkeit geboten, die Methode »Planspiel« kennen zu lernen, zu vertiefen und zu diskutieren. Hierfür wurden Studenten, Referendare, Leh-rerinnen und Lehrer aller Schularten, Hochschuldozenten sowie Praktiker der politischen Bildung eingeladen. Die Methode der Planspiele schafft es, eine neue Art des Lernens in den schuli-schen, außerschulischen sowie den universitären Bereich zu inte-grieren. Dabei werden Entscheidungsstrukturen und politische Prozesse möglichst realitätsnah simuliert, wobei für die Teilneh-menden die Erfahrungs- und Handlungsorientierung im Mittel-punkt des Lernens stehen. Gerade die intensive Auseinanderset-zung mit einer bestimmten Rolle verschafft den Teilnehmenden einen tiefgehenden Einblick in politische und gesellschaftliche

DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN

»Heidelberger Didaktik forum«WOLFGANG BERGER, SVEN HAUSER, BIRTE MESKE

Abb. 2 Heidelberger Didaktikforum vom 5.–6.10.2011. Vorstellung des energiepolitischen Planspiels »Energetingen« durch Maximilian Knogler (ste-hend), TU München, School of Education, und Oberstudienrat Klaus Masch, Gymnasium Miesbach. © LpB

Handlexikon der Europäischen Union

Herausgegeben von Prof. Dr. Jan Bergmann

4. Auflage 2012, ca. 1.100 S., geb., ca. 98,– €, ISBN 978-3-8329-6323-1

Erscheint ca. Dezember 2011

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Die 4. Auflage berücksichtigt die Ereignisse und politischen Entwicklungen bis Sommer 2011 und ist das ideale Handwerkzeug für die europarechtliche Praxis, Studium und Forschung.

Ob Rettungsschirm für Griechenland, Wiedereinführung von Grenzkontrollen, Flüchtlings-ströme aus Afrika oder Griechenlands Ausscheiden aus der Euro-Zone – Europa ist in aller Munde. Doch was verbirgt sich hinter dem Schengener Abkommen, wie funktioniert die Europäische Asylpolitik nach Lissabon und kann ein Mitglied die Währungsunion verlassen?

Über 70 Autoren aus Wissenschaft, Justiz, Europäischen Institutionen und Rechtsanwalt-schaft erklären verständlich die Grundlagen der Europäischen Union, beleuchten die struk-turellen Neuerungen durch den Vertrag von Lissabon, bewerten die aktuelle Rechtslage kritisch und geben einen Ausblick auf zukünftige Entwicklungen.

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» H e i d e l b e r g e r D i d a k t i k f o r u m «Heft 62 · 2011D&E

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DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN

D&E Autorinnen und Autoren – Heft 62

Abb. 1 Professor Dr. Ulrich Eith, Universität Freiburg und Leiter des Studienhauses Wiesneck

Dr. Beate Rosenzweig, Universität Freiburg und stellvertretende Leite-rin des Studienhauses Wiesneck, Mitglied im Beirat von D&E

Abb. 2 Dr. Otmar Jung, Privatdo-zent für Politikwissenschaft an der FU Berlin, Forschungsschwerpunkt: direkte Demokratie.

Abb. 3 Martin Große Hüttmann, Akademischer Oberrat am Arbeitsbe-reich Vergleichende Politikwissen-schaft und Europäische Integration, Universität Tübingen, Mitherausge-ber der Reihe »Brennpunkt Politik« beim Verlag W. Kohlhammer.

Abb. 4 Professor Dr. Frank Decker, Universität Bonn, Institut für Politi-sche Wissenschaft und Soziologie, Schwerpunkt Parteienforschung und Europa

Abb. 5 Professor Dr. Andreas Bru-nold, Professor für politische Bildung und Politikdidaktik an der Universi-tät Augsburg.

Abb. 7 StD Jürgen Kalb, LpB, Chefredakteur von D&E, Fachberater für Geschichte, Gemeinschaftskunde mit Wirtschaft am RP Stuttgart

Abb. 8 Dr. Alexander Ruser, LpB Baden-Württemberg, Außenstelle Heidelberg, Universität Heidelberg

Abb. 9 Professor i. R. Frieder Spaeth, Staatliches Seminar für Di-daktik und Lehrerbildung Stuttgart (Gymnasien), ehemaliger Fachleiter evangelische Religion

Abb. 10 Professorin Judith Spaeth-Goes, Staatliches Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Stuttgart (Gymnasien), Fachleiterin Französisch

Abb. 6 Lothar Frick, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und Büroleiter von Heiner Geißler im Schlichtungs-verfahren zu »Stuttgart 21«

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D&ED & E A u t o r i n n e n u n d A u t o r e n Heft 62 · 2011

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Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Telefon 0711/164099-0, Service -66, Fax -77 [email protected], www.lpb-bw.de

Direktor: Lothar Frick -60 Büro des Direktors: Sabina Wilhelm/Thomas Schinkel -62 Stellvertretender Direktor: Karl-Ulrich Templ -40

Stabsstelle Kommunikation und Marketing Leiter: Werner Fichter -63 Susanne Krieg -64

Abteilung Zentraler Service Abteilungsleiter: Günter Georgi -10 Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer -12 Personal: Sabrina Gogel -13 Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich -14 Klaudia Saupe -49Siegfried Kloske, Haus auf der Alb, Tel.: 07125/152-137

Abteilung Demokratisches Engagement Abteilungsleiter/Gedenkstättenarbeit: Sibylle Thelen* -30 Politische Landeskunde: Dr. Iris Häuser* -20 Schülerwettbewerb des Landtags: Monika Greiner* -25 Thomas Schinkel* -26 Frauen und Politik: Beate Dörr/Sabine Keitel -29/-32 Jugend und Politik: Angelika Barth* -22Freiwilliges Ökologisches Jahr: Steffen Vogel* -35 Alexander Werwein* -36Stefan Paller* -37

Abteilung Medien und Methoden Abteilungsleiter/Neue Medien: Karl-Ulrich Templ -40 Politik & Unterricht/Schriften zur politischen Landes-kunde Baden-Württembergs: Dr. Reinhold Weber -42 Deutschland & Europa: Jürgen Kalb -43 Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe: Siegfried Frech -44Unterrichtsmedien: Michael Lebisch -47 E-Learning: Susanne Meir -46 Politische Bildung Online: Jeanette Reusch-Mlynárik, Haus auf der Alb, Tel.: 07125/152-136 Internet-Redaktion: Klaudia Saupe, Julia Maier -49/-46

Abteilung Haus auf der Alb Tagungszentrum Haus auf der Alb, Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach Telefon 07125/152-0, Fax -100 www.hausaufderalb.de

Abteilungsleiter/Gesellschaft und Politik: Dr. Markus Hug -146 Schule und Bildung/Integration und Migration: Robert Feil -139 Internationale Politik und Friedenssicherung/ Integration und Migration: Wolfgang Hesse -140 Europa – Einheit und Vielfalt: Dr. Karlheinz Dürr -147 Bibliothek/Mediothek: Gordana Schumann -121 Hausmanagement: Nina Deiß -109

Außenstellen Regionale Arbeit Politische Tage für Schülerinnen und Schüler Veranstaltungen für den Schulbereich

Außenstelle Freiburg Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg Telefon: 0761/20773-0, Fax -99 Leiter: Dr. Michael Wehner -77 Felix Steinbrenner -33

Außenstelle Heidelberg Plöck 22, 69117 Heidelberg Telefon: 06221/6078-0, Fax -22 Leiter: Wolfgang Berger -14 Alexander Ruser -13

Außenstelle Tübingen Haus auf der Alb, Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach Telefon: 07125/152-133, -148; Fax -145 Klaus Deyle -134

Projekt ExtremismuspräventionStuttgart: Stafflenbergstraße 38Leiterin: Regina Bossert -81Assistentin: Lydia Kissel -82

* Paulinenstraße 44–46, 70178 Stuttgart Telefon: 0711/164099-0, Fax -55

LpB-Shops/Publikationsausgaben

Bad Urach Hanner Steige 1, Telefon 07125/152-0 Montag bis Freitag 8.00–12.00 Uhr und 13.00–16.30 Uhr

Freiburg Bertoldstraße 55, Telefon 0761/20773-10 Dienstag und Donnerstag 9.00–17.00 Uhr

Heidelberg Plöck 22, Telefon 06221/6078-11 Dienstag, 9.00–15.00 Uhr Mittwoch und Donnerstag 13.00–17.00 Uhr

Stuttgart Stafflenbergstraße 38, Telefon 0711/164099-66 Montag und Mittwoch 14.00–17.00 Uhr

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DEUTSCHLAND & EUROPA IM INTERNETAktuelle, ältere und vergriffene Hefte zum kostenlosen Herunterladen: www.deutschlandundeuropa.de

BESTELLUNGENAlle Veröffentlichungen der Landeszentrale (Zeitschriften auch in Klassensätzen) können schriftlich bestellt werden bei:Landeszentrale für politische Bildung, Stabsstelle Kommunikation und MarketingStafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax 07 11/164 [email protected] oder im Webshop: www.lpb-bw.de/shopWenn Sie nur kostenlose Titel mit einem Gewicht unter 1 kg bestellen, fallen für Sie keine Versandkosten an. Für Sendungen über 1 kg sowie bei Lieferungen kostenpflichtiger Produkte werden Versandkosten berechnet.

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