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Der Weihnachtsabend eine Geistergeschichte

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Der Weihnachtsabend Eine Geistergeschichte Dickens, Charles, 1812-1870
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DerWeihnachtsabend

EineGeistergeschichte

Dickens, Charles, 1812-1870

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Release date: 2007-08-31Source: Bebook

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Der Weihnachtsabend. Eine Geistergeschichte von Charles Dickens. Aus dem Englischen von Julius Seybt.

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Leipzig. Druck und Verlag von PhilippReclam jun.

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Inhalt Erstes Kapitel: Marleys Geist. 3 Zweites Kapitel: Der erste derdrei Geister. 25 Drittes Kapitel:Der zweite der drei Geister. 45 Viertes Kapitel: Der letzte der drei Geister. 71 Fünftes Kapitel: Das Ende. 89

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Erstes Kapitel. Marleys Geist. Marley war tot, damit wollen wiranfangen. Ein Zweifel darüber kann nichtstattfinden. Der Schein über seineBestattung wurde von dem Geistlichen,dem Küster, dem Leichenbesorger undden vornehmsten Leidtragendenunterschrieben. Scrooge unterschrieb ihnund Scrooges Name wurde auf der Börserespektiert, wo er ihn nur hinschrieb. Deralte Marley war so tot wie ein Thürnagel. Merkt wohl auf! Ich will nicht etwa sagen,daß ein Thürnagel etwas besonders Totesfür mich hätte. Ich selbst möchte fast zuder Meinung geneigt sein, ein Sargnagelsei das toteste Stück Eisenwerk auf derWelt. Aber die Weisheit unsrer Altvordern

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liegt in dem Gleichnisse und meineunheiligen Hände sollen sie dort nichtstören, sonst wäre es um das Vaterlandgeschehen. Man wird mir daher erlauben,mit besonderem Nachdruck zuwiederholen, daß Marley so tot wie einThürnagel war. Scrooge wußte, daß er tot war? Natürlichwußte er's. Wie konnte es auch anderssein? Scrooge und er waren, ich weiß nichtseit wie vielen Jahren,Handlungsgesellschafter. Scrooge warsein einziger Testamentsvollstrecker, seineinziger Administrator, sein einziger Erbe,sein einziger Freund und sein einzigerLeidtragender. Und selbst Scrooge warvon dem traurigen Ereignis nicht soentsetzlich gerührt, daß er selbst an demBegräbnistage nicht ein vortrefflicherGeschäftsmann gewesen wäre und ihn miteinem unzweifelhaft guten Handel gefeiert

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hätte. Die Erwähnung von MarleysBegräbnistag bringt mich zu demAusgangspunkt meiner Erzählung wiederzurück. Es ist ganz unzweifelhaft, daßMarley tot war. Das muß scharf ins Augegefaßt werden, sonst kann in derGeschichte, die ich eben erzählen will,nichts Wunderbares geschehen. Wenn wirnicht vollkommen fest überzeugt wären,daß Hamlets Vater tot ist, ehe das Stückbeginnt, würde durchaus nichtsMerkwürdiges in seinem nächtlichenSpaziergang bei scharfem Ostwind auf denMauern seines eignen Schlosses sein.Nicht mehr, als bei jedem andern Herrn inmittleren Jahren, der sich nachSonnenuntergang rasch zu einemSpaziergang auf einem luftigen Platze, zumBeispiel Sankt Pauls Kirchhof, entschließt,bloß um seinen schwachen Sohn in

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Erstaunen zu setzen. Scrooge ließ Marleys Namen nichtausstreichen. Noch nach Jahren stand überder Thür des Speichers »Scrooge undMarley.« Die Firma war unter dem NamenScrooge und Marley bekannt. Zuweilennannten Leute, die ihn noch nicht kannten,Scrooge Scrooge und zuweilen Marley;aber er hörte auf beide Namen, denn eswar ihm ganz gleich. O, er war ein wahrer Blutsauger, derScrooge! ein gieriger,zusammenscharrender, festhaltender,geiziger alter Sünder; hart und scharf wieein Kiesel, aus dem noch kein Stahl einenwarmen Funken geschlagen hat;verschlossen und selbstbegnügt und fürsich, wie eine Auster. Die Kälte in seinemHerzen machte seine alten Züge erstarren,seine spitze Nase noch spitzer, sein

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Gesicht von Runzeln, seinen Gang steif,seine Augen rot, seine dünnen Lippenblau, und klang aus seiner krächzendenStimme heraus. Ein frostiger Reif lag aufseinem Haupt, auf seinen Augenbrauen,auf den starken kurzen Haaren seinesBartes. Er schleppte seine eigene niedereTemperatur immer mit sich herum; in denHundstagen kühlte er sein Comptoir wiemit Eis; zur Weihnachtszeit wärmte er esnicht um einen Grad. Aeußere Hitze und Kälte wirkten wenigauf Scrooge. Keine Wärme konnte ihnwärmen, keine Kälte ihn frösteln machen.Kein Wind war schneidender als er, keinfallender Schnee mehr auf seinen Zweckbedacht, kein schlagender Regen einerBitte weniger zugänglich. SchlechtesWetter konnte ihm nichts anhaben. Derärgste Regen, Schnee oder Hagel konntensich nur in einer Art rühmen, besser zu

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sein als er: Sie gaben oft im Ueberfluß,und das that Scrooge nie. Niemals trat ihm jemand auf der Straßeentgegen, um mit freundlichem Gesicht zuihm zu sagen: Mein lieber Scrooge, wiegeht's, wann werden Sie mich einmalbesuchen? Kein Bettler sprach ihn um eineKleinigkeit an, kein Kind frug ihn, welcheZeit es sei, kein Mann und kein Weib hatihn je in seinem Leben um den Weggefragt. Selbst der Hund des Blindenschien ihn zu kennen, und wenn er ihnkommen sah, zupfte er seinen Herrn, daßer in ein Haus trete und wedelte dann mitdem Schwanze, als wollte er sagen: keinAuge ist besser, als ein böses Auge,blinder Herr. Doch was kümmerte das Scrooge?Gerade das gefiel ihm. Allein seinen Wegdurch die gedrängten Pfade des Lebens zu

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gehen, jedem menschlichen Gefühl zusagen: bleib' mir fern, das war das, wasScrooge gefiel. Einmal, es war von allen guten Tagen imJahre der beste, der Christabend, saß deralte Scrooge in seinem Comptoir. Es wardraußen schneidend kalt und nebelig under konnte hören, wie die Leute im Hofedraußen prustend auf und nieder gingen,die Hände zusammenschlugen und mit denFüßen stampften, um sich zu erwärmen. Eshatte eben erst Drei geschlagen, war aberschon ganz finster. Den ganzen Tag überwar es nicht hell geworden und aus denFenstern der benachbarten Comptoirserblickte man Lichter, wie rote Flecken aufder dicken, braunen Luft. Der Nebel drangdurch jede Spalte und durch jedesSchlüsselloch und war draußen so dick,daß die gegenüber stehenden Häuser dessehr kleinen Hofes wie ihre eignen Geister

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aussahen. Wenn man die trübe, dickeWolke, alles verfinsternd, heruntersinkensah, hätte man meinen können, die Naturwohne dicht nebenan und braue =engros=. Die Thür von Scrooges Comptoir standoffen, damit er seinen Commisbeaufsichtigen könne, welcher in einemunheimlich feuchten, kleinen Raume, einerArt Burgverließ, Briefe kopierte. Scroogehatte nur ein sehr kleines Feuer, aber desDieners Feuer war um so viel kleiner, daßes wie eine einzige Kohle aussah. Erkonnte aber nicht nachlegen, dennScrooge hatte den Kohlenkasten in seinemZimmer und allemal, wenn der Diener, mitder Kohlenschaufel in der Hand,hereinkam, meinte der Herr, es würdewohl nötig sein, daß sie sich trennten,worauf der Diener seinen weißen Shawlumband und versuchte, sich an dem Lichte

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zu wärmen, was, da er ein Mann von nichtzu starker Einbildungskraft war, immerfehlschlug. »Fröhliche Weihnachten, Onkel, Gotterhalte Sie!« rief eine heitere Stimme. Eswar die Stimme von Scrooges Neffen, derihm so schnell auf den Hals kam, daßdieser Gruß die erste Ankündigung seinerAnnäherung war. »Pah,« sagte Scrooge, »dummes Zeug!« Der Neffe war vom schnellen Laufen sowarm geworden, daß er über und überglühte; sein Gesicht war rot und hübsch,seine Augen glänzten und sein Atemrauchte. »Weihnachten dummes Zeug, Onkel?«sagte Scrooges Neffe, »das kann nicht IhrErnst sein.«

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»Es ist mein Ernst,« sagte Scrooge.»Fröhliche Weihnachten? Was für einRecht hast du, fröhlich zu sein? was füreinen Grund, fröhlich zu sein? Du bist armgenug.« »Nun,« antwortete der Neffe heiter, »wasfür ein Recht haben Sie, grämlich zu sein?was für einen Grund, mürrisch zu sein? Siesind reich genug.« Scrooge, der im Augenblick keinebessere Antwort bereit hatte, sagte nocheinmal »Pah!« und brummte ein »DummesZeug!« hinterher. »Seien Sie nicht bös, Onkel,« sagte derNeffe. »Was soll ich anders sein,« antworteteder Onkel, »wenn ich in einer Welt voll

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solcher Narren lebe? FröhlicheWeihnachten! Der Henker hole diefröhlichen Weihnachten! Was istWeihnachten für dich anders, als ein Tag,wo du Rechnungen bezahlen sollst, ohneGeld zu haben, ein Tag, wo du dich um einJahr älter und nicht um eine Stunde reicherfindest, ein Tag, wo du deine Bücherabschließest und in jedem Posten durchein volles Dutzend von Monaten ein Deficitsiehst? Wenn es nach mir ginge,« sagteScrooge heftig, »so müßte jeder Narr, dermit seinem fröhlichen Weihnachtenherumläuft, mit seinem eigenen Puddinggekocht und mit einem Pfahl vonStecheiche im Herzen begraben werden.« »Onkel!« sagte der Neffe. »Neffe!« antwortete der Onkel heftig,»feiere du Weihnachten nach deiner Artund laß es mich nach meiner feiern.«

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»Feiern!« wiederholte Scrooges Neffe;»aber Sie feiern es nicht.« »Laß mich ungeschoren,« sagte Scrooge.»Mag es dir Nutzen bringen! viel genützthat es dir schon.« »Es giebt viel Dinge, die mir hättennützen können und die ich nicht benutzthabe, das weiß ich,« antwortete der Neffe,»und Weihnachten ist eins von denen.Aber ich weiß gewiß, daß ichWeihnachten, wenn es gekommen ist,abgesehen von der Verehrung, die wirseinem heiligen Namen und Ursprungschuldig sind, immer als eine gute Zeitbetrachtet habe, als eine liebe Zeit, als dieZeit der Vergebung und Barmherzigkeit,als die einzige Zeit, die ich in dem ganzenlangen Jahreskalender kenne, wo dieMenschen einträchtig ihre verschlossenen

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Herzen aufthun und die andern Menschenbetrachten, als wenn sie wirklichReisegefährten nach dem Grabe wärenund nicht eine ganz andere Art vonGeschöpfen, die einen ganz andern Weggehen. Und daher, Onkel, ob es mir gleichniemals ein Stück Gold oder Silber in dieTasche gebracht hat, glaube ich doch, eshat mir Gutes gethan und es wird mirGutes thun, und ich sage: Gott segne es!« Der Diener in dem Burgverließe draußenapplaudierte unwillkürlich; aber denAugenblick darauf fühlte er auch dieUnschicklichkeit seines Betragens, schürtedie Kohlen und verlöschte den letztenkleinen Funken auf immer. »Wenn _Sie_ mich noch einen einzigenLaut hören lassen,« sagte Scrooge, »sofeiern Sie Ihre Weihnachten mit demVerlust Ihrer Stelle. Du bist ein ganz

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gewaltiger Redner,« fügte er hinzu, sich zuseinem Neffen wendend. »Es wundertmich, daß du nicht ins Parlament kommst.« »Seien Sie nicht bös, Onkel. Essen Siemorgen mit uns.« Scrooge sagte, daß er ihn erst verdammtsehen wollte, ja wahrhaftig, er sprach sichganz deutlich aus. »Aber warum?« rief Scrooges Neffe,»warum?« »Warum hast du dich verheiratet?« sagteScrooge. »Weil ich mich verliebte.« »Weil er sich verliebte!« brummteScrooge, als ob das das einzige Ding inder Welt wäre, noch lächerlicher als eine

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fröhliche Weihnacht. »Guten Nachmittag!« »Aber, Onkel, Sie haben mich ja auch nievorher besucht. Warum soll es da einGrund sein, mich jetzt nicht zu besuchen?« »Guten Nachmittag!« sagte Scrooge. »Ich brauche nichts von Ihnen, ichverlange nichts von Ihnen, warum könnenwir nicht gute Freunde sein?« »Guten Nachmittag!« sagte Scrooge. »Ich bedaure wirklich von Herzen, Sie sohartnäckig zu finden. Wir haben nie einenZank miteinander gehabt, an dem ichschuld gewesen wäre. Aber ich habe denVersuch gemacht, Weihnachten zu Ehrenund ich will meine Weihnachtsstimmungbis zuletzt behalten. FröhlicheWeihnachten, Onkel!«

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»Guten Nachmittag!« sagte Scrooge. »Und ein glückliches Neujahr!« »Guten Nachmittag!« sagte Scrooge. Aber doch verließ der Neffe das Zimmerohne ein böses Wort. An der Hausthürblieb er noch stehen, um mit demGlückwunsche des Tages den Diener zubegrüßen, der bei aller Kälte doch nochwärmer als Scrooge war, denn er gab denGruß freundlich zurück. »Das ist auch so ein Kerl,« brummteScrooge, der es hörte. »Mein Diener, mitfünfzehn Schilling die Woche und Frau undKindern, spricht von fröhlichenWeihnachten. Ich gehe nach Bedlam.« Der Diener hatte, indem er den Neffen

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hinausließ, zwei andere Personeneingelassen. Es waren zwei behäbige,wohlansehnliche Herren, die jetzt, den Hutin der Hand, in Scrooges Comptoirstanden. Sie hatten Bücher und Papiere inder Hand und verbeugten sich. »Scrooge und Marley, glaube ich,« sagteeiner der Herren, indem er auf seine Listesah. »Hab' ich die Ehre, mit Mr. Scroogeoder mit Mr. Marley zu sprechen?« »Mr. Marley ist seit sieben Jahren tot,«antwortete Scrooge. »Er starb heute vorsieben Jahren.« »Wir zweifeln nicht, daß seinüberlebender Compagnon ganz seineFreigebigkeit besitzen wird,« sagte derHerr, indem er seinBeglaubigungsschreiben hinreichte.

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Er hatte auch ganz recht, denn es warenzwei verwandte Seelen gewesen. Bei demominösen Wort Freigebigkeit runzelteScrooge die Stirn, schüttelte den Kopf undgab das Papier zurück. »An diesem festlichen Tage des Jahres,Mr. Scrooge,« sagte der Herr, eine Federergreifend, »ist es mehr als gewöhnlichwünschenswert, einigermaßen wenigstensfür die Armut zu sorgen, die zu dieser Zeitin großer Bedrängnis ist. VielenTausenden fehlen selbst dienotwendigsten Bedürfnisse,Hunderttausenden die notdürftigstenBequemlichkeiten des Lebens.« »Giebt es keine Gefängnisse?« fragteScrooge. »Ueberfluß von Gefängnissen,« sagte derHerr, die Feder wieder hinlegend.

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»Und die Union-Armenhäuser?« fragteScrooge. »Bestehen sie noch?« »Allerdings. Aber doch,« antwortete derHerr, »wünschte ich, sie brauchtenweniger in Anspruch genommen zuwerden.« »Tretmühle und Armengesetz sind involler Kraft,« sagte Scrooge. »Beide haben alle Hände voll zu thun.« »So? Nach dem, was Sie zuerst sagten,fürchtete ich, es halte sie etwas in ihremnützlichen Laufe auf,« sagte Scrooge. »Ichfreue mich, das zu hören.« »In der Ueberzeugung, daß sie doch wohlkaum fähig sind, der Seele oder dem Leibder Armen christliche Stärkung zu geben,«

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antwortete der Herr, »sind einige von unszur Veranstaltung einer Sammlungzusammengetreten, um für die ArmenNahrungsmittel und Feuerunganzuschaffen. Wir wählen diese Zeit, weilsie vor allen andern eine Zeit ist, wo derMangel am bittersten gefühlt wird und derReiche sich freut. Welche Summe soll ichfür Sie aufschreiben?« »Nichts,« antwortete Scrooge. »Sie wünschen ungenannt zu bleiben?« »Ich wünsche, daß man mich zufriedenlasse,« sagte Scrooge. »Da Sie michfragen, was ich wünsche, meine Herren, soist das meine Antwort. Ich freue michselbst nicht zu Weihnachten und habenicht die Mittel, mit meinem GeldeFaulenzern Freude zu machen. Ich tragemeinen Teil zu den Anstalten bei, die ich

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genannt habe; sie kosten genug, und wemes schlecht geht, der mag dorthin gehen!« »Viele können nicht hingehen und vielewürden lieber sterben.« »Wenn sie lieber sterben würden,« sagteScrooge, »so wäre es gut, wenn sie esthäten, und die überflüssige Bevölkerungverminderten. Uebrigens, Sie werdenmich entschuldigen, weiß ich nichtsdavon.« »Aber Sie könnten es wissen,« bemerkteder Herr. »Es geht mich nichts an,« antworteteScrooge. »Es genügt, wenn ein Mann seineigenes Geschäft versteht und sich nicht indas anderer Leute mischt. Das meinigenimmt meine ganze Zeit in Anspruch.Guten Nachmittag, meine Herren!«

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Da sie deutlich sahen, wie vergeblichweitere Versuche sein würden, zogen sichdie Herren zurück. Scrooge setzte sichwieder mit einer erhöhten Meinung vonsich selbst und in einer besseren Laune,als gewöhnlich, an die Arbeit. Unterdessen hatten Nebel und Finsternisso zugenommen, daß Leute mitbrennenden Fackeln herumliefen, um denWagen vorzuleuchten. Der Kirchturm,dessen brummende alte Glocke immer auseinem alten gotischen Fenster in derMauer gar schlau auf Scrooge herabsah,wurde unsichtbar und schlug die Stundenund Viertel in den Wolken mit einemzitternden Nachklang, als wenn in demerfrorenen Knopf droben die Zähneklapperten. Die Kälte wurde immerschneidender. In der Hauptstraße an derEcke der Sackgasse wurden die

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Gasröhren ausgebessert und die Arbeiterhatten ein großes Feuer in einerKohlenpfanne angezündet, um welche sicheinige zerlumpte Männer und Knabendrängten, sich die Hände wärmend undmit den Augen blinzelnd vor derbehaglichen Flamme. Die Wasserröhre,sich selbst überlassen, strömteungehindert ihr Wasser aus; aber bald wares zu Eis erstarrt. Der Schimmer derLäden, in denen Stecheichenzweige undBeeren in der Lampenwärme der Fensterknisterten, rötete die bleichen Gesichterder Vorübergehenden. Die Gewölbe derGeflügel- und Materialwarenhändlersahen aus wie ein glänzendes, fröhlichesMärchen, mit dem es fast unmöglichschien, den Gedanken von einer soernsten Sache, wie Kauf und Verkauf, zuverbinden. Der Lord Mayor gab in deninnern Gemächern des Mansion-Houseseinen fünfzig Köchen und Kellermeistern

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Befehl, Weihnachten zu feiern, wie eseines Lord Mayors würdig ist, und selbstder kleine Schneider, den er am Montagevorher wegen Trunkenheit und öffentlichausgesprochenen Blutdurstes um fünfSchilling gestraft hatte, rührte denmorgenden Pudding in seinemDachkämmerchen um, während seinabgemagertes Weib mit dem Säugling aufdem Arm ausging, um den Rinderbratenzu kaufen. Immer nebeliger und kälter wurde es,durchdringend, schneidend kalt. Wennder gute, heilige Dunstan desGottseibeiuns Nase nur mit einem Hauchvon diesem Wetter gefaßt hätte, anstattseine gewöhnlichen Waffen zu brauchen,dann würde er erst recht gebrüllt haben.Der Inhaber einer kleinen, jungen Nase,benagt und angebissen von der hungrigenKälte, wie Knochen von Hunden benagt

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werden, legte sich an ScroogesSchlüsselloch, um ihn mit einemWeihnachtslied zu erfreuen. Aber bei demersten Tone des Liedes ergriff Scrooge dasLineal mit einer solchen Energie, daß derSänger voll Schrecken entfloh und dasSchlüsselloch dem Nebel und der nochverwandteren Kälte überließ. Endlich kam die Feierabendstunde.Unwillig stieg Scrooge von seinem Sesselund gab dem harrenden Diener in demVerließ stillschweigend die Einwilligung,worauf dieser sogleich das Lichtauslöschte und den Hut aufsetzte. »Sie wollen den ganzen Tag morgenhaben, vermute ich,« sagte Scrooge. »Wenn es Ihnen paßt, Sir.« »Es paßt mir nicht,« sagte Scrooge, »und

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es gehört sich nicht. Wenn ich Ihnen einehalbe Krone dafür abzöge, würden Siedenken, es geschähe Ihnen unrecht,nicht?« Der Diener antwortete mit einemgezwungenen Lächeln. »Und doch,« sagte Scrooge, »denken Sienicht daran, daß mir unrecht geschieht,wenn ich einen Tag Lohn für einen TagFaulenzen bezahle.« Der Diener bemerkte, daß es nur einmalim Jahre geschähe. »Eine armselige Entschuldigung, um anjedem fünfundzwanzigsten Dezembereines Mannes Tasche zu bestehlen,« sagteScrooge, indem er seinen Ueberrock bisan das Kinn zuknöpfte. »Aber ich vermute,Sie wollen den ganzen Tag frei haben. Sie

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werden den ganzen Vormittag hier sein.« Der Diener versprach, daß er kommenwolle und Scrooge ging mit einemBrummen fort. Das Comptoir war in einemNu geschlossen und der Diener, dielangen Enden seines weißen Shawls überdie Brust herabhängend (denn er konntesich keines Ueberrocks rühmen), fuhr zuEhren des Festes als der Letzte einer Reihevon Knaben zwanzigmal auf einer GlanderCornhill hinunter und lief dann so schnellals möglich in seine Wohnung inCamden-Town, um dort Blindekuh zuspielen. Scrooge nahm sein einsames, trübseligesMahl in seinem gewöhnlichen einsamen,trübseligen Gasthause ein; und nachdemer alle Zeitungen gelesen und sich denRest des Abends mit seinem Bankjournalvertrieben hatte, ging er nach Haus

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schlafen. Er wohnte in den Zimmern,welche seinem verstorbenen Compagnongehört hatten. Es war eine düstere Reihevon Zimmern in einem niedrigen, finsternGebäude in einem Hofe, wo es so wenigan seinem Platze stand, daß man fast hätteglauben mögen, es habe sich dorthinverlaufen, als es noch ein junges Haus warund mit andern Häusern Versteckensspielte, und sich nicht wieder herausfindenkönnen. Es war jetzt alt und öde genug,denn niemand wohnte dort, außerScrooge, da die andern Räume alle alsGeschäftslokale vermietet waren. Der Hofwar so dunkel, daß selbst Scrooge, derjeden Stein desselben kannte, seinen Wegmit den Händen fühlen mußte. Der Nebelund der Frost hing so dick und schwer umden schwarzen alten Thorweg des Hauses,als ob der Genius des Wetters intrauerndem Nachsinnen auf der Schwellesäße.

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Nun ist es ausgemacht, daß an demKlopfer der Hausthür ganz und gar nichtsBesonderes war, als seine Größe. Auch istes ausgemacht, daß Scrooge ihn jedenAbend und jeden Morgen, seitdem er dasHaus bewohnte, gesehen hatte, und daßScrooge so wenig Phantasie besaß alsirgend jemand in der City von London, mitEinschluß -- wenn es erlaubt ist, das zusagen -- des Stadtrats, der Aldermen undder Zünfte. Man vergesse auch nicht, daßScrooge, außer heute Nachmittag, mitkeinem Wörtchen an seinen seit siebenJahren verstorbenen Compagnon gedachthatte. Und nun soll mir jemand erklären,warum Scrooge, als er seinen Schlüssel indas Thürschloß steckte, in dem Klopfer,ohne daß er sich verändert hätte, keinenThürklopfer, sondern Marleys Gesicht sah. Ja, Marleys Gesicht. Es war nicht von so

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undurchdringlichem Dunkel umgeben,wie die andern Gegenstände im Hofe,sondern von einem unheimlichen Lichte,wie eine verdorbene Hummer in einemdunklen Keller. Er blickte ihm nicht wildoder zürnend entgegen, sondern sahScrooge an, wie ihn Marley gewöhnlichansah: mit der gespenstischen Brille aufdie gespenstische Stirn hinauf geschoben.Das Haar stand seltsam in die Höhe, wievon Wind oder heißer Luft gehoben; undobgleich die Augen weit offen standen,waren sie doch ohne alle Bewegung. Dasund die leichenhafte Farbe machten dasGesicht schrecklich; aber seineSchrecklichkeit schien mehr, außerhalbdes Gesichts und nicht in seiner Macht, alsein Teil seines Ausdrucks zu sein. Als Scrooge fest auf die Erscheinungblickte, war es wieder ein Thürklopfer.

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Zu sagen, er wäre nicht erschrocken,oder sein Blut hätte nicht ein grausendesGefühl empfunden, das ihm seit seinerKindheit unbekannt geblieben war, wäreeine Unwahrheit. Aber er faßte sichgewaltsam, legte die Hand wieder auf denSchlüssel, drehte ihn um, trat in das Haus,und zündete sein Licht an. Aber doch zögerte er einen Augenblick,ehe er die Thür schloß, und er guckte erstvorsichtig dahinter, als fürchte er wirklich,mit dem Anblick von Marleys Zopferschreckt zu werden. Aber hinter derThür war nichts, als die Schrauben, welcheden Klopfer fest hielten; und so sagte er:»Bah, bah!« und warf sie zu. Der Schall klang durch das Haus wie einDonner. Jedes Zimmer oben, und jedesFaß in des Weinhändlers Keller untenschien mit seinem besondern Echo zu

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antworten. Scrooge war nicht der Mann,der sich durch Echos erschrecken ließ. Erschloß die Thür zu, ging über die Hausflurund die Treppe hinauf, und zwar langsam,und das Licht heller machend, während erhinaufging. Die Treppe war breit genug, um eineBahre der Quere hinaufzubringen, und dasist vielleicht die Ursache, warum Scroogeglaubte, er sähe vor sich eine Bahre sichhinaufbewegen. Ein halbes DutzendGaslampen von der Straße aus würdenden Eingang nicht zu hell gemacht haben,und so kann man sich denken, daß es beiScrooges kleinem Lichte ziemlich dunkelblieb. Scrooge aber ging hinauf und kümmertesich keinen Pfifferling darum. Dunkelheitist billig, und das hatte Scrooge gern. Aberehe er seine schwere Thür zumachte, ging

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er durch die Zimmer, um zu sehen, oballes in Ordnung sei. Er erinnerte sich desGesichtes noch gerade genug um das zuwünschen. Wohnzimmer, Schlafzimmer,Gerätkammer, alles war, wie es sein sollte.Niemand unter dem Tische, niemand unterdem Sofa; ein kleines Feuer auf dem Rost,Löffel und Teller bereit und das kleineTöpfchen Suppe (Scrooge hatte denSchnupfen) an dem Feuer. Niemand unterdem Bett, niemand in dem Alkoven,niemand in seinem Schlafrock, der aufeine ganz verdächtige Weise an der Wandhing. Die Gerätkammer wie gewöhnlich.Ein alter Kaminschirm, alte Schuhe, zweiFischkörbe, ein dreibeiniger Waschtischund ein Schüreisen. Vollkommen zufriedengestellt machte erdie Thür zu und schloß sich ein und

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riegelte noch zu, was sonst seineGewohnheit nicht war. So gegenUeberraschung sichergestellt, legte erseine Halsbinde ab, zog seinen Schlafrockund die Pantoffeln an, setzte dieNachtmütze auf und setzte sich so vor dasFeuer, um seine Suppe zu essen. Es war wirklich ein sehr kleines Feuer, sogut wie gar keins in einer so kalten Nacht.Er mußte sich dicht daran setzen und sichdarüber hinbeugen, um das geringsteWärmegefühl von einer solchen HandvollKohlen zu genießen. Der Kamin war vorlangen Jahren von einem holländischenKaufmann gebaut worden und ringsum mitseltsamen holländischen Fliesen mitbiblischen Bildern belegt. Da sah manKain und Abel, Pharaos Töchter,Königinnen von Saba, Engel durch die Luftauf Wolken gleich Federbettenherabschwebend, Abraham, Belsazar,

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Apostel in See gehend auf Butterschiffen,Hunderte von Figuren, seine Gedanken zubeschäftigen; und doch kam das GesichtMarleys wie der Stab des alten Propheten,und verschlang alles andere. Wenn jedesglänzende Flies weiß gewesen wäre unddie Macht gehabt hätte, aus denvereinzelten Fragmenten seiner Gedankenein Bild auf seine Fläche zu zaubern, aufjedem wäre ein Abbild von des altenMarleys Gesicht erschienen. »Dummes Zeug!« sagte Scrooge undschritt durch das Zimmer. Nachdem er einigemal auf und abgegangen war, setzte er sich wiedernieder. Wie er den Kopf in den Stuhlzurücklegte, fiel sein Auge wie vonungefähr auf eine Klingel, eine alte, nichtmehr gebrauchte Klingel, welche zu einemjetzt vergessenen Zweck mit einem

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Zimmer in dem obersten Stockwerk desHauses in Verbindung stand. Zu seinemgroßen Erstaunen und mit einemseltsamen unerklärlichen Schauer sah er,wie die Klingel anfing sich zu bewegen;erst bewegte sie sich so wenig, daß siekaum einen Ton von sich gab; aber baldschellte sie laut und mit ihr jede Klingeldes Hauses. Das mochte eine halbe Minute oder eineMinute gedauert haben, aber es schieneine Stunde zu sein. Die Klingeln hörtengleichzeitig auf, wie sie gleichzeitigangefangen hatten. Dann vernahm man einKlirren, tief unten, als ob jemand eineschwere Kette über die Fässer in desWeinhändlers Keller schleppe. Jetzterinnerte sich Scrooge gehört zu haben,daß Gespenster Ketten schleppen sollten. Die Kellerthür flog mit einem

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dumpfdröhnenden Schall auf und dannhörte er das Klirren viel lauter auf derHausflur unten; dann wie es die Treppeherauf kam; und dann wie es gerade aufseine Thür zukam. »'s ist dummes Zeug,« sagte Scrooge. »Ichglaube nicht dran.« Aber doch veränderte er die Farbe, alses, ohne zu verweilen, durch die schwereThür und in das Zimmer kam. Als es hereintrat, flammte das sterbende Feuer auf, alsob es riefe, ich kenne ihn, Marleys Geist!und sank wieder zusammen. Dasselbe Gesicht, ganz dasselbe. Marleymit seinem Zopf, seiner gewöhnlichenWeste, den engen Hosen und hohenStiefeln; die Quasten der letztern standenzu Berge, wie sein Zopf und seineRockschöße und das Haar auf seinem

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Kopfe. Die Kette, welche er hinter sich herschleppte, war um seinen Leibgeschlungen. Sie war lang und ringeltesich wie ein Schwanz; und war, dennScrooge betrachtete sie sehr genau, ausGeldkassen, Schlüsseln, Schlössern,Hauptbüchern, Kontrakten und schwerenBörsen aus Stahl zusammengesetzt. SeinLeib war durchsichtig, so daß Scroogedurch die Weste hindurch die zwei Knöpfehinten auf seinem Rock sehen konnte. Scrooge hatte oft sagen gehört, Marleyhabe kein Herz im Leibe, aber er glaubtees erst jetzt. Nein, er glaubte es selbst jetzt noch nicht.Obgleich er das Gespenst durch unddurch und vor sich stehen sah; obgleich erden kältenden Schauer seiner totenstarrenAugen fühlte und selbst den Stoff desTuches erkannte, welches um seinen Kopf

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und sein Kinn gebunden war und das erfrüher nicht bemerkt hatte, war er dochnoch ungläubig und sträubte sich gegendas Zeugnis seiner Sinne. »Nun,« sagte Scrooge, kaustisch und kaltwie gewöhnlich, »was wollt Ihr?« »Viel!« Das war Marleys Stimme. »Wer seid Ihr?« »Fragt mich, wer ich _war_.« »Nun, wer waret Ihr?« sagte Scroogelauter. »Als ich lebte, war ich Euer Compagnon,Jakob Marley.« »Könnt Ihr Euch setzen?« fragte Scrooge,ihn zweifelnd ansehend.

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»Ich kann es.« »So thut's.« Scrooge that die Fragen, weil er nichtwußte, ob ein so durchsichtiger Geist sichwerde setzen können, und fühlte dieNotwendigkeit einer unangenehmenErklärung, wenn es ihm nicht möglichwäre. Aber der Geist setzte sich auf derandern Seite des Kamins nieder, als wenner es gewohnt wäre. »Ihr glaubt nicht an mich?« sagte derGeist. »Nein,« sagte Scrooge. »Welches Zeugnis wollt Ihr, außer demEurer Sinne, von meiner Wirklichkeithaben?«

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»Ich weiß nicht,« sagte Scrooge. »Warum glaubt Ihr Euren Sinnen nicht?« »Weil sie eine Kleinigkeit stört,« sagteScrooge. »Eine kleine Unpäßlichkeit desMagens macht sie zu Lügnern. Ihr könntein unverdautes Stück Rindfleisch, einKäserindchen, ein Stückchen schlechterKartoffel sein. Wer Ihr auch sein mögt, Ihrhabt mehr vom Unterleib, als von derUnterwelt an Euch.« Es war nicht eben Scrooges Gewohnheit,Witze zu machen, auch fühlte er eben jetztkeine besondere Lust dazu. Die Wahrheitist, daß er sich bestrebte lustig zu sein, umsich zu zerstreuen und sein Entsetzenniederzuhalten; denn die Stimme desGeistes machte selbst das Mark seinerKnochen erzittern.

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Nur einen Augenblick schweigend diesenstarren, toten Augen gegenüber zu sitzen,wäre halber Tod gewesen, das fühlteScrooge wohl. Auch war es sograuenerregend, daß das Gespenst seineeigene höllische Atmosphäre hatte.Scrooge fühlte sie nicht selbst, aber dochmußte es so sein; denn obgleich dasGespenst ganz regungslos dasaß,bewegten sich seine Haare, seineRockschöße und seine Stiefelquasten wievon dem heißen Dunst eines Ofens. »Ihr seht diesen Zahnstocher,« sagteScrooge, aus dem eben angeführtenGrunde seinen Angriff sogleich wiederbeginnend und von dem Wunsche beseelt,wenn auch nur für einen Augenblick denstarren, eisigen Blick des Gespenstes vonsich abzuwenden.

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»Ja,« antwortete der Geist. »Ihr seht ihn ja nicht an,« sagte Scrooge. »Aber ich sehe ihn doch,« sagte dasGespenst. »Gut,« erwiderte Scrooge. »Ich braucheihn nur hinunterzuschlucken und meinganzes übriges Leben hindurch verfolgenmich eine Legion Kobolde, die ich selbsterschaffen habe. Dummes Zeug, sag' ich,dummes Zeug!« Bei diesen Worten stieß das Gespensteinen schrecklichen Schrei aus und ließseine Kette so grauenerregend undfürchterlich klirren, daß Scrooge sich festan seinen Stuhl halten mußte, um nicht inOhnmacht herunterzufallen. Aber wiewuchs sein Entsetzen, als das Gespenstdas Tuch von dem Kopf nahm, als wäre es

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ihm zu warm im Zimmer, und dieUnterkinnlade auf die Brust herabsank. Scrooge fiel auf die Kniee nieder undschlug die Hände vors Gesicht. »Gnade!« rief er. »SchrecklicheErscheinung, warum verfolgst du mich?« »Mensch mit der irdisch gesinntenSeele,« entgegnete der Geist, »glaubst duan mich, oder nicht?« »Ich glaube,« sagte Scrooge, »ich mußglauben. Aber warum wandeln Geister aufErden und warum kommen sie zu mir?« »Von jedem Menschen wird es verlangt,«antwortete der Geist, »daß seine Seeleunter seinen Mitmenschen wandle, in derFerne und in der Nähe; und wenn dieserGeist nicht während des Lebens

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hinausgeht, so ist er verdammt, es nachdem Tode zu thun. Er ist verdammt, durchdie Welt zu wandern -- ach, wehe mir --und zu sehen, was er nicht teilen kann, waser aber auf Erden hätte teilen und zuseinem Glück anwenden können.« Und wieder stieß das Gespenst einenSchrei aus und schüttelte seine Ketten undrang die schattenhaften Hände. »Du bist gefesselt,« sagte Scroogezitternd. »Sage mir, warum?« »Ich trage die Kette, die ich währendmeines Lebens geschmiedet habe,« sagteder Geist. »Ich schmiedete sie Glied nachGlied und Elle nach Elle; mit meinemeigenen freien Willen lud ich sie mir aufund mit meinem eigenen freien Willentrug ich sie. Ihre Glieder kommen dirseltsam vor.«

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Scrooge zitterte mehr und mehr. »Oder willst du wissen,« fuhr der Geistfort, »wie schwer und wie lang die Ketteist, die du selbst trägst? Sie war gerade solang und so schwer, wie diese hier, vorsieben Weihnachten. Seitdem hast dudaran gearbeitet. Es ist eine schwereKette.« Scrooge sah auf den Boden herab, in derErwartung, von fünfzig oder sechzigKlaftern Eisenketten sich umschlungen zusehen; aber er sah nichts. »Jakob,« sagte er flehend. »Jakob Marley,sage mir mehr. Sprich mir Trost ein,Jakob.« »Ich habe keinen Trost zu geben,«antwortete der Geist. »Er kommt von

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anderen Regionen, Ebenezer Scrooge,und wird von andern Boten zu andernMenschen gebracht. Auch kann ich dirnicht sagen, was ich dir sagen möchte. Einklein wenig mehr ist alles, was mir erlaubtist. Nirgendwo kann ich rasten oder ruhen.Mein Geist ging nie über unser Comptoirhinaus -- merke wohl auf -- im Leben bliebmein Geist immer in den engen Grenzenunsrer schachernden Höhle; und weiteReisen liegen noch vor mir.« Scrooge hatte die Gewohnheit, wenn ernachdenklich wurde, die Hand in dieHosentasche zu stecken. Ueber das, wasder Geist sagte, nachsinnend, that er esauch jetzt, aber ohne die Augen zuerheben, oder vom Stuhl aufzustehen. »Du mußt dir aber viel Zeit genommenhaben, Jakob,« bemerkte er mit dem Toneeines Geschäftsmannes, obgleich mit

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vieler Demut und Ehrerbietung. »Viel Zeit!« sagte der Geist. »Sieben Jahre tot,« sagte sinnendScrooge. »Und die ganze Zeit übergereist.« »Die ganze Zeit,« sagte der Geist. »OhneFrieden, ohne Ruhe und mit den Qualenewiger Reue.« »Du reisest schnell,« sagte Scrooge. »Auf den Schwingen des Windes,« sagteder Geist. »Du hättest eine große Strecke in siebenJahren bereisen können,« sagte Scrooge. Als der Geist dies hörte, stieß er wiedereinen Schrei aus und klirrte so gräßlich mit

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seiner Kette durch das Grabesschweigender Nacht, daß ihn die Polizei mit vollemRechte wegen Ruhestörung hätte bestrafenkönnen. »O, gefangen und gefesselt,« rief dasGespenst, »nicht zu wissen, daß Zeitaltervon unaufhörlicher Arbeit sterblicherGeschöpfe vergehen, ehe das Gute,dessen die Erde fähig ist, sich entwickelnkann; nicht zu wissen, daß ein christlicherGeist, und wenn er auch in einem noch sokleinen Kreise von Liebe wirkt, in diesemErdenleben sich selbst belohnende Arbeitgenug finden kann! Aber ich wußte esnicht, ach, ich wußte es nicht!« »Aber du warst immer ein guterGeschäftsmann, Jakob,« stotterte Scroogezitternd, der jetzt anfing, das Schicksal desGeistes auf sich selbst anzuwenden.

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»Geschäft!« rief das Gespenst, seineHände abermals ringend. »Der Menschwar mein Geschäft. Das allgemeineWohlsein war mein Geschäft;Barmherzigkeit, Versöhnlichkeit undLiebe, alles das war mein Geschäft. Alles,was ich in meinem Gewerbe that, war nurein kleiner Tropfen Wasser in dem weitenOcean meines Geschäftes.« Er hielt seine Kette vor sich hin, als obdies die Ursache seines nutzlosenSchmerzes gewesen wäre, und warf siewieder dröhnend nieder. »Zu dieser Zeit des schwindendenJahres,« sagte das Gespenst, »leide ich ammeisten. Warum ging ich mit zur Erdeblickenden Augen durch das Gedrängemeiner Mitmenschen und wendete meinenBlick nie zu dem gesegneten Stern empor,der die Weisen zur Wohnung der Armut

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führte? Gab es keine arme Hütte, wohinmich sein Licht hätte leiten können?« Scrooge hörte mit Entsetzen dasGespenst so reden und fing an gar sehr zuzittern. »Höre mich,« rief der Geist. »Meine Zeitist fast vorüber.« »Ich will hören,« sagte Scrooge. »Abermache es gnädig mit mir! Werde nichthitzig, Jakob, ich bitte dich.« »Wie es kommt, daß ich vor dich in einerdir sichtbaren Gestalt treten kann, weißich nicht. Viele, viele Tage habe ichunsichtbar neben dir gesessen.« Das war kein angenehmer Gedanke.Scrooge schauderte und wischte sich denSchweiß von der Stirn.

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»Es ist kein leichter Teil meiner Buße,«fuhr der Geist fort. »Heute Nacht kommeich zu dir, um dich zu warnen, daß noch fürdich eine Möglichkeit vorhanden ist,meinem Schicksal zu entgehen. EineMöglichkeit und eine Hoffnung, die du mirzu verdanken hast.« »Du bist immer mein guter Freundgewesen,« sagte Scrooge. »Ich danke dir.« »Drei Geister,« fuhr das Gespenst fort,»werden zu dir kommen.« Bei diesenWorten wurde Scrooges Angesicht nochtrauriger als das des Gespenstes. »Ist das die Möglichkeit und dieHoffnung, die du genannt hast, Jakob?«fragte er mit bebender Stimme. »Ja.«

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»Ich -- ich sollte meinen, das wäre ebenkeine Hoffnung,« sagte Scrooge. »Ohne ihr Kommen,« sagte der Geist,»kannst du nicht hoffen, den Pfad zuvermeiden, den ich verfolgen muß.Erwarte den ersten morgen früh, wenn dieGlocke Eins schlägt.« »Könnte ich sie nicht alle auf einenSchluck nehmen?« meinte Scrooge. »Erwarte den zweiten in der nächstenNacht um dieselbe Stunde. Den dritten inder nächsten Nacht, wenn der letzteSchlag Zwölf ausgeklungen hat. Schaumich an, denn du siehst mich nicht mehr;und schau mich an, daß du dich, umdeinetwillen an das erinnerst, waszwischen uns geschehen ist.«

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Als es diese Worte gesprochen hatte,nahm das Gespenst das Tuch von demTische und band es sich wieder um denKopf. Scrooge erfuhr das durch dasKnirschen der Zähne, als die Kinnladenzusammen klappten. Er wagte es, dieAugen zu erheben und erblickte seinenübernatürlichen Besuch vor sich stehen,die Augen noch starr auf ihn geheftet, unddie Kette um den Leib und den Armgewunden. Die Erscheinung entfernte sichrückwärtsgehend; und bei jedem Schrittöffnete sich das Fenster ein wenig, so daß,als das Gespenst es erreichte, es weitoffen stand. Es winkte Scrooge näher zukommen, was er that. Als sie noch zweiSchritte voneinander entfernt waren, hobMarleys Geist die Hand in die Höhe, ihmgebietend, nicht näher zu kommen.Scrooge stand still.

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Weniger aus Gehorsam, als ausUeberraschung und Furcht: denn wie sichdie gespenstische Hand erhob, hörte erverwirrte Klänge durch die Luft schwirrenund unzusammenhängende Töne desKlagens und des Leides, unsagbar,schmerzensvoll und reuig. Das Gespensthorchte ihnen eine Weile zu und stimmtedann in das Klagelied ein; dann schwebtees in die dunkle Nacht hinaus. Scrooge trat an das Fenster, von derNeugier bis zur Verzweiflung getrieben.Er sah hinaus. Die Luft war mit Schatten angefüllt,welche in ruheloser Hast und klagend hinund her schwebten. Jeder trug eine Kette,wie Marleys Geist; einige wenige warenzusammengeschmiedet (wahrscheinlichschuldige Ministerien), keines war ganz

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fessellos. Viele waren Scrooge währendihres Lebens bekannt gewesen. Ganzgenau hatte er einen alten Geist in einerweißen Weste gekannt, welcher einenungeheuren eisernen Geldkasten hintersich herschleppte und jämmerlich schrie,einem armen, alten Weibe mit einemKinde nicht beistehen zu können, welchesunten auf einer Thürschwelle saß. Man sahes klar, ihre Pein war, sich umsonstbestreben zu müssen, den MenschenGutes zu thun und die Macht dazu aufimmer verloren zu haben. Ob diese Wesen in dem Nebelzergingen, oder ob sie der Nebeleinhüllte, wußte er nicht zu sagen. Abersie und ihre Gespensterstimmenvergingen zu gleicher Zeit und die Nachtwurde wieder so, wie sie bei seinemNachhausegehen gewesen war.

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Scrooge schloß das Fenster unduntersuchte die Thür, durch welche dasGespenst hereingekommen war. Sie warnoch verschlossen und verriegelt, wievorher. Er versuchte zu sagen: dummesZeug, aber blieb bei der ersten Silbestecken, und da er von der innernBewegung, oder von den Anstrengungendes Tages, oder von seinem Einblick indie unsichtbare Welt, oder derUnterhaltung mit dem Gespenst, oder derspäten Stunde sehr erschöpft worden war,ging er sogleich zu Bett, ohne sichauszuziehen, und sank bald in Schlaf.

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Zweites Kapitel. Der erste der drei Geister. Als Scrooge wieder aufwachte, war es sofinster, daß er kaum das durchsichtigeFenster von den Wänden seines Zimmersunterscheiden konnte. Er bemühte sich,die Finsternis mit seinen Katzenaugen zudurchdringen, als die Glocke einesTurmes in der Nachbarschaft viertelte. Erlauschte, um die Stunde schlagen zuhören. Zu seinem großen Erstaunen schlugdie Glocke fort, von sechs zu sieben, undvon sieben zu acht und so weiter bis zwölf;dann schwieg sie. Zwölf! Es war Zwei vorüber gewesen, alser sich zu Bett gelegt hatte. Das Uhrwerkmußte falsch gehen. Ein Eiszapfen mußtezwischen die Räder gekommen sein.

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Zwölf! Er drückte an die Feder seinerRepetieruhr, um der verrückten Glockenachzuhelfen. Ihr kleiner, lebendiger Pulsschlug Zwölf, und schwieg. »Was! es ist doch nicht möglich,« sagteScrooge, »ich sollte den ganzen Tag undtief in die andere Nacht geschlafen haben?Es ist doch nicht möglich, daß der Sonneetwas passiert und daß es mittags umZwölf ist.« Mit diesem unruhigen Gedankenbeschäftigt, stieg er aus dem Bett undtappte bis an das Fenster. Er mußte das Eiserst wegkratzen und das Fenster mit demAermel seines Schlafrockes abwischen,ehe er etwas sehen konnte; und auchhernach konnte er nur sehr wenig sehen.Alles, was er gewahren konnte, war, daß

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es noch sehr nebelig und sehr kalt war,und daß man nicht den Lärm hin und hereilender Leute hörte, der doch gewißstattgefunden hätte, wenn Nacht denhellen Tag vertrieben und selbst Besitzvon der Welt genommen hätte. Das warein großer Trost, weil »drei Tage nachSicht bezahlen Sie diesen Primawechsel anMr. Ebenezer Scrooge oder dessen Orderu. s. w.« eine bloße VereinigteStaaten-Sicherheit gewesen wäre, wenn eskeine Tage mehr gab, um danach zuzählen. Scrooge legte sich wieder ins Bett unddachte darüber hin und her, konnte aberzu keinem Schlusse kommen. Je mehr ernachdachte, desto verwirrter wurde er;und je mehr er sich bestrebte, nichtnachzudenken, desto mehr dachte er nach.Marleys Geist machte ihm viel zu schaffen.Allemal wenn er nach reiflicher

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Ueberlegung zu dem festen Entschlußgekommen war, das Ganze nur für einenTraum zu halten, flog sein Geist wie einestarke vom Druck befreite Feder wieder indie alte Lage zurück und legte ihmdieselbe Frage wieder vor, die er schonzehnmal überlegt hatte: War es ein Traumoder nicht? Scrooge blieb in diesem Zustande liegen,bis es wieder drei Viertel schlug. Dabesann er sich plötzlich, daß der Geist ihmeine Erscheinung mit dem Schlage Einsversprochen hatte. So beschloß er wach zubleiben, bis die Stunde vorüber sei; undwenn man bedenkt, daß er eben so wenigschlafen, als in den Himmel kommenkonnte, war dies gewiß der klügsteEntschluß, den er fassen konnte. Die Viertelstunde war so lang, daß es ihmmehr als einmal vorkam, er müßte

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unversehens in Schlaf gefallen sein unddie Uhr überhört haben. Endlich vernahmsein lauschendes Ohr die Glocke. »Bim, baum!« »Ein Viertel,« sagte Scrooge zählend. »Bim, baum!« »Halb,« sagte Scrooge. »Bim, baum!« »Drei Viertel,« sagte Scrooge. »Bim, baum!« »Voll!« rief Scrooge freudig, »und weiternichts!« Er sprach das, ehe die Stundenglocke

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schlug, was sie jetzt mit einem tiefen,hohlen, melancholischen Eins that. Indemselben Augenblicke wurde es hell indem Zimmer und die Vorhänge seinesBettes wurden geöffnet. Ich sag' es euch, die Vorhänge seinesBettes wurden von einer Handweggezogen; nicht die Vorhänge ihm zuFüßen, nicht die Vorhänge hinter seinemRücken, sondern die Vorhänge, gegen diesich sein Gesicht kehrte, die Vorhängewurden weggezogen; und Scrooge, sichaufrichtend, blickte dem unirdischen Gastin das Gesicht, der sie geöffnet hatte; sodicht stand er ihm gegenüber, wie ich jetztim Geiste neben euch stehe. Es war eine wunderbare Gestalt, gleicheinem Kinde; aber doch eigentlich nichtgleich einem Kinde, sondern mehr wie einGreis, der durch einen wunderbaren

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Zauber erschien, als sei er dem Augeentrückt und auf diese Weise so kleingeworden wie ein Kind. Sein Haar,welches in langen Locken auf seineSchultern herabwallte, war weiß, wie vomAlter; aber doch hatte das Gesicht keineeinzige Runzel und um das Kinn bemerkteman den zartesten Flaum. Die Arme warenlang und muskulös; die Hände ebenso, alsliege eine ungeheure Kraft in ihnen. SeineFüße, zart und fein geformt, waren, wie dieArme, entblößt. Der Geist trug eine Tunikavom reinsten Weiß; und um seinen Leibschlang sich ein Gürtel von wunderbaremSchimmer. Er hielt einen frisch-grünenStecheichenzweig in der Hand; aber inseltsamem Widerspruch mit diesemZeichen des Winters war das Kleid mitSommerblumen verziert. DasWunderbarste aber war, daß aus derKrone auf seinem Haupte ein hellerLichtstrahl in die Höhe schoß, welcher

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alles rings erleuchtete, und welcher gewißdie Ursache war, daß der Geist beiweniger guter Laune einen großenLichtauslöscher, den er jetzt unter demArme trug, als Mütze aufsetzte. Aber selbst dies war nicht seineseltsamste Eigenschaft. Denn wie derGürtel des Geistes jetzt an dieser Stelleglänzte und funkelte und jetzt an jener,und wie das, was im Augenblick hellgewesen war, jetzt dunkel wurde, soverwandelte sich auch die Gestalt selbst,man wußte nicht wie: jetzt war es ein Dingmit einem Arm, jetzt mit einem Bein, jetztmit zwanzig Beinen, jetzt bloß zwei Füßeohne Kopf, jetzt ein Kopf ohne Leib; undwie einer dieser Teile verschwand, bliebkeine Spur von ihm in dem dichten Dunkelzurück, welches ihn aufnahm. Und dasgrößte Wunder dabei war: die Gestaltblieb immer dieselbe.

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»Sind Sie der Geist, dessen Erscheinungmir vorhergesagt wurde?« fragte Scrooge. »Ich bin es.« Die Stimme war sanft und wohlklingendund so leise, als käme sie nicht ausdichtester Nähe, sondern aus einigerEntfernung. »Wer und was seid Ihr?« fragte Scrooge,schon etwas mehr Vertrauen fassend. »Ich bin der Geist der vergangenenWeihnachten.« »Der lange vergangenen?« fragteScrooge, seiner zwerghaften Gestaltdenkend. »Nein, deiner vergangenen.«

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Vielleicht hätte Scrooge niemand sagenkönnen, warum, wenn ihn jemand gefragthätte, aber doch fühlte er ein ganzbesonderes Verlangen, den Geist inseiner Mütze zu sehen; und er bat ihn, sichzu bedecken. »Was?« rief der Geist, »willst du sobaldmit irdisch gesinnter Hand das Licht,welches ich spende, verlöschen? Ist esnicht genug, daß du einer von denen bist,deren Leidenschaften diese Mützegeschaffen haben und mich zwingen,durch lange, lange Jahre meine Stirn damitzu verhüllen?« Scrooge entschuldigte sichehrfurchtsvoll, er habe nicht den Willengehabt, ihn zu beleidigen, undbehauptete, nicht zu wissen, daß er irgendje in seinem Leben dem Geiste Ursache

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gegeben habe, sich zu bedecken. Dannwar er so frei, zu fragen, was ihn hierherführe. »Dein Wohl,« sagte der Geist. Scrooge drückte seine Dankbarkeit aus,aber konnte sich doch des Gedankensnicht erwehren, daß eine Nachtungestörten Schlafes ihm mehr genützthaben würde. Der Geist mußte ihn habendenken hören, denn er sagte sogleich:»Deine Besserung also. Nimm dich inacht!« Er streckte seine starke Hand aus, als erdies sprach und ergriff sanft seinen Arm. »Steh' auf und folge mir.« Vergebens würde Scrooge eingewendethaben, Wetter und Stunde sei schlecht

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geeignet zum Spazierengehen; das Bett seiwarm und der Thermometer ein gutesStück unter dem Gefrierpunkte; er sei nurleicht in Pantoffeln, Schlafrock undNachtmütze gekleidet und habe geradejetzt den Schnupfen. Dem Griff, war erauch so sanft, wie der einer Frauenhand,war nicht zu widerstehen. Er stand auf,aber wie er sah, daß der Geist nach demFenster schwebte, faßte er ihn flehend beidem Gewande. »Ich bin ein Sterblicher,« sagte Scrooge,»und kann fallen.« »Dulde nur eine Berührung meiner Handdort,« sagte der Geist, indem er ihm dieHand auf das Herz legte, »und du wirstgrößere Gefahren überwinden, als diesehier.« Als diese Worte gesprochen waren,

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schwanden die beiden durch die Wändeund standen plötzlich im Freien auf derLandstraße, rings von Feldern umgeben.Die Stadt war ganz verschwunden. KeineSpur war mehr davon übrig. Die Finsternisund der Nebel waren mit ihrverschwunden, denn es war jetzt einklarer, kalter Wintertag und der Bodenwar mit weißem, reinem Schnee bedeckt. »Gütiger Himmel!« rief Scrooge, dieHände faltend, als er um sich blickte. »Hierwurde ich geboren. Hier lebte ich noch alsKnabe.« Der Geist schaute ihn mit mildem Blickean. Seine sanfte Berührung, obgleich sienur leise und augenblicklich gewesen war,klang immer noch in dem Herzen des altenMannes nach. Er fühlte wie tausend Düftedurch die Luft schwebten, jeder mittausend Gedanken und Hoffnungen und

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Freuden und Sorgen verbunden, dielange, lange vergessen waren. »Deine Lippe zittert,« sagte der Geist.»Und was glänzt auf deiner Wange?« Scrooge murmelte mit einemungewöhnlichen Stocken in der Stimme, essei ein Wärzchen, und bat den Geist, ihnzu führen, wohin er wolle. »Erinnerst du dich des Weges?« frug derGeist. »Ob ich mich seiner erinnere?« riefScrooge mit Innigkeit; »ich könnte ihnblindlings gehen.« »Seltsam, daß du ihn so viele Jahre langvergessen hast,« sagte der Geist. »Komm!« Sie schritten den Weg entlang. Scrooge

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erkannte jedes Thor, jeden Pfahl, jedenBaum wieder, bis ein kleiner Marktfleckenin der Ferne mit seiner Kirche, seinerBrücke und dem hellen Fluß erschien. Jetztkamen einige Knaben, auf zottigen Ponysreitend, auf sie zu, welche anderenKnaben in ländlichen Wagen laut zuriefen.Alle diese Knaben waren gar fröhlich undlaut, bis die weiten Felder so voll heitererMusik waren, daß die kalte, sonnige Luftlachte, sie zu hören. »Dies sind bloß Schatten der Dinge, diegewesen sind,« sagte der Geist, »siewissen nichts von uns.« Die fröhlichen Reisenden kamen näherund jetzt erkannte Scrooge sie alle undkonnte sie alle bei Namen nennen. Warumfreute er sich über alle Maßen, sie zusehen, warum wurde sein kaltes Augefeucht, warum frohlockte sein Herz, als sie

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vorübereilten, warum wurde sein Herzweich, wie sie an den Kreuzwegenvoneinander schieden und sich fröhlicheWeihnachten wünschten? Was gingen Scrooge fröhlicheWeihnachten an? Der Henker holefröhliche Weihnachten! Welchen Nutzenhatte er jemals davon gehabt? »Die Schule ist nicht ganz verlassen,«sagte der Geist »Ein Kind, eine verlasseneWaise sitzt noch einsam dort.« Scrooge sagte, er wisse es. Und erschluchzte. Sie verließen jetzt die Heerstraße aufeinem wohlbekannten Feldwege underreichten bald ein Haus von dunkelrotenZiegeln, mit einem kleinen Türmchen aufdem Dache und darin eine Glocke. Es war

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ein großes Haus, aber jetzt vernachlässigtund verfallen, denn die geräumigenGemächer waren wenig gebraucht, dieWände feucht und grün, die Fensterzerbrochen, die Thüren morsch undzerfallen. Hühner gluckten und scharrtenin den Ställen; und der Wagenschuppenwar mit Gras überwachsen. Auch imInnern war nichts von seiner alten Prachtübrig geblieben, denn als sie in dieverödete Hausflur eintraten und durch dieoffenen Thüren in die vielen Zimmerblickten, sahen sie nur ärmlichausgestattete, kalte, große Räume. Einerdiger, dumpfiger Geruch erfüllte dieLuft, eine frostige Unbehaglichkeit schienum den Ort zu schweben, die auf irgendeine Art an zu oft früh bei Licht aufstehen,und nicht zu viel zu essen zu bekommenerinnerte. Der Geist und Scrooge gingen über die

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Hausflur nach einer Thür auf der Rückseitedes Hauses. Sie öffnete sich vor ihnen undzeigte ihnen einen langen, kahlen,unbehaglichen Saal, noch kahler undunbehaglicher gemacht durch die Reihenvon einfachen hölzernen Bänken. Auf einer derselben saß einsam einKnabe neben einem schwachen Feuer undlas; und Scrooge setzte sich auf eine Banknieder und weinte, sein eigenes,vergessenes Selbst, wie es in früherenJahren war, zu sehen. Kein dumpfer Widerhall in dem Hause,kein Rascheln der Mäuse hinter demGetäfel, kein Getröpfel deshalbgefrorenen Röhrtrogs in dem Hofehinten, kein Seufzer in den blattlosenZweigen einer verlassen trauerndenPappel, nicht das Klappen der vom Windehin und her geschwungenen Thür des

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Vorratshauses im Hofe, selbst nicht dasKnistern des Feuers war für Scroogeverloren. Alles fiel auf sein Herz miterweichenden Tönen und löste seineThränen. Der Geist berührte seinen Arm und wiesauf sein jüngeres, in ein Buch vertieftesSelbst. Plötzlich stand ein Mann infremdartiger Tracht mit einer Axt imGürtel und einen mit Holz beladenen Eselam Zaume führend, draußen vor demFenster, wundersam wirklich und deutlichzu sehen. »Was! das ist ja Ali Baba!« rief Scroogevoller Freude aus. »Es ist der alte, liebe,ehrliche Ali Baba. Ja, ja, ich weiß noch.Einst zur Weihnachtszeit, als jenerverlassene Knabe hier ganz allein saß,kam er zum erstenmal, gerade wie er dortsteht. Der arme Junge! Und Valentin,« fuhr

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Scrooge fort, »und sein wilder BruderOrson, dort gehen sie! Und wie heißt der,der mitten im Schlafe vor das Thor vonDamaskus gesetzt wurde? siehst du ihnnicht! Und der Stallmeister des Sultans, dervon den Genien auf den Kopf gestelltwurde, dort ist er! Ha, ha, es geschieht ihmschon recht! Wer heißt ihn die Prinzessinheiraten wollen!« Scrooge mit vollem Ernste und mit einerStimme zwischen Lachen und Weinen übersolche Gegenstände reden zu hören undsein vor Freude aufgeregtes Gesicht zusehen, wäre für seine Geschäftsfreunde inder City gewiß eine große Ueberraschunggewesen. »Da ist auch der Papagei,« rief Scrooge,»mit grünem Leib und gelbem Schwanz, daist er! Der arme Robinson, er rief ihn, alser wieder von seiner Umsegelung der

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Insel nach Haus kam. Robinson Crusoe, wobist du gewesen? Er glaubte, er träume,aber es war der Papagei. Ha, dort läuftFreitag in der kleinen Bucht. Es gilt dasLeben. Hallo, ho, hallo!« Dann sagte er mit einem schnellenWechsel der Gefühle, der seinemgewöhnlichen Charakter sehr fremd war:»Der arme Knabe!« und er weinte wieder. »Ich wollte,« murmelte Scrooge, die Handin die Tasche steckend und um sichblickend, nachdem er sich mit demRockaufschlag die Augen gewischt hatte,»aber es ist zu spät jetzt.« »Was willst du?« frug der Geist. »Nichts,« sagte Scrooge, »nichts. GesternAbend sang vor meiner Thür ein Knabeein Weihnachtslied. Ich wollte, ich hätte

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ihm etwas gegeben, weiter war es nichts.« Der Geist lächelte gedankenvoll undwinkte mit der Hand. Dann sagte er: »Laßuns ein anderes Weihnachten sehen.« Scrooges früheres Selbst wurde beidiesen Worten größer, und das Zimmeretwas finstrer und schwärzer; das Getäfelwarf sich, die Fensterscheiben sprangen;Stücke Kalkbewurf fielen von der Decke,und das bloße Lattenwerk zeigte sich;aber wie das alles geschah, wußteScrooge ebensowenig als ihr. Er wußtenur, alles sei ganz in der Ordnung, undhabe sich ganz so zugetragen, und er seies wieder, der dort allein sitze, währenddie andern Knaben nach Hause zurfröhlichen Weihnachtsfeier gereist waren. Er las nicht, sondern ging wie inVerzweiflung im Zimmer auf und ab.

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Scrooge blickte den Geist an, und schautemit einem traurigen Kopfschütteln und inbanger Erwartung nach der Thür. Sie ging auf, und ein kleines Mädchen,viel jünger als der Knabe, sprang herein,schlang die Arme um seinen Hals, küßteihn und begrüßte ihn als ihren »lieben,lieben Bruder.« »Ich komme, um dich mit nach Haus zunehmen, lieber Bruder!« sagte das Kind,fröhlich mit den Händen klatschend. »Dichmit nach Haus zu nehmen, nach Haus!« »Nach Haus, liebe Fanny?« frug derKnabe. »Ja!« antwortete die Kleine, inüberströmender Lust. »Nach Hause und fürimmer. Der Vater ist so viel freundlicherals sonst, daß es bei uns wie im Himmel

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ist. Er sprach eines Abends, als ich zu Bettging, so freundlich mit mir, daß ich mir einHerz faßte, und ihn frug, ob du nicht nachHause kommen dürftest; und er sagte ja,und schickt mich im Wagen her, um dichzu holen. Und du sollst jetzt dein freierHerr sein,« sagte das Kind, und blickte ihnbewundernd an, »und nicht mehr hierherzurückkehren; aber erst sollen wir allezusammen das Weihnachtsfest feiern undrecht lustig sein.« »Du bist ja eine ordentliche Damegeworden, Fanny!« rief der Knabe aus. Sie klatschte in die Hände und lachte, undversuchte, bis an seinen Kopf zu reichen;aber sie war zu klein, und lachte wieder,und stellte sich auf die Zehen, um ihn zuumarmen. Dann zog sie ihn in kindischerUngeduld nach der Thür, und er begleitetesie mit leichtem Herzen.

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Eine schreckliche Stimme in der Hausflurrief: »Bringt Master Scrooges Kofferherunter!« Es war der Schullehrer selbst,welcher Master Scrooge mit gestrengsterHerablassung anstierte, und ihn in großenSchrecken setzte, wie er ihm die Handdrückte. Dann führte er ihn und seineSchwester in ein feuchtes,fröstelnerregendes Putzzimmer, wo dieErd- und Himmelsgloben im Fenster vorKälte glänzten. Hier brachte er eineFlasche merkwürdig leichten Wein und einStück merkwürdig schweren Kuchenherbei, und regalierte die Kinderschonend sparsam mit diesenauserlesenen Leckerbissen. Auch schickteer eine hungrig aussehende Magd hinaus,um dem Postillon ein Gläschen anzubieten,wofür dieser aber mit den Worten dankte,wenn es von demselben Faß wie dasvorige sei, möchte er lieber nicht kosten.

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Während dieser Zeit war Master ScroogesKoffer auf den Wagen gebunden worden,und die Kinder nahmen ohne Bedauernvon dem Schulmeister Abschied, setztensich in den Wagen, und fuhren so schnellzum Garten hinaus, daß der Reif und derSchnee von den immergrünen Gebüschenwie Schaum stob. »Sie war immer ein zartes Wesen, das voneinem Hauch hätte verwelken können,«sagte der Geist. »Aber sie hatte einreiches Herz.« »Ja, das hatte sie,« rief Scrooge. »Ich willnicht widersprechen, Geist. Gott verhütees!« »Sie starb verheiratet,« sagte der Geist,»und hatte Kinder, glaube ich.« »Ein Kind,« antwortete Scrooge.

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»Ja,« sagte der Geist. »Dein Neffe.« Scrooge schien unruhig zu werden und erantwortete kurz »Ja.« Obgleich sie kaum einen Augenblick dieSchule hinter sich gelassen hatten,befanden sie sich doch jetzt mitten in denlebendigsten Straßen der Stadt, woschattenhafte Fußgänger vorübergingen,wo gespenstische Wagen und Kutschensich um Platz stritten und wo alles Gedrängund alles wirre Leben einer wirklichenStadt war. An dem Aufputz der Läden sahman, daß auch hier Weihnachten sei; aberes war Abend und die Straßenlaternenbrannten. Der Geist blieb vor einer Gewölbethürstehen und frug Scrooge, ob er sie kenne.

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»Ob ich sie kenne?« sagte Scrooge. »Hab'ich hier nicht gelernt?« Sie traten hinein. Beim Anblick einesalten Herrn in einer Stutzperücke, welcherhinter einem so hohen Pulte saß, daß ermit dem Kopf hätte an die Decke stoßenmüssen, wenn er zwei Zoll größergewesen wäre, rief Scrooge in großerAufregung: »Ha, das ist ja der alteFezziwig, Gott segne ihn, es ist Fezziwig,wie er leibt und lebt!« Der alte Fezziwig legte seine Feder hinund sah nach der Uhr, deren Zeiger aufSieben stand. Er rieb die Hände, zog seinegeräumige Weste herunter, lachte überund über, von den Schuhspitzen bis zudem Organ der Gutmütigkeit und rief miteiner behäbigen, voll und doch mildtönenden heitern Stimme: »Hallo, dort!Ebenezer! Dick!«

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Scrooges früheres Selbst, jetzt zu einemJüngling geworden, trat munter herein,begleitet von seinem Mitlehrling. »Dick Wilkins, wahrhaftig!« sagteScrooge zu dem Geist. »Wahrhaftig, er istes. Er hat mich sehr lieb, der Dick. Derarme Dick! Gott, Gott!« »Hallo, meine Burschen,« sagte Fezziwig.»Feierabend heute. Weihnachten, Dick!Weihnachten, Ebenezer! Macht die Ladenzu,« rief der alte Fezziwig, munter dieHände zusammenklatschend, »ehe einMann sagen kann Jack Robinson.« Man hätte nicht glauben sollen, wie frischdie beiden Jungen daran gingen. Sie liefenmit den Laden hinaus -- eins, zwei, drei --hatten sie eingesetzt -- vier, fünf, sechs --sie zugeriegelt und zugeschraubt --

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sieben, acht, neun -- und kamen zurück,ehe man zwölf sagen konnte, außer Atem,wie Rennpferde. »Hussaho!« rief der alte Fezziwig, mitwunderbarer Geschicklichkeit von seinemhohen Sessel herunterspringend. »Räumtauf, Jungens, und macht viel Platz!Hussaho, Dick! Hallo, Ebenezer!« Aufräumen! Sie würden alles weggeräumthaben und konnten alles wegräumen, woFezziwig zuschaute. Es war in einer Minutegeschehen. Alles, was nicht niet- undnagelfest war, wurde in die Winkelgeschoben, als wenn es für immer ausdem öffentlichen Dienste entlassenworden wäre; die Flur wurde gekehrt undgesprengt, die Lampen geputzt, Kohlen aufdas Feuer geschüttet; und der Laden warso behaglich und warm und hell, wie einBallzimmer, wie man es nur an einem

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Winterabende verlangen kann. Jetzt trat ein Fiedler mit einemNotenbuche herein und stieg Fezziwigshohen Stuhl hinauf, dort sein Orchesteraufzuschlagen und stimmte wie toll. Dannkam Mrs. Fezziwig, _ein_ behaglichesLächeln über und über. Dann kamen diedrei Miß Fezziwigs, freudestrahlend undliebenswürdig. Dann kamen die sechsJünglinge, deren Herzen sie brachen.Dann kamen die Burschen und Mädchen,die im Hause einen Dienst hatten: dasHausmädchen mit ihrem Vetter, demBäcker, die Köchin mit ihres Brudersvertrautem Freund, dem Milchmann. Dannkam der Bursche von gegenüber, von demman sagte, er habe bei seinem Herrnknappe Kost; er versuchte, sich hinter demMädchen aus dem Nachbarhause zuverstecken, der man bewies, sie sei vonihrer Herrschaft ausgescholten worden.

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Sie kamen alle, einer nach dem andern;einige blöde, andere keck, einige mitGeschick, andere mit Ungeschick, diezerrend und jene stoßend. Dann ging eslos, zwanzig Paar auf einmal, eine halbeRunde hin und zurück, dann die Mitte desZimmers hinauf und wieder herab, dann inverschiedenen Kreisen sich drehend; dasalte erste Paar immer an der falschenStelle stehen bleibend; das neue erstePaar immer wieder anfangend, wenn esstehen bleiben sollte; bis alle Paare erstewaren und kein einziges mehr das letzte.Als sie so weit gekommen waren, klatschteder alte Fezziwig zum Zeichen, daß derTanz aus sei und rief »Bravo!« und derFiedler senkte sein glühendes Gesicht ineinen Krug Porter, der besonders zudiesem Zweck neben ihm stand. Aberkaum war er wieder herausgestiegen, alser wieder aufzuspielen anfing, obgleichnoch keine Tänzer dastanden, als wenn

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der alte Fiedler erschöpft nach Hausegetragen worden und er ein ganz frischersei, entschlossen, ihn vergessen zumachen, oder zu sterben. Dann folgten noch mehrere Tänze undPfänderspiele und wieder Tänze. Dannkam Kuchen und Negus und ein großesStück kalter Rinderbraten, und dann eingroßes Stück kaltes, gekochtes Rindfleischund Fleischpasteten und Ueberfluß vonBier. Aber der Glanzpunkt des Abendskam nach dem Rindfleisch, als der Fiedler(ein pfiffiger Kopf, er kannte sein Geschäftbesser, als ihr oder ich es ihm hätte lehrenkönnen) anfing »Sir Roger deCoverley.«[1] Da trat der alte Fezziwig mitMrs. Fezziwig an und zwar als das erstePaar. Sie hatten ein gut Stück Arbeit vorsich, drei- oder vierundzwanzig PaarTänzer, Leute, mit denen nicht zu spaßenwar, Leute, die tanzen wollten und keinen

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Begriff vom Gehen hatten. [1] Eine Art Großvatertanz. Aber wenn es zweimal, ja viermal so vielgewesen wären, hätte es der alte Fezziwigmit ihnen aufgenommen und auch Mrs.Fezziwig. Sie war, im vollen Sinne desWortes, würdig, seine Tänzerin zu sein.Wenn das kein großes Lob ist, so sagt mirein größeres und ich will es aussprechen.Fezziwigs Waden schienen wirklich zuleuchten. Sie glänzten in jedem Teil desTanzes wie ein Paar Monde. Ihr hättet zuirgend einer Minute nicht voraus sagenkönnen, was aus ihnen in der nächstenwerden würde. Und als der alte Fezziwigund Mrs. Fezziwig alle Touren des Tanzesdurchgemacht hatten, battierte Fezziwig sogeschickt, daß es war, als zwinkerte er mitden Beinen, und er kam, ohne zu wanken,wieder auf die Füße.

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Mit dem Glockenschlag Elf war dieserhäusliche Ball zu Ende. Mr. und Mrs.Fezziwig stellten sich zu beiden Seiten derThür auf, schüttelten jedem einzelnen derGäste die Hand zum Abschied undwünschten ihm oder ihr fröhlicheWeihnachten. Als alles, außer den zwei Lehrlingen, fortwar, thaten sie diesen das Gleiche. Sowaren die heitern Stimmen verklungen,und die Burschen gingen in ihr Bett,welches sich unter einem Ladentisch inder hintersten Niederlage befand. Während dieser ganzen Zeit hatte sichScrooge wie ein Verrückter benommen.Sein Herz und seine Seele waren mit demBall und seinem früheren Selbst. Erbestätigte alles, erinnerte sich an alles,freute sich über alles und befand sich in

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der seltsamsten Aufregung. Nicht eher, alsbis die fröhlichen Gesichter seines frühernSelbst und Dicks verschwunden waren,dachte er daran, daß der Geist neben ihmstehe und ihn anschaue, während das Lichtauf seinem Haupte in voller Klarheitbrannte. »Eine Kleinigkeit,« sagte der Geist,»diesen närrischen Leuten solcheDankbarkeit einzuflößen.« »Eine Kleinigkeit!« gab Scrooge zurück. Der Geist gab ihm ein Zeichen, denbeiden Lehrlingen zuzuhören, welche ihrHerz in Lobpreisungen Fezziwigsausschütteten; und als Scrooge das gethanhatte, sprach der Geist: »Nun, ist es nichtso? Er hat nur ein paar Pfund Euresirdischen Geldes hingegeben; vielleichtdrei oder vier. Ist das so viel, daß er

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solches Lob verdient?« »Das ist's nicht,« sagte Scrooge, vondieser Bemerkung gereizt und wie seinfrüheres, nicht wie sein jetziges Selbstsprechend. »Das ist's nicht, Geist. Er hatdie Macht, uns glücklich oder unglücklich,unsern Dienst zu einer Last oder zu einerBürde, zu einer Freude oder zu einer Qualzu machen. Du magst sagen, seine Machtliege in Worten und Blicken, in sounbedeutenden und kleinen Dingen, daßes unmöglich ist, sie herzuzählen: wasschadet das? Das Glück, welches erbereitet, ist so groß, als wenn es seinganzes Vermögen kostete.« Er fühlte des Geistes Blick und schwieg. »Was giebt's?« fragte der Geist. »Nichts, nichts,« sagte Scrooge.

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»Etwas, sollt' ich meinen,« drängte derGeist. »Nein,« sagte Scrooge, »nein. Ich möchtenur eben ein paar Worte mit meinemDiener sprechen. Das ist alles.« Sein früheres Selbst löschte die Lampenaus, als er diesen Wunsch aussprach, undScrooge und der Geist standen wieder imFreien. »Meine Zeit geht zu Ende,« sagte derGeist. »Schnell!« Dies letzte Wort war nicht zu Scroogeoder zu jemand, den er sehen konnte,gesprochen, aber es wirkte sofort. Dennwieder sah Scrooge sich selbst. Er warjetzt älter geworden: ein Mann in der Blüteseiner Jahre. Sein Gesicht hatte nicht die

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schroffen, rauhen Züge seiner späternJahre, aber schon fing es an, die Zeichender Sorge und des Geizes zu tragen. Inseinem Auge brannte ein ruheloses,habsüchtiges Feuer, welches von derLeidenschaft sprach, die dort Wurzelgeschlagen hatte, und zeigte, wohin derSchatten des wachsenden Baumes fallenwürde. Er war nicht allein, sondern saß nebeneinem schönen jungen Mädchen inTrauerkleidern. In ihrem Auge standenThränen, welche in dem Lichte glänzten,das von dem Geist vergangenerWeihnachten ausströmte. »Es ist ohne Bedeutung,« sagte sie sanft.»Ihnen von gar keiner. Ein anderesGötzenbild hat mich verdrängt; und wennes Sie in späterer Zeit trösten und aufrechterhalten kann, wie ich es versucht haben

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würde, so habe ich keine gerechteUrsache zu klagen.« »Welches Götzenbild hätte Sieverdrängt?« erwiderte er. »Ein goldenes.« »Dies ist die Gerechtigkeit der Welt!«sagte er. »Gegen nichts ist sie so hart, wiegegen die Armut; und nichts tadelt sie mitgrößerer Strenge, als das Streben nachReichtum.« »Sie fürchten das Urteil der Welt zu sehr,«antwortete sie sanft. »Alle Ihre andernHoffnungen sind in der einenaufgegangen, vor diesem engherzigenVorwurf gesichert zu sein. Ich habe Ihreedleren Bestrebungen eine nach derandern verschwinden sehen, bis die eineLeidenschaft nach Gold Sie ganz erfüllt. Ist

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es nicht wahr?« »Und was ist da weiter?« antwortete er.»Selbst wenn ich so viel klüger gewordenbin, was ist da weiter? Gegen Sie bin ichnie anders geworden.« Sie schüttelte den Kopf. »Bin ich anders.« »Unser Bund ist aus alter Zeit. Er wurdegeschlossen, als wir beide arm undzufrieden waren, bis wir unser Los durchausdauernden Fleiß verbessern könnten.Sie haben sich verändert. Als ergeschlossen wurde, waren Sie ein andererMensch.« »Ich war ein Knabe,« sagte erungeduldig.

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»Ihr eigenes Gefühl sagt Ihnen, daß Sienicht so waren, wie Sie jetzt sind,«antwortete sie. »Ich bin noch dieselbe.Das, was uns Glück versprach, als wir nochein Herz und eine Seele waren, muß unsUnglück bringen, da wir im Geiste nichtmehr eins sind. Wie oft und wie bitter ichdies gefühlt habe, will ich nicht sagen; esist genug, daß ich es gefühlt habe und daßich Ihnen Ihr Wort zurückgeben kann.« »Habe ich dies jemals verlangt?« »In Worten? Nein. Niemals!« »Womit dann?« »Durch ein verändertes Wesen, durcheinen andern Sinn, durch andereBestrebungen des Lebens und durch eineandere Hoffnung, als seinem Ziel. In allem,was meiner Liebe in Ihren Augen einigen

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Wert gab. Wenn alles Frühere nichtzwischen uns geschehen wäre,« sagte dasMädchen, ihn mit sanftem, aber festemBlicke ansehend, »würden Sie mich jetztaufsuchen und um mich werben? Gewißnicht!« Er schien die Wahrheit dieserVoraussetzung wider seinen Willenzuzugeben. Aber er that seinen GefühlenGewalt an und sagte: »Sie glauben esnicht?« »Gern glaubte ich es, wenn ich eskönnte,« sagte sie, »Gott weiß es! Wennich eine Wahrheit, gleich dieser, erkannthabe, weiß ich, wie unwiderstehlich siesein muß. Aber wenn Sie heute odermorgen, oder gestern frei wären, soll ichglauben, daß Sie ein armes Mädchenwählen würden, Sie, der selbst in denvertrautesten Stunden alles nach dem

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Gewinn abmißt? oder soll ich mirverhehlen, daß selbst, wenn Sie für einenAugenblick Ihrem einen leitendenGrundsatze untreu werden könnten, Siegewiß einst Täuschung und bittere Reuefühlen würden? Nein, und deswegen gebeich Ihnen Ihr Wort zurück. Willig und umdie Liebe dessen, der Sie einst waren.« Er wollte sprechen, aber mitabgewendetem Gesicht fuhr sie fort:»Vielleicht -- der Gedanke an dieVergangenheit läßt es mich fast hoffen --wird es Sie schmerzen. Eine kurze, sehrkurze Zeit, und Sie werden dann dieErinnerung daran fallen lassen, freudig,wie die Gedanken eines unnützenTraumes, von dem zu erwachen ein Glückfür Sie war. Möge Sie alles Glück auf demerwählten Lebenswege begleiten!« Sie schieden.

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»Geist,« sagte Scrooge, »zeige mir nichtsmehr, führe mich nach Haus. Warumerfreust du dich daran, mich zu quälen?« »Noch ein Gesicht,« rief der Geist aus. »Nein,« rief Scrooge. »Nein! Ich magkeins mehr sehen. Zeige mir keins mehr.« Aber der erbarmungslose Geist hielt ihnmit beiden Händen fest und zwang ihn, zubetrachten, was zunächst geschah. Sie befanden sich an einem andern Ort,in einem Zimmer, nicht sehr groß oderschön, aber voller Behaglichkeit. Nebendem Kamin saß ein schönes jungesMädchen, so gleich der, welche Scroogezuletzt gesehen hatte, daß er glaubte, essei dieselbe, bis er sie, jetzt eine stattlicheMatrone, der Tochter gegenüber sitzen

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sah. In dem Zimmer war ein wahrerAufruhr, denn es befanden sich mehrKinder darin, als Scrooge in seinerAufregung zählen konnte; und hierbetrugen sich nicht vierzig Kinder wieeins, sondern jedes Kind wie vierzig. DieFolge davon war ein Lärm sondergleichen;aber niemand schien sich darum zukümmern; im Gegenteil, Mutter undTochter lachten herzlich und freuten sichdarüber; und die letztere, die sich bald indie Spiele mischte, wurde von den kleinenSchelmen gar grausam mitgenommen.Was hätte ich darum gegeben, einesdieser Kinder zu sein, obgleich ich nimmerso ungezogen gewesen wäre. Nein, nein!für alle Schätze der Welt hätte ich nichtdiese Locken zerdrückt und zerwühlt; unddiesen lieben, kleinen Schuh hätte ichnicht entwendet, um mein Leben zu retten.Im Scherz ihre Taille zu messen, wie diekecke, junge Brut that, ich hätte es nicht

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gewagt; ich hätte geglaubt, mein Armwürde zur Strafe krumm werden und niewieder gerade wachsen. Und doch, wiegern, ich gestehe es, hätte ich ihre Lippenberührt; wie gern hätte ich sie gefragt,damit sie sich geöffnet hätten; wie gernhätte ich die Wimpern dieserniedergeschlagenen Augen betrachtet,ohne ein Erröten hervorzurufen; wie gernhätte ich dieses wogende Haar gelöst, vondem ein Zoll ein Schatz über allen Preisgewesen wäre; kurz, wie gern hätte ichdas kleinste Privilegium eines Kindesgehabt, mit der Bedingung, Mann genugzu sein, um seinen Wert zu kennen. Aber jetzt wurde ein Klopfen an der Thürgehört, was einen so allgemeinen Sturznach derselben veranlaßte, daß sie mitlachendem Gesicht und verwirrtem Anzugin der Mitte eines frohlockendenlärmenden Haufens nach der Thür

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gedrängt wurde, dem Vater entgegen, dernach Haus kam, in Begleitung einesMannes mit Weihnachtsgeschenkenbeladen. Aber nun das Geschrei und dasGedräng und der Sturm auf denverteidigungslosen Träger! Wie sie aufStühlen an ihm hinaufstiegen, in seineTaschen guckten, die Papierpäckchenraubten, an seiner Halsbinde zupften, anseinem Halse hingen, ihm auf den Rückentrommelten und an die Beine stießen --alles in unwiderstehlicher Freude! Danndiese Ausrufungen der Verwunderung unddes Frohlockens, mit denen der Inhaltjedes Päckchens begrüßt wurde! Dieschreckliche Kunde, daß das Wickelkindertappt worden sei, wie es die Bratpfanneder Puppe in den Mund gesteckt, oderwohl gar das hölzerne Huhn samt derSchüssel hinuntergeschluckt habe! Diegroße Beruhigung, zu finden, daß es einfalscher Lärm gewesen sei! Die Freude

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und die Dankbarkeit und das Entzücken!Dies alles ist über alle Beschreibung. Esmuß genügen, zu wissen, daß die Kinderund ihre Freuden endlich aus dem Zimmerkamen und _eine_ Treppe auf einmalhinaufgingen, wo sie zu Bett gebrachtwurden und dort blieben. Und als jetzt Scrooge sah, wie der Herrdes Hauses, die Tochter zärtlich an seineSeite geschmiegt, sich mit ihr und ihrerMutter an seinem eigenen Herdniedersetzte; und wie er dachte, daß einsolches Wesen ebenso lieblich undhoffnungsreich ihn hätte Vater nennen undwie Frühlingszeit in dem öden Winterseines Lebens hätte sein können, dawurden seine Augen wirklich trübe. »Bella,« sagte der Mann, sich lächelnd zuseiner Gattin wendend, »ich sah heut'Nachmittag einen alten Freund von dir.«

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»Wer war es?« »Rate.« »Wie kann ich das? Ach, jetzt weiß ich,«fügte sie sogleich hinzu, lachend, wie erlachte. »Mr. Scrooge.« »Ja, Mr. Scrooge. Ich ging an seinemComptoirfenster vorüber; und da keinLaden davor war und er Licht drin hatte,mußte ich ihn fast sehen. Sein Compagnonliegt im Sterben, hörte ich, und er saßallein dort. Ganz allein in der Welt, glaubeich.« »Geist,« sagte Scrooge mit bebenderStimme, »führe mich weg von diesemOrte.« »Ich sagte dir, daß dieses Schatten

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gewesener Dinge wären,« sagte der Geist.»Gieb mir nicht die Schuld, daß sie sosind, wie sie sind.« »Führe mich weg!« rief Scrooge aus. »Ichkann es nicht ertragen.« Er wandte sich gegen den Geist, und wieer sah, daß er ihn mit einem Gesichtanblickte, in welchem sich auf eineseltsame Weise einzelne Züge all derGesichter zeigten, die er gesehen hatte,rang er mit ihm. »Verlaß mich, führ' mich weg.Umschwebe mich nicht länger.« In dem Kampfe, wenn das ein Kampfgenannt werden kann, wo der Geist, ohneeinen sichtbaren Widerstand von seinerSeite, von den Anstrengungen seinesGegners ungestört blieb, bemerkte

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Scrooge, daß das Licht auf seinem Hauptehoch und hell brenne; und in einemdunklen Instinkt jenes Licht mit desGeistes Einfluß auf sich verbindend,ergriff er den Lichtauslöscher und stülpteihn auf des Geistes Haupt. Der Geist sank darunter zusammen, sodaß der Lichtauslöscher seine ganzeGestalt bedeckte; aber obgleich Scroogeihn mit seiner ganzen Kraft niederdrückte,konnte er das Licht nicht verbergen,welches darunter hervor und mit hellemSchimmer über den Boden strömte. Er fühlte, daß er erschöpft sei und voneiner unüberwindlichen Schläfrigkeitbefallen werde und wußte, daß er inseinem eignen Schlafzimmer sei. Er gabdem Lichtauslöscher noch einen Druckzum Abschiede und fand kaum Zeit, in dasBett zu wanken, ehe er in tiefen Schlaf

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sank.

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Drittes Kapitel. Der zweite der drei Geister. Scrooge erwachte mitten in einemtüchtigen Geschnarch und setzte sich indem Bette in die Höhe, um seineGedanken zu sammeln. Diesmal hatteniemand nötig, ihm zu sagen, daß esgerade Eins sei. Er fühlte, daß er geradezu der rechten Zeit und zu demausdrücklichen Zwecke erwacht sei, eineKonferenz mit dem zweiten an ihn durchJakob Marleys Vermittlung abgesandtenBoten zu halten. Aber bei dem Gedanken,welche seiner Bettgardinen wohl das neueGespenst zurückschlagen würde, wurde esihm ganz unheimlich kalt, und so schlug ersie mit seinen eigenen Händen zurück.Dann legte er sich wieder nieder undbeschloß, genau aufzupassen, denn er

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wollte den Geist in dem Augenblickeseiner Erscheinung anrufen, und wünschtenicht überrascht und erschreckt zuwerden. Leute von keckem Mute, die sichschmeicheln, es schon mit etwasaufnehmen zu können, und immer anihrem Platze zu sein, drücken den weitenBereich ihrer Fähigkeiten mit den Wortenaus: Sie wären gut für alles, vom Brotessenbis zum Menschenverschlingen; zwischenwelchen beiden Extremen ohne Zweifelziemlich viel Gelegenheit zur Darlegungihrer Kräfte liegt. Ohne gerade zubehaupten, daß Scrooge es so weitgebracht hätte, muß ich doch von demLeser den Glauben fordern, daß er auf einrecht schönes Sortiment vonErscheinungen gefaßt war, und daß nichtszwischen einem Wickelkind und einemRhinoceros ihn sehr staunen gemacht

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haben würde. Eben weil er auf fast alles gefaßt war, warer nicht vorbereitet, nichts zu sehen; undso, als die Glocke Eins schlug und keineGestalt erschien, überfiel ihn ein heftigesZittern. Fünf Minuten, zehn Minuten, eineViertelstunde vergingen, aber es kamnichts. Die ganze Zeit über lag er aufseinem Bett recht in der Mitte einesStromes rötlichen Lichtes, welches sichüber ihn ausgoß, als die Glocke dieStunde verkündigte; und welches, weil esnur Licht war, viel beunruhigender als einDutzend Geister war, da es ihm unmöglichwar zu erraten, was es bedeute oder wases wolle. Ja, er fürchtete zuweilen, ermöchte in diesem Augenblick einmerkwürdiger Fall von Selbstentzündungsein, ohne den Trost zu haben, es zuwissen. Endlich jedoch fing er an zudenken, daß die Quelle dieses

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geisterhaften Lichtes wohl in demanliegenden Zimmer sein möge, aus demes bei näherer Betrachtung zu strömenschien. Wie dieser Gedanke dieHerrschaft über seine Seele bekommenhatte, stand er leise auf und schlürfte inden Pantoffeln nach der Thür. In demselben Augenblick, wo sichScrooges Hand auf den Drücker legte, riefihn eine fremde Stimme bei Namen undhieß ihn eintreten. Er gehorchte. Es war sein eigenes Zimmer. Daran ließsich nicht zweifeln. Aber eine wunderbareUmwandlung war mit ihm vorgegangen.Wände und Decke waren ganz mit grünenZweigen bedeckt, daß es ganz aussah wieeine Laube, in der überall glänzendeBeeren schimmerten. Die glänzenden,strammen Blätter der Stecheiche, derMistel und des Epheus warfen das Licht

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zurück und erschienen wie ebensovielkleine Spiegel. Eine so gewaltige Flammeloderte die Esse hinauf, wie diesesSpottbild eines Kamines in Scrooges oderMarleys Zeit seit vielen, vielen Winternnicht gekannt hatte. Auf dem Fußbodenwaren zu einer Art von Thron Truthähne,Gänse, Wildbret, große Braten,Spanferkel, lange Reihen von Würsten,Pasteten, Plumpuddings, Austerfäßchen,glühende Kastanien, rotbäckige Aepfel,saftige Orangen, appetitliche Birnen,ungeheure Stollen und siedendePunschbowlen aufgehäuft, welche dasZimmer mit köstlichem Geruch erfüllten.Auf diesem Thron saß behaglich und mitfröhlichem Angesicht ein Riese, garherrlich anzuschauen. In der Hand trug ereine brennende Fackel, fast wie einFüllhorn gestaltet, und hielt sie hoch in dieHöhe, um Scrooge damit zu beleuchten,wie er in das Zimmer guckte.

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»Nur herein,« rief der Geist. »Nur herein,und lerne mich besser kennen.« Scrooge trat schüchtern ein und senktedas Haupt vor dem Geiste. Er war nichtmehr der hartfühlende, nichtsscheuendeScrooge wie früher, und obgleich desGeistes Augen hell und mild glänzten,wünschte er ihnen doch nicht zubegegnen. »Ich bin der Geist der heurigenWeihnacht,« sagte die Gestalt. »Sieh' michan.« Scrooge that es mit ehrfurchtsvollemBlick. Der Geist war in ein einfaches,dunkelgrünes Gewand, mit weißem Pelzverbrämt, gekleidet. Die breite Brust warentblößt, als verschmähe sie, sich zuverstecken. Auch die Füße waren bloß

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und schauten unter den weiten Falten desGewandes hervor; und das Haupt hattekeine andere Bedeckung, als einenStecheichenkranz, in dem hier und daEiszapfen glänzten. Seine dunkelbraunenLocken wallten fessellos auf die Schultern.Sein munteres Gesicht, sein glänzendesAuge, seine fröhliche Stimme, seinungezwungenes Benehmen, alles sprachvon Offenheit und heiterm Sinn. Um denLeib trug er eine alte Degenscheidegegürtet; aber sie war von Rost zerfressenund kein Schwert stak darin. »Du hast nie meinesgleichen vorhergesehen,« rief der Geist. »Niemals,« entgegnete Scrooge. »Hast dich nie mit den jüngern Gliedernmeiner Familie abgegeben; ich meine(denn ich bin sehr jung) meine ältern

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Brüder, welche in den letztern Jahrengeboren worden sind,« fuhr das Phantomfort. »Ich glaube nicht,« sagte Scrooge. »Esthut mir leid, es nicht gethan zu haben.Hast du viele Brüder gehabt, Geist?« »Mehr als achtzehnhundert,« sagtedieser. »Eine schrecklich große Familie, wer fürsie zu sorgen hat,« murmelte Scrooge. Der Geist der heurigen Weihnacht standauf. »Geist,« sagte Scrooge demütig, »führemich wohin du willst. Gestern Nacht wurdeich durch Zwang hinausgeführt und mirwurde eine Lehre gegeben, die jetzt imWirken ist. Heute bin ich bereit zu folgen,

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und wenn du mir etwas zu lehren hast, willich hören.« »Berühre mein Gewand.« Scrooge that, wie ihm gesagt worden undhielt es fest. Stecheichen, Misteln, rote Beeren, Epheu,Truthähne, Gänse, Braten, Spanferkel,Würste, Austern, Pasteten, Puddings,Früchte und Punsch, alles verschwandaugenblicklich. Auch das Zimmerverschwand, das Feuer, der rötlicheSchimmer, die nächtliche Stunde, und siestanden in den Straßen der Stadt, amMorgen des Weihnachtstages, wo dieLeute, denn es war sehr kalt, eine rauhe,aber muntere und nicht unangenehmeMusik machten, wie sie den Schnee vondem Straßenpflaster und den Dächern derHäuser zusammenscharrten. Und daneben

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standen die Kinder und freuten sich undfrohlockten, wie die Schneelawinen vonden Dächern herunterstürzten und inkünstliche Schneestürme zerstiebten. Die Häuser erschienen schwarz und dieFenster noch schwärzer, verglichen mitder glatten, weißen Schneedecke auf denDächern und dem schmutzigern Schneeauf den Straßen. In den letztern war er vonden schweren Rädern der Wagen undKarren in tiefe Furchen aufgepflügt;Furchen, die sich hundert- undaberhundertmal kreuzten, wo eineNebenstraße ausging, und in dem dicken,gelben Schmutz und halberstarrtenWasser labyrinthische Kanäle bildeten.Der Himmel war trübe und selbst diekürzesten Straßen schienen sich in einendicken Nebel zu verlieren, dessenschwerere Teile in einem rußigen Regenniederfielen, als wenn alle Essen von

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England sich auf einmal entzündet hättenund jetzt nach Herzenslust brennten. Eswar nichts Heiteres in der ganzenUmgebung und doch lag etwas in der Luft,was die klarste Sommerluft und die hellsteSommersonne nicht hätten verbreitenkönnen. Denn die Leute, welche den Schnee vonden Dächern schaufelten, waren lustig undvoll mutwilliger Laune. Sie riefen sicheinander zu von den Dächern undwechselten dann und wann einenSchneeball -- ein gutmütigerer Pfeil, alsmanches Wort -- und lachten herzlich,wenn er traf und nicht weniger herzlich,wenn sie fehlschossen. Die Läden derGeflügelhändler waren noch halb offenund die der Fruchthändler strahlten inheller Freude. Da sah man große, runde,dickbäuchige Körbe voll Kastanien, gleichden Westen lustiger, alter Herren, an den

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Thüren lehnend, oder im apoplektischenUeberfluß auf die Straße rollend. Da sahman braune, dickbäuchige, spanischeZwiebeln, in ihrer Fettheit spanischenMönchen gleichend und mutwillig denMädchen winkend, welche vorübergingenund verschämt nach dem Mistelzweigeschielten. Da sah man Birnen und Aepfel inPyramiden zusammengestellt; Trauben,die der Kaufmann in seiner Gutmütigkeitrecht augenfällig im Gewölbe hängen ließ,daß den Vorübergehenden der Mundgratis wässere; Haufen von Haselnüssen,bemoost und braun, mit ihrem frischenDuft vergangene Streifereien in den Walddurch das raschelnde, fußhohe welkeLaub zurückrufend; Norfolk-Biffins, fett undkrispig, mit ihrer Bräune von den gelbenOrangen abstechend und gar dringendbittend, daß man sie nach Hause tragenund nach Tische essen möge. Ja, selbst dieGold- und Silberfische, welche in einem

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Glas mitten unter den auserlesenenFrüchten standen, obgleich von einemdick- und kaltblütigen Geschlechte,schienen zu wissen, daß etwas Besondereslos sei und schwammen um ihre kleineWelt in langsamer und leidenschaftsloserBewegung. Ach die Materialwarenläden! fastgeschlossen waren sie, vielleicht ein oderzwei Laden vorgesetzt; aber welcheHerrlichkeiten sah man durch dieseOeffnungen! Nicht allein, daß dieWagschalen mit einem fröhlichen Klangeauf den Ladentisch klirrten, oder daß derBindfaden und seine Rolle so muntervoneinander schieden, oder daß dieBüchsen wie durch Zauberei blitzschnellhin und her fuhren, oder daß dervermischte Geruch von Kaffee und Theeder Nase so wohlthuend war, die Rosinenso wunderschön, die Mandeln so

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außerordentlich weiß, die Zimtstengel solang und gerade, die andern Gewürze soköstlich, die eingemachten Früchte so dickmit geschmolzenem Zucker belegt waren,daß der kälteste Zuschauer entzücktwurde; nicht daß die Feigen so saftig undfleischig waren, oder daß die Brignolen inbescheidener Koketterie in ihrenverzierten Büchsen erröteten, oder daßalles so gut zu essen oder so schön inseinem Weihnachtskleid war; das war esnicht allein. Die Kaufenden waren auchalle so eifrig und eilig in der Hoffnung desFestes, daß sie in der Thüregegeneinander rannten, wie von Sinnenmit ihren Körben zusammenstießen undihre Einkäufe vergaßen und wiederzurückliefen, um sie zu holen, und tausendähnliche Irrtümer in der bestmöglichstenLaune begingen, während der Kaufmannund seine Leute so frisch und froh waren,daß die blanken Herzen, welche ihre

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Schürzen hinten zusammenhielten, ihreeigenen hätten sein können, die für allerAugen Besichtigung auswendig getragenwurden. Aber bald riefen die Glocken nach denKirchen und der Kapelle und in ihrenbesten Kleidern und mit ihrenfeiertäglichsten Gesichtern gingen dieLeute durch die Straßen; und zu derselbenZeit strömten aus den Nebenstraßen undGäßchen und namenlosen Winkelnzahllose Leute, welche ihr Mittagsessen zudem Bäcker trugen. Der Anblick dieserArmen und doch so Glücklichen schiendes Geistes Teilnahme am meisten zuerregen, denn er blieb mit Scrooge nebeneines Bäckers Thür stehen, und indem erdie Decken von den Schüsseln nahm, wiedie Träger vorübergingen, bestreute erihr Mahl mit Weihrauch von seiner Fackel.Es war eine gar wunderbare Fackel, denn

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ein paarmal, als ein paar von den Leutenzusammengerannt waren und einigeheftige Worte fielen, besprengte er sie miteinigen Tropfen Thau von seiner Fackelund ihre gute Laune war augenblicklichwiederhergestellt. Denn sie sagten, es seieine Schande, sich am Weihnachtstage zuzanken. Jetzt schwiegen die Glocken und dieLäden der Bäcker wurden geschlossen;und doch schwebte noch ein Schattenbildvon allen diesen Mittagsessen und demFortschreiten ihrer Zubereitung in demgethauten, nassen Fleck über jedem Ofen;und vor ihnen rauchte das Pflaster, alswenn selbst die Steine kochten. »Ist eine besondere Kraft in dem, wasdeine Fackel ausstreut?« frug Scrooge. »Ja. Meine eigene.«

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»Und wirkt sie auf jedes Mittagsmahl andiesem Tage?« fragte Scrooge. »Auf jedes, welches gern gegeben wird.Auf ein ärmliches am meisten.« »Warum auf ein ärmliches am meisten?« »Weil das sie am meisten bedarf.« »Geist,« sagte Scrooge nach einemaugenblicklichen Sinnen, »mich wundert's,daß du von allen Wesen auf den vielenWelten um uns wünschen solltest, diesenLeuten die Gelegenheit unschuldigenGenusses zu rauben.« »Ich?« rief der Geist. »Du willst ihnen die Mittel nehmen, jedensiebenten Tag zu Mittag zu essen, und

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doch ist das der einzige Tag, wo sieüberhaupt zu Mittag essen können,« sagteScrooge. »Ich?« rief der Geist. »Verzeihe mir, wenn ich unrecht habe. Esist in deinem Namen geschehen oderwenigstens in dem deiner Familie,« sagteScrooge. »Es giebt Menschen auf Eurer Erde,«entgegnete der Geist, »welche uns kennenwollen und ihre Thaten des Stolzes, derMißgunst, des Hasses, des Neides, desFanatismus und der Selbstsucht in unsermNamen thun; die uns in allem, was zu unsgehört, so fremd sind, als wenn sie niegelebt hätten. Bedenke das und schreibeihre Thaten ihnen selbst zu und nicht uns.« Scrooge versprach es und sie gingen

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unsichtbar, wie bisher, weiter in dieVorstadt. Es war eine wunderbareEigenschaft des Geistes (Scrooge hatte siebei dem Bäcker bemerkt), daß er, trotzseiner riesenhaften Gestalt, doch überallleicht Platz fand; und daß er unter einemniedrigen Dach ebenso schön und wie einübernatürliches Wesen dastand, wie imgeräumigen hohen Saal. Vielleicht war es die Freude, welche dergute Geist darin fühlte, diese Macht zuzeigen, vielleicht auch seine warmherzige,freundliche Natur und seine Teilnahme füralle Armen, was ihn gerade zu ScroogesDiener führte; denn er ging wirklich hinund nahm Scrooge mit, der sich an seinGewand festhielt. Auf der Schwelle standder Geist lächelnd still und segnete BobCratchits Wohnung mit dem Thau seinerFackel. Bedenkt nur, Bob hatte nurfünfzehn »Bob«[2] die Woche; er steckte

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Sonnabends nur fünfzehn seinerNamensvettern in die Tasche; und dochsegnete der Geist der heurigen Weihnachtsein Haus. [2] Schillinge. Mr. Cratchits Frau, in einem ärmlichen,zweimal gewendeten Kleid, schönaufgeputzt mit Bändern, die billig sind,aber hübsch genug für sechs Penceaussehen, stand im Zimmer und deckteden Tisch. Belinda Cratchit, ihre zweiteTochter, half ihr, während Mr. PeterCratchit mit der Gabel in eine Schüsselvoll Kartoffeln stach und die Spitzen seinesungeheuren Hemdkragens (BobsPrivateigentum, seinem Sohn und Erben zuEhren des Festes geliehen) in den Mundkriegte, voller Stolz, so schön angezogenzu sein und voll Sehnsucht, sein weißesHemd in den fashionablen Parks zur Schau

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zu tragen. Jetzt kamen die zwei kleinernCratchits, ein Mädchen und ein Knabe,hereingesprungen und schrieen, sie hättenan des Bäckers Thür die Gans gerochenund gewußt, daß es ihre eigene sei; und infreudigen Träumen von Salbei undZwiebeln tanzten sie um den Tisch underhoben Master Peter Cratchit bis in denHimmel, während er (nicht stolz, obgleichder Hemdkragen ihn fast erstickte) dasFeuer blies, bis die Kartoffeln aufwallendan den Topfdeckel klopften, daß man sieherauslassen und schälen möge. »Wo bleibt nur der Vater?« sagte Mrs.Cratchit. »Und dein Bruder Tiny Tim; undMartha kam vorige Weihnachten einehalbe Stunde früher.« »Hier ist Martha, Mutter,« sagte einMädchen, zur Thür hereintretend.

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»Hier ist Martha, Mutter,« riefen diebeiden kleinen Cratchits. »Hurra, das isteine Gans, Martha.« »Gott grüße dich, liebes Kind! wie spät dukommst!« sagte Mrs. Cratchit, sie eindutzendmal küssend und mit zuthulichemEifer ihr Shawl und Hut abnehmend. »Wir hatten gestern Abend viel zurecht zumachen,« antwortete das Mädchen, »undmußten heute alles fertig machen, Mutter.« »Nun, es schadet nichts, da du doch dabist,« sagte Mrs. Cratchit. »Setze dich andas Feuer, liebes Kind, und wärme dich.« »Nein, nein, der Vater kommt,« riefen diebeiden kleinen Cratchits, die überall zugleicher Zeit waren. »Versteck' dich,Martha, versteck' dich!«

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Martha versteckte sich und jetzt trat Bobherein, der Vater. Wenigstens drei Fuß,ungerechnet der Fransen, hing der Shawlauf seine Brust herab und die abgetragnenKleider waren geflickt und gebürstet, umihnen ein Ansehen zu geben. Tiny Tim saßauf seiner Schulter. Der arme Tiny Tim! ertrug eine kleine Krücke und seine Gliederwurden von eisernen Schienen gestützt. »Nun, wo ist unsere Martha?« rief BobCratchit, im Zimmer herumschauend. »Sie kommt nicht,« sagte Mrs. Cratchit. »Sie kommt nicht?« sagte Bob mit einerplötzlichen Abnahme seiner fröhlichenLaune; denn er war den ganzen Weg vonder Kirche Tims Pferd gewesen und imvollen Laufe nach Hause gerannt. »Siekommt nicht zum Weihnachtsabend?«

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Martha wollte ihm keinen Schmerzverursachen, selbst nicht aus Scherz, undso trat sie hinter der Thür hervor undschlang die Arme um seinen Hals,während die beiden kleinen Cratchits sichTiny Tims bemächtigten und ihn nach demWaschhause trugen, damit er den Puddingim Kessel singen höre. »Und wie hat sich der kleine Timaufgeführt?« frug Mrs. Cratchit, als sie Bobwegen seiner Leichtgläubigkeit genecktund Bob seine Tochter nach Herzenslustgeküßt hatte. »Wie ein Goldkind,« sagte Bob, »undnoch besser. Ich weiß nicht, wie es zugeht,aber er wird jetzt so träumerisch vomAlleinsitzen, und sinnt sich die seltsamstenDinge aus. Heute wie wir nach Hausgingen, sagte er, er hoffe, die Leute sähenihn in der Kirche, denn er sei ein Krüppel,

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und es wäre vielleicht gut für sie, sich amChristtag an den zu erinnern, der Lahmegehend und Blinde sehend machte.« Bobs Stimme zitterte, als er dies sagteund zitterte noch mehr, als er hinzufügte,daß Tiny Tim stärker und gesunderwerden würde. Man hörte jetzt seine kleine Krücke aufdem Fußboden und ehe weiter ein Wortgesprochen worden, war Tim wieder daund wurde von seinem Bruder und seinerSchwester nach seinem Stuhl neben demFeuer geführt. Während jetzt Bob, seineRockaufschläge in die Höhe schlagend --als wenn es möglich wäre, sie noch mehrabzutragen -- in einer Bowle aus Cognacund Citronen eine heiße Mischungzubereitete, und sie umrührte und wiederan das Feuer setzte, damit sie sich warmhalten möge, gingen Master Peter und die

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zwei sich überall befindenden kleinenCratchits, um die Gans zu holen, mit dersie bald in feierlichem Zugezurückkehrten. Jetzt entstand ein solcher Lärm, als obeine Gans der seltenste aller Vögel wäre,ein gefiedertes Wunder, gegen das einschwarzer Schwan etwas ganzGewöhnliches wäre, und wirklich war siees auch in diesem Hause. Mrs. Cratchitließ die Bratenbrühe aufwallen; MasterPeter schmorte die Kartoffeln mitunglaublichem Eifer; Miß Belinda machtedie Aepfelsauce süß; Martha stäubte diegewärmten Teller ab; Bob trug Tiny Timneben sich in eine behagliche Ecke amTisch; die beiden kleinen Cratchits stelltendie Stühle zurecht, wobei sie sich nichtvergaßen, und nahmen ihren Posten ein,den Löffel in den Mund steckend, damit sienicht nach Gans schrieen, ehe die Reihe an

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sie kam. Endlich wurde das Gerichtaufgetragen und das Tischgebetgesprochen. Darauf folgte eine atemlosePause, als Mrs. Cratchit, dasVorschneidemesser langsam von derSpitze bis zum Heft betrachtend, sichzurecht machte, es der Gans in die Brust zustoßen; aber wie sie es that, und wie derlang erwartete Strom des Gefüllsels sichergoß, ertönte ein freudiges Murmeln umden ganzen Tisch, und selbst Tiny Tim,durch die beiden kleinen Cratchits inFeuer gebracht, schlug mit dem Heftseines Messers auf den Tisch und rief einschwaches Hurra. Nie hatte es so eine Gans gegeben. Bobsagte, er glaube nicht, daß jemals einesolche Gans gebraten worden wäre. IhreZartheit und ihr Fett, ihre Größe und ihreBilligkeit waren der Gegenstandallgemeiner Bewunderung. Mit Hilfe der

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Aepfelsauce und der geschmortenKartoffeln, gab sie ein hinreichendes Mahlfür die ganze Familie; und wie Mrs.Cratchit einen einzigen kleinen Knochennoch auf der Schüssel liegen sah, sagte siemit großer Freude, sie hätten doch nichtalles aufgegessen! Aber jeder von ihnenhatte genug und die kleinen Cratchitswaren bis an die Augenbrauen mit Salbeiund Zwiebeln eingesalbt. Jetzt wurden dieTeller von Miß Belinda gewechselt undMrs. Cratchit verließ das Zimmer allein --denn sie war zu unruhig, Zeugen dulden zukönnen -- um den Puddingherauszunehmen und hereinzubringen. Wenn er nicht ausgebacken wäre! Wenner beim Herausnehmen in Stücke zerfiele!Wenn jemand über die Mauer desHinterhauses geklettert wäre und ihngestohlen hätte, während sie sich an derGans erquickten -- ein Gedanke, bei dem

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die beiden kleinen Cratchits bleich vorSchrecken wurden! Alles möglicheSchreckliche dachte man sich. Hallo eine Wolke Rauch! der Pudding waraus dem Kessel genommen. Ein Geruch,wie an einem Waschtag! das war dieServiette. Ein Geruch wie in einemSpeisehause, mit einem Pastetenbäckerauf der einen und einer Wäscherin auf derandern Seite! Das war der Pudding. Ineiner halben Minute trat Mrs. Cratchitherein, aufgeregt, aber stolz lächelnd undvor sich den Pudding, hart und fest wieeine gefleckte Kanonenkugel, in einemViertelquart Rum flammend und in derMitte mit der festlichen Stecheichegeschmückt. O, ein wunderbarer Pudding! BobCratchit sagte mit ruhiger und sichererStimme, er halte das für das größte

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Kochkunststück, welches Mrs. Cratchit seitihrer Heirat verrichtet habe. Mrs. Cratchitsagte, jetzt da die Last von ihrem Herzensei, wolle sie nur gestehen, daß sie wegender Menge des Mehls gar sehr in Angstgewesen sei. Jeder hatte darüber etwas zusagen, aber keiner sagte oder dachte, essei doch ein kleiner Pudding für eine sogroße Familie. Das wäre offenbareKetzerei gewesen. Jeder Cratchit würdesich geschämt haben, so etwas nur zudenken. Endlich waren sie mit dem Essen fertig,der Tisch war abgedeckt, der Herdgekehrt und das Feuer aufgeschürt. DasGemisch in der Bowle wurde gekostet undfür fertig erklärt, Aepfel und Apfelsinen aufden Tisch gesetzt und ein paar Hände vollKastanien auf das Feuer geschüttet. Dannsetzte sich die ganze Familie Cratchit umden Kamin in einem Kreise, wie es Bob

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Cratchit nannte, obgleich es eigentlich nurein Halbkreis war; Bob in der Mitte undneben ihm der Gläservorrat der Familie;zwei Paßgläser und ein Milchkännchenohne Henkel. Diese Gefäße aber hielten das heißeGemisch aus der Bowle so gut, als wenn esgoldene Pokale gewesen wären, und Bobschenkte es mit strahlenden Blicken ein,während die Kastanien auf dem Feuerspuckten und platzten. Dann schlug Bobden Toast vor: »Uns allen eine fröhlicheWeihnacht, meine Lieben! Gott segneuns!« Die ganze Familie wiederholte den Toast. »Gott segne uns alle und jeden!« sagteTiny Tim, der letzte von allen. Er saß dicht neben seinem Vater auf

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seinem kleinen Stuhle. Bob hielt seinekleine welke Hand in der seinigen, alswenn er das Kind liebe und wünsche, esbei sich zu behalten und fürchte, esmöchte ihm bald genommen werden. »Geist,« sagte Scrooge mit einerTeilnahme, wie er sie noch nie gefühlthatte, »sag' mir, wird Tiny Tim lebenbleiben?« »Ich sehe einen leeren Stuhl,« antworteteder Geist, »in der Kaminecke und eineKrücke ohne einen Besitzer sorgfältigaufbewahrt. Wenn die Zukunft dieseSchatten nicht ändert, wird das Kindsterben.« »Nein, nein,« sagte Scrooge. »Ach nein,guter Geist, sage, daß er leben bleibenwird.«

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»Wenn die Zukunft diese Schatten nichtverändert, wird kein anderer meinesGeschlechtes,« antwortete der Geist, »dasKind noch hier finden. Was thut es auch?Wenn es sterben muß, ist es besser, esthue es gleich und vermindere dieüberflüssige Bevölkerung.« Scrooge senkte das Haupt, seine eigenenWorte von dem Geiste zu hören, und fühltesich von Reue und Schmerz überwältigt. »Mensch,« sagte der Geist, »wenn du einmenschliches Herz hast und keinsteinernes, so hüte dich, so heuchlerischzu reden, bis du weißt, was und wo dieserUeberfluß ist. Willst du entscheiden,welche Menschen leben, welcheMenschen sterben sollen? Vielleicht bistdu in den Augen des Himmels unwürdigerund unfähiger zu leben, als Millionen,gleich dieses armen Mannes Kind. O Gott,

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das Gewürme auf dem Blatt über die zuvielen Lebenden unter seinen hungrigenBrüdern im Staube reden zu hören!« Scrooge nahm des Geistes Vorwurfdemütig hin und schlug die Augen nieder,aber er blickte schnell wieder in die Höhe,wie er seinen Namen nennen hörte. »Es lebe Mr. Scrooge!« sagte Bob, »Mr.Scrooge, der Schöpfer dieses Festes!« »Der Schöpfer dieses Festes, wahrhaftig!«rief Mrs. Cratchit mit glühendem Gesicht.»Ich wollte, ich hätte ihn hier. Ich wollteihm ein Stück von meiner Meinung zukosten geben, und ich hoffe, sie würdeihm schmecken.« »Liebe Frau,« sagte Bob, »die Kinder! --es ist Weihnachten.«

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»Freilich muß es Weihnachten sein,«sagte sie, »wenn man die Gesundheiteines so niederträchtigen, geizigen,fühllosen Menschen, wie Scrooge ist,trinken kann. Und du weißt es, Robert, daßer es ist, niemand weiß es besser als du!« »Liebe Frau,« antwortete Bob mild, »es istWeihnachten.« »Ich will seine Gesundheit trinken, dirund dem Feste zu gefallen,« sagte Mrs.Cratchit, »nicht seinetwegen. Möge erlange leben! Ein fröhliches Weihnachtenund ein glückliches neues Jahr! -- Er wirdsehr fröhlich und sehr glücklich sein, dasglaub' ich.« Die Kinder tranken dieGesundheit nach ihr. Es war das erste, wassie an diesem Abend ohne Herzlichkeitund Wärme vernahmen. Tiny Tim trank siezuletzt, aber er gab keinen Pfifferlingdarum. Scrooge war der Popanz der

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Familie. Die Erwähnung seines Namenswarf über alle einen düstern Schatten, dervolle fünf Minuten zum Verschwindenbrauchte. Wie er weg war, waren sie zehnmallustiger als vorher, schon weil sie Scrooge,den Schrecklichen, los waren. BobCratchit erzählte, wie er eine Stelle für Mr.Peter in Aussicht habe, welche diesemganzer fünf und einen halben Schillingwöchentlich einbringen werde. Diebeiden kleinen Cratchits lachtenfürchterlich bei dem Gedanken, Petern alsGeschäftsmann zu sehen; und Peter selbstblickte gedankenvoll zwischen seinenHalskragen hervor in das Feuer, als denkeer nach, in welchen Aktien er wohl seineErsparnisse anlegen würde, wenn er inBesitz dieser unglaublichen Summe käme.Martha, welche bei einer PutzmacherinGehilfin war, erzählte ihnen, was für Arbeit

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sie jetzt mache und wie viel Stunden sie inder guten Zeit arbeiten müsse und wie siemorgen früh auszuschlafen gedenke; dennmorgen war für sie ein Feiertag. Aucherzählte sie, wie sie vor einigen Tageneine Gräfin und einen Lord gesehen unddaß der Lord fast so groß wie Petergewesen sei, bei welchen Worten Peterseinen Hemdkragen so hoch in die Höhezupfte, daß sein Kopf dazwischenverschwand. Während dieser ganzen Zeitgingen die Kastanien und der Punschringsum und dazwischen sang Tiny Tim mitseiner klagenden Stimme ein Lied voneinem Kind, was sich im Schnee verlaufen,und sang es recht hübsch. In alle dem war nichts Besonderes. Eswaren keine hübschen Gesichter in derFamilie; sie waren nicht schön angezogen;ihre Schuhe waren nichts weniger alswasserdicht; ihre Kleider waren ärmlich;

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und Peter mochte wohl das Innere einesPfandleiherladens kennen. Aber sie warenglücklich, voller Dank für ihrebescheidenen Freuden, einiguntereinander und zufrieden; und als ihreGestalten verblichen und in demscheidenden Lichte der Fackel des Geistesnoch glücklicher aussahen, verweilteScrooges Auge immer noch auf ihnen undvor allem auf Tiny Tim. Es war jetzt dunkel geworden und es fielein starker Schnee; und wie Scrooge undder Geist durch die Straßen gingen, warder Glanz der lodernden Feuer in Küchen,Putzstuben und aller Art Gemächernwundervoll über alle Maßen. Hier zeigtedie flackernde Flamme dieVorbereitungen zu einem traulichen Mahl,die heißen Teller, wie sie sich vor demFeuer durch und durch wärmten und diedunkelroten Gardinen, bereit, Kälte und

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Nacht auszuschließen. Dort liefen alleKinder des Hauses hinaus auf diebeschneite Straße, ihren verheiratetenSchwestern, Brüdern, Vettern, Basen,Onkeln und Tanten entgegen, um siezuerst zu begrüßen. Hier zeigten sich anden Fenstern Schatten versammelterGäste; und dort eine Gruppe hübscherMädchen in Pelzkragen und Pelzstiefeln,alle zugleich redend und mit leichtenSchritten in eines Nachbars Haus eilend.Wehe dem Junggesellen, der sie dort ganzglühend eintreten sah und die kleinenHexen wußten das recht gut! Wenn man nach der Zahl der Leute hätteurteilen wollen, die zu freundschaftlichenBesuchen eilten, hätte man glaubenkönnen, es sei niemand da, sie zubewillkommnen. Aber anstatt dessenerwartete jedes Haus Gäste und in jedemKamine loderte die Flamme. Wie sich der

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Geist freute! wie er seine breite Brustentblößte und seine volle Hand aufthat unddahinschwebte, freigebig seine heitereund harmlose Lust über alles in seinemBereiche ausschüttend! Selbst derLaternenmann, welcher durch die dunklenStraßen rannte, um ihre trüben Nebel mitFlecken Licht zu erhellen und der bereitsangeputzt war, um den Abend irgendwozuzubringen, lachte laut auf, wie der Geistvorüberschwebte. Und jetzt, ohne daß der Geist vorheretwas gesagt hätte, standen sie auf einerkahlen, öden Haide, wo ungeheureFelsblöcke umhergestreut waren, als wärehier eine Begräbnisstätte von Riesen; undWasser breitete sich aus, wo es nur Lusthatte -- oder würde es gethan haben, wennes der Frost nicht gefangen hielt; undnichts wuchs dort, als Moos und Gestrüppund hartes, spitziges Gras. Tief im Westen

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hatte die untergehende Sonne einenStreifen glühenden Rotes gelassen, dereinen Augenblick auf die öde Steppeniederschaute, wie ein zürnendes Augeund immer tiefer und tiefer sank, bis ersich im Dunkel der tiefsten Nacht verlor. »Was ist das für ein Ort?« frug Scrooge. »Ein Ort, wo Bergleute in den Tiefen derErde arbeiten,« antwortete der Geist.»Aber sie kennen mich. Sieh!« Ein Licht glänzte aus dem Fenster einerHütte und sie schwebten schnell darauf zu.Hier fanden sie eine fröhliche Gesellschaftum ein wärmendes Feuer sitzen. Ein alter,alter Mann und eine greise Frau mit ihrenKindern und Enkeln und Urenkeln, alle infestlichen Kleidern. Der Alte sang miteiner Stimme, die nur selten das Heulendes Windes auf der Einöde übertönte, ein

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Weihnachtslied; es war schon ein sehraltes Lied gewesen, als er noch ein Knabewar; und von Zeit zu Zeit fielen sie alle imChore ein. Und stets wie ihre Stimmenertönten, wurde der Alte lebendig undlaut; und immer, wie sie aufhörten, sankseine Kraft wieder. Der Geist verweilte hier nicht, sondernbefahl Scrooge, sich an sein Gewand zuhalten. Sie schwebten über die Oede, aberwohin? doch nicht aufs Meer? Aufs Meer!Zu seinem Schrecken sah Scrooge hintersich das Land verschwinden; und sein Ohrwurde betäubt von dem Donner derWogen, wie sie unter den grausendenHöhlen, welche sie genagt hatten, heultenund brüllten und wüteten und mit wildemGrimm die Erde zu unterwühlentrachteten. Auf einer einsamen, halb im Wasser

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versunkenen Klippe, wohl eine Meile vomLande, stand ein einsamer Leuchtturm. Dasganze öde Jahr hindurch schäumten undtosten um ihn die Wogen. Große Haufenvon Seegras umgaben seinen Fuß undSturmvögel -- geboren vom Winde, konnteman glauben, wie Seegras von den Wellen-- hoben sich und senkten sich um seineSpitze, wie die wogenden Wellen unten,über die sie segelten. Aber selbst hier hatten die zweiTurmwächter ein Feuer angezündet,welches durch das Guckloch in derdicken, steinernen Mauer einenhellglänzenden Streifen auf die nächtlicheSee hinauswarf. Die harten Hände sichüber den Tisch hinreichend, an dem siesaßen, wünschten sie sich eine fröhlicheWeihnacht und stießen mit denGroggläsern darauf an; und einer derbeiden, der Aeltere noch dazu, mit einem

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Gesicht von Sturm und Wetter gebräuntund gefurcht, wie das Gallionbild einesalten Schiffes, stimmte ein kräftiges Liedan, das wie ein Sturmwind schallte. Wieder schwebte der Geist über diedunkelwogende See dahin, immer weiterund weiter, bis sie, fern von jeder Küste,wie der Geist zu Scrooge sagte, auf einemSchiffe niedersanken. Sie standen nebendem Steuermann an dem Rade, demAusgucker vorn, neben den Offizieren,welche die Wacht hatten. Wie dunkle,gespenstische Gestalten standen diese aufihrem Posten, aber jeder von ihnensummte ein Weihnachtslied, oder hatteeinen Weihnachtsgedanken, oder sprachleise zu seinen Kameraden von einemfrüheren Weihnachtsabend undheimatlichen Hoffnungen, die sich daranknüpften. Und jeder einzelne an Bord,wachend oder schlafend, gut oder

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schlecht, hatte an diesem Tage einherzlicheres Wort für seine Kameradengehabt, als an jedem andern Tag desJahres, und wenigstens einigermaßen ihngefeiert; und hatte an die gedacht, die sichjetzt seiner in der Ferne erinnerten undhatte gewußt, daß sie jetzt seinerfreundlich gedachten. Eine große Ueberraschung war es fürScrooge, während er dem Stöhnen desWindes lauschte und nachdachte, wieschauerlich es doch sei, durch die ödeNacht über einen unbekannten Abgrund,der Geheimnisse barg, so tief wie der Tod,zu schiffen; eine große Ueberraschungwar es für Scrooge, sagte ich, plötzlich einherzliches Lachen zu vernehmen. Nochgrößer war Scrooges Ueberraschung, alser darin das Lachen seines eigenen Neffenerkannte und sich in einem hellen,behaglich warmen Zimmer wiederfand,

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während der Geist an seiner Seite standund mit beifälligem, mildem Lächeln aufdiesen selbigen Neffen herabblickte. »Haha!« lachte Scrooges Neffe. »Hahaha!« Wenn durch einen sehrunwahrscheinlichen Zufall jemand einenMenschen kennt, der sich glücklicherfühlt, zu lachen, als Scrooges Neffe, sokann ich nur sagen, ich möchte ihn auchkennen. Stellt mich ihm vor und ich werdeseine Freundschaft kultivieren. Es ist doch eine gerechte und schöneAnordnung, daß, wie Krankheit undKummer ansteckend sind, auch in derganzen weiten Welt nichts sounwiderstehlich ansteckend ist, wieLachen und Fröhlichkeit. Wie Scrooges Neffe lachte und sich den

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Bauch hielt und mit dem Kopfe wackelteund die allermerkwürdigsten Gesichterschnitt, lachte Scrooges Nichte (durchHeirat) so herzlich wie er. Und dieversammelten Freunde, nicht faul, fielen inden Lachchor ein. »Haha! Haha! Haha!« »Er sagte, Weihnachten wäre dummesZeug, so wahr ich lebe,« rief ScroogesNeffe. »Er glaubt es auch.« »Die Schande ist um so größer für ihn,Fritz,« sagte Scrooges Nichte entrüstet.Gott segne die Frauen! Sie thun nie etwashalb. Sie sind immer in vollem Ernste. Sie war hübsch, sehr hübsch. Sie hatte einliebliches, schelmisches Gesicht; einenfrischen kleinen Mund, der zum Küssengeschaffen schien -- wie er es ohne Zweifel

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auch war; alle Arten lieber kleinerGrübchen um das Kinn, welche ineinanderflossen, wenn sie lachte; und dassonnenhellste Paar Augen, welches jeerblickt wurde. Ja, sie war reizend,liebenswürdig, hinreißend. »Es ist ein komischer alter Kerl,« sagteScrooges Neffe, »das ist wahr; und nicht soangenehm, wie er sein könnte, doch seineFehler bestrafen sich selbst und ich habeihn nicht zu tadeln.« »Er muß sehr reich sein, Fritz,« meinteScrooges Nichte. »Wenigstens sagst du esimmer.« »Was geht das uns an, Liebe!« sagteScrooges Neffe. »Sein Reichtum nützt ihmnichts. Er thut nichts Gutes damit. Er machtsich nicht einmal selbst das Leben damitangenehm. Er hat nicht das Vergnügen, zu

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denken -- hahaha -- daß er uns am Endedamit eine Freude machen wird.« »Ich habe keine Geduld mit ihm,«bemerkte Scrooges Nichte. Die Schwestervon Scrooges Nichte und all die anderenDamen waren derselben Meinung. »O, ich habe Geduld,« sagte ScroogesNeffe. »Mir thut er leid; ich könnte nichtbös auf ihn werden, selbst wenn ich'sversuchte. Wer leidet unter seiner bösenLaune? Er selber, weiter niemand. Jetzt hater sich in den Kopf gesetzt, uns nichtleiden zu können und will nicht unsereEinladung zum Mittagsessen annehmen.Was ist die Folge davon? Er verliert nichtviel an unserm Essen.« »Nun, ich meine, er verliert ein sehr gutesEssen,« unterbrach ihn Scrooges Nichte.Die anderen sagten dasselbe und man

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konnte ihnen die Kompetenz nichtbestreiten, weil sie eben zu essenaufgehört hatten und jetzt bei dem Dessertbei Lampenlicht um den Kamin saßen. »Nun, es freut mich, das zu hören,« sagteScrooges Neffe, »weil ich kein großesVertrauen in diese jungen Hausfrauenhabe. Was sagen Sie dazu, Topper?« Ganz klärlich war's, Topper hatte einAuge auf eine der Schwestern vonScrooges Nichte geworfen, denn erantwortete, ein Hagestolz sei einunglücklicher, heimatloser Mensch, derkein Recht habe, eine Meinung überdiesen Gegenstand auszusprechen; beiwelchen Worten die Schwester vonScrooges Nichte -- die Dicke mit demSpitzenkragen, nicht die mit der Rose imHaar -- rot wurde.

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»Weiter, weiter, Fritz!« sagte ScroogesNichte, in die Hände klatschend. »Erbringt nie zu Ende, was er angefangen hat!Er ist ein so närrischer Kerl.« Scrooges Neffe schwelgte in einemandern Gelächter, und es war unmöglich,sich von der Ansteckung fern zu halten,obgleich die dicke Schwester es sogar mit=quatre voleurs= versuchte: sein Beispielwurde einstimmig nachgeahmt. »Ich wollte nur sagen,« sagte ScroogesNeffe, »daß die Folge seines Mißfallens anuns und seiner Weigerung, mit unsfröhlich zu sein, die ist, daß er einigeangenehme Augenblicke verliert, welcheihm nicht schaden würden. Gewiß verlierter angenehmere Unterhaltung, als ihmseine eigenen Gedanken in seinemdumpfigen alten Comptoir oder in seinerWohnung geben. Ich denke ihm jedes Jahr

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die Gelegenheit dazu zu geben, ob es ihmnun gefällt oder nicht, denn er dauertmich. Er mag auf Weihnachten schimpfen,bis er stirbt, aber er muß doch endlichbesser davon denken, wenn er mich jedesJahr in guter Laune zu ihm kommen sieht,mit den Worten: Onkel Scrooge, wiebefinden Sie sich? Wenn es ihm nur denGedanken eingiebt, seinem armen Dienerfünfzig Pfund zu hinterlassen, so ist dasdoch wenigstens etwas; und ich glaube,ich packte ihn gestern.« Es war jetzt an ihnen die Reihe zu lachen,bei dem Gedanken, daß er Scroogegepackt hätte. Aber da er durch und durchgutmütig war und sich nicht sehr darumkümmerte, über was sie lachten, wenn sienur überhaupt lachten, so fiel er in ihreFröhlichkeit ein und ließ die Flaschemunter herum gehen.

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Nach dem Thee war Musik. Denn siewaren eine musikalische Familie undwußten, was sie thaten, wenn sie einenGlee oder Catch sangen, darauf könnt ihreuch verlassen, vorzüglich Topper, derden Baß brummen konnte nach Noten,ohne daß die großen Adern auf der Stirnanschwollen, oder sein Gesicht rot wurde.Scrooges Nichte spielte die Harfe rechtgut; und spielte unter anderen Stückenauch ein kleines Liedchen (ein bloßesNichts, ihr hättet es in zwei Minuten pfeifengelernt), welches das Kind, von demScrooge aus der Schule geholt wordenwar, wie ihn der Geist der vergangenenWeihnachten gezeigt hatte, oft gesungenhatte. Als Scrooge dieses Liedchen hörte,trat alles, was ihm der Geist gezeigt hatte,wieder vor seine Seele; er wurde weicherund weicher und dachte, wenn er es vorJahren oft hätte hören können, so hätte erdie gemütlichen Seiten des Lebens

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genießen können, ohne erst zu desTotengräbers Spaten, der Jakob Marleybegraben, seine Zuflucht nehmen zumüssen. Aber sie widmeten nicht den ganzenAbend der Musik. Nach einer Weile fingensie Pfänderspiele an, denn es ist gutzuweilen Kind zu sein und vorzüglich zuWeihnachten, als der Gründer diesesFestes selbst ein Kind war. Doch halt, erstspielten sie noch Blindekuh. Und ichglaube ebensowenig, daß Topper wirklichblind war, als ich glaube, er hätte Augen inseinen Stiefeln gehabt. Ich vermute, es warzwischen ihm und Scrooges Neffenabgekartet und der Geist der heurigenWeihnacht wußte es. Die Art, wie er diedicke Schwester in dem Spitzenkragenverfolgte, war eine Beleidigung dermenschlichen Leichtgläubigkeit. Wo sieging, ging er auch, die Feuereisen

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umstoßend, über Stühle stolpernd, an dasPiano anrennend, sich in den Gardinenverwirrend. Immer wußte er, wo die dickeSchwester war. Wenn jemand gegen ihngefallen wäre, wie einige thaten, oder sichvor ihn hingestellt hätte, würde er gethanhaben, als bemühe er sich, ihn zuergreifen, wäre aber augenblicklichumgekehrt, der dicken Schwester nach.Sie rief oft, das sei nicht ehrlich undwirklich war es das auch nicht. Aberendlich hatte er sie gefunden und trotzihres Sträubens sperrte er sie in eine Ecke,wo keine Flucht möglich war; und dawurde seine Aufführung ganz abscheulich.Denn sein Vorgeben, er kenne sie nicht: ermüsse ihren Kopfputz anfassen und, um siezu erkennen, einen gewissen Ring aufihrem Finger und eine gewisse Kette umihren Hals befühlen, war ganz, ganzabscheulich! Und gewiß sagte sie ihmauch ihre Meinung darüber, denn als ein

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anderer Blinder an der Reihe war, warensie hinter den Gardinen sehr vertrautmiteinander. Scrooges Nichte nahm nicht mit an demBlindekuhspiele teil, sondern saßgemütlich in einer traulichen Ecke ineinem Lehnstuhle mit einemFußbänkchen, und der Geist und Scroogestanden dicht hinter ihr. Aber Pfänderspielte sie mit und liebte ihre Liebe mitallen Buchstaben des Alphabets zurBewunderung. Auch in dem Spiele: Wie,wenn und wo, war sie sehr stark und stelltezur geheimen Freude von Scrooges Neffenihre Schwestern gar sehr in Schatten,obgleich sie auch ganz gescheite Mädchenwaren, wie uns Topper hätte sagenkönnen. Es mochten ungefähr zwanzigPersonen da sein, junge und alte, aber siespielten alle und auch Scrooge spielte mit;denn in seiner Teilnahme an dem

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Geschehenen ganz vergessend, daß ihnenseine Stimme nicht hörbar war, sagte er oftseine Antwort auf die Fragen ganz laut undriet auch oft ganz richtig. Dem Geiste gefiel es sehr, ihn in dieserLaune zu sehen und er blickte ihn sofreundlich an, daß Scrooge wie ein Knabeihn bat, noch warten zu dürfen, bis dieGäste fortgingen. Aber der Geist sagte,dies könne nicht geschehen! »Es fängt ein neues Spiel an,« sagteScrooge. »Nur eine einzige halbe Stunde,Geist.« Es war ein Spiel, was man Ja und Neinnennt, wo Scrooges Neffe sich etwas zudenken hatte und die anderen erratenmußten: was; auf ihre Fragen brauchte erbloß mit Ja oder Nein zu antworten. Dieschnell aufeinander folgenden Fragen, die

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ihm vorgelegt wurden, stellten heraus,daß er sich ein Tier dachte, ein lebendigesTier, ein häßliches Tier, ein wildes Tier,ein Tier, das zuweilen brummte undzuweilen sprach und in London sichaufhielt und in den Straßen herumlief undnicht für Geld gezeigt und nichtherumgeführt würde und nicht in einerMenagerie sei und nicht geschlachtetwerde, und weder ein Pferd, noch einEsel, noch eine Kuh, noch ein Ochs, nochein Tiger, noch ein Hund, noch einSchwein, noch eine Katze, noch ein Bär sei.Bei jeder neuen Frage, die ihm gestelltwurde, brach Scrooges Neffe von neuemin ein Gelächter aus und konnte gar nichtwieder heraus kommen, so daß er vomSofa aufstehen und mit den Füßenstampfen mußte. Endlich rief die dickeSchwester mit einem ebensounauslöschlichen Gelächter: »Ich habe es,ich weiß es, Fritz, ich weiß es.«

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»Was ist es?« rief Fritz. »Es ist Onkel Scrooge.« Und der war es auch. Bewunderung wardas allgemeine Gefühl, obgleich einigemeinten, die Frage: ist es ein Bär? hättemüssen mit Ja beantwortet werden, denneine verneinende Antwort sei schonhinreichend gewesen, ihre Gedanken vonScrooge abzubringen, selbst wenn sie aufdem Wege zu ihm gewesen wären. »Nun, er hat uns Freude genug gemacht,«sagte Fritz, »und so wäre es undankbar,nicht seine Gesundheit zu trinken. Hier istein Glas Glühwein dazu bereit. Es lebeOnkel Scrooge!« »Es lebe Onkel Scrooge!« riefen sie alle.

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»Eine fröhliche Weihnacht und einglückliches Neujahr dem Alten, wie erimmer sein möge!« sagte Scrooges Neffe.»Er wollte den Wunsch nicht von mirannehmen, aber er soll ihn doch haben.« Onkel Scrooge war unmerklich sofröhlich und leichtherzig geworden, daßer der von seiner Gegenwart nichtswissenden Gesellschaft ihren Toasterwidert und ihr mit einer unhörbarenRede gedankt haben würde, wenn derGeist ihm Zeit gelassen hätte. Aber allesverschwand in dem Hauche von demletzten Worte des Neffen und er und derGeist waren wieder unterwegs. Sie gingenweit und sahen viel und besuchtenmanchen Herd, aber immer spendeten sieGlück. Der Geist stand neben Kranken,und sie wurden heiter und hoffend; nebenWandernden in fernen Ländern und sieträumten von der Heimat; neben solchen,

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die mit dem Leben rangen, und sie harrtengeduldig aus; neben Armen, und siewaren reich. Im Armenhause und imLazarette, im Kerker und in jedemZufluchtsorte des Jammers, wo der Menschin seiner kurzen ärmlichen Herrschaft demGeiste die Thür verschlossen hatte,spendete er seinen Segen und lehrteScrooge seine Weise. Es war eine lange Nacht, wenn es nureine Nacht war; aber Scrooge zweifeltedaran, denn die Weihnachtsfeiertageschienen in die Zeit, die sie miteinanderzubrachten, zusammengedrängt zu sein.Es war auch sonderbar, daß währendScrooge äußerlich ganz unverändertblieb, der Geist offenbar älter wurde.Scrooge hatte diese Veränderungbemerkt, aber sprach nie davon, bis sievon einer Kinderweihnachtsgesellschaftweggingen, wo er bemerkte, daß des

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Geistes Haar grau geworden war. »Ist das Leben der Geister so kurz?«fragte Scrooge. »Mein Leben auf dieser Erde ist sehrkurz,« sagte der Geist, »es endet nochdiese Nacht.« »Diese Nacht noch!« rief Scrooge. »Heute um Mitternacht. Horch, die Zeitnahet.« Die Glocke schlug drei Viertel auf Zwölf. »Vergieb mir, wenn ich nicht recht thue,zu fragen,« sagte jetzt Scrooge, scharf aufdes Geistes Gewand blickend, »aber ichsehe etwas Seltsames, was nicht zu dirgehört, unter deinem Mantelhervorblicken. Ist es ein Fuß oder eine

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Klaue?« »Nach dem wenigen Fleisch, was daraufist, könnte es wohl eine Klaue sein,« gabder Geist traurig zur Antwort. »Sieh' hier.« Aus den weiten Falten seines Gewandeshervor erschienen jetzt zwei Kinder: elend,abgemagert, häßlich undjammererregend. Sie knieten vor ihmnieder und hielten sich fest an den Saumseines Gewandes. »O, Mensch, sieh' hier. Sieh' hier, sieh'hier!« rief der Geist. Es war ein Knabe und ein Mädchen. Gelb,elend, zerlumpt und mit wildem,tückischem Blick; aber doch demütig. Wodie Schönheit der Jugend ihre Züge hätte

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füllen und mit ihren frischesten Farbenkleiden sollen, hatte eine runzlige,abgelebte Hand, gleich der des Alters, sieberührt und versehrt. Wo Engel hättenthronen können, lauerten Teufel mitgrimmigem, drohendem Blick. KeineVeränderung, keine Entwürdigung derMenschheit in allen Geheimnissen derSchöpfung hat so schreckliche undgrauenerregende Ungeheuer aufzuweisen. Scrooge fuhr entsetzt zurück. Da sie ihmder Geist auf diese Weise gezeigt hatte,versuchte er zu sagen, es wären schöneKinder, aber die Worte erstickten sichselbst, um nicht teilzuhaben an einer soungeheuren Lüge. »Geist, sind das deine Kinder?« Scroogekonnte weiter nichts sagen. »Es sind des Menschen Kinder,« sagte

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der Geist, auf sie herabschauend. »Und siehängen sich an mich, vor mir ihre Väteranklagend. Dieses Mädchen ist dieUnwissenheit. Dieser Knabe ist derMangel. Nimm sie beide wohl in acht, abervor allem diesen Knaben, denn auf seinerStirn seh' ich geschrieben, was Verhängnisist, wenn die Schrift nicht verlöscht wird.Leugnet es,« rief der Geist, seine Handnach der Stadt ausstreckend. »Verleumdetdie, welche es euch sagen! Gebt es zu umeurer Parteizwecke willen und macht esnoch schlimmer! Und erwartet das Ende!« »Haben sie keine Stütze, keinenZufluchtsort?« rief Scrooge. »Giebt es keine Gefängnisse?« sagte derGeist, das letzte Mal seine eigenen Wortegegen ihn gebrauchend. »Giebt es keineArmenhäuser?«

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Die Glocke schlug Zwölf. Scrooge sah sich nach dem Geiste um,aber er war verschwunden. Wie der letzteSchlag verklungen war, erinnerte er sichan die Vorhersagung des alten JakobMarley und die Augen erhebend, sah erein grauenerregendes, tief verhülltesGespenst auf sich zukommen, wie einNebel auf den Boden hinrollt.

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Viertes Kapitel. Der letzte der drei Geister. Die Erscheinung kam langsam, feierlichund schweigend auf ihn zu. Als sie nähergekommen war, fiel Scrooge auf die Knieenieder, denn selbst die Luft, durch die sichder Geist bewegte, schiengeheimnisvolles Grauen zu verbreiten. Die Erscheinung war in einen schwarzen,weiten Mantel verhüllt, der nichts von ihrsichtbar ließ, als eine ausgestreckte Hand.Wenn diese nicht gewesen wäre, würde esschwer gewesen sein, die Gestalt von derNacht zu trennen, welche sie umgab. Als sie neben ihm stand, fühlte er, daß siegroß und stattlich war und daß ihregeheimnisvolle Gegenwart ihn mit einem

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feierlichen Grauen erfüllte. Er wußteweiter nichts, denn der Geist sprach undbewegte sich nicht. »Ich stehe vor dem Geiste derzukünftigen Weihnachten?« fragteScrooge. Der Geist antwortete nicht, sondern wiesmit der Hand auf die Erde. »Du willst mir die Schatten der Dingezeigen, welche nicht geschehen sind, abergeschehen werden,« fuhr Scrooge fort.»Willst du das, Geist?« Der obere Teil der Verhüllung legte sichauf einen Augenblick in Falten, als ob derGeist sein Haupt neigte; dies war dieeinzige Antwort, welche Scrooge erhielt. Obgleich so ziemlich an gespenstische

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Gesellschaft gewöhnt, fürchtete sichScrooge vor der stummen Erscheinungdoch so sehr, daß seine Kniee wanktenund er kaum noch stehen konnte, als ersich bereit machte, ihr zu folgen. Der Geiststand für einen Augenblick still, alsbemerkte er seine Furcht und wollte ihmZeit geben, sich zu erholen. Aber Scrooge befand sich dadurch nochschlechter. Ein vages, unbestimmtesGrausen durchbebte ihn bei demGedanken, hinter diesem schwarzenSchleier hefteten sich gespenstischeAugen fest auf ihn, während er, obgleicher seine Augen aufs äußerste anstrengte,doch nichts sehen konnte als einegespenstische Hand und eine große,schwarze Faltenmasse. »Geist der Zukunft,« rief er, »ich fürchtedich mehr als die Geister, die ich schon

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gesehen habe. Aber da ich weiß, daß esdein Zweck ist, mir Gutes zu thun, und daich hoffe zu leben, um ein anderer Menschzu werden, als ich früher war, bin ichbereit, dich zu begleiten und thue es miteinem dankerfüllten Herzen. Willst dunicht zu mir sprechen?« Die Gestalt gab ihm keine Antwort. DieHand wies gerade in die Ferne vor ihn. »Führe mich,« sagte Scrooge. »Führemich, die Nacht schwindet schnell und dieZeit ist kostbar für mich. Führe mich,Geist.« Die Erscheinung bewegte sich von ihmweg, wie sie auf ihn zugekommen war.Scrooge folgte dem Schatten ihresGewandes, welcher, schien es ihm, ihnerhob und von dannen trug.

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Kaum war es, als ob sie in die City träten;denn die City schien mehr rings um sie indie Höhe zu wachsen und sie zu umstellen.Aber sie waren doch im Herzen derselben,auf der Börse unter den Kaufleuten, welchehin und her eilten, mit dem Gelde in ihrenTaschen klimperten, in Gruppenmiteinander sprachen, nach der Uhrblickten und gedankenvoll mit dengroßen, goldenen Siegeln daran spielten,wie Scrooge es oft gesehen hatte. Der Geist blieb bei einer GruppeKaufleute stehen. Scrooge sah, daß dieHand der Erscheinung darauf hinwies, undso näherte er sich ihnen, um ihr Gesprächzu belauschen. »Nein,« sagte ein großer, dicker Mannmit einem ungeheuern Unterkinn, »ichweiß nicht viel davon zu sagen. Ich weißnur, daß er tot ist.«

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»Wann starb er?« frug ein anderer. »Vorige Nacht, glaub' ich.« »Nun, wie geht das zu?« fragte ein Dritter,eine große Prise aus einer sehr großenDose nehmend. »Ich glaubte, er würde niesterben.« »Weiß Gott, wie es zugeht,« sagte derErste gähnend. »Was hat er mit seinem Geldeangefangen?« fragte ein Herr mit einemroten Gesicht und einem Auswuchs an derNasenspitze, welcher wackelte, wie derLappen eines Truthahns. »Ich habe nichts davon gehört,« sagte derMann mit dem großen Unterkinn,abermals gähnend. »Hat es wahrscheinlich

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seiner Gilde hinterlassen. Mir hat er's nichtvermacht. Das weiß ich.« Dieser anmutige Scherz wurde mit einemallgemeinen Gelächter aufgenommen. »Es wird wohl ein sehr billiges Begräbniswerden,« fuhr derselbe Sprecher fort;»denn so wahr ich lebe, ich kenneniemand, der mitgehen sollte. Wenn wirnun zusammenträten und freiwilligmitgingen?« »Ich thue mit, wenn für ein Lunch gesorgtwird,« bemerkte der Herr mit demAuswuchse an der Nasenspitze. »Aber ichmuß traktiert werden, wenn ich dabei seinsoll.« Ein neues Gelächter. »Nun da bin ich doch wohl der

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Uneigennützigste von euch,« sagte dererste Sprecher, »denn ich trage nieschwarze Handschuhe und esse nie Lunch.Aber ich gehe mit, wenn sich noch anderefinden. Wenn ich mir's recht überlege, warich am Ende sein vertrautester Freund;denn wir blieben stehen und sprachenmiteinander, wenn wir uns auf der Straßetrafen. Guten Morgen, guten Morgen!« Sprecher und Zuhörer gingen fort undmischten sich unter andere Gruppen.Scrooge kannte die Leute und sah denGeist mit einem fragenden Blicke an. Die Erscheinung schwebte weiter auf dieStraße. Ihre Hand wies auf zwei sich begegnendePersonen. Scrooge hörte wieder zu, in der Hoffnung,

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hier die Erklärung zu finden. Auch diese Leute kannte er recht gut. Eswaren Kaufleute, sehr reich und vongroßem Ansehen. Er hatte sich immerbestrebt, sich in ihrer Achtung zu erhalten,das heißt in Geschäftssachen, bloß inGeschäftssachen. »Wie geht's?« sagte der eine. »Wie geht's Ihnen?« sagte der andere. »Gut,« sagte der Erste. »Der alte Geizhalsist endlich tot, wissen Sie es?« »Ich hörte es,« erwiderte der Zweite. »'sist kalt, nicht?« »Wie sich's zu Weihnachten paßt. Sie sindwohl kein Schlittschuhläufer?«

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»Nein, nein. Habe an andere Sachen zudenken. Guten Morgen!« Kein Wort weiter. So trafen sie sich, soschieden sie. Scrooge war erst zu staunen geneigt, daßder Geist auf anscheinend sounbedeutende Gespräche ein Gewicht zulegen schien; aber sein Gefühl sagte ihm,daß sie eine verborgene Bedeutung habenmüßten und er dachte nach, was wohldiese sein möge. Sie konnten sich nicht aufden Tod Jakobs, seines altenCompagnons, beziehen, denn der gehörteder Vergangenheit an, und sein Führerwar der Geist der Zukunft. Auch konnte ersich niemand von den ihn näherAngehenden denken, auf den er sie hättebeziehen können. Aber in der Gewißheit,daß, auf wen sie sich auch beziehenmöchten, doch für ihn eine wichtige Lehre

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darin liege, beschloß er, jedes Wort, daser hörte und jede Scene, die er sah, treu inseinem Herzen aufzubewahren, undvorzüglich seinen Schatten zu beobachten,wenn er erschien. Denn er erwartete vondem Benehmen seines zukünftigen Selbstdie vermißte Aufklärung und die Lösungder Rätsel, die ihm jetzt so schwierigschien. Schon auf der Börse schaute er sich nachseinem Selbst um; aber ein anderer standin seiner gewohnten Ecke und obgleichdie Uhr auf die Stunde wies, wo ergewöhnlich dort war, sah er sich dochauch nicht unter den Scharen, welchedurch den Eingang sich herein drängten.Das überraschte ihn jedoch wenig, denner hatte schon lange daran gedacht, seinGeschäft aufzugeben und glaubte undhoffte, in diesen Erscheinungen diekünftige Verwirklichung seines Planes zu

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sehen. Reglos und schwarz stand neben ihm dasGespenst mit seiner ausgestreckten Hand.Als er wieder von seiner nachdenklichenStellung aufblickte, glaubte er nach derRichtung der Hand, daß die unsichtbarenAugen sich starr auf ihn hefteten. Bei demGedanken überlief ihn ein kalter Schauer. Sie verließen die geschäftige Umgebungund gingen in einen abgelegenen Teil derStadt, wo Scrooge nie vorher gewesenwar, dessen Lage und schlechten Ruf eraber kannte. Die Straßen waren schmutzigund eng und krumm; die Läden undHäuser ärmlich; die Menschen halbnackt,betrunken, barfuß, häßlich. Gäßchen undThorwege, wie ebensoviele Kloaken,strömten abscheuerregende Gerüche undSchmutz und Menschen in die Straßen; unddas ganze Viertel schien erfüllt von

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Verbrechen, von Schmutz und von Elend. In einem der tiefsten Winkel diesesZufluchtsortes der Sünde und der Schmachwar ein niedriger, dunkler Laden untereinem Wetterdache, wo Eisen, Lampen,Flaschen, Knochen und schmierige Abfällealler Art verkauft wurden. Auf demFußboden drinnen lag ein Haufenverrosteter Schlüssel, Nägel, Ketten,Thürangeln, Feilen, Wagen, Gewichte undaltes Eisen aller Art. Geheimnisse, nachderen Enträtselung wenige verlangenwürden, wurden erzeugt und verborgen inBergen widriger Lumpen, Massenverdorbenen Fettes und ganzenBeinhäusern von Knochen. Mitten unterden Waren, mit denen er handelte, saßneben einem aus alten Ziegelnzusammengesetzten Ofen eingrauhaariger, fast siebzigjähriger Schelm,der sich vor der Kälte draußen durch

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einen bauschigen Vorhang von allerleiLumpen, auf eine Leine gehängt, geschützthatte und seine Pfeife im Vollgenusse desBehagens rauchte. Scrooge und die Erscheinung tratenneben diesen Mann, gerade wie eine Fraumit einem schweren Bündel in den Ladenschlich. Aber sie war kaum eingetreten,als eine zweite Frau, auch mit einemBündel, ihr nachkam; und auf diese folgtedicht ein Mann in altem, abgetragenemschwarzen Anzuge, der nicht weniger vonihrem Anblick erschrocken war, als sie voreinander erschrocken waren. Nacheinigen Augenblicken sprachlosenStaunens, an dem der Alte mit der Pfeifeteilgenommen hatte, brachen sie alle dreiin ein lautes Gelächter aus. »Sage jemand, die Leichenwäscherinwürde die Erste sein,« sagte die zuerst

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Eingetretene. »Sage jemand, die Wärterinwürde die Zweite sein; und nenne jemanddes Leichenbesorgers Gehilfen denDritten. Schau', alter Joe, wie sich das fügt!ob wir uns nicht alle drei hier getroffenhaben, ohne daß wir's wollten.« »Ihr hättet euch an keinem besseren Ortetreffen können,« sagte der alte Joe, diePfeife aus dem Munde nehmend. »Kommtin das Staatszimmer. Ihr habt schon seitlange das Bürgerrecht dort, das wißt ihr;und die anderen zwei sind auch keineFremden. Wartet, bis ich die Ladenthürzugemacht habe. O, wie sie knarrt! ichglaube, es giebt kein so rostiges StückEisen in dem ganzen Laden, als dieThürangeln; und ich weiß, es giebt keineso alten Knochen hier, wie meine. Haha,wir passen alle zu unserm Geschäft.Kommt ins Staatszimmer.«

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Das Staatszimmer war der Raum hinterdem Lumpenvorhange. Der Alte scharrtedas Feuer mit einem alten Rouleaustabezusammen, schob den Docht seinerrauchigen Lampe, denn es war Abend, mitdem Stiele seiner Pfeife in die Höhe undsteckte diese wieder in den Mund. Während er so beschäftigt war, warf diezuerst eingetretene Frau ihr Bündel aufden Boden und setzte sich mitkokettierender Frechheit auf einen Stuhl,dann legte sie die Hände auf die Kniee undsah die beiden andern mit kühnem Trotzan. »Nun, was ist da für ein Unterschied, Mrs.Dilber? Jeder hat das Recht, für sich zusorgen. Er that es immer.« »Das ist wahr,« sagte die Wärterin.»Keiner that es mehr.«

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»Nun, warum guckt ihr euch da einanderan, als fürchtetet ihr euch? Wer ist derKlügere? Wir wollen doch nicht einanderdie Augen aushacken, denk' ich!« »Nein, gewiß nicht,« sagten Mrs. Dilberund der Mann zusammen. »Wir wollen esnicht hoffen.« »Nun gut denn,« rief die Frau, »das istgenug. Wem schadet's, wenn wir so einpaar Sachen mitnehmen, wie die hier?Einer Leiche gewiß nicht!« »Nein, gewiß nicht,« sagte Mrs. Dilberlachend. »Wenn er sie, wie ein alter Geizhals, nochnach dem Tode behalten wollte,« fuhr dieFrau fort, »warum war er während seinesLebens nicht besser? Wenn er's gewesen

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wäre, würde jemand um ihn gewesen sein,als er starb, statt daß er allein seinenletzten Atem fahren lassen mußte.« »Es ist das wahrste Wort, was jegesprochen worden,« sagte Mrs. Dilber. »Es ist ein Gottesgericht.« »Ich wollte, es wäre ein bißchenschwerer ausgefallen,« sagte die Frau;»und es wär's auch, verlaßt euch drauf,wenn ich mehr hätte kriegen können.Mache das Bündel auf, Joe, und sag' mir,was es wert ist. Sprich gerade heraus. Ichfürchte mich nicht, die Erste zu sein, noches ihnen sehen zu lassen. Wir wußten gutgenug, daß wir für uns sorgten, ehe wiruns hier trafen. 's ist keine Sünde. Mach'das Bündel auf, Joe.« Aber die Galanterie ihrer Freunde wollte

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das nicht erlauben; und der Mann in demabgetragenen schwarzen Rock brachteseine Beute zuerst. Es war nicht viel daran.Ein oder zwei Siegel, ein silberner Bleistift,ein paar Hemdknöpfe und eine Broschevon geringem Werte, war alles. Siewurden von dem alten Joe untersucht undabgeschätzt, worauf er die Summe, welcheer für jedes bezahlen wollte, an die Wandschrieb und zusammenrechnete, wie erfand, daß nichts mehr kam. »Das ist Eure Rechnung,« sagte Joe, »undich gebe keinen Sixpence mehr und wennich in Stücke gehauen werden sollte. Werkommt jetzt?« Mrs. Dilber war die Nächste. Sie hatteBett- und Handtücher, einigeKleidungsstücke, zwei altmodischesilberne Theelöffel, eine Zuckerzange undeinige Paar Stiefel. Ihre Rechnung wurde

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auf dieselbe Weise an die Wandgeschrieben. »Damen gebe ich immer zu viel. 's istmeine Schwäche und ich richte mich damitzu Grunde,« sagte der alte Joe. »Das istEure Rechnung. Wenn Ihr einen Pfennigmehr haben wolltet und ließet es daraufankommen, so thäte es mir leid, sofreigebig gewesen zu sein und ich zögeeine halbe Krone ab.« »Und nun mach' mein Bündel auf, Joe,«sagte die Erste. Joe kniete nieder, um bequemer dasBündel öffnen zu können, und nachdem ereine große Menge Knoten aufgemachthatte, zog er eine große und schwere Rolleeines dunklen Zeugs heraus. »Was ist das?« sagte Joe. »Bettgardinen.«

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»Ach,« rief das Weib lachend und sichvorbeugend, »Bettgardinen!« »Ihr wollt doch nicht sagen, Ihr hättet sie'runter genommen, wie er dort lag?« sagteJoe. »I, freilich,« sagte das Weib. »Warumnicht?« »Ihr seid geboren, Euer Glück zumachen, und Ihr werdet's auch.« »Ich werde doch wahrhaftig meine Handnicht ruhig einstecken, wenn ich sie nurauszustrecken brauche, um was zukriegen, um so eines Mannes willen, wieder war. Wahrhaftig nicht, Joe,« antwortetedas Weib ruhig. »Laßt kein Oel auf dieBettdecken fallen.«

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»Seine Bettdecke?« fragte Joe. »Von wem soll sie denn sonst sein?«antwortete das Weib. »Er wird auch ohnedies nicht frieren, das behaupte ich.« »Er starb doch nicht etwa an etwasAnsteckendem?« sagte der alte Joe, seineBeschäftigung unterbrechend und sieanblickend. »Das braucht Ihr nicht zu befürchten,«antwortete die Frau. »Ich hatte ihn nicht solieb, daß ich dann bei ihm geblieben wäreum solcher Sachen willen. Ha, Ihr könntdurch das Hemd gucken, bis Euch EureAugen weh thun; Ihr findet kein Loch drinund keine dünne Stelle. Es ist das beste,was er hatte, und fein ist's auch. Siehätten's verdorben, wenn ich nichtgewesen wäre.«

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»Was nennt Ihr, es verderben?« fragteder alte Joe. »Nun, ihm das Hemd in das Grabanziehen, was sonst?« erwiderte die Fraulachend. »Es war jemand Narr genug, es ihmanzuziehen, aber ich zog's ihm wieder aus.Wenn Kattun zu so etwas nicht gut genugist, weiß ich nicht, zu was er sonst gutwäre. Es steht einer Leiche ebenso gut. Erkann nicht häßlicher aussehen, als er indem aussah.« Scrooge hörte das Gespräch mit Grausenan. Wie sie da um ihren Raub herum indem kärglichen Licht der Lampe des Altensaßen, betrachtete er sie mit einem Ekelund einem Abscheu, der nicht größerhätte sein können, wenn es scheußlicheDämonen gewesen wären, die um die

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Leiche selbst feilschten. »Ha, ha!« lachte dieselbe Frau, als deralte Joe, einen alten flanellenenGeldbeutel herauslangend, jedem denPreis des Raubes auf den Fußbodenhinzählte. »Das ist das Ende von derGeschichte, seht ihr! Er scheuchte jedenvon sich, so lange er lebte, um uns zunützen, da er tot ist! Ha, ha, ha!« »Geist,« sagte Scrooge, vom Fuß bis zumScheitel zitternd. »Ich verstehe dich. DasLos dieses Unglücklichen könnte dasmeinige sein. Mein Leben geht jetzt aufdieses Ziel zu. Gnädiger Himmel, was istdas?« Er fuhr entsetzt zurück, denn die Scenehatte sich geändert und er stand dicht voreinem Bett, einem einsamen,unverhangnen Bett, wo unter einer groben

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Decke etwas Verhülltes lag, was, obgleiches stumm war, sich doch ingrausenerregender Sprache nannte. Das Zimmer war sehr finster, zu finster,um etwas genau erkennen zu können,obgleich Scrooge, einem geheimenGefühle gehorchend, sich umschaute, vollBegier, zu wissen, was für ein Zimmer essei. Ein bleiches Licht, welches vondraußen kam, fiel gerade auf das Bett; undauf diesem, geplündert und beraubt,unbewacht und unbeweint, lag die Leichedieses Mannes. Scrooge blickte die Erscheinung an. Ihrereglose Hand wies auf das Haupt desLeichnams. Die Decke war so sorgloszurecht gelegt, daß das geringsteVerschieben, die leiseste Berührung vonScrooges Finger das Antlitz enthüllt hätte.Er dachte daran, fühlte, wie leicht es

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geschehen könnte, und sehnte sich, es zuthun; aber er hatte nicht mehr Macht, dieHülle wegzuziehen, als den Geist an seinerSeite zu entlassen. O, kalter, starrer, schrecklicher Tod, hierrichte deinen Altar auf und umgieb ihn mitden Schrecken, die dir zu Gebote stehen:denn dies ist dein Reich! Aber demgeliebten und verehrten Haupt kannst dukein Haar krümmen, von ihm kannst dukeinen Zug widerlich machen. Nicht weildie Hand schwer ist und herabsinkt, wennman sie fallen läßt, nicht, weil das Herzund der Puls schweigen; sondern weil dieHand offen war und barmherzig, weil dasHerz offen war und warm und gut und derPuls ein menschlicher. Töte, Schatten, töte!Und sieh, wie seine guten Thaten aus derTodeswunde hervorströmen, um in derWelt unsterbliches Leben zu sehen.

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Keine Stimme flüsterte diese Worte inScrooges Ohren, aber doch hörte er sie,wie er auf das Bett blickte. Er dachte,wenn dieser Mann jetzt wieder erwecktwerden könnte, was würde wohl seinerster Gedanke sein? Geiz, Hartherzigkeit,habgierige Sorge. Ein schönes Ziel habensie ihm bereitet! Er lag in dem dunklen leeren Hause undkein Mann, oder Weib, oder Kind war da,um zu sagen, er war gütig gegen mich indem und in jenem, und dieses einengütigen Wortes gedenkend, will ich seinerwarten. Eine Katze kratzte an der Thür unddie Ratten nagten und raschelten unterdem Kamin. Was sie in dem Gemach desTodes wollten und warum sie so unruhigwaren, wagte Scrooge nicht auszudenken. »Geist,« sagte er, »dies ist einschrecklicher Ort. Wenn ich ihn verlasse,

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werde ich nicht seine Lehre vergessen,glaube mir. Laß uns gehen.« Immer noch wies der Geist mit reglosemFinger auf das Haupt der Leiche. »Ich verstehe dich,« antwortete Scrooge,»und ich thäte es, wenn ich könnte. Aberich habe die Kraft nicht dazu, Geist. Ichhabe die Kraft nicht dazu.« Wieder schien der Geist ihn anzublicken. »Wenn irgend jemand in der Stadt ist, derbei dieses Mannes Tod etwas fühlt,« sagteScrooge erschüttert, »so zeige mir ihn,Geist, ich flehe dich darum an.« Die Erscheinung breitete ihren dunklenMantel einen Augenblick vor ihm aus wieeinen Fittich; und wie sie ihn wiederwegzog, sah er ein taghelles Zimmer, in

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dem sich eine Mutter mit ihren Kindernbefand. Sie hoffte auf jemandes Kommen inangstvoller Erwartung; denn sie ging imZimmer auf und ab: erschrak bei jedemGeräusch; sah zum Fenster hinaus; blicktenach der Uhr; versuchte vergebens zuarbeiten; und konnte kaum die Stimmender spielenden Kinder ertragen. Endlich hörte sie das langersehnteKlopfen an der Hausthür und traf, als siehinaussehen wollte, ihren Gatten. SeinGesicht war bekümmert undniedergeschlagen, obgleich er noch jungwar. Es zeigte sich jetzt ein merkwürdigerAusdruck in demselben, eine Art ernsterFreude, deren er sich schämte und die ersich zu unterdrücken bemühte. Er setzte sich zum Essen nieder, das man

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ihm am Feuer aufgehoben hatte; und alssie ihn erst nach langem Schweigen frug,was er für Nachrichten bringe, schien erum die Antwort verlegen zu sein. »Sind sie gut,« sagte sie, »oder schlecht?« »Schlecht,« antwortete er. »Wir sind ganz zu Grunde gerichtet?« »Nein, noch ist Hoffnung vorhanden,Karoline.« »Wenn er sich erweichen läßt,« rief sieerstaunt, »dann ist noch welche da!Ueberall ist noch Hoffnung, wenn einsolches Wunder geschehen ist.« »Für ihn ist es zu spät, sich zu erbarmen,«sagte der Gatte. »Er ist tot!«

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Wenn ihr Gesicht Wahrheit sprach, sowar sie ein mildes und geduldiges Wesen;aber sie war dankbar dafür in ihremHerzen und sagte es mit gefaltetenHänden. Sie bat im nächsten AugenblickGott, daß er ihr verzeihen möge undbereute es; aber das erste war die Stimmeihres Herzens gewesen. »Was mir die halbbetrunkene Fraugestern Abend sagte, als ich ihn sprechenund um eine Woche Aufschub bittenwollte; und was ich nur für eine bloßeEntschuldigung hielt, um michabzuweisen, zeigt sich jetzt als die reineWahrheit. Er war nicht nur sehr krank, erlag schon im Sterben.« »Auf wen wird unsere Schuldübergehen?« »Ich weiß es nicht. Aber vor dieser Zeit

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noch werden wir das Geld haben; undselbst, wenn dies nicht wäre, wäre es eingroßes Mißgeschick in seinem Erbeneinen so unbarmherzigen Gläubiger zufinden. Wir können heute Nacht mitleichterem Herzen schlafen, Karoline.« Ja, sie mochten es verhehlen, wie siewollten, ihre Herzen waren leichter. DieGesichter der Kinder, welche sich still umsie drängten, um zu hören, was sie sowenig verstanden, erhellten sich und allewurden glücklicher durch dieses MannesTod. Das einzige von diesem Ereigniserregte Gefühl, welches ihm der Geistzeigen konnte, war eins der Freude. »Laß mich ein zärtliches, mit dem Todeverbundenes Gefühl sehen,« sagteScrooge, »oder dies dunkle Zimmer,welches wir eben verlassen haben, wirdmir immer vor Augen bleiben.«

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Der Geist führte ihn durch mehrereStraßen, durch die er oft gegangen war;und wie sie vorüber schwebten, hoffteScrooge sich hier und da zu erblicken,aber nirgends war er zu sehen. Sie tratenin Bob Cratchits Haus, dieselbe Wohnung,die sie schon früher besucht hatten, undfanden die Mutter und die Kinder um dasFeuer sitzen. Alles war ruhig, alles war still, sehr still.Die lärmenden kleinen Cratchits saßenstumm, wie steinerne Bilder, in einer Eckeund sahen auf Peter, der ein Buch vor sichhatte. Die Mutter und die Töchter nähten.Aber gewiß waren sie auch still, sehr still. »Und er nahm ein Kind und stellte es inihre Mitte.« Wo hatte Scrooge diese Worte gehört?

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Der Knabe mußte sie gelesen haben, als erund der Geist über die Schwelle traten.Warum fuhr er nicht fort? Die Mutter legte ihre Arbeit auf den Tischund fuhr mit der Hand nach dem Auge. »Die Farbe blendet mich,« sagte sie. Die Farbe? ach, der arme Tiny Tim! »Sie sind jetzt wieder besser,« sagteCratchits Frau. »Die Farbe blendet sie beiLicht und ich möchte den Vater, wenn erheimkommt, nicht sehen lassen, daß ichschwache Augen habe. Es muß bald seineZeit sein.« »Fast schon vorüber,« erwiderte Peter,das Buch schließend. »Aber ich glaube, ergeht jetzt ein wenig langsamer alsgewöhnlich, Mutter.«

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Sie waren wieder sehr still. Endlich sagtesie mit einer ruhigen, heitern Stimme, dienur ein einziges Mal zitterte: »Ich weiß,daß er mit -- ich weiß, daß er mit Tiny Timauf der Schulter sehr schnell ging.« »Und ich auch,« rief Peter. »Oft.« »Und ich auch,« riefen die andern. »Aber er war sehr leicht zu tragen,« fingsie wieder an, fest auf ihre Arbeit sehend,»und der Vater liebte ihn so, daß es keineBeschwerde. Und da kommt der Vater.« Sie eilte ihm entgegen und Bob mit demShawl -- er hatte ihn nötig, der arme Kerl --trat herein. Sein Thee stand bereit und siedrängten sich alle herbei, wer ihm ammeisten helfen könne. Dann kletterten diebeiden kleinen Cratchits auf seine Kniee

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und jedes Kind legte eine kleine Wange andie seine, als wollten sie sagen: kümmeredich nicht so sehr, Vater. Bob war sehr heiter und sprach sehrmunter mit der ganzen Familie. Er besahdie Arbeit auf dem Tische und lobte denFleiß und den Eifer seiner Frau undTöchter. »Sie würden lange vor Sonntagfertig sein,« sagte er. »Sonntag! Du warst also heute dort,Robert!« sagte seine Frau. »Ja, meine Liebe,« antwortete Bob. »Ichwollte, du hättest hingehen können. Eswürde dein Herz erfreut haben, zu sehen,wie grün die Stelle ist. Aber du wirst sie oftsehen. Ich versprach ihm, Sonntagshinzugehen. Mein liebes, liebes Kind!«weinte Bob. »Mein liebes Kind!«

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Er brach auf einmal zusammen. Er konntenicht dafür. Wenn er dafür gekonnt hätte,so wäre er und sein Kind wohl weitervoneinander getrennt gewesen. Er verließ das Zimmer und ging dieTreppe hinauf in ein Zimmer, welches hellerleuchtet und weihnachtsmäßigaufgeputzt war. Ein Stuhl stand dichtneben dem Kinde und man sah, daß vorkurzem jemand dagewesen war. Der armeBob setzte sich nieder, und als er einwenig nachgedacht und sich gefaßt hatte,küßte er das kleine, kalte Gesicht. Er warversöhnt mit dem Geschehenen und gingwieder hinunter ganz glücklich. Sie setzten sich um das Feuer undunterhielten sich; die Mädchen und dieMutter arbeiteten fort. Bob erzählte ihnenvon der außerordentlichen Freundlichkeitvon Scrooges Neffen, den er kaum ein

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einziges Mal gesehen habe. Er habe ihnheute auf der Straße getroffen und wie ergesehen, daß er ein wenigniedergeschlagen aussähe, habe er ihnbefragt, was ihn bekümmere. »Worauf,«sagte Bob, »denn er ist der leutseligstejunge Herr, den ich nur kenne, ich es ihmsagte. Ich bedaure Sie herzlich, Mr.Cratchit, sagte er, und auch Ihre gute Frau.Uebrigens, wie er das wissen kann,möchte ich wissen.« »Was soll er wissen, mein Lieber?« »Nun, daß du eine gute Frau bist,«antwortete Bob. »Jedermann weiß das,« sagte Peter. »Sehr gut bemerkt, mein Junge,« rief Bob.»Ich hoffe, 's ist so. Herzlich bedaure ich,sagte er, Ihre gute Frau. Wenn ich Ihnen

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auf irgend eine Weise behilflich sein kann,sagte er, indem er mir seine Karte gab,das ist meine Wohnung. Kommen Sie nurzu mir. Nun,« rief Bob, »ist es nicht geradeum deswillen, daß er etwas für uns thunkönnte, sondern mehr wegen seinerherzlichen Weise, daß ich mich darüber sofreute. Es schien wirklich, als hätte erunsern Tiny Tim gekannt und fühlte mituns.« »Er ist gewiß eine gute Seele,« sagte Mrs.Cratchit. »Du würdest das noch sicherer glauben,Liebe,« antwortete Bob, »wenn du ihnsähest und mit ihm sprächest. Es solltemich gar nicht wundern, wenn er Peterneine bessere Stelle verschaffte. Merkteuch meine Worte.« »Nun höre nur, Peter,« sagte Mrs.

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Cratchit. »Und dann,« rief eins der Mädchen, »wirdsich Peter nach einer Frau umsehen.« »Ach, sei still,« antwortete Peter lachend. »Nun, das kann schon kommen,« sagteBob, »aber dazu hat er noch Zeit imUeberfluß. Aber wie und wenn wir unsauch voneinander trennen sollten, so binich doch überzeugt, daß keiner von unsden armen Tiny Tim, oder diese ersteTrennung, welche wir erfuhren, vergessenwird.« »Niemals, Vater,« riefen alle. »Und ich weiß,« sagte Bob, »ich weiß,meine Lieben, wenn wir daran denkenwerden, wie geduldig und wie sanft erwar, obgleich er nur ein kleines, kleines

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Kind war, werden wir nicht so leicht unszanken und den guten Tiny Tim vergessen,wenn wir's thun.« »Nein, niemals, Vater,« riefen sie alle. »Ich bin sehr glücklich,« sagte Bob, »sehrglücklich.« Mrs. Cratchit küßte ihn, seine Töchterküßten ihn, die beiden kleinen Cratchitsküßten ihn und Peter und er drückten sichdie Hand. Seele Tiny Tims, du warst einHauch von Gott. »Geist,« sagte Scrooge, »ein Etwas sagtmir, daß wir bald scheiden werden. Ichweiß es, aber ich weiß nicht wie. Sage mir,wer es war, den wir auf dem Totenbettsahen.« Der Geist der zukünftigen Weihnachten

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führte ihn wie früher -- obgleich zuverschiedener Zeit, dünkte ihm, überhauptschien in den verschiedenen letztenGesichten keine Zeitfolge stattzufinden --an die Zusammenkunftsorte derGeschäftsleute, aber er sah sich nicht. DerGeist verweilte nirgends, sondernschwebte immer weiter, wie nach dem Ortzu, wo Scrooge die gewünschte Lösungdes Rätsels finden würde, bis ihn dieserbat, einen Augenblick zu verweilen. »Ja, dieser Hof,« sagte Scrooge, »durchden wir jetzt eilen, war einst mein Geschäftund war es lange Jahre. Ich sehe das Haus.Laß mich sehen, was ich in denkommenden Tagen sein werde.« Der Geist stand still; die Hand wies woanders hin. »Das Haus ist dort,« rief Scrooge. »Warum

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weisest du wo anders hin?« Der unerbittliche Finger nahm keineandere Richtung an. Scrooge eilte nach dem Fenster seinesComptoirs und schaute hinein. Es warnoch ein Comptoir, aber nicht das seinige.Die Möbel waren nicht dieselben und dieGestalt in dem Stuhl war nicht die seine.Die Erscheinung zeigte nach derselbenRichtung, wie früher. Er trat wieder zu ihr hin und nachsinnend,warum und wohin sie gingen, begleitete ersie, bis sie eine eiserne Gitterpforteerreichten. Er stand still, um sich vor demEintreten umzusehen. Es war ein Kirchhof. Hier also lag derUnglückliche, dessen Namen er nocherfahren sollte, unter der Erde. Der Ort

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war seiner würdig. Rings von hohenHäusern umgeben; überwuchert vonUnkraut, entsprossen dem Tod, nicht demLeben der Vegetation; vollgepfropft von zuviel Leichen; gesättigt von übersättigtemGenuß. Der Geist stand inmitten der Gräber stillund wies auf eins derselben hinab.Scrooge näherte sich ihm zitternd. DieErscheinung war noch ganz so wie früher,aber ihm war es immer, als sähe er eineneue Bedeutung in der düstern Gestalt. »Ehe ich mich dem Stein nähere, den dumir zeigst,« sagte Scrooge, »beantwortemir eine Frage. Sind dies die Schatten derDinge, welche sein werden, oder nur vondenen, welche sein können?« Immer noch wies der Geist auf das Grabhinab, vor dem sie standen.

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»Die Wege des Menschen tragen ihr Zielin sich,« sagte Scrooge. »Aber wenn ereinen andern Weg einschlägt, ändert sichdas Ziel. Sage, ist es so mit dem, was dumir zeigen wirst?« Der Geist blieb so unbeweglich wieimmer. Scrooge näherte sich zitternd dem Grabeund wie er der Richtung des Fingersfolgte, las er auf dem Stein seinen eigenenNamen. »_Ebenezer Scrooge._« »Bin ich es, der auf jenem Bett lag?« riefer, auf die Kniee sinkend. Der Finger wies von dem Grabe auf ihnund wieder zurück.

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»Nein, Geist, o nein!« Der Finger wies immer noch dorthin. »Geist,« rief er, sich fest an sein Gewandklammernd, »ich bin nicht mehr derMensch, der ich war. Ich will ein andererMensch werden, als ich vor diesen Tagengewesen bin. Warum zeigst du mir dies,wenn alle Hoffnung vorüber ist?« Zum erstenmal schien die Hand zu zittern. »Guter Geist,« fuhr er fort, »dein eigenesHerz bittet für mich und bemitleidet mich.Sage mir, daß ich durch ein verändertesLeben die Schatten, welche du mir gezeigthast, ändern kann!« Die gütige Hand zitterte.

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»Ich will Weihnachten in meinem Herzenehren und versuchen es zu feiern. Ich willin der Vergangenheit, der Gegenwart undder Zukunft leben. Die Geister von allendreien sollen in mir wirken. Ich will meinHerz nicht ihren Lehren verschließen. O,sage mir, daß ich die Schrift auf diesemSteine weglöschen kann.« In seiner Angst ergriff er diegespenstische Hand. Sie versuchte, sichvon ihm loszumachen, aber er war stark inseinem Flehen und hielt sie fest. Der Geist,noch stärker, stieß ihn zurück. Wie er seine Hände zu einem letztenFlehen um Aenderung seines Schicksals indie Höhe hielt, sah er die Erscheinung sichverändern. Sie wurde kleiner und kleinerund kleiner und schwand zu einerBettpfoste zusammen.

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Fünftes Kapitel. Das Ende. Ja, und es war seine eigene Bettpfoste. Eswar sein Bett und sein Zimmer. Und wasdas Glücklichste und Beste war, dieZukunft war sein zur Besserung. »Ich will in der Vergangenheit, derGegenwart und der Zukunft leben,«wiederholte Scrooge, als er aus dem Bettkletterte. »Die Geister von allen dreiensollen in mir wirken. O, Jakob Marley! derHimmel und die Weihnachtszeit seiendafür gepriesen! Ich sage es auf meinenKnieen, alter Jakob, auf meinen Knieen.« Er war von seinen guten Vorsätzen soerregt und außer sich, daß seine bebendeStimme kaum auf seinen Ruf antworten

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wollte. Er hatte während seines Ringensmit dem Geiste bitterlich geweint und seinGesicht war noch naß von den Thränen. »Sie sind nicht herabgerissen,« riefScrooge, eine der Bettgardinen an dieBrust drückend, »sie sind nichtherabgerissen. Sie sind da, ich bin da, dieSchatten der Dinge, welche kommen,können vertrieben werden. Ja, ich weiß esgewiß, ich weiß es.« Während dieser ganzen Zeitbeschäftigten sich seine Hände mit denKleidungsstücken: er zog sie verkehrt an,zerriß sie, verlor sie und machte allerhandtolle Sprünge damit. »Ich weiß nicht, was ich thue,« riefScrooge in einem Atem weinend undlachend und mit seinen Strümpfen einenwahren Laokoon aus sich machend. »Ich

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bin leicht wie eine Feder, glücklich wie einEngel, lustig wie ein Schulknabe,schwindlich wie ein Betrunkener.Fröhliche Weihnachten allen Menschen!Ein glückliches Neujahr der ganzen Welt!Hallo! hussa! hurra!« Er war in das Wohnzimmer gesprungenund blieb jetzt dort ganz außer Atemstehen. »Da ist die Schüssel, in der die Suppewar!« rief Scrooge, indem er um denKamin herumsprang. »Da ist die Thür,durch welche Jakob Marleys Geisthereinkam, da ist die Ecke, wo der Geistder heurigen Weihnachten saß, da ist dasFenster, wo ich die herumirrenden Geistersah! Es ist alles recht, es ist alles wahr, esist alles geschehen. Hahahaha!« Wirklich für einen Mann, der so lange

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Jahre aus der Gewohnheit war, war es einvortreffliches Lachen, ein herrlichesLachen. Der Vater einer langen, langenReihe herrlicher Gelächter! »Ich weiß nicht, den Wievieltesten wirheute haben,« rief Scrooge. »Ich weißnicht, wie lange ich unter den Geisterngewesen bin. Ich weiß gar nichts. Ich binwie ein neugebornes Kind. Es schadetnichts. Ist mir einerlei. Ich will lieber einKind sein. Hallo! hussa! hurra!« Er wurde in seinen Freudenausrufungenvon dem Geläute der Kirchenglockenunterbrochen, die ihm so munter zuklingen schienen, wie nie vorher. Bimbaum, kling, klang, bim baum. Ach,herrlich, herrlich! Er lief zum Fenster, öffnete es und steckteden Kopf hinaus. Kein Nebel; ein klarer,

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luftig heller, kalter Morgen, eine Kälte, diedem Blute einen Tanz vorpfiff; goldenesSonnenlicht; ein himmlischer Himmel;liebliche, frische Luft, fröhliche Glocken.O, herrlich, herrlich! »Was ist denn heute?« rief Scrooge einemKnaben in Sonntagskleidern zu, der untenstand. »He?« fragte der Knabe mit derallermöglichsten Verwunderung. »Was ist heute, mein Junge?« sagteScrooge. »Heute?« antwortete der Knabe. »Nun,Christtag.« »'s ist Christtag,« sagte Scrooge zu sichselber. »Ich habe ihn nicht versäumt. DieGeister haben alles in einer Nacht gethan.

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Sie können alles, was sie wollen. Natürlich,natürlich. Heda, mein Junge!« »Heda!« antwortete der Knabe. »Weißt du des Geflügelhändlers Laden inder zweitnächsten Straße an der Ecke?«frug Scrooge. »I, warum denn nicht,« antwortete derJunge. »Ein gescheiter Junge,« sagte Scrooge.»Ein merkwürdiger Junge! Weißt du nicht,ob der Preistruthahn, der dort hing,verkauft ist? nicht der kleine Preistruthahn,der große.« »Was, der so groß ist wie ich?«antwortete der Junge. »Was für ein lieber Junge!« sagte

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Scrooge. »'s ist eine Freude, mit ihm zusprechen. Ja, mein Prachtjunge.« »Er hängt noch dort,« antwortete derJunge. »Ist's wahr?« sagte Scrooge. »Nun, da geh'und kaufe ihn.« »Hetsch!« rief der Junge aus. »Nein, nein,« sagte Scrooge, »'s ist meinErnst. Geh' hin und kaufe ihn und sage, siesollen ihn hierher bringen, daß ich ihnendie Adresse geben kann, wohin sie ihntragen sollen. Komm mit dem Trägerwieder her und ich gebe dir einenSchilling. Komm in weniger als fünfMinuten zurück und du bekommst einehalbe Krone.« Der Bursche verschwand wie ein Blitz.

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»Ich will ihn Bob Cratchit schicken,«flüsterte Scrooge, sich die Hände reibendund fast vor Lachen platzend. »Er soll nichtwissen, wer ihn schickt. Er ist zweimal sogroß als Tiny Tim. Joe Miller hat niemalseinen Witz gemacht wie den.« Wie er die Adresse schrieb, zitterte seineHand, aber er schrieb so gut es gehenwollte, und ging die Treppe hinab, um dieHausthür zu öffnen, den Truthahnerwartend. Wie er dastand fiel sein Augeauf den Thürklopfer. »Ich werde ihn lieb haben, so lange ichlebe,« rief Scrooge ihn streichelnd.»Früher habe ich ihn kaum angesehen.Was für ein ehrliches Gesicht er hat! Es istein wunderbarer Thürklopfer! -- Da ist derTruthahn. Hallo! hussa! Wie geht's?Fröhliche Weihnachten!«

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Das war ein Truthahn; er hätte nicht mehrlebendig auf seinen Füßen stehen können.Sie wären -- knicks -- zerbrochen wie eineStange Siegellack. »Was, das ist ja fast unmöglich, den nachCamden-Town zu tragen,« sagte Scrooge.»Ihr müßt einen Wagen nehmen.« Das Lachen, mit dem er dies sagte unddas Lachen, mit dem er den Truthahnbezahlte, und das Lachen, mit dem er denWagen bezahlte, und das Lachen, mit demer dem Jungen ein Trinkgeld gab, wurdennur von dem Lachen übertroffen, mit demer sich atemlos in seinen Stuhl niedersetzteund lachte, bis die Thränen an den Backenhinunter liefen. Das Rasieren war keine Kleinigkeit, dennseine Hand zitterte immer noch sehr; und

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Rasieren verlangt große Aufmerksamkeit,selbst wenn man nicht gerade währenddem tanzt. Aber wenn er sich dieNasenspitze weggeschnitten hätte, würdeer ein Stückchen englisches Pflaster daraufgeklebt haben und zufrieden gewesensein. Er zog seine besten Kleider an und tratendlich auf die Straße. Die Leute strömtenjetzt gerade aus ihren Häusern, wie er esgesehen hatte, als er den Geist derheurigen Weihnacht begleitete; und mitauf dem Rücken zusammengeschlagenenHänden durch die Straßen gehend, blickteScrooge jeden mit einem freundlichenLächeln an. Er sah so unwiderstehlichfreundlich aus, daß drei oder vier lustigeLeute zu ihm sagten: »Guten Morgen, Sir,fröhliche Weihnachten!« und Scroogesagte oft nachher, daß von allen lieblichenKlängen, die er je gehört, dieser seinem

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Ohr am lieblichsten geklungen hätte. Er war nicht weit gegangen, als erdenselben stattlichen Herrn auf sichzukommen sah, der am Tage vorher in seinComptoir getreten war mit den Worten:»Scrooge und Marley, wenn ich nicht irre.«Es gab ihm einen Stich ins Herz, als erdachte, wie ihn wohl der alte Herr beimVorübergehen ansehen würde; aber erwußte, welchen Weg er zu gehen hatte,und ging ihn. »Lieber Herr,« sagte Scrooge, schnellergehend und des alten Herrn beide Händeergreifend, »wie geht's Ihnen? Ich hoffe,Sie hatten gestern einen guten Tag. Es warsehr freundlich von Ihnen. Ich wünscheIhnen fröhliche Weihnachten, Sir.« »Mr. Scrooge?«

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»Ja,« sagte Scrooge. »Das ist mein Nameund ich fürchte, er klingt Ihnen nicht sehrangenehm. Erlauben Sie, daß ich Sie umVerzeihung bitte. Und wollen Sie die Gütehaben« -- hier flüsterte ihm Scrooge etwasin das Ohr. »Himmel!« rief der Herr, als ob ihm derAtem ausgeblieben wäre. »Mein lieber Mr.Scrooge, ist das Ihr Ernst?« »Wenn es Ihnen gefällig ist,« sagteScrooge. »Keinen Penny weniger. Es sindviele Rückstände dabei, ich versichere esIhnen. Wollen Sie die Güte haben?« »Bester Herr,« sagte der andere, ihm dieHand schüttelnd, »ich weiß nicht, was ichzu einer solchen großartigenFreigebigkeit sagen soll.« »Ich bitte, sagen Sie gar nichts dazu,«

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antwortete Scrooge. »Besuchen Sie mich.Wollen Sie mich besuchen?« »Herzlich gern,« rief der alte Herr. Undman sah, es war ihm mit der VersicherungErnst. »Ich danke Ihnen,« sagte Scrooge. »Ichbin Ihnen sehr verbunden. Ich dankeIhnen tausendmal. Leben Sie recht wohl!« Er ging in die Kirche, ging durch dieStraßen, sah die Leute hin und her laufen,klopfte Kindern die Wange, frug Bettler,und sah hinab in die Küchen und hinauf zuden Fenstern der Häuser; und fand, daßalles das ihm Vergnügen machen könne.Er hatte sich nie geträumt, daß einSpaziergang oder sonst etwas ihn soglücklich hätte machen können.Nachmittags lenkte er seine Schritte nachseines Neffen Wohnung.

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Er ging wohl ein dutzendmal an der Thürvorüber, ehe er den Mut hatte,anzuklopfen. Endlich faßte er sich ein Herzund klopfte. »Ist dein Herr zu Hause, meine Liebe?«sagte Scrooge zu dem Mädchen. »Einhübsches Mädchen, wahrhaftig!« »Ja, Sir.« »Wo ist er, meine Liebe?« sagte Scrooge. »Er ist in dem Speisezimmer, Sir, mit derMadame. Ich will Sie hinaufführen, wennSie erlauben.« »Danke, danke. Er kennt mich,« sagteScrooge, mit der Hand schon auf demThürdrücker. »Ich will hier hereintreten,meine Liebe.«

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Er machte die Thür leise auf und steckteden Kopf hinein. Sie betrachteten denSpeisetisch (der mit großem Aufwand vonPracht gedeckt war); denn solche jungeLeute sind immer sehr unruhig über solchePunkte und sähen gern alles in Ordnung. »Fritz!« sagte Scrooge. Heiliger Himmel! wie seine Nichteerschrak! Scrooge hatte in demAugenblicke vergessen, daß sie mit demFußbänkchen in der Ecke gesessen hatte,sonst hätte er es um keinen Preis gethan. »Potztausend!« rief Fritz, »wer ist das!« »Ich bin's, dein Onkel Scrooge. Ichkomme zum Essen. Willst du michhereinlassen, Fritz?«

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Ihn hereinlassen! Es war nur gut, daß erihm nicht den Arm abriß. Er war in fünfMinuten wie zu Hause. Nichts konnteherzlicher sein, als die Begrüßung seinesNeffen. Und auch seine Nichte empfing ihnganz so herzlich. Auch Topper, wie erkam. Auch die dicke Schwester, wie siekam. Und alle, wie sie nach der Reihekamen. Wundervolle Gesellschaft,wundervolle Spiele, wundervolleEintracht, wundervolle Glückseligkeit! Aber am andern Morgen war er früh inseinem Comptoir. O, er war gar früh da.Wenn er nur dort hätte zuerst sein könnenund Bob Cratchit beim Zuspätkommenerwischen! Das war's, worauf sein Sinnstand! Und es gelang ihm wahrhaftig! DieUhr schlug Neun. Kein Bob. Ein Viertel aufZehn. Kein Bob. Er kam volle achtzehn undeine halbe Minute zu spät. Scrooge hatteseine Thür weit offen stehen lassen, damit

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er ihn in das Verließ kommen sähe. Sein Hut war vom Kopfe, ehe er die Thüröffnete, auch der Shawl von seinem Halse.In einem Nu saß er auf seinem Stuhle undjagte mit der Feder übers Papier, alswollte er versuchen, neun Uhr einzuholen. »Heda,« brummte Scrooge, so gut wie esging, seine gewohnte Stimmenachmachend. »Was soll das heißen, daßSie so spät kommen?« »Es thut mir sehr leid, Sir,« sagte Bob.»Ich habe mich verspätigt.« »Nun, Sie gestehen's,« wiederholteScrooge. »Ich meine es auch. Hier herein,wenn's gefällig ist.« »Es ist nur einmal im Jahre, Sir,« sagteBob, aus dem Verließ hereintretend. »Es

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soll nicht wieder vorfallen. Ich war einbißchen lustig gestern, Sir.« »Nun, ich will Ihnen was sagen,Freundchen,« sagte Scrooge, »ich kanndas nicht länger so mit ansehen. Unddaher,« fuhr er fort, von seinem Stuhlspringend und Bob einen solchen Stoß vordie Brust gebend, daß er wieder in dasVerließ zurückstolperte, »und daher willich Ihr Salär erhöhen!« Bob zitterte und trat dem Lineal etwasnäher. Er hatte einen augenblicklichenGedanken, Scrooge eins damit auf denKopf zu geben, ihn fest zu halten und dieLeute im Hofe um Hilfe und eineZwangsjacke anzurufen. »Fröhliche Weihnachten, Bob!« sagteScrooge, mit einem Ernst, der nichtmißverstanden werden konnte, indem er

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ihn auf die Achsel klopfte. »FröhlichereWeihnachten, Bob, als ich Sie so manchesJahr habe feiern lassen. Ich will Ihr Salärerhöhen und mich bemühen, Ihrer Familieunter die Arme zu greifen. Wir wollenheut' Nachmittag bei einerWeihnachtsbowle dampfenden Punschesüber Ihre Angelegenheiten sprechen, Bob!Schüren Sie das Feuer an und kaufen Sieeine andere Kohlenschaufel, ehe Siewieder einen Punkt auf ein i machen, BobCratchit!« Scrooge war besser als sein Wort. Er thatalles und mehr noch, als er versprochenhatte; und für Tiny Tim, welcher nichtstarb, wurde er ein zweiter Vater. Erwurde ein so guter Freund und so guterMensch, wie nur die liebe alte City oderjede andere liebe alte Stadt oder Dorf inder lieben alten Welt je gesehen. EinigeLeute lachten, ihn so verändert zu sehen,

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aber er ließ sie lachen und kümmerte sichwenig darum, denn er war klug genug, zuwissen, daß nichts Gutes in dieser Weltgeschehen kann, worüber nicht vonvornherein einige Leute lachen müssen;und da er wußte, daß derart Leute dochblind bleiben würden, dachte er bei sich,es ist besser, sie legen ihre Gesichterdurch Lachen in Falten, als daß sie's aufweniger anziehende Weise thun. Seineigenes Herz lachte und damit war erzufrieden. Er hatte keinen fernern Verkehr mitGeistern, sondern lebte von jetzt an nachdem Prinzip gänzlicher Enthaltsamkeit;und immer sagte man von ihm, er wisseWeihnachten recht zu feiern, wenn esüberhaupt ein Mensch wisse. Möge diesauch in Wahrheit von uns allen gesagtwerden können! Und so schließen wir mitTiny Tims Worten: Gott segne uns alle und

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jeden! +Ende.+

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[Anmerkungen zur Transkription: Die im Reclam-Verlag erschieneneAusgabe wurde dem Original getreuübertragen. Unregelmäßigkeiten in derZeichensetzung und Rechtschreibungwurden dabei nicht angeglichen. Lediglichdie folgenden offensichtlichen Druckfehlerwurden korrigiert: Seite 17: 'zwei Köpfe' --> 'zwei Knöpfe'Seite 31: 'Wiederhall' --> 'Widerhall' Seite37: 'sein Orchester auszuschlagen' --> 'seinOrchester aufzuschlagen' Seite 41:Anführungszeichen eingefügt, '»zeige mirnichts mehr' Seite 43: 'hintergeschluckt' -->'hinuntergeschluckt' Seite 43:Anführungszeichen eingefügt, '»ich sahheut' Nachmittag' Im Original gesperrt gesetzter Text ist mit_ gekennzeichnet. Im Original in Antiqua

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gesetzter Text ist mit = gekennzeichnet. ImOriginal gesperrt und fett gesetzter Textist mit + gekennzeichnet. Das Inhaltsverzeichnis wurde zurbesseren Übersicht nachträglicheingefügt.]

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