+ All Categories
Home > Documents > Der Schlangengott

Der Schlangengott

Date post: 03-Jan-2017
Category:
Upload: dangdat
View: 217 times
Download: 5 times
Share this document with a friend
145
Transcript
Page 1: Der Schlangengott
Page 2: Der Schlangengott

1.

Der dunkelhaarige Mann auf dem Thron wand sich vor

Lachen. Er hieb mit der Faust auf die Lehne des

kunstvoll geschnitzten Holzgestühls.

»Sag das noch einmal«, würgte er hervor.

Der Angesprochene war ein noch dunklerer Typ.

Der Humor seines Gegenübers schien ihn nicht zu

beeindrucken. Gleichmütig wiederholte er: »In Myra

nennen sie es das Jahr der Schlange.«

Das reizte den am Thron zu einem erneuten

Lachanfall. »Was meinst du, Jaggar, ist das noch ein

Omen – oder schon eine Verpflichtung?« Seine Augen

funkelten.

Jaggar hakte die Daumen in seinen breiten, ledernen

Gürtel. Er gab keine Antwort.

»Wahrhaftig, wir sollten nicht mehr zu lange

warten, Jaggar. Ehe das Jahr zu Ende geht, sollten wir

dafür sorgen, daß unsere Banner der Schlange über

ihren Zinnen flattern ...«

Jaggar schüttelte den Kopf. »Hör mich erst an,

König.«

König Jellis nickte, aber er war verärgert.

Vorsichtig sagte Jaggar: »König, der Zeitpunkt ist

nicht so günstig, wie er scheint ...«

Page 3: Der Schlangengott

Als Jellis keine Antwort gab, fuhr er rasch fort:

»Dieser neue myranische König ... Dragon ... Er ist sehr

beliebt. Es heißt, daß er nicht nur das Volk und ein

starkes Heer auf seiner Seite hat, sondern auch noch

andere starke Verbündete.«

»Pah, wer sollte das sein? Myra hat keine Freunde

an den Küsten des Großen Meeres ...«

»Ich meine kein anderes Land«, unterbrach ihn

Jaggar rasch. Der König sah ihn fragend an. »Sie

nennen sich Söhne von Atlantis. Es scheint sie überall

in Myra zu geben, und auch weiter im Osten ...«

»Söhne von Atlantis?« wiederholte Jellis

nachdenklich. Dann platzte er plötzlich wieder vor

Lachen. »Söhne, sagst du? Muß ein kräftiger Bursche

gewesen sein, dieser Atlantis, wenn es so viele von

ihnen gibt, daß sie mir gefährlich werden könnten!«

Jaggar zog die Stirn in Falten, aber er war vorsichtig

genug, nicht zu deutlich zu zeigen, daß ihm diese Art

von Humor unter den gegebenen Umständen nicht

behagte. »Atlantis soll ein fernes Land sein. Man sagt,

sie seien Weise. Manche halten sie auch für Magier. Der

einstige König von Myra ließ viele von ihnen töten. Es

heißt, weil er sie fürchtete. Aber sie sind für den

Frieden, wie ihr König Dragon.«

»Nur wer schwach ist, ist für den Frieden«, meinte

Jellis wegwerfend.

Warnend widersprach Jaggar »Darauf würde ich

Page 4: Der Schlangengott

mich nicht verlassen, König. Dieser Dragon besiegte

ein fast fünfzig Tausendschaften starkes Heer der

Myraner ...«

»Um so besser. Dann werden auf beiden Seiten

keine wesentlichen Streitkräfte mehr übriggeblieben

sein. Nichts, womit unsere dreihundert Schiffe nicht

fertig würden!«

»Dreihundert?« entfuhr es Jaggar erstaunt. »So muß

die Bruderschaft des Großen Meeres Verbündete

haben, denn ich weiß nur von zweihundert

kriegstüchtigen Schiffen.«

»Zweifelst du an den Worten des Ersten Kapitäns

der Bruderschaft?« fragte der König drohend.

»Wie könnte ich?« lenkte Jaggar ein. »Dennoch ...«

»Wenn ich sage, daß wir dreihundert Schiffe nach

Myra schicken werden, so wird es nicht eines weniger

sein.«

Jaggar nickte. Er zwang sich zu seinem gewohnten

Gleichmut, mit dem er bei Jellis immer am besten

gefahren war. »Laß mich dich dennoch warnen, König.

Gleich, wen man trifft und befragt – alle munkeln von

der Stärke dieses Dragon. Es scheint mir nicht ratsam,

Myra anzugreifen, selbst mit dreihundert Schiffen

nicht.«

»Ist es, daß du alt wirst, Jaggar, und furchtsam?«

Der König musterte den Kapitän der Schwarzen

Wellenreiterin ein wenig spöttisch.

Page 5: Der Schlangengott

»Du weißt, daß ich keins von beiden bin. Aber ich

wäre dir ein schlechter Kundschafter, wenn ich dir die

Gefahr verheimlichen wollte, die dein Vorhaben

scheitern lassen könnte.«

König Jellis‘ derbe Züge wurden hart. »Stimmt es,

was die Planken deines Schiffes raunen? Daß du Beute

hattest? Die die Wellen dir wieder wegnahmen?«

Jaggar fluchte innerlich. Seine Mannschaft hatte

nicht dicht gehalten. Bootsmann Galis wahrscheinlich.

Andererseits hatte der König seine Schnüffler wohl auf

jedem der Schiffe.

Zähneknirschend berichtete er von seinem Fang des

myranischen Mädchens mit dem Mausgesicht und von

seiner zweiten Beute, dem Fischmädchen, und wie er

beide wieder im Meer verlor.

Damit war die Audienz beendet. Jaggar verließ

wütend und mit rotem Kopf den Palast. Seine Wut

verrauchte langsam, während er durch die Straßen von

Candis schritt.

Seit seiner Ankunft hatte er nichts anderes getan, als

sein Mißgeschick mit der Beute verflucht. Nun

warSchluß. Es war schwer, Spott zu ertragen; am

schwersten, wenn dieser vom König kam, den keine

Faust zum Schweigen bringen konnte. Jellis‘ Willkür

war wie die Unberechenbarkeit einer Schlange.

Jaggar starrte zum Hafen hinab. Außer der

Schwarzen Wellenreiterin lagen noch zwei weitere

Page 6: Der Schlangengott

Schiffe der Piratenflotte vor Anker.

Dreihundert hatte der König gesagt. Unmöglich!

Vielleicht wenn er alles zusammenraffte, was das

Wasser unter den morschen Planken halten konnte. Es

gab noch eine ganze Reihe rascher Segler in den

östlichen Häfen der Schlangeninsel – die kleinen

Flotten der Stadtbefehlshaber. Natürlich würden sie im

Ernstfall ihre Schiffe an den König abgeben. Es blieb

ihnen gar nichts anderes übrig. Sie hätten nur ein

kurzes Leben, wenn sie sich weigerten. Wie der

verstorbene Amokar war auch Jellis nicht zimperlich in

der Wahl seiner Mittel. Gewalt war, was er am besten

verstand.

Und der König besaß viele Klingen, die dafür

sorgten, daß Schwäche und Illoyalität kurze Beine

hatten in Candis.

Jaggar hatte keine Angst – nicht um sich oder um

seinen Rang in Jellis‘ Flotte, aber er haßte alles Sinnlose.

Den Tod ebenso wie diesen Krieg mit Myra.

Er liebte das Meer. Er liebte sein Schiff. Er liebte den

Kampf und das Abenteuer, und er fragte nicht lange,

auf wessen Kosten es ging.

Und er war seinem König treu, auch wenn er wenig

Liebe für ihn empfand.

Überall in der Stadt trugen die Türen der Häuser das

rote Kreidebildnis Minos‘, des Stiers; Ährenbündel

Page 7: Der Schlangengott

schmückten die Fenster und kündeten davon, daß

Erntezeit war. In ein oder zwei Tagen würden im

Tempel vor den Toren der Stadt die

Erntedankfestlichkeiten beginnen, die dem König

immer ein Dorn im Auge gewesen waren. Eines Tages

würde es Schwierigkeiten geben, dachte Jaggar. Die

Unbekümmertheit der Priester erstaunte ihn.

Vertrauten sie so sehr auf das Volk, auf die Zahl ihrer

Anhänger, daß sie hier in Candis unter des Königs

Augen Minos in solchem Ausmaß zu huldigen wagten?

Wußten sie nicht, daß den König die Masse des Volkes

wenig kümmerte? Oder wußten sie es wohl und

rannten trotzdem mit der gleichen Starrköpfigkeit in

die Gefahr, wie Jellis es sich in den Kopf gesetzt hatte,

Myra anzugreifen?

Was steckte nur in diesen Menschen, daß sie so stur

waren? In seiner Heimat, an der Totenküste, waren die

Menschen anders – geduldiger. Sie warteten, bis ihre

Zeit gekommen war. Und niemand kam es in den Sinn,

darin Feigheit zu sehen.

Als er den Marktplatz erreichte, der auf die Kais

hinausführte, sah er, daß sich eine größere

Menschenmenge angesammelt hatte. Verwundert

mengte er sich unter sie und sah in der Mitte einen

jungen Mann, der so ganz anders gekleidet war als die

Stadtbevölkerung mit ihren sackartigen Gewändern

Page 8: Der Schlangengott

und den ausgebleichten, geknoteten Kopftüchern, die

das Gesicht vor der Sonne schützten.

Er trug Beinkleider, die so auffallend bunt und

geckenhaft waren, daß Jaggar beinah laut aufgelacht

hätte. Das Wams war ebenso halbseitig rot und

halbseitig grün. Er war dunkelhaarig, aber viel

hellhäutiger als die Umstehenden. Dann sah Jaggar das

Saiteninstrument in seiner Hand, das er nun an die

Brust hob. Der Wind trug halbverwehte Töne an

Jaggars Ohren.

Neugierig schob er sich näher. Der Junge sang

irgend etwas, und die Nächststehenden lachten. Als

der Kapitän nahe genug war, daß er die Worte

verstehen konnte, erkannte er, daß der Junge, selbst

wenn man von der Hautfarbe absah, nicht von der

Schlangeninsel war. Es gab ja einige fast weißhäutige

Stämme im Innern der Insel. Aber der Sänger war auch

der Sprache des Landes nicht sehr mächtig. Er

berichtete etwas von einem Kampf mit einer

Raubkatze. Aber die Dramatik ging in dem

unfreiwilligen Humor verloren. Wenn er sich mit

Worten nicht auszudrücken vermochte, versuchte er es

mit Gesten und war dabei nicht allzu erfolgreich. Die

Zuhörer lachten. Die Menge war gutmütig. Sein

bizarres Kostüm und die gute Ernte trugen wohl dazu

bei.

Seine Aussprache machte Jaggar stutzig. Wenn ihn

Page 9: Der Schlangengott

nicht alles trog, dann mußte der Junge myranischer

Herkunft sein. Er hatte oft genug an Myras Küsten

Menschen reden hören, um nun ziemlich sicher zu

sein.

Was suchte ein myranischer Sänger in Candis?

Jaggars Heiterkeit wich Mißtrauen.

Ein Schnüffler in der Maske eines Narren! Es mochte

besser sein, wenn er den Jungen genauer in

Augenschein nahm. Er schob sich durch die Menschen

und blieb vor dem Sänger stehen, der zögernd seine

Laute sinken ließ und unsicher auf den Kapitän blickte.

»Sag uns, woher du kommst«, verlangte Jaggar.

»Aus Balava«, erklärte der Junge schnell.

Das war gelogen. Jaggar war vor Jahren selbst

einmal in Balava gewesen. Die Sprache hatte mit der

des Hauptteils von Myra wenig gemeinsam. Es war

klar zu erkennen, daß der Junge nicht aus Balava

stammte. Andererseits hatte dieser ja auch nur

behauptet, aus Balava zu kommen, nicht, daß dort

seine Heimat wäre.

Es war unklug, ihn hier vor allen Menschen

auszufragen. Er mußte ihn mit auf sein Schiff nehmen.

Dort würde die Wahrheit leichter zu erfahren sein.

»Im Namen des Königs«, sagte er, »du kommst jetzt

mit mir!«

Der Junge wurde bleich. Er sah sich gehetzt um,

aber überall standen dicht gedrängt die Menschen, die

Page 10: Der Schlangengott

zwar über Jaggars Absichten nicht erfreut waren, denn

sie sahen sich um ihr Vergnügen betrogen, die ihm

aber sicherlich die Flucht verwehren würden.

Resigniert zuckte er mit den Schultern und hing sein

Instrument über die Schulter. »Wohin?«

»Auf mein Schiff«, erklärte Jaggar. »Die Schwarze

Wellenreiterin.«

In den Augen des Jungen blitzte es auf, eine Regung,

die er sofort unterdrückte. Aber Jaggar entging sie

nicht.

»Dann seid Ihr Kapitän Jaggar?«

»Allerdings«, bestätigte der verblüfft. »Hat sich

mein Name bis Balava durchgesprochen?«

Der Sänger sagte mit belegter Stimme: »Es gibt

wenig Küsten, an denen man Euren Namen nicht

kennt, Kapitän.«

Jaggar spürte deutlich, daß diese Bemerkung nicht

als Anerkennung gedacht war. Die Sache begann

einigermaßen geheimnisvoll zu werden.

Als sie aus der murrenden Menge tauchten und auf

das Schiff zuschritten, fragte Jaggar: »Wie lange bist du

schon hier?«

»Seit heute morgen.«

»Es sieht so aus, als hättest du mich gesucht, oder

irre ich mich?«

Der Junge gab keine Antwort.

»Wie heißt du?«

Page 11: Der Schlangengott

Erneutes Schweigen.

»Dir ist doch klar, daß ich dich peitschen lassen

kann, bis dir die Haut in Fetzen vom Körper hängt –

oder bis du redest?«

»Ich heiße Wigor«, gestand der Junge hastig.

»Na also«, brummte Jaggar zufrieden, eine Antwort

erhalten zu haben. Er hatte vorerst nicht die Absicht,

auch nur ein Wort zu glauben. »Wie alt bist du?«

»Das weiß ich nicht.«

»Auch gut. Wir werden es schon herausfinden, wir

beide.«

»Ich weiß es wirklich nicht«, erwiderte der Junge

nachdrücklich. »Vor neun Jahren fing ich an, die Jahre

zu zählen.«

»Also bist du älter als neun. Bravo«, meinte Jaggar

grinsend. »Und wenn wir noch ein wenig bohren, fällt

dir sicher wieder ein, aus welchem Grund du

hierhergekommen bist. Na?«

»Seht Ihr es nicht? Ich bin ein Barde, der ...«

Jaggar lachte schallend. Wie König Jellis war er

rasch mit dem Lachen und mit dem Spott zur Hand,

ohne darauf zu achten, daß es verletzend sein mochte,

so verletzend wie er es eben selbst noch im Palast

empfunden hatte.

»Barde sagst du?« Jaggar schüttelte sich. »Ein

Possenreißer wärst du zur Not. Aber ich fürchte, man

wurde nicht über deine Possen lachen, sondern über

Page 12: Der Schlangengott

dich selber. Und noch etwas. Ich höre zum erstenmal,

daß ein Mann aus Balava jemanden mit Ihr anredet.

Das ist eine myranische Eitelkeit. Na, wir werden das

alles noch herausfinden.« Es klang sehr zuversichtlich.

Sie hatten die Kais erreicht. Einige Bootsleute kamen

von der Wellenreiterin herbei und starrten neugierig

und belustigt dem Kapitän und seinem Fang entgegen.

Einer von ihnen war Galis, bemerkte Jaggar mißmutig

und betrachtete den grinsenden Hünen kalt, der das

halbe Dutzend der übrigen Bootsleute beinah um einen

Kopf überragte. Eines Tages würde er mit ihm

abrechnen. Dieses wissende, höhnische Grinsen bewies

es eindeutig: Galis war Jellis‘ Mann!

»Was hast du denn da für einen seltsamen Vogel,

Kapitän?« rief einer der Männer lachend. Die anderen

stimmten mit ein.

Jaggar hielt den Jungen am Arm fest. »Komm nicht

auf den Gedanken, wegzulaufen. Die schlitzen dich

auf, bevor du ein Dutzend Schritte hinter dir hast.

Wenn du ruhig bleibst, werden sie nur ihren Spaß mit

dir

haben ...«

»Wie mit anderen Gefangenen auch?« unterbrach

ihn der Junge. »Du sagst es. Und ich fürchte, du wirst

heute für uns singen müssen. Welch grauenhafte

Vor...«

Wigor schien ihn gar nicht zu hören. »Wie mit

Page 13: Der Schlangengott

Mädchen auch!« fragte er.

Jaggar starrte ihn an. »Nicht ganz«, sagte er

grinsend. Aber er verbiß sich eine weitere Bemerkung,

als er den Jammer in den Augen des Jungen sah Er

schüttelte verwundert den Kopf. Wovon sprach dieser

junge Narr eigentlich. Dachte er etwa ...

In dem Augenblick kam ein vielstimmiger Schrei

vom Marktplatz. Er wandte sich um und sah, daß alle

auf das Wasser der Bucht hinausstarrten. Verwundert

wandte er sich ebenfalls in die Richtung.

Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern

gefrieren.

Vom offenen Meer her kam etwas in das

Hafenbecken, durchbrach in rhythmischen Abständen

die glatte Wasseroberfläche wie ein riesiger sich

krümmender Wurm. Ein Schädel mit breitem Rachen,

spitzen Zähnen, zwischen denen das Wasser

herausquoll, wenn er emportauchte, und großen

runden, seitlichen Augen, ein langeraalglatter Körper,

der in der Mittagsonne wie Silber glänzte – eine der

gefürchteten, legendären Seeschlangen, von denen

Männer zu berichten wußten, daß sie ganze Schiffe mit

Mann und Maus in die Tiefen des Meeres zogen.

Und sie kam geradewegs auf die Kais zu, als wolle

sie sich mitten aus der gelähmten Menge ein Opfer

schlagen oder eines der Schiffe erbeuten mitsamt seiner

lebenden und toten Ladung.

Page 14: Der Schlangengott

Einen Augenblick war der Impuls zu rennen

übermächtig. Aus den Augenwinkeln sah er, daß Galis

und die Männer der Wellenreiterin in panischer Flucht

auf die ersten Häuser zuliefen, um dahinter Schutz zu

suchen. Dann siegte der Mann in ihm, der er immer

gewesen war. Wie gut oder schlecht seine Taten auch

immer gewesen sein mochten, niemand durfte es

geben, der ihm Feigheit vorwerfen konnte, ohne dafür

den Biß der Klinge zu fühlen. Auch Jellis würde dafür

bezahlen – auf die eine oder andere Weise.

Fast unbewußt zog er die Klinge blank und riß das

Entermesser mit der Linken aus dem Gürtel.

Keine zehn Manneslängen von ihm entfernt tauchte

der Kopf der Schlange aus dem trüben Wasser des

Hafens und hielt in ihrer Bewegung inne. Reglos starrte

sie auf die Menschen, die Schritt für Schritt

zurückwichen. Jaggar schien sie nicht wahrzunehmen.

Vielleicht stand er bereits zu weit seitlich für die

starren Augen des Wesens.

Nach einem endlosen Augenblick, in dem sicherlich

keine Seele im ganzen Hafen zu atmen wagte, sank sie

in die Fluten zurück, und ihr Schwanz peitschte das

Wasser zu grauem Schaum. Die Schiffe schwankten

unter dem Wellengang und knarrten in ihren

Verankerungen.

Dann war es still. Nichts mehr kam empor.

Mit einem erleichterten Pfeifen stieß Jaggar die Luft

Page 15: Der Schlangengott

aus. Eine Schlange aus dem Meer! Wahrhaftig. König

Jellis schien recht zu haben mit dem Omen. Vielleicht

war dieser Dragon bei weitem nicht so stark, wie man

ihm berichtet hatte.

Es geschahen Dinge, wie sie noch nie zuvor

geschehen waren. Die Myraner hatten recht: Es war das

Jahr der Schlange!

Dann geschah etwas sehr Merkwürdiges: Ein

Mensch tauchte aus dem leicht bewegten Wasser an die

Oberfläche und schwamm in kräftigen Stößen zur

felsigen Hafenmauer, an der er mit affenartiger

Behendigkeit hochkletterte und vor den verblüfften

Bewohnern Candis‘ auf den Marktplatz zuschritt.

Jaggar folgte ihm unwillkürlich, ohne daß es ihm

recht bewußt wurde. Ein Wunder war geschehen! Ein

Mann war aus dem Rachen der Schlange gestiegen –

oder so gut wie. Nichts anderes konnte es bedeuten, als

daß die Schlange ihn in den Hafen gebracht hatte.

Und wie zur Bestätigung seiner Gedanken hörte er

die Stimme des Mannes, der die Arme ausgebreitet

hatte und laut verkündete:

»Ich bin der Abgesandte von Mis, der Göttin der

Schlange. Bringt mich zu eurem König!«

In der Stille, die nach diesen Worten herrschte, sagte

Jaggar mit gewaltsam fester Stimme: »Ich, Fremder, ich

bringe dich zum König!«

Page 16: Der Schlangengott

Er schritt an dem triefenden Fremden vorbei, nicht

ohne ihn neugierig zu mustern. Aber nichts

Ungewöhnliches fiel ihm auf. Der Mann war alt,

bestimmt an die siebzig oder achtzig Winter. Sein

wallender Kinnbart war grau, sein Haar schlohweiß. In

seinem Gesicht war kein Funken von Schwäche, als

wäre sein Alter nur äußerlich, eine Maske der Würde.

In seinen Augen war eine Unerbittlichkeit, die Jaggar

erschreckte, aber nur für einen Augenblick, dann nickte

der Fremde ihm freundlich zu.

»Ich sehe, du bist auch ein Sohn der Schlange!«

»Du mußt dich irren. Fremder«, widersprach Jaggar

nachdrücklich.

Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich sehe Gift in

deinem Herzen. Männer wie dich kann ich gebrauchen.

Ein Dutzend von deiner Sorte für Mis‘ Tempel ...«

Jaggar ging nicht darauf ein. »Du willst einen

Tempel errichten?« fragte er neugierig.

»Vielleicht«, antwortete der alte Mann ausweichend.

Sie erreichten den Palast. Viele der Bewohner

Candis‘ waren hinter ihnen hergeschritten, und wer es

nicht selbst gesehen hatte, wie der Fremde aus dem

Rachen der Schlange gestiegen war, der bekam es in

hastigen Worten berichtet. Wie ein Lauffeuer breitete

sich die Nachricht in Candis aus, daß Mis selbst ihren

obersten Priester gebracht habe, um ihr Erbe über die

Schlangeninsel anzutreten.

Page 17: Der Schlangengott

Mis – der Name war allen vertraut. Eine Legende

aus einer Vergangenheit, die Äonen zurücklag. Als die

Welt noch jung war. »Sag mir deinen Namen«, bat

Jaggar, »damit ich ihn dem König nennen kann.«

Der Fremde nickte. »Merkt ihn euch wohl: Er ist

Serphat. Welches ist das Gemach?«

»Das letzte linker Hand, Priester.«

»Gut. So laß mich allein. Ich bin es gewöhnt, in die

Gemächer der Könige allein zu gehen.«

»Wie du meinst, Priester«, antwortete er enttäuscht.

Aber er zeigte die Enttäuschung nicht. Früher oder

später würde Jellis ihn rufen.

Er sah den Alten mit den beiden Wachen vor des

Königs Tür verhandeln und schmunzelte. Die würden

ihn nicht durchlassen. Das kostete sie den Kopf.

Dann sah er verblüfft, wie sie plötzlich wie ein

Mann zur Seite traten und dem Fremden den Weg

freigaben.

Der trat ein, ohne sich noch einmal umzusehen.

Verwundert ging Jaggar auf die Tür zu. Er hielt vor

den beiden Wachen an, die starr wie Figuren

dastanden. Mit wachsendem Mißtrauen bemerkte er,

daß die beiden ihn scheinbar nicht wahrnahmen.

Keiner würdigte ihn eines Blickes. Sie starrten ins

Leere, und Kelim mochte wissen, was in ihnen vorging.

Er berührte einen. Er schwankte, machte aber keine

Anstalten, sich festzuhalten.

Page 18: Der Schlangengott

Der Fremde mußte etwas mit ihnen getan haben.

Immer wieder einen mißtrauischen Blick auf die beiden

Krieger werfend, näherte sich Jaggar leise der Tür und

lauschte, den Kopf an das Holz gepreßt.

Er wurde belohnt. Stimmen waren hörbar, schwach

zwar, aber weitgehend verständlich. Der König war

offensichtlich verärgert. In der Stimme des Alten

schwang eine versteckte Drohung. Der König mußte

sie wohl vernehmen.

Von Mis war die Rede, und von Macht. Der Priester

hatte offenbar Forderungen gestellt, denn Jellis

erwiderte eben in heftigen Worten, die Jaggar ein

Grinsen entlockten.

Darauf folgte eine Antwort, ruhig und von

unmenschlicher Kälte. Es klang wie eine Beschwörung.

Dann kam das gefährliche Zischen eines Reptils, das

Jaggar einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Er

hörte Jellis entsetzt aufschreien und nach den Wachen

rufen.

Jaggar riß die Tür auf und starrte auf die

unglaubliche Szene. König Jellis stand mit bleichem

Gesicht an seinem Thron. Seine Hände umklammerten

die Lehnen mit solcher Gewalt, daß die Knöchel der

Finger weiß hervortraten. Seine Augen quollen hervor

und wichen nicht von der schenkeldicken, gute drei

Manneslängen messenden Schlange, deren schmaler

Kopf zischend vor dem Thron pendelte.

Page 19: Der Schlangengott

»Jaggar«, stieß der König hervor, »wo sind meine

Männer?«

»Sie können dich nicht hören, König ...«

»Sag mir, daß ich träume, Jaggar ...!«

»Ich fürchte, nein. König«, brachte der Kapitän

hervor.

»Dein Schwert, Jaggar!« rief der König. »Worauf

wartest du? Töte sie ...!«

Jaggars Hand fuhr zum Griff und erstarrte dort.

»Glaubst du nicht, König«, sagte die Schlange mit

zischenden Lauten, »daß ich euch beide töten könnte,

bevor dein Freund seine Klinge gezogen hat?«

Gleichzeitig verlor sie ihre Form, zerfloß auf dem

Boden zu einer dunklen Masse, die sich neu formte.

Der Priester stand wieder vor ihnen, mit einem kalten

Lächeln auf den Lippen.

»Aber ich bin nicht hier, um zu töten, König Jellis.

Meine Göttin Mis bedarf deines Wohlwollens, und sie

verspricht reichen Lohn.«

Jaggar entspannte sich. Er spürte noch immer

Gefahr, aber sie schien nicht mehr so greifbar, wie noch

im Augenblick zuvor. Er erkannte, daß es nichts gab,

das ein gutes Schwert hätte tun können – außer den

Alten zu töten. Aber nach allem, was er erlebt hatte,

zweifelte er daran, daß der Alte auch tot blieb.

Er sah, wie der König sich in seinen Thronstuhl

setzte und seine gewohnte sarkastische Haltung

Page 20: Der Schlangengott

wiederzugewinnen suchte.

»Was ist es, das Mis von mir will?« fragte er.

»Daß das Bildnis des Stieres für immer von dieser

Insel verschwindet. Daß die Altare Mis geweiht

werden, und daß alles Blut nur Mis zu Ehren vergossen

wird.«

Jaggar sah, wie der König innerlich lachte. Minos

Gott zu zertreten, das lag ihm schon längst im Sinn.

Jellis nickte. »Gewährt«, sagte er. Er gewann seine

alte Selbstsicherheit wieder. »Wenn du, Priester deiner

Göttin, das Volk mit deiner Macht überzeugst ...«

Der Alte nickte. Er deutete zu den Fenstern. »Sieh

hinaus, König. Sie alle, die dort unten stehen, kennen

Serphats Macht. In aller Herzen ist Furcht und

Bewunderung. Sie werden Mis dienen.«

Der König trat an eines der Fenster und starrte

hinaus. Der ganze Vorplatz des Palasts hatte sich mit

Menschen gefüllt, die neugierig nach oben starrten. Er

wandte sich um und sagte spöttisch: »Sie hoffen auf ein

Wunder. Auf meinen Tod.«

Wenn diese Worte den Alten beeindruckten, so

zeigte er es nicht. Er fragte: »Wann beginnt das Fest zu

Ehren Minos?«

»Morgen«, erklärte Jellis.

»So werde ich morgen an deiner Seite sein, um auch

die Priester Minos zu lehren, daß das Bildnis der

Schlange schon in diese Felsen gehauen war, bevor

Page 21: Der Schlangengott

Mino über diese Welt schritt.«

Er ging zur Tür.

»Serphat, sagtest du, heißt du?« fragte der König

rasch.

Der Alte wandte sich ungeduldig um und nickte.

»Was ist der Lohn, den mir Mis verspricht« »

»Macht«, antwortete er, und gekleidet in seine

Stimme klang es, als bedeutete es unendlich viel.

Wieder fühlte Jaggar die Kälte. Er sah auf Jellis, aber

aus des Königs Zügen war nichts zu erkennen.

»Und Beistand gegen Myra, das dir sehr am Herzen

liegt. «

Jellis‘ Augen leuchteten auf. »Da hast du recht. Es

liegt mir sehr am Herzen.« Er blickte Jaggar

triumphierend an.

Als sie beide zur Tür sahen, war der Alte

verschwunden.

2.

Jaggar erwachte durch ein leises Plätschern, das nicht

mit dem Rhythmus der Wellen übereinstimmte. Er

hatte einen sehr leichten Schlaf.

Im Gegensatz zu den Bordwachen!

Da war es wieder! Er hatte sich nicht geirrt. Daran

Page 22: Der Schlangengott

hatte er auch nicht gezweifelt. Es lag an seiner Art, die

Gefahr zu fühlen, noch bevor die Sinne etwas

wahrnahmen.

Er starrte in der Dunkelheit gegen die Decke seiner

Kajüte und lauschte. Gleich darauf hob sich etwas aus

dem Wasser, und das Schiff schwankte kaum merklich.

Er wartete auf die hastigen Schritte der Wachen. Aber

sie blieben aus.

Fluchend tastete er nach seinem Gürtel und zog das

schmale, zweischneidige Schwert aus der Hülle. Er

zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß der

nächtliche Besuch ihm galt. Es mochte eine ganze

Menge Leute geben, die ihm an den Kragen wollten.

In erster Linie der König, dem Jaggar nun ein

lästiger Zeuge seiner Unterredung mit dem

Schlangenpriester sein mußte!

Im gleichen Augenblick wußte er auch, warum die

Wachen sich nicht rührten. Wenn der Anschlag vom

König ausging, dann war Galis darauf vorbereitet und

hatte dafür gesorgt, daß es keine Hindernisse gab.

Ein leises Scharren an der Bordwand ließ erkennen,

daß der Eindringling die Reling erreicht hatte und

überkletterte. Noch immer schwankte das Schiff leicht

gegen die Bewegung der Wellen. Mehrere waren es

also, die kamen. Er tastete rasch nach seinen

Beinkleidern und zog sie an. Dann sein Hemd, das er

mit dem breiten Gürtel um die Mitte band. Er

Page 23: Der Schlangengott

vergewisserte sich, ob sein Messer im Gürtel steckte.

Wieder erklang das Scharren und sagte ihm, daß es

höchste Eile war, etwas zu unternehmen.

Mit der Klinge blank in der Rechten tastete er sich

vorsichtig zur Kajütentür. Auf dem Niedergang war

noch alles still. Er lächelte grimmig. Vermutlich

warteten sie, bis sie alle beisammen waren.

Er öffnete die Tür und starrte ins Freie. Der helle

Himmel ließ ihn alles gut sehen. Rasch schlüpfte er

hinaus. Sich in einer der Mannschaftskabinen zu

verbergen, bedeutete nur einen Aufschub. Er mußte an

Deck.

Vorsichtig schlich er die Treppe hoch und riskierte

einen Blick über Deck. Niemand zu sehen. Alles war

ruhig. Er zögerte keinen Augenblick. Die Klinge an den

Leib haltend, damit sie nicht verräterisch im Mondlicht

aufblitzte, erreichte er mit zwei Sprüngen den

Großmast, in dessen Schatten er so gut wie unsichtbar

war. Das Deck war leer, aber Geräusche kamen vom

Bug

her – flüsternde Stimmen. Dann sah er am Fockmast

mehrere Gestalten auftauchen. Er zählte ein halbes

Dutzend, als sie an ihm vorbeischlichen – auf die

Kajütentreppe zu. Er sah ihnen nach, bis sie alle

verschwunden waren, dann verließ er den Schatten des

Mastes und hastete auf die Treppen des Steuerhauses

zu.

Page 24: Der Schlangengott

Plötzlich sprang eine einzelne Gestalt über die

Reling und stellte sich ihm in den Weg. Sie hielt eine

krumme Klinge in der Faust und war nackt bis auf

enge, knielange Beinkleider, die vor Nässe troffen.

»Kapitän Jaggar«, rief die Gestalt halblaut.

Jaggar erkannte sie an der Stimme wieder. »Wigor!«

entfuhr es ihm.

»Ja. Kapitän. Jetzt ist der Augenblick, für den Raub

an myranischen Küsten zu bezahlen. Erinnert Ihr Euch

nicht an Deyman, das Ihr vor acht Monden

plündertet?«

»Nein«, knurrte er und sah nervös zur

Kajütentreppe. Jeden Augenblick mußten die Männer

herausfinden, daß er sie übertölpelt hatte. Dann kamen

sie und fanden ihn hier, und er hatte noch einen

Gegner dazu.

Seine Klinge ruckte hoch, aber der Junge war auf der

Hut. Er sprang einen Schritt zurück.

»Was war in Deyman, an das ich mich erinnern

müßte?«

»Ihr habt drei Mädchen geraubt und zwei Männer

erschlagen!« Die Stimme des Jungen zitterte.

»Wenn ich Männer erschlug, dann war es im Kampf.

Und wenn ich Mädchen raubte, dann weil sie schön

waren und gutes Gold brachten. Was wirfst du mir also

vor?«

»Eines dieser Mädchen war mir versprochen«, sagte

Page 25: Der Schlangengott

der Junge langsam, als wollte er die Worte gut

einwirken lassen. »Und einer der Männer war mein

Bruder! Und Ihr werdet jetzt für beide bezahlen!«

Er sprang vor und schwang die Klinge. Jaggar

parierte nicht, um seine anderen Widersacher durch

das Klirren der Schwerter nicht aufmerksam zu

machen. Er wich zurück. »Warte!« sagte er rasch. Der

Junge hielt zögernd inne. »Ihr könnt Euer Leben nicht

mehr erkaufen, Kapitän. Ich bin ein halbes Jahr hinter

Euch hergefahren, um es zu nehmen. Eures gegen

meines!« Er wollte erneut auf Jaggar eindringen. Der

wich wiederum zurück. »Warte, bei Kelim! Hör mich

an!«

»Ich höre, Kapitän!«

»Still!« zischte Jaggar. Er deutete in die Richtung der

Kajüte. »Wenn du deine Rache haben willst, dann mußt

du sie dir erkaufen. Du bist nicht der einzige Feind,

den ich in dieser Nacht habe. Ein halbes Dutzend

Schergen eines größeren Feindes wird mein Bett in

diesem Augenblick leer finden. Horch!«

»Ihr meint, sie wollen Euch ermorden? Im Bett?«

fragte der Junge ungläubig und mißtrauisch.

»Wolltest du das nicht auch? Bist du nicht bei Nacht

auf mein Schiff geklettert?« fragte Jaggar unwillig.

»Ja, ich will Euch töten. Aber nicht im Bett und nicht

von hinten, wenn Ihr Euch stellt ...«

»Also gut, ich werde mich stellen. Nachher, wenn

Page 26: Der Schlangengott

der König nicht seine besten Schergen geschickt hat ...«

»Der König?« entfuhr es dem Jungen. »Der König

trachtet Euch nach dem Leben ...?«

»Allerdings. Ich denke nicht, daß ich mich täusche.

Es ist im Grunde einerlei. Wenn du wirklich auf einen

ehrlichen Kampf erpicht bist, dann bleib meinem

Rücken fern, so lange ich mit diesem Gesindel

beschäftigt bin!«

»O nein!« rief der Junge halblaut. »Ich fahre nicht ein

halbes Jahr hinter Euch her, auf Schiffen, die mich halb

blind vor Übelkeit gemacht haben, nur um dann

zuzusehen, wie Euch jemand vor meinen Augen ab ...«

Das Wort erstarb ihm in der Kehle. Er war in seiner

Erregung für einen Augenblick unbedacht geworden,

und Jaggar hatte den Moment genützt. Mit einer

raschen Bewegung ergriff er den Schwertarm des

Jungen und hielt ihm die Klinge an die Kehle.

»Du bist jung und unvorsichtig. Und so wirst du

nicht sehr alt werden.« Er betrachtete das totenblasse

Gesicht des Jungen und wußte, daß es nicht besser war,

wenn er zustieß, als das, was des Königs Männer

vorhatten: Mord.

Tumult drang aus dem Unterdeck. »Wie ist es?

Kämpfst du an meiner Seite gegen diese Brut, oder ...«

»Das war es, was ich vorschlagen wollte«, würgte

Wigor hervor.

Jaggar ließ ihn los und drängte ihn in den Schatten

Page 27: Der Schlangengott

des Mastes zurück. »Bleib in Deckung«, flüsterte er.

»Sie sollen nicht gleich sehen, daß sie es mit zweien zu

tun haben.«

Dann stürmten die ersten die Treppe hoch und

sprangen an Deck.

»Ihr sucht mich, wenn ich recht geraten habe!« sagte

Jaggar laut, daß es über das nächtliche Deck hallte.

Einen Moment standen die Gestalten überrascht

still.

Dann kamen sie näher – zögernd, als scheuten sie

davor zurück, ihr Opfer hier im offenen anzugreifen,

wo es nicht ohne Zeugen bleiben würde, als wären sie

unsicher, wie ihr Auftraggeber in diesem Fall

entscheiden würde.

Dann aber rief einer ein paar Worte und stürmte auf

Jaggar los. Sein Schwert blitzte im Mondlicht auf, als es

in seitlichem Bogen herabkam. Jaggar parierte mit dem

Entermesser und stach mit seiner geraden Klinge zu.

Mehrere Aufschreie folgten. Einer aus Schmerz, der

röchelnd verklang. Die anderen aus Wut von der

Kajütentreppe her. Im nächsten Augenblick knarrten

die Bohlen, als sie mit blitzenden Klingen auf ihn

zuliefen. Alle Lautlosigkeit und Vorsicht war

vergessen. Nur die Wut über den Verlust des

Gefährten beherrschte die Angreifer. Gleichzeitig

drangen sie auf ihn ein, aber sie sahen plötzlich zwei

Gegner vor sich, als Wigor aus dem Schatten sprang.

Page 28: Der Schlangengott

Sie zögerten überrascht. Jaggar nützte den Moment.

Sein Schwert zuckte vor – biß in einen der Leiber.

Der Mann fiel mit einem Aufschrei. Mit erneuter

Wut drangen die nächtlichen Angreifer auf sie ein. Vier

gegen zwei. Jaggar sah aus den Augenwinkeln, daß der

junge Wigor wie ein Teufel focht, um die beiden

bulligen Angreifer abzuwehren. Dann war er mit

seinen eigenen Gegnern beschäftigt. Sie behinderten

einander selbst ein wenig, aber die Dunkelheit war auf

ihrer Seite. Es war schwer, die Schwerter zu sehen und

zu parieren. Langsam wich er zur Reling zurück, damit

sein Rücken frei blieb. Er hörte einen Aufschrei und

sah, daß die anderen den Jungen in die Enge getrieben

hatten.

»Ich komme!« rief er und sprang auf seine

Widersacher los. Einen hieb er nieder. Der zweite traf

ihn am Arm und schnitt tief. Jaggar sah den Triumph

in den Augen des anderen. In diesem Augenblick

wurde das Schiff lebendig. Männer krabbelten

schlaftrunken aus dem Unterdeck hervor, halbnackt

und unbewaffnet bis auf den einen oder anderen, der

sich mit dem Messer schlafen legte. Aber allein ihre

Zahl wirkte auf die gedungenen Mörder alarmierend.

Zwei ergriffen die Flucht und stürzten sich über die

Reling in die Fluten. Der dritte stand über dem hilflos

am Boden liegenden Wigor und wollte es sich nicht

nehmen lassen, den tödlichen Stoß zu Ende zu bringen.

Page 29: Der Schlangengott

»Hund!« rief Jaggar. Sein Messer flog und fand sein

Ziel. Die hochaufgerichtete Gestalt schien sich unter

dem Anprall noch zu strecken. Das erhobene Schwert

beschrieb einen weiten Bogen nach vorn und entfiel der

kraftlosen Faust. Mit lautem Klirren schlitterte es über

das Deck, als die Gestalt über den Jungen fiel.

Während die Männer der Besatzung Fackeln

herbeiholten und aufgeregt über das Deck schwärmten,

fühlte Jaggar, wie sein Arm zu schmerzen begann. Blut

floß warm über die Haut. Er schlitzte den Ärmel seines

Hemdes, während er auf Wigor zuschritt, und wickelte

ihn straff um die Wunde. Der Junge rappelte sich

benommen hoch.

»Die Taue«, stammelte er.»Ich stolperte über die

Taue ...« Er starrte auf den Griff des Messers, der aus

dem Rücken des Toten ragte, der ihm beinahe selbst

den Tod gebracht hätte.

Jaggar grinste. »Du siehst, man kann sich die Art zu

kämpfen nicht immer aussuchen.« Wigor nickte bleich.

»Merk es dir. Ich bin mit dem Dolch so rasch wie mit

dem Schwert! Aber jetzt wollen wir sehen, wer unsere

nächtlichen Besucher waren.«

Das Schiff beleuchtete den halben Kai mit dem

Lichtschein seiner Fackeln. Jaggar gab Befehl, alle bis

auf zwei oder drei zu löschen. Zu gut hatten sonst ein

paar Bogenschützen aus dem Hinterhalt das Werk

vollbringen können, an dem die nächtlichen

Page 30: Der Schlangengott

Meuchelmörder gescheitert waren. Er gab dem

Steuermann Anweisung, nach den Männern zu suchen,

die zur Zeit des Überfalls Wache hatten.

Sie wurden auch gleich darauf im Laderaum

entdeckt, bewußtlos und gut verschnürt. Jemand hatte

viel Zeit dazu gehabt. Galis war nicht an Bord, wie sich

herausstellte. Aber es fehlten auch noch drei andere

Männer, die den Landurlaub bei ihren Familien in

Candis verbrachten.

Die vier Leichen an Bord waren unbekannte

Männer. Keiner der Besatzung hatte sie je zuvor

gesehen, wenigstens konnten sie sich nicht erinnern.

Sie trugen die typische Candiser Kleidung, ein

sackartiges Gewand, um die Mitte mit einem Gürtel

gerafft. Sie waren barfuß und ohne Kopfbedeckung.

Nichts wies auf ihren Auftraggeber hin. Mißmutig

befahl Jaggar, sie ins Meer zu werfen und dafür zu

sorgen, daß sie unten blieben. Dann wies er zwei seiner

Bootsleute an, einen Heilkundigen aus der Stadt zu

holen, der nach seinem Arm sehen sollte. Die Wunde

war recht tief, und es gab Kräuter, die den Schmerz

lindern konnten.

»Nun, wie ist es mit unserem Kampf?« fragte er den

Jungen.

Wigor schüttelte den Kopf, »Ich bin in Eurer

Schuld.«

»Und ich in deiner. Ich schlage vor, wir verschieben

Page 31: Der Schlangengott

unseren Streit, bis wir Zeit und Muße dafür haben«,

meinte Jaggar bereitwillig. Der Junge gefiel ihm. »Einen

wie dich könnte ich brauchen. Eine Klinge, auf die ich

mich verlassen kann, wenn sie auch noch ein wenig

unerfahren ist. An meiner Seite wird sie lernen, was ihr

noch fehlt ...!«

»Um zu rauben und zu plündern?« fragte Wigor

bitter.

Jaggar lachte. »Um Beute zu machen«, sagte er

zustimmend. »Und du sollst deinen guten Anteil

davon haben ...«

»Seht Ihr denn nicht, daß ich das nicht kann? Daß es

mir von ganzem Herzen widerstrebt?«

Jaggar zuckte die Schultern. »Wir wollen es bei Wein

besprechen. Es wird noch eine Weile dauern, bis der

Heiler kommt. Sei mein Gast.« Er deutete auf die

Kajütentreppe. »Du mußt mir mehr von deiner Braut

erzählen, Junge. Sicher werde ich mich an sie

erinnern.«

Sie stiegen hinab, und im Licht der entzündeten

Öllampe sah Jaggar, daß die ganze Kabine durchwühlt

worden war. Die Decken zeigten deutlich, daß mehrere

Klingen in das Bett gefahren waren.

»Mörderpack!« murmelte Jaggar angewidert.

Der Junge starrte entsetzt auf die Löcher in den

Decken und der Unterlage. Jaggar sah, daß er sein

Narrenkostüm abgelegt hatte. In der einfachen

Page 32: Der Schlangengott

Candiser Kleidung sah er noch jünger aus.

Der Steuermann kam den Niedergang herab.

»Käpt‘n! Glaubst du nicht, es wäre besser, außerhalb

der Bucht zu ankern?«

»Nein, Megil. Ich denke, daß es genügt, wenn wir

die Wachen verdoppeln. Sage den Kanaken, daß ich sie

an den Mast knüpfe, wenn sie sich noch einmal

übertölpeln lassen. Und schick Galis zu mir, sobald er

an Bord kommt. Ich möchte doch zu gern hören, was er

von der Sache hält.«

»Aye, Käpt‘n.«

»Ah, Megil. Haben wir noch Schiffskleidung an

Bord?«

Der Steuermann nickte.

»Bring mir Beinkleider, die ihm passen.« Jaggar

deutete auf den Jungen. »Und Torquis soll ihm einen

Gürtel schneiden. Man soll sehen, daß er kein Fremder

ist, sondern einer der unseren ...«

»Aye, Käpt‘n.« Der Steuermann verschwand.

»Kapitän«, widersprach Wigor. »Es scheint mir, Ihr

habt nicht verstanden, was ich vorhin sagte, nämlich

daß ich ...«

»Daß du nicht mit mir auf Beutezug gehen willst.

Doch, das habe ich verstanden. Und jetzt hör mich

genau an, du Edelmann. Du bist hier in Feindesland

...!«

»In Feindesland?« wiederholte der Junge.

Page 33: Der Schlangengott

»Mhm. In wenigen Tagen wird König Jellis mit einer

gewaltigen Flotte nach Myra segeln. Und wie ich ihn

kenne, wird er rechtzeitig beginnen, das Feuer zu

schüren, das die Bevölkerung der Insel für seine Pläne

begeistert. Was denkst du, wo du endest, wenn je einer

auf den Verdacht kommt, daß du aus Myra stammst?«

Der Junge schwieg. Er war bleich.

»Im Teich der Krokodile«, fuhr Jaggar ungerührt

fort. »Und sie sind immer hungrig.«

»Krieg zwischen Myra und der Schlangeninsel!«

stieß Wigor hervor. »Und Zogor ist noch im Kampf

gegen Urgor!«

Jaggar lachte. »Du mußt in der Tat eine Weile von

zu Hause fortgewesen sein. Zogor ist längst geschlagen

...!«

»Zogor geschlagen? Über fünfhundert

Hundertschaften geschlagen? So ist dieser Dragon ...?«

»Ganz recht, junger Freund. Dragon herrscht über

Myra. Das ändert die Situation, nicht wahr?«

Wigor schien ihn gar nicht zu hören. Er mußte sich

erst mit der ungeheuerlichen Tatsache vertraut

machen, daß Zogor und das gewaltige myranische

Heer geschlagen waren. Nicht daß einer seines Dorfes

König Zogor Verehrung oder Sympathie

entgegengebracht hätte. Daß jemand es vollbracht

haben sollte, dieses reiche, starke Myranien zu erobern

und Zogor von seinem blutigen Thron zu fegen, konnte

Page 34: Der Schlangengott

er nicht fassen. Aber es änderte nichts. Deyna war seine

Heimat, egal, wer sie regierte. Es konnte nur zum

Besseren kommen. Und nun griff Jellis diesen Dragon

an, der vielleicht noch an den Wunden des Krieges

leckte und schwach war ...

Das mußte alles erst verdaut werden. König Jellis, so

sagten die Menschen hier auf der Insel, war willkürlich

und grausam. Das würde bedeuten, daß ein Zogor den

anderen ablöste! Von Dragon wußte er wenig. Gab es

überhaupt andere als willkürliche, grausame Könige?

»Also, wie ist es?« fragte Jaggar. »So lange du auf

der Insel weilst, bist du einer von der Wellenreiterin.

Du hast keine Feinde, außer meinen ...«

Wigor grinste zum erstenmal. Es war ein

Zugeständnis. »Sie sind nicht gerade wenige, Eure

Feinde«, meinte er. »An sämtlichen Küsten sitzen

welche, und im Heimathafen lauert der König selbst

auf Euch. Aber solange der König unser gemeinsamer

Feind ist, nehme ich Euer Angebot dankend an und

leihe Euch meine Klinge, die noch einen guten

Lehrmeister braucht.«

Jaggar nickte erfreut. »Wir werden gemeinsam nach

Myra fahren. Dort magst du dich auf die andere Seite

schlagen. Diese Gelegenheit will ich dir gern

verschaffen. Und sollten wir uns dann

gegenüberstehen, so ist der rechte Augenblick für das

Eisen.« Er schlug gegen den Griff seines Schwertes.

Page 35: Der Schlangengott

»Abgemacht?« Er hielt dem Jungen die unverletzte

Rechte hin, die dieser enthusiastisch ergriff.

»Aye, Käpt‘n!«

»Deinen Namen werden wir ändern müssen«,

überlegte Jaggar. »Jeder würde sonst wissen, daß du

nicht von der Insel bist. Ich werde der Mannschaft

sagen, daß du Wiquin heißt, so ist zumindest ein wenig

von deinem Namen erhalten.«

Schritte näherten sich über die Treppe. »Das wird

der Heiler sein«, sagte Jaggar. »Sei schweigsam und

einsilbig. An der Sprache würde dich jeder erkennen,

obwohl es auch einige Stämme auf der Insel gibt, in

den Bergen im Westen, die anders sprechen als wir.«

Jemand pochte an die Tür. »Galis ist hier, Käpt‘n!«

Das war die Stimme des Steuermanns.

»Herein mit ihm!« brüllte Jaggar.

Die Tür flog auf, und der Bootsmann der

Wellenreiterin trat ein. Seine grobschlächtigen Züge

waren angespannt. Sein rechtes Handgelenk hatte er

mit einem Tuch umwunden, an dem ein roter Blutfleck

sichtbar war.

»Käpt‘n?« Es klang unsicher.

»Seit wann bist du vom Schiff?« fragte Jaggar

barsch.

»Seit Stunden«, erwiderte der Bootsmann.

Jaggar sah ihn grimmig an. »Du glaubst mir nicht,

Käpt‘n?« fragte Galis. »Quelim, der Wirt, wird es dir

Page 36: Der Schlangengott

bestätigen ...«

»Und das?« Jaggar deutete auf die Wunde an der

Hand. »Ich hatte Streit«, erwiderte Galis. »Das sehe

ich«, bemerkte Jaggar trocken. »Hat man dir

inzwischen berichtet, was geschehen ist?«

Galis nickte zögernd. »Es gab einen Überfall?«

»Den gab es«, bekräftigte Jaggar. »Und einer auf

dem Schiff muß ein Verräter sein. Der gleiche, der die

Wachen überwältigte und in den Laderaum schloß.

Hast du jemanden in Verdacht, Bootsmann?«

Um die Mundwinkel des Mannes zuckte es. »Ich

war nicht an Bord, Käpt‘n. Nein, ich weiß nicht, wer

diese Schweinerei begangen haben soll ...«

»Natürlich, ich vergaß, daß du nicht an Bord warst.

Du wirst jetzt die Aufsicht über die Bordwachen

übernehmen, und ich hänge dich eigenhändig an den

Großmast, wenn es in dieser Nacht noch zu einem

einzigen Zwischenfall kommt. Klar. Bootsmann?«

»Aye, Käpt‘n«, knirschte Galis und verließ die

Kajüte.

Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte,

entfuhr es Wigor: »Käpt‘n Jaggar, dieser Mann war ...«

Der Kapitän legte warnend den Finger an die

Lippen. Wigor schwieg. Als Jaggar zur Tür schritt,

entfernten sich draußen hastig Schritte über die Treppe

ans Deck. Jaggar grinste, aber seine Fäuste waren

geballt. »Eines Tages werde ich ihm den Hals

Page 37: Der Schlangengott

umdrehen, auch wenn er des Königs Schurke ist!«

»Käpt‘n, der Mann war vorhin dabei. Er gehörte zu

den Angreifern!«

Jaggar fuhr herum. »Bist du sicher? Hast du sein

Gesicht erkannt?«

»Nein.« Wigor schüttelte den Kopf. »Aber ich

verwundete einen am Gelenk der rechten Hand.«

Jaggar schritt nachdenklich auf und ab. »Galis selbst

also tut die schmutzige Arbeit. Dann besteht kein

Zweifel, daß der König dahintersteckt.« Er wandte sich

an den Jungen. »Ich habe einen Auftrag für dich. Aber

es wird nicht leicht sein!«

»Das ist mir recht, Käpt‘n.«

»Behalte Galis im Auge. Tag und Nacht. Folge ihm,

wenn er an Land geht. Finde heraus, mit wem er sich

trifft. Und töte ihn, wenn du sicher bist, daß er neuen

Verrat plant ...«

»Töten?« entfuhr es Wigor.

»Es ist der einzige Weg. Der König würde niemals

dulden, daß ich Galis aus meiner Mannschaft entlasse.«

»Aber der König wird einen neuen Mann finden«,

wandte der Junge ein.

Jaggar nickte. »Möglich. Aber er hat nicht mehr viel

Zeit. Wir werden bald auf dem Weg nach Myra sein,

wenn ich die Lage recht einschätze. Serphats Einfluß

wird gewaltig sein, und des Königs Gier wird siegen,

all meinen Warnungen zum Trotz ...«

Page 38: Der Schlangengott

»Wer ist dieser Serphat?«

»Diese Schlange«, erklärte Jaggar, »die gestern aus

dem Meer stieg und dir die Chance zur Flucht gab, sie

ist Serphat.«

»Aber was hat der König mit einer Schlange zu

schaffen, und welchen Einfluß sollte sie ...?«

»Du wirst alles am Morgen selbst sehen. Bei

Sonnenaufgang in Minos Tempel, mein Junge. Und es

scheint, als würde es ein blutiges Fest werden.«

3.

Als die ersten Strahlen der Morgensonne über die

Berge der Schlangeninsel krochen und Candis und den

Hafen in ihr Licht tauchten, waren die meisten

Bewohner der Stadt schon auf den Beinen, um letzte

Vorbereitungen für das Fest Minos, des Stieres, zu

treffen.

Aber diese Vorbereitungen wurden unterbrochen

durch ein Schauspiel, das einige schon am Vortag

gesehen hatten. Vom offenen Meer her tauchte

rhythmisch der gewaltige Leib einer Schlange. Die

Mutigeren unter den Zuschauern, die das alles schon

gesehen hatten, liefen auf den Kai zu. Die anderen

wichen langsam zu den Häusern zurück. Diese

Page 39: Der Schlangengott

Atemlosigkeit, mit der Serphat bei seiner ersten

Ankunft begrüßt worden war, stellte sich nicht mehr

ein. Aber immer noch war es ein großer Zauber, der

geschah, und er beeindruckte die Menschen tief.

Als Serphat schließlich in seiner menschlichen

Gestalt aus dem Wasser stieg, ging ein Raunen durch

die Menge.

Er breitete die Arme aus und rief: »Ich bin Serphat,

der Oberste Priester der Mis, Beherrscherin der Insel.

Ich bin gekommen, um ihre Macht zu zeigen, damit die

Priester des Mino ihr Haupt neigen vor Mis.«

Erneut ging ein Raunen durch die Menge, heftiger,

erregter diesmal. Das war eine Herausforderung an

ihren Gott.

Der alte Priester schritt quer über den leeren Platz

und schlug die Richtung zum Palast ein. Zögernd

folgte ihm die Menge. Die Vorbereitungen zum Fest

waren vergessen. Sie alle spürten, daß etwas geschehen

würde.

Jaggar und Wigor und einige der Bootsleute der

Schwarzen Wellenreiterin starrten ihnen nach.

»Narren!« sagte Jaggar. »Schon rennen sie hinter

ihm her!«

»Aus Neugier wohl nur«, meinte Wigor.

»So beginnen alle Dinge. Die Neugier ist ein Fluch.«

Er grinste. »Dennoch werden wir uns dem Pöbel

anschließen. Es mag ein Schauspiel werden, an das wir

Page 40: Der Schlangengott

uns lange erinnern.«

»Doch neugierig?« spottete Wigor.

Jaggar nickte. »Aber ich fürchte, daß es nichts Gutes

sein wird, das wir zu sehen bekommen. Und ich irre

mich nicht oft. Es steckt mir in den Knochen, Megil!«

»Käpt‘n?«

»Halte die Wellenreiterin zum Auslaufen bereit.

Und ich meine zum Auslaufen, verstehst du mich? Es

mag sein, daß wir es verdammt eilig haben werden!«

»Aye, Käpt‘n«, sagte der Steuermann, aber es klang

ein wenig verwundert, und wohl auch enttäuscht, daß

er mit dem Großteil der Mannschaft hier auf dem Schiff

bleiben mußte. Die Erntefestlichkeiten zu Ehren Minos

waren immer eine große Volksbelustigung, bei der

jeder auf seine Rechnung kam: der Fromme wie der

Säufer und der Raufbold wie der Weiberheld. Und kein

Magen blieb hungrig. Es währte alles bis spät in die

Nacht hinein.

»Wir nehmen zehn der Männer mit. Zehn, die du

entbehren kannst.«

»Aye, Käpt‘n.«

»Galis kommt mit. Ich möchte ihn im Auge

behalten.«

»Aye, aye.«

Die Menschen hatten den Palast erreicht.

Page 41: Der Schlangengott

Als Jaggar und seine Begleiter dort ankamen,

wurden die Tore geöffnet.

»Sie lassen sie hinein. Das ist seltsam«, entfuhr es

Jaggar. »Noch nie zuvor durften die Bürger in den

Palastpark. Es gefällt mir nicht.«

Sie ließen sich von der Menge vorwärtsdrängen.

Hier, mitten unter den Leuten, würden sie nicht

auffallen. Dann erkannte der Kapitän, wohin die

Menschen drängten, wohin die Wachen sie führten.

Das Platschen von aufgewühltem Wasser war deutlich

genug zu hören.

Vor dem riesigen Becken hielten sie an. Rundherum

standen die Bürger Candis‘ dicht gedrängt, während

vor ihnen im grünlich trüben Wasser die riesigen

Krokodile, Jellis‘ besondere Lieblinge, die ihm den

Henker sparten, mit zunehmender Erregung ihre

gewaltigen Kiefer ans Ufer heranschoben – und das mit

hungrigem Schnappen.

Ungewöhnlich groß waren diese Bestien – mehr als

vier Manneslängen maßen die meisten von ihnen.

Woher der König die Tiere erhalten hatte, wußte

niemand. Die meisten hatten sie noch niemals zuvor

gesehen, obwohl jeder wußte, daß es sie gab. Sie waren

ein Teil des Gesetzes auf der Insel. Nur wenige, die sie

sahen, blieben am Leben.

Gleich darauf wurde offenbar, warum der König

beschlossen hatte, das Volk in den Palastgarten zu

Page 42: Der Schlangengott

lassen. Der Priester der Mis war an seiner Seite.

Irgendein Schauspiel stand bevor, daran zweifelte

Jaggar nicht. Vielleicht eine öffentliche Hinrichtung. Er

schüttelte sich unwillkürlich. War das bereits das Ende

des minoischen Kultes?

Dann sah Jaggar etwas, das ihn erstarren ließ. Ein

Junge hatte sich zu weit an den Rand des Beckens

gewagt. Er beobachtete zwei der Krokodile, die ruhig

an der Oberfläche lagen. Und er übersah ein drittes,

das mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zuschoß.

Niemand schien es zu bemerken. Aller

Aufmerksamkeit war auf den Priester und den König

gerichtet, die in einem Spalier von Wachen auf den

Teich zuschritten.

Jaggar wollte schreien, aber es war bereits zu spät.

Der große schuppige Rachen glitt blitzschnell aus dem

Wasser. Er faßte den Jungen, der noch im letzten

Augenblick aufspringen wollte, an den Beinen und glitt

mit ihm zurück in die schäumenden Fluten.

Ein vielstimmiger Schrei übertönte den des Jungen.

Er tauchte gleich darauf auf, schlug wild mit den

Armen. Hinter ihm färbte sich das Wasser rot, wo einst

seine Beine gewesen sein mochten. Vier oder fünf der

Tiere schossen wie Pfeile auf ihn zu und rissen ihn

buchstäblich vor aller Augen auseinander.

Von Entsetzen gepackt, wich die Menge von dem

Becken zurück. Die Tiere peitschten durch das Wasser.

Page 43: Der Schlangengott

Ihr mörderischer Appetit war durch das Blut geweckt.

Nur zwei Personen schienen von dem grauenvollen

Schauspiel unberührt. Der Priester war der eine. Und

der König der andere. Aber für ihn war es nicht neu.

Eine Frau, offenbar die Mutter des Jungen, stürzte

aus der Menge nach vorn. Mehrere hielten sie auf. Aber

sie war wie besessen. Einige des Königs Wachen eilten

herbei, ergriffen die Frau und brachten die

Widerstrebende vor den König. Dort sank sie vor ihm

auf den Boden. Sie verschwand aus Jaggars Blickfeld.

Es war ihm, als vernähme er ihre schrille,

schmerzerfüllte Stimme. Kurz darauf sah er, wie die

Wachen sie aus dem Palast führten. Jellis und der

Priester aber traten, umgeben von einem Ring von

Wachen, an den Rand des Beckens.

Der König breitete die Arme aus, und es wurde still

im Park bis auf die Bewegung im Wasser. Die Tiere

schwammen unruhig hin und her, als ahnten sie, was

bevorstand.

»Hört mich an, Bürger von Candis. Dies ist der

Priester der Mis, der Göttin, die es verdiente, in aller

unserer Herzen zu sein. Ihre Altäre sind zu Staub

zerfallen, aber sie wurde nie wirklich vergessen. Ihre

Macht ist ohnegleichen, wenn die Worte ihres Priesters

die Wahrheit sind. Deshalb sind wir hier versammelt –

um zu sehen, ob er die Wahrheit spricht. Er mag uns

Mis‘ Macht zeigen, wenn er durch dieses Becken

Page 44: Der Schlangengott

schreitet.«

Aufgeregtes Raunen ging durch die Menge. Als

wieder Stille eingetreten war, fuhr Jellis fort: »Was sagt

ihr? Wäre das Beweis genug? Würdet ihr solch einer

Göttin folgen?«

Zustimmung kam erst zögernd aus der Masse.

Vielleicht hatten die wenigsten die Absicht, ihre

Gottheit zu wechseln, dachte Jaggar. Aber das

Schauspiel lockte. Man wollte sehen, wie der Fremde

hineinstieg zu diesen Ungetümen, die eben einen

Jungen verschlungen hatten.

Ein zustimmender Sturm brach los unter der Menge.

Damit sprach sie ihr eigenes Urteil und wahrscheinlich

das von Minos‘ Tod, grübelte Jaggar. Dann sah er

selbst gespannt zu, wie der alte Priester in das Becken

zu steigen begann.

Er stand bis zur Mitte seines Körpers im Wasser, als

die erste der Bestien auf ihn zuschoß. Die Menge

stöhnte auf. Jetzt, jetzt mußte er untergehen. Ein Fleck

von Blut an der Oberfläche würde alles sein, was von

ihm und seiner Göttin blieb.

Da geschah etwas Seltsames: Ein heller

schlangenartiger Arm griff nach dem Tier und

umschlang seinen Rachen. Er zog es nach unten,

während der Priester ruhig weiterschritt.

Das Wasser wurde aufgewühlt vom peitschenden

Schwanz der ertrinkenden Bestie. Die Menge hielt den

Page 45: Der Schlangengott

Atem an.

Zwei weitere Krokodile witterten die willkommene

Beute und glitten im aufschäumenden Wasser auf den

Priester zu. Wiederum hoben sich schlangenartige

Arme aus dem Wasser, schnappten nach den

angreifenden Tieren, als diese den Rachen öffnen

wollten, und rissen sie mit unglaublicher Gewalt unter

das Wasser.

Jaggar sah, daß selbst der König fasziniert auf das

Geschehen starrte.

Es war unfaßbar. Immer wieder tauchten große

Schlangen aus dem Wasser auf und hielten die Bestien

von dem Priester fern. Mis selbst mußte ihren Priester

schützen. Mit eigener Hand, oder mit ihren

Geschöpfen.

Es war deutlich zu erkennen, daß mit jedem Schritt

des Priesters die Sympathien für ihn wuchsen. Als er

aus dem Becken stieg, war die Begeisterung ohne

Grenzen. Und wer noch immer seinen Augen nicht

trauen wollte, der konnte einen zweiten Blick auf die

treibenden Körper der toten Krokodile werfen.

Wigor starrte auf den Kapitän. »Ihr seid der einzige

hier, in dessen Gesicht noch Zweifel stehen. Haltet Ihr

es für einen Trick?«

Jaggar schüttelte sich. »Ich weiß nicht, wofür ich es

halte. Ich weiß nur eines, daß es so gut wie besiegelt ist,

daß wir Myra angreifen.«

Page 46: Der Schlangengott

Das Labyrinth lag weiß und blendend unter der

Mittagssonne. Es war das Symbol für die Irrwege des

Lebens, für die Gefahren, und für den einen rechten

Weg, der den Göttern gefällig war.

Sieben Eingänge besaß dieser steinerne Koloß, an

denen sieben Jungfrauen bereitstanden –

Priesterdienerinnen, die ihr heiliges Amt antraten.

Junge Männer machten sich bereit für den mutigen

Gang durch den steinernen Irrgarten, aus dem es nur

einen Ausgang gab, und in dem sie dem heiligen Stier

begegnen würden. Es war in alter Zeit ein Wettstreit

zwischen den einzelnen Sippen und Stämmen

gewesen, zu dem sie ihre Söhne schickten, wenn sie das

Mannesalter erreicht hatten. Früher war es ein

blutigeres Spiel gewesen, bei dem der Tod durch

Minos‘ Hörner nicht selten kam, und bei dem nur die

Klügsten und Tapfersten den Ausgang erreichten. Und

die Priester besaßen alte Schriften, die davon kündeten,

daß das Labyrinth einst ein Gottesurteil war, in dem

Minos selbst Tod oder Leben gab.

Aber die Jahrtausende hatten Minos‘ Glauben

verändert. Mit der Seßhaftwerdung der Stämme und

der friedlichen Besiedelung des Landes bekam auch

der Gott friedlichere Züge. Blut floß nur noch selten,

Page 47: Der Schlangengott

und was einst Gottesurteil gewesen sein mochte, war

nun eine Mutprobe, der sich keiner unter den jungen

Männern ausschloß, wenn er nicht Schande auf sich

laden wollte.

Das Labyrinth lag in einem ovalen Tal, dessen

felsige Wände flach genug anstiegen, daß die

Zuschauer sich Plätze zum Sitzen suchen konnten.

Dicht gedrängt saß der Großteil der Bevölkerung

Candis‘ bereits an den Hängen und starrte

erwartungsvoll hinab in das Labyrinth, das oben offen

war und Einblick bot in seine schmalen Korridore

zwischen den zwei Mann hohen Steinwänden. Man

konnte nur vereinzelt aus seitlichem Blickwinkel

Durchgänge erkennen, denn die Mauern selbst waren

nicht durchbrochen. Das Ganze sah aus wie ein großer

rechteckiger Kasten, der in kleinere regelmäßige

Rechtecke geteilt war. Man würde sowohl den Stier

wie auch die jungen Männer in den Kammern deutlich

verfolgen können.

Das Labyrinth war eine Arena. Hoch über dem Tal

stand Minos‘ Tempel, ein klotziger, ebenso rechteckiger

Bau mit Mauern aus dem gleichen hellen,

glattgemeißelten Stein wie der Irrgarten. Aus ihm

drang noch Singen, aber es war bereits der

triumphierende Schlußgesang, der hundertkehlige

Dank für die Ernte, die seit Jahren nicht mehr so reich

gewesen war. Minos war gut zu seinen Kindern

Page 48: Der Schlangengott

gewesen.

Als die Priester den Tempel verließen, führten sie

den heiligen Stier mit sich auf dem breiten Weg ins Tal

hinab. Er folgte ihnen ruhig, friedlich. Die Menschen

verstummten und folgten der Gruppe mit den Blicken

in die Arena hinab. Eine der Türen des Labyrinths

wurde geöffnet, und der Stier wurde mit Schreien ins

Innere gejagt.

Er kam mächtig in Schwung, prallte gegen die

Mauern und fand einen Weg beinah ins Zentrum,

bevor er sich beruhigte. Dort drehte er sich ein

paarmal, sah hoch, als das Stimmengewirr der

Zuschauer anschwoll und das kleine Tal erfüllte,

schüttelte sich und verharrte abwartend.

Die Spannung wuchs merklich.

Die Priester und ihre Dienerinnen führten die

jungen Männer zu den Eingängen.

Ein Hörnerstoß erklang vom Tempel. Ein zweiter.

Schweigen senkte sich langsam über die

Versammelten. Ein Priester hob ein kelchartiges Rohr

an den Mund und sprach hinein. Die Stimme hallte im

Tal wider, aber sie war deutlich zu verstehen.

Es war ein Gebet, mit dem er die Festlichkeiten

eröffnete. Dann hieß er alle willkommen und sprach

sein Bedauern darüber aus, daß nicht, wie in früheren

Jahren, alle gekommen waren. Er vermißte einen

großen Teil der Bewohner der Stadt und warnte vor

Page 49: Der Schlangengott

dem Priester der Schlange, der am Vortag nach Candis

gekommen war, und der Krieg im Herzen trug.

Stimmengewirr brandete auf. Die Versammelten

hörten mit wenigen Ausnahmen zum erstenmal von

der Ankunft Serphats. Die meisten waren von den

umliegenden Dörfern gekommen. Die Hörner

erklangen erneut – bis Stille eintrat.

Der Priester sprach wieder. Er warnte eindringlich

vor dem Gift der Schlange und vor falschen Wundern,

die zu Krieg und Macht verleiten sollten.

Dann gab er das Zeichen zum Beginn.

Die Mädchen schoben die Männer in das Labyrinth

und verschlossen die Türen hinter ihnen. Einzelne

Gruppen begannen die aus der Höhe der Sitzplätze

winzig wirkenden Gestalten im Labyrinth anzufeuern.

Bald war das Tal erfüllt von Rufen und Schreien, das

sich orkanartig steigerte, wenn einer dem immer

unruhiger werdenden Stier zu nahe kam.

Als einer plötzlich dem Stier gegenüberstand,

erstarben die Stimmen. Das Tier scharrte mit den

Hufen. Es fühlte sich offenbar gefangen zwischen den

schmalen hohen Wänden. Und hier stand einer seiner

Peiniger vor ihm. Er kam in Bewegung, und als die

Gestalt zurückwich in den Seitengang, aus dem sie

gekommen war, folgte der Stier. Er senkte den Kopf

und griff an. Es gab kein Ausweichen und kein

Hochklettern an den glatten Wänden. Nur ein

Page 50: Der Schlangengott

Vorwärts oder Zurück.

Der Junge nahm die Beine in die Hand. Er schlüpfte

in einen Seitenkorridor und war ein wenig im Vorteil,

weil das Tier Zeit brauchte, seine Masse abzubremsen

und um die enge Kurve zu zwängen.

Der Junge blieb stehen, was ihm einen Beifallssturm

eintrug. Das schien ihn mutig zu machen. Er wartete,

bis das Tier die Hörner erneut zum Angriff senkte. Die

übrigen in den Nebenkammern des Irrgartens hatten

angehalten und lauschten.

Der Junge ging ein gewagtes Spiel ein – und hatte

Glück. Als der Stier heran war, griff er nach den

Hörnern und klammerte sich fest. Er zog sich hoch,

wurde gegen die Wände geschleudert, als der massige

Kopf des Tieres sich vergeblich schüttelte. Die Menge

schrie auf, als er abzugleiten drohte. Aber er kam

wieder hoch und glitt auf den dunklen Rücken, als der

Schädel des Stieres gegen die Wand prallte und den

Jungen zermalmt hätte.

Er klammerte sich einen Augenblick an das Fell, um

Atem zu schöpfen, während das Tier sich mehrmals

benommen schüttelte. Dann sprang er behende in den

Korridor hinter den Stier, der sich in dem engen Raum

nicht umdrehen konnte.

Donnernder Beifall belohnte den Jungen für seine

mutige Tat.

Ein dünner Ton von königlichen Trompeten drang

Page 51: Der Schlangengott

in die Arena. Der Beifall erstarb langsam. Die Gesichter

wandten sich nach oben. Im grellen Sonnenlicht kaum

zu erkennen, stiegen der König und sein Gefolge von

den Pferden. In der Stille schritten sie den Hang herab

zu den Plätzen, die ihnen vorbehalten waren.

Jellis sagte mit lauter Stimme: »Ist es, Anmaßung,

Priester des Minos, oder Mißachtung meiner Gewalt,

daß man das Fest ohne mein Beisein beginnt?«

Der Priester unten in der Arena ergriff wieder das

Rohr. »Du weißt, daß es nicht so ist, König. Aber

Minos‘ Geburt liegt um die Mittagsstunde des

Erntedanktages. Die Festlichkeiten beginnen jedes Jahr

zur selben Stunde. Dem Gesetz nach bist du der erste

Priester Minos! Er wird verzeihen, daß du seine ...«

»Schweig!« donnerte Jellis. Der Priester wußte, daß

er einen Fehler gemacht hatte, den König in aller

Öffentlichkeit zu rügen, aber es war zu spät für Reue.

»Hier an Minos‘ heiliger Stätte«, begann er erneut.

Der König hob die Hand, und der Talkessel war

plötzlich umringt von Männern der Palastwache. Sie

hielten den Pfeil an der Sehne. Der hundertfache Tod

ließ den Priester verstummen. Auch die Jungen im

Labyrinth sahen die schußbereiten Wachen hoch über

ihnen. Auch ihr Herz stand still. Sie waren ohne

Deckung, ohne Schutz. Jellis senkte die Hand. Die

Bogen spannten sich gleichzeitig. Und sangen

hundertfach.

Page 52: Der Schlangengott

Der Stier sank zu Boden – durchbohrt von hundert

gefiederten Schäften.

Kein Laut kam von unten. In die tödliche Stille sagte

der König: »Hiermit erkläre ich das Ende des

Stiergottes auf unserer Insel. Fortan soll bei Androhung

des Todes keiner meines Volkes mehr an seinen

Altären

opfern ...!«

»Frevler!« schrie der Priester. »Minos‘ Fluch über

dich!« Jellis‘ Hand zuckte erneut hoch! Aber der

Priester der Schlange kam ihm zuvor. Er sprang hinab

in die Arena, und kein Mensch hätte solch einen

Sprung überlebt. Er aber erhob sich unverletzt vor den

weit aufgerissenen Augen und zum Schrei geöffneten

Mündern der Menge. Eines seiner Beine verlängerte

sich blitzschnell, wurde zu einer silbernen, zuckenden

Schlange, die nach dem Priester Minos‘ griff, sich um

ihn wand.

Ein Stöhnen ging durch die Menge. Der Priester

versuchte sich zu befreien. Es war beinah etwas

Unmenschliches an der Art, wie er sich schüttelte – so,

als wäre etwas von der Kraft eines Bullen in ihm und

unbezwingbar. Aber dann fiel er und lag still.

»Zweifelt noch jemand am Tode Minos‘?« rief der

König nicht ohne Hohn.

Keine Antwort kam.

»Bis zur Dunkelheit«, fuhr er fort, »ist dieser Tempel

Page 53: Der Schlangengott

leer. So leer, daß nichts mehr an Minos erinnert. Ich

stehe in der Gunst Mis‘ der Schlange des Meeres, und

sie prophezeite mir die Herrschaft über die Gestade des

Großen Meeres. Mis‘ Priester werden fortan in diesem

Tempel sein. An ihren Altären werdet ihr opfern, oder

ein Meer von Blut wird fließen für die Schlange ...!«

Seine Hände wiesen nach oben, wo Serphat erschien in

Gestalt einer Schlange, die mit gefährlichem Zischen

sprach: »Dies ist die Insel der Schlange. Ihr seid in

meiner Welt. Und wohin die Wasser fließen, werdet ihr

meinen Namen tragen!«

Sie löste sich auf, und Serphat, der Priester, stand

auf dem Rand des Abhangs. Leidenschaft und Haß

ließen Serphats Stimme schwanken.

»Myras Gestade werden die ersten sein, die wir Mis

zu Füßen legen!«

Das Volk schwieg betroffen. Es war zu träge, um

aufzubegehren. Der König hatte immer entschieden.

Gelitten hatten nur einzelne. So war es auch jetzt

wieder. Sie waren auch beeindruckt von Serphats

Verwandlung. Sie würden nicht gegen eine Göttin

rebellieren, die so große Pläne mit dem König hatte.

Eroberungen brachten Reichtum. Die kargen Felder

liefen nicht fort. Wenn die Pläne der Götter

Eroberungen bedeuteten, dann würden sie erobern.

Warum am eigenen Boden Blut vergießen, weil die

Götter Streit hatten?

Page 54: Der Schlangengott

4.

Jellis hielt es nicht auf dem Thron. Immer wieder erhob

er sich und schritt grübelnd auf und ab. Er hatte das

Gefühl, einen Schritt zuviel getan zu haben, sicher, das

Volk rebellierte nicht offen! Noch nicht!

War es die plötzliche Begeisterung, die Aussicht auf

Reichtum und Macht, die ihn so sehr für die Ideen

dieses Priesters eingenommen hatten? Oder war es

mehr? Er fühlte sich unfrei in seiner Gegenwart. Er

dachte Dinge, die ihm fremd waren. Und er handelte

mit einer Plötzlichkeit, die ihn überraschte.

Gewiß; er war jähzornig, und die Wut ließ ihn

manchmal Dinge tun, die ihm später sinnlos

erschienen. Aber nun handelte er ohne Zorn und tat

Dinge, vor denen er zurückschreckte.

Es stimmte, Minos‘ Kult war ihm immer ein Dorn im

Auge gewesen, und früher oder später hätte er die

Priester fühlen lassen, daß sie ihm ein Ärgernis waren.

Aber das, was heute geschehen war ...!

Er hatte das plötzliche, lähmende Gefühl, daß er

nicht einen Bund mit den Göttern, sondern mit einem

Teufel geschlossen hatte, und daß dieser Teufel mehr

Macht über ihn besaß, als er gedacht hatte.

Nach allem, was vorgegangen war, konnte er nicht

Page 55: Der Schlangengott

sofort aufbrechen und Eroberungszüge beginnen. Er

hatte dem Volk mit seiner Willkür einen harten Schlag

versetzt, den es überraschend gut hingenommen hatte.

Nun galt es, es im Auge zu behalten und notfalls mit

harter Hand durchzugreifen. Wenn er nun fortsegelte,

mochte es gut und gern sein, daß er die Insel erobern

mußte, wenn er zurückkam. Welch ein Risiko!

Was drängte Serphat so sehr nach Myra, daß er

keine Stunde verlieren wollte? Wußte Mis wahrhaftig,

daß Myra schwach war?

Jaggar kam ihm in den Sinn. Jaggar hatte ihn

gewarnt davor. Er hatte Myra gesehen und die Küsten

ausgekundschaftet. Jaggar mochte vorsichtig sein und

vielleicht auch ein wenig übertreiben. Aber er war

nicht blind ...

Warum hatte er versucht, Jaggar zu töten?

Das war eine Frage, die ihm am meisten zu denken

gab. Jaggar war einer der besten Kapitäne der

Bruderschaft des Großen Meeres, auch wenn er Fehler

machte.

»Es ist seine verfluchte Vorsicht, die mich rasend

macht«, murmelte er. Aber er wußte auch, daß ihm

Jaggars Warnungen immer wieder zu denken gaben,

bis er selbst zögerte.

Jaggar war sein Vertrauter in vielen Dingen

gewesen. Er wußte viel, das gefährlich werden konnte,

wenn er sich ihn zum Feind machte.

Page 56: Der Schlangengott

Er wußte auch, daß Jaggar wenig Liebe für ihn hegte

und dennoch einer der loyalsten Männer der

Bruderschaft war. Warum nur wollte er ihn töten?

Er muß sterben, weil er Zweifel sät! Das war ein

seltsamer Gedanke, aber er schien vertraut. Als hätte er

ihn unbewußt schon einmal gedacht – in jenem

Augenblick, da er die Mörder dingte.

Daß sie versagt hatten, war erleichternd und

bedrohlich zugleich. In diesem Zwiespalt der

Empfindungen wurde ihm bewußt, daß er nicht mehr

allein war.

Serphat stand in der Tür.

Wie kalt seine Augen sind, dachte Jellis, als bemerke

er es zum erstenmal. Dann vergaß er den Gedanken. Er

begann einen Eifer, eine Begeisterung zu fühlen ...

Er lief dem Alten entgegen. »Serphat – wie stehen

die Dinge?«

»Gut, König«, erwiderte der Alte, ohne den Blick

von ihm zu lassen. »Deine Truppen sammeln sich

bereits westlich der Stadt. Achtzig Galeeren sind auf

dem Weg nach Candis. Und die Flotten deiner

Lehensstatthalter kommen deinem Befehl nach ...«

»Sie kommen meinem ...?« begann er verwundert. Er

konnte sich nicht entsinnen, einen entsprechenden

Befehl gegeben zu haben. Aber die Erinnerung

schwand rasch und machte der freudigen Erwartung

Platz. In ein, zwei Tagen würde die gesamte Flotte vor

Page 57: Der Schlangengott

Candis aufkreuzen, bereit, nach Myra zu segeln. Mit

Mis‘ Hilfe, dachte er. Mit Mis‘ Hilfe, echoten fremde

Gedanken.

Er wischte mit der Hand über seine Augen. Träumte

er am lichten Tag? Er sah, daß er allein war.

Es war besser, Jaggar zu beseitigen. Er war ein

Verräter! Er wiegelte die Kapitäne der Bruderschaft auf

gegen den Plan des Königs und Ersten Kapitäns! Der

Angriff auf Myra war zu wichtig. Nichts durfte ihn

gefährden. Auch keine Warnungen vor unerwarteter

myranischer Stärke. Diesmal durfte ihm Dragon nicht

entkommen! Die Fremdheit seiner Gedanken fiel ihm

nicht auf. Auch nicht, daß der Name Dragon ihn mit

leidenschaftlichem Haß erfüllte. Er wußte nur, daß er

handeln mußte.

Er ging zur Tür. »Wache!« rief er. Einer der beiden

Wachen kam herein. Er war so erstaunt über des

Königs Gesicht, das blaß war und abwesend, daß er

vergaß, Haltung anzunehmen.

Der König bemerkte es gar nicht.

»Laß mir Galis holen!« befahl er.

Wigor, oder Wiquin, wie ihn seine Gefährten auf der

Schwarzen Wellenreiterin nannten, saß auf einem

Stapel Taue und beobachtete Galis‘ mächtige Gestalt.

Page 58: Der Schlangengott

Seine Gedanken waren bei den Geschehnissen am

Mittag. Es war nicht so sehr der Tod des Priesters oder

des Stieres, der ihn bewegte, sondern diese

unheimliche Gestalt: Serphat.

War es nur ein Trick, ein Betrügen der Augen, oder

vermochte er sich wahrhaftig in eine Schlange zu

verwandeln? Eines war sicher: Er mußte Gewalt über

die Schlangen besitzen, vielleicht durch den starren

Blick seiner Augen, sonst hätte er den Teich der

Krokodile nicht lebend durchquert. Und wenn er den

bannenden Blick der Schlangen besaß, um wieviel

mehr mußte es ihm möglich sein, die Menschen um

sich in seinen Bann zu ziehen. Er nahm sich vor, dem

Blick dieser Augen auszuweichen, wenn er dem

Priester wieder begegnen sollte. Vielleicht war dann

die Wahrheit besser zu erkennen.

Nach allem, was geschehen war, würde Mis es nicht

schwer haben, die Insel in ihren Bann zu ziehen. Der

Gedanke ließ ihn schaudern. Der nächste Schritt –

Myra! Wenn es nur eine Möglichkeit gegeben hätte für

eine Warnung – für diesen Dragon!

Wenn er Jaggar dazu bringen könnte, daß er floh!

Der Kapitän war ein seltsamer Mann. Kein Teufel, wie

er einst gedacht hatte in jener schmerzlichen Stunde,

als Welora für immer verschwand, die als seine Braut

erkoren war.

Jaggar war überzeugt, daß es der König war, der ihn

Page 59: Der Schlangengott

töten lassen wollte. Und er floh nicht. Er fühlte

Loyalität zu diesem mörderischen König. Seine Ehre

stand auf dem Spiel – als Kapitän der Bruderschaft. Er

würde ein Gejagter sein, ein Ausgestoßener auf dem

Großen Meer.

Das alles verstand Wiquin, aber er verstand nicht,

warum Jaggar so sicher war, daß gerade der König ihn

töten wollte! Er seufzte. Er saß hier fest, und die Welt

war dabei, auseinanderzubrechen.

Zum Teil wenigstens.

Wenn der König wirklich darauf aus war, den

Kapitän zu töten, dann ließ er sich Zeit. Galis machte

nicht den Eindruck, als ob er etwas vorhatte. Es mochte

Täuschung sein, aber..

Jaggar kam aus der Kajüte und blickte mißmutig auf

die Bucht hinaus. Daß er hier festlag, gefiel ihm nicht,

das konnte Wiquin deutlich sehen.

Wiquin nickte grüßend.

Überraschend sagte Jaggar: »Wenn du je an Flucht

gedacht hast, Wiquin, dann ist es jetzt zu spät.

Wenigstens ein halbes Hundert Segel stehen vor der

Bucht.«

»Ich hab sie gesehen. Käpt‘n«, erwiderte der Junge.

Er gab sich einen Stoß. »Käpt‘n, ein paar Dinge lassen

mir keine Ruhe ...«

»Als da sind?« fragte Jaggar.

»Warum seid Ihr so sicher, daß es der König ist, der

Page 60: Der Schlangengott

Euch nach dem Leben trachtet?«

»Weil ich weiß, daß Galis im Palast war«, erwiderte

Jaggar unwillig.

»Das ist alles?« fragte der Junge ungläubig.

»Nein. Ich habe keine Feinde außer Jellis.«

»Seid Ihr dessen so sicher? Ein Pirat, ein Plünderer

wie Ihr ...!«

Jaggar sah ihn seltsam an. »Es mag sein, daß an

Myras Küsten viele gern meinen Kopf hätten. Aber hier

... Jellis ist der Erste Kapitän der Bruderschaft. Er

bestimmt. Aber die Bruderschaft weiß, daß ich in den

myranischen Gewässern Erkundigungen einzog. Sie

wird meinen Bericht hören wollen. Der fällt nicht sehr

günstig aus, denn ich habe erfahren, daß Myra stark ist

...«

»Kann sich die Bruderschaft gegen den König

stellen?« warf Wiquin ein.

Jaggar schüttelte den Kopf. »Nein. Aber sie ist nicht

ohne Einfluß. Das kann für den König eine Menge

Ärger bedeuten ...«

»Und deshalb, meint Ihr, läßt er Euch heimlich aus

dem Weg räumen?«

»Es ist der einfachste Weg.«

»Und Ihr könnt nichts dagegen tun. Warum flieht

Ihr nicht?«

»Weil es das Ende wäre. Die Bruderschaft ist meine

Welt ...«

Page 61: Der Schlangengott

»Ihr meint, das Plündern und Rauben und Töten an

fremden Küsten ist nicht nur eine Quelle des

Reichtums, sondern auch eine Lebensweise?«

Zorn verdunkelte das Gesicht des Kapitäns.

Rasch sagte Wiquin: »Sagt mir noch eines, Käpt‘n.

Was treibt den König so sehr nach Myra? Ich meine, es

gibt nähere Küsten. Warum ausgerechnet Myra?«

Jaggar dachte darüber nach. Er vergaß seinen Zorn,

was den Jungen innerlich aufatmen ließ. Schließlich

zuckte er die Schultern.

»Es ist die Richtung, in der seine Augen immer am

längsten blickten. Früher oder später hätte er es

getan ...«

»Glaubt Ihr nicht, daß dieser Priester der Schlange

etwas damit zu tun hat? Blickt er nicht mit den gleichen

hungrigen Augen nach Myra?«

Nachdenklich sagte Jaggar: »Es fiel mir nicht auf.

Aber vielleicht hast du recht ...«

»Immerhin muß der König Euch geschätzt haben,

und Eure Vorsicht, sonst hätte er nicht gerade Euch als

Kundschafter geschickt.«

Jaggar schüttelte den Kopf. »Das hat auch noch

andere Gründe. Ich war sein Vertrauter in vielen

Dingen. Ich weiß mehr, als ihm lieb ist ...« Jaggar hielt

inne und nickte, als Wiquin den Satz zu Ende sprach.

»... Nun, da er einen neuen Vertrauten hat?«

Jaggar wurde plötzlich lebendig. »Ich kann zwar

Page 62: Der Schlangengott

nicht ohne des Königs Einwilligung den Rat der

Kapitäne zusammen rufen, aber ich kann mit einigen

von ihnen reden, mit Malquir zum Beispiel. Seine

Merinque ankert auf der anderen Seite der Bucht. Mis«,

fügte er verächtlich hinzu. »Es gab eine Zeit, da

erschlugen wir die Schlangen, wo wir sie fanden. Wenn

es nach mir geht, wird sie wiederkommen. Laß mir

Galis nicht aus den Augen.«

»Aye, Käpt‘n.«

»Und nimm den Mund nicht so voll. Manchen sitzen

die Schwerter lockerer als mir.«

»Aye, Käpt‘n«, wiederholte der Junge, ein wenig rot

werdend.

Wenig später kam ein Mann an Bord, den Wiquin noch

nie zuvor gesehen hatte. Er machte keinen sehr

vertrauenerweckenden Eindruck. Der Junge musterte

ihn mißtrauisch.

Der Steuermann ging auf ihn zu.

Wiquin konnte nicht hören, was sie sagten, aber er

konnte erkennen, daß Megil ihn mit allem Nachdruck

vom Schiff wies. Das schien der Fremde schließlich

einzusehen, aber er deutete immer wieder auf das

Vorderdeck und schüttelte einmal sogar drohend die

Faust.

Der Steuermann nickte schließlich mit

besänftigenden Handbewegungen. Als er an Wiquin

Page 63: Der Schlangengott

auf dem Weg zum Vorderdeck vorbeikam, zischte er

verärgert.

»Canlos von der Diebesgilde. Merk dir, daß du am

besten nichts mit ihm zu schaffen hast. Auf seine Art ist

er ein Teufel.«

Der Junge sah ihm verwundert nach und fuhr

alarmiert hoch, als der Steuermann auf Galis zuging

und auf ihn einredete. Dabei deutete er auf den

wartenden Dieb am Kai.

Galis nickte hastig und eilte sofort vom Schiff.

Interessiert sah Wiquin, wie die beiden in eifrigem

Gespräch über den Marktplatz eilten. Mit der

Diebesgilde also hatte Galis zu schaffen!

»Steuermann!« rief Wiquin. »Sagt dem Käpt‘n, daß

ich von Bord ging. Und sagt ihm auch, daß es Galis

und dieser Canlos waren, denen ich folgte.«

»Aye, aye!«

Nicht ohne Unbehagen eilte Wiquin hinterher. Aber

er hatte keine eigentliche Angst. Er hoffte nur, daß sich

nun endlich ein paar der Geheimnisse aufklärten.

Die beiden gingen in die Richtung des Palastes. Es

erschien dem Jungen nicht ungewöhnlich. Die

Diebesgilde mochte ihre Finger in allerlei Geschäften

haben – sicher auch mit dem König. Für ihn war bald

klar, daß der Dieb Galis zum Palast führte.

Er hielt mehr Abstand, um sicherzugehen, daß sie

ihren Verfolger nicht bemerkten. Als er den Palast

Page 64: Der Schlangengott

erreichte, sah er gerade noch, wie eine der

Palastwachen Galis ins Innere führte. Der Dieb

verschwand in einer der Seitenstraßen.

Wiquin zögerte. Vermutlich dauerte es eine Weile,

bis der Bootsmann wieder erschien. In den Palast

ungesehen einzudringen, schien wenigstens am Tage

unmöglich.

Nach einem Augenblick eilte er hinter dem Dieb her

und hatte ihn gleich wieder vor sich. Der Junge

beschleunigte seinen Schritt und begann zu laufen, als

der Mann vor ihm erneut abbog. Als er um die Ecke

kam, erkannte er, daß Canlos vor ihm stand und ihn

offenbar erwartete.

»Wer bist du?« Der Dieb musterte ihn kalt.

Wiquin hatte den Dolch in der Faust und hielt ihn

Canlos an die Kehle. Der sah ihn an, als wäre er

verblüfft darüber, daß jemand es wagte, Hand an ihn

zu legen. Mehr nicht.

Wiquin mehrte seine Verblüffung damit, daß er den

Dolch schmerzlich hochruckte, so daß ein roter Punkt

am Hals des Diebes erschien.

»Vorwärts! Dort in den Hauseingang. Ich habe ein

paar Worte mit dir zu reden!«

Der Dieb nickte. »Du wirst es früh genug bereuen.«

Aber er ging Schritt um Schritt zurück. »Warum wählst

du nicht den einfacheren Weg?« Er hielt die leere Hand

auf.

Page 65: Der Schlangengott

Wiquin schob ihn in den Hauseingang. »Wenn ich

Gold hätte, vielleicht. Aber es ist müßig, darüber zu

reden, denn ich habe keines.«

»Du dauerst mich«, begann der Dieb, schwieg aber,

als Wiquin dem Dolch erneut einen kleinen Ruck

versetzte.

»Ich will nur wissen, in wessen Auftrag du Galis

geholt hast«, sagte er drohend und fügte hinzu: »Und

ich habe nicht viel Zeit.«

Der Dieb wollte sich losreißen, aber Wiquins Dolch

zog einen dünnen roten Strich über den Hals bei

diesem Versuch. Keuchend hielt er still. »Ich sage noch

immer, du wirst es bereuen!« zischte er.

»Später vielleicht«, meinte der Junge ungerührt.

»Jetzt könnte es für dich etwas zu bereuen geben. Also:

von wem hattest du den Auftrag, den Bootsmann vom

Schiff zu holen?«

Canlos, der Gewalt verabscheute, besonders, wenn

sie an ihm angewandt wurde, zuckte die Schultern.

»Also, wenn du es für dein Leben gern wissen

möchtest, Coris gab milden Auftrag.«

Wiquin ließ ihn nicht los. »Wer ist Coris?«

»Der Wächter am Palasttor. Du scheinst nicht von

hier zu sein. Deine Aussprache ...«

»Sie soll dich nicht kümmern. Und zu wem solltest

du Galis bringen?«

»Zu Coris natürlich.«

Page 66: Der Schlangengott

Wiquin betrachtete ihn mißtrauisch. »Was könnte

Coris von Galis wollen?«

»Bin ich Coris, daß ich es wissen sollte?« knurrte

Canlos.

»Vielleicht«, sagte Wiquin grinsend ... Trotzdem

besten Dank für die Auskunft, Schade, daß ich nicht

mehr Zeit habe, denn ich bin sicher, daß du noch eine

Menge weißt ...«

»Schon möglich, Fremder«, sagte eine Stimme hinter

ihm.

Wiquin fuhr herum. Ein bärtiges Gesicht sah ihn mit

blitzenden Augen an.

Etwas knallte gegen seinen Hinterkopf, und das

bärtige Gesicht verlöschte.

Als er erwachte, sah er ein anderes Gesicht vor

sich – das eines kleinen Mädchens, das ihn neugierig

musterte.

»Du bist nicht tot!« sagte sie, und das schien sie zu

erschrecken.

Wiquin selbst war weniger erschrocken darüber. Ein

stechender Schmerz im Nacken ließ ihn aufstöhnen. Er

massierte die Stelle und sah, daß Blut an den Fingern

war, als er die Hand zurückzog.

»Nein«, murmelte er. »Es sieht so aus, als wäre ich

Page 67: Der Schlangengott

nicht tot.«

Die Kleine wich zurück, offenbar vollkommen

konfus darüber, daß er erwacht war. Er schüttelte den

Kopf, als sie verschwand. Seltsame Bräuche hatten sie

hier, wenn die Kinder nichts dabei fanden, bei

herumliegenden Toten herumzulungern.

Er setzte sich stöhnend auf und erkannte, daß er

noch immer in dem Hausflur lag. Sie hatten ihn

offenbar nur niedergeschlagen und sich aus dem Staub

gemacht.

»Ich hätte wissen müssen«, dachte er laut, »daß die

Diebesgilde nicht einfach zusieht, wenn einer der ihren

in der Klemme ist.«

Mit schmerzlich verzogenem Gesicht trat er ins

Freie. Dem Stand der Sonne nach war es später

Nachmittag. Viel Zeit konnte also nicht vergangen sein.

Vielleicht kam er noch nicht zu spät.

Er hastete die Straße zurück zum Palast. Er

unterdrückte den stechenden Schmerz. Der Bärtige

hatte ihm ordentlich eine verabreicht. Ein paarmal sah

er sich um, aber außer dem kleinen Mädchen war

niemand auf der Straße. Ob sie ihn von den Fenstern

aus beobachteten, konnte er nicht sagen. Aber er

vermutete es. Der Palast tauchte vor ihm auf – still und

scheinbar leer unter der heißen Nachmittagssonne.

Er straffte sich und hoffte, daß die Wunde

unbemerkt bleiben würde.

Page 68: Der Schlangengott

Die Wachen am Palastgarten griffen nach ihren

Schwertern, als er auf das Tor zuschritt. Einer trat ihm

entgegen. »Wohin?«

»Hat Galis den Palast schon verlassen?« fragte

Wiquin.

»Wer ist Galis, und was kümmert es dich?« fragte

der Soldat grob.

»Ich habe eine Botschaft von Canlos.«

Die Wache sah ihn ungerührt an. »Und?«

»Sie ist für Coris«, sagte Wiquin forsch und hoffte,

daß das die erhoffte Wirkung brachte.

Tatsächlich brummte der Mann: »Coris scheint seine

Finger überall zu haben. Na, was geht‘s mich an. Wenn

du mit Galis den Bootsmann meinst, den der Dieb

vorhin brachte, nein, er ist noch nicht wieder ‚raus. Du

findest Coris innerhalb des Tores. Wenn du ihn nicht

siehst, ruf nach ihm!« Er deutete zum Palasteingang

und nahm die Hand von seinem Schwertknauf.

»Danke«, sagte der Junge und schritt zielsicher auf

das Tor zu.

Bisher war es nicht sehr schwierig gewesen. Als er

durch das offene Tor schritt, sah er einen älteren Mann

in der Kleidung der Wachen, doch ohne Brustharnisch

und ohne Schwert. Eine Säulenhalle erstreckte sich vor

ihm scheinbar ohne Ende. Eine Abteilung

Wachsoldaten stand neben dem Tor und wartete

offensichtlich auf Befehle des Alten.

Page 69: Der Schlangengott

Der sah Wiquin neugierig entgegen, wie etwa einem

Fuchs, der freiwillig in die Falle gegangen war.

»Bist du Coris?« fragte Wiquin und versuchte sich

völlig ungezwungen zu geben.

»Der bin ich, junger Freund.« Der Alte kam auf ihn

zu.

»Ich habe eine Botschaft von Canlos.«

Überraschenderweise sagte der Alte: »Ich dachte es

mir.« Unmerklich nickte er den Wachen zu, die

daraufhin dem Jungen keine Beachtung mehr

schenkten, außer vielleicht den einen oder anderen

musternden Blick. »Komm mit.«

Der Junge folgte Coris durch mehrere Gänge, die

mehr breiten Hallen glichen. Mehrere Palastdiener

begegneten ihnen, aber keiner beachtete sie. Wiquin

fragte sich die ganze Zeit über, ob er etwas sagen sollte.

Aber der Alte schien keinerlei Fragen zu erwarten.

Offenbar wußte er genau, was der Junge wollte, oder

besser, was Canlos wollte.

Ganz im Gegenteil zu Wiquin, der ihm unbehaglich

folgte. Immerhin war die Sache recht gut gelaufen. Mit,

dem Alten wurde er sicher fertig, wenn es sich als

notwendig erweisen sollte.

Es wurde immer geheimnisvoller, und Wiquin

glaubte bereits, auf der völlig falschen Spur zu sein

und nur seine Zeit zu vergeuden, während Galis den

Palast verließ und vielleicht einen neuen Anschlag auf

Page 70: Der Schlangengott

Kapitän Jaggar plante.

Der Alte öffnete eine schwere eiserne Tür, und

schritt voran in ein Kellergewölbe von vorerst

unübersichtlicher Tiefe. Es ging nicht so weit hinab,

wie der Junge befürchtet hatte. Der Alte nahm eine

Öllampe von einem Steinvorsprung und entzündete sie

nach einigen Versuchen. In dem schwachen Schein sah

Wiquin mehrere eiserne Türen, auf denen dick und

braun der Rost saß. An ihnen schritt der Alte vorbei. Es

roch nach Feuchtigkeit und Moder, und von irgendwo

kam das Tropfen von Wasser. Sie konnten nicht weit

vom Krokodilsteich sein, kam es Wiquin in den Sinn.

Vor einer Tür, die öfter benutzt aussah, hielt Coris an.

Er schob den Riegel zur Seite und trat mit erhobener

Laterne ein. Der Junge folgte ihm.

Sie befanden sich in einem feuchten Raum aus roh

behauenem Stein. Das Rauschen von Wasser war sehr

nah. Mehrere große Eisengitter bildeten den Boden vor

ihm, und darunter sah Wiquin wild schäumendes

Wasser über felsigen Grund rauschen.

»Es führt direkt zum Meer«, sagte der Alte. »Hier

drin verschwinden sie alle.«

Wiquin fragte sich, was er wohl meinte.

Coris ging ans andere Ende des Raumes und winkte

dem Jungen, zu folgen. »Hier. Mit ihm haben sie

Besseres vor.«

Er zog ein Stück Segeltuch beiseite, und Wiquin hielt

Page 71: Der Schlangengott

den Atem an. Galis lag vor ihm am Boden, bleich, das

vierschrötige Gesicht in Pein verzerrt. Sein Hemd war

blutdurchtränkt. Eine breite Wunde klaffte am Rücken

und an der Brust, als hätte ihm jemand eine breite

Klinge von hinten in den Leib gerammt, daß sie vorne

wieder herauskam.

Galis war tot.

»Sag das Canlos, und auch, daß der Priester wieder

im Palast ist.«

Wiquin nickte stumm. »Was haben sie mit ihm vor?«

Der Alte zuckte die Schultern. »Das weiß ich nicht.

Das hier ist schon mehr, als ich wissen sollte.«

Als er zur Wellenreiterin zurückkam, fand er einen

mißmutigen Jaggar vor, der sich bitter über die Sturheit

Kapitän Malquirs beschwerte, der sich geweigert hatte,

die Bedenken gegen den Myrafeldzug weiterzuleiten.

Nicht ohne Wissen des Königs jedenfalls! Und mit Mis‘

Priester habe er nichts zu schaffen.

Als er Wiquins Bericht hörte, wurde er sehr

nachdenklich.

»Im Palast ermordet«, murmelte er. »Wie paßt das

nur zusammen? Bist du sicher, daß es seine Leiche war,

die du gesehen hast?«

»Kein Zweifel«, erwiderte der Junge.

»Verstehst du es?«

»Noch nicht, Käpt‘n. Aber wenn noch genügend

Page 72: Der Schlangengott

Zeit bleibt, komme ich sicher dahinter.«

»Ich fürchte, daß uns nicht mehr viel Zeit bleiben

wird. Wir laufen morgen aus.«

»Morgen schon?« entfuhr es Wiquin. Er ballte die

Fäuste.

»Das scheint dir ebensowenig zu gefallen wie mir«,

lachte Jaggar.

»Nein, es gefällt mir nicht. Käpt‘n ...« Er zögerte.

»Helft Ihr mir?«

Jaggar sah ihn verwundert an. »Wobei?« fragte er

vorsichtig.

»Als ... als ich hierherkam, da schwor ich mir, ich

wollte Welora finden ...«

»Welora?« fragte Jaggar. Dann dämmerte ihm, was

der Junge meinte. Er nickte. »Sag mir, wie sie aussah.

Vielleicht erinnere ich mich an sie. Aber ich warne dich

gleich. Ich erinnere mich an die wenigsten. Da war nur

eine, auf meiner letzten Fahrt, eine mausgesichtige

kleine Hexe.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern,

»Sechs Monde bist du hinter mir her?« fragte er dann.

»Und gleich nach dem Überfall aufgebrochen?«

Der Junge nickte.

»Drei Mädchen nahmen wir mit?«

Erneut nickte Wiquin erwartungsvoll.

»Dann kann sie nicht hier auf der Schlangeninsel

sein«, erklärte er nach einer Weile. »Ich weiß, daß wir

unsere Beute verkauften. An einen Kauffahrer aus

Page 73: Der Schlangengott

Namos.« Die Erinnerung schien ihn ungemein zu

erheitern, denn er lachte laut auf.

»Was wollte ein Händler aus Namos mit

myranischen Mädchen?« fragte der Junge verwundert

und mißtrauisch. »Jeder weiß, daß die Frauen auf

Namos das Regiment führen. Sie sollen schlimmer sein

als die Katmahza. Jaggars Heiterkeit schwoll noch.

»Aber er hatte Gold, das wir ihm in jedem Fall

genommen hätten. So schlugen wir ihn breit, die

Mädchen für eine anständige Summe zu kaufen.

Andernfalls, machten wir ihm klar, würden wir sein

Schiff ausplündern.«

»Und er zahlte?«

»Das tat er. Und er war froh, mit so heiler Haut

davonzukommen. Wir waren in guter Laune an diesem

Tag, und die Wellenreiterin saß tief im Wasser, so reich

waren wir mit Beute beladen. Es war an der Zeit,

umzukehren ...«

»Dann ist sie verloren«, murmelte der Junge traurig.

»Hast du sie geliebt. Junge?« fragte Jaggar plötzlich

voller Mitgefühl.

Wiquin schüttelte den Kopf. »Nein ... oder vielleicht

doch ... ach, ich weiß es nicht. Aber ich wuchs mit ihr

auf. Wir waren Nachbarskinder. Dann war plötzlich

alles so leer ohne sie.«

»Ja«, sagte Jaggar bedauernd. »Aber vielleicht ist sie

noch nicht verloren. Das Schiff des Händlers hatte den

Page 74: Der Schlangengott

Kopf eines Tieres mit einem gewundenen Horn auf

dem Bug. Es sah häßlich aus. Ein Einmaster. Ich würde

ihn unter Hunderten wiedererkennen. Wenn dieser

unselige Angriff auf Myra erst beendet ist und wir kein

Futter für die Haie geworden sind, werden wir uns die

Häfen Namos‘ genauer ansehen. Haben wir das Schiff,

haben wir auch eine gute Spur. Was meinst du?«

Wiquin sah ihn erfreut an. »Ist das ein Angebot,

Käpt‘n?«

»Eins, das fair genug ist, denke ich.« Er grinste.

»Aber wenn sie wirklich auf Namos ist, wird das nicht

ohne Spur an ihr vorübergehen, fürchte ich. Die Taube,

die fortflog, kommt als Drache wieder. Sie wird eine

andere sein, bis das Jahr um ist. Und früher werden wir

sie nicht finden ...«

»Das wäre das Risiko wert, Käpt‘n, Und was wollt

Ihr dann tun, sie stehlen?«

»Und dir verkaufen.« Er grinste breit. »Aber

vielleicht beruhigt es dein zartfühlendes Gemüt, wenn

wir sie eintauschen!«

Er brach in schallendes Lachen aus, als er Wiquins

verständnisloses Gesicht sah.

5.

Page 75: Der Schlangengott

Jaggar schritt unruhig in seiner Kajüte auf und ab.

Nacht lag über der Stadt und dem Hafen. In den

meisten der Häuser oben auf den Hügeln, wo die

wohlhabenderen wohnten, und im Palast brannten

noch flackernde Lichter und hielten die Dunkelheit

fern, die über dem Land kauerte. Wolken hatten sich

vor den Mond geschoben und bedeckten den größten

Teil des Himmels. Die wenigen Sterne gaben kaum

Licht genug, die Hand vor den Augen zu sehen.

Jaggar war nervös. Wenn um seinetwillen noch

etwas geschah, dann mußte es in dieser Nacht

geschehen. Am Morgen würde der Rat der Kapitäne

zusammentreffen, um des Königs Pläne zu vernehmen,

über die wohl kaum jemand noch im Zweifel sein

konnte.

Jaggar hatte keine Furcht vor dem Krieg. Das war es

nicht, was ihn bedrückte. Es war seine augenblickliche

Stellung. Es schien, als wäre bereits jemand rascher

gewesen – um eine Nasenlänge voraus – und hatte die

Kapitäne gegen ihn gestimmt. Malquirs barscher,

beinah beleidigender Ton sprach dafür, mit dem er

Jaggars Ansinnen abgewiesen hatte, als bedeutete es

keine Warnung, sondern blanken Verrat.

Bei Meldos nicht anders. Beinah Verachtung.

Jaggar wußte, daß er allein war, und daß es wenig

gab, das er tun konnte. Außer warten.

Was hatte den König in solch einen erbitterten Feind

Page 76: Der Schlangengott

verwandelt? War es Serphat, der Schlangenpriester, der

sich sein Vertrauen erschlichen hatte? Hatte der junge

Wigor recht mit seiner Vermutung?

Wigors Name brachte seine Gedanken für einen

Augenblick auf etwas, das ihn erheiterte. Er stand

einen Moment sinnend, die Daumen in den Gürtel

gehakt. Dann verließ er die Kajüte und begab sich an

Deck. Er sah sich um, konnte aber Wigor nirgends

entdecken. Dann stieg er in die Mannschaftsräume

hinab. Als er nach geraumer Weile wieder zum

Vorschein kam, begleiteten ihn drei Männer, die sich

mit grinsenden Gesichtern vom Schiff begaben und in

der Richtung des Marktplatzes in der Nacht

verschwanden.

»Junge!«

Wiquin hörte die Stimme, aber er erwachte erst, als

Jaggars kräftige Faust ihn schüttelte.

»Käpt‘n?« Er schüttelte die Schlaftrunkenheit ab. Es

war noch immer finster wie in einem Loch.

»Komm mit.«

Wiquin rieb sich den Schlaf aus den Augen und

stolperte hinter Jaggar her an Deck. Er atmete auf. Die

Wolken waren zum größten Teil verschwunden, und

das Mondlicht spiegelte sich auf den Planken. Man

konnte gut sehen.

»Was ist los, Käpt‘n? Laufen wir aus?« Das war eine

Page 77: Der Schlangengott

völlig verrückte Frage, denn nichts deutete auf ein

Auslaufen hin. Das Deck war leer bis auf eine einsame

Gestalt an der Bugreling.

Die Gestalt schien dem Jungen irgendwie bekannt.

Jaggar führte ihn hin.

»Bootsmann!« rief er.

Der andere drehte sich um und sah den beiden

entgegen. Das Mondlicht fiel voll auf sein Gesicht.

Wiquin hatte Mühe, einen entsetzten Aufschrei zu

unterdrücken.

»Ja, Käpt‘n?«

Auch die Stimme ließ keinen Zweifel daran. Vor

ihnen stand Galis – so lebendig wie eh und je.

Benommen starrte er Galis an und war froh, daß sein

Gesicht im Schatten war.

»Wiquin wird dich ablösen.«

»Es ist nicht nötig, Käpt‘n.«

»Das ist ein Befehl, Bootsmann.«

»Aye, Käpt‘n.«

Wiquin vermeinte, Wut in den Augen Galis‘ zu

sehen. Der Junge fröstelte unwillkürlich. Während der

Bootsmann unter Deck verschwand, beschäftigte

Wiquin nur eine Frage: Wer war der Tote in der

unterirdischen Palastkammer?

Jaggar ergriff ihn am Arm und drehte ihn herum,

daß er ihm ins Gesicht sehen konnte. Er war nicht

wütend, aber es war etwas an ihm, das keinen Zweifel

Page 78: Der Schlangengott

ließ, daß er eine Antwort erhalten würde. »Also, was

hat es zu bedeuten?«

»Käpt‘n ... ich ... ich verstehe es nicht.« Er berichtete

noch einmal in allen Einzelheiten, wie er in den Palast

gelangt war, und was Coris ihm gezeigt hatte. Er

beschwor, daß er nicht den geringsten Zweifel gehegt

hatte, daß Galis es war, der tot in dieser Kammer lag.

Kein anderer als der Bootsmann konnte es gewesen

sein, wenn er nicht einen Zwillingsbruder besaß. Ein

Schwert hatte ihn durchbohrt.

Und nun war Galis zurückgekommen!

Von den Toten? Oder hatte dieser Priester der

Schlange seine Hand im Spiel? Es war nicht von der

Hand zu weisen. Zu viele merkwürdige Dinge waren

seit seiner Ankunft auf der Insel geschehen.

Vielleicht war er wahrhaftig von den Göttern

geschickt. Aber es war seltsam, daß sie einem solche

Macht in die Hand gaben – wenn es Macht war, und

nicht Jahrmarktsgaukelei. Viel eher schien er Wiquin

ein Hexer, der den König für sich zu gewinnen suchte

für irgendwelche dunklen Pläne.

Er zweifelte nicht an dem, was er im Palast gesehen

hatte. Galis war tot – oder wenigstens tot gewesen!

Dann stimmten die alten Geschichten, daß die Toten

aus den Gräbern zu steigen vermochten, wenn sie von

bösen Geistern beseelt waren! Die Zombys.

Galis mußte einer sein! Und beseelt war er von

Page 79: Der Schlangengott

Serphat! Das war der nächstliegende Gedanke.

Und warum war er gekommen? Es gab nur eine

Antwort: Um Kapitän Jaggar zu töten, der ihm im

Wege war.

Es war plötzlich alles sehr klar und einleuchtend.

Wiquin ließ den Kapitän stehen und hastete die

Treppe zu den Mannschaftsräumen hinab. Megil, der

Steuermann, kam ihm entgegen. Sein Gesicht war blaß.

Die Männer starrten hellwach aus ihren Schlafkojen.

Ihre Gesichter waren nicht viel dunkler als das des

Steuermanns.

»Wo ist Galis?« fragte Wiquin, von einer dumpfen

Ahnung befallen.

»Wir wissen es nicht«, antwortete einer. »Er war

eben noch hier, und es war verdammt merkwürdig.«

»Was?« fragte der Junge. »Sag schon, was war

merkwürdig?«

»Er ... er kam herein und legte sich in seine Koje. Wir

dachten uns nichts dabei. Er war ja immer ein wenig

wortkarg, und es ging uns ja nichts an, wo er so lange

war. Aber dann fing Quiller, der über ihm schläft,

plötzlich an, seinen Namen zu rufen. Wir waren wieder

alle wach, als er ihn schüttelte und mit der Hand

zurückzuckte, als hätte ihn eine Tarantel gebissen ...«

Quiller selbst, der Koch, ein kleiner dunkelhaariger

Mann, rief aufgeregt »Er war so kalt. Wie Eis. Ich

dachte Kelim, der ist tot! Ich horchte, aber er atmete

Page 80: Der Schlangengott

nicht. Nicht ein Zug ... Ich rüttelte ihn, und da packte

mich das Grauen. Er fühlte sich an, als hätte er keine

Knochen im Leib, alles schwammig und weich. Ich bin

nicht furchtsam, Wiquin, das werden dir die

Kameraden bestätigen, aber der Schlangenpriester

spukte mir den ganzen Tag im Kopf herum, wie er sich

in diese schleimigen Kreaturen verwandelte, und wie

er das vielleicht mit jedem von uns machen könnte. «

»Aber wo ist er?« fragte Wiquin von leichtem

Grauen erfüllt.

Sie schüttelten die Köpfe. »Quiller kam herunter

und sagte aufgeregt, daß er glaube, daß Galis nicht

wirklich Galis sei ... und bis wir aus ihm

herausbekamen, was nun eigentlich los war, war Galis

verschwunden. Er ... Er konnte nicht durch die Tür

gegangen sein, denn der Steuermann stand die ganze

Zeit davor. Und sonst gibt es keinen Weg nach

draußen. Wir haben schon alles durchsucht.«

Ein erstickter Schrei kam von Deck der alle erstarren

ließ. Wiquin stürmte als erster los. Es war die Stimme

des Kapitäns gewesen, dessen war er sich sicher.

Erneut kam ein Schrei wie von aller Pein der

Unterwelt erfüllt. Wiquin erreichte das Deck und sah

zwei Gestalten nicht weit von sich ineinander

verschlungen zuckend. Im Laufen riß er sein Schwert

aus dem Gürtel. Hinter ihm ertönte das Getrappel der

Mannschaft, die die Treppen hochstürmte. Irgend

Page 81: Der Schlangengott

jemand hatte eine Lampe mitgebracht, die ihren

flackernden Schein über das Deck warf.

Einen Augenblick hatte Wiquin Mühe, die

ringenden Gestalten zu unterscheiden, dann sah er

deutlich, wie der Kapitän zurücktaumelte und stürzte.

Als die andere Gestalt sich über ihn beugte und erneut

zupacken wollte, war der Junge heran und hieb mit der

flachen Klinge zu.

Galis, oder was es auch war, das in seiner Gestalt

hier stand, fuhr herum und griff nach dem Jungen. Der

eisige Griff lähmte Wiquin. Er fühlte, wie seine Sinne

schwanden. Er schrie gequält auf und stieß das

Schwert mit letzter Kraft in den Körper vor ihm. Es

war, als schnitte es durch Fett. Ohne Widerstand zu

finden, glitt es durch den Magen und das Rückgrat

seines Gegners, der den Griff nicht lockerte.

Er schrie erneut, diesmal in panischer Furcht, als er

erkannte, daß er keinem menschlichen Widersacher

gegenüberstand. Dann, während seine Sinne

schwanden, sah er undeutlich, wie die Schiffsleute sich

auf die Gestalt stürzten. Einer schlug mit der Lampe

zu, und brennendes Öl ergoß sich über das Gesicht

Galis‘, das zerfloß, als wäre es schleimige, flüssige

Substanz. Es löste sich auf in kleine Teile, die wie

Würmer über das Deck auf das Wasser zukrochen. Ein

unmenschliches Kreischen begleitete diese Auflösung.

Die Männer standen starr, gelähmt, von Ekel

Page 82: Der Schlangengott

geschüttelt, und Wiquin spürte, wie der eisige Griff

sich löste, wie er wieder atmen konnte. Er hob mühsam

den Kopf und sah, wie der Körper Galis‘

zusammensank, und selbst die Kleider sich in die

fließende Substanz verwandelten, die zäh über die

Planken glitt und mit deutlichem Klatschen den Weg

ins Wasser fand.

»Der Käpt‘n!« stieß Wiquin hervor »Seht nach dem

Käpt‘n!«

Bewegung kam in die Männer. Einige löschten das

Feuer. Zwei hoben die reglose Gestalt Jaggars hoch

und trugen sie hinab in seine Kajüte. Der Steuermann

half Wiquin auf die Beine.

Wiquin glaubte nicht stehen zu können, so schwach

fühlte er sich – als hätte jemand alle Kraft aus ihm

herausgesaugt.

Mit Megils Hilfe schaffte er es bis zur

Kapitänskajüte, wo man Jaggar auf sein Lager gebettet

hatte.

»Er ist nicht tot, Leute«, sagte einer. »Er atmet noch.

Holt den Heiler!«

Einige stürmten los. Wiquin betrachtete Jaggars

bleiches, beinahe weißes Gesicht, in dem kein Leben

schien. Er erinnerte sich unwillkürlich an Coris‘ Worte:

»Sage das Canlos und auch, daß der Priester wieder im

Palast ist.«

Kein Zweifel mehr – der Priester war es, der Jaggars

Page 83: Der Schlangengott

Leben wollte. Aber danach wurde später niemand

fragen. Wer oder was immer dieser Priester war, ein

Gott oder ein Ungeheuer, aber sicherlich kein Mensch,

er hatte eine Schlacht verloren. Aber er würde es

wieder versuchen. Er mußte es wieder versuchen, nun,

da ein ganzes Schiff seine höllische wahre Gestalt

gesehen hatte und wußte, daß er mit Feuer

verwundbar war.

Sie durften nicht länger hierbleiben!

Er wandte sich an den Steuermann. »Können wir

auslaufen?«

Der nickte. Er fühlte wohl ähnlich. Und er kam sich

hilflos vor, nun, da der Kapitän todkrank lag und keine

Befehle geben konnte. Auch er ahnte, wenn sie ihn

retten wollten, mußten sie handeln.

Auf eigene Faust!

»Ja«, sagte der Steuermann. »Aber es ist Wahnsinn.

Sieh die Wolken. Sie werden gleich den Mond

verdunkeln. Dann ist es wieder so dunkel, daß es

schwer wird, das Wasser vor dem Bug zu sehen.«

»Um so besser«, sagte Wiquin. »Dann werden sie

unsere Flucht nicht so rasch bemerken ...«

»Wiquin, da draußen liegen über sechs Dutzend

Schiffe. Zwischen denen müssen wir durch, abgesehen

von der Engstelle der Hafenausfahrt ... Es ist Irrsinn!«

»Aber der einzige Weg, nicht wahr, Megil, das hast

du auch bereits erkannt?«

Page 84: Der Schlangengott

Nach einem Augenblick nickte der Steuermann.

»Was ist mit den Männern? Sind sie dem Käpt‘n

ergeben genug, daß sie dieses Risiko eingehen und sich

gegen den König und die Bruderschaft stellen? Und

du, Megil, bist du es?«

Der Steuermann gab keine Antwort. Er überdachte

alles gründlich. Schließlich sagte er: »Wenn du für den

Käpt‘n bist, bin ich dein Steuermann.« Sie besiegelten

es mit einem Handschlag.

»Es wäre zu riskant, die Männer vor die Wahl zu

stellen. Die meisten gäben für den Käpt‘n ihren rechten

Arm. Aber wir brauchen sie alle. Wenn wir das offene

Meer erreichen ...« Megil schüttelte den Kopf. »Wenn

wir tatsächlich das offene Meer erreichen, dann ist es

noch immer Zeit, sie vor die Wahl zu stellen und sie

irgendwo an der Küste abzusetzen.«

Wiquin nickte. Es gefiel ihm nicht, aber sie hatten

keine andere Wahl. »Die Männer sollen an die Ruder

gehen. Wir warten, bis der Heiler an Bord ist und wir

wissen, wie es steht.«

Megil nickte mit blassem Gesicht. »Wie ist es«, fragte

er, »hast du Kraft genug zum Stehen?«

Wiquin lächelte ein wenig verzerrt. »Keine Bange,

Steuermann.« Dann lauschte er, wie es unter Deck

lebendig wurde, als sich die Männer an die Ruder

begaben. Er mußte sich eingestehen, daß er nicht viel

von Schiffen verstand, aber Megil schien ein fähiger

Page 85: Der Schlangengott

Mann. Wenn sie erst draußen waren und die Segel

gesetzt hatten, dann ging es nach Nordosten. Nach

Myra.

Dafür würde er sorgen, auch wenn Jaggar Kraft

genug erlangte, um das Schiff wieder selbst zu führen.

Der Heiler kam an Bord und stellte nur Schwäche fest,

keine Verletzung. Jaggar brauchte Ruhe, das war alles.

Aber er war dem Tode näher gewesen als einer mit

einem Pfeil im Rücken. Eines interessierte den Heiler

ganz besonders: Wie der Kapitän in diesen

ungewöhnlichen Zustand gekommen war. Aber

darüber verlor keiner von der Schiffsbesatzung ein

Sterbenswort. Sie wußten ja selbst nicht genau, wie es

geschehen war, und der Schreck saß ihnen noch tief in

den Gliedern. Keiner fragte, warum sie ausliefen. Sie

waren dankbar, daß jemand das Kommando

übernommen hatte, und daß sie dieses Wasser

verlassen konnten, in dem noch immer dieses

unheimliche Wesen lauern mochte.

Als der Heiler von Bord ging, übersah Wiquin die

drei Mann der Schiffsbesatzung, die aus der Stadt

zurückkamen mit einem großen Bündel, das sie unter

Megils Anleitung unter Deck schafften.

Wiquin atmete auf, als beinahe lautlos die Taue von

den Molen fielen und das Schiff mit den leichten

Page 86: Der Schlangengott

Hafenwellen vom Kai glitt. Unsagbar langsam und

sacht schwangen die Ruder aus und tauchten ein. Das

Schiff erzitterte leicht. Nichts war in der Schwärze zu

sehen. Furcht erfüllte Wiquins Herz. Jeden Augenblick

mochten sie gegen eines der Schiffe oder gegen die

Felsen

prallen – und das würde das Ende bedeuten.

Aber der Steuermann kannte den Hafen.

Der Kai entschwand, die vereinzelten Lichter der

Stadt bewegten sich, als die Schwarze Wellenreiterin

sich scheinbar mühelos drehte.

Ein dunkler Schatten tauchte kurz neben der

Bordwand auf, aber lautlos glitt das Schiff an dem

Hindernis vorbei.

Als sie das Hafenbecken hinter sich hatten und der

schwarze Felsen der Ausfahrt zurückblieb, die Lichter

klein und fern wurden – da erst wagte Wiquin

aufzuatmen.

Aber noch hatten sie ein Stück vor sich, gegen das

die Hafenausfahrt ein Spiel schien. Gut achtzig

ankernde Galeeren, durch die sie sich einen Weg

suchen

mußten – mit der gleichen Blindheit.

Der Mond kam ein wenig durch eine dünnere

Wolkenschicht und enthüllte dunkle Kolosse voraus.

Geisterhaft ragten sie hoch, nah und drohend. Einmal

geschah es, daß sie knirschend über eine Ankerkette

Page 87: Der Schlangengott

glitten. Das Schiff neben ihnen kam in Bewegung. Nur

eine geschickte Wendung des Steuermanns ließ die

Bordwände um Handbreit aneinander vorbeigleiten.

Die Ruder scharrten unter Wasser die Galeere entlang

und mußten der schlafenden Besatzung wohl den

Eindruck vermittelt haben, eine Horde

Wassermenschen beginne ihre Hülle aufzubohren.

Bange Augenblicke verstrichen, als auf der Galeere

Tumult losbrach, aber bevor die Wachen begriffen, was

geschah, war die Wellenreiterin in der Finsternis

verschwunden.

Hinter ihr riefen erregte Stimmen, und Lampen

flammten auf. Aber niemand sonst schien sich dem

Tumult anzuschließen. Das Meer vor ihnen blieb

dunkel.

Eine gute Stunde verging, dem Stand des Mondes

nach zu schließen. Vorsichtig tasteten die Ruder nach

dem Wasser, nach Hindernissen.

Mehrmals glaubten sie ein Schiff in unmittelbarer

Nähe auszumachen. Dann kam lange nichts mehr.

Der Mond stand im letzten Drittel des Firmaments.

Ein Wind kam auf, wie von den Göttern gesandt, und

vertrieb die Wolken.

Vor ihnen war das Meer frei. Sie hatten die Flotte

passiert. Der Steuermann war plötzlich neben ihm.

»Wir sollten Segel setzen. Wiquin.«

Er nickte. »So setzt Segel.«

Page 88: Der Schlangengott

»Und der Kurs ... Käpt‘n?«

Wiquin lächelte. Er fühlte sich plötzlich befreit von

allem. Der Boden unter seinen Füßen gehorchte ihm!

Er, Wigor aus Deyman, befehligte ein Schiff.

»Nach Osten«, sagte er ohne Zögern. »Wir werden

Pathos anlaufen und Wasser und Proviant an Bord

nehmen.«

»Aye. Käpt‘n.«

Für die Reise heim, dachte er. Und um diesen

Dragon zu warnen.

Die Ruder wurden eingezogen. Die Männer liefen

an Deck. Bald rollten die Segel auf und fingen den

Wind. Das Schiff drehte nach Osten und flog über die

dunklen Wellen.

6.

»Den Wein, o König des myranischen Reiches, würde

ich nicht trinken.« Es war ein wenig Sarkasmus in der

Stimme. »Das Volk hat noch keine Zeit gehabt,

nachzudenken über all die neuen Gesetze, die Ihr

erlassen habt. Es würde sie mit Euch vergessen. Die

Menschen hängen am Alten, wie schlecht und peinvoll

es auch gewesen sein mag.«

Der Sprecher war ein ältlicher Mann mit einem

Page 89: Der Schlangengott

grauen Kinnbart und buschigen Brauen. Er war

schlank und hochgewachsen und für Myras Straßen

ungewöhnlich gekleidet. Eine lange weiße Kutte wies

ihn als einen der Weisen aus, jener Gruppe von

Männern und Frauen, die sich Söhne von Atlantis

nannten. Über der Kutte trug er einen Schulterumhang

aus dickem Gewebe: das den Regen abhielt, der seit

dem Morgen in grauen Schleiern um Myraniens

Hauptstadt wogte.

Der, an den die Worte gerichtet waren, war nicht

kleiner als die weiße Gestalt, aber ein halbes Leben

jünger. Seine jungenhaften Züge spiegelten eine Spur

von Besorgnis wider. Er trug Jacke, Beinkleider und

Stiefel in dunklem Rot wie jene der myranischen

Heerführer. Das Schwert hatte er abgelegt. Es lag auf

dem großen marmornen Tisch des Audienzsaales, in

dem König Zogor einst seine Daikane empfangen hatte.

Die Glut in der gewaltigen steinernen Feuerschale

verbreitete angenehme Wärme. Nur in ihrer Nähe war

es an solchen regnerischen Tagen in den kalten

Steinhallen des myranischen Palastes zu ertragen.

»Was meint Ihr damit, Cheron‘?« fragte er und

lächelte. »Daß Gift in dem Wein sein könnte?« Er stellte

den albernen Kelch ab.

Der mit Cheron Angesprochene nickte ernst,

während er seinen nassen Umhang ablegte. »Stellt Ihr

keine Vorkoster an, König Dragon?«

Page 90: Der Schlangengott

»Nein, mein lieber Cheron. Ihr Leben wäre so

wertvoll wie meines.«

Cheron lächelte. »Das sagt Ihr, der Ihr auf dem

Thron sitzt, nur einen Schritt von den Göttern

entfernt?«

»Oh, ich habe nicht vor, darauf sitzen zu bleiben«,

erwiderte Dragon. »Ihr wißt, daß Erinnerungen in mir

sind, die ich um jeden Preis finden muß. Vielleicht

komme ich ihnen näher, je mehr ich von dieser Welt

kennenlerne.«

Cherons Lächeln vertiefte sich. »Das ist ein langer

Weg, wenn Ihr sie erst erobern wollt!«

»Es sieht so aus, nicht wahr?« Dragon nickte. Er griff

nach dem Kelch, ließ ihn dann aber stehen. »Kommt, es

ist ungemütlich hier, und ich bin sicher, die Königin

hat Langeweile.«

Die beiden Männer verließen die Halle. Halb auf den

Treppen zu Amees Gemächern stürmten ihnen zwei

Knaben und ein Mädchen entgegen, von denen das

Mädchen die Ältere war.

»Seid gegrüßt, meine Kinder«, sagte Cheron

lächelnd.

Während sie gemeinsam nach oben schritten, sagte

einer der Knaben: »Wie steht es, Cheron, kommt ihr

alle in die Stadt und fangt ihr die Schulen an?«

»Ja, Kim. Der Ältestenrat hat es beschlossen.«

Page 91: Der Schlangengott

»Das ist eine gute Botschaft«, sagte Dragon erfreut.

»Ich weiß, wie schmerzlich die Gräber eurer

ermordeten Brüder euch mahnen. Aber ihr habt nichts

zu befürchten, schon gar nicht, solange Partho mit dem

Heer im Osten der Stadt lagert. Aber ihr wißt

ebensogut wie ich, daß nicht Myras Bürger euch Übles

wollten, sondern daß es einzig und allein Cnossos‘

Werk war und Zogors, der unter seinem Einfluß

stand.«

Cheron nickte. »Ihr solltet die Kinder nicht von

Eurer Seite lassen, König Dragon«, mahnte er. »Ihr habt

Feinde in der Stadt, und ihre Stimmen werden lauter.

Aber sie werden sich nicht mit dem Reden begnügen.

Eure Gesetzesänderungen, so segensreich sie sein

mögen, besonders die Aufhebung der Sklaverei, haben

eine Reihe von einflußreichen Leuten zwar nicht an

den Bettelstab gebracht, aber doch um ihre Einkünfte

betrogen. Ein Dolch zwischen die Rippen würde ihr

Problem am einfachsten lösen.« Er wandte sich an das

Mädchen. »Was denken die Menschen um deinen

König, Yina?«

»Die seltsamsten Dinge«, erwiderte sie. Ihre Miene

verdüsterte sich. »Du hast recht, Cheron. Wenn er

durch die Straßen reitet, dann gibt es viele, die ihn

lieben oder verehren oder als den Mann schätzen, der

Großes vollbracht hat. Aber es gibt einige, die ihn

hassen. Ihre Gedanken sind ganz klar. Ich kann sie

Page 92: Der Schlangengott

lesen wie in einem Buch. Aber ich weiß nicht, wer sie

denkt. Ich kann nicht erkennen, zu welchem Gesicht sie

gehören.«

Cheron nickte. »Ihr seid in Gefahr, König Dragon. In

größerer Gefahr, als Ihr wahrhaben wollt. Myra ist alles

andere als Euer rechtmäßiger Thron. Und wenn auch

vielleicht niemand viel Sympathie für Zogor

aufgebracht hat, so haben doch viele von seinem

Despotismus Gewinn gehabt. Das alles versucht Ihr

fortzufegen.« Er nickte erneut. »Das Volk wird freier

atmen unter Eurer gerechten Hand, aber Euch wird

man nicht nur Blumen streuen.«

Vor Amees Gemach sagte Yina plötzlich: »Es ist

jemand im Palast, der an den Tod denkt.«

»Wo?« fragte Cheron rasch.

Das Mädchen runzelte die Stirn. Sie lauschte

angestrengt in sich hinein. »Von unten ... scheinen die

Gedanken zu kommen«, sagte sie zögernd.

»Maus, woher?« fragte einer der Knaben. »Aus dem

Keller?«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein ... es ...

entfernt sich.« Sie eilte zum nächsten Fenster und

starrte hinab in den regenverschleierten Park. »Da!«

Eine graugekleidete, verhüllte Gestalt lief über den

Rasen, sprang auf die Mauer und war im nächsten

Augenblick verschwunden.

Cheron nickte ernst. »Ihr solltet die Wachen

Page 93: Der Schlangengott

verstär...«

Ein würgender Schrei drang aus der Halle herauf

und endete in einer Reihe stöhnender Laute. Danach

war Stille.

Die Gruppe war erstarrt stehengeblieben.

»Das war eine Frau«, sagte Yina. Ihr Gesicht war

blaß. »Sie hat aufgehört zu denken ...«

»Tot?« fragte Cheron.

Das Mädchen nickte.

Sie liefen die Treppen hinab in die Halle. Sie hielten

an, und ihre Blicke glitten suchend durch den leeren

Raum. Kim war es, der die reglose Gestalt zuerst

entdeckte. Es war eines der Küchenmädchen, das

neben dem marmornen Tisch lag. Ihre Augen waren

starr und weit, der Kelch in ihrer Hand – leer. Rote

Tropfen von Wein waren an ihren Lippen und auf dem

blanken, steinernen Boden.

Sie hatte den Wein getrunken, der für den König

bestimmt gewesen war.

Die Königin lag auf seidenen Kissen im größten

ihrer Gemächer und blickte fröstelnd auf den

wolkenverhangenen Himmel.

»Es sieht so aus, als hättest du ein Land erobert,

mein Liebster, über dem der Himmel seine Schleusen

niemals schließt.«

Sie sah blaß aus.

Dragon nickte. »Wir hatten Glück, daß uns solch ein

Page 94: Der Schlangengott

Regen nicht während des Marsches überraschte.« Dann

sagte er lächelnd: »Hast du vergessen, wie trüb und

trostlos der Himmel über Urgor war, als der Regen den

Raxos schwellen ließ?«

»Du hast recht«, sagte Amee und legte ihre weiße

Hand auf die Schwellung ihres Leibes. »Aber ich hätte

deinem Sohn Sonne gewünscht, wenn er geboren

wird.«

Dragon setzte sich zu ihr und legte die Arme um sie.

»Wie lange hat der Himmel noch Zeit, sich zu

besinnen?«

»Nicht mehr lange.«

Am späten Nachmittag hellte es auf, und Dragon begab

sich zum Hafen, um mit den Kapitänen seiner Flotte zu

reden. Es wäre einfacher gewesen, sie zur Audienz in

den Palast zu bitten, aber Dragon wußte, wie ungern

sie ihr Territorium verließen und wie unbehaglich sie

sich im Palast fühlten.

Es fiel ihnen schwer genug, sich daran zu

gewöhnen, daß der König ihnen Aufmerksamkeit

zollte. Unter Zogors Regentschaft hatten sie den

Königspalast nie betreten, und der König keines seiner

Schiffe. Allein mit Kelkari hatten sie zu tun gehabt, der

die Flotte befehligte.

Yina begleitete Dragon. Auf dem Rücken dieser

großen myranischen Pferde wirkte sie noch mehr wie

Page 95: Der Schlangengott

eine Maus, klein und spitznasig wie sie war. Ein

Dutzend Männer der Garde trabten zu beiden Seiten

des Königs, der am liebsten allein geritten wäre.

Auf halbem Weg hinab zum Hafen begegnete ihnen

eine Gruppe der wohlhabenderen Bürger Myras. Die

meisten von ihnen hatte Dragon bereits kennengelernt

bei den ersten Sitzungen des neu einberufenen

Stadtrats, der halb aus verdienten Würdenträgern der

Stadt und einflußreichen Händlern und halb aus

Mitgliedern von Cherons Gruppe von Weisen gebildet

worden war.

Einige jedoch waren Dragon noch fremd. Sie alle

verneigten sich grüßend, und Dragon hielt an. Einige

Worte wurden getauscht, als Yina plötzlich unruhig

wurde.

»Onkel«, sagte sie warnend, aber Dragon winkte ihr,

zu schweigen. Sie fing Gedanken von Ungeduld auf.

Die Männer vor ihr erwarteten etwas. Sie waren

nervös, ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. Sie

erkannte plötzlich, daß alles einem Plan angehörte. Sie

hielten Dragon absichtlich auf! Sie drängte ihr Pferd an

das des Wachkommandanten. »Gorich, sie halten den

König absichtlich auf.«

Der Kommandant, der von den besonderen

Fähigkeiten des Mädchens wußte, fragte: »Bist du

sicher, Yina?«

»Ja«, sagte sie ängstlich. »Es muß jeden Augenblick

Page 96: Der Schlangengott

etwas geschehen. Gorich, was können wir tun?« Sie

wartete keine Antwort ab, sondern ließ in ihrer Angst

ihr Pferd aufbäumen und herumtänzeln, daß die ganze

Gruppe in Bewegung kam. Pferde wieherten, die

Männer fluchten, und Dragon hatte Mühe, sein

plötzlich ebenso aufgeregtes Pferd zu beruhigen.

Gorich wurde blaß, als sein Blick etwas am Dach des

Hauses vor ihnen erfaßte. Mit einem warnenden

Aufschrei lehnte er sich weit aus dem Sättel und stieß

den König mit solcher Wucht, daß dieser den Halt in

den Steigbügeln verlor und von seinem tänzelnden

Pferd fiel. Mehrere Schreckensschreie folgten, als ein

gefiederter Schaft wie von Zauberhand aus dem Hals

von Yinas Pferd ragte, das hinter dem Dragons

gestanden hatte.

Während es lautlos zusammenbrach und Yina Mühe

hatte, nicht unter ihm begraben zu werden, liefen die

Ratsmitglieder in Deckung. Die Soldaten hatten ihre

Bögen in den Händen, die Pfeile schußbereit.

Aber der heimtückische Schütze war verschwunden.

Ein Teil der Wachen drang in den Garten ein und

durchsuchte ihn. Die anderen hatten sich schützend

um den König und das Mädchen gruppiert.

Yinas Pferd starb nach wenigen Augenblicken.

»Wir müssen fort hier«, drängte der Kommandant.

»Um den Kadaver werden sich meine Männer

kümmern, wenn noch etwas von ihm übrig ist, bis wir

Page 97: Der Schlangengott

zurückkehren!«

Dragon nickte und stieg auf. Er nahm das Mädchen

zu sich aufs Pferd. Auf Gorichs Kommando kamen die

Männer von ihrer Suche zurück. In beschleunigtem

Tempo ritt die Gruppe zum Hafen hinab.

»Ihr solltet nie ohne eine Waffe ausreiten«, meinte

Gorich warnend. »Eines Tages mögen welche sich in

den Weg stellen, die auch ein Handgemenge in Kauf

nehmen. König Zogor ritt nie ohne einen Harnisch

unter dem Wams durch die Straßen. Dieser weisen

Vorsichtsmaßnahme solltet Ihr Euch auch nicht

verschließen. Gewiß, das Volk sieht zu Euch auf, wie es

noch nie zu einem König Myras aufgeblickt hat – ohne

Furcht und mit glänzenden Augen. Aber unter tausend

von ihnen steht einer mit Haß im Herzen und einem

Dolch in der Faust.«

Dragon nickte stumm. Er fühlte sich plötzlich

einsam unter all den Menschen, die die Straßen des

Hafenviertels bevölkerten. Er war trotz allem der

Eroberer. So sehr man das Ende von Zogors

Gewaltherrschaft begrüßt hatte, so unzufrieden begann

man nun mit dem Sieger zu werden, dem

Emporkömmling, der sich unterfing, die myranische

Gesellschaft umzukrempeln!

Dragon lächelte bitter. Der wahre Feind war nicht

das Schwert, sondern der Drang der Menschen, an den

alten Traditionen festzuhalten. Es würde schwer sein,

Page 98: Der Schlangengott

diese Ideale des Friedens und der Gewaltlosigkeit in

ihre Herzen zu pflanzen, wie sie Romons und Cherons

Söhne von Atlantis im Sinn hatten. Und wären nicht

manchmal diese Augenblicke einer unverständlichen

Erinnerung gewesen, die von größerem zu künden

schienen, er hätte gezweifelt, daß jemals etwas anderes

als Schwert und Barbarei in dieser Welt von Gewalt

triumphieren würden.

Seine Gedanken kehrten zu näherliegenden Dingen

zurück.

»Hast du erkannt, wer den Anschlag plante?« fragte

er das Mädchen.

»Ich glaube schon, Onkel«, erwiderte sie. »Ein Name

war fast in aller Gedanken. Sie fürchteten, daß Melor

sie verraten habe, als der Schuß nicht gleich kam.

Dieser Melor muß alles vorbereitet haben ...«

»Melor«, entfuhr es Dragon verwundert. »Ich kenne

ihn. Ich hielt ihn für loyal. Er machte einen guten

Eindruck auf mich ...«

»Er hat Bergwerke, keine drei Tagesritte von der

Stadt. Er braucht die Sklaven, die Euer Gesetz ihm nun

verwehrt«, erklärte Gorich, der das Gespräch mit

angehört hatte. »Er ist keiner, der offen kämpft. Aber er

scheut nicht davor zurück, seine Probleme mit Gewalt

zu lösen.«

»Melor«, wiederholte Dragon gedankenvoll. Er

mußte gründlicher sein in der Wahl der Männer, die er

Page 99: Der Schlangengott

um sich versammelte. Es gab nur einen Weg, das in der

kurzen Zeit zu erreichen. Er würde künftig Yina in die

Ratsversammlungen mitnehmen. Das mochte für die

Anwesenden befremdend wirken, aber wiederum auch

nicht befremdender als ihre ständige Begleitung bei

seinen Ausritten.

Yina mochte die Spreu vom Weizen scheiden. Sie

konnte in den Gedanken jedes einzelnen lesen, wie

groß seine Loyalität für den neuen König war, und was

er von dessen neuen Gesetzen und Ideen hielt.

Beruhigt ritt er weiter und dachte dankbar, was er

wohl ohne die Maus anfangen würde. Und ohne die

Zwillinge.

»Wie geht es Amee?« fragte er impulsiv.

Das Mädchen lauschte in sich hinein, um Kontakt

mit Kim oder Kano aufzunehmen, die sich im Palast

bei der Königin befanden. Endlich hörte Kim ihr

»Rufen«. Sie wiederholte Dragons Frage. Kim

antwortete.

»Sie ist guter Dinge«, beantwortete sie Dragons

Frage. »Seit die Sonne scheint.«

Die Kapitäne, die sich auf dem einstigen Schiff Kelkaris

versammelt hatten, begrüßten den König nicht mit den

freundlichsten Mienen. Sie waren loyal, das wußte

Dragon. Sie waren es gewohnt, loyal zu sein, gleich

welchem König sie gerade dienten. Sie hegten keinen

Page 100: Der Schlangengott

heimlichen Groll. Sie hatten erkannt, daß man mit

diesem König Dragon reden konnte, ohne für eine

falsche Bemerkung das Schwert fürchten zu müssen.

Ihr mehr oder weniger offener Ärger betraf nur die

seltsamen Ideen dieses Königs, der vielleicht zu Lande

ein fähiger Krieger und Feldherr sein mochte und zu

regieren verstand, aber der wenig Ahnung von der

Seefahrt hatte. Sonst hätte er erkennen müssen, daß die

Abschaffung der Sklaverei auch der Abschaffung der

Seefahrt gleichkam oder wenigstens der Auflösung der

Flotte!

Denn wer, so argumentierten sie, wenn erst einmal

keine Sklaven mehr an den Rudern hingen, wer wollte

dann noch rudern? Mit dem Wind allein ließ sich kaum

eine Seeschlacht gewinnen!

Oder war der König anderer Meinung?

Er war.

Er meinte, daß freie Ruderer, die Sold dafür

bekamen und wie alle anderen als Teil der

Schiffsbesatzung galten, mit allen Rechten und

Pflichten, sogar noch Besseres leisten würden als

geschlagene, erniedrigte Menschen, denen es wenig

bedeutete, ob das Schiff, das sie ruderten, in den Sieg

oder den Untergang fuhr.

»Aber sie werden nicht genug leisten«, wandte einer

ein. »Sie werden zu früh erschöpft sein, ein Luxus, den

sich künftige feindliche Schiffe nicht leisten werden ...«

Page 101: Der Schlangengott

»Nein, Kapitän«, widersprach Dragon. »Es gibt

keinen besseren Arbeiter als den freien, der sein Werk

mit einem Ziel vor Augen vollbringt. Und das will ich

euch beweisen. Heute abend noch. Seid ihr bereit zu

einem Wettstreit?«

Die Kapitäne nickten zögernd.

»So laßt zwei Galeeren bereitmachen für eine

Wettfahrt und voll bemannen. Eine wird einer aus

euren Reihen befehligen, mit Sklaven an den Rudern.

Die andere fährt unter meinem Kommando mit freien

Männern, denen guter Sold versprochen ist. Wir wollen

sehen, welche Kraft ein Schiff schneller bis zu den

Leuchtfeuern von Faraun zu treiben vermag. Die

Peitsche oder die Freiheit!«

Mißtrauisch machten sich die Kapitäne ans Werk.

Sie waren überzeugt, daß der König verlieren würde,

denn nichts war ein mächtigerer Schöpfer von

Kraftreserven als die Peitsche, das hatten ihnen

jahrzehntelange Erfahrungen in vielen Schlachten

gezeigt. Und nun kam einer, der behauptete, ein freier

Mann würde nicht minder gut rudern ohne den Biß des

Leders, wenn nicht sogar besser.

Aber als die beiden Galeeren schließlich in der

Ausgangsstellung am Kai angelegt hatten und die

Kommandanten an Bord gingen, da waren sie alle von

Eifer und Jagdfieber gepackt. Es war eine gute Übung,

und der König würde das seine daraus lernen. Er war

Page 102: Der Schlangengott

ein fairer Mann, das beeindruckte sie. Um so mehr, als

er einige von ihnen bat, zu ihm an Bord zu kommen

und sich selbst zu überzeugen, daß alles seinen rechten

Lauf nahm.

Es wurde rasch dunkel, zu rasch, als daß sie das

Rennen noch vor Einbruch der Nacht zu Ende bringen

konnten. Deshalb gab Dragon Anweisung, einen Teil

der Flotte in den Hafen zu führen und Schiffe entlang

der verhältnismäßig schmalen Fahrrinne bis zum Kap

von Faraun zu verankern, die mit Fackeln und Lampen

und Feuern an der Küste den beiden Wettfahrern den

Weg weisen sollten.

Es wurde Stunden dauern, bis diese Vorbereitungen

getroffen waren, aber das war bedeutungslos.

Die Stadt wurde langsam hell vom Schimmer

zahlreicher Lampen, solcher, die sich bewegten und an

Sänften durch die Straßen schaukelten, solcher, die an

den Hauswänden zum Eintritt in die rauchigen Stuben

von Schenken riefen, und solcher, die in den Parks der

Villen am Fuß des Palastes manch festliches

Abendmahl mit dem Zauber einer friedlichen

Sommernacht umgaben.

Es war eine Nacht für Feste, und die myranische

Seele war Festlichkeiten immer zugeneigt.

Alle sollten wissen, daß an diesem Abend für die

Freiheit gekämpft wurde, deshalb schickte Dragon

Boten in die Stadt, die den Bewohnern verkünden

Page 103: Der Schlangengott

sollten, was im Hafen geschah. Er ließ Wein

herbeischaffen und mehrere Rinder schlachten, die am

Gelände des Hafens gebraten werden sollten, damit

auch die essen und trinken konnten, die an solch einem

Abend zu darben pflegten.

Langsam, während der Abend fortschritt,

verwandelten sich die Stadt und der Hafen in ein

gleißendes Meer von funkelnden Lichtern, und immer

weiter breiteten sich die Lichter aus – hinaus in die

Dunkelheit, mit jeder Galeere, die ankerte.

Es war schade, daß Amee nicht dabeisein konnte,

dachte Dragon. Aber es würde zuviel für sie sein in

ihrem augenblicklichen Zustand. Aber wenn sie aus

dem Palast blickte, dann mußte sie diesen imposanten

Anblick sehen. Er bat Yina, mit den Zwillingen Kontakt

aufzunehmen und solcherart der Königin mitzuteilen,

was dieser festliche Glanz bedeutete.

Gorich und seine Männer und Yina wichen nicht

von Dragons Seite während der Vorbereitungen. Bald

war die halbe Stadt am Hafen versammelt. Solch eine

Gelegenheit für einen Angriff auf den König würde

sich nicht so rasch wieder ergeben. Ohne daß Dragon

es bemerkte, ließ Gorich den Ring von Wachen um ihn

verdoppeln und verdreifachen. Es würde vielleicht

nicht ohne Tote abgehen in diesem Gewühl von

Menschen, aber der König würde nicht unter ihnen

sein.

Page 104: Der Schlangengott

7.

Das Schicksal wird nicht immer nur von göttlichen

Händen geformt.

Während der König der Stadt klarmachte, daß mit

seiner Regentschaft keine Trauerzeit begonnen hatte,

und daß Friede etwas war, das gefeiert werden

mußte – während die Königin in ihren Gemächern lag,

umsorgt und geschützt ihrer Niederkunft entgegensah

und die ersten Wehen kommen fühlte – gab es

jemanden in dem dunklen Teil der myranischen

Hauptstadt hinter den Hügeln, wohin der Schein der

Fackeln nicht mehr drang, der mit blicklosen Augen in

eine buntere Welt jenseits der Wirklichkeit sah und den

Augenblick kommen fühlte, auf den sie gewartet hatte.

Es war Maratha, die Seherin.

Sie lag in einem spärlich eingerichteten Schlafraum

eines der am weitesten am Stadtrand gelegenen

Häuser, in dem sie sich einquartiert hatte, als kurz nach

Amees Ankunft Hotch, der Drache, sie bei Nacht nach

Myra brachte. Eine Lampe brannte am anderen Ende

des Zimmers, nicht für ihre blinden Augen, sondern

für das Mädchen, das jeden Abend kam und der

hochschwangeren Frau zur Hand ging.

An diesem Abend schickte sie sie fort. Der

Page 105: Der Schlangengott

Augenblick war nahe, und es durfte keine Zeugen

geben. Sie würde alle Kraft brauchen für ihr Vorhaben.

Ihre Maske würde fallen.

Sie lauschte auf die Schritte des Mädchens, die sich

entfernten. Es war still im Haus. Stickig. Die Fenster

waren verschlossen und verriegelt wie die Türen.

Sie schlug die Decken von ihrem geschwollenen

Leib zurück. Schweiß bedeckte ihr blasses Gesicht und

ließ das blonde lange Haar zu Strähnen

zusammenkleben. Ihre Augen waren dunkel, leer, von

einer schwindelnden Tiefe.

Ihre Hände umklammerten ihren Bauch – ihr

kostbarstes Gut: König Dragons Sohn. Und der

künftige Erbe seiner Reiche. Der Erstgezeugte! Der

wahre Erbe.

Nicht das Balg der Königin!

Ihr innerer Blick, ihre Gedanken wurden klarer und

griffen hinaus aus dem geschlossenen Raum über halb

Myra hinweg. Der Schmerz von Amees Wehen schnitt

wie ein scharfes Messer in ihr Bewußtsein und erfüllte

sie mit Triumph.

Der Augenblick war gekommen.

Sie sammelte sich, ihre Arme stemmten sich in die

Hüften. Vage Bilder sanken herab auf ihren augenlosen

Geist. Amees Körper tat sich auf, gab sein Innerstes

preis, das zuckende neue Leben, das mit kräftigen

Wehen ins Freie drängte. Gespannt beobachtete sie die

Page 106: Der Schlangengott

Geburt von Dragons anderem Sohn. Kräfte in ihr, die

weit über das menschliche Maß hinausreichten, ähnlich

jenen, mit denen sie ihre Gestalt zu wandeln

vermochte, machten sich ans Werk, ihr eigenes Kind zu

formen nach dem genauen Ebenbild von Amees

Geborenem.

Das brauchte eine lange Zeit, währenddessen Amees

Knabe gewaschen und gesalbt wurde und Kim und

Kano aufgeregt versuchten, die Maus zu erreichen, um

ihr mitzuteilen, daß Dragon einen Sohn hatte –

Atlantor.

Maratha brauchte all ihre Kraft. Langsam verfiel ihr

glattes Gesicht, wurde faltig, ausgelaugt von dem

Übermaß an Lebenskraft, den der formende Vorgang

verschlang. Ihre Haare wurden grau und schließlich

weiß und das Mädchen wäre sicherlich erschrocken,

hätte sie die Greisin erblickt, die erschöpft auf dem Bett

lag und sich nun selbst unter den ersten Wehen zu

krümmen begann. Aber ihre seltsamen Kräfte griffen

helfend ein, und Dragons zweiter Sohn wurde ohne

Schmerzen geboren.

Die Frau sank erschöpft zurück. Der erste Schritt

war getan.

Zur gleichen Zeit stand Dragon unter Deck seines

Schiffes und sprach zu den Männern an den Rudern.

Ihre Ketten waren gelöst worden. Bisher hatten die

Page 107: Der Schlangengott

Kapitäne sich standhaft geweigert, die Rudersklaven

zu entlassen.

Dragon erklärte ihnen, worum es ging, und nach

anfänglichem Mißtrauen, wie es jeder gepeinigten

Kreatur eigen ist, begannen sie zu begreifen, was es

war, das der neue König ihnen da anbot.

Ein unbeschreiblicher Tumult entstand, den einer

der Aufseher grob mit der Peitsche beenden wollte.

Aber Dragon wies ihn zurecht, daß er im

Augenblick zu freien Männern rede. Er entließ den

Aufseher mit dem unbestimmten Gefühl, einen neuen

Feind gewonnen zu haben. Dafür aber sechzig

begeisterte Freunde, die für ihren König durchs Feuer

gehen würden. Er begann das Verhältnis zu begreifen,

von dem Gorich gesprochen hatte: daß auf tausend

begeisterte auch eine haßerfüllte Stimme kam. Aber es

schien ihm, daß Gorich bei weitem untertrieben hatte.

Er mußte künftig sehr vorsichtig sein. Die Sklaverei,

das hatte er in den wenigen Tagen seiner Regentschaft

in Myra erkannt, war nicht nur von wirtschaftlicher

Bedeutung – sie war eine Lebensanschauung bei diesen

Menschen. Ihre Aufhebung bedeutete einen tiefen

Eingriff in die myranische Seele. Er durfte jene nicht

vorschnell verurteilen, die ihm nach dem Leben

trachteten. Er mußte sie verstehen und zu überzeugen

versuchen. Wie heute ...

Page 108: Der Schlangengott

Unter dem donnernden Beifall der Menge glitten die

Schiffe in die Mitte des Hafens hinaus. Fackelzeichen

verkündeten die Bereitschaft zum Start.

Die Riemen knarrten. Beider Schiffe Ruder tauchten

gleichzeitig ins Wasser, ließen es aufschäumen. Die

Galeeren ruckten vorwärts. Der Rhythmus der

Takttrommler wurde rascher. Einer spornte den

anderen an. Dragons Männer legten sich in die Riemen

mit der Kraft einer wilden Hoffnung. Die Sklaven des

zweiten Schiffes krümmten ihren Rücken über das

Ruder in Pein und Furcht.

So fuhren sie lange nebeneinander her den von

Fackeln und Feuern erleuchteten Meeresarm entlang.

Männer, Leder und Holz begannen zu ächzen. Schweiß

floß über die gepeitschten Rücken ebenso wie über

jene, die einen Schauer vom Vorgefühl der Freiheit zu

verspüren glaubten mit jedem Ruderzug, den sie taten.

Dragon beobachtete das andere Schiff mit geballten

Fäusten. Es führte um eine halbe Länge, und gut die

halbe Strecke lag bereits hinter ihnen.

War der Schmerz wahrhaftig der bessere Antreiber?

Er lief unter Deck, sprang auf den schmalen Steg

zwischen die rudernden Männer. »Vorwärts!« rief er.

»Das ist die entscheidendste Schlacht eures Lebens. Es

mag stärkere Feinde geben, die uns eines Tages auf See

begegnen, aber keine schmählicheren als jene, denen

ihr jetzt gegenübersteht. Es ist das ganze myranische

Page 109: Der Schlangengott

Reich, das von jetzt an genauso auf euren Schultern

liegt wie auf denen der Männer auf dem Deck. Ihr habt

den besten Steuermann, das beste Schiff und den

besten ...«

»König!« keuchte einer.

Dragon grinste. »Was wollt ihr dann noch?

Trommler! Ist dir nicht klar, daß die Zukunft des

Reiches von deinem Schlag abhängt?«

»Doch, mein König!«

»Dann nimm den Eindruck von den Männern, daß

dies eine Vergnügungsfahrt ist. Oder bist du wie die

Kapitäne der Meinung, daß man Sklaven braucht, um

eine Schlacht zu gewinnen?«

»Nein, mein König!« beeilte sich der Trommler

hastig zu versichern.

Sein Schlag wurde kräftiger und rascher, unmerklich

zuerst, dann fühlbar, als die Ruderer mithielten.

»Jaaahhh«, entfuhr es Dragon wie ein Seufzer. Seine

Faust schlug den Takt gegen seinen Schenkel. Er

lächelte, als er mehrere der Kapitäne auf der

Unterdecktreppe stehen sah. Es fiel ihnen noch immer

schwer, zu begreifen, was es war, das diese Männer

trieb. Sie kannten nur die Knute. Und nun kam einer,

der diese Sklaven aus ihren Ketten schlüpfen ließ und

mit Worten anfeuerte, daß sie ruderten wie die Teufel.

Es würde vielleicht Jahre währen, bis sie sich daran

gewöhnt hatten, bis es zu ihrer Anschauung wurde.

Page 110: Der Schlangengott

Aber sie waren ehrlich genug, die Anerkennung zu

zeigen. Hier war ein Mann, der etwas Unglaubliches

vollbrachte. Wahrlich, ein würdiger König.

»Beinahe gleich schnell«, sagte einer, als Dragon an

Deck ging, um nach dem anderen Schiff zu sehen.

»Schneller«, berichtigte Dragon. »Wir holen auf, seht

ihr? Wir werden sie um zwei Längen schlagen!«

»Verzeiht, mein König. Glaubt Ihr nicht, daß Ihr

übertreibt?«

»Nein. In unseren Männern steckt noch jene Kraft,

die diese armen Teufel dort drüben durch den Schmerz

verlieren.«

Die Kapitäne schwiegen nachdenklich und blieben

stumm, als des Königs Schiff überholte und sich von

seinem Gegner löste. Die Leuchtfeuer der Felsen von

Faraun strahlten in der Finsternis wie Juwelen, halb am

Firmament. Stöhnen und das Klatschen von Leder blieb

hinter ihnen zurück. Der Trommelschlag wurde noch

um eine Spur rascher, wie es auch der Herzschlag der

Männer nun sein mußte. Das Schiff flog über die glatte

See. Der Abstand vergrößerte sich. Die Felsen kamen in

Sicht. Es gab keinen Zweifel mehr am Sieg.

Einer der Kapitäne sagte: »König, hältst du uns nun

für schlechte Kapitäne?«

»Nein«, rief Dragon. »Denn ihr wißt eure Schiffe gut

zu führen. Lernt auch die Menschen zu führen, und es

wird niemanden auf dem Großen Meer geben, der uns

Page 111: Der Schlangengott

besiegen könnte.«

Auf Kommando wurden die Ruder eingezogen. Das

Schiff lief ins Ziel. Der Anker klatschte ins Wasser. Das

verfolgende Schiff hatte bereits aufgegeben.

Dragon ging unter Deck. Sein Blick flog

anerkennend über die schwitzenden, erschöpften,

schwieligen, bärtigen, ausgemergelten Gestalten.

»Männer Myras!« rief er triumphierend. »Ihr habt

einen großen Sieg errungen. Ihr seid frei!«

Wie ein Orkan brach es los. Vergessen waren

Erschöpfung und Müdigkeit.

»Geht an Deck«, sagte Dragon. »Sie sollen es alle

sehen!«

Es wurde zu einem Freudentanz.

»Nun, wie ist es?« fragte Dragon die Kapitäne. »Seid

ihr auf meiner Seite?«

Einer nickte. Aus ihm sprach die Unsicherheit aller.

»Ihr habt unzweifellos überzeugt, König Dragon. Aber

es wird eine große Schwächung bedeuten, die

Rudersklaven freizugeben. Beinahe alle sind

Gefangene aus König Zogors Eroberungszügen. Einmal

frei, werden sie nicht bleiben ...«

»Glaubt Ihr? Ich sage Euch, zehn myranische

Ruderer, deren Herz für Myra schlägt, wiegen mehr als

hundert Sklaven, für die Ihr wiederum ein Dutzend

myranische Aufseher brauchtet. Gebt ihnen das Gefühl,

dazuzugehören, und die wenigsten werden gehen.

Page 112: Der Schlangengott

Viele wissen nichts anderes, als zu rudern, sie werden

es für guten Sold weiter tun.« Er sah die Kapitäne fest

an. »Ich brauche eine Flotte, auf die ich mich verlassen

kann, eine, die die Küsten zu schützen vermag, eine,

mit der ich selbst Myra wiedererobern könnte, wenn es

meiner Hand entglitte. Wollt ihr mir das sein? Ein

starker, loyaler Arm, der meinen Vorstellungen von

Frieden auch den nötigen Nachdruck verleiht, damit

jenen, deren Fluch es ist, am Krieg zu gewinnen, ein

Zaum angelegt wird?«

Die Männer blickten ihren König an, einer, der so

anders war als alle, die den myranischen Thron bisher

innegehabt hatten. Zustimmung war in ihren Blicken.

Es fiel ihnen schwer, sie in Worte zu fassen. Er war ein

Mann der Tat. Einer mit einem Kopf voller Ideen. Einer

mit Überzeugungskraft! Unter seiner Herrschaft

mochte Myra zu einem Reich werden, wie es noch

nicht viele gegeben hatte. Und sie sollten sein Arm

sein! Bei den Göttern, das wollten sie!

»Wir sind dein Arm. König«, sagte einer, und die

anderen nickten beifällig. »Selbst wenn es Myra wäre,

das wir für dich erobern müßten!«

Dragon nickte lächelnd. Das war sein zweiter Sieg

über Myra. Ein Teil der Vergangenheit war besiegt. Die

Männer ließen sich überzeugen. Sie ließen sich aus

ihren Traditionen reißen. Sie ließen sich für die

Zukunft begeistern. Es lag an Cherons Brüdern, diese

Page 113: Der Schlangengott

Zukunft vertraut zu machen.

»Onkel! Onkel!«

Yinas Rufe rissen Dragon aus seinen Gedanken. Die

Schiffe hatten bereits gewendet und befanden sich auf

der Rückfahrt in den Hafen, wo es ein Fest geben

würde, wie Myra es noch nie erlebt hatte.

Er fing das Mädchen auf, das ihm über eine Rolle

Taue entgegengestolpert kam. Aufregung rötete ihr

sonst so blasses Gesicht.

»Maus, Maus«, tadelte er. »Du wirst dir das Genick

brechen.«

»Onkel«, schnaufte sie. Ihre Augen glänzten. »Eine

Botschaft von Kim. Du hast einen Sohn.«

Amee lächelte glücklich. »Ich bin so froh, daß es ein

Sohn ist. Dragon«, flüsterte sie mit dem Blick auf das

schlafende Kind.

»Man sieht, wie verschieden die Werte sind«,

erwiderte Dragon. »Die Katmahzari dächten anders

darüber.«

»In Urgor wäre es vielleicht gleichgültig«, sagte

Amee. »Aber der König Myras braucht einen Sohn.«

»Atlantor – Atlantis! Wenn ich nur endlich wüßte,

was es bedeutet«, murmelte er. Er betrachtete das

Neugeborene, das seinen Blick zu fühlen schien, denn

es erwachte.

Und begann zu schreien.

Page 114: Der Schlangengott

Die Königin nahm den Kleinen aus seinem Bettchen

und hielt ihn hoch, wobei er sich zusehends beruhigte.

»Er hat ein Mal«, sagte sie plötzlich und deutete auf

den rechten Fuß des Kindes, an dem ein brauner Fleck

sichtbar war, zu klein, um sofort aufzufallen.

Dragon grinste. »Bist du sicher, daß es ein Mal ist?

Es sieht so braun aus ...«

»Beleidige den Erben Myraniens nicht«, meinte

Amee lächelnd und legte den Kleinen in das Bettchen

zurück. Dragon trat zum Fenster und blickte hinab auf

den funkelnden Hafen. »Ein großer Tag«, murmelte er.

»Wir sollten es auch feiern«, seufzte Amee, ihre

meergrünen Augen halb geschlossen. »Morgen. Oder

übermorgen, wenn ich mich kräftiger fühle. Laß Partho

kommen. Ich vermisse ihn. Das Heer kommt ein paar

Tage ohne ihn aus. Wir und Iwa und die Kinder ... und

Cheron ...« Ihre Stimme wurde schläfrig. »Wir sollten

es wirklich feiern ... daß ich mich hier zu Hause zu

fühlen beginne ... Was in Urgor wohl jetzt geschieht

...?«

»Wir werden es bald wissen, Amee. Boten sind

unterwegs. In einigen Wochen werden die Daikane alle

hier versammelt sein – zum zweitenmal in diesem Jahr.

Vielleicht ist es ein großer Schritt voran zu dem Ziel,

das Romon uns gezeigt hat ...«

Der myranische Riese, dachte er, so nannten sie

dieses Reich. Unbezwinglich. Unbeugsam. Grausam!

Page 115: Der Schlangengott

Und wir haben es bezwungen. Er betrachtete Amees

entspanntes Gesicht. Sie schlief, das Kind neben ihr.

Gesänge trug der Wind halb verweht vom Hafen

herauf. Der myranische Riese geisterte durch seine

Gedanken.

Plötzlich war ein anderes Bild vor seinen Augen. Er

sah einen Riesen – hilflos und gefesselt. Ein Gesicht

tauchte auf aus einer dunklen Flüssigkeit, verzerrt in

Qual, den Mund weit offen zum Schrei ...

Unwillkürlich zuckte Dragon zurück, so nah und

wirklichkeitsgetreu war das Bild. Entsetzen schnürte

ihm die Kehle zu.

Es verblaßte, und Dragon sah wieder den stillen

Raum um sich, die beruhigende Wirklichkeit.

War das eine Erinnerung gewesen? Gab es solch

grauenvolle Dinge in seiner Vergangenheit?

Es beschäftigte ihn lange in dieser Nacht, selbst im

Schlaf noch.+

8.

Die Schwarze Wellenreiterin lag vor Phelos, einem

kleinen Fischerdorf an der Küste der Insel Pathos, vor

Anker. Wiquin beobachtete die Seeleute, die volle

Wasserfässer an Bord brachten und Proviantkisten.

Megil überwachte die Verladung. Zwölf Männer der

Besatzung hatten sich dafür entschieden, das Schiff hier

zu verlassen. Sie besaßen Familien auf der

Page 116: Der Schlangengott

Schlangeninsel, zu denen sie zurückkehren wollten.

Das wäre auf der Wellenreiterin unter den gegebenen

Umständen für die nächste Zeit nicht möglich gewesen.

Die übrigen Männer hielten zum Kapitän, der noch

immer schwach und ohne Bewußtsein in seiner Kajüte

lag. Aber er lebte noch, und er schien etwas von der

Zähigkeit des Unkrauts an sich zu haben.

Auch Wiquin – er wagte noch immer nicht, seinen

wahren Namen vor der Besatzung bekanntzugeben,

obwohl sie sich ihm willig unterstellte – fühlte sich

noch schwach. Der Gedanke an die Berührung

Serphats ließ ihn schaudern. Vielleicht war er einer der

Fischmenschen, von denen die Seefahrer berichteten.

Nur sie konnten solch kaltes Blut in den Adern haben.

Aber dann dachte er an die gallertartige Masse, die

über das Deck mehr geronnen als gekrochen war, und

sie hatte nichts mit Blut oder Knochen gemein gehabt.

Das Ausscheiden der zwölf Besatzungsmitglieder

bereitete ihm einigen Kummer. Sechzehn Mann, die sie

nun waren, würden das Schiff sicher nicht in jeder

Situation voll in der Gewalt haben.

Auch Megil sah mißmutig drein.

Aber kurz vor dem Ankerlichten kamen schließlich

drei Matrosen aus Phelos an Bord, die anheuern

wollten, als sie hörten, daß die Wellenreiterin nach

Myra wollte.

Wiquin heuerte sie an. Der Steuermann schien

Page 117: Der Schlangengott

wenig erbaut darüber und die Mannschaft nicht

minder. Aber sie sahen schließlich ein, daß wenigstens

einige der Lücken gefüllt werden mußten.

Sie nahmen Kurs nach Norden, in der Hoffnung,

daß der günstige Wind anhielt und kein Sturm aufkam,

der der unzureichenden Besatzung schwer zu schaffen

gemacht hätte.

An dem Abend nach ihrer Abfahrt von Phelos

vernahm Wiquin plötzlich Geschrei und Gezeter von

den Laderäumen her. Er ging der Sache nach und fand

zu seiner Überraschung vier der Besatzungsmitglieder

um ein Mädchen geschart, das sich mit Händen und

Füßen gegen die plumpen Vertraulichkeiten der

Seeleute wehrte.

Sie schreckten auf, als er eintrat. Das Mädchen sah

sich wütend um. Sie war drauf und dran, auf einen der

Männer loszugehen. Der Steuermann kam hinter

Wiquin die Treppe herab.

Er winkte den Männern, zu verschwinden, was sie

schleunigst taten, bevor Wiquin sich ihre Gesichter

allzu deutlich einprägte.

»Wer ist sie?«

Der Steuermann zuckte die Schultern. »Sie sagt

ihren Namen nicht.«

»Aber wie kommt sie an Bord?«

»Der Käpt‘n ließ sie an Bord bringen. Die drei

Männer, die er beauftragte, sagten, sie hätten sie aus

Page 118: Der Schlangengott

dem Palast, und sie garantierten dafür, daß sie eine

Menge wert

sei ...«

»Aus dem Palast?« fragte Wiquin verwundert. »Sie

haben sie entführt?«

»Sieht so aus.«

»Wozu?«

»Das weiß der Käpt‘n. Aber den können wir nicht

fragen. Bis es soweit ist, bleibt sie am besten an Bord.«

Wiquin schüttelte noch immer verwundert den

Kopf. »Wer sind die drei Männer? Wissen sie nicht,

was der Käpt‘n im Sinn hatte?«

»Das wußten sie nicht.«

»Ich muß mit ihnen reden. Vielleicht ...«

Der Steuermann nickte bedauernd. »Sie sind in

Phelos mit den anderen von Bord gegangen.«

»Warum hast du mir nicht früher davon Meldung

gemacht?« fragte Wiquin ungehalten.

Megil zuckte die Schultern. »Es bestand keine

Veranlassung. Ich dachte, sobald der Käpt‘n wieder auf

dem Damm ist, wird er schon wissen, was er mit ihr

wollte. Ich hatte den Eindruck, daß du nichts davon

wissen solltest ...«

Wiquin nickte langsam. »Da magst du nicht unrecht

haben. Er hat kein Wort erwähnt ...«

Er betrachtete das Mädchen. Sie hatte

schulterlanges, dunkles Haar, dunkle Augen, einen

Page 119: Der Schlangengott

vollen, roten Mund. Sie erwiderte seinen Blick trotzig

und abwehrbereit, als wolle sie sagen: »Ich würde an

deiner Stelle nichts anfassen!«

Er grinste bei dem Gedanken. Da war allerhand zum

Anfassen – gut entwickelte Brüste unter einem am

Vortag wohl noch weißen Hemd. Auch der

knöchellange rote Rock zeigte Spuren einiger

Auseinandersetzungen. »Wir können sie nicht im

Laderaum eingeschlossen lassen«, meinte Wiquin

entschieden. »Wir haben Platz genug in den

Mannschaftsräumen, um sie von der Mannschaft

fernzuhalten. Sie braucht jedenfalls frische Luft und

Wasser. Und sie kann sich vielleicht um den Käpt‘n

kümmern ...«

Der Steuermann sah ihn zweifelnd an.

Wiquin griff nach dem Arm des Mädchens. Sie wich

zurück. »Na, komm schon«, sagte er geduldig. »Du

willst doch nicht wieder hier eingeschlossen werden,

oder?«

Sie schritt an ihm vorbei hinter dem Steuermann die

Treppe hoch. Auf Dock sah sie sich wachsam um. Auch

die Männer ließen kein Auge von ihr. Schließlich ging

sie mit stolz erhobenem Kopf voran in den

unbewohnten Teil der Mannschaftsräume. Sie schloß

sich ein, bevor Wiquin irgendwelche Fragen an sie

richten konnte. Schulterzuckend kam er wieder an

Deck und beauftragte einen Bootsmann, ihr Wasser

Page 120: Der Schlangengott

zum Waschen und etwas zu essen zu bringen, aber die

Finger von ihr zu lassen.

Der stellte alles vor die verschlossene Tür und kam

wieder hoch. Er wollte offenbar möglichst wenig mit

der Sache zu tun haben.

Sie kam die ganze Nacht nicht mehr heraus, aber

Wasser und Essen waren verschwunden.

Während der Nacht frischte der Wind auf, und die

Männer hatten bis zum Morgen zu tun, das Schiff auf

Kurs zu halten. Der hohe Wellengang fegte das Schiff

wie eine Nußschale durch die nachtschwarze Gischt.

Wiquin, der alles andere als ein Seefahrer war,

verbrachte den größten Teil der Zeit an der Reling und

kotzte sich die Seele aus dem Leib. Als die

Morgendämmerung kam, fiel er zu Tode erschöpft in

seine Koje, wo ihn der Schlaf von der Übelkeit erlöste.

Am Morgen hatte sich die See noch immer nicht

wesentlich beruhigt. Wiquin erwachte vollkommen

gerädert. Der Steuermann versuchte ihm

klarzumachen, daß sie ziemlich weit vom Kurs

abgekommen seien, und zwar in westlicher Richtung.

Wiquin war das in seinem Zustand völlig gleichgültig.

Er war auf dem Weg zur Reling, als er das Mädchen an

Deck bemerkte. Sie sah nicht viel besser aus als er

selbst. Sein Mitleid ließ ihn seine Übelkeit

vorübergehend vergessen. Er setzte sich zu ihr, als er

sah, daß sie weinte. Er legte den Arm um ihre

Page 121: Der Schlangengott

Schultern. Sie wehrte ihn nicht ab, und er zog sie an

sich.

So saßen sie eine Weile, bis die Wolken aufbrachen

und die Sonne herauskam. Der steife Wind ließ nach.

Die See wurde ruhiger.

Das Grinsen der Mannschaft störte Wiquin wenig.

Es war nicht das erstemal, daß er es erlebte. Auch auf

der Jagd nach Jaggar war er mehrfach seekrank

gewesen. Hier als stellvertretender Kapitän allerdings,

gestand er sich ein, hatte er keinen besonders

vorbildlichen Eindruck hinterlassen. Aber er wußte

auch, daß das Grinsen der Männer gutmütiger Natur

war. Sie achteten ihn für den Mut, den er in Candis

bewiesen hatte. Solange der Käpt‘n ausfiel, waren er

und der Steuermann für sie der Käpt‘n.

Die Übelkeit schwand, je ruhiger das Wasser wurde.

Das Mädchen fror, und er nahm sie mit in die

Kapitänskajüte, um nach Jaggar zu sehen. Er bat den

Steuermann, Schiffskleider für sie zu beschaffen.

Wenn Wiquin erwartet hatte, daß das Mädchen den

Kapitän kannte, sah er sich nun enttäuscht. Sie

betrachtete ihn zwar interessiert, aber das war alles.

Einer der Männer brachte die Kleider. Während das

Mädchen sich umzog, begab sich Wiquin in die

Kombüse. Er verspürte mörderischen Hunger, was

nach der gründlichen Magenentleerung kein Wunder

war. Mit Woqua, einem aromatischen, heißen

Page 122: Der Schlangengott

Candieser Getränk, Trockenbrot und Räucherfleisch

beladen, gelang es ihm schließlich, bei dem Mädchen

einen so guten Eindruck zu erwecken, daß sie seine

Fragen zu beantworten begann und nach und nach

redseliger wurde.

Sie hieß Selaqua, aber alle nannten sie Sela, und er

sollte es ruhig auch tun. Sie gestand auch ein, daß sie

über zwanzig Sommer zählte, aber sie sah wesentlich

jünger aus, und Wiquin war nicht bereit, alles zu

glauben. Er freute sich, daß sie auftaute und nach einer

Weile sogar wieder lachte.

Er fand sie sehr schön.

Sie wollte wissen, wer sie an Bord gebracht hätte

und warum. Wiquin erklärte ihr, daß er das nicht

wüßte, daß es aber etwas mit dem Kapitän zu tun habe.

Er sagte ihr auch, daß die Männer, die sie gebracht

hatten, nicht mehr hier waren.

Dann versuchte er etwas über sie zu erfahren, und

sie wurde sehr wortkarg. Als er sah, daß nichts aus ihr

herauszubringen war, wechselte er das Thema, was sie

sofort wieder gesprächiger werden ließ. Als sie

allerdings erfuhr, daß es wohl sehr lange dauern

würde, bis man sie zurückbringen könnte, nickte sie

düster, als hätte sie sich bereits damit abgefunden.

Am Nachmittag gerieten sie erneut in einen

schweren Sturm, der sie weiter nach Nordwesten trieb.

Erschöpfung machte sich bei den Männern bemerkbar

Page 123: Der Schlangengott

und Mutlosigkeit, die wohl auch damit

zusammenhing, daß Kapitän Jaggar noch immer kein

Lebenszeichen von sich gab. Es war nun der zweite Tag

auf See, und selbst das Heulen der Elemente vermochte

ihn nicht zu wecken. Wiquin selbst empfand immer

wieder ein leises Grauen, wenn er die bleiche Gestalt

anblickte. Einige Augenblicke länger unter dem Griff

der eisigen Hand, und ihm wäre ein gleiches Schicksal

beschieden gewesen.

Erst in der Abenddämmerung klärte es auf, aber

eine steife Brise hielt den Wellengang ungemütlich

hoch. Dennoch wagte ein Mann sich auf den Mast, weil

sie befürchteten, in die gefährlichen Riffe der

Fischerinseln zu treiben.

Der Mann sichtete Land, an dem sie vorbeitrieben.

Es mußte sich um eine größere Insel handeln. Bald

sahen sie Berge, wenn sie aus den Wellentälern

hochtauchten. Landen war unmöglich.

Das Gebirge schien als eine Art Windschatten zu

wirken, denn das Wasser wurde merklich ruhiger, als

sie die Insel passiert hatten. Aber die Wellen waren

noch immer hoch genug, um Wiquins Appetit

weitgehend lahmzulegen.

Dann meldete der Ausguck ein Schiff, das auf sie

zukam und sie ebenfalls bereits gesichtet haben mußte.

Das verursachte einige Aufregung. Diese Gewässer

waren bekannt für allerlei unerfreuliche Dinge, die sich

Page 124: Der Schlangengott

hier abspielen sollten.

Die Männer fingerten unruhig an ihren Waffen. Die

meisten besaßen nur Dolche oder Entermesser,

abgesehen von ein paar Äxten.

Der Steuermann öffnete die Waffenkammer des

Schiffes, in der mehrere gekrümmte Klingen und eine

Reihe großer Bögen hingen. Er verteilte die Schwerter.

Nur zwei der Männer wußten mit einem Bogen

umzugehen, einer davon war Wiquin.

Als sie wieder an Deck kamen, war das fremde

Schiff schon ziemlich nahe. Noch war nicht zu

erkennen, ob es freundliche oder böse Absichten hatte.

Wiquin war klar, daß sie keine großen Chancen hatten,

wenn die Absichten des anderen feindlich waren.

Sie konnten keinerlei Flagge an dem Schiff

entdecken, und das stimmte sie noch mißtrauischer.

Zudem war das fremde Schiff schneller, da es trotz des

heftigen Windes mit beinahe vollen Segeln fuhr.

Es kam heran und schlug zu.

Ein Hagel von Pfeilen bohrte sich in die Planken, in

den Mast und das Steuerhaus. Niemand wurde

verletzt, aber während die Männer der Wellenreiterin

Deckung suchten, kamen die ersten Enterhaken in

hohem Bogen über die Wellen. Der Angreifer mußte

verdammt waghalsig sein, wenn er es bei diesem

Seegang versuchte.

Page 125: Der Schlangengott

Wiquin schob das Mädchen in Deckung und suchte

sich ein Ziel auf dem auf und ab tanzendem Schiff. Er

entdeckte ein lohnendes: ein Bootsmann, der einen

weiteren Enterhaken schwang.

Der Pfeil traf ihn in die Brust. Er fiel samt dem

Haken. Auch der zweite Schütze fand ein Ziel. Ein

neuer Hagel von Pfeilen ergoß sich über das Deck.

Einer der Männer schrie auf, aber er war nicht schwer

verletzt.

Es war unmöglich, das Deck zu überqueren, um die

Entertaue loszuschneiden. Handbreit um Handbreit

zog sich das Schiff daran näher an die Wellenreiterin.

Die hohen Wellen donnerten zwischen den

Bordwänden.

Wenn der Abstand gering genug war, würden die

Männer springen.

Verzweifelt versuchte Megil den Kurs zu ändern.

Doch der andere Steuermann war geschickt. Er machte

jedes Manöver mit.

Auf beiden Seiten hatten die Männer Deckung

gesucht vor dem gefiederten Tod.

Wiquin wartete mit gespanntem Bogen. Als er sah,

daß der erste der Gegner sich zum Sprung bereit

machte, schoß er. Er traf nicht, aber der andere sprang

in die Deckung zurück. Dann brachte ein Manöver die

Schiffe für Augenblicke so nah, daß die Bordwände

einander fast berührten. Ein Dutzend Männer

Page 126: Der Schlangengott

sprangen, landeten auf dem Deck der Wellenreiterin

und stürzten auf die Besatzung los.

Wiquin schoß und sah einen fallen. Für einen

zweiten Pfeil blieb keine Zeit. Er bekam gerade noch

seine Klinge blank. Zwei kamen in seine Richtung.

Undeutlich hörte er die Schreie der Männer, als sie

aufeinander loshieben, dann parierte er, wich der

zweiten Klinge aus und stach zu. Der erste Angreifer

fiel, der zweite torkelte an ihm vorbei, den

Kajütenniedergang hinab, wo das Mädchen stand. Sie

fing ihn mitten im Fall ab. Als sie sich wieder von ihm

löste, sah er einen blutigen Dolch in ihrer Faust. Sie

lächelte ihm verzerrt zu.

Wiquin hob seinen toten Gegner wie einen Schild

vor sich und wagte sich aus der Deckung. Ein halbes

Dutzend Pfeile zuckten um ihn in den Boden, zwei

trafen den Toten. Dann hatte er die Reling erreicht und

hieb wie ein Berserker auf die Entertaue ein. Zwei

gelang es ihm zu kappen. Ein drittes riß nach dem

ersten Schlag, als die Schiffe auseinanderzugleiten

begannen.

Ein Pfeil hieb ihm die Klinge aus der Hand.

Instinktiv ließ er sich fallen. Zwei weitere Haken hatten

sich innerhalb der Reling verkeilt. Ihre Taue konnte er

mit dem Dolch kappen. Vorsichtig begann er darauf

zuzukriechen. Dabei konnte er das ganze Deck

übersehen. Überall kämpften Männer. Mehr als zwei

Page 127: Der Schlangengott

Dutzend der Gegner mußte es gelungen sein zu entern.

Er sah drei Angreifer das Steuerhaus stürmen. Megil

taumelte heraus, die Hände an den Unterleib gepreßt,

und stürzte. Zwei von den Angreifern erschienen

wieder, sahen sich um. Sie entdeckten das Mädchen.

Erstarrt beobachtete Wiquin, wie sie von zwei Seiten

auf sie zukamen. Ihr Gesicht zeigte keine Spur von

Furcht. Sie hielt den Dolch scheinbar gesenkt in der

Rechten. Wiquin wußte, daß es für ihn zu spät war, ihr

zu helfen. Er konnte sie nicht mehr rechtzeitig

erreichen. Dennoch sprang er auf, kappte das letzte der

Taue mit einem Hieb seines Messers und hastete über

das Deck. Pfeile bohrten sich mit dumpfem Ton in die

Planken. Wie durch ein Wunder blieb er unverletzt. Im

Lauf sah er verblüfft, daß das Mädchen nicht auf den

Angriff wartete, sondern selber angriff. Sie sprang, und

ihre Hand zuckte hoch. Der Angreifer vor ihr krümmte

sich. Der zweite faßte sie an den Haaren und riß sie

herum. Ihre Hände waren leer. Der Mann hob sein

Messer.

Aus, dachte Wiquin von Schmerz und Grimm

erfüllt. Aber noch während er es dachte, geschah

etwas, das den Mann sein Opfer loslassen ließ.

Die Kajütentür flog krachend auf. Kapitän Jaggar

stand in ihr – noch immer weiß wie ein Toter, aber in

seinen Augen war ein wilder Grimm. Er hatte sein

Schwert in der Rechten, sein Entermesser in der

Page 128: Der Schlangengott

Linken.

Und er zögerte nicht. Er stieß dem Mann beides in

die Brust. Dann taumelte er auf Deck, unbekümmert

um die Geschosse und offenbar noch schwach auf den

Beinen.

Er sah Wiquin und rief etwas, das dieser in dem

Tosen und Heulen nicht verstehen konnte. Er lief ihm

entgegen.

»Rücken an Rücken, Junge!«

Die Angreifer entdeckten die beiden mitten auf dem

Deck. Vier umringten sie, und Wiquin fühlte sich fast

an die alten Zeiten erinnert. Er hielt sich mit dem

Rücken gegen den Käpt‘n und wehrte den ersten

Angriff seiner beiden Gegner ab. Jaggar fluchte. Im

nächsten Augenblick fühlte Wiquin einen brennenden

Schmerz am Oberarm. Sein Gegner zog die Klinge mit

einem Grinsen zurück. Sie war rot.

Wütend sprang Wiquin hinterher, stieß mit seinem

Schwert zu, fühlte es abgleiten und fand ein Ziel mit

dem Dolch, der bis ans Heft eindrang. Hastig wandte

er sich um und erstarrte beinahe vor Schreck. Er hatte

sich verleiten lassen. Jaggars Rücken freizugeben. Sein

zweiter Gegner stach zu.

Aber etwas lenkte die Klinge ab.

Sela!

Sie hatte eines der gegnerischen Krummschwerter

aufgehoben und Wiquins Stelle eingenommen. Dann

Page 129: Der Schlangengott

war Wiquin heran und brachte den Angreifer zu Fall.

Plötzlich war alles vorüber.

Der letzte der Gegner fiel. Das feindliche Schiff

verschwand hinter den Wellenbergen wie ein Spuk.

Einen Augenblick schien alles unwirklich nur die Toten

an Deck sagten eine andere Wahrheit.

9.

Die Verluste der Wellenreiterin, obwohl

vergleichsweise gering, waren schwerwiegend: Megil,

der Steuermann, und vier Bootsleute. Damit war die

Besatzung auf vierzehn Mann geschrumpft, wenn man

den frisch erwachten und mit Begeisterung begrüßten

Jaggar dazurechnete.

Aber Jaggar war schwach wie ein Neugeborenes.

Der Kampf hatte ihn erschöpft. Sela kümmerte sich um

ihn, während die Mannschaft die Toten ins Wasser

warf und die Waffen aufsammelte.

Wer ihr Gegner gewesen war, wußten sie nicht.

Aber daß sie ihm die Lust am weiteren Angriff

genommen hatten, erfüllte sie mit Genugtuung, auch

wenn es nun Wunden zu lecken galt.

Wiquin befahl einen der Männer ans Steuerruder

und hieß ihn Kurs halten. Er gab Befehl, nach Land

Page 130: Der Schlangengott

Ausschau zu halten. Mehr war nicht zu tun. In diesem

Sturm und bei der Unterbesetzung des Schiffes war an

eine sinnvolle Steuerung nicht zu denken. Er verstand

auch zu wenig. Jaggar mußte helfen.

Der Kapitän ließ sich über die Geschehnisse

aufklären. Er hörte stumm zu und unterbrach nicht. Er

sagte auch nicht, was er dachte. Er schien die Situation

zu akzeptieren. Wiquin war sehr erleichtert darüber.

Jaggar glaubte, daß sie so weit nach Nordwesten

getrieben worden waren, daß sie die Felseninseln vor

Namos passiert hatten. Dann konnte der Angreifer ein

Inselpirat gewesen sein, die dort die Gewässer

überwachten.

Jaggar bedachte das Mädchen immer wieder mit

seltsamen Blicken. Aber er stellte keine Fragen.

Er wurde zusehends kräftiger. Er erinnerte sich an

die Geschehnisse im Candiser Hafen.

Aber man konnte auch sehen, daß er nicht glücklich

über die Entwicklung der Dinge war.

Als das Mädchen die Kajüte verließ, fragte Jaggar:

»Meine Männer haben sie an Bord gebracht, nicht

wahr?«

Wiquin nickte.

»Weißt du, wo sie sie schnappten?«

»Megil sagte, im Palast.«

»Nichts Genaueres?«

Der Junge zuckte die Schultern. »Ich hörte alles nur

Page 131: Der Schlangengott

aus zweiter Hand. Bis gestern hielten sie es vor mir

geheim. Megil sagte auch, daß die Männer geglaubt

hatten, sie wäre einiges wert ... Wollt Ihr sie

verkaufen?«

»Da bin ich mir jetzt nicht mehr sicher!«

Wiquin schüttelte den Kopf. Er verstand die Welt

nicht mehr. »Ihr wollt sagen, Ihr raubt auch an der

eigenen Küste und verschachert ...«

Der Kapitän grinste und unterbrach ihn. »Die Ware

ist auch nicht schlechter.«

»Aber irgend etwas muß Euch doch heilig sein!« rief

der Junge erregt. »Irgendeine Loyalität ...«

»Meinst du?« unterbrach ihn der Kapitän

sarkastisch. »Es sieht nicht so aus, als hätten wir noch

eine Loyalität zu verschenken. Du vielleicht!« sagte er

grimmig. »Aber ich will dein Gewissen in einigen

Punkten erleichtern. Ich hatte auch vor in dieser Nacht

auszulaufen. Mir war klar geworden, daß ich mich

gegen das Schicksal nicht auflehnen konnte. Ich mußte

ihm zu entfliehen versuchen. Vielleicht kommt der

König eines Tages zur Besinnung. Aber nach diesem

Erlebnis sieht es wohl nicht so aus – solange Serphat

um ihn herumscharwenzelt und ihn für seine finsteren

Pläne breitschlägt, auf welche Art auch immer ...« Er

schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ihn müßten wir

beseitigen ...!«

Wiquin, der sich schon wieder gegen Süden segeln

Page 132: Der Schlangengott

sah, sagte rasch: »Und das Mädchen?«

»Ich wollte eine von Jellis‘ Konkubinen ...«

»Ihr wolltet den König bestehlen?« fragte der Junge

ungläubig.

»Hm – bestehlen ... Er hat sie ohnehin allesamt von

mir, und ich denke, daß sie seine Launen inzwischen

gründlich satt haben. Jede von ihnen wäre vermutlich

vorausgelaufen zum Schiff ...« Er grinste. »Ich würde es

also mehr eine Befreiung nennen.«

»Und was wollt Ihr mit ihr?«

»Sie als Tauschware verwenden. Junge.«

»Als Tauschware ...?«

»Bist du schwer von Begriff. Wir wollten nach

Namos, stimmt‘s?«

Wiquin nickte. Ihm begann zu dämmern, was der

Kapitän vorhatte. Er wußte nicht, ob er lachen oder

weinen sollte.

»Eines muß man diesen Namitern lassen, oder

besser, ihren Frauen – man kriegt gelegentlich mal

eines ihrer Schiffe in die Zange, aber an ihren Küsten

hat noch niemand eine Frau geraubt. Aber zu einem

Tauschgeschäft hätten wir sie vielleicht breitschlagen

können, wenn wir deine kleine Braut gefunden hätten

...«

»Käpt‘n«, sagte Wiquin kopfschüttelnd, »wenn die

namitischen Frauen wirklich so sind, wie Ihr sagt, und

daß sie auf Namos das Regiment führen, denkt Ihr

Page 133: Der Schlangengott

dann, sie würden eine der ihren ... tauschen, wie ein

paar Krüge oder einen Sack Mehl ...?«

Jaggar grinste. »Sie tauschen ihre Männer, hab ich

gehört.« Er wurde ernst. »Dein Mädchen ist eine

Myranerin, das mag alles ein wenig ändern. Zudem

wollte ich Jellis eins auswischen ... Und das ist mir

besser gelungen, als ich dachte. Meine Pläne haben sich

gewaltig geändert ...«

»Wir fahren nicht nach Namos?«

»Dazu ist keine Zeit. Wir verschieben es.«

»Aber es ist zum Greifen nahe.«

»Es muß warten. Denk an Jellis‘ Flotte.«

Wiquin atmete auf. »So bringt Ihr mich nach Myra?«

Der Käpt‘n schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin

vielleicht ein Ausgestoßener, aber kein Verräter. Geht

das in deinen Schädel? Ich werde mich niemals gegen

die Bruderschaft stellen. Aber ich werde sie von dem

Dämon befreien, der sie ins Unglück stürzt. Sobald der

Wind dreht, wenden wir nach Süden, nach Candis.

Vielleicht haben die Stürme die Flotte davon

abgehalten, auszulaufen. Vielleicht habe ich mich auch

geirrt, und dieser Dragon ist schwächer, als ich dachte,

und wir schlagen Myra ... aber nicht unter diesem

Teufel Serphat. Von ihm werden wir Jellis befreien.

Dann mag er frei entscheiden, was geschehen soll ...«

Wiquin nickte unbewußt. Er empfand fast

Sympathie für diesen einsamen Kapitän. Es war schwer

Page 134: Der Schlangengott

abzuschätzen, inwieweit ihn Loyalität zum König oder

zur Bruderschaft oder persönliche Rachegefühle

leiteten.

Serphat war etwas Unheimliches. Drohendes. Galis,

daran zweifelten sie beide nicht, war ein Beispiel für

das, was mit ihnen allen geschehen konnte. Und sie

waren die einzigen, die es wußten.

»Und was«, fragte Wiquin, »glaubt Ihr, gibt Euch

nun bessere Chancen in Candis als vor zwei Tagen?«

»Ich habe den König auf meiner Seite«, erklärte

Jaggar ernsthaft.

»Ihr habt ...?« Der Junge verstand gar nichts mehr.

»Mehr oder weniger.« Der Kapitän lächelte.

»Meinen Männern unterlief nämlich ein kleiner Fehler.

Sie stahlen nicht eine des Königs Konkubinen, sondern

seine heimliche Tochter, Selaqua, die kaum einer

gesehen hat. Er hält sie verborgen, weil sie die Züge

einer Iquani hat. Die Iquani, so sagt man in Candis,

nehmen die Seelen der Männer, mit denen sie sich

paaren. Die Menschen der Schlangeninsel fürchten und

hassen die Iquani. Sie würden sie eher töten, als mit

ihnen verkehren. Selbst ein Mann wie Jellis, dessen

Macht fast unbeschränkt ist, würde auf seinem Thron

nicht mehr sicher sein, wenn bekannt würde, daß er

seine Seele an eine Iquani verloren hat ...«

»Warum verleugnet er sie nicht einfach oder

beseitigt sie? Das dürfte ihm nicht schwerfallen.«

Page 135: Der Schlangengott

»Da hat ihm der Teufel einen Streich gespielt. Wenn

es nämlich etwas gibt, das der König wirklich liebt,

etwas, wofür er seinen Kopf hinhalten würde, dann ist

es dieses Mädchen.«

Wiquin hatte kein Verlangen, nach Candis

zurückzukehren, selbst unter diesen scheinbar

günstigen Bedingungen.

Er mußte nach Myra – diesen Dragon warnen.

Jaggar mochte in Candis Erfolg haben. Aber mit

oder ohne diesen Schlangenpriester standen die

Chancen hoch dafür, daß die gewaltige Flotte nach

Myra segelte.

Vorerst hielt der Sturm an und trieb das recht

hilflose Schiff weiter nach Nordwesten – die ganze

Nacht über. Währenddessen reifte in Wiquin der Plan,

mit einem der Boote zu fliehen, sobald der Sturm

nachließ.

Und mit Sela!

Wenn es stimmte, was Jaggars über sie und Jellis

gesagt hatte, dann war sie eine wertvolle Geisel. Eine,

die Jellis vielleicht von seinem Vorhaben abhalten

würde.

Sela sah an den Gesichtern der beiden Männer, daß sie

wußten, wer sie war. Sie wich ihnen aus. Selbst ihre

anfängliche Zuneigung zu Wiquin schien nun

Page 136: Der Schlangengott

erloschen oder zurückgedrängt von einer verzweifelten

Wachsamkeit. Sie wußte, daß sie für jeden eine

brauchbare Beute war. Sie spürte, daß Wiquin andere

Pläne hatte als Jaggar. Und sie wußte natürlich, was ihr

Vater plante. Sie hatte auch gemerkt, daß ihr Vater sich

während der letzten Tage oft sehr seltsam verhalten

hatte – so, als wäre er nicht bei Sinnen. Instinktiv

spürte sie auch, daß der Priester der Schlangengöttin

Mis, der auf die Insel gekommen war, etwas damit zu

tun hatte, daß etwas Bedrohliches von ihm ausging –

obwohl sie ihn nur von fern gesehen hatte.

Aber nun war sie hier – auf einem fremden Schiff,

zwischen zwei Männern, deren Blicke nachdenklich

geworden waren, als sie ihren Wert abwägten.

Sie würde mit ihnen reden, wenn sie reden wollten.

Aber sie hatten gesehen, daß sie eine Klinge zu

gebrauchen wußte. Seit dem Überfall durch das fremde

Schiff trug sie Schwert und Dolch im Gürtel und ließ

keinen Zweifel daran, daß sie sie wieder gebrauchen

würde.

Während der Nacht versuchte Wiquin den Kapitän

über die Position des Schiffes auszuhorchen. Er sprach

auch mit den Männern darüber. Aber keiner vermochte

Genaues zu sagen.

Bei Morgengrauen riß der Himmel auf. Der Wind

flaute ab. Das Schiff glitt in ruhigen Wellen. Die

Männer atmeten auf. An Hand der noch schwach

Page 137: Der Schlangengott

leuchtenden Sterne fiel es Jaggar nicht schwer, ihren

ungefähren Standort zu bestimmen. Demnach

befanden sie sich mehr als zwei Tagesreisen westlich

von Myra auf direktem Kurs nach Kybor, einer Insel

nahe der balavischen Küste.

Das waren erfreuliche Neuigkeiten für Wiquin. Aber

für diese Nacht war es zu spät zur Flucht. Er mußte

sich gedulden und hoffen, daß die See ruhig blieb.

Die Sonne ging auf und vertrieb die düsteren Bilder

der vergangenen stürmischen Tage. Während das

Schiff Kurs nach Südosten nahm, begannen die Männer

die entstandenen Schäden auszubessern.

Im Laufe des Vormittags flaute der Wind fast

vollkommen ab. Es wurde heiß, und sie machten kaum

Fahrt. Jaggar fluchte, um so mehr, als ihm nicht

entging, daß Wiquin mit ihrer Lage nicht unzufrieden

schien.

Wiquin versuchte mehrmals mit Sela zu reden, aber

sie blieb wortkarg, als wartete sie darauf, daß er ein

bestimmtes Thema anschnitt.

Aber er schwieg über seine Absichten. Er wartete

auf den Abend.

Jaggar erholte sich zusehends. Die Sonne schien es

zu sein, die ihm neue Kräfte gab. Er war beinahe den

Page 138: Der Schlangengott

ganzen Tag über an Deck und gab den Männern

Anweisungen. Einen unterwies er in der Bedienung

des Steuerruders. Um das Mädchen kümmerte er sich

scheinbar nicht, aber der Junge sah, daß der Käpt‘n sie

wachsam im Auge behielt.

Wiquins Nervosität wuchs. Er konnte sich des

Gefühls nicht erwehren, daß der Käpt‘n etwas von

seinem Vorhaben ahnte.

Endlich brach die Dunkelheit herein. Es wurde kühl,

und man konnte wieder atmen. Die Mannschaft blieb

so lange an Deck, daß Wiquin fast verzweifelte.

Um Mitternacht endlich war das Deck leer bis auf

die Steuerwache.

Der junge Myraner machte sich ans Werk. Er schlich

an das Steuerhaus. Der Bootsmann sah ihn erstaunt an.

»Noch auf, junger ...«

Wiquin brachte ihn mit dem Griff seines Dolches

zum Schweigen. Er ließ die reglose Gestalt vorsichtig

zu Boden gleiten. Dann hastete er in die Kombüse und

schleppte Wasser und Proviant in eines der beiden

Boote. Mit viel Mühe und Schweiß schwenkte er das

Boot aus und ließ es ins Wasser. Es scharrte über die

Bordwand, und Wiquin hielt den Atem an.

Niemand regte sich.

Nach einem Augenblick hastete er auf Zehenspitzen

zu den Mannschaftsräumen ins Unterdeck. Nun kam

der schwierigste Teil.

Page 139: Der Schlangengott

Sela!

Er pochte an ihre Tür, leise, daß es niemand außer

ihr hören konnte, aber es klang noch immer

verräterisch laut. Sie hörte ihn und öffnete zögernd

einen Spalt, als er sich zu erkennen gab.

Sie sah ihn fragend an. Seine Hand tastete nach ihr

in der Dunkelheit, bekam sie an der Hüfte zu fassen.

Ihr Arm kam hoch, während er nach innen drängte. Im

nächsten Augenblick erstarrte er, als er die Spitze eines

Dolches an seiner Kehle fühlte. Sie schloß die Tür

hinter ihm. »Sela«, krächzte er. »Du gehst fort, nicht

wahr?« Er wollte nicken, aber das brachte ihn in

innigen Kontakt mit der Messerspitze. »Ja«, keuchte er.

»Und du wolltest dich verabschieden?«

»Ja, Sela.«

»Du lügst!«

Er japste als der Druck des Dolches sich verstärkte.

Wütend schob er den Dolch beiseite und rang einen

Augenblick mit ihr. Er fühlte, daß sie Luft für einen

Schrei holte. Rasch drückte er seine Lippen auf die

ihren. Es war süß, und sie wehrte sich nicht sehr. Er

war jedoch vorsichtig genug, ihre Hand mit dem Dolch

nicht loszulassen. Sie fühlte sich warm und aufregend

an in seiner Umklammerung.

»Ich gehe nicht ohne dich«, sagte er und verschloß

ihren Mund erneut. Und er dachte, daß es auch ohne

ihre Bedeutung als Geisel ein Jammer wäre, sie

Page 140: Der Schlangengott

zurückzulassen.

Er entwand ihr den Dolch, ergriff sie am Haar und

bog ihren Kopf weit zurück. »Kommst du mit mir –

freiwillig und leise? Oder muß ich dich mit Gewalt

vom Schiff schaffen?«

»Du wirst es mit Gewalt tun müssen«, keuchte sie.

Ein kurzer Schlag wie beim Steuermann, nur mit

etwas mehr Gefühl, und sie wurde schlaff in seinen

Armen. Er lauschte gespannt. Nichts regte sich.

War Jaggar nicht mißtrauisch, oder hielt er es für

Wahnsinn, hier mit einem Boot zu fliehen? Einerlei. Es

gab kein Zurück mehr. Er zerrte die leblose Gestalt des

Mädchens die Treppen hoch und zum Boot. Vorsichtig

ließ er sie hineinfallen und kletterte selbst nach. Zwei

Schnitte an den Haltetauen, und das Boot war frei.

Der Koloß der Schwarzen Wellenreiterin

verschwand in der Nacht.

Sie waren allein mit dem Rauschen des Meeres. Der

Junge griff nach den Rudern. Er beobachtete die Sterne

einen Augenblick und schwenkte das Boot nach Osten.

Es würde eine lange Fahrt werden.

10.

Das Mädchen erwachte nach einer Weile.

Page 141: Der Schlangengott

Sie sah ihn an und schien sich zu erinnern, was

geschehen war. Eine Weile beobachtete sie ihn prüfend

und ohne Groll. Der feine Instinkt, der den Frauen

ihres Volkes eigen war, sagte ihr, daß der Junge ihr

verfallen war. Sie lehnte sich zufrieden zurück. Sie

würde ihm seine Seele nehmen – irgendwann auf

dieser Fahrt.

Und er würde tun, was sie verlangte.

Sie war eine Iquani – die mit dem Blick befahlen!

Der Morgen dämmerte, und Wigor sank erschöpft

neben dem Mädchen nieder. Noch immer blähte kein

Lufthauch das kleine Segel.

Er erwachte gegen Mittag durch einen

Schreckensruf des Mädchens. Benommen starrte er auf

das gleißende, ruhige Wasser, das sich rundum bis

zum Horizont erstreckte. Er hatte befürchtet, daß die

Wellenreiterin ihnen folgen könnte. Aber das Schiff

war nirgends zu sehen.

Dann entdeckte er, was das Mädchen erschreckt

hatte. Mehrere Rückenflossen durchschnitten das

Wasser nicht weit vom Boot.

Haie! durchzuckte es ihn, und Sela schien das

gleiche zu denken. Er griff nach dem Bogen.

Seltsamerweise entfernten sich die großen Fische

daraufhin vom Boot. Aber sie blieben in sicherem

Abstand für die nächste Zeit ihre Begleiter.

Page 142: Der Schlangengott

Er verglich Sonnenstand und Kurs und bemerkte zu

seiner Verwunderung, daß das Mädchen den Kurs

nach Osten gehalten hatte. Sie lächelte ihm zu und

reichte ihm Essen und Wasser aus dem Proviant.

Danach ruderte er eine gute Stunde, bis ein Wind

aufkam, der das Segel reffte und ihre kleine Nußschale

vorwärts schob.

Wigors Freude darüber wurde allerdings durch den

Anblick dunkler Wolken am westlichen Horizont

gedämpft. Es sah nach Sturm aus. Und sicherlich

waren sie in diesem Boot verloren.

Während des halben Nachmittags beobachtete er die

ständig wachsende Wolkenwand mit großer Besorgnis.

Er sah die wachsende Angst in Selas Gesicht.

Er versuchte ihr ermutigend zuzulächeln.

Die Wogen wurden größer. Der Wind zerrte an dem

kleinen Segel, als wolle er es in Fetzen reißen. Das Boot

glitt bald mit unglaublicher Geschwindigkeit dahin

und kippte gefährlich über die Wellenspitzen. Bevor

Wigor das Segel einholen konnte, zerriß es der Wind

mit einem Knall.

Verzweifelt klammerten sie sich fest. Es wurde

dunkel. Die Umwelt bestand nur mehr aus

schäumendem, rasendem Wasser. Wigor zog das

Mädchen an sich und versuchte sie mit einem Stück

Tau an sich festzubinden.

Aber es war unmöglich. Sie hatten Mühe, einander

Page 143: Der Schlangengott

festzuhalten. Das Boot wurde herumgerissen,

schleuderte die beiden unter die Ruderbank, wo sie

halb betäubt lagen. Eine Welle spülte das Mädchen

über Bord.

Wigor sah, wie sie in einer hohen Welle versank.

»Sela!«

Er krallte sich am schlüpfrigen Holz fest, zog sich

hoch und sprang hinterher. Sie war zwischen den

Wellen verschwunden, und er schrie sich die Seele aus

dem Leib. In dem Tosen war nicht ein menschlicher

Laut zu vernehmen.

Dann sah er sie wie ein Wunder nah vor sich

auftauchen. Ihre Arme streckten sich ihm entgegen. Sie

rief etwas, bevor der Wellenkamm über sie rollte. Er

versuchte, auf sie zuzuschwimmen, aber diese riesigen

Wellen hatten eine eigene Art von Strömung, die ihn

von ihr wegtrug.

Er tauchte unter, schluckte Wasser, glaubte, seine

Lungen würden bersten. Dann tat sich das nasse Grab

auf, und er bekam Luft.

Entsetzt sah er Sela und zwei Rückenflossen, die

durch die Wellen auf sie zustießen. Gleich darauf

schlug etwas gegen ihn, ein kalter, glatter Körper. Er

schrie auf. Zwei, drei der gefährlichen Flossen tauchten

vor ihm aus dem Wasser und waren im nächsten

Augenblick unter ihm. Sie hoben ihn hoch. Etwas

schlang sich um seine Mitte – ein Tau.

Page 144: Der Schlangengott

Bei den Göttern! Das waren keine Haie!

Er wurde vorwärts gerissen. Sie zogen ihn mit

unglaublicher Geschwindigkeit an den gewaltigen,

rollenden Wogen entlang. Weit vor sich glaubte er Sela

zu erkennen.

Eine Weile versuchte er, seinen Körper der

Geschwindigkeit anzugleichen. Aber langsam verließ

ihn die Kraft. Es gab Augenblicke, da er durch tiefe

Wogen glitt und dachte, er würde nicht mehr

auftauchen. Dann wieder sprangen die Fische mit ihm

über die Schaumkronen, und er konnte Luft in seine

gequälten Lungen pumpen.

Aber mehr und mehr schwand der Sinn für das, was

geschah. Er verlor das Bewußtsein. Der letzte Eindruck

war der von Stimmen und von helfenden Händen,

deren Finger mit dünnen Häuten verwachsen waren.

Und von besorgten Gesichtern, die menschlich und

doch nicht ganz menschlich schienen ...

ENDE

Auf der Schlangeninsel und auf dem Großen Meer, das von

den Seglern und den Galeeren der Bruderschaft beherrscht

wird, beginnen sich die Ereignisse zu überstürzen. Auch in

Myra herrscht Unruhe. Ränke werden geschmiedet, und ein

Magier fordert DIE MACHT DER GÖTTER ...

DIE MACHT DER GÖTTER so lautet auch der Titel des

Page 145: Der Schlangengott

nächsten Dragon-Bandes. Autor des Romans ist Hugh

Walker.


Recommended