1.
Der dunkelhaarige Mann auf dem Thron wand sich vor
Lachen. Er hieb mit der Faust auf die Lehne des
kunstvoll geschnitzten Holzgestühls.
»Sag das noch einmal«, würgte er hervor.
Der Angesprochene war ein noch dunklerer Typ.
Der Humor seines Gegenübers schien ihn nicht zu
beeindrucken. Gleichmütig wiederholte er: »In Myra
nennen sie es das Jahr der Schlange.«
Das reizte den am Thron zu einem erneuten
Lachanfall. »Was meinst du, Jaggar, ist das noch ein
Omen – oder schon eine Verpflichtung?« Seine Augen
funkelten.
Jaggar hakte die Daumen in seinen breiten, ledernen
Gürtel. Er gab keine Antwort.
»Wahrhaftig, wir sollten nicht mehr zu lange
warten, Jaggar. Ehe das Jahr zu Ende geht, sollten wir
dafür sorgen, daß unsere Banner der Schlange über
ihren Zinnen flattern ...«
Jaggar schüttelte den Kopf. »Hör mich erst an,
König.«
König Jellis nickte, aber er war verärgert.
Vorsichtig sagte Jaggar: »König, der Zeitpunkt ist
nicht so günstig, wie er scheint ...«
Als Jellis keine Antwort gab, fuhr er rasch fort:
»Dieser neue myranische König ... Dragon ... Er ist sehr
beliebt. Es heißt, daß er nicht nur das Volk und ein
starkes Heer auf seiner Seite hat, sondern auch noch
andere starke Verbündete.«
»Pah, wer sollte das sein? Myra hat keine Freunde
an den Küsten des Großen Meeres ...«
»Ich meine kein anderes Land«, unterbrach ihn
Jaggar rasch. Der König sah ihn fragend an. »Sie
nennen sich Söhne von Atlantis. Es scheint sie überall
in Myra zu geben, und auch weiter im Osten ...«
»Söhne von Atlantis?« wiederholte Jellis
nachdenklich. Dann platzte er plötzlich wieder vor
Lachen. »Söhne, sagst du? Muß ein kräftiger Bursche
gewesen sein, dieser Atlantis, wenn es so viele von
ihnen gibt, daß sie mir gefährlich werden könnten!«
Jaggar zog die Stirn in Falten, aber er war vorsichtig
genug, nicht zu deutlich zu zeigen, daß ihm diese Art
von Humor unter den gegebenen Umständen nicht
behagte. »Atlantis soll ein fernes Land sein. Man sagt,
sie seien Weise. Manche halten sie auch für Magier. Der
einstige König von Myra ließ viele von ihnen töten. Es
heißt, weil er sie fürchtete. Aber sie sind für den
Frieden, wie ihr König Dragon.«
»Nur wer schwach ist, ist für den Frieden«, meinte
Jellis wegwerfend.
Warnend widersprach Jaggar »Darauf würde ich
mich nicht verlassen, König. Dieser Dragon besiegte
ein fast fünfzig Tausendschaften starkes Heer der
Myraner ...«
»Um so besser. Dann werden auf beiden Seiten
keine wesentlichen Streitkräfte mehr übriggeblieben
sein. Nichts, womit unsere dreihundert Schiffe nicht
fertig würden!«
»Dreihundert?« entfuhr es Jaggar erstaunt. »So muß
die Bruderschaft des Großen Meeres Verbündete
haben, denn ich weiß nur von zweihundert
kriegstüchtigen Schiffen.«
»Zweifelst du an den Worten des Ersten Kapitäns
der Bruderschaft?« fragte der König drohend.
»Wie könnte ich?« lenkte Jaggar ein. »Dennoch ...«
»Wenn ich sage, daß wir dreihundert Schiffe nach
Myra schicken werden, so wird es nicht eines weniger
sein.«
Jaggar nickte. Er zwang sich zu seinem gewohnten
Gleichmut, mit dem er bei Jellis immer am besten
gefahren war. »Laß mich dich dennoch warnen, König.
Gleich, wen man trifft und befragt – alle munkeln von
der Stärke dieses Dragon. Es scheint mir nicht ratsam,
Myra anzugreifen, selbst mit dreihundert Schiffen
nicht.«
»Ist es, daß du alt wirst, Jaggar, und furchtsam?«
Der König musterte den Kapitän der Schwarzen
Wellenreiterin ein wenig spöttisch.
»Du weißt, daß ich keins von beiden bin. Aber ich
wäre dir ein schlechter Kundschafter, wenn ich dir die
Gefahr verheimlichen wollte, die dein Vorhaben
scheitern lassen könnte.«
König Jellis‘ derbe Züge wurden hart. »Stimmt es,
was die Planken deines Schiffes raunen? Daß du Beute
hattest? Die die Wellen dir wieder wegnahmen?«
Jaggar fluchte innerlich. Seine Mannschaft hatte
nicht dicht gehalten. Bootsmann Galis wahrscheinlich.
Andererseits hatte der König seine Schnüffler wohl auf
jedem der Schiffe.
Zähneknirschend berichtete er von seinem Fang des
myranischen Mädchens mit dem Mausgesicht und von
seiner zweiten Beute, dem Fischmädchen, und wie er
beide wieder im Meer verlor.
Damit war die Audienz beendet. Jaggar verließ
wütend und mit rotem Kopf den Palast. Seine Wut
verrauchte langsam, während er durch die Straßen von
Candis schritt.
Seit seiner Ankunft hatte er nichts anderes getan, als
sein Mißgeschick mit der Beute verflucht. Nun
warSchluß. Es war schwer, Spott zu ertragen; am
schwersten, wenn dieser vom König kam, den keine
Faust zum Schweigen bringen konnte. Jellis‘ Willkür
war wie die Unberechenbarkeit einer Schlange.
Jaggar starrte zum Hafen hinab. Außer der
Schwarzen Wellenreiterin lagen noch zwei weitere
Schiffe der Piratenflotte vor Anker.
Dreihundert hatte der König gesagt. Unmöglich!
Vielleicht wenn er alles zusammenraffte, was das
Wasser unter den morschen Planken halten konnte. Es
gab noch eine ganze Reihe rascher Segler in den
östlichen Häfen der Schlangeninsel – die kleinen
Flotten der Stadtbefehlshaber. Natürlich würden sie im
Ernstfall ihre Schiffe an den König abgeben. Es blieb
ihnen gar nichts anderes übrig. Sie hätten nur ein
kurzes Leben, wenn sie sich weigerten. Wie der
verstorbene Amokar war auch Jellis nicht zimperlich in
der Wahl seiner Mittel. Gewalt war, was er am besten
verstand.
Und der König besaß viele Klingen, die dafür
sorgten, daß Schwäche und Illoyalität kurze Beine
hatten in Candis.
Jaggar hatte keine Angst – nicht um sich oder um
seinen Rang in Jellis‘ Flotte, aber er haßte alles Sinnlose.
Den Tod ebenso wie diesen Krieg mit Myra.
Er liebte das Meer. Er liebte sein Schiff. Er liebte den
Kampf und das Abenteuer, und er fragte nicht lange,
auf wessen Kosten es ging.
Und er war seinem König treu, auch wenn er wenig
Liebe für ihn empfand.
Überall in der Stadt trugen die Türen der Häuser das
rote Kreidebildnis Minos‘, des Stiers; Ährenbündel
schmückten die Fenster und kündeten davon, daß
Erntezeit war. In ein oder zwei Tagen würden im
Tempel vor den Toren der Stadt die
Erntedankfestlichkeiten beginnen, die dem König
immer ein Dorn im Auge gewesen waren. Eines Tages
würde es Schwierigkeiten geben, dachte Jaggar. Die
Unbekümmertheit der Priester erstaunte ihn.
Vertrauten sie so sehr auf das Volk, auf die Zahl ihrer
Anhänger, daß sie hier in Candis unter des Königs
Augen Minos in solchem Ausmaß zu huldigen wagten?
Wußten sie nicht, daß den König die Masse des Volkes
wenig kümmerte? Oder wußten sie es wohl und
rannten trotzdem mit der gleichen Starrköpfigkeit in
die Gefahr, wie Jellis es sich in den Kopf gesetzt hatte,
Myra anzugreifen?
Was steckte nur in diesen Menschen, daß sie so stur
waren? In seiner Heimat, an der Totenküste, waren die
Menschen anders – geduldiger. Sie warteten, bis ihre
Zeit gekommen war. Und niemand kam es in den Sinn,
darin Feigheit zu sehen.
Als er den Marktplatz erreichte, der auf die Kais
hinausführte, sah er, daß sich eine größere
Menschenmenge angesammelt hatte. Verwundert
mengte er sich unter sie und sah in der Mitte einen
jungen Mann, der so ganz anders gekleidet war als die
Stadtbevölkerung mit ihren sackartigen Gewändern
und den ausgebleichten, geknoteten Kopftüchern, die
das Gesicht vor der Sonne schützten.
Er trug Beinkleider, die so auffallend bunt und
geckenhaft waren, daß Jaggar beinah laut aufgelacht
hätte. Das Wams war ebenso halbseitig rot und
halbseitig grün. Er war dunkelhaarig, aber viel
hellhäutiger als die Umstehenden. Dann sah Jaggar das
Saiteninstrument in seiner Hand, das er nun an die
Brust hob. Der Wind trug halbverwehte Töne an
Jaggars Ohren.
Neugierig schob er sich näher. Der Junge sang
irgend etwas, und die Nächststehenden lachten. Als
der Kapitän nahe genug war, daß er die Worte
verstehen konnte, erkannte er, daß der Junge, selbst
wenn man von der Hautfarbe absah, nicht von der
Schlangeninsel war. Es gab ja einige fast weißhäutige
Stämme im Innern der Insel. Aber der Sänger war auch
der Sprache des Landes nicht sehr mächtig. Er
berichtete etwas von einem Kampf mit einer
Raubkatze. Aber die Dramatik ging in dem
unfreiwilligen Humor verloren. Wenn er sich mit
Worten nicht auszudrücken vermochte, versuchte er es
mit Gesten und war dabei nicht allzu erfolgreich. Die
Zuhörer lachten. Die Menge war gutmütig. Sein
bizarres Kostüm und die gute Ernte trugen wohl dazu
bei.
Seine Aussprache machte Jaggar stutzig. Wenn ihn
nicht alles trog, dann mußte der Junge myranischer
Herkunft sein. Er hatte oft genug an Myras Küsten
Menschen reden hören, um nun ziemlich sicher zu
sein.
Was suchte ein myranischer Sänger in Candis?
Jaggars Heiterkeit wich Mißtrauen.
Ein Schnüffler in der Maske eines Narren! Es mochte
besser sein, wenn er den Jungen genauer in
Augenschein nahm. Er schob sich durch die Menschen
und blieb vor dem Sänger stehen, der zögernd seine
Laute sinken ließ und unsicher auf den Kapitän blickte.
»Sag uns, woher du kommst«, verlangte Jaggar.
»Aus Balava«, erklärte der Junge schnell.
Das war gelogen. Jaggar war vor Jahren selbst
einmal in Balava gewesen. Die Sprache hatte mit der
des Hauptteils von Myra wenig gemeinsam. Es war
klar zu erkennen, daß der Junge nicht aus Balava
stammte. Andererseits hatte dieser ja auch nur
behauptet, aus Balava zu kommen, nicht, daß dort
seine Heimat wäre.
Es war unklug, ihn hier vor allen Menschen
auszufragen. Er mußte ihn mit auf sein Schiff nehmen.
Dort würde die Wahrheit leichter zu erfahren sein.
»Im Namen des Königs«, sagte er, »du kommst jetzt
mit mir!«
Der Junge wurde bleich. Er sah sich gehetzt um,
aber überall standen dicht gedrängt die Menschen, die
zwar über Jaggars Absichten nicht erfreut waren, denn
sie sahen sich um ihr Vergnügen betrogen, die ihm
aber sicherlich die Flucht verwehren würden.
Resigniert zuckte er mit den Schultern und hing sein
Instrument über die Schulter. »Wohin?«
»Auf mein Schiff«, erklärte Jaggar. »Die Schwarze
Wellenreiterin.«
In den Augen des Jungen blitzte es auf, eine Regung,
die er sofort unterdrückte. Aber Jaggar entging sie
nicht.
»Dann seid Ihr Kapitän Jaggar?«
»Allerdings«, bestätigte der verblüfft. »Hat sich
mein Name bis Balava durchgesprochen?«
Der Sänger sagte mit belegter Stimme: »Es gibt
wenig Küsten, an denen man Euren Namen nicht
kennt, Kapitän.«
Jaggar spürte deutlich, daß diese Bemerkung nicht
als Anerkennung gedacht war. Die Sache begann
einigermaßen geheimnisvoll zu werden.
Als sie aus der murrenden Menge tauchten und auf
das Schiff zuschritten, fragte Jaggar: »Wie lange bist du
schon hier?«
»Seit heute morgen.«
»Es sieht so aus, als hättest du mich gesucht, oder
irre ich mich?«
Der Junge gab keine Antwort.
»Wie heißt du?«
Erneutes Schweigen.
»Dir ist doch klar, daß ich dich peitschen lassen
kann, bis dir die Haut in Fetzen vom Körper hängt –
oder bis du redest?«
»Ich heiße Wigor«, gestand der Junge hastig.
»Na also«, brummte Jaggar zufrieden, eine Antwort
erhalten zu haben. Er hatte vorerst nicht die Absicht,
auch nur ein Wort zu glauben. »Wie alt bist du?«
»Das weiß ich nicht.«
»Auch gut. Wir werden es schon herausfinden, wir
beide.«
»Ich weiß es wirklich nicht«, erwiderte der Junge
nachdrücklich. »Vor neun Jahren fing ich an, die Jahre
zu zählen.«
»Also bist du älter als neun. Bravo«, meinte Jaggar
grinsend. »Und wenn wir noch ein wenig bohren, fällt
dir sicher wieder ein, aus welchem Grund du
hierhergekommen bist. Na?«
»Seht Ihr es nicht? Ich bin ein Barde, der ...«
Jaggar lachte schallend. Wie König Jellis war er
rasch mit dem Lachen und mit dem Spott zur Hand,
ohne darauf zu achten, daß es verletzend sein mochte,
so verletzend wie er es eben selbst noch im Palast
empfunden hatte.
»Barde sagst du?« Jaggar schüttelte sich. »Ein
Possenreißer wärst du zur Not. Aber ich fürchte, man
wurde nicht über deine Possen lachen, sondern über
dich selber. Und noch etwas. Ich höre zum erstenmal,
daß ein Mann aus Balava jemanden mit Ihr anredet.
Das ist eine myranische Eitelkeit. Na, wir werden das
alles noch herausfinden.« Es klang sehr zuversichtlich.
Sie hatten die Kais erreicht. Einige Bootsleute kamen
von der Wellenreiterin herbei und starrten neugierig
und belustigt dem Kapitän und seinem Fang entgegen.
Einer von ihnen war Galis, bemerkte Jaggar mißmutig
und betrachtete den grinsenden Hünen kalt, der das
halbe Dutzend der übrigen Bootsleute beinah um einen
Kopf überragte. Eines Tages würde er mit ihm
abrechnen. Dieses wissende, höhnische Grinsen bewies
es eindeutig: Galis war Jellis‘ Mann!
»Was hast du denn da für einen seltsamen Vogel,
Kapitän?« rief einer der Männer lachend. Die anderen
stimmten mit ein.
Jaggar hielt den Jungen am Arm fest. »Komm nicht
auf den Gedanken, wegzulaufen. Die schlitzen dich
auf, bevor du ein Dutzend Schritte hinter dir hast.
Wenn du ruhig bleibst, werden sie nur ihren Spaß mit
dir
haben ...«
»Wie mit anderen Gefangenen auch?« unterbrach
ihn der Junge. »Du sagst es. Und ich fürchte, du wirst
heute für uns singen müssen. Welch grauenhafte
Vor...«
Wigor schien ihn gar nicht zu hören. »Wie mit
Mädchen auch!« fragte er.
Jaggar starrte ihn an. »Nicht ganz«, sagte er
grinsend. Aber er verbiß sich eine weitere Bemerkung,
als er den Jammer in den Augen des Jungen sah Er
schüttelte verwundert den Kopf. Wovon sprach dieser
junge Narr eigentlich. Dachte er etwa ...
In dem Augenblick kam ein vielstimmiger Schrei
vom Marktplatz. Er wandte sich um und sah, daß alle
auf das Wasser der Bucht hinausstarrten. Verwundert
wandte er sich ebenfalls in die Richtung.
Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern
gefrieren.
Vom offenen Meer her kam etwas in das
Hafenbecken, durchbrach in rhythmischen Abständen
die glatte Wasseroberfläche wie ein riesiger sich
krümmender Wurm. Ein Schädel mit breitem Rachen,
spitzen Zähnen, zwischen denen das Wasser
herausquoll, wenn er emportauchte, und großen
runden, seitlichen Augen, ein langeraalglatter Körper,
der in der Mittagsonne wie Silber glänzte – eine der
gefürchteten, legendären Seeschlangen, von denen
Männer zu berichten wußten, daß sie ganze Schiffe mit
Mann und Maus in die Tiefen des Meeres zogen.
Und sie kam geradewegs auf die Kais zu, als wolle
sie sich mitten aus der gelähmten Menge ein Opfer
schlagen oder eines der Schiffe erbeuten mitsamt seiner
lebenden und toten Ladung.
Einen Augenblick war der Impuls zu rennen
übermächtig. Aus den Augenwinkeln sah er, daß Galis
und die Männer der Wellenreiterin in panischer Flucht
auf die ersten Häuser zuliefen, um dahinter Schutz zu
suchen. Dann siegte der Mann in ihm, der er immer
gewesen war. Wie gut oder schlecht seine Taten auch
immer gewesen sein mochten, niemand durfte es
geben, der ihm Feigheit vorwerfen konnte, ohne dafür
den Biß der Klinge zu fühlen. Auch Jellis würde dafür
bezahlen – auf die eine oder andere Weise.
Fast unbewußt zog er die Klinge blank und riß das
Entermesser mit der Linken aus dem Gürtel.
Keine zehn Manneslängen von ihm entfernt tauchte
der Kopf der Schlange aus dem trüben Wasser des
Hafens und hielt in ihrer Bewegung inne. Reglos starrte
sie auf die Menschen, die Schritt für Schritt
zurückwichen. Jaggar schien sie nicht wahrzunehmen.
Vielleicht stand er bereits zu weit seitlich für die
starren Augen des Wesens.
Nach einem endlosen Augenblick, in dem sicherlich
keine Seele im ganzen Hafen zu atmen wagte, sank sie
in die Fluten zurück, und ihr Schwanz peitschte das
Wasser zu grauem Schaum. Die Schiffe schwankten
unter dem Wellengang und knarrten in ihren
Verankerungen.
Dann war es still. Nichts mehr kam empor.
Mit einem erleichterten Pfeifen stieß Jaggar die Luft
aus. Eine Schlange aus dem Meer! Wahrhaftig. König
Jellis schien recht zu haben mit dem Omen. Vielleicht
war dieser Dragon bei weitem nicht so stark, wie man
ihm berichtet hatte.
Es geschahen Dinge, wie sie noch nie zuvor
geschehen waren. Die Myraner hatten recht: Es war das
Jahr der Schlange!
Dann geschah etwas sehr Merkwürdiges: Ein
Mensch tauchte aus dem leicht bewegten Wasser an die
Oberfläche und schwamm in kräftigen Stößen zur
felsigen Hafenmauer, an der er mit affenartiger
Behendigkeit hochkletterte und vor den verblüfften
Bewohnern Candis‘ auf den Marktplatz zuschritt.
Jaggar folgte ihm unwillkürlich, ohne daß es ihm
recht bewußt wurde. Ein Wunder war geschehen! Ein
Mann war aus dem Rachen der Schlange gestiegen –
oder so gut wie. Nichts anderes konnte es bedeuten, als
daß die Schlange ihn in den Hafen gebracht hatte.
Und wie zur Bestätigung seiner Gedanken hörte er
die Stimme des Mannes, der die Arme ausgebreitet
hatte und laut verkündete:
»Ich bin der Abgesandte von Mis, der Göttin der
Schlange. Bringt mich zu eurem König!«
In der Stille, die nach diesen Worten herrschte, sagte
Jaggar mit gewaltsam fester Stimme: »Ich, Fremder, ich
bringe dich zum König!«
Er schritt an dem triefenden Fremden vorbei, nicht
ohne ihn neugierig zu mustern. Aber nichts
Ungewöhnliches fiel ihm auf. Der Mann war alt,
bestimmt an die siebzig oder achtzig Winter. Sein
wallender Kinnbart war grau, sein Haar schlohweiß. In
seinem Gesicht war kein Funken von Schwäche, als
wäre sein Alter nur äußerlich, eine Maske der Würde.
In seinen Augen war eine Unerbittlichkeit, die Jaggar
erschreckte, aber nur für einen Augenblick, dann nickte
der Fremde ihm freundlich zu.
»Ich sehe, du bist auch ein Sohn der Schlange!«
»Du mußt dich irren. Fremder«, widersprach Jaggar
nachdrücklich.
Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich sehe Gift in
deinem Herzen. Männer wie dich kann ich gebrauchen.
Ein Dutzend von deiner Sorte für Mis‘ Tempel ...«
Jaggar ging nicht darauf ein. »Du willst einen
Tempel errichten?« fragte er neugierig.
»Vielleicht«, antwortete der alte Mann ausweichend.
Sie erreichten den Palast. Viele der Bewohner
Candis‘ waren hinter ihnen hergeschritten, und wer es
nicht selbst gesehen hatte, wie der Fremde aus dem
Rachen der Schlange gestiegen war, der bekam es in
hastigen Worten berichtet. Wie ein Lauffeuer breitete
sich die Nachricht in Candis aus, daß Mis selbst ihren
obersten Priester gebracht habe, um ihr Erbe über die
Schlangeninsel anzutreten.
Mis – der Name war allen vertraut. Eine Legende
aus einer Vergangenheit, die Äonen zurücklag. Als die
Welt noch jung war. »Sag mir deinen Namen«, bat
Jaggar, »damit ich ihn dem König nennen kann.«
Der Fremde nickte. »Merkt ihn euch wohl: Er ist
Serphat. Welches ist das Gemach?«
»Das letzte linker Hand, Priester.«
»Gut. So laß mich allein. Ich bin es gewöhnt, in die
Gemächer der Könige allein zu gehen.«
»Wie du meinst, Priester«, antwortete er enttäuscht.
Aber er zeigte die Enttäuschung nicht. Früher oder
später würde Jellis ihn rufen.
Er sah den Alten mit den beiden Wachen vor des
Königs Tür verhandeln und schmunzelte. Die würden
ihn nicht durchlassen. Das kostete sie den Kopf.
Dann sah er verblüfft, wie sie plötzlich wie ein
Mann zur Seite traten und dem Fremden den Weg
freigaben.
Der trat ein, ohne sich noch einmal umzusehen.
Verwundert ging Jaggar auf die Tür zu. Er hielt vor
den beiden Wachen an, die starr wie Figuren
dastanden. Mit wachsendem Mißtrauen bemerkte er,
daß die beiden ihn scheinbar nicht wahrnahmen.
Keiner würdigte ihn eines Blickes. Sie starrten ins
Leere, und Kelim mochte wissen, was in ihnen vorging.
Er berührte einen. Er schwankte, machte aber keine
Anstalten, sich festzuhalten.
Der Fremde mußte etwas mit ihnen getan haben.
Immer wieder einen mißtrauischen Blick auf die beiden
Krieger werfend, näherte sich Jaggar leise der Tür und
lauschte, den Kopf an das Holz gepreßt.
Er wurde belohnt. Stimmen waren hörbar, schwach
zwar, aber weitgehend verständlich. Der König war
offensichtlich verärgert. In der Stimme des Alten
schwang eine versteckte Drohung. Der König mußte
sie wohl vernehmen.
Von Mis war die Rede, und von Macht. Der Priester
hatte offenbar Forderungen gestellt, denn Jellis
erwiderte eben in heftigen Worten, die Jaggar ein
Grinsen entlockten.
Darauf folgte eine Antwort, ruhig und von
unmenschlicher Kälte. Es klang wie eine Beschwörung.
Dann kam das gefährliche Zischen eines Reptils, das
Jaggar einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Er
hörte Jellis entsetzt aufschreien und nach den Wachen
rufen.
Jaggar riß die Tür auf und starrte auf die
unglaubliche Szene. König Jellis stand mit bleichem
Gesicht an seinem Thron. Seine Hände umklammerten
die Lehnen mit solcher Gewalt, daß die Knöchel der
Finger weiß hervortraten. Seine Augen quollen hervor
und wichen nicht von der schenkeldicken, gute drei
Manneslängen messenden Schlange, deren schmaler
Kopf zischend vor dem Thron pendelte.
»Jaggar«, stieß der König hervor, »wo sind meine
Männer?«
»Sie können dich nicht hören, König ...«
»Sag mir, daß ich träume, Jaggar ...!«
»Ich fürchte, nein. König«, brachte der Kapitän
hervor.
»Dein Schwert, Jaggar!« rief der König. »Worauf
wartest du? Töte sie ...!«
Jaggars Hand fuhr zum Griff und erstarrte dort.
»Glaubst du nicht, König«, sagte die Schlange mit
zischenden Lauten, »daß ich euch beide töten könnte,
bevor dein Freund seine Klinge gezogen hat?«
Gleichzeitig verlor sie ihre Form, zerfloß auf dem
Boden zu einer dunklen Masse, die sich neu formte.
Der Priester stand wieder vor ihnen, mit einem kalten
Lächeln auf den Lippen.
»Aber ich bin nicht hier, um zu töten, König Jellis.
Meine Göttin Mis bedarf deines Wohlwollens, und sie
verspricht reichen Lohn.«
Jaggar entspannte sich. Er spürte noch immer
Gefahr, aber sie schien nicht mehr so greifbar, wie noch
im Augenblick zuvor. Er erkannte, daß es nichts gab,
das ein gutes Schwert hätte tun können – außer den
Alten zu töten. Aber nach allem, was er erlebt hatte,
zweifelte er daran, daß der Alte auch tot blieb.
Er sah, wie der König sich in seinen Thronstuhl
setzte und seine gewohnte sarkastische Haltung
wiederzugewinnen suchte.
»Was ist es, das Mis von mir will?« fragte er.
»Daß das Bildnis des Stieres für immer von dieser
Insel verschwindet. Daß die Altare Mis geweiht
werden, und daß alles Blut nur Mis zu Ehren vergossen
wird.«
Jaggar sah, wie der König innerlich lachte. Minos
Gott zu zertreten, das lag ihm schon längst im Sinn.
Jellis nickte. »Gewährt«, sagte er. Er gewann seine
alte Selbstsicherheit wieder. »Wenn du, Priester deiner
Göttin, das Volk mit deiner Macht überzeugst ...«
Der Alte nickte. Er deutete zu den Fenstern. »Sieh
hinaus, König. Sie alle, die dort unten stehen, kennen
Serphats Macht. In aller Herzen ist Furcht und
Bewunderung. Sie werden Mis dienen.«
Der König trat an eines der Fenster und starrte
hinaus. Der ganze Vorplatz des Palasts hatte sich mit
Menschen gefüllt, die neugierig nach oben starrten. Er
wandte sich um und sagte spöttisch: »Sie hoffen auf ein
Wunder. Auf meinen Tod.«
Wenn diese Worte den Alten beeindruckten, so
zeigte er es nicht. Er fragte: »Wann beginnt das Fest zu
Ehren Minos?«
»Morgen«, erklärte Jellis.
»So werde ich morgen an deiner Seite sein, um auch
die Priester Minos zu lehren, daß das Bildnis der
Schlange schon in diese Felsen gehauen war, bevor
Mino über diese Welt schritt.«
Er ging zur Tür.
»Serphat, sagtest du, heißt du?« fragte der König
rasch.
Der Alte wandte sich ungeduldig um und nickte.
»Was ist der Lohn, den mir Mis verspricht« »
»Macht«, antwortete er, und gekleidet in seine
Stimme klang es, als bedeutete es unendlich viel.
Wieder fühlte Jaggar die Kälte. Er sah auf Jellis, aber
aus des Königs Zügen war nichts zu erkennen.
»Und Beistand gegen Myra, das dir sehr am Herzen
liegt. «
Jellis‘ Augen leuchteten auf. »Da hast du recht. Es
liegt mir sehr am Herzen.« Er blickte Jaggar
triumphierend an.
Als sie beide zur Tür sahen, war der Alte
verschwunden.
2.
Jaggar erwachte durch ein leises Plätschern, das nicht
mit dem Rhythmus der Wellen übereinstimmte. Er
hatte einen sehr leichten Schlaf.
Im Gegensatz zu den Bordwachen!
Da war es wieder! Er hatte sich nicht geirrt. Daran
hatte er auch nicht gezweifelt. Es lag an seiner Art, die
Gefahr zu fühlen, noch bevor die Sinne etwas
wahrnahmen.
Er starrte in der Dunkelheit gegen die Decke seiner
Kajüte und lauschte. Gleich darauf hob sich etwas aus
dem Wasser, und das Schiff schwankte kaum merklich.
Er wartete auf die hastigen Schritte der Wachen. Aber
sie blieben aus.
Fluchend tastete er nach seinem Gürtel und zog das
schmale, zweischneidige Schwert aus der Hülle. Er
zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß der
nächtliche Besuch ihm galt. Es mochte eine ganze
Menge Leute geben, die ihm an den Kragen wollten.
In erster Linie der König, dem Jaggar nun ein
lästiger Zeuge seiner Unterredung mit dem
Schlangenpriester sein mußte!
Im gleichen Augenblick wußte er auch, warum die
Wachen sich nicht rührten. Wenn der Anschlag vom
König ausging, dann war Galis darauf vorbereitet und
hatte dafür gesorgt, daß es keine Hindernisse gab.
Ein leises Scharren an der Bordwand ließ erkennen,
daß der Eindringling die Reling erreicht hatte und
überkletterte. Noch immer schwankte das Schiff leicht
gegen die Bewegung der Wellen. Mehrere waren es
also, die kamen. Er tastete rasch nach seinen
Beinkleidern und zog sie an. Dann sein Hemd, das er
mit dem breiten Gürtel um die Mitte band. Er
vergewisserte sich, ob sein Messer im Gürtel steckte.
Wieder erklang das Scharren und sagte ihm, daß es
höchste Eile war, etwas zu unternehmen.
Mit der Klinge blank in der Rechten tastete er sich
vorsichtig zur Kajütentür. Auf dem Niedergang war
noch alles still. Er lächelte grimmig. Vermutlich
warteten sie, bis sie alle beisammen waren.
Er öffnete die Tür und starrte ins Freie. Der helle
Himmel ließ ihn alles gut sehen. Rasch schlüpfte er
hinaus. Sich in einer der Mannschaftskabinen zu
verbergen, bedeutete nur einen Aufschub. Er mußte an
Deck.
Vorsichtig schlich er die Treppe hoch und riskierte
einen Blick über Deck. Niemand zu sehen. Alles war
ruhig. Er zögerte keinen Augenblick. Die Klinge an den
Leib haltend, damit sie nicht verräterisch im Mondlicht
aufblitzte, erreichte er mit zwei Sprüngen den
Großmast, in dessen Schatten er so gut wie unsichtbar
war. Das Deck war leer, aber Geräusche kamen vom
Bug
her – flüsternde Stimmen. Dann sah er am Fockmast
mehrere Gestalten auftauchen. Er zählte ein halbes
Dutzend, als sie an ihm vorbeischlichen – auf die
Kajütentreppe zu. Er sah ihnen nach, bis sie alle
verschwunden waren, dann verließ er den Schatten des
Mastes und hastete auf die Treppen des Steuerhauses
zu.
Plötzlich sprang eine einzelne Gestalt über die
Reling und stellte sich ihm in den Weg. Sie hielt eine
krumme Klinge in der Faust und war nackt bis auf
enge, knielange Beinkleider, die vor Nässe troffen.
»Kapitän Jaggar«, rief die Gestalt halblaut.
Jaggar erkannte sie an der Stimme wieder. »Wigor!«
entfuhr es ihm.
»Ja. Kapitän. Jetzt ist der Augenblick, für den Raub
an myranischen Küsten zu bezahlen. Erinnert Ihr Euch
nicht an Deyman, das Ihr vor acht Monden
plündertet?«
»Nein«, knurrte er und sah nervös zur
Kajütentreppe. Jeden Augenblick mußten die Männer
herausfinden, daß er sie übertölpelt hatte. Dann kamen
sie und fanden ihn hier, und er hatte noch einen
Gegner dazu.
Seine Klinge ruckte hoch, aber der Junge war auf der
Hut. Er sprang einen Schritt zurück.
»Was war in Deyman, an das ich mich erinnern
müßte?«
»Ihr habt drei Mädchen geraubt und zwei Männer
erschlagen!« Die Stimme des Jungen zitterte.
»Wenn ich Männer erschlug, dann war es im Kampf.
Und wenn ich Mädchen raubte, dann weil sie schön
waren und gutes Gold brachten. Was wirfst du mir also
vor?«
»Eines dieser Mädchen war mir versprochen«, sagte
der Junge langsam, als wollte er die Worte gut
einwirken lassen. »Und einer der Männer war mein
Bruder! Und Ihr werdet jetzt für beide bezahlen!«
Er sprang vor und schwang die Klinge. Jaggar
parierte nicht, um seine anderen Widersacher durch
das Klirren der Schwerter nicht aufmerksam zu
machen. Er wich zurück. »Warte!« sagte er rasch. Der
Junge hielt zögernd inne. »Ihr könnt Euer Leben nicht
mehr erkaufen, Kapitän. Ich bin ein halbes Jahr hinter
Euch hergefahren, um es zu nehmen. Eures gegen
meines!« Er wollte erneut auf Jaggar eindringen. Der
wich wiederum zurück. »Warte, bei Kelim! Hör mich
an!«
»Ich höre, Kapitän!«
»Still!« zischte Jaggar. Er deutete in die Richtung der
Kajüte. »Wenn du deine Rache haben willst, dann mußt
du sie dir erkaufen. Du bist nicht der einzige Feind,
den ich in dieser Nacht habe. Ein halbes Dutzend
Schergen eines größeren Feindes wird mein Bett in
diesem Augenblick leer finden. Horch!«
»Ihr meint, sie wollen Euch ermorden? Im Bett?«
fragte der Junge ungläubig und mißtrauisch.
»Wolltest du das nicht auch? Bist du nicht bei Nacht
auf mein Schiff geklettert?« fragte Jaggar unwillig.
»Ja, ich will Euch töten. Aber nicht im Bett und nicht
von hinten, wenn Ihr Euch stellt ...«
»Also gut, ich werde mich stellen. Nachher, wenn
der König nicht seine besten Schergen geschickt hat ...«
»Der König?« entfuhr es dem Jungen. »Der König
trachtet Euch nach dem Leben ...?«
»Allerdings. Ich denke nicht, daß ich mich täusche.
Es ist im Grunde einerlei. Wenn du wirklich auf einen
ehrlichen Kampf erpicht bist, dann bleib meinem
Rücken fern, so lange ich mit diesem Gesindel
beschäftigt bin!«
»O nein!« rief der Junge halblaut. »Ich fahre nicht ein
halbes Jahr hinter Euch her, auf Schiffen, die mich halb
blind vor Übelkeit gemacht haben, nur um dann
zuzusehen, wie Euch jemand vor meinen Augen ab ...«
Das Wort erstarb ihm in der Kehle. Er war in seiner
Erregung für einen Augenblick unbedacht geworden,
und Jaggar hatte den Moment genützt. Mit einer
raschen Bewegung ergriff er den Schwertarm des
Jungen und hielt ihm die Klinge an die Kehle.
»Du bist jung und unvorsichtig. Und so wirst du
nicht sehr alt werden.« Er betrachtete das totenblasse
Gesicht des Jungen und wußte, daß es nicht besser war,
wenn er zustieß, als das, was des Königs Männer
vorhatten: Mord.
Tumult drang aus dem Unterdeck. »Wie ist es?
Kämpfst du an meiner Seite gegen diese Brut, oder ...«
»Das war es, was ich vorschlagen wollte«, würgte
Wigor hervor.
Jaggar ließ ihn los und drängte ihn in den Schatten
des Mastes zurück. »Bleib in Deckung«, flüsterte er.
»Sie sollen nicht gleich sehen, daß sie es mit zweien zu
tun haben.«
Dann stürmten die ersten die Treppe hoch und
sprangen an Deck.
»Ihr sucht mich, wenn ich recht geraten habe!« sagte
Jaggar laut, daß es über das nächtliche Deck hallte.
Einen Moment standen die Gestalten überrascht
still.
Dann kamen sie näher – zögernd, als scheuten sie
davor zurück, ihr Opfer hier im offenen anzugreifen,
wo es nicht ohne Zeugen bleiben würde, als wären sie
unsicher, wie ihr Auftraggeber in diesem Fall
entscheiden würde.
Dann aber rief einer ein paar Worte und stürmte auf
Jaggar los. Sein Schwert blitzte im Mondlicht auf, als es
in seitlichem Bogen herabkam. Jaggar parierte mit dem
Entermesser und stach mit seiner geraden Klinge zu.
Mehrere Aufschreie folgten. Einer aus Schmerz, der
röchelnd verklang. Die anderen aus Wut von der
Kajütentreppe her. Im nächsten Augenblick knarrten
die Bohlen, als sie mit blitzenden Klingen auf ihn
zuliefen. Alle Lautlosigkeit und Vorsicht war
vergessen. Nur die Wut über den Verlust des
Gefährten beherrschte die Angreifer. Gleichzeitig
drangen sie auf ihn ein, aber sie sahen plötzlich zwei
Gegner vor sich, als Wigor aus dem Schatten sprang.
Sie zögerten überrascht. Jaggar nützte den Moment.
Sein Schwert zuckte vor – biß in einen der Leiber.
Der Mann fiel mit einem Aufschrei. Mit erneuter
Wut drangen die nächtlichen Angreifer auf sie ein. Vier
gegen zwei. Jaggar sah aus den Augenwinkeln, daß der
junge Wigor wie ein Teufel focht, um die beiden
bulligen Angreifer abzuwehren. Dann war er mit
seinen eigenen Gegnern beschäftigt. Sie behinderten
einander selbst ein wenig, aber die Dunkelheit war auf
ihrer Seite. Es war schwer, die Schwerter zu sehen und
zu parieren. Langsam wich er zur Reling zurück, damit
sein Rücken frei blieb. Er hörte einen Aufschrei und
sah, daß die anderen den Jungen in die Enge getrieben
hatten.
»Ich komme!« rief er und sprang auf seine
Widersacher los. Einen hieb er nieder. Der zweite traf
ihn am Arm und schnitt tief. Jaggar sah den Triumph
in den Augen des anderen. In diesem Augenblick
wurde das Schiff lebendig. Männer krabbelten
schlaftrunken aus dem Unterdeck hervor, halbnackt
und unbewaffnet bis auf den einen oder anderen, der
sich mit dem Messer schlafen legte. Aber allein ihre
Zahl wirkte auf die gedungenen Mörder alarmierend.
Zwei ergriffen die Flucht und stürzten sich über die
Reling in die Fluten. Der dritte stand über dem hilflos
am Boden liegenden Wigor und wollte es sich nicht
nehmen lassen, den tödlichen Stoß zu Ende zu bringen.
»Hund!« rief Jaggar. Sein Messer flog und fand sein
Ziel. Die hochaufgerichtete Gestalt schien sich unter
dem Anprall noch zu strecken. Das erhobene Schwert
beschrieb einen weiten Bogen nach vorn und entfiel der
kraftlosen Faust. Mit lautem Klirren schlitterte es über
das Deck, als die Gestalt über den Jungen fiel.
Während die Männer der Besatzung Fackeln
herbeiholten und aufgeregt über das Deck schwärmten,
fühlte Jaggar, wie sein Arm zu schmerzen begann. Blut
floß warm über die Haut. Er schlitzte den Ärmel seines
Hemdes, während er auf Wigor zuschritt, und wickelte
ihn straff um die Wunde. Der Junge rappelte sich
benommen hoch.
»Die Taue«, stammelte er.»Ich stolperte über die
Taue ...« Er starrte auf den Griff des Messers, der aus
dem Rücken des Toten ragte, der ihm beinahe selbst
den Tod gebracht hätte.
Jaggar grinste. »Du siehst, man kann sich die Art zu
kämpfen nicht immer aussuchen.« Wigor nickte bleich.
»Merk es dir. Ich bin mit dem Dolch so rasch wie mit
dem Schwert! Aber jetzt wollen wir sehen, wer unsere
nächtlichen Besucher waren.«
Das Schiff beleuchtete den halben Kai mit dem
Lichtschein seiner Fackeln. Jaggar gab Befehl, alle bis
auf zwei oder drei zu löschen. Zu gut hatten sonst ein
paar Bogenschützen aus dem Hinterhalt das Werk
vollbringen können, an dem die nächtlichen
Meuchelmörder gescheitert waren. Er gab dem
Steuermann Anweisung, nach den Männern zu suchen,
die zur Zeit des Überfalls Wache hatten.
Sie wurden auch gleich darauf im Laderaum
entdeckt, bewußtlos und gut verschnürt. Jemand hatte
viel Zeit dazu gehabt. Galis war nicht an Bord, wie sich
herausstellte. Aber es fehlten auch noch drei andere
Männer, die den Landurlaub bei ihren Familien in
Candis verbrachten.
Die vier Leichen an Bord waren unbekannte
Männer. Keiner der Besatzung hatte sie je zuvor
gesehen, wenigstens konnten sie sich nicht erinnern.
Sie trugen die typische Candiser Kleidung, ein
sackartiges Gewand, um die Mitte mit einem Gürtel
gerafft. Sie waren barfuß und ohne Kopfbedeckung.
Nichts wies auf ihren Auftraggeber hin. Mißmutig
befahl Jaggar, sie ins Meer zu werfen und dafür zu
sorgen, daß sie unten blieben. Dann wies er zwei seiner
Bootsleute an, einen Heilkundigen aus der Stadt zu
holen, der nach seinem Arm sehen sollte. Die Wunde
war recht tief, und es gab Kräuter, die den Schmerz
lindern konnten.
»Nun, wie ist es mit unserem Kampf?« fragte er den
Jungen.
Wigor schüttelte den Kopf, »Ich bin in Eurer
Schuld.«
»Und ich in deiner. Ich schlage vor, wir verschieben
unseren Streit, bis wir Zeit und Muße dafür haben«,
meinte Jaggar bereitwillig. Der Junge gefiel ihm. »Einen
wie dich könnte ich brauchen. Eine Klinge, auf die ich
mich verlassen kann, wenn sie auch noch ein wenig
unerfahren ist. An meiner Seite wird sie lernen, was ihr
noch fehlt ...!«
»Um zu rauben und zu plündern?« fragte Wigor
bitter.
Jaggar lachte. »Um Beute zu machen«, sagte er
zustimmend. »Und du sollst deinen guten Anteil
davon haben ...«
»Seht Ihr denn nicht, daß ich das nicht kann? Daß es
mir von ganzem Herzen widerstrebt?«
Jaggar zuckte die Schultern. »Wir wollen es bei Wein
besprechen. Es wird noch eine Weile dauern, bis der
Heiler kommt. Sei mein Gast.« Er deutete auf die
Kajütentreppe. »Du mußt mir mehr von deiner Braut
erzählen, Junge. Sicher werde ich mich an sie
erinnern.«
Sie stiegen hinab, und im Licht der entzündeten
Öllampe sah Jaggar, daß die ganze Kabine durchwühlt
worden war. Die Decken zeigten deutlich, daß mehrere
Klingen in das Bett gefahren waren.
»Mörderpack!« murmelte Jaggar angewidert.
Der Junge starrte entsetzt auf die Löcher in den
Decken und der Unterlage. Jaggar sah, daß er sein
Narrenkostüm abgelegt hatte. In der einfachen
Candiser Kleidung sah er noch jünger aus.
Der Steuermann kam den Niedergang herab.
»Käpt‘n! Glaubst du nicht, es wäre besser, außerhalb
der Bucht zu ankern?«
»Nein, Megil. Ich denke, daß es genügt, wenn wir
die Wachen verdoppeln. Sage den Kanaken, daß ich sie
an den Mast knüpfe, wenn sie sich noch einmal
übertölpeln lassen. Und schick Galis zu mir, sobald er
an Bord kommt. Ich möchte doch zu gern hören, was er
von der Sache hält.«
»Aye, Käpt‘n.«
»Ah, Megil. Haben wir noch Schiffskleidung an
Bord?«
Der Steuermann nickte.
»Bring mir Beinkleider, die ihm passen.« Jaggar
deutete auf den Jungen. »Und Torquis soll ihm einen
Gürtel schneiden. Man soll sehen, daß er kein Fremder
ist, sondern einer der unseren ...«
»Aye, Käpt‘n.« Der Steuermann verschwand.
»Kapitän«, widersprach Wigor. »Es scheint mir, Ihr
habt nicht verstanden, was ich vorhin sagte, nämlich
daß ich ...«
»Daß du nicht mit mir auf Beutezug gehen willst.
Doch, das habe ich verstanden. Und jetzt hör mich
genau an, du Edelmann. Du bist hier in Feindesland
...!«
»In Feindesland?« wiederholte der Junge.
»Mhm. In wenigen Tagen wird König Jellis mit einer
gewaltigen Flotte nach Myra segeln. Und wie ich ihn
kenne, wird er rechtzeitig beginnen, das Feuer zu
schüren, das die Bevölkerung der Insel für seine Pläne
begeistert. Was denkst du, wo du endest, wenn je einer
auf den Verdacht kommt, daß du aus Myra stammst?«
Der Junge schwieg. Er war bleich.
»Im Teich der Krokodile«, fuhr Jaggar ungerührt
fort. »Und sie sind immer hungrig.«
»Krieg zwischen Myra und der Schlangeninsel!«
stieß Wigor hervor. »Und Zogor ist noch im Kampf
gegen Urgor!«
Jaggar lachte. »Du mußt in der Tat eine Weile von
zu Hause fortgewesen sein. Zogor ist längst geschlagen
...!«
»Zogor geschlagen? Über fünfhundert
Hundertschaften geschlagen? So ist dieser Dragon ...?«
»Ganz recht, junger Freund. Dragon herrscht über
Myra. Das ändert die Situation, nicht wahr?«
Wigor schien ihn gar nicht zu hören. Er mußte sich
erst mit der ungeheuerlichen Tatsache vertraut
machen, daß Zogor und das gewaltige myranische
Heer geschlagen waren. Nicht daß einer seines Dorfes
König Zogor Verehrung oder Sympathie
entgegengebracht hätte. Daß jemand es vollbracht
haben sollte, dieses reiche, starke Myranien zu erobern
und Zogor von seinem blutigen Thron zu fegen, konnte
er nicht fassen. Aber es änderte nichts. Deyna war seine
Heimat, egal, wer sie regierte. Es konnte nur zum
Besseren kommen. Und nun griff Jellis diesen Dragon
an, der vielleicht noch an den Wunden des Krieges
leckte und schwach war ...
Das mußte alles erst verdaut werden. König Jellis, so
sagten die Menschen hier auf der Insel, war willkürlich
und grausam. Das würde bedeuten, daß ein Zogor den
anderen ablöste! Von Dragon wußte er wenig. Gab es
überhaupt andere als willkürliche, grausame Könige?
»Also, wie ist es?« fragte Jaggar. »So lange du auf
der Insel weilst, bist du einer von der Wellenreiterin.
Du hast keine Feinde, außer meinen ...«
Wigor grinste zum erstenmal. Es war ein
Zugeständnis. »Sie sind nicht gerade wenige, Eure
Feinde«, meinte er. »An sämtlichen Küsten sitzen
welche, und im Heimathafen lauert der König selbst
auf Euch. Aber solange der König unser gemeinsamer
Feind ist, nehme ich Euer Angebot dankend an und
leihe Euch meine Klinge, die noch einen guten
Lehrmeister braucht.«
Jaggar nickte erfreut. »Wir werden gemeinsam nach
Myra fahren. Dort magst du dich auf die andere Seite
schlagen. Diese Gelegenheit will ich dir gern
verschaffen. Und sollten wir uns dann
gegenüberstehen, so ist der rechte Augenblick für das
Eisen.« Er schlug gegen den Griff seines Schwertes.
»Abgemacht?« Er hielt dem Jungen die unverletzte
Rechte hin, die dieser enthusiastisch ergriff.
»Aye, Käpt‘n!«
»Deinen Namen werden wir ändern müssen«,
überlegte Jaggar. »Jeder würde sonst wissen, daß du
nicht von der Insel bist. Ich werde der Mannschaft
sagen, daß du Wiquin heißt, so ist zumindest ein wenig
von deinem Namen erhalten.«
Schritte näherten sich über die Treppe. »Das wird
der Heiler sein«, sagte Jaggar. »Sei schweigsam und
einsilbig. An der Sprache würde dich jeder erkennen,
obwohl es auch einige Stämme auf der Insel gibt, in
den Bergen im Westen, die anders sprechen als wir.«
Jemand pochte an die Tür. »Galis ist hier, Käpt‘n!«
Das war die Stimme des Steuermanns.
»Herein mit ihm!« brüllte Jaggar.
Die Tür flog auf, und der Bootsmann der
Wellenreiterin trat ein. Seine grobschlächtigen Züge
waren angespannt. Sein rechtes Handgelenk hatte er
mit einem Tuch umwunden, an dem ein roter Blutfleck
sichtbar war.
»Käpt‘n?« Es klang unsicher.
»Seit wann bist du vom Schiff?« fragte Jaggar
barsch.
»Seit Stunden«, erwiderte der Bootsmann.
Jaggar sah ihn grimmig an. »Du glaubst mir nicht,
Käpt‘n?« fragte Galis. »Quelim, der Wirt, wird es dir
bestätigen ...«
»Und das?« Jaggar deutete auf die Wunde an der
Hand. »Ich hatte Streit«, erwiderte Galis. »Das sehe
ich«, bemerkte Jaggar trocken. »Hat man dir
inzwischen berichtet, was geschehen ist?«
Galis nickte zögernd. »Es gab einen Überfall?«
»Den gab es«, bekräftigte Jaggar. »Und einer auf
dem Schiff muß ein Verräter sein. Der gleiche, der die
Wachen überwältigte und in den Laderaum schloß.
Hast du jemanden in Verdacht, Bootsmann?«
Um die Mundwinkel des Mannes zuckte es. »Ich
war nicht an Bord, Käpt‘n. Nein, ich weiß nicht, wer
diese Schweinerei begangen haben soll ...«
»Natürlich, ich vergaß, daß du nicht an Bord warst.
Du wirst jetzt die Aufsicht über die Bordwachen
übernehmen, und ich hänge dich eigenhändig an den
Großmast, wenn es in dieser Nacht noch zu einem
einzigen Zwischenfall kommt. Klar. Bootsmann?«
»Aye, Käpt‘n«, knirschte Galis und verließ die
Kajüte.
Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte,
entfuhr es Wigor: »Käpt‘n Jaggar, dieser Mann war ...«
Der Kapitän legte warnend den Finger an die
Lippen. Wigor schwieg. Als Jaggar zur Tür schritt,
entfernten sich draußen hastig Schritte über die Treppe
ans Deck. Jaggar grinste, aber seine Fäuste waren
geballt. »Eines Tages werde ich ihm den Hals
umdrehen, auch wenn er des Königs Schurke ist!«
»Käpt‘n, der Mann war vorhin dabei. Er gehörte zu
den Angreifern!«
Jaggar fuhr herum. »Bist du sicher? Hast du sein
Gesicht erkannt?«
»Nein.« Wigor schüttelte den Kopf. »Aber ich
verwundete einen am Gelenk der rechten Hand.«
Jaggar schritt nachdenklich auf und ab. »Galis selbst
also tut die schmutzige Arbeit. Dann besteht kein
Zweifel, daß der König dahintersteckt.« Er wandte sich
an den Jungen. »Ich habe einen Auftrag für dich. Aber
es wird nicht leicht sein!«
»Das ist mir recht, Käpt‘n.«
»Behalte Galis im Auge. Tag und Nacht. Folge ihm,
wenn er an Land geht. Finde heraus, mit wem er sich
trifft. Und töte ihn, wenn du sicher bist, daß er neuen
Verrat plant ...«
»Töten?« entfuhr es Wigor.
»Es ist der einzige Weg. Der König würde niemals
dulden, daß ich Galis aus meiner Mannschaft entlasse.«
»Aber der König wird einen neuen Mann finden«,
wandte der Junge ein.
Jaggar nickte. »Möglich. Aber er hat nicht mehr viel
Zeit. Wir werden bald auf dem Weg nach Myra sein,
wenn ich die Lage recht einschätze. Serphats Einfluß
wird gewaltig sein, und des Königs Gier wird siegen,
all meinen Warnungen zum Trotz ...«
»Wer ist dieser Serphat?«
»Diese Schlange«, erklärte Jaggar, »die gestern aus
dem Meer stieg und dir die Chance zur Flucht gab, sie
ist Serphat.«
»Aber was hat der König mit einer Schlange zu
schaffen, und welchen Einfluß sollte sie ...?«
»Du wirst alles am Morgen selbst sehen. Bei
Sonnenaufgang in Minos Tempel, mein Junge. Und es
scheint, als würde es ein blutiges Fest werden.«
3.
Als die ersten Strahlen der Morgensonne über die
Berge der Schlangeninsel krochen und Candis und den
Hafen in ihr Licht tauchten, waren die meisten
Bewohner der Stadt schon auf den Beinen, um letzte
Vorbereitungen für das Fest Minos, des Stieres, zu
treffen.
Aber diese Vorbereitungen wurden unterbrochen
durch ein Schauspiel, das einige schon am Vortag
gesehen hatten. Vom offenen Meer her tauchte
rhythmisch der gewaltige Leib einer Schlange. Die
Mutigeren unter den Zuschauern, die das alles schon
gesehen hatten, liefen auf den Kai zu. Die anderen
wichen langsam zu den Häusern zurück. Diese
Atemlosigkeit, mit der Serphat bei seiner ersten
Ankunft begrüßt worden war, stellte sich nicht mehr
ein. Aber immer noch war es ein großer Zauber, der
geschah, und er beeindruckte die Menschen tief.
Als Serphat schließlich in seiner menschlichen
Gestalt aus dem Wasser stieg, ging ein Raunen durch
die Menge.
Er breitete die Arme aus und rief: »Ich bin Serphat,
der Oberste Priester der Mis, Beherrscherin der Insel.
Ich bin gekommen, um ihre Macht zu zeigen, damit die
Priester des Mino ihr Haupt neigen vor Mis.«
Erneut ging ein Raunen durch die Menge, heftiger,
erregter diesmal. Das war eine Herausforderung an
ihren Gott.
Der alte Priester schritt quer über den leeren Platz
und schlug die Richtung zum Palast ein. Zögernd
folgte ihm die Menge. Die Vorbereitungen zum Fest
waren vergessen. Sie alle spürten, daß etwas geschehen
würde.
Jaggar und Wigor und einige der Bootsleute der
Schwarzen Wellenreiterin starrten ihnen nach.
»Narren!« sagte Jaggar. »Schon rennen sie hinter
ihm her!«
»Aus Neugier wohl nur«, meinte Wigor.
»So beginnen alle Dinge. Die Neugier ist ein Fluch.«
Er grinste. »Dennoch werden wir uns dem Pöbel
anschließen. Es mag ein Schauspiel werden, an das wir
uns lange erinnern.«
»Doch neugierig?« spottete Wigor.
Jaggar nickte. »Aber ich fürchte, daß es nichts Gutes
sein wird, das wir zu sehen bekommen. Und ich irre
mich nicht oft. Es steckt mir in den Knochen, Megil!«
»Käpt‘n?«
»Halte die Wellenreiterin zum Auslaufen bereit.
Und ich meine zum Auslaufen, verstehst du mich? Es
mag sein, daß wir es verdammt eilig haben werden!«
»Aye, Käpt‘n«, sagte der Steuermann, aber es klang
ein wenig verwundert, und wohl auch enttäuscht, daß
er mit dem Großteil der Mannschaft hier auf dem Schiff
bleiben mußte. Die Erntefestlichkeiten zu Ehren Minos
waren immer eine große Volksbelustigung, bei der
jeder auf seine Rechnung kam: der Fromme wie der
Säufer und der Raufbold wie der Weiberheld. Und kein
Magen blieb hungrig. Es währte alles bis spät in die
Nacht hinein.
»Wir nehmen zehn der Männer mit. Zehn, die du
entbehren kannst.«
»Aye, Käpt‘n.«
»Galis kommt mit. Ich möchte ihn im Auge
behalten.«
»Aye, aye.«
Die Menschen hatten den Palast erreicht.
Als Jaggar und seine Begleiter dort ankamen,
wurden die Tore geöffnet.
»Sie lassen sie hinein. Das ist seltsam«, entfuhr es
Jaggar. »Noch nie zuvor durften die Bürger in den
Palastpark. Es gefällt mir nicht.«
Sie ließen sich von der Menge vorwärtsdrängen.
Hier, mitten unter den Leuten, würden sie nicht
auffallen. Dann erkannte der Kapitän, wohin die
Menschen drängten, wohin die Wachen sie führten.
Das Platschen von aufgewühltem Wasser war deutlich
genug zu hören.
Vor dem riesigen Becken hielten sie an. Rundherum
standen die Bürger Candis‘ dicht gedrängt, während
vor ihnen im grünlich trüben Wasser die riesigen
Krokodile, Jellis‘ besondere Lieblinge, die ihm den
Henker sparten, mit zunehmender Erregung ihre
gewaltigen Kiefer ans Ufer heranschoben – und das mit
hungrigem Schnappen.
Ungewöhnlich groß waren diese Bestien – mehr als
vier Manneslängen maßen die meisten von ihnen.
Woher der König die Tiere erhalten hatte, wußte
niemand. Die meisten hatten sie noch niemals zuvor
gesehen, obwohl jeder wußte, daß es sie gab. Sie waren
ein Teil des Gesetzes auf der Insel. Nur wenige, die sie
sahen, blieben am Leben.
Gleich darauf wurde offenbar, warum der König
beschlossen hatte, das Volk in den Palastgarten zu
lassen. Der Priester der Mis war an seiner Seite.
Irgendein Schauspiel stand bevor, daran zweifelte
Jaggar nicht. Vielleicht eine öffentliche Hinrichtung. Er
schüttelte sich unwillkürlich. War das bereits das Ende
des minoischen Kultes?
Dann sah Jaggar etwas, das ihn erstarren ließ. Ein
Junge hatte sich zu weit an den Rand des Beckens
gewagt. Er beobachtete zwei der Krokodile, die ruhig
an der Oberfläche lagen. Und er übersah ein drittes,
das mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zuschoß.
Niemand schien es zu bemerken. Aller
Aufmerksamkeit war auf den Priester und den König
gerichtet, die in einem Spalier von Wachen auf den
Teich zuschritten.
Jaggar wollte schreien, aber es war bereits zu spät.
Der große schuppige Rachen glitt blitzschnell aus dem
Wasser. Er faßte den Jungen, der noch im letzten
Augenblick aufspringen wollte, an den Beinen und glitt
mit ihm zurück in die schäumenden Fluten.
Ein vielstimmiger Schrei übertönte den des Jungen.
Er tauchte gleich darauf auf, schlug wild mit den
Armen. Hinter ihm färbte sich das Wasser rot, wo einst
seine Beine gewesen sein mochten. Vier oder fünf der
Tiere schossen wie Pfeile auf ihn zu und rissen ihn
buchstäblich vor aller Augen auseinander.
Von Entsetzen gepackt, wich die Menge von dem
Becken zurück. Die Tiere peitschten durch das Wasser.
Ihr mörderischer Appetit war durch das Blut geweckt.
Nur zwei Personen schienen von dem grauenvollen
Schauspiel unberührt. Der Priester war der eine. Und
der König der andere. Aber für ihn war es nicht neu.
Eine Frau, offenbar die Mutter des Jungen, stürzte
aus der Menge nach vorn. Mehrere hielten sie auf. Aber
sie war wie besessen. Einige des Königs Wachen eilten
herbei, ergriffen die Frau und brachten die
Widerstrebende vor den König. Dort sank sie vor ihm
auf den Boden. Sie verschwand aus Jaggars Blickfeld.
Es war ihm, als vernähme er ihre schrille,
schmerzerfüllte Stimme. Kurz darauf sah er, wie die
Wachen sie aus dem Palast führten. Jellis und der
Priester aber traten, umgeben von einem Ring von
Wachen, an den Rand des Beckens.
Der König breitete die Arme aus, und es wurde still
im Park bis auf die Bewegung im Wasser. Die Tiere
schwammen unruhig hin und her, als ahnten sie, was
bevorstand.
»Hört mich an, Bürger von Candis. Dies ist der
Priester der Mis, der Göttin, die es verdiente, in aller
unserer Herzen zu sein. Ihre Altäre sind zu Staub
zerfallen, aber sie wurde nie wirklich vergessen. Ihre
Macht ist ohnegleichen, wenn die Worte ihres Priesters
die Wahrheit sind. Deshalb sind wir hier versammelt –
um zu sehen, ob er die Wahrheit spricht. Er mag uns
Mis‘ Macht zeigen, wenn er durch dieses Becken
schreitet.«
Aufgeregtes Raunen ging durch die Menge. Als
wieder Stille eingetreten war, fuhr Jellis fort: »Was sagt
ihr? Wäre das Beweis genug? Würdet ihr solch einer
Göttin folgen?«
Zustimmung kam erst zögernd aus der Masse.
Vielleicht hatten die wenigsten die Absicht, ihre
Gottheit zu wechseln, dachte Jaggar. Aber das
Schauspiel lockte. Man wollte sehen, wie der Fremde
hineinstieg zu diesen Ungetümen, die eben einen
Jungen verschlungen hatten.
Ein zustimmender Sturm brach los unter der Menge.
Damit sprach sie ihr eigenes Urteil und wahrscheinlich
das von Minos‘ Tod, grübelte Jaggar. Dann sah er
selbst gespannt zu, wie der alte Priester in das Becken
zu steigen begann.
Er stand bis zur Mitte seines Körpers im Wasser, als
die erste der Bestien auf ihn zuschoß. Die Menge
stöhnte auf. Jetzt, jetzt mußte er untergehen. Ein Fleck
von Blut an der Oberfläche würde alles sein, was von
ihm und seiner Göttin blieb.
Da geschah etwas Seltsames: Ein heller
schlangenartiger Arm griff nach dem Tier und
umschlang seinen Rachen. Er zog es nach unten,
während der Priester ruhig weiterschritt.
Das Wasser wurde aufgewühlt vom peitschenden
Schwanz der ertrinkenden Bestie. Die Menge hielt den
Atem an.
Zwei weitere Krokodile witterten die willkommene
Beute und glitten im aufschäumenden Wasser auf den
Priester zu. Wiederum hoben sich schlangenartige
Arme aus dem Wasser, schnappten nach den
angreifenden Tieren, als diese den Rachen öffnen
wollten, und rissen sie mit unglaublicher Gewalt unter
das Wasser.
Jaggar sah, daß selbst der König fasziniert auf das
Geschehen starrte.
Es war unfaßbar. Immer wieder tauchten große
Schlangen aus dem Wasser auf und hielten die Bestien
von dem Priester fern. Mis selbst mußte ihren Priester
schützen. Mit eigener Hand, oder mit ihren
Geschöpfen.
Es war deutlich zu erkennen, daß mit jedem Schritt
des Priesters die Sympathien für ihn wuchsen. Als er
aus dem Becken stieg, war die Begeisterung ohne
Grenzen. Und wer noch immer seinen Augen nicht
trauen wollte, der konnte einen zweiten Blick auf die
treibenden Körper der toten Krokodile werfen.
Wigor starrte auf den Kapitän. »Ihr seid der einzige
hier, in dessen Gesicht noch Zweifel stehen. Haltet Ihr
es für einen Trick?«
Jaggar schüttelte sich. »Ich weiß nicht, wofür ich es
halte. Ich weiß nur eines, daß es so gut wie besiegelt ist,
daß wir Myra angreifen.«
Das Labyrinth lag weiß und blendend unter der
Mittagssonne. Es war das Symbol für die Irrwege des
Lebens, für die Gefahren, und für den einen rechten
Weg, der den Göttern gefällig war.
Sieben Eingänge besaß dieser steinerne Koloß, an
denen sieben Jungfrauen bereitstanden –
Priesterdienerinnen, die ihr heiliges Amt antraten.
Junge Männer machten sich bereit für den mutigen
Gang durch den steinernen Irrgarten, aus dem es nur
einen Ausgang gab, und in dem sie dem heiligen Stier
begegnen würden. Es war in alter Zeit ein Wettstreit
zwischen den einzelnen Sippen und Stämmen
gewesen, zu dem sie ihre Söhne schickten, wenn sie das
Mannesalter erreicht hatten. Früher war es ein
blutigeres Spiel gewesen, bei dem der Tod durch
Minos‘ Hörner nicht selten kam, und bei dem nur die
Klügsten und Tapfersten den Ausgang erreichten. Und
die Priester besaßen alte Schriften, die davon kündeten,
daß das Labyrinth einst ein Gottesurteil war, in dem
Minos selbst Tod oder Leben gab.
Aber die Jahrtausende hatten Minos‘ Glauben
verändert. Mit der Seßhaftwerdung der Stämme und
der friedlichen Besiedelung des Landes bekam auch
der Gott friedlichere Züge. Blut floß nur noch selten,
und was einst Gottesurteil gewesen sein mochte, war
nun eine Mutprobe, der sich keiner unter den jungen
Männern ausschloß, wenn er nicht Schande auf sich
laden wollte.
Das Labyrinth lag in einem ovalen Tal, dessen
felsige Wände flach genug anstiegen, daß die
Zuschauer sich Plätze zum Sitzen suchen konnten.
Dicht gedrängt saß der Großteil der Bevölkerung
Candis‘ bereits an den Hängen und starrte
erwartungsvoll hinab in das Labyrinth, das oben offen
war und Einblick bot in seine schmalen Korridore
zwischen den zwei Mann hohen Steinwänden. Man
konnte nur vereinzelt aus seitlichem Blickwinkel
Durchgänge erkennen, denn die Mauern selbst waren
nicht durchbrochen. Das Ganze sah aus wie ein großer
rechteckiger Kasten, der in kleinere regelmäßige
Rechtecke geteilt war. Man würde sowohl den Stier
wie auch die jungen Männer in den Kammern deutlich
verfolgen können.
Das Labyrinth war eine Arena. Hoch über dem Tal
stand Minos‘ Tempel, ein klotziger, ebenso rechteckiger
Bau mit Mauern aus dem gleichen hellen,
glattgemeißelten Stein wie der Irrgarten. Aus ihm
drang noch Singen, aber es war bereits der
triumphierende Schlußgesang, der hundertkehlige
Dank für die Ernte, die seit Jahren nicht mehr so reich
gewesen war. Minos war gut zu seinen Kindern
gewesen.
Als die Priester den Tempel verließen, führten sie
den heiligen Stier mit sich auf dem breiten Weg ins Tal
hinab. Er folgte ihnen ruhig, friedlich. Die Menschen
verstummten und folgten der Gruppe mit den Blicken
in die Arena hinab. Eine der Türen des Labyrinths
wurde geöffnet, und der Stier wurde mit Schreien ins
Innere gejagt.
Er kam mächtig in Schwung, prallte gegen die
Mauern und fand einen Weg beinah ins Zentrum,
bevor er sich beruhigte. Dort drehte er sich ein
paarmal, sah hoch, als das Stimmengewirr der
Zuschauer anschwoll und das kleine Tal erfüllte,
schüttelte sich und verharrte abwartend.
Die Spannung wuchs merklich.
Die Priester und ihre Dienerinnen führten die
jungen Männer zu den Eingängen.
Ein Hörnerstoß erklang vom Tempel. Ein zweiter.
Schweigen senkte sich langsam über die
Versammelten. Ein Priester hob ein kelchartiges Rohr
an den Mund und sprach hinein. Die Stimme hallte im
Tal wider, aber sie war deutlich zu verstehen.
Es war ein Gebet, mit dem er die Festlichkeiten
eröffnete. Dann hieß er alle willkommen und sprach
sein Bedauern darüber aus, daß nicht, wie in früheren
Jahren, alle gekommen waren. Er vermißte einen
großen Teil der Bewohner der Stadt und warnte vor
dem Priester der Schlange, der am Vortag nach Candis
gekommen war, und der Krieg im Herzen trug.
Stimmengewirr brandete auf. Die Versammelten
hörten mit wenigen Ausnahmen zum erstenmal von
der Ankunft Serphats. Die meisten waren von den
umliegenden Dörfern gekommen. Die Hörner
erklangen erneut – bis Stille eintrat.
Der Priester sprach wieder. Er warnte eindringlich
vor dem Gift der Schlange und vor falschen Wundern,
die zu Krieg und Macht verleiten sollten.
Dann gab er das Zeichen zum Beginn.
Die Mädchen schoben die Männer in das Labyrinth
und verschlossen die Türen hinter ihnen. Einzelne
Gruppen begannen die aus der Höhe der Sitzplätze
winzig wirkenden Gestalten im Labyrinth anzufeuern.
Bald war das Tal erfüllt von Rufen und Schreien, das
sich orkanartig steigerte, wenn einer dem immer
unruhiger werdenden Stier zu nahe kam.
Als einer plötzlich dem Stier gegenüberstand,
erstarben die Stimmen. Das Tier scharrte mit den
Hufen. Es fühlte sich offenbar gefangen zwischen den
schmalen hohen Wänden. Und hier stand einer seiner
Peiniger vor ihm. Er kam in Bewegung, und als die
Gestalt zurückwich in den Seitengang, aus dem sie
gekommen war, folgte der Stier. Er senkte den Kopf
und griff an. Es gab kein Ausweichen und kein
Hochklettern an den glatten Wänden. Nur ein
Vorwärts oder Zurück.
Der Junge nahm die Beine in die Hand. Er schlüpfte
in einen Seitenkorridor und war ein wenig im Vorteil,
weil das Tier Zeit brauchte, seine Masse abzubremsen
und um die enge Kurve zu zwängen.
Der Junge blieb stehen, was ihm einen Beifallssturm
eintrug. Das schien ihn mutig zu machen. Er wartete,
bis das Tier die Hörner erneut zum Angriff senkte. Die
übrigen in den Nebenkammern des Irrgartens hatten
angehalten und lauschten.
Der Junge ging ein gewagtes Spiel ein – und hatte
Glück. Als der Stier heran war, griff er nach den
Hörnern und klammerte sich fest. Er zog sich hoch,
wurde gegen die Wände geschleudert, als der massige
Kopf des Tieres sich vergeblich schüttelte. Die Menge
schrie auf, als er abzugleiten drohte. Aber er kam
wieder hoch und glitt auf den dunklen Rücken, als der
Schädel des Stieres gegen die Wand prallte und den
Jungen zermalmt hätte.
Er klammerte sich einen Augenblick an das Fell, um
Atem zu schöpfen, während das Tier sich mehrmals
benommen schüttelte. Dann sprang er behende in den
Korridor hinter den Stier, der sich in dem engen Raum
nicht umdrehen konnte.
Donnernder Beifall belohnte den Jungen für seine
mutige Tat.
Ein dünner Ton von königlichen Trompeten drang
in die Arena. Der Beifall erstarb langsam. Die Gesichter
wandten sich nach oben. Im grellen Sonnenlicht kaum
zu erkennen, stiegen der König und sein Gefolge von
den Pferden. In der Stille schritten sie den Hang herab
zu den Plätzen, die ihnen vorbehalten waren.
Jellis sagte mit lauter Stimme: »Ist es, Anmaßung,
Priester des Minos, oder Mißachtung meiner Gewalt,
daß man das Fest ohne mein Beisein beginnt?«
Der Priester unten in der Arena ergriff wieder das
Rohr. »Du weißt, daß es nicht so ist, König. Aber
Minos‘ Geburt liegt um die Mittagsstunde des
Erntedanktages. Die Festlichkeiten beginnen jedes Jahr
zur selben Stunde. Dem Gesetz nach bist du der erste
Priester Minos! Er wird verzeihen, daß du seine ...«
»Schweig!« donnerte Jellis. Der Priester wußte, daß
er einen Fehler gemacht hatte, den König in aller
Öffentlichkeit zu rügen, aber es war zu spät für Reue.
»Hier an Minos‘ heiliger Stätte«, begann er erneut.
Der König hob die Hand, und der Talkessel war
plötzlich umringt von Männern der Palastwache. Sie
hielten den Pfeil an der Sehne. Der hundertfache Tod
ließ den Priester verstummen. Auch die Jungen im
Labyrinth sahen die schußbereiten Wachen hoch über
ihnen. Auch ihr Herz stand still. Sie waren ohne
Deckung, ohne Schutz. Jellis senkte die Hand. Die
Bogen spannten sich gleichzeitig. Und sangen
hundertfach.
Der Stier sank zu Boden – durchbohrt von hundert
gefiederten Schäften.
Kein Laut kam von unten. In die tödliche Stille sagte
der König: »Hiermit erkläre ich das Ende des
Stiergottes auf unserer Insel. Fortan soll bei Androhung
des Todes keiner meines Volkes mehr an seinen
Altären
opfern ...!«
»Frevler!« schrie der Priester. »Minos‘ Fluch über
dich!« Jellis‘ Hand zuckte erneut hoch! Aber der
Priester der Schlange kam ihm zuvor. Er sprang hinab
in die Arena, und kein Mensch hätte solch einen
Sprung überlebt. Er aber erhob sich unverletzt vor den
weit aufgerissenen Augen und zum Schrei geöffneten
Mündern der Menge. Eines seiner Beine verlängerte
sich blitzschnell, wurde zu einer silbernen, zuckenden
Schlange, die nach dem Priester Minos‘ griff, sich um
ihn wand.
Ein Stöhnen ging durch die Menge. Der Priester
versuchte sich zu befreien. Es war beinah etwas
Unmenschliches an der Art, wie er sich schüttelte – so,
als wäre etwas von der Kraft eines Bullen in ihm und
unbezwingbar. Aber dann fiel er und lag still.
»Zweifelt noch jemand am Tode Minos‘?« rief der
König nicht ohne Hohn.
Keine Antwort kam.
»Bis zur Dunkelheit«, fuhr er fort, »ist dieser Tempel
leer. So leer, daß nichts mehr an Minos erinnert. Ich
stehe in der Gunst Mis‘ der Schlange des Meeres, und
sie prophezeite mir die Herrschaft über die Gestade des
Großen Meeres. Mis‘ Priester werden fortan in diesem
Tempel sein. An ihren Altären werdet ihr opfern, oder
ein Meer von Blut wird fließen für die Schlange ...!«
Seine Hände wiesen nach oben, wo Serphat erschien in
Gestalt einer Schlange, die mit gefährlichem Zischen
sprach: »Dies ist die Insel der Schlange. Ihr seid in
meiner Welt. Und wohin die Wasser fließen, werdet ihr
meinen Namen tragen!«
Sie löste sich auf, und Serphat, der Priester, stand
auf dem Rand des Abhangs. Leidenschaft und Haß
ließen Serphats Stimme schwanken.
»Myras Gestade werden die ersten sein, die wir Mis
zu Füßen legen!«
Das Volk schwieg betroffen. Es war zu träge, um
aufzubegehren. Der König hatte immer entschieden.
Gelitten hatten nur einzelne. So war es auch jetzt
wieder. Sie waren auch beeindruckt von Serphats
Verwandlung. Sie würden nicht gegen eine Göttin
rebellieren, die so große Pläne mit dem König hatte.
Eroberungen brachten Reichtum. Die kargen Felder
liefen nicht fort. Wenn die Pläne der Götter
Eroberungen bedeuteten, dann würden sie erobern.
Warum am eigenen Boden Blut vergießen, weil die
Götter Streit hatten?
4.
Jellis hielt es nicht auf dem Thron. Immer wieder erhob
er sich und schritt grübelnd auf und ab. Er hatte das
Gefühl, einen Schritt zuviel getan zu haben, sicher, das
Volk rebellierte nicht offen! Noch nicht!
War es die plötzliche Begeisterung, die Aussicht auf
Reichtum und Macht, die ihn so sehr für die Ideen
dieses Priesters eingenommen hatten? Oder war es
mehr? Er fühlte sich unfrei in seiner Gegenwart. Er
dachte Dinge, die ihm fremd waren. Und er handelte
mit einer Plötzlichkeit, die ihn überraschte.
Gewiß; er war jähzornig, und die Wut ließ ihn
manchmal Dinge tun, die ihm später sinnlos
erschienen. Aber nun handelte er ohne Zorn und tat
Dinge, vor denen er zurückschreckte.
Es stimmte, Minos‘ Kult war ihm immer ein Dorn im
Auge gewesen, und früher oder später hätte er die
Priester fühlen lassen, daß sie ihm ein Ärgernis waren.
Aber das, was heute geschehen war ...!
Er hatte das plötzliche, lähmende Gefühl, daß er
nicht einen Bund mit den Göttern, sondern mit einem
Teufel geschlossen hatte, und daß dieser Teufel mehr
Macht über ihn besaß, als er gedacht hatte.
Nach allem, was vorgegangen war, konnte er nicht
sofort aufbrechen und Eroberungszüge beginnen. Er
hatte dem Volk mit seiner Willkür einen harten Schlag
versetzt, den es überraschend gut hingenommen hatte.
Nun galt es, es im Auge zu behalten und notfalls mit
harter Hand durchzugreifen. Wenn er nun fortsegelte,
mochte es gut und gern sein, daß er die Insel erobern
mußte, wenn er zurückkam. Welch ein Risiko!
Was drängte Serphat so sehr nach Myra, daß er
keine Stunde verlieren wollte? Wußte Mis wahrhaftig,
daß Myra schwach war?
Jaggar kam ihm in den Sinn. Jaggar hatte ihn
gewarnt davor. Er hatte Myra gesehen und die Küsten
ausgekundschaftet. Jaggar mochte vorsichtig sein und
vielleicht auch ein wenig übertreiben. Aber er war
nicht blind ...
Warum hatte er versucht, Jaggar zu töten?
Das war eine Frage, die ihm am meisten zu denken
gab. Jaggar war einer der besten Kapitäne der
Bruderschaft des Großen Meeres, auch wenn er Fehler
machte.
»Es ist seine verfluchte Vorsicht, die mich rasend
macht«, murmelte er. Aber er wußte auch, daß ihm
Jaggars Warnungen immer wieder zu denken gaben,
bis er selbst zögerte.
Jaggar war sein Vertrauter in vielen Dingen
gewesen. Er wußte viel, das gefährlich werden konnte,
wenn er sich ihn zum Feind machte.
Er wußte auch, daß Jaggar wenig Liebe für ihn hegte
und dennoch einer der loyalsten Männer der
Bruderschaft war. Warum nur wollte er ihn töten?
Er muß sterben, weil er Zweifel sät! Das war ein
seltsamer Gedanke, aber er schien vertraut. Als hätte er
ihn unbewußt schon einmal gedacht – in jenem
Augenblick, da er die Mörder dingte.
Daß sie versagt hatten, war erleichternd und
bedrohlich zugleich. In diesem Zwiespalt der
Empfindungen wurde ihm bewußt, daß er nicht mehr
allein war.
Serphat stand in der Tür.
Wie kalt seine Augen sind, dachte Jellis, als bemerke
er es zum erstenmal. Dann vergaß er den Gedanken. Er
begann einen Eifer, eine Begeisterung zu fühlen ...
Er lief dem Alten entgegen. »Serphat – wie stehen
die Dinge?«
»Gut, König«, erwiderte der Alte, ohne den Blick
von ihm zu lassen. »Deine Truppen sammeln sich
bereits westlich der Stadt. Achtzig Galeeren sind auf
dem Weg nach Candis. Und die Flotten deiner
Lehensstatthalter kommen deinem Befehl nach ...«
»Sie kommen meinem ...?« begann er verwundert. Er
konnte sich nicht entsinnen, einen entsprechenden
Befehl gegeben zu haben. Aber die Erinnerung
schwand rasch und machte der freudigen Erwartung
Platz. In ein, zwei Tagen würde die gesamte Flotte vor
Candis aufkreuzen, bereit, nach Myra zu segeln. Mit
Mis‘ Hilfe, dachte er. Mit Mis‘ Hilfe, echoten fremde
Gedanken.
Er wischte mit der Hand über seine Augen. Träumte
er am lichten Tag? Er sah, daß er allein war.
Es war besser, Jaggar zu beseitigen. Er war ein
Verräter! Er wiegelte die Kapitäne der Bruderschaft auf
gegen den Plan des Königs und Ersten Kapitäns! Der
Angriff auf Myra war zu wichtig. Nichts durfte ihn
gefährden. Auch keine Warnungen vor unerwarteter
myranischer Stärke. Diesmal durfte ihm Dragon nicht
entkommen! Die Fremdheit seiner Gedanken fiel ihm
nicht auf. Auch nicht, daß der Name Dragon ihn mit
leidenschaftlichem Haß erfüllte. Er wußte nur, daß er
handeln mußte.
Er ging zur Tür. »Wache!« rief er. Einer der beiden
Wachen kam herein. Er war so erstaunt über des
Königs Gesicht, das blaß war und abwesend, daß er
vergaß, Haltung anzunehmen.
Der König bemerkte es gar nicht.
»Laß mir Galis holen!« befahl er.
Wigor, oder Wiquin, wie ihn seine Gefährten auf der
Schwarzen Wellenreiterin nannten, saß auf einem
Stapel Taue und beobachtete Galis‘ mächtige Gestalt.
Seine Gedanken waren bei den Geschehnissen am
Mittag. Es war nicht so sehr der Tod des Priesters oder
des Stieres, der ihn bewegte, sondern diese
unheimliche Gestalt: Serphat.
War es nur ein Trick, ein Betrügen der Augen, oder
vermochte er sich wahrhaftig in eine Schlange zu
verwandeln? Eines war sicher: Er mußte Gewalt über
die Schlangen besitzen, vielleicht durch den starren
Blick seiner Augen, sonst hätte er den Teich der
Krokodile nicht lebend durchquert. Und wenn er den
bannenden Blick der Schlangen besaß, um wieviel
mehr mußte es ihm möglich sein, die Menschen um
sich in seinen Bann zu ziehen. Er nahm sich vor, dem
Blick dieser Augen auszuweichen, wenn er dem
Priester wieder begegnen sollte. Vielleicht war dann
die Wahrheit besser zu erkennen.
Nach allem, was geschehen war, würde Mis es nicht
schwer haben, die Insel in ihren Bann zu ziehen. Der
Gedanke ließ ihn schaudern. Der nächste Schritt –
Myra! Wenn es nur eine Möglichkeit gegeben hätte für
eine Warnung – für diesen Dragon!
Wenn er Jaggar dazu bringen könnte, daß er floh!
Der Kapitän war ein seltsamer Mann. Kein Teufel, wie
er einst gedacht hatte in jener schmerzlichen Stunde,
als Welora für immer verschwand, die als seine Braut
erkoren war.
Jaggar war überzeugt, daß es der König war, der ihn
töten lassen wollte. Und er floh nicht. Er fühlte
Loyalität zu diesem mörderischen König. Seine Ehre
stand auf dem Spiel – als Kapitän der Bruderschaft. Er
würde ein Gejagter sein, ein Ausgestoßener auf dem
Großen Meer.
Das alles verstand Wiquin, aber er verstand nicht,
warum Jaggar so sicher war, daß gerade der König ihn
töten wollte! Er seufzte. Er saß hier fest, und die Welt
war dabei, auseinanderzubrechen.
Zum Teil wenigstens.
Wenn der König wirklich darauf aus war, den
Kapitän zu töten, dann ließ er sich Zeit. Galis machte
nicht den Eindruck, als ob er etwas vorhatte. Es mochte
Täuschung sein, aber..
Jaggar kam aus der Kajüte und blickte mißmutig auf
die Bucht hinaus. Daß er hier festlag, gefiel ihm nicht,
das konnte Wiquin deutlich sehen.
Wiquin nickte grüßend.
Überraschend sagte Jaggar: »Wenn du je an Flucht
gedacht hast, Wiquin, dann ist es jetzt zu spät.
Wenigstens ein halbes Hundert Segel stehen vor der
Bucht.«
»Ich hab sie gesehen. Käpt‘n«, erwiderte der Junge.
Er gab sich einen Stoß. »Käpt‘n, ein paar Dinge lassen
mir keine Ruhe ...«
»Als da sind?« fragte Jaggar.
»Warum seid Ihr so sicher, daß es der König ist, der
Euch nach dem Leben trachtet?«
»Weil ich weiß, daß Galis im Palast war«, erwiderte
Jaggar unwillig.
»Das ist alles?« fragte der Junge ungläubig.
»Nein. Ich habe keine Feinde außer Jellis.«
»Seid Ihr dessen so sicher? Ein Pirat, ein Plünderer
wie Ihr ...!«
Jaggar sah ihn seltsam an. »Es mag sein, daß an
Myras Küsten viele gern meinen Kopf hätten. Aber hier
... Jellis ist der Erste Kapitän der Bruderschaft. Er
bestimmt. Aber die Bruderschaft weiß, daß ich in den
myranischen Gewässern Erkundigungen einzog. Sie
wird meinen Bericht hören wollen. Der fällt nicht sehr
günstig aus, denn ich habe erfahren, daß Myra stark ist
...«
»Kann sich die Bruderschaft gegen den König
stellen?« warf Wiquin ein.
Jaggar schüttelte den Kopf. »Nein. Aber sie ist nicht
ohne Einfluß. Das kann für den König eine Menge
Ärger bedeuten ...«
»Und deshalb, meint Ihr, läßt er Euch heimlich aus
dem Weg räumen?«
»Es ist der einfachste Weg.«
»Und Ihr könnt nichts dagegen tun. Warum flieht
Ihr nicht?«
»Weil es das Ende wäre. Die Bruderschaft ist meine
Welt ...«
»Ihr meint, das Plündern und Rauben und Töten an
fremden Küsten ist nicht nur eine Quelle des
Reichtums, sondern auch eine Lebensweise?«
Zorn verdunkelte das Gesicht des Kapitäns.
Rasch sagte Wiquin: »Sagt mir noch eines, Käpt‘n.
Was treibt den König so sehr nach Myra? Ich meine, es
gibt nähere Küsten. Warum ausgerechnet Myra?«
Jaggar dachte darüber nach. Er vergaß seinen Zorn,
was den Jungen innerlich aufatmen ließ. Schließlich
zuckte er die Schultern.
»Es ist die Richtung, in der seine Augen immer am
längsten blickten. Früher oder später hätte er es
getan ...«
»Glaubt Ihr nicht, daß dieser Priester der Schlange
etwas damit zu tun hat? Blickt er nicht mit den gleichen
hungrigen Augen nach Myra?«
Nachdenklich sagte Jaggar: »Es fiel mir nicht auf.
Aber vielleicht hast du recht ...«
»Immerhin muß der König Euch geschätzt haben,
und Eure Vorsicht, sonst hätte er nicht gerade Euch als
Kundschafter geschickt.«
Jaggar schüttelte den Kopf. »Das hat auch noch
andere Gründe. Ich war sein Vertrauter in vielen
Dingen. Ich weiß mehr, als ihm lieb ist ...« Jaggar hielt
inne und nickte, als Wiquin den Satz zu Ende sprach.
»... Nun, da er einen neuen Vertrauten hat?«
Jaggar wurde plötzlich lebendig. »Ich kann zwar
nicht ohne des Königs Einwilligung den Rat der
Kapitäne zusammen rufen, aber ich kann mit einigen
von ihnen reden, mit Malquir zum Beispiel. Seine
Merinque ankert auf der anderen Seite der Bucht. Mis«,
fügte er verächtlich hinzu. »Es gab eine Zeit, da
erschlugen wir die Schlangen, wo wir sie fanden. Wenn
es nach mir geht, wird sie wiederkommen. Laß mir
Galis nicht aus den Augen.«
»Aye, Käpt‘n.«
»Und nimm den Mund nicht so voll. Manchen sitzen
die Schwerter lockerer als mir.«
»Aye, Käpt‘n«, wiederholte der Junge, ein wenig rot
werdend.
Wenig später kam ein Mann an Bord, den Wiquin noch
nie zuvor gesehen hatte. Er machte keinen sehr
vertrauenerweckenden Eindruck. Der Junge musterte
ihn mißtrauisch.
Der Steuermann ging auf ihn zu.
Wiquin konnte nicht hören, was sie sagten, aber er
konnte erkennen, daß Megil ihn mit allem Nachdruck
vom Schiff wies. Das schien der Fremde schließlich
einzusehen, aber er deutete immer wieder auf das
Vorderdeck und schüttelte einmal sogar drohend die
Faust.
Der Steuermann nickte schließlich mit
besänftigenden Handbewegungen. Als er an Wiquin
auf dem Weg zum Vorderdeck vorbeikam, zischte er
verärgert.
»Canlos von der Diebesgilde. Merk dir, daß du am
besten nichts mit ihm zu schaffen hast. Auf seine Art ist
er ein Teufel.«
Der Junge sah ihm verwundert nach und fuhr
alarmiert hoch, als der Steuermann auf Galis zuging
und auf ihn einredete. Dabei deutete er auf den
wartenden Dieb am Kai.
Galis nickte hastig und eilte sofort vom Schiff.
Interessiert sah Wiquin, wie die beiden in eifrigem
Gespräch über den Marktplatz eilten. Mit der
Diebesgilde also hatte Galis zu schaffen!
»Steuermann!« rief Wiquin. »Sagt dem Käpt‘n, daß
ich von Bord ging. Und sagt ihm auch, daß es Galis
und dieser Canlos waren, denen ich folgte.«
»Aye, aye!«
Nicht ohne Unbehagen eilte Wiquin hinterher. Aber
er hatte keine eigentliche Angst. Er hoffte nur, daß sich
nun endlich ein paar der Geheimnisse aufklärten.
Die beiden gingen in die Richtung des Palastes. Es
erschien dem Jungen nicht ungewöhnlich. Die
Diebesgilde mochte ihre Finger in allerlei Geschäften
haben – sicher auch mit dem König. Für ihn war bald
klar, daß der Dieb Galis zum Palast führte.
Er hielt mehr Abstand, um sicherzugehen, daß sie
ihren Verfolger nicht bemerkten. Als er den Palast
erreichte, sah er gerade noch, wie eine der
Palastwachen Galis ins Innere führte. Der Dieb
verschwand in einer der Seitenstraßen.
Wiquin zögerte. Vermutlich dauerte es eine Weile,
bis der Bootsmann wieder erschien. In den Palast
ungesehen einzudringen, schien wenigstens am Tage
unmöglich.
Nach einem Augenblick eilte er hinter dem Dieb her
und hatte ihn gleich wieder vor sich. Der Junge
beschleunigte seinen Schritt und begann zu laufen, als
der Mann vor ihm erneut abbog. Als er um die Ecke
kam, erkannte er, daß Canlos vor ihm stand und ihn
offenbar erwartete.
»Wer bist du?« Der Dieb musterte ihn kalt.
Wiquin hatte den Dolch in der Faust und hielt ihn
Canlos an die Kehle. Der sah ihn an, als wäre er
verblüfft darüber, daß jemand es wagte, Hand an ihn
zu legen. Mehr nicht.
Wiquin mehrte seine Verblüffung damit, daß er den
Dolch schmerzlich hochruckte, so daß ein roter Punkt
am Hals des Diebes erschien.
»Vorwärts! Dort in den Hauseingang. Ich habe ein
paar Worte mit dir zu reden!«
Der Dieb nickte. »Du wirst es früh genug bereuen.«
Aber er ging Schritt um Schritt zurück. »Warum wählst
du nicht den einfacheren Weg?« Er hielt die leere Hand
auf.
Wiquin schob ihn in den Hauseingang. »Wenn ich
Gold hätte, vielleicht. Aber es ist müßig, darüber zu
reden, denn ich habe keines.«
»Du dauerst mich«, begann der Dieb, schwieg aber,
als Wiquin dem Dolch erneut einen kleinen Ruck
versetzte.
»Ich will nur wissen, in wessen Auftrag du Galis
geholt hast«, sagte er drohend und fügte hinzu: »Und
ich habe nicht viel Zeit.«
Der Dieb wollte sich losreißen, aber Wiquins Dolch
zog einen dünnen roten Strich über den Hals bei
diesem Versuch. Keuchend hielt er still. »Ich sage noch
immer, du wirst es bereuen!« zischte er.
»Später vielleicht«, meinte der Junge ungerührt.
»Jetzt könnte es für dich etwas zu bereuen geben. Also:
von wem hattest du den Auftrag, den Bootsmann vom
Schiff zu holen?«
Canlos, der Gewalt verabscheute, besonders, wenn
sie an ihm angewandt wurde, zuckte die Schultern.
»Also, wenn du es für dein Leben gern wissen
möchtest, Coris gab milden Auftrag.«
Wiquin ließ ihn nicht los. »Wer ist Coris?«
»Der Wächter am Palasttor. Du scheinst nicht von
hier zu sein. Deine Aussprache ...«
»Sie soll dich nicht kümmern. Und zu wem solltest
du Galis bringen?«
»Zu Coris natürlich.«
Wiquin betrachtete ihn mißtrauisch. »Was könnte
Coris von Galis wollen?«
»Bin ich Coris, daß ich es wissen sollte?« knurrte
Canlos.
»Vielleicht«, sagte Wiquin grinsend ... Trotzdem
besten Dank für die Auskunft, Schade, daß ich nicht
mehr Zeit habe, denn ich bin sicher, daß du noch eine
Menge weißt ...«
»Schon möglich, Fremder«, sagte eine Stimme hinter
ihm.
Wiquin fuhr herum. Ein bärtiges Gesicht sah ihn mit
blitzenden Augen an.
Etwas knallte gegen seinen Hinterkopf, und das
bärtige Gesicht verlöschte.
Als er erwachte, sah er ein anderes Gesicht vor
sich – das eines kleinen Mädchens, das ihn neugierig
musterte.
»Du bist nicht tot!« sagte sie, und das schien sie zu
erschrecken.
Wiquin selbst war weniger erschrocken darüber. Ein
stechender Schmerz im Nacken ließ ihn aufstöhnen. Er
massierte die Stelle und sah, daß Blut an den Fingern
war, als er die Hand zurückzog.
»Nein«, murmelte er. »Es sieht so aus, als wäre ich
nicht tot.«
Die Kleine wich zurück, offenbar vollkommen
konfus darüber, daß er erwacht war. Er schüttelte den
Kopf, als sie verschwand. Seltsame Bräuche hatten sie
hier, wenn die Kinder nichts dabei fanden, bei
herumliegenden Toten herumzulungern.
Er setzte sich stöhnend auf und erkannte, daß er
noch immer in dem Hausflur lag. Sie hatten ihn
offenbar nur niedergeschlagen und sich aus dem Staub
gemacht.
»Ich hätte wissen müssen«, dachte er laut, »daß die
Diebesgilde nicht einfach zusieht, wenn einer der ihren
in der Klemme ist.«
Mit schmerzlich verzogenem Gesicht trat er ins
Freie. Dem Stand der Sonne nach war es später
Nachmittag. Viel Zeit konnte also nicht vergangen sein.
Vielleicht kam er noch nicht zu spät.
Er hastete die Straße zurück zum Palast. Er
unterdrückte den stechenden Schmerz. Der Bärtige
hatte ihm ordentlich eine verabreicht. Ein paarmal sah
er sich um, aber außer dem kleinen Mädchen war
niemand auf der Straße. Ob sie ihn von den Fenstern
aus beobachteten, konnte er nicht sagen. Aber er
vermutete es. Der Palast tauchte vor ihm auf – still und
scheinbar leer unter der heißen Nachmittagssonne.
Er straffte sich und hoffte, daß die Wunde
unbemerkt bleiben würde.
Die Wachen am Palastgarten griffen nach ihren
Schwertern, als er auf das Tor zuschritt. Einer trat ihm
entgegen. »Wohin?«
»Hat Galis den Palast schon verlassen?« fragte
Wiquin.
»Wer ist Galis, und was kümmert es dich?« fragte
der Soldat grob.
»Ich habe eine Botschaft von Canlos.«
Die Wache sah ihn ungerührt an. »Und?«
»Sie ist für Coris«, sagte Wiquin forsch und hoffte,
daß das die erhoffte Wirkung brachte.
Tatsächlich brummte der Mann: »Coris scheint seine
Finger überall zu haben. Na, was geht‘s mich an. Wenn
du mit Galis den Bootsmann meinst, den der Dieb
vorhin brachte, nein, er ist noch nicht wieder ‚raus. Du
findest Coris innerhalb des Tores. Wenn du ihn nicht
siehst, ruf nach ihm!« Er deutete zum Palasteingang
und nahm die Hand von seinem Schwertknauf.
»Danke«, sagte der Junge und schritt zielsicher auf
das Tor zu.
Bisher war es nicht sehr schwierig gewesen. Als er
durch das offene Tor schritt, sah er einen älteren Mann
in der Kleidung der Wachen, doch ohne Brustharnisch
und ohne Schwert. Eine Säulenhalle erstreckte sich vor
ihm scheinbar ohne Ende. Eine Abteilung
Wachsoldaten stand neben dem Tor und wartete
offensichtlich auf Befehle des Alten.
Der sah Wiquin neugierig entgegen, wie etwa einem
Fuchs, der freiwillig in die Falle gegangen war.
»Bist du Coris?« fragte Wiquin und versuchte sich
völlig ungezwungen zu geben.
»Der bin ich, junger Freund.« Der Alte kam auf ihn
zu.
»Ich habe eine Botschaft von Canlos.«
Überraschenderweise sagte der Alte: »Ich dachte es
mir.« Unmerklich nickte er den Wachen zu, die
daraufhin dem Jungen keine Beachtung mehr
schenkten, außer vielleicht den einen oder anderen
musternden Blick. »Komm mit.«
Der Junge folgte Coris durch mehrere Gänge, die
mehr breiten Hallen glichen. Mehrere Palastdiener
begegneten ihnen, aber keiner beachtete sie. Wiquin
fragte sich die ganze Zeit über, ob er etwas sagen sollte.
Aber der Alte schien keinerlei Fragen zu erwarten.
Offenbar wußte er genau, was der Junge wollte, oder
besser, was Canlos wollte.
Ganz im Gegenteil zu Wiquin, der ihm unbehaglich
folgte. Immerhin war die Sache recht gut gelaufen. Mit,
dem Alten wurde er sicher fertig, wenn es sich als
notwendig erweisen sollte.
Es wurde immer geheimnisvoller, und Wiquin
glaubte bereits, auf der völlig falschen Spur zu sein
und nur seine Zeit zu vergeuden, während Galis den
Palast verließ und vielleicht einen neuen Anschlag auf
Kapitän Jaggar plante.
Der Alte öffnete eine schwere eiserne Tür, und
schritt voran in ein Kellergewölbe von vorerst
unübersichtlicher Tiefe. Es ging nicht so weit hinab,
wie der Junge befürchtet hatte. Der Alte nahm eine
Öllampe von einem Steinvorsprung und entzündete sie
nach einigen Versuchen. In dem schwachen Schein sah
Wiquin mehrere eiserne Türen, auf denen dick und
braun der Rost saß. An ihnen schritt der Alte vorbei. Es
roch nach Feuchtigkeit und Moder, und von irgendwo
kam das Tropfen von Wasser. Sie konnten nicht weit
vom Krokodilsteich sein, kam es Wiquin in den Sinn.
Vor einer Tür, die öfter benutzt aussah, hielt Coris an.
Er schob den Riegel zur Seite und trat mit erhobener
Laterne ein. Der Junge folgte ihm.
Sie befanden sich in einem feuchten Raum aus roh
behauenem Stein. Das Rauschen von Wasser war sehr
nah. Mehrere große Eisengitter bildeten den Boden vor
ihm, und darunter sah Wiquin wild schäumendes
Wasser über felsigen Grund rauschen.
»Es führt direkt zum Meer«, sagte der Alte. »Hier
drin verschwinden sie alle.«
Wiquin fragte sich, was er wohl meinte.
Coris ging ans andere Ende des Raumes und winkte
dem Jungen, zu folgen. »Hier. Mit ihm haben sie
Besseres vor.«
Er zog ein Stück Segeltuch beiseite, und Wiquin hielt
den Atem an. Galis lag vor ihm am Boden, bleich, das
vierschrötige Gesicht in Pein verzerrt. Sein Hemd war
blutdurchtränkt. Eine breite Wunde klaffte am Rücken
und an der Brust, als hätte ihm jemand eine breite
Klinge von hinten in den Leib gerammt, daß sie vorne
wieder herauskam.
Galis war tot.
»Sag das Canlos, und auch, daß der Priester wieder
im Palast ist.«
Wiquin nickte stumm. »Was haben sie mit ihm vor?«
Der Alte zuckte die Schultern. »Das weiß ich nicht.
Das hier ist schon mehr, als ich wissen sollte.«
Als er zur Wellenreiterin zurückkam, fand er einen
mißmutigen Jaggar vor, der sich bitter über die Sturheit
Kapitän Malquirs beschwerte, der sich geweigert hatte,
die Bedenken gegen den Myrafeldzug weiterzuleiten.
Nicht ohne Wissen des Königs jedenfalls! Und mit Mis‘
Priester habe er nichts zu schaffen.
Als er Wiquins Bericht hörte, wurde er sehr
nachdenklich.
»Im Palast ermordet«, murmelte er. »Wie paßt das
nur zusammen? Bist du sicher, daß es seine Leiche war,
die du gesehen hast?«
»Kein Zweifel«, erwiderte der Junge.
»Verstehst du es?«
»Noch nicht, Käpt‘n. Aber wenn noch genügend
Zeit bleibt, komme ich sicher dahinter.«
»Ich fürchte, daß uns nicht mehr viel Zeit bleiben
wird. Wir laufen morgen aus.«
»Morgen schon?« entfuhr es Wiquin. Er ballte die
Fäuste.
»Das scheint dir ebensowenig zu gefallen wie mir«,
lachte Jaggar.
»Nein, es gefällt mir nicht. Käpt‘n ...« Er zögerte.
»Helft Ihr mir?«
Jaggar sah ihn verwundert an. »Wobei?« fragte er
vorsichtig.
»Als ... als ich hierherkam, da schwor ich mir, ich
wollte Welora finden ...«
»Welora?« fragte Jaggar. Dann dämmerte ihm, was
der Junge meinte. Er nickte. »Sag mir, wie sie aussah.
Vielleicht erinnere ich mich an sie. Aber ich warne dich
gleich. Ich erinnere mich an die wenigsten. Da war nur
eine, auf meiner letzten Fahrt, eine mausgesichtige
kleine Hexe.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern,
»Sechs Monde bist du hinter mir her?« fragte er dann.
»Und gleich nach dem Überfall aufgebrochen?«
Der Junge nickte.
»Drei Mädchen nahmen wir mit?«
Erneut nickte Wiquin erwartungsvoll.
»Dann kann sie nicht hier auf der Schlangeninsel
sein«, erklärte er nach einer Weile. »Ich weiß, daß wir
unsere Beute verkauften. An einen Kauffahrer aus
Namos.« Die Erinnerung schien ihn ungemein zu
erheitern, denn er lachte laut auf.
»Was wollte ein Händler aus Namos mit
myranischen Mädchen?« fragte der Junge verwundert
und mißtrauisch. »Jeder weiß, daß die Frauen auf
Namos das Regiment führen. Sie sollen schlimmer sein
als die Katmahza. Jaggars Heiterkeit schwoll noch.
»Aber er hatte Gold, das wir ihm in jedem Fall
genommen hätten. So schlugen wir ihn breit, die
Mädchen für eine anständige Summe zu kaufen.
Andernfalls, machten wir ihm klar, würden wir sein
Schiff ausplündern.«
»Und er zahlte?«
»Das tat er. Und er war froh, mit so heiler Haut
davonzukommen. Wir waren in guter Laune an diesem
Tag, und die Wellenreiterin saß tief im Wasser, so reich
waren wir mit Beute beladen. Es war an der Zeit,
umzukehren ...«
»Dann ist sie verloren«, murmelte der Junge traurig.
»Hast du sie geliebt. Junge?« fragte Jaggar plötzlich
voller Mitgefühl.
Wiquin schüttelte den Kopf. »Nein ... oder vielleicht
doch ... ach, ich weiß es nicht. Aber ich wuchs mit ihr
auf. Wir waren Nachbarskinder. Dann war plötzlich
alles so leer ohne sie.«
»Ja«, sagte Jaggar bedauernd. »Aber vielleicht ist sie
noch nicht verloren. Das Schiff des Händlers hatte den
Kopf eines Tieres mit einem gewundenen Horn auf
dem Bug. Es sah häßlich aus. Ein Einmaster. Ich würde
ihn unter Hunderten wiedererkennen. Wenn dieser
unselige Angriff auf Myra erst beendet ist und wir kein
Futter für die Haie geworden sind, werden wir uns die
Häfen Namos‘ genauer ansehen. Haben wir das Schiff,
haben wir auch eine gute Spur. Was meinst du?«
Wiquin sah ihn erfreut an. »Ist das ein Angebot,
Käpt‘n?«
»Eins, das fair genug ist, denke ich.« Er grinste.
»Aber wenn sie wirklich auf Namos ist, wird das nicht
ohne Spur an ihr vorübergehen, fürchte ich. Die Taube,
die fortflog, kommt als Drache wieder. Sie wird eine
andere sein, bis das Jahr um ist. Und früher werden wir
sie nicht finden ...«
»Das wäre das Risiko wert, Käpt‘n, Und was wollt
Ihr dann tun, sie stehlen?«
»Und dir verkaufen.« Er grinste breit. »Aber
vielleicht beruhigt es dein zartfühlendes Gemüt, wenn
wir sie eintauschen!«
Er brach in schallendes Lachen aus, als er Wiquins
verständnisloses Gesicht sah.
5.
Jaggar schritt unruhig in seiner Kajüte auf und ab.
Nacht lag über der Stadt und dem Hafen. In den
meisten der Häuser oben auf den Hügeln, wo die
wohlhabenderen wohnten, und im Palast brannten
noch flackernde Lichter und hielten die Dunkelheit
fern, die über dem Land kauerte. Wolken hatten sich
vor den Mond geschoben und bedeckten den größten
Teil des Himmels. Die wenigen Sterne gaben kaum
Licht genug, die Hand vor den Augen zu sehen.
Jaggar war nervös. Wenn um seinetwillen noch
etwas geschah, dann mußte es in dieser Nacht
geschehen. Am Morgen würde der Rat der Kapitäne
zusammentreffen, um des Königs Pläne zu vernehmen,
über die wohl kaum jemand noch im Zweifel sein
konnte.
Jaggar hatte keine Furcht vor dem Krieg. Das war es
nicht, was ihn bedrückte. Es war seine augenblickliche
Stellung. Es schien, als wäre bereits jemand rascher
gewesen – um eine Nasenlänge voraus – und hatte die
Kapitäne gegen ihn gestimmt. Malquirs barscher,
beinah beleidigender Ton sprach dafür, mit dem er
Jaggars Ansinnen abgewiesen hatte, als bedeutete es
keine Warnung, sondern blanken Verrat.
Bei Meldos nicht anders. Beinah Verachtung.
Jaggar wußte, daß er allein war, und daß es wenig
gab, das er tun konnte. Außer warten.
Was hatte den König in solch einen erbitterten Feind
verwandelt? War es Serphat, der Schlangenpriester, der
sich sein Vertrauen erschlichen hatte? Hatte der junge
Wigor recht mit seiner Vermutung?
Wigors Name brachte seine Gedanken für einen
Augenblick auf etwas, das ihn erheiterte. Er stand
einen Moment sinnend, die Daumen in den Gürtel
gehakt. Dann verließ er die Kajüte und begab sich an
Deck. Er sah sich um, konnte aber Wigor nirgends
entdecken. Dann stieg er in die Mannschaftsräume
hinab. Als er nach geraumer Weile wieder zum
Vorschein kam, begleiteten ihn drei Männer, die sich
mit grinsenden Gesichtern vom Schiff begaben und in
der Richtung des Marktplatzes in der Nacht
verschwanden.
»Junge!«
Wiquin hörte die Stimme, aber er erwachte erst, als
Jaggars kräftige Faust ihn schüttelte.
»Käpt‘n?« Er schüttelte die Schlaftrunkenheit ab. Es
war noch immer finster wie in einem Loch.
»Komm mit.«
Wiquin rieb sich den Schlaf aus den Augen und
stolperte hinter Jaggar her an Deck. Er atmete auf. Die
Wolken waren zum größten Teil verschwunden, und
das Mondlicht spiegelte sich auf den Planken. Man
konnte gut sehen.
»Was ist los, Käpt‘n? Laufen wir aus?« Das war eine
völlig verrückte Frage, denn nichts deutete auf ein
Auslaufen hin. Das Deck war leer bis auf eine einsame
Gestalt an der Bugreling.
Die Gestalt schien dem Jungen irgendwie bekannt.
Jaggar führte ihn hin.
»Bootsmann!« rief er.
Der andere drehte sich um und sah den beiden
entgegen. Das Mondlicht fiel voll auf sein Gesicht.
Wiquin hatte Mühe, einen entsetzten Aufschrei zu
unterdrücken.
»Ja, Käpt‘n?«
Auch die Stimme ließ keinen Zweifel daran. Vor
ihnen stand Galis – so lebendig wie eh und je.
Benommen starrte er Galis an und war froh, daß sein
Gesicht im Schatten war.
»Wiquin wird dich ablösen.«
»Es ist nicht nötig, Käpt‘n.«
»Das ist ein Befehl, Bootsmann.«
»Aye, Käpt‘n.«
Wiquin vermeinte, Wut in den Augen Galis‘ zu
sehen. Der Junge fröstelte unwillkürlich. Während der
Bootsmann unter Deck verschwand, beschäftigte
Wiquin nur eine Frage: Wer war der Tote in der
unterirdischen Palastkammer?
Jaggar ergriff ihn am Arm und drehte ihn herum,
daß er ihm ins Gesicht sehen konnte. Er war nicht
wütend, aber es war etwas an ihm, das keinen Zweifel
ließ, daß er eine Antwort erhalten würde. »Also, was
hat es zu bedeuten?«
»Käpt‘n ... ich ... ich verstehe es nicht.« Er berichtete
noch einmal in allen Einzelheiten, wie er in den Palast
gelangt war, und was Coris ihm gezeigt hatte. Er
beschwor, daß er nicht den geringsten Zweifel gehegt
hatte, daß Galis es war, der tot in dieser Kammer lag.
Kein anderer als der Bootsmann konnte es gewesen
sein, wenn er nicht einen Zwillingsbruder besaß. Ein
Schwert hatte ihn durchbohrt.
Und nun war Galis zurückgekommen!
Von den Toten? Oder hatte dieser Priester der
Schlange seine Hand im Spiel? Es war nicht von der
Hand zu weisen. Zu viele merkwürdige Dinge waren
seit seiner Ankunft auf der Insel geschehen.
Vielleicht war er wahrhaftig von den Göttern
geschickt. Aber es war seltsam, daß sie einem solche
Macht in die Hand gaben – wenn es Macht war, und
nicht Jahrmarktsgaukelei. Viel eher schien er Wiquin
ein Hexer, der den König für sich zu gewinnen suchte
für irgendwelche dunklen Pläne.
Er zweifelte nicht an dem, was er im Palast gesehen
hatte. Galis war tot – oder wenigstens tot gewesen!
Dann stimmten die alten Geschichten, daß die Toten
aus den Gräbern zu steigen vermochten, wenn sie von
bösen Geistern beseelt waren! Die Zombys.
Galis mußte einer sein! Und beseelt war er von
Serphat! Das war der nächstliegende Gedanke.
Und warum war er gekommen? Es gab nur eine
Antwort: Um Kapitän Jaggar zu töten, der ihm im
Wege war.
Es war plötzlich alles sehr klar und einleuchtend.
Wiquin ließ den Kapitän stehen und hastete die
Treppe zu den Mannschaftsräumen hinab. Megil, der
Steuermann, kam ihm entgegen. Sein Gesicht war blaß.
Die Männer starrten hellwach aus ihren Schlafkojen.
Ihre Gesichter waren nicht viel dunkler als das des
Steuermanns.
»Wo ist Galis?« fragte Wiquin, von einer dumpfen
Ahnung befallen.
»Wir wissen es nicht«, antwortete einer. »Er war
eben noch hier, und es war verdammt merkwürdig.«
»Was?« fragte der Junge. »Sag schon, was war
merkwürdig?«
»Er ... er kam herein und legte sich in seine Koje. Wir
dachten uns nichts dabei. Er war ja immer ein wenig
wortkarg, und es ging uns ja nichts an, wo er so lange
war. Aber dann fing Quiller, der über ihm schläft,
plötzlich an, seinen Namen zu rufen. Wir waren wieder
alle wach, als er ihn schüttelte und mit der Hand
zurückzuckte, als hätte ihn eine Tarantel gebissen ...«
Quiller selbst, der Koch, ein kleiner dunkelhaariger
Mann, rief aufgeregt »Er war so kalt. Wie Eis. Ich
dachte Kelim, der ist tot! Ich horchte, aber er atmete
nicht. Nicht ein Zug ... Ich rüttelte ihn, und da packte
mich das Grauen. Er fühlte sich an, als hätte er keine
Knochen im Leib, alles schwammig und weich. Ich bin
nicht furchtsam, Wiquin, das werden dir die
Kameraden bestätigen, aber der Schlangenpriester
spukte mir den ganzen Tag im Kopf herum, wie er sich
in diese schleimigen Kreaturen verwandelte, und wie
er das vielleicht mit jedem von uns machen könnte. «
»Aber wo ist er?« fragte Wiquin von leichtem
Grauen erfüllt.
Sie schüttelten die Köpfe. »Quiller kam herunter
und sagte aufgeregt, daß er glaube, daß Galis nicht
wirklich Galis sei ... und bis wir aus ihm
herausbekamen, was nun eigentlich los war, war Galis
verschwunden. Er ... Er konnte nicht durch die Tür
gegangen sein, denn der Steuermann stand die ganze
Zeit davor. Und sonst gibt es keinen Weg nach
draußen. Wir haben schon alles durchsucht.«
Ein erstickter Schrei kam von Deck der alle erstarren
ließ. Wiquin stürmte als erster los. Es war die Stimme
des Kapitäns gewesen, dessen war er sich sicher.
Erneut kam ein Schrei wie von aller Pein der
Unterwelt erfüllt. Wiquin erreichte das Deck und sah
zwei Gestalten nicht weit von sich ineinander
verschlungen zuckend. Im Laufen riß er sein Schwert
aus dem Gürtel. Hinter ihm ertönte das Getrappel der
Mannschaft, die die Treppen hochstürmte. Irgend
jemand hatte eine Lampe mitgebracht, die ihren
flackernden Schein über das Deck warf.
Einen Augenblick hatte Wiquin Mühe, die
ringenden Gestalten zu unterscheiden, dann sah er
deutlich, wie der Kapitän zurücktaumelte und stürzte.
Als die andere Gestalt sich über ihn beugte und erneut
zupacken wollte, war der Junge heran und hieb mit der
flachen Klinge zu.
Galis, oder was es auch war, das in seiner Gestalt
hier stand, fuhr herum und griff nach dem Jungen. Der
eisige Griff lähmte Wiquin. Er fühlte, wie seine Sinne
schwanden. Er schrie gequält auf und stieß das
Schwert mit letzter Kraft in den Körper vor ihm. Es
war, als schnitte es durch Fett. Ohne Widerstand zu
finden, glitt es durch den Magen und das Rückgrat
seines Gegners, der den Griff nicht lockerte.
Er schrie erneut, diesmal in panischer Furcht, als er
erkannte, daß er keinem menschlichen Widersacher
gegenüberstand. Dann, während seine Sinne
schwanden, sah er undeutlich, wie die Schiffsleute sich
auf die Gestalt stürzten. Einer schlug mit der Lampe
zu, und brennendes Öl ergoß sich über das Gesicht
Galis‘, das zerfloß, als wäre es schleimige, flüssige
Substanz. Es löste sich auf in kleine Teile, die wie
Würmer über das Deck auf das Wasser zukrochen. Ein
unmenschliches Kreischen begleitete diese Auflösung.
Die Männer standen starr, gelähmt, von Ekel
geschüttelt, und Wiquin spürte, wie der eisige Griff
sich löste, wie er wieder atmen konnte. Er hob mühsam
den Kopf und sah, wie der Körper Galis‘
zusammensank, und selbst die Kleider sich in die
fließende Substanz verwandelten, die zäh über die
Planken glitt und mit deutlichem Klatschen den Weg
ins Wasser fand.
»Der Käpt‘n!« stieß Wiquin hervor »Seht nach dem
Käpt‘n!«
Bewegung kam in die Männer. Einige löschten das
Feuer. Zwei hoben die reglose Gestalt Jaggars hoch
und trugen sie hinab in seine Kajüte. Der Steuermann
half Wiquin auf die Beine.
Wiquin glaubte nicht stehen zu können, so schwach
fühlte er sich – als hätte jemand alle Kraft aus ihm
herausgesaugt.
Mit Megils Hilfe schaffte er es bis zur
Kapitänskajüte, wo man Jaggar auf sein Lager gebettet
hatte.
»Er ist nicht tot, Leute«, sagte einer. »Er atmet noch.
Holt den Heiler!«
Einige stürmten los. Wiquin betrachtete Jaggars
bleiches, beinahe weißes Gesicht, in dem kein Leben
schien. Er erinnerte sich unwillkürlich an Coris‘ Worte:
»Sage das Canlos und auch, daß der Priester wieder im
Palast ist.«
Kein Zweifel mehr – der Priester war es, der Jaggars
Leben wollte. Aber danach wurde später niemand
fragen. Wer oder was immer dieser Priester war, ein
Gott oder ein Ungeheuer, aber sicherlich kein Mensch,
er hatte eine Schlacht verloren. Aber er würde es
wieder versuchen. Er mußte es wieder versuchen, nun,
da ein ganzes Schiff seine höllische wahre Gestalt
gesehen hatte und wußte, daß er mit Feuer
verwundbar war.
Sie durften nicht länger hierbleiben!
Er wandte sich an den Steuermann. »Können wir
auslaufen?«
Der nickte. Er fühlte wohl ähnlich. Und er kam sich
hilflos vor, nun, da der Kapitän todkrank lag und keine
Befehle geben konnte. Auch er ahnte, wenn sie ihn
retten wollten, mußten sie handeln.
Auf eigene Faust!
»Ja«, sagte der Steuermann. »Aber es ist Wahnsinn.
Sieh die Wolken. Sie werden gleich den Mond
verdunkeln. Dann ist es wieder so dunkel, daß es
schwer wird, das Wasser vor dem Bug zu sehen.«
»Um so besser«, sagte Wiquin. »Dann werden sie
unsere Flucht nicht so rasch bemerken ...«
»Wiquin, da draußen liegen über sechs Dutzend
Schiffe. Zwischen denen müssen wir durch, abgesehen
von der Engstelle der Hafenausfahrt ... Es ist Irrsinn!«
»Aber der einzige Weg, nicht wahr, Megil, das hast
du auch bereits erkannt?«
Nach einem Augenblick nickte der Steuermann.
»Was ist mit den Männern? Sind sie dem Käpt‘n
ergeben genug, daß sie dieses Risiko eingehen und sich
gegen den König und die Bruderschaft stellen? Und
du, Megil, bist du es?«
Der Steuermann gab keine Antwort. Er überdachte
alles gründlich. Schließlich sagte er: »Wenn du für den
Käpt‘n bist, bin ich dein Steuermann.« Sie besiegelten
es mit einem Handschlag.
»Es wäre zu riskant, die Männer vor die Wahl zu
stellen. Die meisten gäben für den Käpt‘n ihren rechten
Arm. Aber wir brauchen sie alle. Wenn wir das offene
Meer erreichen ...« Megil schüttelte den Kopf. »Wenn
wir tatsächlich das offene Meer erreichen, dann ist es
noch immer Zeit, sie vor die Wahl zu stellen und sie
irgendwo an der Küste abzusetzen.«
Wiquin nickte. Es gefiel ihm nicht, aber sie hatten
keine andere Wahl. »Die Männer sollen an die Ruder
gehen. Wir warten, bis der Heiler an Bord ist und wir
wissen, wie es steht.«
Megil nickte mit blassem Gesicht. »Wie ist es«, fragte
er, »hast du Kraft genug zum Stehen?«
Wiquin lächelte ein wenig verzerrt. »Keine Bange,
Steuermann.« Dann lauschte er, wie es unter Deck
lebendig wurde, als sich die Männer an die Ruder
begaben. Er mußte sich eingestehen, daß er nicht viel
von Schiffen verstand, aber Megil schien ein fähiger
Mann. Wenn sie erst draußen waren und die Segel
gesetzt hatten, dann ging es nach Nordosten. Nach
Myra.
Dafür würde er sorgen, auch wenn Jaggar Kraft
genug erlangte, um das Schiff wieder selbst zu führen.
Der Heiler kam an Bord und stellte nur Schwäche fest,
keine Verletzung. Jaggar brauchte Ruhe, das war alles.
Aber er war dem Tode näher gewesen als einer mit
einem Pfeil im Rücken. Eines interessierte den Heiler
ganz besonders: Wie der Kapitän in diesen
ungewöhnlichen Zustand gekommen war. Aber
darüber verlor keiner von der Schiffsbesatzung ein
Sterbenswort. Sie wußten ja selbst nicht genau, wie es
geschehen war, und der Schreck saß ihnen noch tief in
den Gliedern. Keiner fragte, warum sie ausliefen. Sie
waren dankbar, daß jemand das Kommando
übernommen hatte, und daß sie dieses Wasser
verlassen konnten, in dem noch immer dieses
unheimliche Wesen lauern mochte.
Als der Heiler von Bord ging, übersah Wiquin die
drei Mann der Schiffsbesatzung, die aus der Stadt
zurückkamen mit einem großen Bündel, das sie unter
Megils Anleitung unter Deck schafften.
Wiquin atmete auf, als beinahe lautlos die Taue von
den Molen fielen und das Schiff mit den leichten
Hafenwellen vom Kai glitt. Unsagbar langsam und
sacht schwangen die Ruder aus und tauchten ein. Das
Schiff erzitterte leicht. Nichts war in der Schwärze zu
sehen. Furcht erfüllte Wiquins Herz. Jeden Augenblick
mochten sie gegen eines der Schiffe oder gegen die
Felsen
prallen – und das würde das Ende bedeuten.
Aber der Steuermann kannte den Hafen.
Der Kai entschwand, die vereinzelten Lichter der
Stadt bewegten sich, als die Schwarze Wellenreiterin
sich scheinbar mühelos drehte.
Ein dunkler Schatten tauchte kurz neben der
Bordwand auf, aber lautlos glitt das Schiff an dem
Hindernis vorbei.
Als sie das Hafenbecken hinter sich hatten und der
schwarze Felsen der Ausfahrt zurückblieb, die Lichter
klein und fern wurden – da erst wagte Wiquin
aufzuatmen.
Aber noch hatten sie ein Stück vor sich, gegen das
die Hafenausfahrt ein Spiel schien. Gut achtzig
ankernde Galeeren, durch die sie sich einen Weg
suchen
mußten – mit der gleichen Blindheit.
Der Mond kam ein wenig durch eine dünnere
Wolkenschicht und enthüllte dunkle Kolosse voraus.
Geisterhaft ragten sie hoch, nah und drohend. Einmal
geschah es, daß sie knirschend über eine Ankerkette
glitten. Das Schiff neben ihnen kam in Bewegung. Nur
eine geschickte Wendung des Steuermanns ließ die
Bordwände um Handbreit aneinander vorbeigleiten.
Die Ruder scharrten unter Wasser die Galeere entlang
und mußten der schlafenden Besatzung wohl den
Eindruck vermittelt haben, eine Horde
Wassermenschen beginne ihre Hülle aufzubohren.
Bange Augenblicke verstrichen, als auf der Galeere
Tumult losbrach, aber bevor die Wachen begriffen, was
geschah, war die Wellenreiterin in der Finsternis
verschwunden.
Hinter ihr riefen erregte Stimmen, und Lampen
flammten auf. Aber niemand sonst schien sich dem
Tumult anzuschließen. Das Meer vor ihnen blieb
dunkel.
Eine gute Stunde verging, dem Stand des Mondes
nach zu schließen. Vorsichtig tasteten die Ruder nach
dem Wasser, nach Hindernissen.
Mehrmals glaubten sie ein Schiff in unmittelbarer
Nähe auszumachen. Dann kam lange nichts mehr.
Der Mond stand im letzten Drittel des Firmaments.
Ein Wind kam auf, wie von den Göttern gesandt, und
vertrieb die Wolken.
Vor ihnen war das Meer frei. Sie hatten die Flotte
passiert. Der Steuermann war plötzlich neben ihm.
»Wir sollten Segel setzen. Wiquin.«
Er nickte. »So setzt Segel.«
»Und der Kurs ... Käpt‘n?«
Wiquin lächelte. Er fühlte sich plötzlich befreit von
allem. Der Boden unter seinen Füßen gehorchte ihm!
Er, Wigor aus Deyman, befehligte ein Schiff.
»Nach Osten«, sagte er ohne Zögern. »Wir werden
Pathos anlaufen und Wasser und Proviant an Bord
nehmen.«
»Aye. Käpt‘n.«
Für die Reise heim, dachte er. Und um diesen
Dragon zu warnen.
Die Ruder wurden eingezogen. Die Männer liefen
an Deck. Bald rollten die Segel auf und fingen den
Wind. Das Schiff drehte nach Osten und flog über die
dunklen Wellen.
6.
»Den Wein, o König des myranischen Reiches, würde
ich nicht trinken.« Es war ein wenig Sarkasmus in der
Stimme. »Das Volk hat noch keine Zeit gehabt,
nachzudenken über all die neuen Gesetze, die Ihr
erlassen habt. Es würde sie mit Euch vergessen. Die
Menschen hängen am Alten, wie schlecht und peinvoll
es auch gewesen sein mag.«
Der Sprecher war ein ältlicher Mann mit einem
grauen Kinnbart und buschigen Brauen. Er war
schlank und hochgewachsen und für Myras Straßen
ungewöhnlich gekleidet. Eine lange weiße Kutte wies
ihn als einen der Weisen aus, jener Gruppe von
Männern und Frauen, die sich Söhne von Atlantis
nannten. Über der Kutte trug er einen Schulterumhang
aus dickem Gewebe: das den Regen abhielt, der seit
dem Morgen in grauen Schleiern um Myraniens
Hauptstadt wogte.
Der, an den die Worte gerichtet waren, war nicht
kleiner als die weiße Gestalt, aber ein halbes Leben
jünger. Seine jungenhaften Züge spiegelten eine Spur
von Besorgnis wider. Er trug Jacke, Beinkleider und
Stiefel in dunklem Rot wie jene der myranischen
Heerführer. Das Schwert hatte er abgelegt. Es lag auf
dem großen marmornen Tisch des Audienzsaales, in
dem König Zogor einst seine Daikane empfangen hatte.
Die Glut in der gewaltigen steinernen Feuerschale
verbreitete angenehme Wärme. Nur in ihrer Nähe war
es an solchen regnerischen Tagen in den kalten
Steinhallen des myranischen Palastes zu ertragen.
»Was meint Ihr damit, Cheron‘?« fragte er und
lächelte. »Daß Gift in dem Wein sein könnte?« Er stellte
den albernen Kelch ab.
Der mit Cheron Angesprochene nickte ernst,
während er seinen nassen Umhang ablegte. »Stellt Ihr
keine Vorkoster an, König Dragon?«
»Nein, mein lieber Cheron. Ihr Leben wäre so
wertvoll wie meines.«
Cheron lächelte. »Das sagt Ihr, der Ihr auf dem
Thron sitzt, nur einen Schritt von den Göttern
entfernt?«
»Oh, ich habe nicht vor, darauf sitzen zu bleiben«,
erwiderte Dragon. »Ihr wißt, daß Erinnerungen in mir
sind, die ich um jeden Preis finden muß. Vielleicht
komme ich ihnen näher, je mehr ich von dieser Welt
kennenlerne.«
Cherons Lächeln vertiefte sich. »Das ist ein langer
Weg, wenn Ihr sie erst erobern wollt!«
»Es sieht so aus, nicht wahr?« Dragon nickte. Er griff
nach dem Kelch, ließ ihn dann aber stehen. »Kommt, es
ist ungemütlich hier, und ich bin sicher, die Königin
hat Langeweile.«
Die beiden Männer verließen die Halle. Halb auf den
Treppen zu Amees Gemächern stürmten ihnen zwei
Knaben und ein Mädchen entgegen, von denen das
Mädchen die Ältere war.
»Seid gegrüßt, meine Kinder«, sagte Cheron
lächelnd.
Während sie gemeinsam nach oben schritten, sagte
einer der Knaben: »Wie steht es, Cheron, kommt ihr
alle in die Stadt und fangt ihr die Schulen an?«
»Ja, Kim. Der Ältestenrat hat es beschlossen.«
»Das ist eine gute Botschaft«, sagte Dragon erfreut.
»Ich weiß, wie schmerzlich die Gräber eurer
ermordeten Brüder euch mahnen. Aber ihr habt nichts
zu befürchten, schon gar nicht, solange Partho mit dem
Heer im Osten der Stadt lagert. Aber ihr wißt
ebensogut wie ich, daß nicht Myras Bürger euch Übles
wollten, sondern daß es einzig und allein Cnossos‘
Werk war und Zogors, der unter seinem Einfluß
stand.«
Cheron nickte. »Ihr solltet die Kinder nicht von
Eurer Seite lassen, König Dragon«, mahnte er. »Ihr habt
Feinde in der Stadt, und ihre Stimmen werden lauter.
Aber sie werden sich nicht mit dem Reden begnügen.
Eure Gesetzesänderungen, so segensreich sie sein
mögen, besonders die Aufhebung der Sklaverei, haben
eine Reihe von einflußreichen Leuten zwar nicht an
den Bettelstab gebracht, aber doch um ihre Einkünfte
betrogen. Ein Dolch zwischen die Rippen würde ihr
Problem am einfachsten lösen.« Er wandte sich an das
Mädchen. »Was denken die Menschen um deinen
König, Yina?«
»Die seltsamsten Dinge«, erwiderte sie. Ihre Miene
verdüsterte sich. »Du hast recht, Cheron. Wenn er
durch die Straßen reitet, dann gibt es viele, die ihn
lieben oder verehren oder als den Mann schätzen, der
Großes vollbracht hat. Aber es gibt einige, die ihn
hassen. Ihre Gedanken sind ganz klar. Ich kann sie
lesen wie in einem Buch. Aber ich weiß nicht, wer sie
denkt. Ich kann nicht erkennen, zu welchem Gesicht sie
gehören.«
Cheron nickte. »Ihr seid in Gefahr, König Dragon. In
größerer Gefahr, als Ihr wahrhaben wollt. Myra ist alles
andere als Euer rechtmäßiger Thron. Und wenn auch
vielleicht niemand viel Sympathie für Zogor
aufgebracht hat, so haben doch viele von seinem
Despotismus Gewinn gehabt. Das alles versucht Ihr
fortzufegen.« Er nickte erneut. »Das Volk wird freier
atmen unter Eurer gerechten Hand, aber Euch wird
man nicht nur Blumen streuen.«
Vor Amees Gemach sagte Yina plötzlich: »Es ist
jemand im Palast, der an den Tod denkt.«
»Wo?« fragte Cheron rasch.
Das Mädchen runzelte die Stirn. Sie lauschte
angestrengt in sich hinein. »Von unten ... scheinen die
Gedanken zu kommen«, sagte sie zögernd.
»Maus, woher?« fragte einer der Knaben. »Aus dem
Keller?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein ... es ...
entfernt sich.« Sie eilte zum nächsten Fenster und
starrte hinab in den regenverschleierten Park. »Da!«
Eine graugekleidete, verhüllte Gestalt lief über den
Rasen, sprang auf die Mauer und war im nächsten
Augenblick verschwunden.
Cheron nickte ernst. »Ihr solltet die Wachen
verstär...«
Ein würgender Schrei drang aus der Halle herauf
und endete in einer Reihe stöhnender Laute. Danach
war Stille.
Die Gruppe war erstarrt stehengeblieben.
»Das war eine Frau«, sagte Yina. Ihr Gesicht war
blaß. »Sie hat aufgehört zu denken ...«
»Tot?« fragte Cheron.
Das Mädchen nickte.
Sie liefen die Treppen hinab in die Halle. Sie hielten
an, und ihre Blicke glitten suchend durch den leeren
Raum. Kim war es, der die reglose Gestalt zuerst
entdeckte. Es war eines der Küchenmädchen, das
neben dem marmornen Tisch lag. Ihre Augen waren
starr und weit, der Kelch in ihrer Hand – leer. Rote
Tropfen von Wein waren an ihren Lippen und auf dem
blanken, steinernen Boden.
Sie hatte den Wein getrunken, der für den König
bestimmt gewesen war.
Die Königin lag auf seidenen Kissen im größten
ihrer Gemächer und blickte fröstelnd auf den
wolkenverhangenen Himmel.
»Es sieht so aus, als hättest du ein Land erobert,
mein Liebster, über dem der Himmel seine Schleusen
niemals schließt.«
Sie sah blaß aus.
Dragon nickte. »Wir hatten Glück, daß uns solch ein
Regen nicht während des Marsches überraschte.« Dann
sagte er lächelnd: »Hast du vergessen, wie trüb und
trostlos der Himmel über Urgor war, als der Regen den
Raxos schwellen ließ?«
»Du hast recht«, sagte Amee und legte ihre weiße
Hand auf die Schwellung ihres Leibes. »Aber ich hätte
deinem Sohn Sonne gewünscht, wenn er geboren
wird.«
Dragon setzte sich zu ihr und legte die Arme um sie.
»Wie lange hat der Himmel noch Zeit, sich zu
besinnen?«
»Nicht mehr lange.«
Am späten Nachmittag hellte es auf, und Dragon begab
sich zum Hafen, um mit den Kapitänen seiner Flotte zu
reden. Es wäre einfacher gewesen, sie zur Audienz in
den Palast zu bitten, aber Dragon wußte, wie ungern
sie ihr Territorium verließen und wie unbehaglich sie
sich im Palast fühlten.
Es fiel ihnen schwer genug, sich daran zu
gewöhnen, daß der König ihnen Aufmerksamkeit
zollte. Unter Zogors Regentschaft hatten sie den
Königspalast nie betreten, und der König keines seiner
Schiffe. Allein mit Kelkari hatten sie zu tun gehabt, der
die Flotte befehligte.
Yina begleitete Dragon. Auf dem Rücken dieser
großen myranischen Pferde wirkte sie noch mehr wie
eine Maus, klein und spitznasig wie sie war. Ein
Dutzend Männer der Garde trabten zu beiden Seiten
des Königs, der am liebsten allein geritten wäre.
Auf halbem Weg hinab zum Hafen begegnete ihnen
eine Gruppe der wohlhabenderen Bürger Myras. Die
meisten von ihnen hatte Dragon bereits kennengelernt
bei den ersten Sitzungen des neu einberufenen
Stadtrats, der halb aus verdienten Würdenträgern der
Stadt und einflußreichen Händlern und halb aus
Mitgliedern von Cherons Gruppe von Weisen gebildet
worden war.
Einige jedoch waren Dragon noch fremd. Sie alle
verneigten sich grüßend, und Dragon hielt an. Einige
Worte wurden getauscht, als Yina plötzlich unruhig
wurde.
»Onkel«, sagte sie warnend, aber Dragon winkte ihr,
zu schweigen. Sie fing Gedanken von Ungeduld auf.
Die Männer vor ihr erwarteten etwas. Sie waren
nervös, ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. Sie
erkannte plötzlich, daß alles einem Plan angehörte. Sie
hielten Dragon absichtlich auf! Sie drängte ihr Pferd an
das des Wachkommandanten. »Gorich, sie halten den
König absichtlich auf.«
Der Kommandant, der von den besonderen
Fähigkeiten des Mädchens wußte, fragte: »Bist du
sicher, Yina?«
»Ja«, sagte sie ängstlich. »Es muß jeden Augenblick
etwas geschehen. Gorich, was können wir tun?« Sie
wartete keine Antwort ab, sondern ließ in ihrer Angst
ihr Pferd aufbäumen und herumtänzeln, daß die ganze
Gruppe in Bewegung kam. Pferde wieherten, die
Männer fluchten, und Dragon hatte Mühe, sein
plötzlich ebenso aufgeregtes Pferd zu beruhigen.
Gorich wurde blaß, als sein Blick etwas am Dach des
Hauses vor ihnen erfaßte. Mit einem warnenden
Aufschrei lehnte er sich weit aus dem Sättel und stieß
den König mit solcher Wucht, daß dieser den Halt in
den Steigbügeln verlor und von seinem tänzelnden
Pferd fiel. Mehrere Schreckensschreie folgten, als ein
gefiederter Schaft wie von Zauberhand aus dem Hals
von Yinas Pferd ragte, das hinter dem Dragons
gestanden hatte.
Während es lautlos zusammenbrach und Yina Mühe
hatte, nicht unter ihm begraben zu werden, liefen die
Ratsmitglieder in Deckung. Die Soldaten hatten ihre
Bögen in den Händen, die Pfeile schußbereit.
Aber der heimtückische Schütze war verschwunden.
Ein Teil der Wachen drang in den Garten ein und
durchsuchte ihn. Die anderen hatten sich schützend
um den König und das Mädchen gruppiert.
Yinas Pferd starb nach wenigen Augenblicken.
»Wir müssen fort hier«, drängte der Kommandant.
»Um den Kadaver werden sich meine Männer
kümmern, wenn noch etwas von ihm übrig ist, bis wir
zurückkehren!«
Dragon nickte und stieg auf. Er nahm das Mädchen
zu sich aufs Pferd. Auf Gorichs Kommando kamen die
Männer von ihrer Suche zurück. In beschleunigtem
Tempo ritt die Gruppe zum Hafen hinab.
»Ihr solltet nie ohne eine Waffe ausreiten«, meinte
Gorich warnend. »Eines Tages mögen welche sich in
den Weg stellen, die auch ein Handgemenge in Kauf
nehmen. König Zogor ritt nie ohne einen Harnisch
unter dem Wams durch die Straßen. Dieser weisen
Vorsichtsmaßnahme solltet Ihr Euch auch nicht
verschließen. Gewiß, das Volk sieht zu Euch auf, wie es
noch nie zu einem König Myras aufgeblickt hat – ohne
Furcht und mit glänzenden Augen. Aber unter tausend
von ihnen steht einer mit Haß im Herzen und einem
Dolch in der Faust.«
Dragon nickte stumm. Er fühlte sich plötzlich
einsam unter all den Menschen, die die Straßen des
Hafenviertels bevölkerten. Er war trotz allem der
Eroberer. So sehr man das Ende von Zogors
Gewaltherrschaft begrüßt hatte, so unzufrieden begann
man nun mit dem Sieger zu werden, dem
Emporkömmling, der sich unterfing, die myranische
Gesellschaft umzukrempeln!
Dragon lächelte bitter. Der wahre Feind war nicht
das Schwert, sondern der Drang der Menschen, an den
alten Traditionen festzuhalten. Es würde schwer sein,
diese Ideale des Friedens und der Gewaltlosigkeit in
ihre Herzen zu pflanzen, wie sie Romons und Cherons
Söhne von Atlantis im Sinn hatten. Und wären nicht
manchmal diese Augenblicke einer unverständlichen
Erinnerung gewesen, die von größerem zu künden
schienen, er hätte gezweifelt, daß jemals etwas anderes
als Schwert und Barbarei in dieser Welt von Gewalt
triumphieren würden.
Seine Gedanken kehrten zu näherliegenden Dingen
zurück.
»Hast du erkannt, wer den Anschlag plante?« fragte
er das Mädchen.
»Ich glaube schon, Onkel«, erwiderte sie. »Ein Name
war fast in aller Gedanken. Sie fürchteten, daß Melor
sie verraten habe, als der Schuß nicht gleich kam.
Dieser Melor muß alles vorbereitet haben ...«
»Melor«, entfuhr es Dragon verwundert. »Ich kenne
ihn. Ich hielt ihn für loyal. Er machte einen guten
Eindruck auf mich ...«
»Er hat Bergwerke, keine drei Tagesritte von der
Stadt. Er braucht die Sklaven, die Euer Gesetz ihm nun
verwehrt«, erklärte Gorich, der das Gespräch mit
angehört hatte. »Er ist keiner, der offen kämpft. Aber er
scheut nicht davor zurück, seine Probleme mit Gewalt
zu lösen.«
»Melor«, wiederholte Dragon gedankenvoll. Er
mußte gründlicher sein in der Wahl der Männer, die er
um sich versammelte. Es gab nur einen Weg, das in der
kurzen Zeit zu erreichen. Er würde künftig Yina in die
Ratsversammlungen mitnehmen. Das mochte für die
Anwesenden befremdend wirken, aber wiederum auch
nicht befremdender als ihre ständige Begleitung bei
seinen Ausritten.
Yina mochte die Spreu vom Weizen scheiden. Sie
konnte in den Gedanken jedes einzelnen lesen, wie
groß seine Loyalität für den neuen König war, und was
er von dessen neuen Gesetzen und Ideen hielt.
Beruhigt ritt er weiter und dachte dankbar, was er
wohl ohne die Maus anfangen würde. Und ohne die
Zwillinge.
»Wie geht es Amee?« fragte er impulsiv.
Das Mädchen lauschte in sich hinein, um Kontakt
mit Kim oder Kano aufzunehmen, die sich im Palast
bei der Königin befanden. Endlich hörte Kim ihr
»Rufen«. Sie wiederholte Dragons Frage. Kim
antwortete.
»Sie ist guter Dinge«, beantwortete sie Dragons
Frage. »Seit die Sonne scheint.«
Die Kapitäne, die sich auf dem einstigen Schiff Kelkaris
versammelt hatten, begrüßten den König nicht mit den
freundlichsten Mienen. Sie waren loyal, das wußte
Dragon. Sie waren es gewohnt, loyal zu sein, gleich
welchem König sie gerade dienten. Sie hegten keinen
heimlichen Groll. Sie hatten erkannt, daß man mit
diesem König Dragon reden konnte, ohne für eine
falsche Bemerkung das Schwert fürchten zu müssen.
Ihr mehr oder weniger offener Ärger betraf nur die
seltsamen Ideen dieses Königs, der vielleicht zu Lande
ein fähiger Krieger und Feldherr sein mochte und zu
regieren verstand, aber der wenig Ahnung von der
Seefahrt hatte. Sonst hätte er erkennen müssen, daß die
Abschaffung der Sklaverei auch der Abschaffung der
Seefahrt gleichkam oder wenigstens der Auflösung der
Flotte!
Denn wer, so argumentierten sie, wenn erst einmal
keine Sklaven mehr an den Rudern hingen, wer wollte
dann noch rudern? Mit dem Wind allein ließ sich kaum
eine Seeschlacht gewinnen!
Oder war der König anderer Meinung?
Er war.
Er meinte, daß freie Ruderer, die Sold dafür
bekamen und wie alle anderen als Teil der
Schiffsbesatzung galten, mit allen Rechten und
Pflichten, sogar noch Besseres leisten würden als
geschlagene, erniedrigte Menschen, denen es wenig
bedeutete, ob das Schiff, das sie ruderten, in den Sieg
oder den Untergang fuhr.
»Aber sie werden nicht genug leisten«, wandte einer
ein. »Sie werden zu früh erschöpft sein, ein Luxus, den
sich künftige feindliche Schiffe nicht leisten werden ...«
»Nein, Kapitän«, widersprach Dragon. »Es gibt
keinen besseren Arbeiter als den freien, der sein Werk
mit einem Ziel vor Augen vollbringt. Und das will ich
euch beweisen. Heute abend noch. Seid ihr bereit zu
einem Wettstreit?«
Die Kapitäne nickten zögernd.
»So laßt zwei Galeeren bereitmachen für eine
Wettfahrt und voll bemannen. Eine wird einer aus
euren Reihen befehligen, mit Sklaven an den Rudern.
Die andere fährt unter meinem Kommando mit freien
Männern, denen guter Sold versprochen ist. Wir wollen
sehen, welche Kraft ein Schiff schneller bis zu den
Leuchtfeuern von Faraun zu treiben vermag. Die
Peitsche oder die Freiheit!«
Mißtrauisch machten sich die Kapitäne ans Werk.
Sie waren überzeugt, daß der König verlieren würde,
denn nichts war ein mächtigerer Schöpfer von
Kraftreserven als die Peitsche, das hatten ihnen
jahrzehntelange Erfahrungen in vielen Schlachten
gezeigt. Und nun kam einer, der behauptete, ein freier
Mann würde nicht minder gut rudern ohne den Biß des
Leders, wenn nicht sogar besser.
Aber als die beiden Galeeren schließlich in der
Ausgangsstellung am Kai angelegt hatten und die
Kommandanten an Bord gingen, da waren sie alle von
Eifer und Jagdfieber gepackt. Es war eine gute Übung,
und der König würde das seine daraus lernen. Er war
ein fairer Mann, das beeindruckte sie. Um so mehr, als
er einige von ihnen bat, zu ihm an Bord zu kommen
und sich selbst zu überzeugen, daß alles seinen rechten
Lauf nahm.
Es wurde rasch dunkel, zu rasch, als daß sie das
Rennen noch vor Einbruch der Nacht zu Ende bringen
konnten. Deshalb gab Dragon Anweisung, einen Teil
der Flotte in den Hafen zu führen und Schiffe entlang
der verhältnismäßig schmalen Fahrrinne bis zum Kap
von Faraun zu verankern, die mit Fackeln und Lampen
und Feuern an der Küste den beiden Wettfahrern den
Weg weisen sollten.
Es wurde Stunden dauern, bis diese Vorbereitungen
getroffen waren, aber das war bedeutungslos.
Die Stadt wurde langsam hell vom Schimmer
zahlreicher Lampen, solcher, die sich bewegten und an
Sänften durch die Straßen schaukelten, solcher, die an
den Hauswänden zum Eintritt in die rauchigen Stuben
von Schenken riefen, und solcher, die in den Parks der
Villen am Fuß des Palastes manch festliches
Abendmahl mit dem Zauber einer friedlichen
Sommernacht umgaben.
Es war eine Nacht für Feste, und die myranische
Seele war Festlichkeiten immer zugeneigt.
Alle sollten wissen, daß an diesem Abend für die
Freiheit gekämpft wurde, deshalb schickte Dragon
Boten in die Stadt, die den Bewohnern verkünden
sollten, was im Hafen geschah. Er ließ Wein
herbeischaffen und mehrere Rinder schlachten, die am
Gelände des Hafens gebraten werden sollten, damit
auch die essen und trinken konnten, die an solch einem
Abend zu darben pflegten.
Langsam, während der Abend fortschritt,
verwandelten sich die Stadt und der Hafen in ein
gleißendes Meer von funkelnden Lichtern, und immer
weiter breiteten sich die Lichter aus – hinaus in die
Dunkelheit, mit jeder Galeere, die ankerte.
Es war schade, daß Amee nicht dabeisein konnte,
dachte Dragon. Aber es würde zuviel für sie sein in
ihrem augenblicklichen Zustand. Aber wenn sie aus
dem Palast blickte, dann mußte sie diesen imposanten
Anblick sehen. Er bat Yina, mit den Zwillingen Kontakt
aufzunehmen und solcherart der Königin mitzuteilen,
was dieser festliche Glanz bedeutete.
Gorich und seine Männer und Yina wichen nicht
von Dragons Seite während der Vorbereitungen. Bald
war die halbe Stadt am Hafen versammelt. Solch eine
Gelegenheit für einen Angriff auf den König würde
sich nicht so rasch wieder ergeben. Ohne daß Dragon
es bemerkte, ließ Gorich den Ring von Wachen um ihn
verdoppeln und verdreifachen. Es würde vielleicht
nicht ohne Tote abgehen in diesem Gewühl von
Menschen, aber der König würde nicht unter ihnen
sein.
7.
Das Schicksal wird nicht immer nur von göttlichen
Händen geformt.
Während der König der Stadt klarmachte, daß mit
seiner Regentschaft keine Trauerzeit begonnen hatte,
und daß Friede etwas war, das gefeiert werden
mußte – während die Königin in ihren Gemächern lag,
umsorgt und geschützt ihrer Niederkunft entgegensah
und die ersten Wehen kommen fühlte – gab es
jemanden in dem dunklen Teil der myranischen
Hauptstadt hinter den Hügeln, wohin der Schein der
Fackeln nicht mehr drang, der mit blicklosen Augen in
eine buntere Welt jenseits der Wirklichkeit sah und den
Augenblick kommen fühlte, auf den sie gewartet hatte.
Es war Maratha, die Seherin.
Sie lag in einem spärlich eingerichteten Schlafraum
eines der am weitesten am Stadtrand gelegenen
Häuser, in dem sie sich einquartiert hatte, als kurz nach
Amees Ankunft Hotch, der Drache, sie bei Nacht nach
Myra brachte. Eine Lampe brannte am anderen Ende
des Zimmers, nicht für ihre blinden Augen, sondern
für das Mädchen, das jeden Abend kam und der
hochschwangeren Frau zur Hand ging.
An diesem Abend schickte sie sie fort. Der
Augenblick war nahe, und es durfte keine Zeugen
geben. Sie würde alle Kraft brauchen für ihr Vorhaben.
Ihre Maske würde fallen.
Sie lauschte auf die Schritte des Mädchens, die sich
entfernten. Es war still im Haus. Stickig. Die Fenster
waren verschlossen und verriegelt wie die Türen.
Sie schlug die Decken von ihrem geschwollenen
Leib zurück. Schweiß bedeckte ihr blasses Gesicht und
ließ das blonde lange Haar zu Strähnen
zusammenkleben. Ihre Augen waren dunkel, leer, von
einer schwindelnden Tiefe.
Ihre Hände umklammerten ihren Bauch – ihr
kostbarstes Gut: König Dragons Sohn. Und der
künftige Erbe seiner Reiche. Der Erstgezeugte! Der
wahre Erbe.
Nicht das Balg der Königin!
Ihr innerer Blick, ihre Gedanken wurden klarer und
griffen hinaus aus dem geschlossenen Raum über halb
Myra hinweg. Der Schmerz von Amees Wehen schnitt
wie ein scharfes Messer in ihr Bewußtsein und erfüllte
sie mit Triumph.
Der Augenblick war gekommen.
Sie sammelte sich, ihre Arme stemmten sich in die
Hüften. Vage Bilder sanken herab auf ihren augenlosen
Geist. Amees Körper tat sich auf, gab sein Innerstes
preis, das zuckende neue Leben, das mit kräftigen
Wehen ins Freie drängte. Gespannt beobachtete sie die
Geburt von Dragons anderem Sohn. Kräfte in ihr, die
weit über das menschliche Maß hinausreichten, ähnlich
jenen, mit denen sie ihre Gestalt zu wandeln
vermochte, machten sich ans Werk, ihr eigenes Kind zu
formen nach dem genauen Ebenbild von Amees
Geborenem.
Das brauchte eine lange Zeit, währenddessen Amees
Knabe gewaschen und gesalbt wurde und Kim und
Kano aufgeregt versuchten, die Maus zu erreichen, um
ihr mitzuteilen, daß Dragon einen Sohn hatte –
Atlantor.
Maratha brauchte all ihre Kraft. Langsam verfiel ihr
glattes Gesicht, wurde faltig, ausgelaugt von dem
Übermaß an Lebenskraft, den der formende Vorgang
verschlang. Ihre Haare wurden grau und schließlich
weiß und das Mädchen wäre sicherlich erschrocken,
hätte sie die Greisin erblickt, die erschöpft auf dem Bett
lag und sich nun selbst unter den ersten Wehen zu
krümmen begann. Aber ihre seltsamen Kräfte griffen
helfend ein, und Dragons zweiter Sohn wurde ohne
Schmerzen geboren.
Die Frau sank erschöpft zurück. Der erste Schritt
war getan.
Zur gleichen Zeit stand Dragon unter Deck seines
Schiffes und sprach zu den Männern an den Rudern.
Ihre Ketten waren gelöst worden. Bisher hatten die
Kapitäne sich standhaft geweigert, die Rudersklaven
zu entlassen.
Dragon erklärte ihnen, worum es ging, und nach
anfänglichem Mißtrauen, wie es jeder gepeinigten
Kreatur eigen ist, begannen sie zu begreifen, was es
war, das der neue König ihnen da anbot.
Ein unbeschreiblicher Tumult entstand, den einer
der Aufseher grob mit der Peitsche beenden wollte.
Aber Dragon wies ihn zurecht, daß er im
Augenblick zu freien Männern rede. Er entließ den
Aufseher mit dem unbestimmten Gefühl, einen neuen
Feind gewonnen zu haben. Dafür aber sechzig
begeisterte Freunde, die für ihren König durchs Feuer
gehen würden. Er begann das Verhältnis zu begreifen,
von dem Gorich gesprochen hatte: daß auf tausend
begeisterte auch eine haßerfüllte Stimme kam. Aber es
schien ihm, daß Gorich bei weitem untertrieben hatte.
Er mußte künftig sehr vorsichtig sein. Die Sklaverei,
das hatte er in den wenigen Tagen seiner Regentschaft
in Myra erkannt, war nicht nur von wirtschaftlicher
Bedeutung – sie war eine Lebensanschauung bei diesen
Menschen. Ihre Aufhebung bedeutete einen tiefen
Eingriff in die myranische Seele. Er durfte jene nicht
vorschnell verurteilen, die ihm nach dem Leben
trachteten. Er mußte sie verstehen und zu überzeugen
versuchen. Wie heute ...
Unter dem donnernden Beifall der Menge glitten die
Schiffe in die Mitte des Hafens hinaus. Fackelzeichen
verkündeten die Bereitschaft zum Start.
Die Riemen knarrten. Beider Schiffe Ruder tauchten
gleichzeitig ins Wasser, ließen es aufschäumen. Die
Galeeren ruckten vorwärts. Der Rhythmus der
Takttrommler wurde rascher. Einer spornte den
anderen an. Dragons Männer legten sich in die Riemen
mit der Kraft einer wilden Hoffnung. Die Sklaven des
zweiten Schiffes krümmten ihren Rücken über das
Ruder in Pein und Furcht.
So fuhren sie lange nebeneinander her den von
Fackeln und Feuern erleuchteten Meeresarm entlang.
Männer, Leder und Holz begannen zu ächzen. Schweiß
floß über die gepeitschten Rücken ebenso wie über
jene, die einen Schauer vom Vorgefühl der Freiheit zu
verspüren glaubten mit jedem Ruderzug, den sie taten.
Dragon beobachtete das andere Schiff mit geballten
Fäusten. Es führte um eine halbe Länge, und gut die
halbe Strecke lag bereits hinter ihnen.
War der Schmerz wahrhaftig der bessere Antreiber?
Er lief unter Deck, sprang auf den schmalen Steg
zwischen die rudernden Männer. »Vorwärts!« rief er.
»Das ist die entscheidendste Schlacht eures Lebens. Es
mag stärkere Feinde geben, die uns eines Tages auf See
begegnen, aber keine schmählicheren als jene, denen
ihr jetzt gegenübersteht. Es ist das ganze myranische
Reich, das von jetzt an genauso auf euren Schultern
liegt wie auf denen der Männer auf dem Deck. Ihr habt
den besten Steuermann, das beste Schiff und den
besten ...«
»König!« keuchte einer.
Dragon grinste. »Was wollt ihr dann noch?
Trommler! Ist dir nicht klar, daß die Zukunft des
Reiches von deinem Schlag abhängt?«
»Doch, mein König!«
»Dann nimm den Eindruck von den Männern, daß
dies eine Vergnügungsfahrt ist. Oder bist du wie die
Kapitäne der Meinung, daß man Sklaven braucht, um
eine Schlacht zu gewinnen?«
»Nein, mein König!« beeilte sich der Trommler
hastig zu versichern.
Sein Schlag wurde kräftiger und rascher, unmerklich
zuerst, dann fühlbar, als die Ruderer mithielten.
»Jaaahhh«, entfuhr es Dragon wie ein Seufzer. Seine
Faust schlug den Takt gegen seinen Schenkel. Er
lächelte, als er mehrere der Kapitäne auf der
Unterdecktreppe stehen sah. Es fiel ihnen noch immer
schwer, zu begreifen, was es war, das diese Männer
trieb. Sie kannten nur die Knute. Und nun kam einer,
der diese Sklaven aus ihren Ketten schlüpfen ließ und
mit Worten anfeuerte, daß sie ruderten wie die Teufel.
Es würde vielleicht Jahre währen, bis sie sich daran
gewöhnt hatten, bis es zu ihrer Anschauung wurde.
Aber sie waren ehrlich genug, die Anerkennung zu
zeigen. Hier war ein Mann, der etwas Unglaubliches
vollbrachte. Wahrlich, ein würdiger König.
»Beinahe gleich schnell«, sagte einer, als Dragon an
Deck ging, um nach dem anderen Schiff zu sehen.
»Schneller«, berichtigte Dragon. »Wir holen auf, seht
ihr? Wir werden sie um zwei Längen schlagen!«
»Verzeiht, mein König. Glaubt Ihr nicht, daß Ihr
übertreibt?«
»Nein. In unseren Männern steckt noch jene Kraft,
die diese armen Teufel dort drüben durch den Schmerz
verlieren.«
Die Kapitäne schwiegen nachdenklich und blieben
stumm, als des Königs Schiff überholte und sich von
seinem Gegner löste. Die Leuchtfeuer der Felsen von
Faraun strahlten in der Finsternis wie Juwelen, halb am
Firmament. Stöhnen und das Klatschen von Leder blieb
hinter ihnen zurück. Der Trommelschlag wurde noch
um eine Spur rascher, wie es auch der Herzschlag der
Männer nun sein mußte. Das Schiff flog über die glatte
See. Der Abstand vergrößerte sich. Die Felsen kamen in
Sicht. Es gab keinen Zweifel mehr am Sieg.
Einer der Kapitäne sagte: »König, hältst du uns nun
für schlechte Kapitäne?«
»Nein«, rief Dragon. »Denn ihr wißt eure Schiffe gut
zu führen. Lernt auch die Menschen zu führen, und es
wird niemanden auf dem Großen Meer geben, der uns
besiegen könnte.«
Auf Kommando wurden die Ruder eingezogen. Das
Schiff lief ins Ziel. Der Anker klatschte ins Wasser. Das
verfolgende Schiff hatte bereits aufgegeben.
Dragon ging unter Deck. Sein Blick flog
anerkennend über die schwitzenden, erschöpften,
schwieligen, bärtigen, ausgemergelten Gestalten.
»Männer Myras!« rief er triumphierend. »Ihr habt
einen großen Sieg errungen. Ihr seid frei!«
Wie ein Orkan brach es los. Vergessen waren
Erschöpfung und Müdigkeit.
»Geht an Deck«, sagte Dragon. »Sie sollen es alle
sehen!«
Es wurde zu einem Freudentanz.
»Nun, wie ist es?« fragte Dragon die Kapitäne. »Seid
ihr auf meiner Seite?«
Einer nickte. Aus ihm sprach die Unsicherheit aller.
»Ihr habt unzweifellos überzeugt, König Dragon. Aber
es wird eine große Schwächung bedeuten, die
Rudersklaven freizugeben. Beinahe alle sind
Gefangene aus König Zogors Eroberungszügen. Einmal
frei, werden sie nicht bleiben ...«
»Glaubt Ihr? Ich sage Euch, zehn myranische
Ruderer, deren Herz für Myra schlägt, wiegen mehr als
hundert Sklaven, für die Ihr wiederum ein Dutzend
myranische Aufseher brauchtet. Gebt ihnen das Gefühl,
dazuzugehören, und die wenigsten werden gehen.
Viele wissen nichts anderes, als zu rudern, sie werden
es für guten Sold weiter tun.« Er sah die Kapitäne fest
an. »Ich brauche eine Flotte, auf die ich mich verlassen
kann, eine, die die Küsten zu schützen vermag, eine,
mit der ich selbst Myra wiedererobern könnte, wenn es
meiner Hand entglitte. Wollt ihr mir das sein? Ein
starker, loyaler Arm, der meinen Vorstellungen von
Frieden auch den nötigen Nachdruck verleiht, damit
jenen, deren Fluch es ist, am Krieg zu gewinnen, ein
Zaum angelegt wird?«
Die Männer blickten ihren König an, einer, der so
anders war als alle, die den myranischen Thron bisher
innegehabt hatten. Zustimmung war in ihren Blicken.
Es fiel ihnen schwer, sie in Worte zu fassen. Er war ein
Mann der Tat. Einer mit einem Kopf voller Ideen. Einer
mit Überzeugungskraft! Unter seiner Herrschaft
mochte Myra zu einem Reich werden, wie es noch
nicht viele gegeben hatte. Und sie sollten sein Arm
sein! Bei den Göttern, das wollten sie!
»Wir sind dein Arm. König«, sagte einer, und die
anderen nickten beifällig. »Selbst wenn es Myra wäre,
das wir für dich erobern müßten!«
Dragon nickte lächelnd. Das war sein zweiter Sieg
über Myra. Ein Teil der Vergangenheit war besiegt. Die
Männer ließen sich überzeugen. Sie ließen sich aus
ihren Traditionen reißen. Sie ließen sich für die
Zukunft begeistern. Es lag an Cherons Brüdern, diese
Zukunft vertraut zu machen.
»Onkel! Onkel!«
Yinas Rufe rissen Dragon aus seinen Gedanken. Die
Schiffe hatten bereits gewendet und befanden sich auf
der Rückfahrt in den Hafen, wo es ein Fest geben
würde, wie Myra es noch nie erlebt hatte.
Er fing das Mädchen auf, das ihm über eine Rolle
Taue entgegengestolpert kam. Aufregung rötete ihr
sonst so blasses Gesicht.
»Maus, Maus«, tadelte er. »Du wirst dir das Genick
brechen.«
»Onkel«, schnaufte sie. Ihre Augen glänzten. »Eine
Botschaft von Kim. Du hast einen Sohn.«
Amee lächelte glücklich. »Ich bin so froh, daß es ein
Sohn ist. Dragon«, flüsterte sie mit dem Blick auf das
schlafende Kind.
»Man sieht, wie verschieden die Werte sind«,
erwiderte Dragon. »Die Katmahzari dächten anders
darüber.«
»In Urgor wäre es vielleicht gleichgültig«, sagte
Amee. »Aber der König Myras braucht einen Sohn.«
»Atlantor – Atlantis! Wenn ich nur endlich wüßte,
was es bedeutet«, murmelte er. Er betrachtete das
Neugeborene, das seinen Blick zu fühlen schien, denn
es erwachte.
Und begann zu schreien.
Die Königin nahm den Kleinen aus seinem Bettchen
und hielt ihn hoch, wobei er sich zusehends beruhigte.
»Er hat ein Mal«, sagte sie plötzlich und deutete auf
den rechten Fuß des Kindes, an dem ein brauner Fleck
sichtbar war, zu klein, um sofort aufzufallen.
Dragon grinste. »Bist du sicher, daß es ein Mal ist?
Es sieht so braun aus ...«
»Beleidige den Erben Myraniens nicht«, meinte
Amee lächelnd und legte den Kleinen in das Bettchen
zurück. Dragon trat zum Fenster und blickte hinab auf
den funkelnden Hafen. »Ein großer Tag«, murmelte er.
»Wir sollten es auch feiern«, seufzte Amee, ihre
meergrünen Augen halb geschlossen. »Morgen. Oder
übermorgen, wenn ich mich kräftiger fühle. Laß Partho
kommen. Ich vermisse ihn. Das Heer kommt ein paar
Tage ohne ihn aus. Wir und Iwa und die Kinder ... und
Cheron ...« Ihre Stimme wurde schläfrig. »Wir sollten
es wirklich feiern ... daß ich mich hier zu Hause zu
fühlen beginne ... Was in Urgor wohl jetzt geschieht
...?«
»Wir werden es bald wissen, Amee. Boten sind
unterwegs. In einigen Wochen werden die Daikane alle
hier versammelt sein – zum zweitenmal in diesem Jahr.
Vielleicht ist es ein großer Schritt voran zu dem Ziel,
das Romon uns gezeigt hat ...«
Der myranische Riese, dachte er, so nannten sie
dieses Reich. Unbezwinglich. Unbeugsam. Grausam!
Und wir haben es bezwungen. Er betrachtete Amees
entspanntes Gesicht. Sie schlief, das Kind neben ihr.
Gesänge trug der Wind halb verweht vom Hafen
herauf. Der myranische Riese geisterte durch seine
Gedanken.
Plötzlich war ein anderes Bild vor seinen Augen. Er
sah einen Riesen – hilflos und gefesselt. Ein Gesicht
tauchte auf aus einer dunklen Flüssigkeit, verzerrt in
Qual, den Mund weit offen zum Schrei ...
Unwillkürlich zuckte Dragon zurück, so nah und
wirklichkeitsgetreu war das Bild. Entsetzen schnürte
ihm die Kehle zu.
Es verblaßte, und Dragon sah wieder den stillen
Raum um sich, die beruhigende Wirklichkeit.
War das eine Erinnerung gewesen? Gab es solch
grauenvolle Dinge in seiner Vergangenheit?
Es beschäftigte ihn lange in dieser Nacht, selbst im
Schlaf noch.+
8.
Die Schwarze Wellenreiterin lag vor Phelos, einem
kleinen Fischerdorf an der Küste der Insel Pathos, vor
Anker. Wiquin beobachtete die Seeleute, die volle
Wasserfässer an Bord brachten und Proviantkisten.
Megil überwachte die Verladung. Zwölf Männer der
Besatzung hatten sich dafür entschieden, das Schiff hier
zu verlassen. Sie besaßen Familien auf der
Schlangeninsel, zu denen sie zurückkehren wollten.
Das wäre auf der Wellenreiterin unter den gegebenen
Umständen für die nächste Zeit nicht möglich gewesen.
Die übrigen Männer hielten zum Kapitän, der noch
immer schwach und ohne Bewußtsein in seiner Kajüte
lag. Aber er lebte noch, und er schien etwas von der
Zähigkeit des Unkrauts an sich zu haben.
Auch Wiquin – er wagte noch immer nicht, seinen
wahren Namen vor der Besatzung bekanntzugeben,
obwohl sie sich ihm willig unterstellte – fühlte sich
noch schwach. Der Gedanke an die Berührung
Serphats ließ ihn schaudern. Vielleicht war er einer der
Fischmenschen, von denen die Seefahrer berichteten.
Nur sie konnten solch kaltes Blut in den Adern haben.
Aber dann dachte er an die gallertartige Masse, die
über das Deck mehr geronnen als gekrochen war, und
sie hatte nichts mit Blut oder Knochen gemein gehabt.
Das Ausscheiden der zwölf Besatzungsmitglieder
bereitete ihm einigen Kummer. Sechzehn Mann, die sie
nun waren, würden das Schiff sicher nicht in jeder
Situation voll in der Gewalt haben.
Auch Megil sah mißmutig drein.
Aber kurz vor dem Ankerlichten kamen schließlich
drei Matrosen aus Phelos an Bord, die anheuern
wollten, als sie hörten, daß die Wellenreiterin nach
Myra wollte.
Wiquin heuerte sie an. Der Steuermann schien
wenig erbaut darüber und die Mannschaft nicht
minder. Aber sie sahen schließlich ein, daß wenigstens
einige der Lücken gefüllt werden mußten.
Sie nahmen Kurs nach Norden, in der Hoffnung,
daß der günstige Wind anhielt und kein Sturm aufkam,
der der unzureichenden Besatzung schwer zu schaffen
gemacht hätte.
An dem Abend nach ihrer Abfahrt von Phelos
vernahm Wiquin plötzlich Geschrei und Gezeter von
den Laderäumen her. Er ging der Sache nach und fand
zu seiner Überraschung vier der Besatzungsmitglieder
um ein Mädchen geschart, das sich mit Händen und
Füßen gegen die plumpen Vertraulichkeiten der
Seeleute wehrte.
Sie schreckten auf, als er eintrat. Das Mädchen sah
sich wütend um. Sie war drauf und dran, auf einen der
Männer loszugehen. Der Steuermann kam hinter
Wiquin die Treppe herab.
Er winkte den Männern, zu verschwinden, was sie
schleunigst taten, bevor Wiquin sich ihre Gesichter
allzu deutlich einprägte.
»Wer ist sie?«
Der Steuermann zuckte die Schultern. »Sie sagt
ihren Namen nicht.«
»Aber wie kommt sie an Bord?«
»Der Käpt‘n ließ sie an Bord bringen. Die drei
Männer, die er beauftragte, sagten, sie hätten sie aus
dem Palast, und sie garantierten dafür, daß sie eine
Menge wert
sei ...«
»Aus dem Palast?« fragte Wiquin verwundert. »Sie
haben sie entführt?«
»Sieht so aus.«
»Wozu?«
»Das weiß der Käpt‘n. Aber den können wir nicht
fragen. Bis es soweit ist, bleibt sie am besten an Bord.«
Wiquin schüttelte noch immer verwundert den
Kopf. »Wer sind die drei Männer? Wissen sie nicht,
was der Käpt‘n im Sinn hatte?«
»Das wußten sie nicht.«
»Ich muß mit ihnen reden. Vielleicht ...«
Der Steuermann nickte bedauernd. »Sie sind in
Phelos mit den anderen von Bord gegangen.«
»Warum hast du mir nicht früher davon Meldung
gemacht?« fragte Wiquin ungehalten.
Megil zuckte die Schultern. »Es bestand keine
Veranlassung. Ich dachte, sobald der Käpt‘n wieder auf
dem Damm ist, wird er schon wissen, was er mit ihr
wollte. Ich hatte den Eindruck, daß du nichts davon
wissen solltest ...«
Wiquin nickte langsam. »Da magst du nicht unrecht
haben. Er hat kein Wort erwähnt ...«
Er betrachtete das Mädchen. Sie hatte
schulterlanges, dunkles Haar, dunkle Augen, einen
vollen, roten Mund. Sie erwiderte seinen Blick trotzig
und abwehrbereit, als wolle sie sagen: »Ich würde an
deiner Stelle nichts anfassen!«
Er grinste bei dem Gedanken. Da war allerhand zum
Anfassen – gut entwickelte Brüste unter einem am
Vortag wohl noch weißen Hemd. Auch der
knöchellange rote Rock zeigte Spuren einiger
Auseinandersetzungen. »Wir können sie nicht im
Laderaum eingeschlossen lassen«, meinte Wiquin
entschieden. »Wir haben Platz genug in den
Mannschaftsräumen, um sie von der Mannschaft
fernzuhalten. Sie braucht jedenfalls frische Luft und
Wasser. Und sie kann sich vielleicht um den Käpt‘n
kümmern ...«
Der Steuermann sah ihn zweifelnd an.
Wiquin griff nach dem Arm des Mädchens. Sie wich
zurück. »Na, komm schon«, sagte er geduldig. »Du
willst doch nicht wieder hier eingeschlossen werden,
oder?«
Sie schritt an ihm vorbei hinter dem Steuermann die
Treppe hoch. Auf Dock sah sie sich wachsam um. Auch
die Männer ließen kein Auge von ihr. Schließlich ging
sie mit stolz erhobenem Kopf voran in den
unbewohnten Teil der Mannschaftsräume. Sie schloß
sich ein, bevor Wiquin irgendwelche Fragen an sie
richten konnte. Schulterzuckend kam er wieder an
Deck und beauftragte einen Bootsmann, ihr Wasser
zum Waschen und etwas zu essen zu bringen, aber die
Finger von ihr zu lassen.
Der stellte alles vor die verschlossene Tür und kam
wieder hoch. Er wollte offenbar möglichst wenig mit
der Sache zu tun haben.
Sie kam die ganze Nacht nicht mehr heraus, aber
Wasser und Essen waren verschwunden.
Während der Nacht frischte der Wind auf, und die
Männer hatten bis zum Morgen zu tun, das Schiff auf
Kurs zu halten. Der hohe Wellengang fegte das Schiff
wie eine Nußschale durch die nachtschwarze Gischt.
Wiquin, der alles andere als ein Seefahrer war,
verbrachte den größten Teil der Zeit an der Reling und
kotzte sich die Seele aus dem Leib. Als die
Morgendämmerung kam, fiel er zu Tode erschöpft in
seine Koje, wo ihn der Schlaf von der Übelkeit erlöste.
Am Morgen hatte sich die See noch immer nicht
wesentlich beruhigt. Wiquin erwachte vollkommen
gerädert. Der Steuermann versuchte ihm
klarzumachen, daß sie ziemlich weit vom Kurs
abgekommen seien, und zwar in westlicher Richtung.
Wiquin war das in seinem Zustand völlig gleichgültig.
Er war auf dem Weg zur Reling, als er das Mädchen an
Deck bemerkte. Sie sah nicht viel besser aus als er
selbst. Sein Mitleid ließ ihn seine Übelkeit
vorübergehend vergessen. Er setzte sich zu ihr, als er
sah, daß sie weinte. Er legte den Arm um ihre
Schultern. Sie wehrte ihn nicht ab, und er zog sie an
sich.
So saßen sie eine Weile, bis die Wolken aufbrachen
und die Sonne herauskam. Der steife Wind ließ nach.
Die See wurde ruhiger.
Das Grinsen der Mannschaft störte Wiquin wenig.
Es war nicht das erstemal, daß er es erlebte. Auch auf
der Jagd nach Jaggar war er mehrfach seekrank
gewesen. Hier als stellvertretender Kapitän allerdings,
gestand er sich ein, hatte er keinen besonders
vorbildlichen Eindruck hinterlassen. Aber er wußte
auch, daß das Grinsen der Männer gutmütiger Natur
war. Sie achteten ihn für den Mut, den er in Candis
bewiesen hatte. Solange der Käpt‘n ausfiel, waren er
und der Steuermann für sie der Käpt‘n.
Die Übelkeit schwand, je ruhiger das Wasser wurde.
Das Mädchen fror, und er nahm sie mit in die
Kapitänskajüte, um nach Jaggar zu sehen. Er bat den
Steuermann, Schiffskleider für sie zu beschaffen.
Wenn Wiquin erwartet hatte, daß das Mädchen den
Kapitän kannte, sah er sich nun enttäuscht. Sie
betrachtete ihn zwar interessiert, aber das war alles.
Einer der Männer brachte die Kleider. Während das
Mädchen sich umzog, begab sich Wiquin in die
Kombüse. Er verspürte mörderischen Hunger, was
nach der gründlichen Magenentleerung kein Wunder
war. Mit Woqua, einem aromatischen, heißen
Candieser Getränk, Trockenbrot und Räucherfleisch
beladen, gelang es ihm schließlich, bei dem Mädchen
einen so guten Eindruck zu erwecken, daß sie seine
Fragen zu beantworten begann und nach und nach
redseliger wurde.
Sie hieß Selaqua, aber alle nannten sie Sela, und er
sollte es ruhig auch tun. Sie gestand auch ein, daß sie
über zwanzig Sommer zählte, aber sie sah wesentlich
jünger aus, und Wiquin war nicht bereit, alles zu
glauben. Er freute sich, daß sie auftaute und nach einer
Weile sogar wieder lachte.
Er fand sie sehr schön.
Sie wollte wissen, wer sie an Bord gebracht hätte
und warum. Wiquin erklärte ihr, daß er das nicht
wüßte, daß es aber etwas mit dem Kapitän zu tun habe.
Er sagte ihr auch, daß die Männer, die sie gebracht
hatten, nicht mehr hier waren.
Dann versuchte er etwas über sie zu erfahren, und
sie wurde sehr wortkarg. Als er sah, daß nichts aus ihr
herauszubringen war, wechselte er das Thema, was sie
sofort wieder gesprächiger werden ließ. Als sie
allerdings erfuhr, daß es wohl sehr lange dauern
würde, bis man sie zurückbringen könnte, nickte sie
düster, als hätte sie sich bereits damit abgefunden.
Am Nachmittag gerieten sie erneut in einen
schweren Sturm, der sie weiter nach Nordwesten trieb.
Erschöpfung machte sich bei den Männern bemerkbar
und Mutlosigkeit, die wohl auch damit
zusammenhing, daß Kapitän Jaggar noch immer kein
Lebenszeichen von sich gab. Es war nun der zweite Tag
auf See, und selbst das Heulen der Elemente vermochte
ihn nicht zu wecken. Wiquin selbst empfand immer
wieder ein leises Grauen, wenn er die bleiche Gestalt
anblickte. Einige Augenblicke länger unter dem Griff
der eisigen Hand, und ihm wäre ein gleiches Schicksal
beschieden gewesen.
Erst in der Abenddämmerung klärte es auf, aber
eine steife Brise hielt den Wellengang ungemütlich
hoch. Dennoch wagte ein Mann sich auf den Mast, weil
sie befürchteten, in die gefährlichen Riffe der
Fischerinseln zu treiben.
Der Mann sichtete Land, an dem sie vorbeitrieben.
Es mußte sich um eine größere Insel handeln. Bald
sahen sie Berge, wenn sie aus den Wellentälern
hochtauchten. Landen war unmöglich.
Das Gebirge schien als eine Art Windschatten zu
wirken, denn das Wasser wurde merklich ruhiger, als
sie die Insel passiert hatten. Aber die Wellen waren
noch immer hoch genug, um Wiquins Appetit
weitgehend lahmzulegen.
Dann meldete der Ausguck ein Schiff, das auf sie
zukam und sie ebenfalls bereits gesichtet haben mußte.
Das verursachte einige Aufregung. Diese Gewässer
waren bekannt für allerlei unerfreuliche Dinge, die sich
hier abspielen sollten.
Die Männer fingerten unruhig an ihren Waffen. Die
meisten besaßen nur Dolche oder Entermesser,
abgesehen von ein paar Äxten.
Der Steuermann öffnete die Waffenkammer des
Schiffes, in der mehrere gekrümmte Klingen und eine
Reihe großer Bögen hingen. Er verteilte die Schwerter.
Nur zwei der Männer wußten mit einem Bogen
umzugehen, einer davon war Wiquin.
Als sie wieder an Deck kamen, war das fremde
Schiff schon ziemlich nahe. Noch war nicht zu
erkennen, ob es freundliche oder böse Absichten hatte.
Wiquin war klar, daß sie keine großen Chancen hatten,
wenn die Absichten des anderen feindlich waren.
Sie konnten keinerlei Flagge an dem Schiff
entdecken, und das stimmte sie noch mißtrauischer.
Zudem war das fremde Schiff schneller, da es trotz des
heftigen Windes mit beinahe vollen Segeln fuhr.
Es kam heran und schlug zu.
Ein Hagel von Pfeilen bohrte sich in die Planken, in
den Mast und das Steuerhaus. Niemand wurde
verletzt, aber während die Männer der Wellenreiterin
Deckung suchten, kamen die ersten Enterhaken in
hohem Bogen über die Wellen. Der Angreifer mußte
verdammt waghalsig sein, wenn er es bei diesem
Seegang versuchte.
Wiquin schob das Mädchen in Deckung und suchte
sich ein Ziel auf dem auf und ab tanzendem Schiff. Er
entdeckte ein lohnendes: ein Bootsmann, der einen
weiteren Enterhaken schwang.
Der Pfeil traf ihn in die Brust. Er fiel samt dem
Haken. Auch der zweite Schütze fand ein Ziel. Ein
neuer Hagel von Pfeilen ergoß sich über das Deck.
Einer der Männer schrie auf, aber er war nicht schwer
verletzt.
Es war unmöglich, das Deck zu überqueren, um die
Entertaue loszuschneiden. Handbreit um Handbreit
zog sich das Schiff daran näher an die Wellenreiterin.
Die hohen Wellen donnerten zwischen den
Bordwänden.
Wenn der Abstand gering genug war, würden die
Männer springen.
Verzweifelt versuchte Megil den Kurs zu ändern.
Doch der andere Steuermann war geschickt. Er machte
jedes Manöver mit.
Auf beiden Seiten hatten die Männer Deckung
gesucht vor dem gefiederten Tod.
Wiquin wartete mit gespanntem Bogen. Als er sah,
daß der erste der Gegner sich zum Sprung bereit
machte, schoß er. Er traf nicht, aber der andere sprang
in die Deckung zurück. Dann brachte ein Manöver die
Schiffe für Augenblicke so nah, daß die Bordwände
einander fast berührten. Ein Dutzend Männer
sprangen, landeten auf dem Deck der Wellenreiterin
und stürzten auf die Besatzung los.
Wiquin schoß und sah einen fallen. Für einen
zweiten Pfeil blieb keine Zeit. Er bekam gerade noch
seine Klinge blank. Zwei kamen in seine Richtung.
Undeutlich hörte er die Schreie der Männer, als sie
aufeinander loshieben, dann parierte er, wich der
zweiten Klinge aus und stach zu. Der erste Angreifer
fiel, der zweite torkelte an ihm vorbei, den
Kajütenniedergang hinab, wo das Mädchen stand. Sie
fing ihn mitten im Fall ab. Als sie sich wieder von ihm
löste, sah er einen blutigen Dolch in ihrer Faust. Sie
lächelte ihm verzerrt zu.
Wiquin hob seinen toten Gegner wie einen Schild
vor sich und wagte sich aus der Deckung. Ein halbes
Dutzend Pfeile zuckten um ihn in den Boden, zwei
trafen den Toten. Dann hatte er die Reling erreicht und
hieb wie ein Berserker auf die Entertaue ein. Zwei
gelang es ihm zu kappen. Ein drittes riß nach dem
ersten Schlag, als die Schiffe auseinanderzugleiten
begannen.
Ein Pfeil hieb ihm die Klinge aus der Hand.
Instinktiv ließ er sich fallen. Zwei weitere Haken hatten
sich innerhalb der Reling verkeilt. Ihre Taue konnte er
mit dem Dolch kappen. Vorsichtig begann er darauf
zuzukriechen. Dabei konnte er das ganze Deck
übersehen. Überall kämpften Männer. Mehr als zwei
Dutzend der Gegner mußte es gelungen sein zu entern.
Er sah drei Angreifer das Steuerhaus stürmen. Megil
taumelte heraus, die Hände an den Unterleib gepreßt,
und stürzte. Zwei von den Angreifern erschienen
wieder, sahen sich um. Sie entdeckten das Mädchen.
Erstarrt beobachtete Wiquin, wie sie von zwei Seiten
auf sie zukamen. Ihr Gesicht zeigte keine Spur von
Furcht. Sie hielt den Dolch scheinbar gesenkt in der
Rechten. Wiquin wußte, daß es für ihn zu spät war, ihr
zu helfen. Er konnte sie nicht mehr rechtzeitig
erreichen. Dennoch sprang er auf, kappte das letzte der
Taue mit einem Hieb seines Messers und hastete über
das Deck. Pfeile bohrten sich mit dumpfem Ton in die
Planken. Wie durch ein Wunder blieb er unverletzt. Im
Lauf sah er verblüfft, daß das Mädchen nicht auf den
Angriff wartete, sondern selber angriff. Sie sprang, und
ihre Hand zuckte hoch. Der Angreifer vor ihr krümmte
sich. Der zweite faßte sie an den Haaren und riß sie
herum. Ihre Hände waren leer. Der Mann hob sein
Messer.
Aus, dachte Wiquin von Schmerz und Grimm
erfüllt. Aber noch während er es dachte, geschah
etwas, das den Mann sein Opfer loslassen ließ.
Die Kajütentür flog krachend auf. Kapitän Jaggar
stand in ihr – noch immer weiß wie ein Toter, aber in
seinen Augen war ein wilder Grimm. Er hatte sein
Schwert in der Rechten, sein Entermesser in der
Linken.
Und er zögerte nicht. Er stieß dem Mann beides in
die Brust. Dann taumelte er auf Deck, unbekümmert
um die Geschosse und offenbar noch schwach auf den
Beinen.
Er sah Wiquin und rief etwas, das dieser in dem
Tosen und Heulen nicht verstehen konnte. Er lief ihm
entgegen.
»Rücken an Rücken, Junge!«
Die Angreifer entdeckten die beiden mitten auf dem
Deck. Vier umringten sie, und Wiquin fühlte sich fast
an die alten Zeiten erinnert. Er hielt sich mit dem
Rücken gegen den Käpt‘n und wehrte den ersten
Angriff seiner beiden Gegner ab. Jaggar fluchte. Im
nächsten Augenblick fühlte Wiquin einen brennenden
Schmerz am Oberarm. Sein Gegner zog die Klinge mit
einem Grinsen zurück. Sie war rot.
Wütend sprang Wiquin hinterher, stieß mit seinem
Schwert zu, fühlte es abgleiten und fand ein Ziel mit
dem Dolch, der bis ans Heft eindrang. Hastig wandte
er sich um und erstarrte beinahe vor Schreck. Er hatte
sich verleiten lassen. Jaggars Rücken freizugeben. Sein
zweiter Gegner stach zu.
Aber etwas lenkte die Klinge ab.
Sela!
Sie hatte eines der gegnerischen Krummschwerter
aufgehoben und Wiquins Stelle eingenommen. Dann
war Wiquin heran und brachte den Angreifer zu Fall.
Plötzlich war alles vorüber.
Der letzte der Gegner fiel. Das feindliche Schiff
verschwand hinter den Wellenbergen wie ein Spuk.
Einen Augenblick schien alles unwirklich nur die Toten
an Deck sagten eine andere Wahrheit.
9.
Die Verluste der Wellenreiterin, obwohl
vergleichsweise gering, waren schwerwiegend: Megil,
der Steuermann, und vier Bootsleute. Damit war die
Besatzung auf vierzehn Mann geschrumpft, wenn man
den frisch erwachten und mit Begeisterung begrüßten
Jaggar dazurechnete.
Aber Jaggar war schwach wie ein Neugeborenes.
Der Kampf hatte ihn erschöpft. Sela kümmerte sich um
ihn, während die Mannschaft die Toten ins Wasser
warf und die Waffen aufsammelte.
Wer ihr Gegner gewesen war, wußten sie nicht.
Aber daß sie ihm die Lust am weiteren Angriff
genommen hatten, erfüllte sie mit Genugtuung, auch
wenn es nun Wunden zu lecken galt.
Wiquin befahl einen der Männer ans Steuerruder
und hieß ihn Kurs halten. Er gab Befehl, nach Land
Ausschau zu halten. Mehr war nicht zu tun. In diesem
Sturm und bei der Unterbesetzung des Schiffes war an
eine sinnvolle Steuerung nicht zu denken. Er verstand
auch zu wenig. Jaggar mußte helfen.
Der Kapitän ließ sich über die Geschehnisse
aufklären. Er hörte stumm zu und unterbrach nicht. Er
sagte auch nicht, was er dachte. Er schien die Situation
zu akzeptieren. Wiquin war sehr erleichtert darüber.
Jaggar glaubte, daß sie so weit nach Nordwesten
getrieben worden waren, daß sie die Felseninseln vor
Namos passiert hatten. Dann konnte der Angreifer ein
Inselpirat gewesen sein, die dort die Gewässer
überwachten.
Jaggar bedachte das Mädchen immer wieder mit
seltsamen Blicken. Aber er stellte keine Fragen.
Er wurde zusehends kräftiger. Er erinnerte sich an
die Geschehnisse im Candiser Hafen.
Aber man konnte auch sehen, daß er nicht glücklich
über die Entwicklung der Dinge war.
Als das Mädchen die Kajüte verließ, fragte Jaggar:
»Meine Männer haben sie an Bord gebracht, nicht
wahr?«
Wiquin nickte.
»Weißt du, wo sie sie schnappten?«
»Megil sagte, im Palast.«
»Nichts Genaueres?«
Der Junge zuckte die Schultern. »Ich hörte alles nur
aus zweiter Hand. Bis gestern hielten sie es vor mir
geheim. Megil sagte auch, daß die Männer geglaubt
hatten, sie wäre einiges wert ... Wollt Ihr sie
verkaufen?«
»Da bin ich mir jetzt nicht mehr sicher!«
Wiquin schüttelte den Kopf. Er verstand die Welt
nicht mehr. »Ihr wollt sagen, Ihr raubt auch an der
eigenen Küste und verschachert ...«
Der Kapitän grinste und unterbrach ihn. »Die Ware
ist auch nicht schlechter.«
»Aber irgend etwas muß Euch doch heilig sein!« rief
der Junge erregt. »Irgendeine Loyalität ...«
»Meinst du?« unterbrach ihn der Kapitän
sarkastisch. »Es sieht nicht so aus, als hätten wir noch
eine Loyalität zu verschenken. Du vielleicht!« sagte er
grimmig. »Aber ich will dein Gewissen in einigen
Punkten erleichtern. Ich hatte auch vor in dieser Nacht
auszulaufen. Mir war klar geworden, daß ich mich
gegen das Schicksal nicht auflehnen konnte. Ich mußte
ihm zu entfliehen versuchen. Vielleicht kommt der
König eines Tages zur Besinnung. Aber nach diesem
Erlebnis sieht es wohl nicht so aus – solange Serphat
um ihn herumscharwenzelt und ihn für seine finsteren
Pläne breitschlägt, auf welche Art auch immer ...« Er
schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ihn müßten wir
beseitigen ...!«
Wiquin, der sich schon wieder gegen Süden segeln
sah, sagte rasch: »Und das Mädchen?«
»Ich wollte eine von Jellis‘ Konkubinen ...«
»Ihr wolltet den König bestehlen?« fragte der Junge
ungläubig.
»Hm – bestehlen ... Er hat sie ohnehin allesamt von
mir, und ich denke, daß sie seine Launen inzwischen
gründlich satt haben. Jede von ihnen wäre vermutlich
vorausgelaufen zum Schiff ...« Er grinste. »Ich würde es
also mehr eine Befreiung nennen.«
»Und was wollt Ihr mit ihr?«
»Sie als Tauschware verwenden. Junge.«
»Als Tauschware ...?«
»Bist du schwer von Begriff. Wir wollten nach
Namos, stimmt‘s?«
Wiquin nickte. Ihm begann zu dämmern, was der
Kapitän vorhatte. Er wußte nicht, ob er lachen oder
weinen sollte.
»Eines muß man diesen Namitern lassen, oder
besser, ihren Frauen – man kriegt gelegentlich mal
eines ihrer Schiffe in die Zange, aber an ihren Küsten
hat noch niemand eine Frau geraubt. Aber zu einem
Tauschgeschäft hätten wir sie vielleicht breitschlagen
können, wenn wir deine kleine Braut gefunden hätten
...«
»Käpt‘n«, sagte Wiquin kopfschüttelnd, »wenn die
namitischen Frauen wirklich so sind, wie Ihr sagt, und
daß sie auf Namos das Regiment führen, denkt Ihr
dann, sie würden eine der ihren ... tauschen, wie ein
paar Krüge oder einen Sack Mehl ...?«
Jaggar grinste. »Sie tauschen ihre Männer, hab ich
gehört.« Er wurde ernst. »Dein Mädchen ist eine
Myranerin, das mag alles ein wenig ändern. Zudem
wollte ich Jellis eins auswischen ... Und das ist mir
besser gelungen, als ich dachte. Meine Pläne haben sich
gewaltig geändert ...«
»Wir fahren nicht nach Namos?«
»Dazu ist keine Zeit. Wir verschieben es.«
»Aber es ist zum Greifen nahe.«
»Es muß warten. Denk an Jellis‘ Flotte.«
Wiquin atmete auf. »So bringt Ihr mich nach Myra?«
Der Käpt‘n schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin
vielleicht ein Ausgestoßener, aber kein Verräter. Geht
das in deinen Schädel? Ich werde mich niemals gegen
die Bruderschaft stellen. Aber ich werde sie von dem
Dämon befreien, der sie ins Unglück stürzt. Sobald der
Wind dreht, wenden wir nach Süden, nach Candis.
Vielleicht haben die Stürme die Flotte davon
abgehalten, auszulaufen. Vielleicht habe ich mich auch
geirrt, und dieser Dragon ist schwächer, als ich dachte,
und wir schlagen Myra ... aber nicht unter diesem
Teufel Serphat. Von ihm werden wir Jellis befreien.
Dann mag er frei entscheiden, was geschehen soll ...«
Wiquin nickte unbewußt. Er empfand fast
Sympathie für diesen einsamen Kapitän. Es war schwer
abzuschätzen, inwieweit ihn Loyalität zum König oder
zur Bruderschaft oder persönliche Rachegefühle
leiteten.
Serphat war etwas Unheimliches. Drohendes. Galis,
daran zweifelten sie beide nicht, war ein Beispiel für
das, was mit ihnen allen geschehen konnte. Und sie
waren die einzigen, die es wußten.
»Und was«, fragte Wiquin, »glaubt Ihr, gibt Euch
nun bessere Chancen in Candis als vor zwei Tagen?«
»Ich habe den König auf meiner Seite«, erklärte
Jaggar ernsthaft.
»Ihr habt ...?« Der Junge verstand gar nichts mehr.
»Mehr oder weniger.« Der Kapitän lächelte.
»Meinen Männern unterlief nämlich ein kleiner Fehler.
Sie stahlen nicht eine des Königs Konkubinen, sondern
seine heimliche Tochter, Selaqua, die kaum einer
gesehen hat. Er hält sie verborgen, weil sie die Züge
einer Iquani hat. Die Iquani, so sagt man in Candis,
nehmen die Seelen der Männer, mit denen sie sich
paaren. Die Menschen der Schlangeninsel fürchten und
hassen die Iquani. Sie würden sie eher töten, als mit
ihnen verkehren. Selbst ein Mann wie Jellis, dessen
Macht fast unbeschränkt ist, würde auf seinem Thron
nicht mehr sicher sein, wenn bekannt würde, daß er
seine Seele an eine Iquani verloren hat ...«
»Warum verleugnet er sie nicht einfach oder
beseitigt sie? Das dürfte ihm nicht schwerfallen.«
»Da hat ihm der Teufel einen Streich gespielt. Wenn
es nämlich etwas gibt, das der König wirklich liebt,
etwas, wofür er seinen Kopf hinhalten würde, dann ist
es dieses Mädchen.«
Wiquin hatte kein Verlangen, nach Candis
zurückzukehren, selbst unter diesen scheinbar
günstigen Bedingungen.
Er mußte nach Myra – diesen Dragon warnen.
Jaggar mochte in Candis Erfolg haben. Aber mit
oder ohne diesen Schlangenpriester standen die
Chancen hoch dafür, daß die gewaltige Flotte nach
Myra segelte.
Vorerst hielt der Sturm an und trieb das recht
hilflose Schiff weiter nach Nordwesten – die ganze
Nacht über. Währenddessen reifte in Wiquin der Plan,
mit einem der Boote zu fliehen, sobald der Sturm
nachließ.
Und mit Sela!
Wenn es stimmte, was Jaggars über sie und Jellis
gesagt hatte, dann war sie eine wertvolle Geisel. Eine,
die Jellis vielleicht von seinem Vorhaben abhalten
würde.
Sela sah an den Gesichtern der beiden Männer, daß sie
wußten, wer sie war. Sie wich ihnen aus. Selbst ihre
anfängliche Zuneigung zu Wiquin schien nun
erloschen oder zurückgedrängt von einer verzweifelten
Wachsamkeit. Sie wußte, daß sie für jeden eine
brauchbare Beute war. Sie spürte, daß Wiquin andere
Pläne hatte als Jaggar. Und sie wußte natürlich, was ihr
Vater plante. Sie hatte auch gemerkt, daß ihr Vater sich
während der letzten Tage oft sehr seltsam verhalten
hatte – so, als wäre er nicht bei Sinnen. Instinktiv
spürte sie auch, daß der Priester der Schlangengöttin
Mis, der auf die Insel gekommen war, etwas damit zu
tun hatte, daß etwas Bedrohliches von ihm ausging –
obwohl sie ihn nur von fern gesehen hatte.
Aber nun war sie hier – auf einem fremden Schiff,
zwischen zwei Männern, deren Blicke nachdenklich
geworden waren, als sie ihren Wert abwägten.
Sie würde mit ihnen reden, wenn sie reden wollten.
Aber sie hatten gesehen, daß sie eine Klinge zu
gebrauchen wußte. Seit dem Überfall durch das fremde
Schiff trug sie Schwert und Dolch im Gürtel und ließ
keinen Zweifel daran, daß sie sie wieder gebrauchen
würde.
Während der Nacht versuchte Wiquin den Kapitän
über die Position des Schiffes auszuhorchen. Er sprach
auch mit den Männern darüber. Aber keiner vermochte
Genaues zu sagen.
Bei Morgengrauen riß der Himmel auf. Der Wind
flaute ab. Das Schiff glitt in ruhigen Wellen. Die
Männer atmeten auf. An Hand der noch schwach
leuchtenden Sterne fiel es Jaggar nicht schwer, ihren
ungefähren Standort zu bestimmen. Demnach
befanden sie sich mehr als zwei Tagesreisen westlich
von Myra auf direktem Kurs nach Kybor, einer Insel
nahe der balavischen Küste.
Das waren erfreuliche Neuigkeiten für Wiquin. Aber
für diese Nacht war es zu spät zur Flucht. Er mußte
sich gedulden und hoffen, daß die See ruhig blieb.
Die Sonne ging auf und vertrieb die düsteren Bilder
der vergangenen stürmischen Tage. Während das
Schiff Kurs nach Südosten nahm, begannen die Männer
die entstandenen Schäden auszubessern.
Im Laufe des Vormittags flaute der Wind fast
vollkommen ab. Es wurde heiß, und sie machten kaum
Fahrt. Jaggar fluchte, um so mehr, als ihm nicht
entging, daß Wiquin mit ihrer Lage nicht unzufrieden
schien.
Wiquin versuchte mehrmals mit Sela zu reden, aber
sie blieb wortkarg, als wartete sie darauf, daß er ein
bestimmtes Thema anschnitt.
Aber er schwieg über seine Absichten. Er wartete
auf den Abend.
Jaggar erholte sich zusehends. Die Sonne schien es
zu sein, die ihm neue Kräfte gab. Er war beinahe den
ganzen Tag über an Deck und gab den Männern
Anweisungen. Einen unterwies er in der Bedienung
des Steuerruders. Um das Mädchen kümmerte er sich
scheinbar nicht, aber der Junge sah, daß der Käpt‘n sie
wachsam im Auge behielt.
Wiquins Nervosität wuchs. Er konnte sich des
Gefühls nicht erwehren, daß der Käpt‘n etwas von
seinem Vorhaben ahnte.
Endlich brach die Dunkelheit herein. Es wurde kühl,
und man konnte wieder atmen. Die Mannschaft blieb
so lange an Deck, daß Wiquin fast verzweifelte.
Um Mitternacht endlich war das Deck leer bis auf
die Steuerwache.
Der junge Myraner machte sich ans Werk. Er schlich
an das Steuerhaus. Der Bootsmann sah ihn erstaunt an.
»Noch auf, junger ...«
Wiquin brachte ihn mit dem Griff seines Dolches
zum Schweigen. Er ließ die reglose Gestalt vorsichtig
zu Boden gleiten. Dann hastete er in die Kombüse und
schleppte Wasser und Proviant in eines der beiden
Boote. Mit viel Mühe und Schweiß schwenkte er das
Boot aus und ließ es ins Wasser. Es scharrte über die
Bordwand, und Wiquin hielt den Atem an.
Niemand regte sich.
Nach einem Augenblick hastete er auf Zehenspitzen
zu den Mannschaftsräumen ins Unterdeck. Nun kam
der schwierigste Teil.
Sela!
Er pochte an ihre Tür, leise, daß es niemand außer
ihr hören konnte, aber es klang noch immer
verräterisch laut. Sie hörte ihn und öffnete zögernd
einen Spalt, als er sich zu erkennen gab.
Sie sah ihn fragend an. Seine Hand tastete nach ihr
in der Dunkelheit, bekam sie an der Hüfte zu fassen.
Ihr Arm kam hoch, während er nach innen drängte. Im
nächsten Augenblick erstarrte er, als er die Spitze eines
Dolches an seiner Kehle fühlte. Sie schloß die Tür
hinter ihm. »Sela«, krächzte er. »Du gehst fort, nicht
wahr?« Er wollte nicken, aber das brachte ihn in
innigen Kontakt mit der Messerspitze. »Ja«, keuchte er.
»Und du wolltest dich verabschieden?«
»Ja, Sela.«
»Du lügst!«
Er japste als der Druck des Dolches sich verstärkte.
Wütend schob er den Dolch beiseite und rang einen
Augenblick mit ihr. Er fühlte, daß sie Luft für einen
Schrei holte. Rasch drückte er seine Lippen auf die
ihren. Es war süß, und sie wehrte sich nicht sehr. Er
war jedoch vorsichtig genug, ihre Hand mit dem Dolch
nicht loszulassen. Sie fühlte sich warm und aufregend
an in seiner Umklammerung.
»Ich gehe nicht ohne dich«, sagte er und verschloß
ihren Mund erneut. Und er dachte, daß es auch ohne
ihre Bedeutung als Geisel ein Jammer wäre, sie
zurückzulassen.
Er entwand ihr den Dolch, ergriff sie am Haar und
bog ihren Kopf weit zurück. »Kommst du mit mir –
freiwillig und leise? Oder muß ich dich mit Gewalt
vom Schiff schaffen?«
»Du wirst es mit Gewalt tun müssen«, keuchte sie.
Ein kurzer Schlag wie beim Steuermann, nur mit
etwas mehr Gefühl, und sie wurde schlaff in seinen
Armen. Er lauschte gespannt. Nichts regte sich.
War Jaggar nicht mißtrauisch, oder hielt er es für
Wahnsinn, hier mit einem Boot zu fliehen? Einerlei. Es
gab kein Zurück mehr. Er zerrte die leblose Gestalt des
Mädchens die Treppen hoch und zum Boot. Vorsichtig
ließ er sie hineinfallen und kletterte selbst nach. Zwei
Schnitte an den Haltetauen, und das Boot war frei.
Der Koloß der Schwarzen Wellenreiterin
verschwand in der Nacht.
Sie waren allein mit dem Rauschen des Meeres. Der
Junge griff nach den Rudern. Er beobachtete die Sterne
einen Augenblick und schwenkte das Boot nach Osten.
Es würde eine lange Fahrt werden.
10.
Das Mädchen erwachte nach einer Weile.
Sie sah ihn an und schien sich zu erinnern, was
geschehen war. Eine Weile beobachtete sie ihn prüfend
und ohne Groll. Der feine Instinkt, der den Frauen
ihres Volkes eigen war, sagte ihr, daß der Junge ihr
verfallen war. Sie lehnte sich zufrieden zurück. Sie
würde ihm seine Seele nehmen – irgendwann auf
dieser Fahrt.
Und er würde tun, was sie verlangte.
Sie war eine Iquani – die mit dem Blick befahlen!
Der Morgen dämmerte, und Wigor sank erschöpft
neben dem Mädchen nieder. Noch immer blähte kein
Lufthauch das kleine Segel.
Er erwachte gegen Mittag durch einen
Schreckensruf des Mädchens. Benommen starrte er auf
das gleißende, ruhige Wasser, das sich rundum bis
zum Horizont erstreckte. Er hatte befürchtet, daß die
Wellenreiterin ihnen folgen könnte. Aber das Schiff
war nirgends zu sehen.
Dann entdeckte er, was das Mädchen erschreckt
hatte. Mehrere Rückenflossen durchschnitten das
Wasser nicht weit vom Boot.
Haie! durchzuckte es ihn, und Sela schien das
gleiche zu denken. Er griff nach dem Bogen.
Seltsamerweise entfernten sich die großen Fische
daraufhin vom Boot. Aber sie blieben in sicherem
Abstand für die nächste Zeit ihre Begleiter.
Er verglich Sonnenstand und Kurs und bemerkte zu
seiner Verwunderung, daß das Mädchen den Kurs
nach Osten gehalten hatte. Sie lächelte ihm zu und
reichte ihm Essen und Wasser aus dem Proviant.
Danach ruderte er eine gute Stunde, bis ein Wind
aufkam, der das Segel reffte und ihre kleine Nußschale
vorwärts schob.
Wigors Freude darüber wurde allerdings durch den
Anblick dunkler Wolken am westlichen Horizont
gedämpft. Es sah nach Sturm aus. Und sicherlich
waren sie in diesem Boot verloren.
Während des halben Nachmittags beobachtete er die
ständig wachsende Wolkenwand mit großer Besorgnis.
Er sah die wachsende Angst in Selas Gesicht.
Er versuchte ihr ermutigend zuzulächeln.
Die Wogen wurden größer. Der Wind zerrte an dem
kleinen Segel, als wolle er es in Fetzen reißen. Das Boot
glitt bald mit unglaublicher Geschwindigkeit dahin
und kippte gefährlich über die Wellenspitzen. Bevor
Wigor das Segel einholen konnte, zerriß es der Wind
mit einem Knall.
Verzweifelt klammerten sie sich fest. Es wurde
dunkel. Die Umwelt bestand nur mehr aus
schäumendem, rasendem Wasser. Wigor zog das
Mädchen an sich und versuchte sie mit einem Stück
Tau an sich festzubinden.
Aber es war unmöglich. Sie hatten Mühe, einander
festzuhalten. Das Boot wurde herumgerissen,
schleuderte die beiden unter die Ruderbank, wo sie
halb betäubt lagen. Eine Welle spülte das Mädchen
über Bord.
Wigor sah, wie sie in einer hohen Welle versank.
»Sela!«
Er krallte sich am schlüpfrigen Holz fest, zog sich
hoch und sprang hinterher. Sie war zwischen den
Wellen verschwunden, und er schrie sich die Seele aus
dem Leib. In dem Tosen war nicht ein menschlicher
Laut zu vernehmen.
Dann sah er sie wie ein Wunder nah vor sich
auftauchen. Ihre Arme streckten sich ihm entgegen. Sie
rief etwas, bevor der Wellenkamm über sie rollte. Er
versuchte, auf sie zuzuschwimmen, aber diese riesigen
Wellen hatten eine eigene Art von Strömung, die ihn
von ihr wegtrug.
Er tauchte unter, schluckte Wasser, glaubte, seine
Lungen würden bersten. Dann tat sich das nasse Grab
auf, und er bekam Luft.
Entsetzt sah er Sela und zwei Rückenflossen, die
durch die Wellen auf sie zustießen. Gleich darauf
schlug etwas gegen ihn, ein kalter, glatter Körper. Er
schrie auf. Zwei, drei der gefährlichen Flossen tauchten
vor ihm aus dem Wasser und waren im nächsten
Augenblick unter ihm. Sie hoben ihn hoch. Etwas
schlang sich um seine Mitte – ein Tau.
Bei den Göttern! Das waren keine Haie!
Er wurde vorwärts gerissen. Sie zogen ihn mit
unglaublicher Geschwindigkeit an den gewaltigen,
rollenden Wogen entlang. Weit vor sich glaubte er Sela
zu erkennen.
Eine Weile versuchte er, seinen Körper der
Geschwindigkeit anzugleichen. Aber langsam verließ
ihn die Kraft. Es gab Augenblicke, da er durch tiefe
Wogen glitt und dachte, er würde nicht mehr
auftauchen. Dann wieder sprangen die Fische mit ihm
über die Schaumkronen, und er konnte Luft in seine
gequälten Lungen pumpen.
Aber mehr und mehr schwand der Sinn für das, was
geschah. Er verlor das Bewußtsein. Der letzte Eindruck
war der von Stimmen und von helfenden Händen,
deren Finger mit dünnen Häuten verwachsen waren.
Und von besorgten Gesichtern, die menschlich und
doch nicht ganz menschlich schienen ...
ENDE
Auf der Schlangeninsel und auf dem Großen Meer, das von
den Seglern und den Galeeren der Bruderschaft beherrscht
wird, beginnen sich die Ereignisse zu überstürzen. Auch in
Myra herrscht Unruhe. Ränke werden geschmiedet, und ein
Magier fordert DIE MACHT DER GÖTTER ...
DIE MACHT DER GÖTTER so lautet auch der Titel des
nächsten Dragon-Bandes. Autor des Romans ist Hugh
Walker.