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Der Mann, der Gedanken lesen konnte

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Sinowi Jurjew

Der Mann, der Gedanken las

Phantastische Kriminalerzählung

VERLAG KULTUR

UND FORTSCHRITT BERLIN 1967

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Russischer Originalt i tel : MejioneK, Koropww 'iirraji MMCJIH Leicht' gekürz te Fassung Deutsch von Erna Linde Umschlag: Karl Fischer

Verlag Kultur und Fortschri t t , 108 Berlin, Gl inkas t raße 13-15 $2/1967 Lizenz-Nr.: 3-285/222/S7 Satz und Druck: Gralischer Großbe t r ieb Völkerfreundschaft Dresden 111.!) .1

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David Ross erlangte sein Bewußtsein ruckweise zurück. Bei jeder Berührung mit der Wirklichkeit schien es abzu­prallen und sich erneut in eine Wolke nebelhafter Vorstel­lung zu verflüchtigen. Doch bei jeder „Rückkehr" erhaschte das Bewußtsein ein Zipfelchen mehr von der Welt: die trok-kene Wärme des Bettes, die helle, zartgrüne Wand und den weißen Kittel der Krankenschwester. So kam es, daß David, als er erwachte, bereits begriffen hatte, daß er in einem Krankenzimmer lag.

Im gleichen Augenblick überfiel ihn die Erinnerung: Er sitzt am Lenkrad seines alten, aber wendigen „Chevy II". Die Heizung ist eingeschaltet, ihr behagliches Surren vereint sich mit dem Brummen des Motors und fließt über in die gewohnten Geräusche der Straße. David Ross fühlt sich im Vollbesitz seiner Kräfte, und mit dem unerschütterlichen Optimismus seiner neunundzwanzig Jahre glaubt er, daß es immer so bleiben wird. Natürlich wird er nicht immer den­selben Wagen fahren, vielleicht sogar einmal in einem „Cadillac" sitzen. Neue Zeitungen werden erscheinen, und wer weiß, vielleicht bringt er es eines Tages bis zum Chef­redakteur. Auf jeden Fall würde es ihm immer gut gehen.

Er verhielt sich zum Leben so wie zu der vor ihm liegen­den Straße. Er betrachtete nur das, was ihm entgegenjagte. Was hinter ihm lag, verlor an Wirklichkeit, verwandelte sich in Meilen und Daten.

Die Chaussee führte steil nach unten, und David drückte auf das Gaspedal. Er liebte es, bei der Abfahrt so in Schwung zu kommen, daß der Wagen weit über die Tal­senke hinausschoß. Der Zeiger des Tachometers zitterte zwischen achtzig und neunzig Meilen. Das Rauschen der

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Reifen ging in ein Heulen über, der „Chevy" passierte die tiefste Stelle, die rasche Fahrt bergauf drückte David leicht in den Sitz. Der Wagen sauste auf den Gipfel des Hügels zu, als David plötzlich vor sich einen schwarzen Wagen sah. Dieser überholte gerade einen großen Autobus. Links von dem schwarzen Wagen fuhr der Bus, und rechts zog sich ein Graben hin. Scheinbar langsam und schwebend wie in einem Zeitlupenfilm kam der schwarze Wagen auf David zu. Ihm schien es, als habe er noch genügend Zeit, auf die Bremse zu treten, aus dem „Chevy" zu steigen und dem Fahrer des schwarzen Wagens „Alte Schlafmütze!" zuzu­rufen. Aber aus irgendeinem Grunde bewegte er sich ebenso langsam und träge wie das entgegenkommende Auto.

Und ebenso langsam durchfuhr ihn das grauenhafte Ent­setzen vor dem unabänderlichen Zusammenstoß. Der „Chevy" sauste in den Graben, und David hörte ein Krachen oder, richtiger gesagt, den Anfang eines Krachens. Nach dem Aufprall brach quälend langsam tiefe Finsternis über ihn herein.

Die sich während des Aufpralls ausschaltenden Gedanken erstarrten in der Erwartung des Todes, und deshalb be­deutete für David das Krankenzimmer mit seinen grünen Wänden das Leben. Er bewegte die Arme, die Beine, den Kopf. Was war das für ein herrliches Gefühl: Man will die Beine oder die Arme bewegen und spürt als Antwort darauf das diensteifrige Zusammenziehen der Muskeln. ,Sie wünschen?' ,Ich befehle Ihnen, das linke Bein zu he­ben.' ,Ah, mein Lieber, Sie wollen nicht still liegen. Bitte sehr!'

David lachte erleichtert auf, er freute sich, noch am Le­ben zu sein.

Die Schwester in der Zimmerecke murmelte: ,Der Ärmste, er phantasiert.'

Er antwortete: „Ich phantasiere nicht, Schwester. Ich lebe, bin bei gesundem Verstand und bereit, Sie zu küssen. Ich fürchte nur, daß Ihre Verwaltung es mir nicht er­laubt."

„Oho, Sie scheinen sich nicht schlecht zu fühlen,

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Mr. Ross?" — ,Wenn er schon vom Küssen redet, dann ist alles in Ordnung. Hat vom Unfall nur ein paar blaue Flecke zurückbehalten', dachte sie.

„Deshalb habe ich auch gelacht, Schwester. Und Sie ha- ' ben gemeint, ich phantasiere."

„Wie kommen Sie darauf? Das habe ich nicht gesagt." „Nicht? Sollte es mir nur so vorgekommen sein?" „Ja, ja, Sie müssen noch ausruhen. Nach starken Erschüt­

terungen braucht der Körper viel Ruhe. Versuchen Sie, wieder einzuschlafen."

,Man müßte Priscilla anrufen', dachte David. ,Ach was, sie erwartet mich fieute sowieso nicht. Warum sie unnütz mit einem Anruf aus dem Krankenhaus erschrecken.'

In der Redaktion wußte sicherlich noch keiner etwas. Zum Teufel, konnte er nicht wenigstens einen Tag aus­kommen, ohne an die Zeitung zu denken!

David schloß die Augen. Ihm fiel ein, daß er früher, als er noch ein kleiner Junge war, im Bett gelegen und ge­glaubt hatte, nie im Leben mehr einschlafen zu können. Mit aller Kraft hatte er die Lider zusammengepreßt und sogar das Gesicht mit den Händen bedeckt, aber das Be­wußtsein wollte und wollte nicht in die Dunkelheit ver­sinken. Sie breitete sich mehr und m,ehr aus und bedrängte ihn. Er wollte aufstehen und Licht anknipsen. Mit diesem Gedanken schlief er dann gewöhnlich ein.

Jetzt aber sank David ruhig und leicht in den Schlum­mer, als gleite er langsam in warmes Wasser.

David erwachte vom Laut hastiger Schritte. Ein Arzt trat rasch ins Krankenzimmer, nahm vom Tisch ein Blatt auf und kehrte David den Rücken zu.

,Hm, er hat Glück gehabt, ein Fall unter Hunderten', sagte er mit überraschend nüchterner, farbloser Stimme.

David wäre es schwergefallen, zu entscheiden, ob es eine hohe oder eine tiefe, eine rauhe oder eine weiche Stimme war. Dennoch hatte er sie klar und deutlich vernommen.

„Sie haben recht, Herr Doktor, ich habe Glück gehabt. Ein Fall unter Hunderten."

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„Ja, ja", entgegnete der Arzt zerstreut. Plötzlich richtete er seine dicken Brillengläser auf David. „Entschuldigen Sie, was meinten Sie eben?"

„Ich sagte, daß Sie recht haben." „In welcher Hinsicht?" „Herr Doktor, Sie sprachen doch davon, daß ich Glück

gehabt hätte. Ein Fall unter Hunderten . . . " „Das soll ich gesagt haben?" „Wie, vielleicht nicht?" David hob erschrocken den Kopf. Der Arzt lächelte beruhigend und drückte David sanft

in die Kissen zurück. „Schon gut. junger Mann. Es schien *rhir nur. als hätte

ich das nicht gesagt, sondern gedacht. Aber vielleicht habe ich laut gedacht, kann schon sein. Und Sie haben wirklich Glück gehabt. Der andere, mit dem Sie zusammengestoßen sind, ist umgekommen. Vater von vier Kindern. Nun, ruhen Sie sich ä*us. morgen können wir Sie entlassen."

.Er ist also tot', dachte David, ohne etwas dabei zu emp­finden. Der fremde Tod war für ihn etwas Unangenehmes, aber Unabänderliches.

Wieder trat die Schwester ein. Als sie sah, daß David nicht schlief, nickte sie ihm mit einem matten Lächeln zu und sagte: .Sieht gut a u s . . . Hat Ähnlichkeit mit Kirk Douglas . . . '

David wurde verlegen, obwohl ihm ihre Worte nicht un­angenehm waren. Merkwürdig! Er wußte, daß er eine ent­fernte Ähnlichkeit mit dem berühmten Filmschauspieler hatte. Aber sagte das eine Schwester zu einem Mann, der krank im Bett lag? Halt, nein, das war es nicht. Die Schwe­ster hatte diese Worte ausgesprochen, ohne den Mund zu öffnen. Er hatte ganz deutlich die fremde ausdruckslose Stimme gehört. Sie hatte ebenso nüchtern und farblos ge­klungen wie bei dem Arzt. Er hätte auch diesmal nicht die Klangfarbe der Stimme angeben können. Trotzdem wußte er ganz sicher, daß die Schwester gesprochen hatte.

„Meinen Sie das wirklich. Schwester?" fragte er. „Was soll ich meinen?" Die Schwester wandte sich David

verwundert zu.

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„Daß ich gut aussehe und Ähnlichkeit mit Kirk Douglas habe?"

Die Schwester errötete langsam. Es war ihr sichtlich peinlich.

„Wie kommen Sie darauf?" stieß sie kaum hörbar her­vor.

„Aber, Sie haben es doch selbst gesagt, stimmt's?" David vernahm jetzt zwei Stimmen. Eine gewöhnliche.

Frauenstimme mit einem kaum hörbaren heiseren Unter­ton und jene zweite, ausdruckslose Stimme. Die erste mur­melte verlegen: „Ich habe nichts gesagt, denken Sie sich bitte nichts aus!" Die zweite flüsterte: ,Das ist doch anor­mal! Er liest Gedanken, wie ist das möglich?'

„Entschuldigen Sie, Schwester, ich habe mir einen kleinen Spaß erlaubt", sagte David.

Die Schwester kehrte ihm den Rücken zu, anscheinend, um ihre Verwirrung zu verbei'gen, und rückte etwas auf dem Tisch zurecht.

David hielt sich die Ohren zu. Aber er hörte immer noch die Gedanken der Schwester. Jetzt sogar noch lauter als vorher. David war Reporter und pflegte seine Zeit nicht mit Gedanken zu vergeuden, die seinen gewohnten Lebens­kreis überstiegen. Aber diesmal gingen seine Erlebnisse weit über die Grenzen des Alltags hinaus. Er hatte dem Tod ins Auge gesehen, und jetzt auf e inmal . . . David zögerte. Er konnte sich nicht sofort entschließen, diese merkwürdige Erscheinung beim Namen zu nennen. Ja, er hörte fremde Gedanken, hörte sie ebenso deutlich wie die Stimme des Gesprächspartners, vielleicht sogar noch deut­licher.

Er lag lange Zeit still, nicht in der Lage, verstandesmäßig zu erfassen, was mit ihm geschehen war. Wie die meisten Durchschnittsmenschen stellte David seine ungewöhnlichen Erlebnisse nicht in Beziehung zur Allgemeinheit, sondern paßte sie sofort dem täglichen Leben an. Hätte er plötzlich die Fähigkeit zum Fliegen erhalten, wäre sein erster Ge­danke sicherlich gewesen, um wieviel schneller er nun zur Arbeitsstätte gelangen könnte.

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Plötzlich begriff er, daß niemand von seiner Fähigkeit erfahren durfte. Er mußte sie vor seinen Mitmenschen ge­heimhalten . . .

Ein Kapitel, mit dem eigentlich ein neues Leben für David Ross beginnt

David trat aus dem Krankenhaus und ging langsam zur Bushaltestelle. Er blickte die vorübersausenden Autos mit einem früher nicht gekannten, wachen Interesse an. So mochte ein Soldat auf eine Mine schauen, die ihn beinahe in eine andere Welt befördert hätte.

Plötzlich spürte er, daß ihm der Straßenlärm seltsam ungewohnt war. Er blieb stehen, jemand streifte ihn mit der Schulter und murmelte: „Entschuldigung." Die Straße war angefüllt mit Geräuschen, als flüsterten die Hunderte von Passanten ununterbrochen vor sich hin. Er unterschied sogar einzelne Wörter, abgerissene Sätze: ,Siebzehn Dol­lar' . . . ,Sie kommt heute nicht ' . . . ,So ein Idiot! ' . . . ,Ich muß Zigaretten kaufen . . . '

Es stimmte also! Er hörte die Gedanken seiner Mitmen­schen. Herrgott, was für ein Wunder, was für ein Glück, was für Möglichkeiten!

David saß im Bus und schlug die neue Nummer des „Clarion" auf. Er schaute auf die Zeitung, ohne etwas zu sehen. Seine Aufmerksamkeit galt dem gleichmäßig bro­delnden Lärm, der immer bei einer Ansammlung von Men­schen zu hören war. Aber die Fahrgäste schwiegen. Sie unterhielten sich nicht. Was David hörte, waren ihre Ge­danken.

Neben David ließ sich ein breitschultriger Mann auf den Sitz fallen. Er hatte buschige Brauen, ein schmales Bärtchen auf der Oberlippe. Die Lippen waren fest zusammenge­preßt. Die Hände hatte er fast bis zu den Ellbogen in die Taschen seines grauen Mantels vergraben. Er lehnte den Rücken an und schloß die Augen. Unwillkürlich lauschte David den Worten, die klanglos im fremden Hirn geboren

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wurden, dem sichersten Geheimfach der Gedanken. ,Sieht aus, als würde alles klappen.' David schien es, als flüsterte ihm die ausdruckslose Stimme direkt ins Ohr. ,Alles Nötige ist veranlaßt. Sonntag, acht Uhr abends, ist die Haupt--straße voller Menschen. Hoffentlich läuft alles, wie ge­plant .. .'

Die Worte, die David weiter hörte, wurden leiser, ver­schwanden, aber er ertappte sich dabei, daß er in Gedanken das prächtige Juweliergeschäft von Charles Mayer auf der Republic Avenue .sah. Die sonntäglichen Spaziergänger schlenderten an den großen spiegelblanken Schaufenstern vorbei, in denen Schmuckstücke in allen Regenbogenfarben schillerten und funkelten. Unwillkürlich hielten die weib­lichen Passanten den Schritt an, die Männer dagegen gaben sich alle Mühe, sie aus der Gefahrenzone zu ziehen.

Geräuschlos aus der Dämmerung auftauchend, würden zwei Wagen direkt vor dem Geschäft halten, ein grauer „Plymouth" und ein blauer „Chevrolet". Männer mit schwarzen Masken und tief ins Gesicht gezogenen Hüten würden aus den Autos springen, Maschinenpistolen in den Händen. Schüsse krachten. Menschen stürzten getroffen zu Boden.

Das Bild in Davids Vorstellung begann sich zu trüben, zerfloß. Er öffnete die Augen und schaute seinen Nachbarn an. Dessen Lider waren geschlossen, der Mund hatte sich entspannt und seine Schärfe verloren. Der Kopf fiel hilf­los nach vorn oder schaukelte beim Anrucken des Busses von einer Seite auf die andere.

Der Gründer, Besitzer und Chefredakteur des „Clarion", Ronald Burby, war ein Mann mit Prinzipien. Im Grunde genommen hatte er nur zwei Prinzipien, dafür war er bereit, sie mit dem Mut eines Ölkönigs zu verteidigen, der um eine Steuerermäßigung kämpft. Er kalkulierte so: Erstens muß die Zeitung Gewinn abwerfen, und zweitens ist jedes Mittel dazu recht.

Böse Zungen behaupten. Burby habe seine Weltanschau­ung niemals zu ändern brauchen, da er nie eine besessen

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habe. Nun, was auch die Neider sagen mochten, das „Cla­rion" war eine elastische Zeitung. So setzte sich Burby zum Beispiel für einen hohen Schutzzoll ein, dann stieß er laut ins Hörn für seine Aufhebung. Alles hing allein davon ab, wer ihm mehr zahlte. Die blutarme Textilindustrie Neu-Englands, die vor dem Gespenst der billigen japanischen Stoffe zitterte, die Autoexporteure des westdeutschen „Volkswagenwerkes" oder der englischen Firma „Austin", sie alle wollten sich ihre Scheibe vom Gewinn abschneiden. Das „Clarion" unterstützte mal die Republikaner, mal die Demokraten — abhängig davon, auf wen Mr. Ronald Burby setzte. Und jedesmal, wenn er eine Seite in den Himmel hob, beschuldigte er die anderen der Prinzipienlosigkeit.

Dabei forderte Ronald Burby noch, daß alle seine Mit­arbeiter seine hohen Prinzipien teilten. Wenn sich einer von ihnen erdreistete, mißbilligende Worte über den Zick­zackkurs der führenden Zeitung zu äußern, stampfte der Gründer, Besitzer und Chefredakteur des „Clarion" mit dem Fuß auf und schrie: „Sie sind ein Dummkopf, mein Lieber. Warum wundern Sie sich nicht darüber, daß die Aktienkurse an der Börse ständig steigen oder fallen? Worin unterscheidet sich denn eine Zeitung von einer Klinge für ungefährliche Rasur oder von synthetischen Hemdenstoffen? Wenn Ihnen das Schwanken an der Börse nicht gefällt, gehen Sie zu den Priestern. Übrigens heißt es. daß auch bei ihnen die Auslegung der Gebote Schwan­kungen unterworfen ist."

„Ach, David, du bist es! Ich habe gehört, du hattest einen Unfall?" begrüßte ihn im Vorbeigehen der Sportreporter. ,Hat Glück gehabt, der Esel', hörte David als Kommentar die Gedanken des Kollegen.

„Nur, um dir eine Freude zu machen", antwortete er böse. „Entschuldige, daß ich am Leben geblieben bin."

„Was hast du denn?" „Nichts", antwortete David und betrat das Vorzimmer

des Chefredakteurs. „David, mein Lieber", begrüßte ihn die Chefsekretärin

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Miss Nowak. „Wie froh ich bin, daß alles so gut abgelaufen ist." — .Schade, daß er so eine Idiotin zur Freundin hat. Mit Freuden würde ich mit ihm . . . '

,Das fehlte noch!' wollte er dieser albernen Person ant­worten, die schon lange die Augen nach ihm verdrehte und wie ein Nilpferd seufzte, wenn er in ihre Nähe kam. Statt dessen sagte er: „Jenny, meine Sonne, ist der Chef allein?"

„Ja, David, er ist allein und hat phantastische Laune." Ronald Burby erhob sieh hinter einem Riesenstrauß

grüner Zweige, wie eine Eiche auf einer Waldwiese, mäch­tig und ewig. Selbst die Runzeln in seinem bräunlichen Gesicht erinnerten an Eichenrinde. „Ah, David . . . Was führt Sie zu mir?"

„Heute ist Sonnabend, Mister Burby. und morgen, genau um acht Uhr abends, wird ein Überfall auf das Juwelier­geschäft von Charles Mayer erfolgen. Das wird einer der sensationellsten Räuhüberfälle des Jahres sein."

Ronald Burby hob die Augen und schaute David auf­merksam an: „Und woher wissen Sie das? Hat man Sie zur Pressekonferenz der Einbrecher eingeladen? Oder legen Sie Patience?"

David hörte das erstemal keine zweite Stimme. Einen Augenblick schien es ihm, als sei alles nur ein Traum, e"in Hirngespinst. Aber in der nächsten Sekunde wurde ihm klar, daß die Gedanken des Chefredakteurs einfach mtt seinen Worten übereinstimmten. ,Ein reicher Mann kann sich erlauben, zu sagen, was er denkt', ging es David durch den Kopf. Er antwortete: „Leider kann ich Ihnen nicht ver­raten, woher ich diese Information habe. Übrigens, wenn ich es Ihnen sagte, Sie würden es ohnehin nicht glauben."

„Und Sie sind sicher?" „So gut wie sicher. Ich möchte es verhindern." „Mein Gott! Das einzige, was mir im .Clarion' noch fehlt-

ist ein Verrückter. Ich habe eine Idee! Wollen Sie nicht Prediger werden? Ich habe Bekannte, ich kann Ihnen hel­fen. Sie postieren sich auf einer Kirchentreppe und halten Ihren verblüfften Zuhörern eine sensationelle Predigt über das Thema: Du sollst nicht töten und nicht stehlen!"

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„Ja, aber . . . " „Was aber? . . . Sie wollen den Überfall verhindern? Aus­

gezeichnet! Großartig! Und wozu gibt es dann eine Zei­tung? Die Zeitung existiert davon, Verbrechen mitzuteilen und nicht davon, sie zu verhüten. Wenn das .Clarion' morgen früh über einen beabsichtigten Raubüberfall be­richtet, wird er nicht stattfinden. Mögen sich die Ärzte mit Impfungen befassen, wir sind an der Krankheit selbst interessiert."

„Mr. Burby, ich verstehe das alles. Aber das ist doch ein besonderer Fall. Ich bin überzeugt, daß es bei dem Überfall Tote geben wird."

„Um so besser, David. Ich bin kein blutgieriger Kanni­bale, aber wir arbeiten an einer Zeitung. Erste Spalte! Großaufnahmen! Wir kommen früher als die anderen damit ' heraus, weil wir rechtzeitig die besten Fotografen mit Teleobjektiven bereitstellen werden."

„Mr. Burby, ich bin weder ein Idealist noch ein Heitiger. Aber wenn ich jemandes Tod verhindern kann . . ."

„Ich könnte Sie auf der Stelle entlassen, David. Ich selbst werde es tief bedauern, wenn dabei jemand umkommt. Aber wir haben vor der Gesellschaft die Pflicht, Informa­tionen zu verbreiten und nicht, sie zu verhüten."

,Burby hat recht", dachte David und schob das Telefon zurück. In dem Juweliergeschäft hatten sie ihn gar nicht zu Ende sprechen lassen. „Ach, ein Raubüberfall! Das hö­ren wir jeden Tag", hatte jemand gleichgültig bemerkt und den Hörer aufgelegt.

David hielt sich weder für einen guten noch für einen schlechten Menschen. Er war es gewohnt, in den Tag hin­einzuleben, ohne lange zu fragen, was gut und was schlecht sei. Doch die Ereignisse der letzten zwei Tage hatten ihn von dem ausgetretenen Pfad moralischer Gedankenlosig­keit gestoßen und zwangen ihn, über ungewöhnliche Dinge nachzudenken. Seine Begeisterung über das unverhoffte Geschenk verebbte allmählich.

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Das Polizeirevier von Uplake empfing David mit dem spezifischen Geruch, der von New York bis Pasadena für Polizeireviere typisch ist. Hauptmann Fitzgerald, ein kräf-tiger Mann in mittleren Jahren, mürbe geworden im Kampf gegen seinen starken Haarwuchs — die Haare wucherten nicht nur auf seinem massigen Schädel, sie wuchsen ihm auch aus den Ohren und aus der Nase —, begrüßte David mürrisch.

„Wenn Sie keine Einwände haben, tauschen wir heute mal die Rollen, Hauptmann", begann David das Gespräch. „Gewöhnlich bemühen sich die Reporter, Sie auszuquet­schen. Ich Jedoch möchte, daß Sie mir heute mal zuhören."

Hauptmann Fitzgerald verzog das Gesicht. „Natürlich", sagte er verdrießlich. „Nicht genug, daß mich Ihr Blatt fast jede Woche mit Unrat bewirft, jetzt soll ich mir auch noch Ihre Lektionen anhören. Oder sind Sie gekommen, mich zu umarmen und mir die Hand zu drücken?"

„Lassen wir das, Hauptmann, ich meine es ernst. Ich habe eine Information. Sie kennen doch das Juwelier­geschäft von Charles Mayer in der Republic Avenue?"

„Wollen Sie mir ein Diadem schenken?" „Morgen abend um acht Uhr wird ein Raubüberfall auf

das Geschäft erfolgen. Die Einbrecher kommen in zwei Wagen: einem grauen ,Plymouth' und einem blauen ,Chevrolet'."

„Woher wissen Sie das?" „Ich habe zufällig ein Gespräch mit angehört." „Das dachte ich mir gleich. Eine Gangsterbande bespricht

alle Einzelheiten ihres geplanten Überfalls lautstark in einem Restaurant. Erzählen Sie mir bloß keine Märchen!"

„Einer von ihnen hat buschige Brauen und ein Bärtchen auf der Oberlippe."

Hauptmann Fitzgerald musterte David aufmerksam. Seine Gedanken überstürzten sich. Was sollte das heißen? Ein Mann mit Bärtchen. das könnte Roughy sein . . . Woher wußte er das? Auf jeden Fall war es besser, Roughy aus dem Wege zu gehen.

„Geben Sie sich keine Mühe, Ross", sagte der Haupt-

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mann. „Sie wollen mich wohl zum besten halten: Haupt­mann Fitzgerald glaubt an einen Raubüberfall. Bestimmt wird er anbeißen. Ein prima Material. Ich durchschaue Sie."

„Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Hauptmann. Ich wieder­hole noch einmal, ich mache keinen Spaß."

„Ach, Ross! Sie wissen doch selbst am besten, was das Ehrenwort eines Reporters wert ist. Sie sind noch jung, ich dagegen bin schon Streife gelaufen, als Ihr ,Clarion' noch in den Windeln lag."

David erhob sich, er konnte seinen Zorn nicht mehr zu­rückhalten. „Sie fürchten sich, mit Roughy anzubinden. Sie wissen sehr wohl, daß ich die Wahrheit sage, aber Sie wollen Roughy aus dem Wege gehen."

„Und Sie sind überzeugt, daß es Roughy ist?" fragte der Hauptmann langsam und dachte: ,Er weiß etwas. Er weiß, daß es Roughy ist.'

„Davon bin nicht ich, sondern sind Sie überzeugt. Sie sind der Meinung, daß es nicht gut ist, mit ihm anzubinden, weil er Verbindungen h a t . . . "

Der Hauptmann blies langsam die Luft aus den Lungen, in seinen Augen flammte Angst auf. Man kann wohl ein­mal Gedanken erraten, aber zweimal . . . Das sah nach einer Verleumdung aus. „Machen Sie, daß Sie von hier fortkommen, Sie Grünschnabel", brüllte er und stand auf. „Heben Sie Ihre Hypnosekunststückchen für Ihr stinkiges Blatt auf. Lassen Sie sich nicht noch einmal bei mir sehen!"

Das Kapitel, das David die ersten Enttäuschungen bringt

„Ich war so aufgeregt, David", sagte Priscilla und bot ihm ihre Wange zum Kuß. „Als du angerufen hattest, dachte ich, ich müßte sterben vor Angst."

.Bestimmt wird er mir die Frisur zerdrücken', dachte sie dabei.

David prallte zurück, als sei er plötzlich auf Stacheldraht gestoßen.

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„Sag, Priss, liebst du mich?" Priscilla legte die Hände hinter den Kopf und bog ihn

zurück. Ihr Lächeln sollte andeuten: ,Du Dummer, wie kannst du nur so eine Frage stellen?'

Aber das genügte David jetzt nicht mehr. Er fing einen raschen Blick Priscillas auf. den sie ihrem Spiegelbild zu­warf. ,Ich muß die Arme etwas mehr zurücknehmen. Das ergibt eine sehr schöne Brustlinie. Wie auf dem Titelblatt der „Life". Er liebt mich trotzdem . . . Er kann kein Auge von mir lassen. Ich verstehe ihn . ..'

In diesem Augenblick wünschte sich David fast, er möge seine seltsame Gabe verlieren. Dann hätte er Priscilla sicherlich geheiratet und wäre mit ihr ein Leben lang zu­sammen geblieben. So aber hatte sich plötzlich zwischen ihm und ihr eine unsichtbare Schranke aufgerichtet, die er weder zu überschreiten noch zu umgehen vermochte. Da­vid schien es, als sehe er vor sich eine retuschierte Farb­aufnahme und daneben ein Röntgenbild. .Da weiden sich die Menschen am Anblick äußerer Schönheit, ohne zu be­merken, was dahintersteckt. In unserer Gesellschaft wird überhaupt viel geblufft', sann David weiter." ,Der Kandidat für den Posten des Senators schwört, ohne müde zu werden für die Interessen des Staates zu kämpfen, und verschweigt seinen Wunsch, Karriere zu machen, reich zu werden . . . Die Autofirma, die ihre letzten Modelle anpreist, ver­schweigt den Käufern, daß sie alle Mühe darauf verwandt hat, die Wagen nicht zu langlebig zu bauen.

Priscilla versichert, eine liebende Gattin, gute Hausfrau und aufopfernde Mutter zu werden. Worin unterscheidet sie sich von den Zeitschriften oder Zeitungen, die angeben, nur für die Leser dazusein? Die Zeitung erhebt Anspruch darauf, gekauft zu werden. Priscilla ebenfalls.'

„Priscilla, umarme mich", bat David. Ihm war zumute, als stehe er schon lange an einer Bushaltestelle und warte. Er ist sich bereits darüber klar, daß er den letzten Bus verpaßt hat, aber er schwankt noch: Geh ich weg oder nicht, schade um die verlorene Zeit. „Sag mir noch einmal, liebst du mich?"

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.Sollte er etwas über Ted erfahren haben? Das kann doch nicht sein . . . Trotzdem . . . es ist besser, ich bin etwas zärt­licher zu ihm .. .', dachte sie beunruhigt.

Und wieder durchfuhr David ein Schock. Sie hat irgend­einen Ted. „Lege niemals alle deine Ersparnisse in den Aktien einer einzigen Firma an." Dieser Rat der Börsen­konsultanten des „Clarion" in der Spalte „Finanzen für alle" fiel David ein.

Für einen Augenblick kam ihm Priscilla noch begehrens­werter vor als früher, er wollte sie an sich ziehen, aber die Barriere zwischen ihnen wich nicht.

„David, wie dumm von mir! Statt dich ausruhen zu las­sen, quäle ich dich mit meinen Zärtlichkeiten."

David schaute sie an und lächelte schief. Wenn er nur nicht ihre Gedanken hören würde! Und trotzdem wollte er nicht gehen, wollte er nicht die weiße Fahne der Kapitu­lation hissen.

„Priss", begann er nach einer Weile. „Ich wollte etwas mit dir besprechen. Ich erfuhr zufällig — wie ist nicht wichtig —, daß heute abend ein Einbruch in das Juwelier­geschäft von Charles Mayer in der Republic Avenue ge­plant ist. Die Gangster sind bewaffnet, vielleicht wird es Opfer geben . . ."

„Was kannst du dagegen tun, David? Du willst doch nicht mit bloßen Händen das Geschäft schützen?"

,Das ist es also. Deshalb ist er so merkwürdig . .. Wenn er nur nicht in eine Dummheit hineinschliddert. .. Wenn ihm irgend etwas zustößt . . . Wir sind doch noch nicht ver­heiratet . . . '

David nickte Priscilla unwillkürlich zu, als sei er ihr ' dankbar für die Sorgen, die sie sich um ihn machte. Sie

entsprangen zwar egoistischen Motiven, aber immerhin, sie sorgte sich um ihn.

„Ich weiß nicht, Priss. Aber irgend etwas muß ich tun." „Ich bitte dich, David, mach keine Dummheiten. Du

weißt doch, wie sehr ich dich brauche." David lächelte spöttisch. „Reg dich nicht auf, wir sind

doch noch nicht verheiratet."

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Ohne recht zu wissen, was er tat, steckte David zu Hause seine Pistole in die Tasche und ging wieder auf die Straße. Er sah die Reklamen aufleuchten, hörte Schritte, Motoren­gebrumm, Rädersurren, das Gemurmel abgehackter frem­der Gedanken. Die Stadt lebte und zwinkerte David zu: „Alles in Ordnung!" Er aber wußte, selbst wenn er es hin­ausschreien würde: „Halt, alle stehenbleiben. Gleich wer­den Menschen auf dem grauen Asphalt liegen!", dieses Un­geheuer wäre nicht im mindesten erschüttert.

„He, Taxi!" rief David und fühlte im gleichen Augenblick; wie sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er drehte sich um. Vor ihm stand ein großer Polizist mit einem gutmüti­gen Lächeln im mondrunden Gesicht.

„Mr. Ross?" fragte er. Die aufflammende Reklame für Zahnbürsten färbte sein Gesicht abwechselnd grün und orange.

„Was wünschen Sie? Mit wem habe ich die Ehre?" „Sie sind ein Witzbold, Mr. Ross. Man merkt es gleich —

ein Journalist." ,Jetzt .wird er versuchen, sich loszureißen. Der Haupt­

mann hat mich gewarnt. Auch gut, dann brauche ich nicht lange zu fackeln.'

„Regen Sie sich nicht auf! Ich reiß mich nicht los und laufe auch nicht davon", murmelte David, der es sich nicht abgewöhnen konnte, auf das zu antworten, was er hörte.

Der Polizist brach in schallendes Gelächter aus. „Sie sind wirklich ein Witzbold. Kommen Sie, der Wagen steht hin­ter der Ecke."

Sie stiegen ein. Nachdem der Polizist den Wagen gestartet hatte, schaltete er die Sirene ein.

Hauptmann Fitzgerald erwartete David an der Tür seines Zimmers. „Gut, daß Sie gekommen sind. Ross."

„Sie wollten wohl sagen: ,Gut. daß man Sie hergeschleppt hat.'"

„Nichts für ungut. Ross. Letztes Mal habe ich mich etwas ereifert. Ich möchte, daß Sie mir noch einmal eingehender über diesen Fall berichten, vor allem, wer Ihnen das mit Roughy gesteckt hat."

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.Sieben Uhr', dachte der Hauptmann, ,Hauptsache, ich halte ihn bis um acht auf. Das trifft sich großartig. Sollte das Geschäft wirklich ausgeraubt werden, fahren wir an­schließend gleich hin. Wenn Ross zur Tatzeit dort auf­tauchte, wäre das ein Beweis, daß er von dem Verbrechen schon früher gewußt h a t . . . '

„Das haben Sie sich wirklich schlau ausgeknobelt, Haupt­mann — mich hier festzuhalten, damit ich nicht zum Tat­ort fahren kann."

„Was haben Sie, Ross? Für wen halten Sie mich eigent­lich?" erwiderte der Hauptmann und dachte: ,Da stimmt doch etwas nicht. Wenn ich ein altes Mütterchen wäre, würde ich schwören, daß er fremde Gedanken liest.' „Ich hoffe, daß wir beide unser gestriges Gespräch vergessen können, Ross."

„Ich bin für Ihr Gedächtnis nicht verantwortlich." „Sie sind doch Reporter. Mit der Polizei dürfen Sie nicht

streiten. Meinetwegen hadern Sie mit Ihren Eltern, Ihrem Vorgesetzten oder Ihrem Mädchen. Wir aber geben Ihnen Arbeit und Brot. Um so mehr, als es schon fünf Minuten nach acht ist."

Ein Leutnant kam ins Zimmer gelaufen. „Hauptmann, soeben ist in dem Geschäft von Charles Mayer eingebrochen worden. Zwei Menschen wurden erschossen. Die Verbrecher sind entkommen."

„Schicken Sie Leute hin, Leutnant. Sie hatten recht, Ross. Schade, daß ich Ihre Informationen nicht geglaubt habe."

„Sie haben es geglaubt, Fitzgerald. Sie wollten sich nur aus der Sache heraushalten. Sie sind so lange bei der Poli­zei. Aber diesmal haben Sie sich verrechnet. Unsere Foto­grafen haben in einem Wagen auf der anderen Straßensei te gewartet."

„Na und?" „Das bestätigt meine Version, wonach ich Sie rechtzeitig

gewarnt habe." Der Hauptmann lachte. Das Lachen brach in blubbernden

Stößen aus ihm heraus wie aus einem Maschinengewehr. „Ach, Sie Ärmster. Sind Sie aber naiv, Ross! Glauben Sie

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ernsthaft, daß unser ehrenwerter Ronald Burby zugeben wird, er habe von dem Einbruch gewußt und ruhig zuge­lassen, daß das Juweliergeschäft ausgeraubt wurde?"

,Aber wie hat er es erfahren?' dachte der Hauptmann beunruhigt. ,An dieser ganzen Geschichte ist etwas, was ich nicht begreife. Roughy und seine Leute sind Berufs­verbrecher, sie verplappern sich nicht. Und doch, wenn . . . Ich brauche unbedingt eine Fotografie von Ross . . . '

Das Gefühl einer tiefen Niederlage überkam David. Wil­lenlos ließ er sich in einen Sessel sinken und dachte an nichts mehr. Wände, Wände ringsum, eine ungeheure Wand des Egoismus. Er selbst war nur ein Stein darin. Er sagte sich, daß er nichts hatte ändern können. ,Ich muß ihn unter irgendeinem Vorwand um seinen Presseausweis bitten. Da ist sein Bild drauf, dachte der Hauptmann.

Ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, was er tat, zog David mechanisch den Presseausweis aus der Tasche und reichte ihn dem Hauptmann. Der zuckte zusammen und lief aus dem Zimmer.

Ein Kapitel, in dem David versucht, seine Position zu halten

Der Gründer, Besitzer und Chefredakteur des „Clarion", Ronald Burby, betrachtete voller Stolz die druckfrische Ausgabe der Zeitung.

In großen schwarzen Lettern prangten die Schlagzeilen auf der ersten Seite: ÜBERFALL AUF DAS JUWELIER­GESCHÄFT IM ZENTRUM DER STADT! DIE BEUTE WIRD AUF DREI VIERTEL MILLIONEN GESCHÄTZT! ZWEI PASSANTEN WURDEN AM TATORT GETÖTET. DER FOTOGRAF DES ,.CLARION" HIELT EINEN DER KÜHNSTEN ÜBERFÄLLE IN DER GESCHICHTE UPLA-KES FEST! Burby fühlte im Rücken einen leichten Schauer, der sich immer dann einstellte, wenn er Tote sah. Er betrachtete die drei Klischees. Das erste zeigte die dicht vor dem Geschäft haltenden Autos, das zweite — die

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Einbrecher, wie sie die Schaufensterscheiben einschlugen, und auf dem dritten schoben Sanitäter die Bahren in den Rettungswagen. .Saubere Arbeit', dachte er. Burby drückte auf den Knopf und sagte: „Miss Nowak, schicken Sie Ross zu mir, aber sofort!"

David trat schweigend ein und ließ sich schweigend in einem der Sessel nieder, ohne das übliche Kopfnicken des Chefs abzuwarten.

„David, Sie müßten sich wie ein Geburtstagskind vorkom* men. Dabei schauen Sie aus, als kämen Sie von einer Be­erdigung. Sie sind ein Pfundskerl! Von heute an bekommen Sie zwei Tausender mehr im Jahr und wechseln über auf spezielle Aufgaben. Was sagen Sie dazu?"

David zuckte schweigend die Schultern. Zumindest über­raschte ihn dieser Mann da vorn nicht mit unerwarteten charakterlichen Eigenschaften. Ja, er hatte seine Prinzi­pien und blieb ihnen treu.

„Vielen Dank, Mr. Burby", antwortete David gleichgül­tig und wandte sich zur Tür. Aber der Chefredakteur hielt ihn zurück.

„Warten Sie, David. In einer Stunde beginnt eine Presse­konferenz Stewart Trumonds. Sie wissen doch, daß er sich um die Neuwahl in den Senat bewirbt. Ein tüchtiger Mann. Ich möchte, daß Sie über die Pressekonferenz Bericht er­statten. In der ersten Spalte!"

Senator Trumond umfaßte mit einem Blick die versam­melte Menge, die den kleinen Saal des Hilton-Hotels füllte.

„Wenn Sie Fragen haben, meine Herren, bitte sehr!" wandte er sich ermunternd an die Journalisten.

Niemand sprang vom Platz, die Pressekonferenz verlief wie ein altes Ritual nach längst bekannten Gesetzen. Der Leiter der Konferenz konnte sich denken, welche Fragen man ihm stellen würde, und der Fragesteller, welche Ant­wort er darauf erhielte.

Vor den Anwesenden formte sich das klare Bild eines seriösen Politikers.

Der Senator bewegte kaum den Hals. Bei jeder Frage

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wandte er sich dem betreffenden Journalisten mit dem ganzen Körper zu. Er war schwerfällig, groß und breit wie ein Bär.

„Noch eine Frage, meine Herren?'' Die Konferenz näherte sich dem Ende. David hörte, wie der Senator in Gedanken erleichtert ausstieß: ,Gott sei Dank, es scheint alles gut zu verlaufen. Kein Wort über die Minute-men.'

„Senator'', unterbrach David die Stille, „würden Sie uns noch verraten, wie Sie zu den sogenannten Minute-men stehen?"

,Haiunke', dachte der Senator wütend. ,Warte, .wenn wir erst an der Macht sind, da werden wir es dir zeigen . . . '

„Ich unterstütze alle die, denen unsere großen Traditio­nen teuer sind!" rief der Senator pathetisch aus.

,Fünf von unseren bewaffneten Minute-men hierher, die würden dir schon klarmachen . . . '

„I<!h möchte Sie fragen, Senator, ob Sie Leute unterstüt­zen, die sich Minute-men nennen und die, soweit bekannt ist. heimlich Waffen zusammentragen und sich im Scharf­schießen üben?"

„Ich habe noch keinen einzigen Minute-man gesehen, geschweige denn mit einem gesprochen. Ich weiß auch gar nicht, ob es sie überhaupt gibt oder ob sie nur der Phan­tasie verantwortungsloser Journalisten entsprungen sind", entgegnete der Senator und beendete kurz entschlossen die Konferenz. „Ich danke Ihnen, meine Herren."

„Es'tut mir leid, Mr. Ross", sagte der Chefredakteur des „Clarion", „aber jetzt sehe ich ganz klar, daß mit Ihnen irgendeine Veränderung vor sich gegangen ist. Sie behaup­ten steif und fest, Stewart Trumond sei ein Minute-man. Ich kenne den Senator seit vielen Jahren, er gehört zu meinem engsten Freundeskreis."

„Er ist ein geheimer Minute-man, Mr. Burby", wieder­holte David beharrlich. „Ich kann Ihnen das im Augenblick noch nicht beweisen, aber es steht für mich genauso fest wie die Tatsache, daß Sie der Besitzer des ,Clarion' sind."

„Dafür steht es für mich ganz und gar nicht fest, ob

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Sie mein Mitarbeiter bleiben, Ross. Ich glaube, Sie wissen selbst, warum."

„Ich bin überzeugt, daß ich die Verbindung Trumonds zu den Minute-men eines Tages beweisen kann. Auf jeden Fall nach Beendigung der Wahlkampagne."

Ronald Burby schaute David scharf an. ,Das sieht wie Hellseherei aus. Im Laufe von zwei Tagen bringt mir der Bursche da zwei solcher Informationen an. Erst dieses Juweliergeschäft, und nun der Senator. Nicht ein einziger Außenstehender kann von den geheimen Zusammenkünften Trumonds mit den Minute-men erfahren haben, nicht einer. Der Senator hat mir davon erzählt, aber wir sind alte Freunde, und er weiß, wem er sich anvertrauen kann. Aber dieser Ross — ganz unbegreiflich! Er wird gefähr­lich . .. Ich werde ihn entlassen und den Senator warnen . ..'

„Ja, Mr. Burby, ich verstehe, warum." David fühlte sich weder geschlagen noch aus der Fas­

sung gebracht. Die Ereignisse entwickelten sich nur etwas rasch — er hatte noch keine Zeit gehabt, sieh innerlich darauf vorzubereiten.

Man trieb ihn in die Enge. Was hatte er getan? Nichts! Er hatte nur plötzlich die Fähigkeit erhalten, Gedanken zu lesen. David kam sich vor wie eine alte Zeitung, die vom Wind ergriffen über die Straße wirbelt.

Ein Kapitel, das David neue Unannehmlichkeiten zufügt

Hauptmann Fitzgerald konnte Geheimnisse nicht leiden. Unaufgeklärte Fälle quälten ihn wie ein zu enger Kragen. Er war ein ausgezeichneter Kriminalist und hatte bisher fast jedes Verbrechen aufgedeckt. Eine andere Sache war es, ob man die Wahrheit immer an die Öffentlichkeit drin­gen ließ. Manchmal war es besser, der Göttin der Gerechtig­keit nicht die Binde von den Augen zu nehmen. So hatte die Umwelt weniger Scherereien.

Deshalb blieb „Der große Juwelenraub", wie ihn die Zei-

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tungen nannten, für immer ein Geheimnis und bot Fitz­gerald obendrein Gelegenheit, um eine Erhöhung des Poli­zeibudgets nachzusuchen.

Dennoch war er unzufrieden und konnte sich auf nichts konzentrieren. David Ross ging ihm nicht aus dem Sinn.

David lag ausgestreckt auf der Couch. Er döste zwischen Schlaf und Wachen vor sich hin. Als die Klingel schellte, schreckte er hoch und löste sich mit Mühe aus seiner Er­starrung. ,Vielleicht ist es Priss', dachte er gleichgültig und öffnete die Tür. Vor ihm stand Hauptmann Fitzgerald mit einem kleinen Koffer.

„Guten Tag, Ross!" rief Fitzgerald gut gelaunt. „Erlauben Sie, daß ich eintrete? Ich habe im ,Clarion' angerufen. Man sagte mir, daß Sie dort nicht mehr arbeiten. Ist was pas­siert?"

„Was führt Sie zu mir? Wollen Sie mich trösten?" „Na, na, Ross . . . Sind Sie immer noch böse auf mich?

Mir fiel nur ein, daß ich vergessen habe, Ihnen Ihren Presseausweis zurückzugeben. Hier ist er, bitte."

„Ich brauche ihn nicht mehr." „Kopf hoch! So ein junger Mann wie Sie bleibt nicht

lange ohne Arbeit! — Übrigens, hier schauen Sie mal", fuhr der Hauptmann fort und öffnete den Koffer. Eine matt­schimmernde Maschinenpistole kam zum Vorschein. „Die haben wir unter dem Sitz des ,Plymouth' gefunden. Schauen Sie sie ruhig an. Ein schönes Exemplar, nicht wahr?"

.Meinetwegen, du Esel', dachte David und griff nach der Maschinenpistole.

.Geschafft! Er hat sie angefaßt!' schrie der Hauptmann in Gedanken auf. Er nahm David die Maschinenpistole ab und legte sie in den Koffer zurück.

,Die Fingerabdrücke! Ich habe Fingerabdrücke auf der Maschinenpistole hinterlassen', schoß es David durch den Kopf. Wütend stieß er die rechte Hand vor. Er war kein Boxer, aber seine achtzig Kilo Gewicht ließen den Haupt­mann zurücktaumeln. Nur die Wand verhinderte, daß er zu Boden stürzte.

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Während David ausholte, hatte Fitzgerald bereits seinen Revolver gezogen. Selbst als er gegen die Wand flog, be­hielt er ihn in der Hand.

„Bleiben Sie stehen, Ross", krächzte er heiser, in der einen Hand den Koffer, in der anderen den auf Ross ge­richteten Colt. „Machen Sie keine Dummheiten, David. Ich bin noch am Leben und kann rein zufällig abdrücken. David, ich weiß nicht, wie das möglich ist, aber Sie können Gedanken lesen. Es klingt unsinnig, aber eben habe ich mich selbst davon überzeugt, endgültig . . ."

„Scheren Sie sich zum Teufel!" schrie David. „Sie haben einen großen Fehler begangen. Ich habe einen

klaren Beweis gegen Sie in der Hand. Die Geschworenen lieben solche Beweise. Sobald sie Fingerabdrucke' hören, hegen sie keine Zweifel mehr. Was gibt es da auch noch für Fragen, wenn unsere verdiente Polizei die Maschinen­pistole mit Fingerabdrücken gefunden hat? Von 19 bis 20 Uhr 30 sind Sie nur von Polizisten gesehen worden. Sie haben kein Alibi! Und jetzt wollen wir uns der Zukunft zuwenden. Sie verstehen, Gedanken zu lesen."

„Was wollen Sie von mir, Hauptmann?" fragte David müde.

„Ich möchte, daß Sie mit mir zusammen arbeiten." „Als Detektiv? Eure Gehirne reichen wohl nicht aus?" „Sie sind ein Esel, Ross. Begreifen Sie denn nicht, was

Sie da in der Hand, oder genauer gesagt, in Ihrem Kopfe haben? Können Sie sich eigentlich vorstellen, was Geld bedeutet?"

„Lassen Sie mich in R u h e . . . Gut, ich bin einverstan­den. Aber unter einer Bedingung — gehen Sie! Ich möchte schlafen." ,Wenn ich nur fortlaufen \könnte vor diesen großen und kleinen Schlangen, die in fremden Köpfen herumwimmeln. Ich möchte mir die Ohren zustopfen und nichts hören!' David erinnerte sich daran, wie er sich vor Tagen im Krankenhaus über die unverhoffte Gabe des Ge­dankenhörens gefreut hatte. Er lachte bitter auf.

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Ein Kapitel, in dem David nicht auftaucht, aber die Hauptrolle spielt

Senator Stewart Trumond haderte mit seinem Schicksal. Ein Mann der Tat, war er gezwungen, sich immer wieder von seinen Leuten in die Schranken weisen zu lassen, um seinen Wählern gegenüber das Bild des bescheidenen, be­sonnenen alten Stew aufrechtzuerhalten.

Er haßte die Neger. Der Instinkt der Jäger auf das „schwarze Elfenbein" und der vier Generationen von Skla­venhaltern in den Südstaaten lebte in ihm fort. Aber statt die Neger zu jagen, sie mit Hunden zu hetzen und das Ge­wehr in der Hand zu halten, war er gezwungen, öffentlich für Ordnung und Toleranz einzutreten. Er haßte die Leute aus dem Osten, diese Liberalen und Professoren. Sie schie­nen ihm wie eine Säure, die die Welt zerfrißt, in der er geboren und aufgewachsen war und die er bewahren wollte. Es war eine eindeutige und klare Welt, großartig in ihrer versteinerten Vollkommenheit, eine' Welt, in der Schwarze schwarz und Weiße weiß waren, in der es keine Halbtöne und Schattierungen gab. Eine Welt, in der die Macht sich ihrer Stärke bewußt war und sich allein deshalb für weise hielt, weil sie die Macht darstellte. Er aber mußte die ihm vorgeschriebene Rolle des gutmütigen Stew spie­len, allen diesen widerwärtigen Leuten die Hand drücken und über den Nutzen der Aufklärung reden.

Und deshalb legte er — wie die Lehrerin einer Sonntags­schule, die einmal in der Woche in eine andere Stadt fährt, sich heimlich zu betrinken — seinen ganzen unver­brauchten Haß in die Liebe zu den Minute-men. Diesen Leuten, die heimlich Waffen sammelten und sich im Scharf­schießen übten, galt seine ganze Sympathie und Leiden­schaft. Er verstand sich ausgezeichnet mit ihnen — den pensionierten Obersten, bejahrten Ladies, die bereit waren, im Namen des Herrn mit ihren Schirmen Augen auszu­stechen, mit den soliden Geschäftsleuten und pickligen, vom Leben enttäuschten Milchbärten. Sie haßten ebenso wie er. Haß gegen das, was die Intelligenz und die Roten fort-

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schrittliche Ideen nannten, vereinte sie. Aber ihre Einig­keit war einstweilen ein tiefes Geheimnis, und außer den ihm nahestehenden Leuten, denen er ebenso vertrauen konnte wie sich selbst, wußte niemand von seinen Bezie­hungen zu den Minute-men. Deshalb hatte die Frage des Reporters vom ^Clarion" den Senator auch so in Unruhe versetzt.

„Aber Sie verstehen doch, Ronny", sagte er. „Erkundigt sich dieser Grünschnabel in aller .^Öffentlichkeit nach meinen Beziehungen zu den Minute-men. Deshalb habe ich Sie gebeten, ihn zu entlassen."

„Hören Sie zu, Stew", antwortete der Chefredakteur des „Clarion". „Als ich ihn rief, sagte er mir, daß er von Ihren Verbindungen zu den Minute-men überzeugt sei und sie nachweisen werde."

„Dieser Schuft! Was machen wir nun, Ronny? Man kann doch nicht sitzen und warten, bis er uns mit Dreck be­wirft. Mein Konkurrent Pratt, dieser Ganove, hilft ihm garantiert, den Artikel zu veröffentlichen u n d . . . Wissen Sie was, laden wir ihn hierher ein. Wir werden ihm auf den Zahn fühlen. Vielleicht ist es nur Bluff?"

„Ich weiß nicht, das glaube ich kaum. Er war zu über­zeugt. Aber wir können es gleich versuchen." Mr. Burby drückte auf den Knopf der Sprechanlage und bat Miß No­wak, Ross so schnell wie möglich ausfindig zu machen.

Einige Minuten später ertönte ihre Stimme aus dem Lautsprecher: „Leider kann ich ihn nirgends erreichen, Mr. Burby. In seiner Wohnung ist er nicht. Gestern wurde er gesehen, als er mit Gepäck das Haus verließ."

Die Freunde schauten sich an. Der Senator schimpfte: „Er hat sich verkrümelt. Aber wir werden ihn finden und ihm die Kehle stopfen . . . Ah. ich hab eine Idee! Da ist so ein junger Kerl bei uns, ein Mitglied unserer Organisation. Er hat ein Detektivbüro. Ich bin überzeugt, daß man sich auf ihn verlassen kann."

„Miss Priscilla Colbert?" „Ja", antwortete Priscilla, „was führt Sie zu mir?" Sie

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zog den Pullover straffer und musterte den hochaufgeschos­senen Mann mit dem pomadisierten Vogelkopf.

„Entschuldigen Sie bitte die Störung, Miss Colbert. Ich heiße Eugene Donahue. Vom Detektivbüro Donahue und Fliss. Hier ist meine Karte. Ich möchte gern von Ihnen er­fahren, wo sich David Ross zur Zeit aufhält."

„UndT weshalb interessiert Sie das?" „Ja; wissen Sie, das ist das Geheimnis meines Klienten,

ich darf es nicht ausplaudern. Aber Ihnen . . . Na gut, soviel ich verstehe, möchte er ihn zu einer Fernsehgesell­schaft im Osten einladen."

„Ach ja, natürlich." Priscilla nickte. „In New York kann man ohne ihn keinen Schritt tun und wendet sich gleich an das Detektivbüro Donahue und Fliss. Der Gipfel der Glaub­würdigkeit. Klingt genauso überzeugend wie die Version Hauptmann Fitzgeralds, der David schon gestern suchte. Nur nicht für das Fernsehen, sondern um ihm Material für einen Artikel zu geben."

„Aber Sie wissen doch, wo er ist?" „Da muß ich Sie leider enttäuschen, Mr. Donahue und

Fliss. Den gleichen Bescheid habe ich auch Hauptmann Fitzgerald gegeben."

,Die Polizei sucht ihn ebenfalls', überlegte der Detektiv, als er wieder in seinen Wagen stieg. ,Seltsam, daß Ernest Fitzgerald persönlich ihm nachspioniert. Bei seinen Mög­lichkeiten . . . Nun gut, vielleicht ist das besser so. Ich werde mit seinen Leuten sprechen.'

Er rief Sergeant Catcheart an und verabredete sich mit ihm in Charleys Bar, dem Stammlokal der Polizei- und Gerichtsreporter. Dort konnte man sich in aller Ruhe un­terhalten.

Catcheart, eine Zigarette im Mundwinkel, saß schon an einem der Tische. .Bestell dir nichts zu trinken, wenn du weißt, daß man dich einlädt', ging es Donahue durch den Kopf.

„Na, was ist. Eugene?" fragte der Sergeant und nickte zu dem Stuhl neben sich. „Hast du Sehnsucht nach mir?"

„Whisky?"

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„Ich bin konservativ. Wie immer." „Du kennst doch David Ross vom ,Clarion'?" „Allerdings!" „Wie stehen Eure Leute zu ihm?" „Neutral." .Die Polizei sucht Ross also nicht. Sonst würde er es

wissen', dachte Donahue. „Was meinst du, ob ich euren Fitzgerald heute antreffe?" „Heute bestimmt nicht." „Ist er besetzt?" „Er ist gestern weggeflogen. Ich glaube, nach Las Vegas.

Bill hörte zufällig, wie er seine Frau anrief." „Will wohl ein bißchen spielen?" Sergeant Catcheart zuckte mit den Schultern. Er fand,

daß es für ein Glas Whisky genug Fragen waren, und schaute vielsagend auf den Tisch.

„Noch zwei Whisky!" rief der Detektiv. Schließlich wur­den ihm die Auslagen ersetzt.

„Warum hatte er es so eilig nach Las Vegas?" „Ich weiß nicht." Der Sergeant lachte. „Ehrlich, ich weiß

es wirklich nicht." Donahue bezahlte und ging zum Telefon. Fünf Minuten

später fuhr er zum Flugplatz.

Bill Bardot, Croupier im Kasino „Tropic" in Las Vegas, saß im Zimmer des Geschäftsführers. Er rieb sich schon das dritte Mal den Schweiß von der Stirn, obwohl die Klimaanlage tadellos funktionierte.

„Sie wissen, Mr. Lanster, ich bin nun schon elf Jahre hier und habe Erfahrung. Aber das verstehe ich nicht. Der Kerl spielt nur an meinem Tisch."

„Na und, Bill? Vielleicht gefallen Sie ihm? Sie haben so ein geistreiches Gesicht."

„In der ersten Zeit irrte er im Kasino umher, wie ein alter Junggeselle auf einem Schülerball, aber dann, als habe er sich besonnen, setzte er sich an meinen Tisch. Ich spielte, wie immer mit vorbereiteten Karten, er aber ge­wann."

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„Wieviel?" „Ungefähr fünfhundert Dollar." „Ein bißchen viel!" „Darum geht es nicht. Ich kenne doch seine Karten.

Ohne lange zu überlegen, kauft er bis zu Neunzehn. Und plötzlich wird er vorsichtig bei Zwölf oder Dreizehn, als fühle er, wann er eine Zehn oder ein Bild bekommt. Kön­nen Sie sich das vorstellen? Ich habe den Eindruck, daß nicht ich die Karten kenne, sondern er .. ."

„Hm. .. Und wie erklären Sie sich das?" „Das Merkwürdigste passierte mir gestern. Durch ein

Versehen entsiegelte ich ein nicht gezinktes Spiel Karten. Ich mische sie und fühle, daß 'sie nicht vorbereitet sind. Ich konnte das Spiel aber nicht mehr rückgängig machen und begann. Er aber, verstehen Sie, fing plötzlich mit dem kleinsten Einsatz an. Das Spiel ging zu Ende, ich nahm andere Karten, er erhöhte wieder die Einsätze. Mir schwirrt der Kopf. Ich weiß, daß es eine Dummheit ist, aber ich habe den Eindruck, daß er nur dann sicher ist, wenn ich mit gezinkten Karten spiele."

„Aber Sie begreifen doch, daß das unmöglich ist?" „Das sage ich mir ja auch." Der Geschäftsführer zuckte die Schultern und rückte

die Fliege unter dem Kinn zurecht. „Ist er allein?" fragte er. „Ich glaube, ja. Seit gestern hat sich Cläre an seine Fer­

sen geheftet. Sie kennen Sie doch, die gefärbte Blondine." „Das Kasino, Bill, ist ein Tempel des Zufalls. Des Zu­

falls, das Geld bei uns zu lassen. Gegen andere Zufälle müssen wir uns schützen. Ich hoffe, Sie haben mich ver­standen?"

„Für mich ist das Ehrensache und eine Frage des Berufs­stolzes. Ich werde in Erfahrung bringen, wie dieser Lump seine Kunststückchen vollbringt."

Der Geschäftsführer musterte den Croupier mit prüfen­dem Blick.

„Ich hoffe, Bill, Sie sind offen zu mir? Soweit ich mich entsinne, haben Sie Familie?"

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„Drei Kinder, Sir. Elf Jahre bin ich schon h ie r : . . " „Gut, dann unternehmen Sie etwas."

Hauptmann Fitzgerald ließ sieh im Taxi vom Flugplatz in Las Vegas zum Hotel bringen. Er kniff die Augen vor der grellen Sonne Nevadas zusammen.

Wer konnte ahnen, auf welche Idee dieser Verrückte noch kommen würde? Oder hatte ihn die Telepathie zu einem Sonderling gemacht? Reporter und Weltverbes­serer — eine ungewöhnliche Kombination. Verläßt die Stadt, macht sich aus dem Staube. Vielleicht nur deshalb, weil er seinen Preis kennt und nicht teilen möchte? Ach, wenn er bloß begreifen würde, wie sie zusammen arbeiten könn­ten. Millionäre könnten sie werden . . .

„Ihr Hotel, Mister", sagte der Chauffeur. Der Hauptmann nahm seinen Koffer. Er wollte sich nicht an die hiesige Polizei um Hilfe wen­

den. Das war seine persönliche Angelegenheit, in der er Polizist, Staatsanwalt und Kläger in einer Person war, und je weniger Leute von der Sache wußten, desto besser.

Hauptmann Fitzgerald trat in die große Halle des Hotels „Tropic" und beugte sich zu dem Portier vor, der in der Anmeldung saß.

Der Portier hob das blasse, spitze Gesicht und erkundigte sich höflich: „Guten Abend, was wünschen Sie?"

„Ich suche einen Freund, David Ross heißt er." „Einen Augenblick... Leider ist er nicht bei uns abge­

stiegen." Der Hauptmann holte Davids Paßbild aus der Tasche

und legte eine Fünfdollarnote dazu. Das Papierchen ver­schwand sogleich, als hätte es sich in Luft aufgelöst.

„Das Gesicht kommt mir bekannt vor", sagte der Portier nachdenklich.

Der Hauptmann schob ihm noch einen Schein zu. „Ja, ja, ich erinnere mich. Sechste Etage Nr. 642. Jetzt

ist er allerdings nicht da. Ich danke Ihnen, Sir!"

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Ein Kapitel, in dem David wieder auf der Bühne erscheint

David kletterte aus der „Boeing 707" und zuckte unter der Sonne Nevadas zusammen. Glühendheiß flutete sie auf die Erde nieder. Die wenigen schattigen Stellen waren wie Inseln der Rettung.

Schweißgebadet erreichte David das Hotel. Im Hotel­zimmer herrschte eine Kühle, die nach der trockenen Hitze auf der Straße unwirklich anmutete. David kleidete sich um und ging nach unten, um etwas zu Mittag zu essen. Er nahm kaum Notiz von dem Stimmengewirr der Restaurant­gäste und achtete auch nicht darauf, was er aß. Er dachte nur daran, daß Fitzgerald recht hatte: David brauchte Geld.

Er hatte noch keinen klaren Plan, wie er sich welches verschaffen könnte. Er wußte nur, daß er viel Geld brauchte, um aus dieser Welt zu verschwinden, in der ein Hauptmann Fitzgerald Davids Fingerabdrücke an der Ma­schinenpistole für seine Ziele nutzen konnte. Der Haupt­mann wußte, was Indizien waren, er würde es schon ver­stehen, die Geschworenen zu beeinflussen.

David zahlte und betrat den Spielsaal. An der Tür blieb er stehen, betäubt von dem Lärm, den

er sich erst gar nicht erklären konnte. Die Gesichter waren konzentriert, die Spieler schwiegen. Nur selten warf der eine oder andere ein paar Worte ein: „Eine Karte, noch eine Karte." Plötzlich wurde David klar, daß er die Ge­danken all dieser Leute hörte, sie klangen wie der Lärm einer rasenden Menge.

Im Saal spielten sie Black Jack. Die Bankhalter saßen an der konkaven Seite der Tische und warfen den Spielern lautlos und zielsicher die Karten zu.

David trat an einen der Tische. Wie Schuppen fiel es ihm plötzlich von den Augen, daß er trotz seiner Fähigkeit, fremde Gedanken zu lesen, auch nicht mehr Chancen hatte zu gewinnen als jeder beliebige aus dieser vor Aufregung schwitzenden Herde. Denn der Bankhalter gab die Karten

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erst den Spielern, dann sich selbst. Was hatte es für Sinn, wenn David erfuhr, welche Karten der Bankhalter hatte, wenn er seine nicht mehr umtauschen konnte?

War er in eine Sackgasse geraten? Von all den vielen Arten, Geld mit Gedankenlesen zu verdienen, hatte David nur eine gewählt — das Kasino. Er hatte geglaubt, in der anonymen Atmosphäre des Glückspiels würde er am leich­testen zu Geld kommen.

Er rieb sich die Schweißperlen von der Stirn und ging in den nächsten Saal. Einige Roulettes waren von Spielern umringt.

„Ihre Einsätze bitte!" rief der Croupier, und die Roulette­kugel begann leicht singend zu kreisen.

,Hier ist es genauso', dachte David erschrocken. ,Was habe ich hier für einen Vorzug? Gar keinen! Die Croupiers können nicht wissen, wo die Kugel ausrollt. Ihnen ist das auch gleichgültig, denn das Kasino nimmt ohnehin einen Teil der Summe ein, die durch das Roulette geht.'

Erschöpft lehnte sich David gegen die Wand. Er hatte für die Reise hierher fast hundert Dollar ausgegeben und stand nun vor dem Zusammenbruch seiner Hoffnungen. Er hatte kein Glück, er hatte nicht einmal Glück mit dieser verfluchten Gabe, die bisher alles von ihm genommen und ihm nichts dafür gegeben hatte, nicht einmal die Chance zu gewinnen.

Er kehrte in den ersten Saal zurück. Der Lärm der gieri­gen, flehenden oder triumphierenden Gedanken reizte ihn wie nie zuvor.

„Warum spielen Sie nicht, junger Mann?" fragte ihn eine gefärbte Platinblonde mit dick aufgelegten Farben. „Haben Sie schon alles Geld gewonnen? Dann gefallen Sie mir."

„Noch nicht alles!" David lächelte schief und dachte: .Mit der Blonden ist es auf jeden Fall einfacher und ehrlicher als mit Priscilla. Sie wird nicht von Liebe reden und dabei an ihren Ted denken.'

„Sie werden heute Glück haben", sagte die Blondine und zwinkerte ihm zu. „Wir treffen uns später."

„Bestimmt", entgegnete David.

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Er stand an einem der Tische und hörte plötzlich Gedan­ken, die ihn durch ihre Ruhe verblüfften, sich durch eine träge Gewißheit von den übrigen abhoben.

David horchte auf. Die Gedanken kamen vom Bank­halter. Geschickt und lässig hielt er in der linken Hand ein Spiel Karten, mit der rechten 'gab er sie an den näch­sten Spieler. Dabei nannte er bei sich die Karten, die er dem Spieler zuwarf. Er kannte die Karten schon im vor­aus. Waren sie vielleicht gezinkt? Der Bankhalter wußte genau, was er seinen Gegnern gab.

David fühlte, wie ihm das Herz schlug. Er musterte den Bankhalter, sein gleichgültiges, gelangweiltes Gesicht. ,Da läuft noch einer um den Tisch he'rum, wie der Fisch um den Haken. Gleich wird er anbeißen', hörte David die Gedan­ken des Croupiers. Er ging zur Kasse und holte sich für hundert Dollar eine ganze Handvoll verschiedenfarbiger Spielmarken.

David setzte sich an den Tisch und wartete, bis er an der Reihe war. Plötzlich mußte er sich das Lachen ver­kneifen. Der Bankhalter ahnte ja nicht, was für ein Spiel ihn jetzt erwartete.

„Zehn Dollar", sagte David, bemüht, sich nichts anmer­ken zu lassen. In seiner Hand war eine Drei.

,Hm, ich gebe ihm eine Acht', dachte der Bankhalter, und David erhielt eine Acht. Er hatte somit elf Augen.

,Ich gebe eine Sieben. Also hat er Achtzehn. Mehr nimmt er nicht', dachte der Bankhalter. ,Hm, bin neugierig, was ich habe? Aha, eine Zwei!' •

„Noch eine Karte!" sagte David. Ihm war es, als klinge seine Stimme heiser vor Aufregung.

„Ich gebe", sagte der Bankhalter und dachte: ,Er nimmt auf bei Achtzehn, er geht aufs Ganze . . . '

„Neunzehn", grunzte der Bankhalter mechanisch und schob David mit einem Ruck eine Zehndollarspielmarke hi».

,Jetzt muß ich vorsichtiger sein', dachte David. „Ich bitte!" sagte der Bankhalter und blickte zu David

auf. Er hatte das welke, blasse Gesicht eines Menschen, der seine Abende in einem verräucherten Raum zubringt.

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„Zehn", sagte David und legte eine Spielmarke hin. „Zwei Karten."

Jetzt hatte er fünfzehn Augen, und er hörte die Stimme des Falschspielers, der die nächste Karte abtastete.

„Eine Dame." ,Eine Dame ist soviel wert wie jede andere Karte — zehn

Augen', dachte David. ,Ich werde einen Überschuß haben, aber mir bleibt keine andere Wahl.'

„Noch eine", bat er. Er gab sich Mühe, ein ärgerliches Gesicht zu zeigen, als

er die Karten hinwarf und dem Bankhalter eine Spiel­marke zuschob.

Rechts von ihm saß eine ältere Dame. In ihrem Gesicht stand eine so unverhohlene Gier, daß David sich für sie schämte. Zu seiner Linken rauchte ein junger Mann — er mochte Anfang Zwanzig sein — eine Zigarette nach der an­deren.

„Nun?" fragte der Bankhalter. „Fünfundzwanzig", antwortete David. Er hatte eine Vier.

„Noch zwei Karten." ,Er legt zu', dachte der Bankhalter. ,Er hat eine Vier, ich

gebe ihm einen König und eine Drei. Macht zusammen siebzehn. Mehr wird er kaum nehmen. Aha, hier ist wieder eine Vier.'

David simulierte einen inneren Kampf, er rieb sich die Stirn mit dem Taschentuch, griff nervös nach einer Ziga­rette.

„Noch eine Karte!"«sagte er laut. Er steckte sie zu seinen anderen und zog sie ganz langsam wieder heraus.

„Black Jack!" schrie er auf einmal und sagte dann, als habe er es sich anders überlegt: „Entschuldigen Sie!" Der Bankhalter zuckte kaum merklich die Schultern, er wun­derte, sich über nichts mehr. Das Schauspiel menschlicher gegierde rollte tagtäglich vor ihm ab.

In einer halben Stunde hatte David ungefähr hundert Dollar gewonnen. Die Nachbarn schauten- voller Neid auf ihn, die Blondine tauchte wieder am Tisch auf und lächelte ihm mit Verschwörermiene zu. ,Der Bursche hat's geschafft',

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hörte er. ,Man darf ihn nicht aus den Augen lassen. Neu­linge haben immer Glück.'

Er entschloß sich, höher zu spielen, und setzte fünfund­siebzig Dollar. Bube und König gaben ihm zwanzig Augen.

Der Bankhalter nahm sich drei Karten. .Fünfzehn, die folgende ist ein As, das gibt einen Überschuß. Ich muß es unterschlagen', dachte er.

David beugte sich unwillkürlich nach vorn und ließ kein Auge von den Fingern des Falschspielers. ,Er könnte es merken', hörte er, ,zum Teufel mit ihm.'

Als David über fünfhundert Dollar eingenommen hatte, stand er vom Tisch auf — für heute langte es. Er durfte die Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf sich lenken.

„Nun, was habe ich gesagt?" Die Blonde nickte ihm zu und verfolgte aufmerksam, wie David die Scheine in die Innentasche seines Jacketts steckte.

„Kommen Sie mit in die Bar? Übrigens, mein Name ist Cläre."

„Und ich heiße — na, nennen Sie mich Ernest." „Ernest. Meinetwegen." Der Whisky wärmte den Magen, und David fühlte, wie

die Müdigkeit langsam von ihm wich, verdrängt durch den Alkohol, den Gewinn und die Nähe dieser unternehmungs­lustigen Dame, die ihr Interesse an seinem Geld so gar nicht verheimlichte.

.Scheint nicht kleinlich zu sein . . . Und gut sieht er aus, hat Ähnlichkeit mit Kirk Douglas', dachte Cläre, und David nickte ihr zerstreut zu.

„Warum nicken Sie?" „Ach . . . es ist einfach angenehm, dich anzusehen und zu

erraten, woran du denkst. Auf dein Wohl, Cläre!" David schluckte den Whisky hinunter. Zum Teufel mit

Priscilla und ihrem Ted, zum Teufel mit dem „prinzipien­treuen" Mr. Burby und den beiden Toten vor dem Juwe­liergeschäft von Charles Mayer!

„Wollen wir noch einen trinken, Cläre?" fragte er. „Mit Vergnügen!" Sie nickte und schaute zu der Jacken­

tasche, aus der er einen Schein zog.

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Ein Kapitel, das Davids Schicksal besiegelt

Sie saßen im Restaurant und blickten auf die Bühne. Eine Sängerin in tief dekolletiertem Kleid breitete vor dem Mikrophon ihre Arme aus und sang einen Schlager. "

„Was meinst du? Wenn das Mikrophon jetzt aussetzte, würde es jemand merken?" fragte Cläre.

„Solange sie dieses Kleid trägt, kaum. Jeder Beruf hat seine Methoden. Ein Bettler, der etwas auf sich hält, wird sich nicht mit ausgestreckter Hand hinstellen, er wird ir­gend etwas verkaufen — Schnürsenkel oder Streichhölzer. Die Sängerin da vorn auf der Bühne verkauft statt der Schnürsenkel ihren Gesang und das Dekollete."

„Ich singe nicht." Cläre lachte. "„Vielleicht muß ich mir auch irgendwelche ,Schnürsenkel' zulegen?"

„Nicht nötig! Ich bin für ehrliche Geschäfte", antwortete David. Er war beschwipst, der Saal mit den Tischen begann sich langsam zu drehen.

„Ich kann nicht behaupten, daß du sehr galant bist", schmollte Cläre, und David hörte: ,Gut, daß er betrunken ist. Wenn er nicht hersieht, streue ich ihm das Zeug ins Glas. Er tut mir leid. Ein sympathischer junger Mann, aber ich kann es mir mit ihnen nicht verderben. Macht nichts, er wird etwas fester schlafen, das ist a l les . . . '

David zuckte zusammen. ,Nur nichts merken lassen', dachte er. ,Das sind also ihre Schnürsenkel. Mit wem darf sie es nicht verderben?' Seine Gedanken jagten dahin wie ein Schwärm Kinder, der aus der Schule stürmt, nur daß ihm nicht so fröhlich zumute war.

Er entschuldigte sich und verließ den Saal. Seine Trun­kenheit war durch das Gefühl einer Gefahr wie wegge­blasen. Wieder war er das Wild, das gejagt wurde.

Er kehrte auf seinen Platz zurück. /Trink doch, trink!' flehte ihn Cläre in Gedanken an. „Auf dein Wohl, Cläre. Übrigens, ich habe eine Idee:

Wir tauschen die Gläser. Man sagt, dann könne man fremde Gedanken erfahren. Willst du wissen, was ich denke?"

Cläre schaute ihn mit weitgeöffneten Augen an.

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„Warum wirst du so blaß, mein Stern?" David lachte verzerrt. „Oder sind dir meine Gedanken gleichgültig?"

„Ich habe nur einen Schreck bekommen", flüsterte Cläre. Mir scheint, daß du sehr betrunken bist."

„Du willst also nicht austrinken? Ein ausgezeichneter Wein."

„Nein." „Nun, dann nicht. Die Rechnung, bitte." Er bezahlte. Dann nahm er Cläres Arm und führte sie

zum Lift. Sie lehnte sich nicht auf, in ihrem Kopf zuckte es kraftlos. Was wird er tun? Sie lebte nicht den ersten Tag in Las Vegas, und Gewalttaten, geschürt durch die trockene Wüstenhitze und die fieberhafte Atmosphäre des Kasinos, gehörten zu ihrer Welt.»

David stieß Cläre in sein Zimmer und schloß die Tür. ,Soll das mein Ende sein?' dachte sie. ,Aber wie hat er es

erfahren?' „Warum hast du das getan, Cläre?" fragte David und

dachte dabei, daß er wohl keine dümmere Frage stellen könnte.

„Was meinst du mit ,Das'? Ich habe nichts getan." „Warum hast du mir ,das Zeug' ins Glas geschüttet? Wer

hat dich dazu gezwungen?" Sie schwieg verwirrt. ,Jetzt wird er mich gleich schlagen',

dachte sie. Unwillkürlich hob sie die Hände zum Gesicht, als wolle sie es schützen.

David überkam plötzlich Mitleid mit dem jungen Mäd­chen. Er legte seinen Arm um sie. und sie lehnte ihr Ge­sicht an seine Schulter. Sie weinte nicht, sie drückte sich nur an ihn, als wolle sie sich verstecken. „Bill Bardot. der Bankhalter, hat mich gezwungen, dir ein Schlafpulver zu geben. Du hast an seinem Tisch gespielt."

„Ach — dachte ich es mir doch/' „Weißt du", sagte Cläre plötzlich und sah David in die

Augen, „sie warten unten, bis ich ihnen ein Zeichen gebe. Durch den Haupteingang können wir nicht mehr ver­schwinden, nur noch durch den Diensteingang im Keller. Auf der Straße steht mein Wagen."

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„Willst du mit mir fahren?" fragte David langsam. „Ja", erklärte sie schlicht. Leise klopfte es an die Tür. Cläre, blaß trotz der dicken

Schicht Schminke, schaute entsetzt auf David. Er wies mit dem Kopf zum Badezimmer. Dann näherte er sich auf Zehenspitzen der Tür, drückte sich an die Wand und tastete nach der Pistole in der Tasche.

Das leise Klopfen wiederholte sich, und David hörte plötzlich gedämpft die Gedanken des Wartenden:

.Wahrscheinlich schläft er. Gut, daß ich ihn so schnell gefunden habe . .. Ich muß wohl lauter klopfen . . . '

„Herein!" rief David und schmiegte sich noch fester an die Wand. Die Tür wurde geöffnet, und David hieb jemand mit voller Wucht den Pistolengriff auf den Kopf. Ein Mann wankte herein und fiel rücklings gegen die Tür. Auf der Stirn zeigte sich ein dünnes Rinnsal Blut.

Einen Augenblick schien es David, als erlebe er all das nicht selbst, sondern sehe es in einem Film. Aber es ver­ging ein Augenblick und noch einer, und die Szene nahm kein Ende. Fitzgeralds Augen waren geschlossen. David beugte sich über ihn und lauschte. Der Hauptmann atmete. Da schloß David die Tür ab. Wie sollte es nun weitergehen in diesem Film? David blickte sich um.

„Wer ist das?" Cläre zitterte. „Der? . . . Ein Freund . . . " „Bist du ein . .. Gangster?" In Cläres Stimme schwang

tiefe Enttäuschung. „Ein Gangster . . . ach, nur ein Gang­ster . .."

„Nein, Cläre, kein Gangster, sondern ein Monstrum. Be­greifst du, ein Monstrum."

„Sie können jede Minute hier sein." „Gleich." David mühte sich damit ab, den Hauptmann auf sein Bett

zu legen, mit dem Gesicht zur Wand. Dann drehte er schnell die Birne aus der Tischlampe, schob ein kleines Geldstück in die Fassung und drehte die Birne wieder ein. Ein leich­tes Knacken ertönte. Das Licht im Zimmer erlosch.

Sie schauten hinaus — draußen war niemand. Das weiche

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Licht aus den langen Deckenleuchten erhellte den Gang und gab ihm etwas Anheimelndes. David schloß leise die Tür des Lifts.

„Halt in der ersten Etage", flüsterte Cläre. „Dort steige ich aus, du fährst in den Keller. Wenn du unten bist, wende dich nach rechts zum Ausgang. Da vermuten sie dichjnicht."

„Und du?" Sie gab keine Antwort, schaute ihn nur an. ,Ich fahre

mit ihm', hörte David ihre Gedanken. ,Gänz gleich, ich fahre

„Wo sie nur steckt!" sagte Bill Bardot zu seinem Kolle­gen. Sie standen in der Halle und rauchten.

Endlich erschien Cläre. Sie kam die Treppe herunter und flüsterte ihnen auf dem Wege zum Ausgang rasch zu: „Alles in Ordnung, die Tür ist offen."

„Gut", brummte der Bankhalter und nickte seinem Kollegen zu. „Komm!"

Die Tür von Nummer 642 war angelehnt. „Das Licht brennt nicht." „Cläre hat es sicherlich ausgemacht. Er schläft. Man

könnte ihm den Blinddarm herausnehmen, er würde es nicht merken."

Sie schauten sich um — der Gang war leer — und schlüpf­ten in das Zimmer.

„Wo ist der Schalter?" flüsterte Bill. „Aha, hier ist er." Sie hörten ein leichtes Knacken, noch eins, das Licht

brannte nicht. Bill trat mit ausgestreckten Armen an den Tisch und tastete nach der Lampe. Aber auch sie brannte nicht. „Kurzschluß. Zum Teufel! Na, um so besser." Er trat ans Bett und tastete nach der liegenden Gestalt. „Komm her, hier ist er." Bill durchsuchte gewohnheitsmäßig die fremden Taschen. „So siehst du aus!" flüsterte er, als er eine Pistole fühlte.

„Läuft mit der Kanone herum. Da, nimm!" Sie begannen den Schlafenden zu verprügeln.. „Warte, Bill", sagte sein Kollege. „Zerr ihn auf den Fuß­

boden, da haben wir es bequemer." Sie zogen ihn an der Jacke, und der Körper schlug mit

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einem dumpfen Aufprall auf dem Boden auf. Sie hieben auf ihn ein, bis ihnen der Atem ausging.

„Gut, das reicht!" ächzte Bill. „Zünde das Feuerzeug an, wir wollen sehen, was von ihm noch übriggeblieben ist."

Das Flämmchen beleuchtete ein aufgedunsenes blutendes Gesicht. Bill fuhr zurück.

„Was ist los, Bill? Sind wir zu weit gegangen?" „Das ist er nicht." „Laß mich sehen. Mach die Tür auf." Sie schauten sich die Papiere an, die sie aus den Taschen

gezogen hatten. „Hauptmann der Polizei Ernest Fitzgerald", las Bill flüsternd. „Um Gottes willen, was machen wir nun? Schau, das ist der Ausweis dieses Kerls! Was ist das bloß für eine verflixte Teufelei?"

„Was machen wir jetzt? Lassen wir ihn im Zimmer liegen?"

„Vielleicht können wir ihn wegbringen . . . " An die Tür wurde leise geklopft. Bill hielt seinem Kol­

legen den Mund zu. „Mr. Ross!" erklang es hinter der Tür. „Treten Sie ein!" rief Bill, „ich habe mich hingelegt.

Treten Sie ein. Ich mache gleich Licht." Die Tür öffnete sich und ein langaufgeschossener Mann

glitt in das Zimmer. Das Licht aus dem Gang legte sich auf seinen kleinen Kopf mit den pomadisierten Haaren.

Bill und sein Kollege schlüpften auf den Ga'ng und schlu­gen hinter sich die Tür zu. Der Bankhalter drehte den Schlüssel um. „Ich weiß nicht, wer das ist, aber für uns ist er ein Geschenk des Himmels. Ross heißt der Kerl also. Aber wo ist er hin? Nun gut! Wir müssen erst mal die Po- . lizei alarmieren."

Als der Mitinhaber des Detektivbüros Donahue und Fliss, Eugene Donahue, hinter der Tür vernommen hatte: „Tre­ten Sie ein, ich habe mich hingelegt", folgte er der Auf­forderung. Im Zimmer war es dunkel, er blieb stehen. Da huschte jemand an ihm vorbei, die Tür schlug zu, und er hörte, wie das Schloß zuschnappte.

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„Mr. Ross!" rief er. „Was sind das für Spaße!" Niemand antwortete ihm. Durch die zugezogenen Gar­

dinen drang ein schwacher Lichtschein und erlosch wieder. ,Das wird die Reklame auf der Straße sein', dachte der Detektiv und tastete sich zu den Fenstern hin. Dabei stieß sein Fuß gegen etwas Festes. Donahue bückte sich und grjff danach. Es waren Schuhe. Aber sie standen nicht auf dem Teppich. Ihre Spitzen ragten nach oben! Auf dem Fuß­boden lag ein Mensch. Donahue sprang zurück, als hätte er eine elektrische Leitung angefaßt, und prallte hart gegen die Wand. Er tastete sie ab. Dort war er, dort war der Schalter. Donahue drückte krampfhaft auf den Knopf, doch die Dunkelheit blieb.

Entsetzliche Gedanken schössen ihm durch den Kopf. Im Zimmer liegt Ross' Leiche, und er hat Ross' Bild in der Tasche. Die Tür ist verschlossen. Wie soll er beweisen, daß er nicht der Mörder ist, sondern in eine Falle geraten ist? Ob er Burby oder Trumond anruft? Aber wie sollen sie ihm jetzt helfen? Plötzlich hörte er ein schwaches Stöhnen. Gott sei Dank — Ross lebte! Donahue kroch zu ihm hin, streckte die Hand aus und fühlte etwas Klebriges. Gleich würden sie hier hereinkommen, und an seinen Händen klebte Blut. Fieberhaft rieb Donahue die Finger am Tep­pich ab.

Das Schloß schnappte, Donahue sprang auf die Beine. Ein schwacher Lichtstrahl glitt über die am Boden liegende Ge­stalt, beschrieb einen Kreis und verhielt bei ihm.

„Wer sind Sie?" fragte eine Stimme. „Eugene Donahue, Mitinhaber des Detektivbüros Dona­

hue und Fliss aus Uplake." „Was machen Sie hier?" ..Ich habe einen Mr. David Ross gesucht." „Anscheinend haben Sie sich so über das Wiedersehn

gefreut, daß Sie ihn zu Brei geschlagen haben. Ich habe ja schon immer gesagt, diese Privatdetektive . . ."

„Er lebt. Man muß ihm helfen. Aber ich war es nicht." Der Strahl der Lampe blieb auf dem Gesicht des am Bo­

den Liegenden haften.

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„Du lieber Himmel!" rief Donahue. „Das ist doch gar nicht Ross.'.'

„Wir hoffen aber, daß er ebenfalls ein Bekannter von Ihnen ist. Einen Unbekannten so fertigzumachen wäre di­rekt unhöflich."

„Das ist Ernest Fitzgerald, Polizeihauptmann aus Uplake." „Na, na. Ich bin auch von der Polizei", sagte die Stimme.

„Vielleicht erzählen Sie uns erst einmal, wie und warum Sie ihn so zugerichtet haben! Oder brauchen Sie dazu eine normale Beleuchtung?"

Das Kapitel, in dem, David Cläre alles gesteht

David öffnete die Augen und richtete sich auf. „Cläre!" rief er. „Hier bin ich." Cläre lächelte. Sie trat an sein Bett. In

der Hand hielt sie eine Tasse Kaffee. „Entschuldige, daß dein Morgenkaffee nur noch lauwarm ist, aber ich habe ge­wartet, bis du die Augen aufmachst."

David trank den Kaffee und reichte ihr die Tasse zurück. „Ich danke dir, liebe gute Cläre. Komm, setz dich zu

mir." Sie umarmte ihn und lehnte ihr Gesicht an seine Schulter. „Cläre", fragte er leise, „gefällt es dir bei mir?" Sie zuckte kaum merklich zusammen. ,Das hat mich noch

keiner gefragt. Das kann doch nicht so weitergehen', dachte sie.

„Warum kann es nicht so weitergehen?" fragte David. Sie schaute ihn erschrocken an. „Wie meinst du das?" „Mir war so, als hättest du an uns gedacht", sagte David.

Er war ärgerlich auf sich, weil er wieder die Gedanken mit dem gesprochenen Wort verwechselt hatte.

„Ich habe gedacht, daß es mit uns nicht so weitergehen kann. Jeden Augenblick erwarte ich, daß du mir mein bis­heriges Leben vorhältst."

David fühlte, wie ihn Zärtlichkeit ergriff. „Gräm dich nicht", sagte er und streichelte ihren Nacken. „Auch ich

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habe es nicht leicht! Ich bin ein Monstrum, verstehst du, ein Monstrum, das Gedanken lesen kann."

„Davon habe ich noch nichts bemerkt." „Es stimmt aber, Cläre." Warum sage ich ihr das alles? ging es ihm durch den

Kopf, aber er konnte nicht mehr zurück. Er mußte ihr die ganze Wahrheit gestehen.

Cläre schaute ihn mit weitgeöffneten Augen an. „Heißt das, du hast von dem Schlafpulver auch auf diese Weise erfahren?"

„Aber ja", sagte David. „Ich bin absichtlich hinausge­gangen, damit du das Zeug hineinschütten konntest. Wir sind quitt, Cläre, erst wolltest du mich zugrunde richten, dann hast du mich gerettet."

„Und du weißt, was ich jetzt denke?" fragte Cläre. „Du denkst: ,Merkwürdig, er redet Unsinn, aber ich

glaube ihm.' " „Und was noch?" „Und dann denkst du noch: ,Hol's der Kuckuck, wenn er

mich doch umarmt.'" „Ich kann also gar keine Gedanken vor dir verbergen?" „Nein." „David Ross, solange du keine schlechten Gedanken von

mir hörst, bleibe ich bei dir. Und woran denke ich jetzt?" „Ans Frühstück." „Richtig. Außerdem muß ich mir dringend einiges kaufen.

In der Eile habe ich weder einen Schlafanzug noch eine Zahnbürste eingesteckt."

Der Mann, der Eugene Donahue gegenübersaß, strahlte wie ein neues Auto im Regen. Das Licht spiegelte sich in seiner blanken Glatze, in den Brillengläsern, in den mani­kürten Fingernägeln und in den spiegelblanken Schuhen.

„Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle", sagte er nervös. „Rufus Keating. Senator Trumond, ein guter Freund von mir, hat mir geraten, mich an Sie zu wenden und . . . Man kann Ihnen doch wohl Vertrauen schenken? Der Senator meinte . . ."

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Der Privatdetektiv nickte feierlich. „Wenn Sie der Sena­tor zu mir schickt . . ."

„Ja, ja", stimmte der polierte Mann hastig zu. „Ich denke, daß ich Ihnen alles erzählen kann. Der Senator erhielt vor einigen Tagen die vertrauliche Mitteilung, daß in Horse Shoe ein geheimes militärisches Übungsgelände geschaffen werden soll. Natürlich entschlossen wir uns sofort, dort Land zu kaufen. Denn sobald das Projekt offiziell bekannt wird, und das ist eine Sache von Tagen, klettert der Wert bis ins Zwanzigfache. Und da erfahre ich gestern plötzlich, daß uns ein anderer Käufer zuvorgekommen ist. Begreifen Sie das? Ich will nicht sagen siebenhunderttausend Dollar, aber eine halbe Million hatten wir praktisch bereits in der Tasche. Was sagen Sie dazu?"

„Hm, so etwas kann vorkommen." „Kann vorkommen? Das darf nicht vorkommen! Keiner

wußte von dem Projekt! Der einzige Mann im Pentagon, der mit der Sache zu tun hatte, ist ein naher Freund des Senators. Außerdem ist er selber finanziell daran inter­essiert."

„Vielleicht wußte noch jemand davon?" „Ausgeschlossen!" Die Angelegenheit war gerade drei

Tage vorher entschieden worden." „Regen Sie sich nicht auf. Können Sie sich vielleicht er­

innern, mit wem Sie in der fraglichen Zeit zusammenge­kommen sind."

„Nun gut, ich werde es versuchen. Am Morgen des be-' treffenden Tages rief mich der Senator an, und wir ver­abredeten uns für fünfzehn Uhr. Wir unterhielten uns in meinem Wagen, und wenn sich niemand in den Zylindern oder im Tachometer verkrochen hatte, kann unser Gespräch nicht .belauscht worden sein. Eine Stunde später flog ich nach New York, ich hatte dort verschiedenes zu erledigen. Den Abend habe ich allein verbracht. Am nächsten Mor­gen unterhielt ich mich mit einem Bekannten . . ."

„Wer war es?" „Ein gewisser Paul Goldberg. Aber das ist ohne Bedeu­

tung. Wir sprachen nicht über Geschäfte."

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„Worüber haben Sie sich dann unterhalten?" „Worüber? Ach, ja! Er erzählte mir von den erstaun­

lichen Fähigkeiten eines Hellsehers, eines gewissen Senor Gabriel Rossi. Ich beschloß, zu ihm zu fahren. Ich bin nicht abergläubisch, aber ich fühle mich ruhiger, verstehen Sie! Ehrlich gesagt, er hat mich enttäuscht — er "riet mir davon ab, das Geschäft abzuschließen. Zwei Tage lang war ich mir im unklaren, schließlich habe ich mich aber doch mit dem Agenten in Horse Shoe in Verbindung gesetzt. Der ließ mich gar nicht zu Worte kommen. ,Gestern', sagte er, ,ist das Land für fünfundzwanzigtausend verkauft worden.' Genau die Summe, die ich zu zahlen bereit war. Der Teufel weiß, ob das ein Zufall ist oder .

„Oder?" „Ich weiß nicht, Mr. Donahue. Deshalb bin ich ja zu

Ihnen gekommen." „Und wer hat das Land gekauft?" „Eine gewisse Cläre Manvers aus New York." „Mit wem haben Sie noch gesprochen?" „Absolut mit niemandem. Auf jeden Fall kein Wort über

Geschäfte. Ich möchte, daß Sie herausfinden, wer diese Cläre Manvers ist und woher sie von Horse Shoe wußte."

„Das kostet tausend Dollar und noch dreißig für jeden Tag, den ich für die Nachforschungen benötige."

„Fangen Sie sofort an, Donahue."

Die mittelalterlichen Astrologen hätten es sich wohl kaum vorstellen können, daß ihre Nachfolger sich einmal zu einer Berufsvereinigung der Propheten zusammenschlie­ßen würden.

David Ross schlug das dicke Telefonbuch auf und fand darin die Adresse Mr. Abdurachman Ali Suleimans, des Präsidenten der Vereinigung der Propheten.

David wußte, daß er eine Menge Geld machen könnte, wenn er einer großen Gesellschaft beiträte und dort seine ungewöhnlichen Fähigkeiten bewiese. Zum Beispiel könnte er als lebender Lügendetektor eingesetzt werden, um die Loyalität und sachliche Auffassungsgabe der Angestellten

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zu prüfen. Oder er würde ein mächtiges Instrument der Wirtschaftsspionage werden. Aber ebenso sicher wußte er, daß keine einzige Gesellschaft für sein Leben garantieren könnte. Ein Mensch, der Gedanken lesen kann, ist zu ge­fährlich. Er hätte in das Bundesuntersuchungsbüro gehen und es dort sicher zu etwas bringen können. Aber auch da hätte ihn niemand vor einer tödlichen Dosis Gift oder einem Zwanzigtonner schützen können.

Das war der Grund, weshalb David bei der Sekretärin Mr. Abdurachman Ali Suleimans erschien.

Sie verzog die Lippen zu einem eingeübten Lächeln und erklärte: „Mr. Suleiman empfängt heute nicht. Er ist in die Betrachtung der Zukunft versunken. Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen."

.Herrgott, warum drückt nur der rechte so?' dachte sie dabei. ,Der linke drückt nicht, nur der rechte. Im Geschäft paßten sie, und jetzt drückt der eine. Sechzehn Dollar! So ein Ärger!'

„Lassen Sie ihn doch weiten!" schlug David lächelnd vor. „Wen soll ich weiten lassen?" Die Augenbrauen der

Sekretärin hoben sich. „Den rechten Schuh. Sechzehn Dollar wirft man nicht auf

die Straße." „Sie, Sie . . ." Sie sprach den Satz nicht zu Ende, sprang

auf und verschwand hinter einer Tür. Als sie zurückkam, nickte sie David stumm zu, einzutreten.

Im Arbeitszimmer des Präsidenten der Vereinigung der Propheten war nichts von Geisterspuk zu spüren. Auf dem Tisch lag eine „New York Times" mit der aufgeschlagenen Börsenseite. Der Präsident im gut geschnittenen Anzug des erfolgreichen Geschäftsmannes tastete David mit einem skeptischen Blick unter buschigen Brauen rasch und ge­schickt ab. „Guten Tag, Mister . . . "

„David Ross." „Ross? Miss Peabody hat mir schon wahre Wunder von

Ihnen erzählt", bekannte Mr. Abdurachman Ali Suleiman mit reinem Brooklyner Akzent. Er schaute David mit dem Widerwillen eines Arztes an, der einen Simulanten vor sich

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hat. ,Kunststückchen. .. Solche Kunststückchen kennen wir', dachte er verdrossen.

„Natürlich sind es Kunststückchen, und sicherlich kennen Sie die schon, Mr. Suleiman", sagte David höflich. „Aber eine andere Möglichkeit, Sie auf mich aufmerksam zu ma­chen, hatte ich leider nicht."

Der Präsident der Vereinigung der Propheten schaute David schweigend an. ,Das ist unmöglich. Ich weiß das doch am besten', hörte David seine Gedanken.

„Natürlich ist es unmöglich", entgegnete er. „Bei mir ist die Fähigkeit besonders ausgeprägt, aus der Mimik meiner Mitmenschen auf ihre Gedanken zu schließen. Verstehen Sie, ich bin noch kein Hellseher von Beruf und kann mich — was die Gabe der Prophezeiung betrifft — längst nicht mit Ihnen messen, aber ich dachte, daß Sie mir vielleicht helfen könnten, auf Ihrem großen Gebiet Arbeit zu fin­den."

Mr. Suleiman schob mit einer entschlossenen Geste die „New York Times" beiseite und sagte: „Erzählen Sie mir etwas von sich. Sie verstehen doch . . ."

„Ja, selbstverständlich. Ich bin aus Uplake, Journalist, Junggeselle. Nach New York bin ich vor einigen Tagen gekommen, um mit Ihnen Rücksprache zu nehmen. Wissen Sie, meine Mutter war lange Zeit gelähmt, und ich lernte es, ihr die Gedanken von den Augen abzulesen. Dann trai­nierte ich, wo ich nur konnte, hörte bei der Zeitung auf und reiste schließlich zu Ihnen."

,Er lügt sicherlich', dachte der Prophet. David lächelte. „Sie glauben mir nicht." „Hm, Sie verfügen wirklich über große Fähigkeiten. Nun

gut, ich bin ein Geschäftsmann, Mr. Ross, ich liebe ein sach­liches Gespräch."

Gleich vom Flughafen aus rief Donahue die Nummer an, die Keating ihm gegeben hatte. Die Sekretärin Senor Ros-sis bestellte ihn für zwei Uhr. Sofort fuhr er hinaus nach Long Island. Die dunkelblaue Decke des Empfangsraumes war mit Stern- und Tierkreiszeichen bemalt, und an den

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Wänden und in den Vitrinen schimmerten die Skelette seltener Vögel.

„Wen darf ich eintragen?" Die Sekretärin, eine gutaus­sehende Blondine in einem mit phantastischen Vögeln be­druckten Kleid, lächelte.

„Charles Pratt aus New York", sagte der Detektiv. „Sie möchten Senor Rossi um einen Rat bitten?" „Ja." „Nehmen Sie Platz, Mr. Pratt." Donahue drehte sich um und erkannte das Gesicht, das

er tausendmal auf der Fotografie gesehen hatte. Das war ein Erfolg. Er hatte Cläre Manvers gesucht und nicht nur sie, sondern auch David Ross gefunden. Das war der größte Erfolg seit der Gründung der Firma Donahue und Fliss! ,Bleib ruhig, Eugene! Er weiß doch nicht, wer du bist.'

„Guten Tag, Senor Rossi." „Guten Tag, Mr. Pratt. Womit kann ich Ihnen dienen?"

fragte der große Hellseher und drückte auf den Knopf eines verborgenen Magnetophongerätes. Der Präsident der Ver­einigung der Propheten hatte darauf bestanden, daß alle Gespräche mit den Klienten auf Band aufgenommen wurden.

„Ich möchte erfahren, was mir die Zukunft bringt", sagte Donahue und grinste innerlich. ,So ein Erfolg! Jetzt wird Senator Trumond zufrieden sein. Bitte. Senator, hier ist der Halunke, der Ihre Verbindungen zu den Minute-men enthül­len wollte.' Und der Senator wird sagen: ,Ich danke Ihnen, Donahue. Ich werde an Sie denken. Haben Sie nur Geduld, auch unsere Zeit kommt.'

Mr. Rossi saß vor ihm. Er hielt die Augen geschlossen, als denke er nach. Mit der einen Hand strich er über eine große Kristallkugel auf dem Tisch, die Finger der anderen glitten einen Rosenkranz entlang.

„Ich danke Ihnen, Mr. Donahue von der Firma Donahue und Fliss", sagte Rossi.

„Was? Was haben Sie gesagt?" Der Detektiv beugte sich ruckartig vor.

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Schade, daß es Ihnen gelungen ist, sich in Las Vegas aus der Affäre zu ziehen."

Ach, du Lump!" schrie der Detektiv und sprang auf, sank aber sofort in den Sessel zurück, als er in Ross' Hand eine Pistole sah. „Wir werden schon eine Methode fin­den . • •"

.Drohungen fruchten bei mir nicht mehr." In seiner Wut vergaß Donahue die Pistole. Er lehnte sich

über den Tisch und stieß mit der Faust zu. David wich zur Seite und zog Donahue mit aller Kraft an

dem ausgestreckten Arm. Donahue flog über den Tisch und schlug der Länge lang hin. Er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, aber David hob drohend die Pistole,

„Das hilft dir alles nichts", krächzte der Detektiv haß­erfüllt. „Wenn sich die Minute-men über jemand empören, dann lassen sie ihn nicht mehr aus den Fängen."

David lächelte spöttisch. „Ich sehe, auch Sie üben sich darin, die Zukunft zu weissagen."

„Wir weissagen nicht nur, wir machen es auch wahr", entgegnete Donahue, der immer noch am Boden lag. „Heute hast du Glück gehabt, heute hast du die Pistole zuerst ge­zoger). Aber früher oder später sind wir an der Reihe. Wir, die Minute-men, mit Trumond an der Spitze, und dann wirst du sehen!"

„Mach, daß du fortkommst!" schrie David außer sich. „Verschwinde, bevor ich auf den Abzug drücke."

Der Detektiv sprang auf die Beine und stürzte zur Tür. Cläre kam erschrocken ins Zimmer gerannt. „David, was ist passiert?" „Nichts, Cläre", antwortete er. „Du hast genug eigene

Sorgen! Glaubst du, ich weiß nicht, woran du in den Nächten denkst? Manchmal träume ich sogar deine Träume."

„Laß uns von hier weggehen." „Wohin, Cläre? Sie werden mich überall finden. — Warte

nur, wir werden das Geld schon bekommen. Auf jeden Fall können sie nichts machen, solange das Land auf dei­nen Namen geht."

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„Aber wie hat er Sie erkannt, Mr. Donahue?" fragte Senator Trumond und wandte seinen massigen Körper dem Detektiv zu.

„Ich weiß nicht. Sir. Ich bin überzeugt, daß er mich vor­her nie gesehen hat."

„Und was denken Sie, Keating?" „Ich fange allmählich an zu glauben, daß er auf dieselbe

geheimnisvolle Weise von dem Projekt in Horse Shoe er­fahren hat."

„Wie konnten Sie auch einen Wahrsager aufsuchen!" „Er hat großen Zuspruch. Wer ahnt denn, daß er wirk­

lich Gedanken lesen kann?" „Gedanken, Gedanken", brummte der Senator. „Ich kann

dieses Wort nicht mehr hören." „Wir können ihn einfach beseitigen, Sir", schlug Donahue

vor. „Die Organisation wird sich glücklich schätzen, Ihnen einen kleinen Dienst zu erweisen."

„Beseitigen?" Der Senator zuckte mit den Schultern. „Be­seitigen. Natürlich kann man das. Aber eine halbe Million liegt nicht auf der Straße. Wenn wir uns von ihm trennen, können wir alle Hoffnung fahren lassen, den Kontrakt mit dieser Cläre Manvers zu annullieren."

„Ich habe eine Idee." Rufus Keating begann vor Erregung zu pfeifen. „Ich übergebe Ross dem Gericht wegen Ver­letzung des Berufsgeheimnisses. Ich beweise dem Gericht, daß ich ihm von dem beabsichtigten Landkauf in Horse Shoe erzählt habe und daß er diese Mitteilung zu eigen­nützigen Zwecken verwandt hat. Es versteht sich natürlich, daß wir kein Wort darüber verlieren, was das für Land ist und wofür wir es brauchen."

„Und wenn er es weiß?" „Niemand glaubt ihm das. Wir bringen ihn ins Gefäng­

nis und erreichen gleichzeitig, daß der Vertrag annulliert wird."

„Nicht schlecht! Vielleicht kommt bei der Sache doch et­was heraus", brummte der Senator vor sich hin.

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Ein Kapitel, in dem David versucht, den Stier Justiz bei den Hörnern zu packen

„Euer Ehren, meine Herren Geschworenen, Anwälte, Ladies und Gentlemen", begann der Anwalt des Klägers sein Plädoyer. Er war klein von Statur und hob sich ab und zu auf die Zehenspitzen, als recke sich ein Hahn heraus­fordernd in die Höhe. „Glauben Sie mir, es ist mir unan­genehm, Ihre Zeit mit einer so eindeutigen Sache in An­spruch zu nehmen. Was ist geschehen, Euer Ehren? Der Finanzier Rufus Keating, ein Mann voll Lauterkeit und hoher Prinzipien, Vater einer Familie und mein Klient, hat sich entschlossen, ein Stück Land in Horse Shoe zu erwer­ben. Der Instinkt des Finanziers sagt ihm, daß dieses Land vielleicht einmal zum Wohle der Gesellschaft genutzt wer­den kann. Aber, Euer Ehren, wie das bei jedem Menschen ist, so besitzt auch mein Klient eine kleine Schwäche. Er zweifelt, bangt, zittert bei dem Gedanken, daß er das Geld seiner Kinder riskiert und es vielleicht verlieren könnte. Er will sich noch einmal davon überzeugen, daß dieses Geld sicher angelegt ist. Er geht zu einem Wahrsager, einem ge­wissen Senor Gabriel Rossi, von dem ihm ein Bekannter erzählt hat. Euer Ehren, meine Herren Geschworenen, Ladies und Gentlemen! Sie werden sicherlich verwundert sein, daß mein Klient diesen Schritt tat. Unter einem .Finanzier' stellen Sie sich gewiß einen entschlossenen selbstsicheren Mann vor. Nein, Mr. Rufus Keating ist nicht so. Dieser bescheidene, gutmütige Mann ist ständigen Zwei­feln und Schwankungen unterworfen. Und in seiner rüh­renden Hilflosigkeit entschließt er sich, einen Wahrsager aufzusuchen.

Er geht also zu ihm und erzählt ihm von seinen geschäft­lichen Plänen. Er ist ein wenig unbeholfen und schämt sich etwas, weil er ein zutiefst religiöser Mensch ist. Außerdem geniert er sich seiner Vorurteile wegen. Er erzählt dem Wahrsager von seinen Plänen, er vertraut den Menschen. Mit offenem Herzen erwartet er einen Rat. ,Auf keinen Fall!' warnt ihn der Wahrsager. ,Lassen Sie die Hände

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weg von dieser Sache!' Zwei Tage später aber erfährt mein Klient, daß das Land in Horse Shoe an eine gewisse Miss Cläre Manvers verkauft worden ist. Und Miss Cläre Manvers ist die Sekretärin und Geliebte dieses Wahr­sagers."

„Ich protestiere gegen die Verleumdung von Miss Manvers", warf David ein.

„Protest angenommen", entgegnete der Richter, „fahren Sie fort."

„Folglich, Euer Ehren, liegt das schändlichste Vergehen vor, welches man sich denken kann: die Ausnutzung des Berufsgeheimnisses für persönliche gewinnsüchtige Zwecke. Stellen Sie sich vor, Euer Ehren, wie sähe die Welt aus, wenn es kein Berufsgeheimnis mehr gäbe: Die Ärzte wür­den ihre Patienten erpressen, die Beichtväter ihre Ge­meinde ruinieren. Ich schaudere, wenn ich nur daran denke! Euer Ehren, meine Herren Geschworenen, die An­klage bittet, Gabriel Rossi alias David Ross wegen Ver­letzung des Berufsgeheimnisses aus gewinnsüchtigen Mo­tiven zu bestrafen und den Vertrag über den Landkauf in Horse Shoe zu annullieren. Ich mache Sie darauf aufmerk­sam, Euer Ehren, daß der Beklagte sich selbst verteidigen muß, weil kein einziger Jurist, der etwas auf sich hält . .."

„Ich protestiere gegen diese Anspielung des gegnerischen Anwalts. Sie ist verleumderisch und nicht zur Sache ge­hörig. Ich habe es vorgezogen, mich selbst zu verteidigen, obwohl viele . . . "

„Gut, Protest angenommen!" unterbrach ihn der Richter. „Ankläger, sind Sie mit Ihren Ausführungen am Ende?"

„Ja, Euer Ehren!" „Angeklagter, was haben Sie vorzubringen?" „Euer Ehren, meine Herren Geschworenen! Ich werde

nicht alles wiederholen, wovon der Anwalt des Klägers ge­sprochen hat. Ich beschränke mich auf die Erklärung, daß Mr. Rufus Keating mir gegenüber nicht ein Wort über den beabsichtigten Landkauf in Horse Shoe verlauten ließ."

„Lüge!" schrie Keating von seinem Platz aus und rieb sich die glänzende Glatze.

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„Das Wort hat der Angeklagte."-„Das ist vorläufig alles, Euer Ehren. Ich bin bereit, auf

alle Fragen des Klägers zu antworten." „Fragen an den Angeklagten?'' erkundigte sich der

Richter. Der Anwalt sprang auf und richtete sich wieder auf den

Zehenspitzen auf. Man hatte den Eindruck, als würde er jeden Augenblick zu krähen anfangen, mit den Flügeln schlagen und auffliegen.

„Wußten Sie vor dem Besuch Mr. Rufus Keatings, daß das Land in Horse Shoe zum Verkauf angeboten war?"

„Nein, das wußte ich nicht", entgegnete David ruhig. Der Anwalt zwinkerte verdutzt und ließ sich auf die

Fersen nieder, doch gleich schnellte er wieder hoch. Seine Stimme klang triumphierend und giftig: „Das heißt also, Sie geben selbst zu, daß mein Klient Ihnen von dem be­absichtigten Kauf erzählt hat."

„Nein, das gebe ich nicht zu." „Woher haben Sie es dann erfahren?" „Von Rufus Keating." „Angeklagter", mischte sich der Richter ein. „Das Gericht

ist kein Platz für Paradoxe und Geistreicheleien. Drücken Sie sich klarer aus!"

„Ich drücke mich ganz klar aus. Rufus Keating hat mir nichts erzählt, und dennoch habe ich es gerade von ihm erfahren."

,Ich bin es müde, mich vor ihnen zu verstecken', ging es David durch den Kopf. .Sie lassen mir doch keine Ruhe, wohin ich mich auch verkrieche.'

„Vielleicht geruhen Sie, Ihre Äußerung zu erklären!" Der Anwalt wiegte sich in seinem Triumph wie eine Katze, die ein Mäuslein gefangenhält.

„Euer Ehren", erklärte David, „die Sache ist die, daß ich imstande bin, fremde Gedanken zu hören. Als Rufus Keating zu mir kam, dachte er an den Landkauf in Horse Shoe, Er dachte, daß die Sache sicher sei, weil ihn Senator Steward Trumond selbst über den dort beabsichtigten Bau einer Militärbasis unterrichtet hatte . . . "

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„Ich protestiere!" rief der Anwalt. „Protest abgelehnt.'' „Er dachte auch daran, daß er einem General fünfzig­

tausend Dollar zahlen müßte und daß man in einigen Ta­gen für dieses Land nicht fünfundzwanzig — die Summe, die er zu zahlen beabsichtigte —, sondern eine halbe Mil­lion verlangen könnte."

„Ich protestiere!" Der Anwalt rieb sich mit einem Ta­schentuch die flammendrote Stirn. „Hier ist ein Gericht und kein Klub der Phantasten. Jeder weiß, daß man fremde Gedanken nicht hören kann. Das ist eine Lüge!"

„Und wer denkt jetzt daran, daß es Zeit ist, eine Tablette zu nehmen? Sie haben anscheinend zu hohen Blutdruck, und Ihre Nerven sind auch nicht ganz intakt."

„Lüge!" Die Adern auf der Stirn des Anwalts traten so stark hervor, als könnten sie jeden Augenblick platzen. „Narrenpossen, Zauberkunststückchen!"

„Kläger!" sagte der Richter. „Lassen Sie sich nicht hin­reißen. Haben Sie noch Fragen an den Angeklagten?"

„Ja, Euer Ehren. Soeben haben wir eine höchst absurde Behauptung gehört. In meiner dreißigjährigen Praxis ist mir ein so haai'sträubender Fall von Verlogenheit nicht be­gegnet. Möchte uns Mr. Ross nicht einen Beweis seiner Be­hauptung geben?"

„Selbstverständlich", entgegnete David. „Mag der Kläger etwas aufschreiben. Natürlich so, daß ich es nicht sehe. Dann mag er das Blatt dem Gericht oder den Geschworenen übergeben. Ein einfaches Experiment."

David saß mit verbundenen Augen und lauschte auf den Lärm. Die Gedanken der Menge im Saal schwirrten durch­einander wie aufgescheuchte Bienen. Er fürchtete plötzlich, die Gedanken des Anwalts in diesem Chaos von Tönen zu überhören und spürte, wie ihm der- Schweiß auf die Stirn trat. .Ruhig, ruhig', beschwichtigte er sich, ,du mußt dich konzentrieren, David.' Die fremden Gedanken dröhnten ihm im Ohr, er nahm sie fieberhaft auf, in der Hoffnung, endlich das aufzufangen, was er brauchte.

Da waren sie: Die Gedanken des Anwalts tanzten auf-

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geregt und erschrocken. .Vielleicht... Und wenn er wirk­lich . • • Was soll ich schreiben? Man muß irgend etwas schreiben.' Er kritzelte auf das Blatt: ,Der Fuchs sprang über den Zaun. Sechs plus drei ist neun. Die »Yankees« haben gestern gegen »Kardinal« verloren.'

„Alles?" fragte David. ',Ja", antwortete der Anwalt. Seine Stimme, hatte die

triumphierende Sicherheit verloren. „Mit Ihrer Erlaubnis, Euer Ehren, behalte ich die Binde

noch vor. Auf dem Blatt steht geschrieben: ,Uer Fuchs sprang über den Zaun. Punkt. Sechs plus drei ist neun. Punkt. Die »Yankees« haben gestern gegen »Kardinal« ver­loren.' Ich möchte nur noch hinzufügen, daß ich dem Kläger dafür dankbar bin, daß er mir das Resultat des gestrigen Spieles mitgeteilt hat. Ich habe keine Zeitung gelesen und bin betrübt, daß die New-Yorker Mannschaft wieder ver­loren hat." David schien es, als wären die Gedanken im Saal erstarrt. Er hörte nur noch ein eintöniges, einförmiges Summen.

Der Richter hob das Blatt Papier an seine kurzsichtigen Augen, anscheinend traute er ihnen nicht. Stockend las er: „ .Der Fuchs sprang über den Zaun. Sechs plus drei ist neun. Die »Yankees« haben gestern'gegen »Kardinal« ver­loren' .. . Merkwürdig', brummte er nach einer quälend langen Pause. „Ich habe noch nie etwas Derartiges erlebt. Kläger, haben Sie noch Fragen?"

,Wie kann man einen Prozeß führen', schwirrte es im Kopf des Anwalts, ,wenn der Gegner weiß, was man denkt. Er weiß alles, was ich denke, was Keating denkt. Unge­heuerlich! Aber ich muß irgend etwas sagen.'

„Sie sehen selbst", begann er, „der Angeklagte nutzt seine seltsame Fähigkeit aus, die Gedanken meines Klien­ten zu lesen." Seine Stimme nahm an Lautstärke zu: „Ist das vielleicht kein Diebstahl? Unterscheiden sich unsere Köpfe etwa von unseren Safes?"

„Ich nehme an, Sie sind ein gläubiger Mensch?" unter­brach ihn David.

„J-a, aber . . . "

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„Erinnern Sie sich viellefcnt noch an das Gebot: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten? Seine Gedanken verbergen heißt aber: nicht das sprechen, was man denkt, also lügen. Sie glauben offenbar, daß die Unmöglichkeit zu lügen eine Gefahr für den Bestand un­serer Gesellschaft darstellt? Dann leben wir also der Lüge und klammern uns an die Lüge . .. Und alle unsere Ge­richte sind berufen, diese Lüge zu schützen? Aber als ich das Berufsgeheimnis verletzte, als ich von Rufus Keating erfuhr, daß der General, der ihm die geheimen Pläne des Pentagon für fünfzigtausend Dollar verr ie t . . ."

„Ich protestiere!" rief Keating. „Euer Ehren!" Die Stimme des Anwalts stieg an. „Protest angenommen — Angeklagter, sprechen Sie zur

Sache." „Ihnen, Euer Ehren, ging jetzt durch den Kopf, daß ich

erfahren könnte, woran Sie denken." David schien es, als spreche irgendein anderer, und für diesen anderen emp­fand er Stolz. „Aber Sie sind doch — das Gewissen des Lan­des, seine unbestechlichen Richter?"

„Angeklagter! fch entziehe Ihnen das Wort." „Ich schließe sofort, Euer Ehren. Ich weiß, woran Sie jetzt

denken: Wie kann man einen Skandal verhüten? Wie kann man verhindern, daß der Senator Trumond und das Pen­tagon in diese Sache hineingezogen werden? Ich weiß auch, an welches Urteil Sie denken."

„Mr. Ross, ich bestehe darauf, daß Sie schweigen. Ich be­schuldige Sie der Nichtachtung des Gerichts!"

Der Anwalt neigte sich zu Rufus Keating und flüsterte mit ihm.

„Euer Ehren", meldete er sich. „In Anbetracht der selt­samen Umstände zieht der Kläger die Anklage zurück."

„Der Bitte wird stattgegeben", sagte der Richter, und David hörte, wie das in panischer Angst sausende Karussell seiner Gedanken sich langsamer zu drehen begann.

,Gott sei Dank', dachte der Richter. .Noch eine Minute, und ich wäre wahnsinnig geworden. Wer konnte so etwas auch ahnen?'

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Das Kapitel, in dem sich die Justiz von David abwendet

David war nach Long Island zurückgekehrt. Die Er­regung, die ihn während des Prozesses ergriffen hatte, war verflogen, aber immer noch quälten ihn beunruhigende Ge­danken. Er fühlte um sich eine unheilvolle Leere und wußte nicht, aus welcher Richtung der nächste Schlag kom­men würde. Es dunkelte bereits. Langsam schlenderte er eine gepflegte Villenstraße entlang. Er dachte: ,Wohin soll ich fliehen, wo soll ich mich vor der feindlichen Leere ver­bergen? Ein Mensch, der Gedanken liest! Er durchschaut Sie! Hetzt ihn, hetzt ihn, meine Herren! Schützen wir die Gefahrlosigkeit unserer Gedanken. Verteidigen wir unser heiliges Recht auf die Lüge! Haltet ihn, haltet ihn!'

„Hallo, mein Herr!" rief jemand aus einem Wagen, der neben dem Bürgersteig hielt. „Können Sie mir Feuer geben?"

„Bitte, entgegnete David mechanisch, holte sein Feuerzeug heraus und beugte sich hinab. Im selben Augenblick drang ein fremder Gedanke in sein Bewußtsein: ,Jetzt. Er hat die rechte Hand in der Tasche.'

Bevor sich David klar wurde, was er tat, wandte er sich um und schlug mit der Rechten den hinter ihm stehenden Mann nieder.

Ein zweiter Mann sprang aus dem Wagen und warf sich auf David. Der gab ihm einen Kinnhaken. Der Mann fiel und zog David mit sich. Ein schwerer Schlag betäubte David. ,Jetzt ist alles aus', dachte er matt und gleichgül­tig. Er spürte, wie er in den Wagen gezogen wurde, dann verlor er das Bewußtsein.

Er kam noch einmal zu sich, als er einen feinen, durch­dringenden Schmerz fühlte. ,Eine Injektion', dachte er. Dann versank er in eine Dämmerung, die sich immer stär­ker verdichtete, bis seine Sinne endgültig schwanden.

David erwachte von einem unerträglichen Durstgefühl. Seine Zunge, trocken und angeschwollen, hatte kaum Platz im Mund. Als er versuchte, sich die Lippen zu lecken,

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schien es ihm, als fahre er mit einer Feile über Sand­papier. Das, was er fühlte, konnte man nicht als Schmerz bezeichnen. Den Schmerz an einem bestimmten Körper­teil empfindet man nur dann, wenn nicht der ganze Kör­per weh tut. David bestand nur noch aus Schmerzen, er war damit angefüllt wie ein ausgestopftes Tier mit Säge­mehl.

Der Gedanke, sich auf die andere Seite zu drehen, den Aim oder ein Bein zu beugen, kam ihm gar nicht. Er war nicht einmal imstande, die Augen zu öffnen. Aber wieder in Bewußtlosigkeit versinken konnte er auch nicht. Er ver­suchte sich klarzuwerden, wo er sich befand und was ihm zugestoßen war, aber die matten, stockenden Gedanken lie­ßen ihn immer wieder im Stich.

David wußte nicht, wieviel Stunden oder Tage er so zugebracht hatte.

Allmählich spürte er, wie das Leben langsam wieder in seinen Körper zurückkehrte. Er vermochte die Augen zu öffnen. Eine schwach glühende Birne hing dicht unter der Decke — ein kläglicher Fleck in der Halbdämmerung. Ringsum Holzwände ohne Fenster und keinerlei Möbel. David lag auf dem Fußboden. Mit großer Willensanstren­gung zwang er sich zu knien. Er spürte ein Würgen im Hals und erbrach sich. Völlig entkräftet sank er wieder hin. ,Wie sie alle um meinen Schlaf besorgt sind', dachte er. ,Erst in Las Vegas und nun hier. Die Kerle des Senators sind wirklich verläßliche Patrioten, mit der Pistole in der einen und der Spritze in der anderen Hand. Alle möchten sie, daß ich tief schlafe und möglichst nie wieder aufwache.'

David lehnte sich an die Wand und legte den Kopf auf die Knie. .Arme Cläre!' Sie hatte familiäre Wärme und Geborgenheit bei ihm gesucht, und was hatte er ihr bieten können? David ertappte sich dabei, daß er an Cläre wie an seine Frau dachte. Und plötzlich ergriff ihn eine solche Zärtlichkeit für sie, wie er sie niemals für Priscilla emp­funden hatte. An Ted denken und mit David über die Hochzeit sprechen, das konnte Priscilla, das war ehrbar! Aber Hals über Kopf mit ihm fliehen, ohne sich eine Zahn-

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bürste einzustecken — brr, wie in einem schlechten Film! Fliehen muß man mit einer Zahnbürste, mit einem ganzen Koffer voll Zahnbürsten und mit einem Koffer voll Teds. In dem einen die Zahnbürsten, in dem anderen die Teds". David merkte nicht, daß er wieder einschlief und auf den Boden glitt.

Cläre hatte ihr Zimmer im Hotel „Statler" kaum betre­ten, als sie schon das Telefonbuch aufschlug. Truekley, Trumbert . . . Aha, hier ist er! „Trumond Stewart — Sena­tor der Vereinigten Staaten von Amerika . . ." Sie angelte sich eine Zigarette aus der Schachtel, rauchte sie an und wählte die Nummer.

„Hier spricht der Sekretär des Senators Trumond", tönte eine tiefe Männerstimme aus dem Hörer.

„Ausgezeichnet", sagte Cläre. „Richten Sie dem Senator bitte aus, daß ihn Cläre Manvers, die Frau von David Ross, im ,Statler' erwartet. Ich nehme an, daß er es nicht ver­säumen wird, mir seinen Besuch abzustatten."

.Lieber Gott, gib, daß David am Leben ist', dachte sie. ,Ich weiß, daß ich es nicht verdient habe, daß du mir hilfst. Ich habe niemals von irgendeiner Seite Hilfe e rwar te t . . . Laß ihn gesund sein, lieber Gott, ich bitte dich!'

Senator Trumond kam mit seinem Sekretär vorgei'ah-ren — einem farblosen Mann mittleren Alters. Er hatte die gleichen langsamen Bewegungen wie sein Chef.

„Womit kann ich dienen?" fragte der Senator, ohne zu grüßen, und ließ sich in einem Sessel nieder.

Er warf einen kurzen Blick auf den Sekretär, als gäbe er ihm ein Zeichen, auf der Hut zu sein.

„Sie erraten, Senator, weshalb ich Sie eingeladen habe?" fragte Cläre. „Wahrscheinlich erwarten. Sie, daß ich jetzt vor Ihnen niederknie und Sie anflehe, mir David Ross zu­rückzugeben."

„Ich habe keine Zeit, Miss . . . " „Manvers, Senator." „Manvers."

5!)

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„Als erstes möchte ich Ihnen sagen, daß ich mich die ganze Nacht in der Stadt verstecken mußte. Ross kehrte nicht rechtzeitig nach Hause zurück, und ich habe gleich vermutet, daß man ihn irgendwohin eingeladen' hat, mit einem Knebel im Mund. Ich weiß Bescheid, wie so etwas gemacht wird. Bestimmt wollten diese Gentlemen auch zu mir kommen."

Der Senator saß steif wie ein steinernes Idol im Sessel und blickte finster auf Cläre. Einige Male öffnete er den Mund, schloß ihn aber gleich wieder. Erst beim dritten oder vierten Ansatz sagte er: „Weshalb haben Sie mich herge­beten? Ich bin aus dem Alter heraus, in dern man sich alles anhört, was Frauen einem zu sagen haben . . ."

„Wie galant Sie sind, Senator! Meiner Meinung nach müßte Sie mein Anliegen interessieren. Also, eine allein­stehende, schutzlose Frau bittet den mächtigen Senator, ihr zu helfen, David Ross zu finden."

„Ich kenne keinen Ross. Leben Sie wohl, Miss . . ." „Manvers." „Manvers." Der Senator beugte sich leicht nach vorn und

legte die Arme auf die Sessellehnen, Cläre bemerkte je­doch, daß er keine Anstalten machte, aufzustehen.

„Mr. Trumond, Sie erwarten von mir, daß ich Ihrem Freund das gekaufte Land überlasse. Ich denke nicht daran, es sei denn, Sie schicken David Ross hierher, in den ,Stat-ler', aber keinen Tag später als morgen."

Der Senator gab ein schwaches Glucksen von sich, das schließlich in ein krächzendes Lachen überging.

„Sie sind ein törichtes Frauenzimmer, Manvert oder wie Sie heißen. Ich gebe Ihnen den guten Rat: Kehren Sie nach Las Vegas zurück, und verdienen Sie sich Ihr Stück Brot mit Ihren Reizen, ehe sie hinüber sind. Sie werden das Land in Horse Shoe nicht zu sehen bekommen, das können Sie mir glauben. Bei uns herrscht Gott sei Dank noch Ordnung, und ein Senator bedeutet etwas mehr als eine Animierdame."

Trumond stand auf und wandte sich zur Tür. „Sie sind ein cichtiger Gentleman, Senator. Ich bin froh,

m

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daß unsere Moral in so guten Händen liegt. Verstehen Sie, rojt einem Magnetophon umzugehen?"

„Was soll das?" „Ein Magnetophon. Ich habe es heute extra für Sie ge­

kauft- Ich muß doch meine Gäste unterhalten." „Hören Sie, Sie .. ." „Nein, es ist besser, Sie hören .. ." Cläre nahm den Deckel ab und drückte auf einen Knopf.

Langsam glitt das dünne Band von einer Spule auf die andere. Davids Stirnme war zu hören, ihm antwortete . . .

„Erkennen Sie ihn? Das ist Eugene Donahue, Ihr Privat­detektiv, Vertrauter und natürlich auch ein überzeugter Minute-man. Warten Sie einen Augenblick, er wird es gleich selbst erzählen. Von Ihnen spricht er und von Ihren Plänen. Er ahnte ja nicht, daß David Ross die Angewohn­heit hatte, seine Gespräche mit den Klienten auf Band auf­zunehmen. Für alle Fälle."

Der Apparat stieß die heiseren Flüche Eugene Donahues aus, und der Name Trumond schien das ganze Hotelzimmer zu füllen. Der Senator ließ sich wieder in den Sessel fal­len. Als das Magnetophon verstummte, fragte er langsam: „Ist das Ihr einziges Band?"

Cläre lachte. „Wofür halten Sie mich? Ich habe dieses Band kopiert und die Kopien an verschiedenen sicheren Orten versteckt. Wenn ich morgen nicht dort anrufe, wo sie aufbewahrt werden, gehen die Kopien noch am gleichen Tage an Ihren Konkurrenten. Eine Pressekonferenz, auf der Sie als Minute-man entlarvt werden, beruft er selbst ein. Ist David Ross jedoch morgen hier, werden alle Bänder vernichtet. Dann habe ich noch eine Bedingung. Ich bin überzeugt, daß Sie ihr mit Freude zustimmen werden: Be­reiten Sie alle Papiere vor. Ich schenke das von mir in Horse Shoe gekaufte Land Ihrem Freund, und er schenkt mir dafür blanke hunderttausend Dollar."

„Das ist glatter Diebstahl!" „Sie verdienen ohnehin noch genug daran, Senator. Mor­

gen erwarte ich Ross."

ßl

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Das letzte Kapitel, das die Geschichte des gedankenlesenden David Ross jedoch schwerlich beendet

Der Wagen bog von der Chaussee in einen schmalen Seitenweg ein und nahm Kurs auf eine kleine Hügelkette.

„Cläre", sagte David und betrachtete ihre gebräunten Hände auf dem Lenkrad, „du hast mir noch immer nicht gesagt, wohin wir fahren. Und sogar in deinen Gedanken verbirgst du es vor mir . . . " Cläre schaute ihn an. Der Fleck unter Davids Augen färbte sich gelblichgrün.

David legte ihr die Hand auf die Schulter. Er wollte lächeln, aber die zerschlagene Lippe schmerzte. Die Mi-nute-men des Senators hatten nicht umsonst am letzten Sonnabend auf ihr Bowlingspiel verzichtet. Ein Gesicht so zu zerschlagen, das hatten sie gelernt. Wozu brauchten sie eigentlich ein politisches Programm? Ein geschickter Poli­tiker muß nicht nur ein guter Redner sein, er muß auch dem Gegner den Mund stopfen können. David stellte sich vor, wie der Senator mit dem keilförmigen Kopf auf dem steifen Hals eine pathetische Rede über „patriotische Ge­fühle" und die „heilige Freiheit" hielte.

Der Wagen stand. David öffnete die Augen. „Schau", sagte Cläre und zeigte auf ein kleines Haus in

einer Talsenke, „hier bin ich geboren. Meine Mutter lebt noch. Ich habe ihr nichts geschrieben, ich wußte nicht, ob du es wolltest."

„Was ist das schon für ein Unterschied, C lä re . . . Geh zu ihr, ich komme nach. Entschuldige, Cläre, ich möchte jetzt niemanden sehen. Ich kann nicht. Ich kann diese end­los wimmelnden kleinen Gedanken nicht mehr hören, mögen sie verflucht sein. Mögen die Gedanken verflucht sein, wenn sie lügen."

„David . . ." „Ich kann nicht, versteh mich, ich kann nicht mehr. Ich

träume von einer erstarrten Welt. Kein einziger Mensch, kein einziger Gedanke. Leere, saubere Städte, leere, sau­bere Häuser, Züge. Wagen . . . niemand. Nur du und ich. Durch den Asphalt beginnt das Gras zu wachsen, und durch

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die geöffneten Fenster der Wagen fliegen Vögel. Und ich lausche und lausche — nicht ein einziger Gedanke. Geh, Cläre."

David — du kommst?" "ich komme." David streckte sich im Gras aus. Ein warmes Lüftchen

glitt vom Hügel herab. Es trug den Geruch des nahenden Abends, den Geruch des Grases und der erwärmten Erde. Einen Äugenblick lang schien es David, als werde er gleich die Gedanken der Erde und des Grüns hören, ruhige, ehr­liche Gedanken über Regen, Samen und Früchte, über den baldigen Herbst. Aber alles ringsum schwieg in dieser sat­ten zufriedenen Ruhe des Sommerabends. Das Kasino Tropic", Kapitän Fitzgerald, die Minute-men, Senator Tru-

rnond. die Vereinigung der Propheten — alles war in weite Ferne gerückt und kam David wie ein schrecklicher Traum vor.

Er schlief ein. Als er die Augen öffnete, ging die Sonne schon hinter den

Hügeln unter. Er erhob sich und stapfte langsam zu dem Häuschen

im Tal.

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Waagerechte^ Hafenstadt in Jordanien, 6. Fluß in Mittelitalien, 8T Vertrieb, Verkauf,*^. Matrize, TT. Brauch, \Ar. Stern im Sternbild Cetus, \ßf. akustisches Warngerät, 17. Ver­wendung eines Teiles des von der Gesellschaft erzeugten Mehrproduktes für die Vergrößerung der Produktion, 20. römischer Feldherr,****, altgriechische Stadt an der böotischen Grenze, 26. Zettalter, &fc Oper von Bellini, 26. Bezeichnung für Storch, 29.französischersozialistischer Schriftsteller, 3 3 . mohammedanischer Gruß. Senkrecht: 2. verächtliche Bezeichnung für Überflüssiges, Wertloses,-*!. Raubt ier ,^ wertlose Erdmassen, die nutzbares Mineral überlagern, 5. Klapper, 6. Himmelsbläue, 7*: Zahl, 10» Aus­zug aus pflanzlichen oder tierischen Grundstoffen, L2* Lehreinrichtung an Hochschulen, 13. Fluß in Nordfrankreich, 16. weiblicher Vorname, 1ÄT Kleidungsstück, 19. Südfrucht, 2 1 . Rückstand, 22. Festraum, £4. stürmischer Fallwind an der nördlichen Adria, £6. Ameise.

Auflösung im nächsten Heft

Auflösung des Rätsels aus Heft 44 21 45 7 69 39 72 Aurora; 2 34 70 12 19 23 75 51 5 65 Eisenstein; 9 27 8 21 3 40 1 Uljanow; 47 64 68 39 9 77 41 5 42 71 43 19 30 47 76 7 Das russische Wunder; 26 64 22 16 49 31 67 9 39 8 24 35 Chatschaturjan; 11 31 66 24 62 34 10 Gagarin; 8 40 6 44 62 58 53 47 John Reed; 63 5 4 38 46 14 7 Lingner; 32 36 13 28 33 Chemie; 73 31 47 56 8 18 1 Fadejew; 52 2 15 54 61 7 Nenner: 74 34 70 17 Fisch; 57 50 62 48 20 42 29 Borstsch; 37 21 55 60 25 Malve; 55 25 59 21 Lena. Wenn ihr, junge Menschen, tatsächlich nach einem grossen und schönen Leben verlangt, so schafft es.

K R E U Z W O R T R Ä T S E L


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