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Der Kleine Nadomir

Date post: 04-Jan-2017
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MYTHOR

Der Kleine Nadomir

von

Neil Davenport

Band 10

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Vorwort Liebe Leserinnen und Leser,

nach dem eher düsteren neunten Buch der MYTHOR-Reihe geht es diesmal deutlich »bunter« weiter. Zudem weitet sich die Handlung aus: Mythors Begleiter Sadagar und Nottr erle-ben eigene Abenteuer, bekommen eine eigene Handlungsebe-ne.

Verantwortlich dafür ist Neal Davenport, der Wiener Schrift-steller, der in den 70er Jahren vor allem durch seine stim-mungsvoll geschriebenen Horror-Romane zahlreiche begeis-terte Leser fand. In diesem MYTHOR-Buch zeigt Davenport, wie sich Horror- und Fantasy-Elemente vor dem Hintergrund einer unwirtlichen Berglandschaft verbinden lassen. Archety-pen der fantastischen Literatur – ein Troll und ein Alb – tau-chen in seinem Roman »Der Kleine Nadomir« auf und bilden einen spannenden Gegensatz.

Mit zwei anderen Archetypen der fantastischen Literatur be-schäftigt sich Horst Hoffmann in den Romanen »Die Straße des Bösen« und »König Mythor«. Der junge Abenteurer selbst wird nämlich mit dem »Baum des Lebens« konfrontiert, dem uralten Sinnbild für Leben und Hoffnung, und er trifft auf ei-nen Menschen, der wie kein anderer geschaffen zu sein scheint für die Rolle des frechen Tricksers und Betrügers. Solche Figu-ren gibt es in allen klassischen Mythologien, seien es nun indi-anische Märchen oder griechische Sagen.

Lassen Sie sich überraschen, wie die MYTHOR-Autoren sol-che klassischen Elemente in der vergleichsweise modernen Literaturgattung Fantasy einsetzen! Viel Spaß dabei! Klaus N. Frick

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Der Schatten des gleißenden Ringes aus kosmischen Trüm-mern, der die Welt in zwei Hälften teilt, beherbergt die Mächte der Finsternis. Aus dieser Dunkelzone greifen die gierigen Finger des Bösen nach der Welt der Menschen. Unter dem Be-fehl von Dämonenpriestern machen sich ihre Handlanger, die Caer, daran, den Norden der Welt zu erobern.

Zu lange schon ist es her, daß der Bote des Lichts mit seinem strahlenden Kometentier den Menschen den Frieden brachte. Und der »Sohn des Kometen«, der möglicherweise dem Bösen standhalten kann, ist noch immer nicht aufgetaucht.

Die uralte Nomadenstadt Churkuuhl, die auf dem Rücken gewaltiger Tiere über die nördliche Welt getragen wird, geht an der Küste des Meeres der Spinnen in einer furchtbaren Ka-tastrophe unter. Aus ihren Trümmern retten sich nur wenige, darunter ein junger Mann namens Mythor, dessen Herkunft unbekannt ist. Nyala, die Tochter des Herzogs von Elvinon, bewahrt Mythors Leben, denn sie glaubt daran, daß er jener Sohn des Kometen sei, dessen Kommen vorausgesagt wurde. In einem unterirdischen Tempel erfährt er, daß er sich diesen Titel erst erkämpfen muß.

Nachdem Mythor vor einer Invasion der Caer fliehen konnte, erfüllt er die erste der Aufgaben, die ihm gestellt wurden: In Xanadas Lichtburg kann er das Gläserne Schwert Alton für sich gewinnen. Durch lange unterirdische Gänge entkommt er mit seinen Gefährten, ohne zu wissen, wohin ihr Weg führt.

Die Freunde erreichen in Nyrngor das Tageslicht. Die Stadt wird ebenfalls von den Caer belagert. Obwohl Mythor der jungen Königin Elivara zur Seite steht, läßt sich der Sieg der Caer nicht verhindern. Mythor macht sich auf den Weg zu Althars Wolkenhort, wo er nach harten Kämpfen den Helm der Gerechten erringen kann. Dieser soll ihn künftig schützen und ihm den Weg zu anderen Stützpunkten des Lichtboten weisen.

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Mit seinen Freunden trifft Mythor auf den mächtigen Ritter Coerl O’Marn, den Oberbefehlshaber der Caer. Der Sohn des Kometen merkt bald, daß er keinen dämonischen Feind vor sich hat, sondern einen klugen und tapferen Menschen. Doch auf der Ebene der Krieger gerät Coerl O’Marn unter den zau-berischen Einfluß der Dämonenpriester.

So muß der Sohn des Kometen erneut fliehen und sich auf die Suche nach weiteren Verbündeten machen. Er hofft sie im Bereich der Zaubertiere zu finden: ein Einhorn, einen Schnee-falken und den Bitterwolf, der angeblich bei seiner Geburt ge-heult haben soll. Zuerst gehorchen die Tiere Hester, dem Bru-der Elivaras von Nyrngor, doch dann überläßt der junge Prinz die Zaubertiere dem Kometensohn.

Gemeinsam mit den Tieren erreicht Mythor schließlich das Land Ugalien, das von schweren Unruhen erschüttert wird. Ein Großangriff der Caer steht auch hier bevor, und die Ver-antwortlichen des bedrohten Gebietes können sich nicht auf eine gemeinsame Strategie einigen. Jetzt also ist nicht der jun-ge Kämpfer Mythor gefordert, sondern sein politisches Ge-schick…

Das jedoch fällt ihm nicht leicht, denn er lernt schnell, die aufgeputzten, selbstgefälligen Adligen mit ihren Ränkespielen zu verachten, deren ehrlichster noch ein hinterhältiger Atten-täter ist. Dazu kommt die Erkenntnis, daß die Dämonenpries-ter unter den Magiern am Hof seines Gastgebers einen mäch-tigen Verbündeten haben, der im Auftrag des obersten der schwarzen Priester handelt. Es gelingt Mythor immerhin, die-sen mit Hilfe des ehrlichen Lichtmagiers Thonensen zu besie-gen, und er erlebt sogar die Einigung der Politiker auf einen gemeinsamen Kriegszug gegen die Caer.

Als Kundschafter zieht Mythor mit neuen Gefährten in das von den Caer eroberte Gebiet. Mythor beobachtet, wie die Dämonenpriester immer mehr offensichtlich magische Sperren

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errichten. Ihm wird schließlich klar, daß die anwesenden Caer-Krieger lediglich als Schlachtopfer dienen sollen, der Krieg in Wirklichkeit jedoch durch Schwarze Magie entschieden wer-den soll. Die Heere des Lichts haben überhaupt keine Chance.

Doch Mythors Warnungen verhallen ungehört. Am Tage der Schlacht geschieht genau das, was er befürchtet hat: Die Kämpfer des Lichts erleiden eine furchtbare Niederlage. Die Länder des Nordens können keinen Widerstand mehr leisten, und Mythor muß nach Süden fliehen…

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Neal Davenport

DER KLEINE NADOMIR Die zehn vermummten Gestalten hockten hinter einigen ge-waltigen Felsbrocken, die ihnen Schutz vor dem beißenden Wind boten. Seit Mittag warteten sie. Da hatten sie drei Pferde entdeckt, die auf sie zukamen.

Einige hatten die Wartezeit verschlafen, andere hatten den länger werdenden Schatten zugeschaut, die nun vom fahlen Abendlicht verwischt wurden. Bald würde es dunkel sein.

Tordo stand langsam auf. Er war zwanzig Winter alt und ei-ner der geschicktesten Jäger des Stammes.

Die Sommerjagd war für den Stamm sehr schlecht gewesen. Die großen Herden der Wisente und Pferde waren ausgeblie-ben. Der Jagdzauber ihres Schamanen-Häuptlings Chwum war vergangenes Jahr noch mächtig gewesen. Da hatten sie genügend Vorräte für den harten Winter anlegen können. Doch seit Chwum krank geworden war, hatte alles Glück den Stamm verlassen. Seine Angaben, wo sich die Herden sam-meln würden, hatten nicht gestimmt. Meist waren sie ohne Beute zurückgekehrt, und sie hatten sich von Beeren und Wurzeln ernähren müssen – unwürdig für Jäger. Oft genug war Tordo mit knurrendem Magen unter die Felldecken ge-krochen.

Auch jetzt war Tordo hungrig. Vor zwei Tagen waren sie he-runtergestiegen in die tieferen Regionen der Bergwelt, doch auch hier war ihnen das Unglück treu geblieben. Sie fanden

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kein jagdbares Wild. Außer ein paar Schneeziegen und Wölfen hatten sie überhaupt keine Tiere gesehen.

Tordo duckte sich und blickte in das Tal, das sich in zahlrei-chen Windungen zwischen bewaldeten Hügeln genau auf sie zu erstreckte.

Die drei Pferde waren nun ganz deutlich zu sehen. Auf zweien saßen Männer, das dritte war hoch bepackt. Die Reiter zügelten die Pferde, und einer sagte etwas zum anderen. Schließlich stiegen sie ab und verschwanden hinter ein paar hohen Felsen.

Tordos Erfahrungen mit Menschen aus der Ebene waren ge-ring. Die Flachlandbewohner mieden das Bergland. Nur selten bekamen die Chereber, wie sich sein Stamm nannte, einen Fremden zu Gesicht. Üblicherweise lebte sein Stamm in den unwirtlichen Gletschergebieten, die sie nur zur Jagd verließen.

Ihr Fleischvorrat, den sie im Gletscher versteckt hatten, wür-de nicht für den ganzen Winter reichen. Chwum lag im Ster-ben, und dunkle Wolken hingen über den Cherebern. Die jun-ge Olinga, die als einzige des Stammes über magische Fähig-keiten verfügte, war aber noch nicht soweit, den Stamm zu führen. Daher kamen ihnen die Pferde gerade recht. Sie bedeu-teten Nahrung für die paar Tage, die sie benötigten, um ihr Winterlager zu erreichen. Tordo vermutete, daß sich die zwei Männer ein Lager für die Nacht suchen würden. Vermutlich würden sie eine der vielen leeren Höhlen dazu benützen, um sich und die Pferde zu schützen. Es würde für ihn und seine Männer nicht schwierig sein, sie zu töten und die Pferde zu erbeuten.

Es begann zu schneien. Der Wind war schwächer geworden. Es war kalt, aber an diese Kälte waren die Männer gewöhnt. Über der Leibwäsche aus Entenbälgen trugen sie enganliegen-de Anzüge aus Wisenthaut mit der Fellseite nach außen. Dar-über Umhänge aus Bären- oder Höhlenlöwenfellen, an denen

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sich noch die Köpfe der Tiere befanden, die sie sich, falls es besonders kalt wurde, über den Kopf stülpen konnten. Die Beine steckten in hohen Fellstiefeln, die mit Moos gefüllt wa-ren, um die Innenseite trocken zu halten.

Tordo griff nach seinem mannshohen Speer. Die Spitze be-stand aus zugeschlagenem Feuerstein, der Schaft aus Holz. Er schob sich den Bärenkopf über den Kopf, dann stieß er ein tie-fes Brummen aus.

Die Männer erhoben sich rasch. Worte waren nicht notwen-dig. Tordo hob den Speer hoch und stapfte an den Felsen vor-bei. Die Männer folgten ihm. Im schwindenden Tageslicht stiegen sie geräuschlos ins Tal hinunter.

Tordo war sicher, daß es nicht schwierig sein würde, die bei-den Männer zu finden. Sicherlich würden sie ein Feuer entfa-chen, und der Rauch würde sie hinführen.

Sadagar fühlte sich einsam. Daran konnte auch Nottrs Nähe nichts ändern, der neben ihm ritt.

Vor ihnen erhoben sich die Götterberge, deren Gipfel von den tief hängenden Wolken verborgen wurden. Rechts war die Sonne nur als verwaschener Fleck zu erkennen, der keine Wärme spendete. Es war unheimlich still. Die einzigen Geräu-sche waren das gelegentliche Schnauben der Pferde und das gleichmäßige Trommeln der Hufe auf dem gefrorenen Boden.

Sadagar wandte den Blick. Das Packpferd folgte willig. Nottr saß mit unbewegtem Gesicht im Sattel; den Körper hatte er leicht vorgebeugt und die Beine angewinkelt.

Seit sie im Morgengrauen aufgebrochen waren, war ihnen keine Menschenseele begegnet. Das Vorgebirge war unbe-wohnt. Zu beiden Seiten des schmalen Tales erstreckten sich undurchdringliche Wälder und verschneite Wiesen. Das einzi-ge Lebewesen, das sie gesehen hatten, war ein Schneehase ge-

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wesen, der sie neugierig beäugt hatte und dann davongehop-pelt war.

Sadagar blickte wieder besorgt zu Nottr. Der Barbar war körperlich von Graf Corians Folter weitestgehend genesen, aber sein Geist hatte Schaden erlitten. Meist starrte er nur teil-nahmslos vor sich hin, und es schien, als würde er seine Um-gebung nicht wahrnehmen. Auf Fragen antwortete er nicht, auch sonst sprach er kaum ein Wort. Er war wie ein geistig zurückgebliebenes Kind, dem man alles sagen mußte. Schon vor der Folter hatte er mit seiner quer über den Mund verlau-fenden Narbe und dem abgeschlagenen Ohr alles andere als hübsch ausgesehen. Jetzt wies sein Gesicht noch zusätzlich Brandnarben auf Stirn und Wangen auf.

»Wir müssen uns ein Lager für die Nacht suchen, Nottr«, sagte Sadagar.

Der Lorvaner antwortete nicht. Sein zerfurchtes Gesicht mit den dunklen Augen und der plattgedrückten Nase blieb un-bewegt.

Sadagar seufzte und sah sich aufmerksam um. Die Berge sa-hen im düsteren Abendlicht noch bedrohlicher aus. Es schneite leicht. Das Land wirkte bedrückend auf Sadagar, und wie schon oft an diesem Tag überlegte er, ob sein Entschluß, den Weg nach Süden durch dieses unwegsame Gebiet zu nehmen, wohl richtig gewesen sei.

Er dachte an Mythor und fragte sich, wo der junge Krieger wohl im Augenblick stecken mochte. Zuletzt hatte er ihn in der Höhle in der Nähe der Burg Anbur gesehen, als sich My-thor von Nottr und ihm verabschiedete. In zwei Tagen zur Wintersonnenwende würde es zur alles entscheidenden Schlacht mit den Caer kommen. Er sollte Mythor anschließend beim Koloß von Tillorn treffen. Und Sadagar war froh, daß Ugalien hinter ihnen lag. Gern dachte er an den Sterndeuter Thonensen zurück, von dem er einiges gelernt hatte. Keine

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große Magie, aber einfache magische Formeln, die sehr wirk-sam waren.

Sein faltiges Gesicht verdüsterte sich, als er an das Kräu-terweiblein mit dem zungenbrecherischen Namen Silba-brombambora dachte, die ihm mit ihren geheimnisvollen Wundermitteln bei der Pflege Nottrs geholfen hatte. Ein wenig hatte sie ihn an Fahrna, die Runenkundige, erinnert, mit der er lange Zeit durch die Lande gezogen war. Und die Erinnerung an die Zeit mit Fahrna hatte ihn auch rascher aufbrechen las-sen, als er eigentlich gewollt hatte. Er hatte befürchtet, daß ihm das alte Kräuterweiblein einen Liebestrank einflößen könne und er dann für den Rest seiner Tage an diese alte Vettel ge-fesselt sein werde.

Sadagar schob die Gedanken an Fahrna und Silbabrom-bambora weit von sich und starrte wieder einmal Nottr ent-täuscht an. Auch die unzähligen Heilkräuter der Alten hatten Nottr nicht aus seiner Teilnahmslosigkeit reißen können. »Hörst du mich, Nottr?«

Wieder keine Antwort. Sadagar zügelte sein Pferd, und Nottr folgte automatisch

seinem Beispiel. Sadagar sprang von seinem struppigen Wal-lach. »Steig ab, Nottr!«

Der Barbar gehorchte. Er griff nach dem Zügel und folgte Sadagar, der auch das Packpferd führte. Den Pferden schien der anstrengende Ritt nichts ausgemacht zu haben. Es waren genügsame, kräftige Tiere, die mit ein paar Schlucken Wasser und einer Handvoll Hafer auskamen.

Die vergangene Nacht hatten sie Glück gehabt, denn sie ent-deckten ein verlassenes Bauernhaus, in dem sie übernachten konnten. Im Freien wollte Sadagar keineswegs nächtigen, denn er wußte, daß es hier viele Wölfe gab. Eine Höhle wäre wohl am besten. Aufmerksam musterte er die Felswand, an der sie entlanggingen. Der Schneefall wurde etwas stärker.

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Nach ein paar Schritten fand er einen Felsspalt, der aber zu eng für Mensch und Tier war.

Ein paar Schritte später hatte er endlich Glück: Er entdeckte eine mannshohe Öffnung in der Felswand.

»Halt die Pferde, Nottr!« sagte er befehlend. Der Barbar ge-horchte widerwillig.

Die Pferde waren unruhig. Sie stampften auf. Anscheinend hatten sie Angst vor der hereinbrechenden Nacht.

Sadagar trat in die Höhle, die nach wenigen Schritten größer und breiter wurde. Zwanzig Schritte weiter war es so dunkel, daß er nichts mehr erkennen konnte. Mit beiden Händen taste-te er sich die Wand entlang.

Die Höhle schien groß genug für ihren Zweck zu sein. Rasch kehrte er zu Nottr zurück. Aus einer der Satteltaschen des Packpferdes holte er eine Fackel heraus. Die Zeit, die er beim Zauberer Thonensen verbracht hatte, war nicht nutzlos gewe-sen. Er hatte sich einige einfache Zaubersprüche gemerkt, die recht nützlich waren. So konnte er die Kraft des Feuers we-cken. Mit Hilfe eines Zauberspruchs und der Drehung der lin-ken Hand gelang es ihm, die Fackel zum Aufflammen zu brin-gen. Er blies in die Flamme und grinste erfreut, als die Fackel loderte.

So griff er nach den Zügeln und ging voraus in die Höhle. Der Wallach wieherte unwillig und wollte ihm nicht folgen. »Komm schon«, redete er dem Tier gut zu. »Komm schon.« Zögernd folgte ihm der Wallach.

Sadagar atmete erleichtert auf, als er feststellte, daß die Höh-le tatsächlich groß genug war, um ihnen allen Platz zu bieten. Die Wände waren feucht und verwittert. Der Boden war mit verfaultem Gras bedeckt. »Sattle die Pferde ab, Nottr!«

Sadagar blickte sich in der Höhle um, dann starrte er eine Wand an. Schließlich fand er einen schmalen Spalt, in den er die Fackel hineindrückte.

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Kurze Zeit später waren die Pferde versorgt, die sich aber noch immer unruhig verhielten. Nottr hatte die Sättel an eine Wand gelegt und ein paar Felle hervorgeholt. Sadagar schich-tete einige Holzscheite, die sie mitgenommen hatten, in der Mitte der Höhle auf und entfachte ein Feuer.

Die beiden setzten sich nieder und begannen ihr einfaches Abendbrot zu essen, das aus getrockneten Früchten, Brot, Käse und Bratenstücken bestand. Dazu tranken sie Wein aus einem Schlauch.

Der Rauch zog durch die Höhle auf die Eingangsöffnung zu. Sadagar wischte sich den Mund ab und schob zwei Holzschei-te ins lodernde Feuer. Dann lehnte er sich zufrieden zurück und sah den hochtanzenden Flammenzungen zu.

Ein wenig später richtete er sich aber auf, als er die stärker werdende Unruhe der Pferde bemerkte. »Was ist mit euch los?« fragte er, stand auf und ging auf sie zu, um sie zu beru-higen.

Die Pferde wichen vor ihm zurück und wollten dem Höh-lenausgang zustreben. Sadagar schnitt ihnen den Weg ab und trieb sie zurück. Der struppige Wallach bäumte sich auf, stieß ein angstvolles Wiehern aus und schlug mit den Vorderbeinen nach ihm. »Beim Kleinen Nadomir!« fluchte Sadagar. »Was ist nur in euch Biester gefahren? Nottr, hilf mir!«

Der Barbar schien ihn nicht gehört zu haben, denn er saß weiterhin ruhig vor dem Feuer und kaute ein Stück Fleisch.

Als Sadagar das wütende Brummen hörte, wirbelte er her-um. Zwei glühende Augen kamen aus der Tiefe der Höhle auf ihn zu. Wieder war das unheilvolle Fauchen zu hören.

»Beim Kleinen Nadomir«, flüsterte er, »da habe ich uns eine Bärenhöhle zum Schlafen ausgesucht.«

Die Pferde waren nun nicht mehr zu halten. Das Weiße in ih-ren Augen war zu sehen. Sie stürmten auf Sadagar zu, der zur Seite springen mußte. »Nottr!« schrie er und wich noch ein

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paar Schritte zurück. Dann griff er nach den Wurfmessern in seinem Gürtel. »Nottr!«

Der Barbar drehte ihm den Kopf zu, dachte aber nicht daran, aufzustehen und ihm zu Hilfe zu kommen. Da war auch schon der Bär heran.

Ein mächtiges, altes Biest, dessen rotbraunes Fell an einigen Stellen bereits angegraut war. Der Kopf war klein, das Maul stand halb offen und ließ die starken Reißzähne erkennen. Der kurze Hals war kräftig, der massige Körper plump und die kurzen Beine muskulös.

Sadagar wußte, daß ihn der Bär mit einem einzigen Hieb sei-ner riesigen Vorderpfote töten konnte.

Der Höhlenbär richtete sich halb auf, ließ sich aber gleich wieder auf die Sohlen fallen und stürmte laut knurrend auf Sadagar zu, der einen Dolch aus dem Gürtel riß und ihn blitz-schnell dem Untier entgegenschleuderte. Er hatte gut getrof-fen, denn das Wurfmesser blieb zwischen den Augen des Bä-ren stecken. Blut quoll hervor. Ein weiterer Dolch spaltete ei-nes der Ohren.

Sadagar sprang über das Feuer, ergriff eines der brennenden Holzscheite und warf es dem Bären entgegen, der ein wüten-des Fauchen ausstieß und das Holzscheit zur Seite schleuderte. Mit einer Bewegung seiner linken Pranke streifte er das Wurfmesser zwischen den Augen ab.

»Nottr, so hilf mir doch!« Der Barbar aber schien die Vorgänge rund um sich nicht

wahrzunehmen. Teilnahmslos stierte er in die Flammen. Der Bär spürte nun die Schmerzen und wurde rasend vor

Wut. Sadagar konnte ihn nur töten, wenn er ihn genau ins Auge

traf und sich das Messer ins Hirn bohrte. Aber im flackernden Licht war ein genaues Zielen nicht möglich.

Und mit jedem weiteren Fehlwurf würde er die Bestie nur

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noch wütender machen. Der Höhlenbär ging nun auf den unbeweglich dasitzenden

Nottr los. Sadagar stieß einen lauten Schrei aus, um den Bären vom

Freund abzulenken, und tatsächlich wandte das mächtige Tier ihm den Kopf zu. Wieder warf Sadagar ein Messer, das im Hals des Bären steckenblieb.

Der alte Bursche stürmte nun blindwütig auf Sadagar zu, der zur Seite sprang und dabei fieberhaft überlegte. Mit dem Mes-ser konnte er den Bären nicht töten, er mußte eine andere Lö-sung finden.

Magie! Von Thonensen hatte er einige einfache Zauberfor-meln gelernt, mit denen man wilde Tiere vertreiben konnte.

»Toka hapa pmka tafadhali!« brüllte der Steinmann, bückte sich und zog einen brennenden Ast aus dem Feuer. »Nisame-he!«

Vom Ast loderten plötzlich fünf Fuß lange Feuerzungen los, die auf den Bären losrasten und ihn in ein gespenstisches rotes Licht hüllten.

Das Tier stieß ein klägliches Winseln aus und richtete sich auf den Hinterpranken auf.

Sadagar ging mit klopfendem Herzen auf ihn zu. »Nisame-he!« brüllte er wieder.

Der Feuerstrom, der den Bären einhüllte, wurde stärker. Sein Pelz fing an einigen Stellen Feuer.

»Nisamehe!« Der Bär heulte wieder auf, ließ sich auf alle viere sinken und

dachte nur mehr an Flucht. »Nisamehe!« schrie Sadagar nochmals und verfolgte den Bä-

ren, der auf den Höhlenausgang zulief. Die Flammen, die vom Ast ausgingen, wurden kürzer und fielen dann in sich zu-sammen.

»Geschafft«, flüsterte Sadagar zufrieden.

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Alles war so gekommen, wie Tordo vermutet hatte. Die bei-den Männer hatten sich eine Höhle als Unterkunft für die Nacht gesucht. Und er hatte nicht warten müssen, bis ihn Rauchgeruch ans Ziel leitete. Die Hufspuren der Pferde waren im frisch gefallenen Schnee deutlich zu sehen. Es war schon fast dunkel, als sie die Höhle erreichten.

Tordo hob den Speer, und seine Männer blieben stehen. Er wollte sich zur Höhle schleichen und hineinsehen.

In diesem Augenblick hörte er lautes Wiehern, und der Wal-lach rannte aus der Höhle. Die zwei Stuten folgten ihm. Die Tiere rannten nicht auf ihn zu, sondern in die andere Rich-tung, die zum Ende des Tales führte. Die Pferde konnten ihnen also nicht entkommen.

Tordo wunderte sich jedoch über die Flucht der Pferde. Neugierig schlich er näher, kniete nieder und starrte in die Höhle.

Als er das wütende Fauchen des Bären hörte, wußte er ge-nug. Er richtete sich auf und winkte die Männer heran. Dann flüsterte er ihnen Befehle zu. Sie stellten sich mit stoßbereiten Speeren im Halbkreis um die Höhle auf.

Noch einmal blickte Tordo in die Höhle, und seine Augen wurden groß. Der kleinere der Männer, sein weißblondes Haar war zerrauft, mußte ein Zauberer sein, denn er ging auf den gefährlichen Bären mit einem Ast los, aus dem Flammenzun-gen schlugen, die den Bären einhüllten. Als der Bär die Flucht ergriff und auf Tordo zulief, sprang der Jäger zur Seite und schrie den Männern einen Befehl zu.

Heute lachte ihnen das Glück. Die Pferde gehörten ihnen, und dazu gab es noch eine Bärenjagd, die allerdings nicht un-gefährlich war, da es in der Zwischenzeit schon fast dunkel geworden war.

Auf Bärenjagd ging der Stamm recht häufig, aber das war meistens im Frühling. Während der Wintermonate erkundeten

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sie die Höhlen rund um ihr Winterquartier. Dann brauchte man nur einen Stein oder eine Fackel in die Höhle zu werfen und konnte aus den Lauten, die die aus dem Schlaf geschreck-ten Tiere von sich gaben, genau schließen, was für ein Tier in der Höhle überwinterte. Und meist machten sich dann ein Dutzend Jäger an einem strahlenden Tag auf den Weg, ver-sammelten sich vor der Höhle und warfen brennende Kiefern-zweige hinein. Einige von ihnen standen dann oberhalb des Eingangs, und sobald der Bär herausstürmte, fielen ihm ein paar gewaltige Steinbrocken auf den Schädel. Der Rest war dann sehr einfach, da die anderen so lange mit den Speeren auf das Tier einstachen, bis es tot war.

Auch jetzt stürmte der Bär heraus. Seine glühenden Augen waren deutlich zu sehen.

Tordo wartete, bis das Tier im Freien war, dann sprang er tollkühn vorwärts und rammte seine Lanze in den Leib des Bären, der gequält aufheulte.

Da waren auch schon die anderen Jäger heran. Sie stachen zu, rissen die Speere aus dem Leib und sprangen zurück, um sich aus der Reichweite der wild um sich schlagenden Pranken zu bringen. Der Bär wehrte sich verzweifelt. Er schlug einen der Speere zur Seite, der Jäger rutschte aus, und da war auch schon der Bär über ihm. Seine gewaltigen Kiefer verbissen sich im Unterarm des Mannes, der einen lauten Schrei ausstieß. Doch schon waren die anderen Jäger heran und stachen auf das Tier ein, das daraufhin von seinem Opfer abließ.

Tordos linke Hand verkrallte sich im Fellumhang des Ver-wundeten. Er riß ihn zurück.

Keiner der Jäger begab sich in die Reichweite der gefährli-chen Zähne und Krallen. Stach einer auf der linken Seite zu, bekam das Biest auch schon einen Stich in die andere Seite. Innerhalb weniger Augenblicke blutete der Bär aus unzähligen Wunden.

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Wenig später ließen die Jäger von ihm ab, wichen ein paar Schritte zur Seite und warteten. Ein tiefes Brummen entrang sich der Kehle des Bären, der sich mühsam vorwärts bewegte. Nach ein paar Schritten brach er lautlos zusammen.

Tordo kam vorsichtig näher. Er stieß seine Speerspitze in die rechte Flanke des Bären, der sich aber nicht mehr bewegte. »Der Herr der Berge ist tot«, sagte Tordo, kniete nieder, preßte die Lippen auf eine der Halswunden des Bären und trank gie-rig das warme Blut. Er glaubte ganz deutlich zu spüren, wie die Kraft des Bären auf ihn überging.

Nach ihm tranken die anderen Jäger vom Blut. Tordo bestimmte fünf Männer, die vor der Höhle wachen

sollten, darunter auch den verletzten Nokko. Sie sollten die Pferde einfangen. Er selbst wollte mit vier Männern in die Höhle gehen.

Den Speer nahm er in die linke Hand, in der rechten hielt er die schwere Steinaxt. Gebückt betrat er die Öffnung und stapf-te in die Höhle.

Der kleine Mann, der den Bären mit dem Zauberast aus der Höhle vertrieben hatte, tanzte um das Feuer herum. »Beim Kleinen Nadomir«, jubelte der Alte, »ich bin ein mächtiger Zauberer. Hast du gesehen, wie ich den Bären vertrieben habe, Nottr?«

Der Mann, der vor dem Feuer saß und Tordo den Rücken zukehrte, antwortete nicht.

»Ich werde ein mächtiger Magier werden, Nottr. Das kannst du mir glauben, so wahr der Kleine Nadomir mein Schutzgeist ist. Ich werde…« Sadagar blickte zum Höhleneingang und brach mitten im Satz ab. Fünf düster aussehende Wilde standen dort, die Speere waren auf ihn gerichtet. Die fünf standen wie Statuen da und

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starrten ihn an. »Nottr«, hauchte Sadagar mit versagender Stimme, »wir ha-

ben Besuch bekommen.« Nottr bewegte sich nicht. »Seid willkommen, Fremde«, sagte

Sadagar schnell. »Nehmt Platz und wärmt euch!« Einer der Wilden trat zwei Schritte vor. Die blutverschmierte

Lanzenspitze zeigte genau auf Sadagars Herz. Er sagte etwas, das Sadagar nicht verstehen konnte.

»Ich verstehe dich nicht, Fremder.« »Tordo«, sagte der Wilde und klopfte sich mit der Steinaxt

an die Brust. »Hm, du bist Tordo«, stellte der Steinmann fest. »Verzeih

mir, aber ich verstehe dich äußerst schlecht. Ich bin Sadagar, ein mächtiger Zauberer.« Er zeigte mit der rechten Hand auf sich und sagte nochmals: »Sadagar!«

»…adagar?« »Sadagar.« Tordo versuchte es nochmals. »…adagar!« Er konnte kein

»S« aussprechen. »Ist schon gut, alter Freund, dann nenne mich eben Adagar.

Ich bin ein mächtiger Zauberer, ein großer Schamane.« Sadagar hatte sich etwas von dem Schrecken erholt, den ihm

der Anblick der fünf verwegen aussehenden Wilden bereitet hatte. Ihre Ähnlichkeit mit Nottr war unverkennbar. Nach den primitiven Waffen zu schließen, hatte dieser Bergstamm kaum Kontakte zu den Flachlandbewohnern.

»Wer ist das?« fragte Tbrdo und zeigte auf Nottr. Langsam gewöhnte sich Sadagar an die Sprechweise Tordos,

und er konnte den fast unverständlichen Gorgan-Dialekt mehr erraten als verstehen.

»Das ist mein treuer Diener«, antwortete er. »Sein Name ist Nottr, und ich brauche ihn, um meine Zauberkräfte einsetzen zu können.« Sadagar hatte ganz langsam gesprochen und je-

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des Wort deutlich betont. Der Wilde schien ihn verstanden zu haben.

Tordo schritt auf das Feuer zu und blickte Nottr an, der noch immer in die Flammen stierte. Er versetzte Nottr einen Tritt in den Rücken, doch der Lorvaner reagierte nicht.

»Sieh mich an, Nottr!« brummte Tordo verärgert. Seine Hand krampfte sich stärker um die Steinaxt, die er langsam zum Hieb erhob.

»Nottr!« rief Sadagar. Er befürchtete, daß der Wilde seinen Freund erschlagen werde.

Endlich bewegte sich Nottr. Er hob den Kopf und blickte Tordo gleichgültig an. Plötzlich lächelte er.

»Steh auf, Nottr!« Der Barbar erhob sich langsam. »Gib mir dein Schwert, Nottr!« Gehorsam löste Nottr sein Schwert vom Gürtel und reichte

es dem Wilden. »Gib mir deine Waffen, Adagar!« Sadagar zögerte einen Au-

genblick, dann öffnete er den Gürtel und hielt ihn Tordo hin. »Du bist ein Schamane, Weißkopf?« fragte Tordo. »Ein mächtiger Zauberer«, behauptete Sadagar kühn. »Kannst du auch Verletzungen heilen?« »Das gehört zu meinen Künsten.« Tordo schrie seinen Männern etwas zu, das Sadagar nicht

verstehen konnte. Einer der Wilden verließ die Höhle, die an-deren durchsuchten die Satteltaschen und heulten begeistert auf, als sie die Nahrungsmittel fanden.

Sadagars Miene verdüsterte sich, als Tordo ihre Vorräte an seine Männer verteilte, die sich gierig darüberstürzten, als hät-ten sie schon tagelang nichts zwischen die Zähne bekommen. Auch Tordo schob sich ein paar Fleischbrocken in den Mund. Einer der Männer nahm den Rest an sich und verschwand aus der Höhle.

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Ein junger Jäger trat ein. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Sein Oberkörper war nackt. Um seinen Hals hing eine Kette aus Raubtierzähnen. Der rechte Unterarm war blutver-schmiert.

»Der Bär hat Nokko gebissen«, sagte Tordo. »Sieh die Verlet-zung an und heile sie!«

Nokko blickte Sadagar mißtrauisch entgegen und streckte ihm nur zögernd den verletzten Arm hin.

Sadagar brummte und wiegte bedenklich den Kopf hin und her, als er die Wunden betrachtete. Er griff nach dem Arm und strich über den Ellbogen und den Unterarm, dann packte er zu und beobachtete das Gesicht Nokkos. Kein Muskel zuckte in Nokkos Miene.

Da habe ich Glück, dachte Sadagar, der Arm ist nicht gebrochen. Nichts weiter als eine eher harmlose Fleischwunde.

»In zwei Tagen ist die Wunde verheilt«, versprach Sadagar. »Ich werde sie nun versorgen.«

Er holte einen Lederbeutel hervor, den er vom alten Kräu-terweiblein erhalten hatte. Darin befanden sich einige recht wirksame Heilsalben und schmerzstillende Kräuter. Vorsichtig reinigte er die Wunde, streute ein paar der zerstoßenen Kräu-ter darüber und bestrich die Wunde dünn mit der intensiv rie-chenden Salbe.

Der junge Jäger blickte seinen Arm verwundert an. »Die Schmerzen sind verschwunden«, sagte er verblüfft.

»Du scheinst wirklich ein Schamane zu sein«, stellte Tordo fest und sah sich Nokkos Arm an. »Ich lasse dich und deinen Freund am Leben. Unser Schamane ist krank. Du wirst ihn heilen. Gelingt dir das nicht, wirst du sterben.«

Das sind ja heitere Aussichten, dachte Sadagar. »Setzt euch nieder!« befahl Tordo und zeigte auf eine der

Wände. Seufzend ergriff Sadagar Nottrs rechte Hand und zog ihn zur

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Wand hin. Dann setzten sie sich nieder. Nokko betastete noch immer seinen Arm. Er konnte offen-

sichtlich nicht verstehen, daß er keine Schmerzen mehr hatte. Einer der Jäger schürte das Feuer. Die Flammen schossen

hoch. Ein paar Männer zerrten den Bären in die Höhle. Niemand kümmerte sich um Sadagar und Nottr. Ein Flucht-

versuch war sinnlos, das war Sadagar völlig klar. Im Augen-blick blieb ihm keine andere Wahl, als sich mit seinem Schick-sal abzufinden. Vielleicht wäre ihm allein die Flucht gelungen, aber keinesfalls wollte er Nottr zurücklassen.

Die Jäger waren überaus geschickt. Mit ihren Feuersteinmes-sern häuteten sie den Bären blitzartig ab, breiteten das Fell aus und begannen das Fleisch von den Knochen zu lösen. Sie spießten ein paar Fleischstücke auf, die sie über dem Feuer brieten. Das restliche Fleisch warfen sie auf die Bärenhaut.

Sadagars Augen weiteten sich, als drei Jäger den toten Wal-lach in die Höhle zogen. Sie schlugen ihm den Kopf ab, schnit-ten die Zunge heraus, die sie roh verschlangen. Dann zerleg-ten sie auch das Pferd. Als sie damit fertig waren, stürzten sie sich gierig auf die halb gebratenen Fleischstücke und schlan-gen sie heißhungrig hinunter.

Tordo warf Sadagar ein Stück Fleisch zu, der es sofort an Nottr weitergab. Der Barbar hob die Schultern und wandte sich ab.

Sadagar war nicht sonderlich überrascht, als die Jäger auch die zwei Stuten in die Höhle brachten, sie abhäuteten und zer-legten.

Nottr lehnte an der Wand und schlief. Sadagar sah den Wilden zu, wie sie die Fleischstücke für den

Transport vorbereiteten. Die Felle wurden an dünnen Baum-stämmen befestigt und so zusammengeschnürt, daß sie große Taschen bildeten, die von zwei Männern getragen werden konnten.

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Als die Jäger damit fertig waren, ließen sie sich einfach zu Boden fallen und schliefen sofort ein.

Das Feuer brannte langsam herunter. Sadagar hüllte sich en-ger in seinen Umhang. Ihm war kalt. »Beim Kleinen Nado-mir«, flüsterte er verbittert, »es war alles andere als eine gute Idee, sich in das Karsh-Gebiet zu wagen.« Irgendwann schlief er ein. Es war noch dunkel, als sie aufbrachen. Sadagar war müde, und alle Knochen taten ihm weh. Seine düstere Stimmung paßte genau zum Wetter. Es war kalt, neblig, und es regnete leicht. In die Regentropfen mischten sich immer mehr Schnee-flocken, je höher sie die Geröllhalde hinaufstiegen.

Nottr stapfte neben ihm und trug wie er einen der Sättel. Vor ihnen waren vier Jäger zu sehen, die die mit Fleisch gefüllten Felle schleppten. Hinter ihnen gingen die anderen.

Sadagar hatte mit Tordo eine Unterhaltung beginnen wollen, doch der junge Wilde hatte auf keine seiner drängenden Fra-gen geantwortet. Aber Nokko hatte kurz mit ihm gesprochen. Seine Wunde war schon fast verheilt.

Die Sicht wurde immer schlechter. Sadagar konnte nicht wei-ter als fünfzig Schritt sehen. Die Geröllhalde stieg steil an. Nun verstand er auch, weshalb die Wilden die Pferde getötet hat-ten. Hier herauf hätten ihnen die Tiere kaum folgen können.

Ich weiß überhaupt nichts über diese Wilden, sinnierte er. Sie sa-hen Nottr zwar ähnlich, waren aber viel primitiver. Über die Sitten und Gebräuche der wilden Bergvölker war kaum etwas bekannt. Er wußte nicht, wie sie lebten und welche Götter sie verehrten.

Die Steine waren feucht und glitschig. Sadagar hatte immer größere Mühe, Nottr zu folgen. »Schlaf nicht, Weißkopf!« hör-te er Tordos polternde Stimme und bekam einen aufmuntern-

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den Stoß in den Rücken, der ihn taumeln ließ. Keuchend vor Anstrengung, beschleunigte er seine Schritte. Ich bin ein alter Mann, dachte er, viel zu alt für solch eine Schufterei.

Endlich lag die Geröllhalde hinter ihnen. Nun ging es einen schmalen Saumpfad entlang, der sich sanft höher schlängelte. Die Sicht wurde noch schlechter. Der Regen war zu Schnee geworden, und ein eisiger Wind schlug ihnen entgegen.

Eine kurze Rast wäre nicht übel, dachte Sadagar voller Hoff-nung. Doch dazu kam es nicht. Die Jäger schritten trotz des immer stärker werdenden Schneefalls unverdrossen weiter.

Er dachte wieder an Flucht. Sadagar verkrallte sich förmlich in diesen Gedanken, obzwar er genau wußte, daß jeder Fluchtversuch völlig sinnlos war. Allein auf sich gestellt, hätte er in dieser unwirtlichen Gegend nicht einmal zwei Tage über-lebt. Einmal blieb er ermattet stehen und atmete tief ein. Am liebsten hätte er sich niedergesetzt.

»Weiter, Weißkopf, weiter!« Verbittert blickte er seinen Peiniger an. Tordos Gesicht war

naß, und er hatte sich den Bärenkopf über den Schädel gezo-gen. Seine Fellkleidung war schneebedeckt, und das alles war für den Wilden ganz normal.

Knurrend vor Ärger, stapfte Sadagar den Pfad entlang. Nottr war vor ihm nur als schemenhafte Figur zu erkennen.

Kurze Zeit danach ging es einen Berghang hoch. Zu beiden Seiten des Weges standen verschneite Tannen und Fichten. Der Schneefall wurde immer dichter. Mit der rechten Hand hielt Sadagar den Sattel gepackt, der über seinen Schultern lag; und mit der linken wischte er sich fluchend den Schnee aus dem Gesicht. Er rutschte aus, stolperte und fiel der Länge nach auf den Boden. Völlig teilnahmslos blieb er liegen.

Ein kräftiger Arm riß ihn hoch. Der Sattel wurde ihm von Tordo abgenommen. »Geh, Alter!«

Sadagar nickte schwach und schritt los. Ohne den schweren

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Sattel kam er rascher vorwärts. Innerhalb kurzer Zeit hatte er sich erholt. Der Wind war zum heulenden Sturm geworden, doch der Schneefall wurde schwächer. Nun konnte man auch etwas besser sehen. Sie schritten durch ein tief verschneites Latschenfeld. Die Jäger schienen keine Müdigkeit zu kennen. Ohne Pause stapften sie durch den knöchelhoch liegenden Schnee.

Nun schritten sie an einer Felswand entlang über eine Ebene dahin. »Bald haben wir das Lager erreicht, Weißkopf«, sagte Tordo aufmunternd, als Sadagar wieder einmal seine Schritte verlangsamte.

Dem Kampf mit den Caer war er entflohen, grübelte Sada-gar, aber dafür war er wie schon so oft in seinem Leben in Ge-fangenschaft geraten. Bis jetzt hatte er es immer geschafft, sich irgendwie zu befreien, vielleicht würde er auch diesmal Glück haben. Tordos Versprechen traute er nicht. Sollte es ihm tat-sächlich gelingen, den Schamanen zu heilen, so war es trotz-dem höchst zweifelhaft, daß er und Nottr mit dem Leben da-vonkommen würden. Er wußte zwar herzlich wenig von den Sitten der wilden Karsh-Stämme, aber eines wußte er ganz sicher: Die Winter in den Bergen waren hart und lang. Oft reichten die Lebensmittelvorräte nicht aus, und er hatte Ge-rüchte von Menschenfresserei gehört.

»Beim Kleinen Nadomir«, brummte er, »ich soll ihnen schwer und lang im Magen liegenbleiben und ihnen gehöriges Bauchzwicken verursachen.«

Sadagar konnte sich nicht erinnern, wann er einmal so er-bärmlich gefroren hatte. Sein Pelz war naß, und Schnee klebte in seinem Haar. Müde hob er den Kopf, als er lautes Schreien hörte. Einige Wilde liefen auf sie zu. Das Lager mußte ganz nahe sein. Er blieb schnaufend stehen und schüttelte den Schnee aus dem Haar.

Etwa zwanzig Wilde waren es, die sie laut johlend umring-

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ten. Alle brüllten durcheinander. Sadagar versuchte sie zu verstehen, doch er konnte nur

Wortfetzen aufschnappen. Alle waren von der Jagdbeute be-geistert. Die Männer und Frauen musterten Nottr und ihn ver-stohlen; die paar Halbwüchsigen, die mitgekommen waren, verhielten sich nicht so zurückhaltend. Sein helles Haar schien es ihnen angetan zu haben.

Er ertrug die neugierigen Blicke gelassen, denn er war über-aus froh, daß er verschnaufen durfte. Sein Rücken und die Beine schmerzten.

Aber die Rast war nur sehr kurz. Bald ging es weiter. Zwei Jäger, die ihn besorgt anblickten, nahmen ihn in die Mitte. Tordo hatte irgend etwas zu ihnen gesagt, was er nicht ver-standen hatte.

»Sollen wir dich tragen, Alter?« fragte der eine. Eigentlich wäre das gar nicht so übel, überlegte Sadagar

kurz. Aber sofort verwarf er diesen Gedanken. Nein, das kam nicht in Frage, das würde beim Stamm keinen guten Eindruck hinterlassen, da er ja als großer Schamane auftreten wollte.

»Nein, das ist nicht notwendig«, sagte er mit fester Stimme. Er versuchte zu grinsen, was ihm aber nicht gelang, da sein Gesicht zu einer Eismaske erstarrt war.

Die Flocken fielen nun nicht mehr so dicht. Weiterhin hielten sie sich im Schutz der Felswand. Nach ein paar Schritten er-blickte er das Lager. Es bestand aus etwa zehn zeltartigen Hüt-ten, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Dazwischen standen ein paar voll bepackte Schlitten, die teilweise kunstvoll ver-ziert waren. An einigen Stangen waren pelzige, fremdartig aussehende Hunde angebunden, die alle wie verrückt kläfften, hochsprangen und sich loszureißen versuchten. Sie waren klein und gedrungen, ihr Fell war meist grau, aber einige wa-ren schwarz gefärbt. Die Schwänze waren eigenartig einge-dreht, fast wie bei Schweinen, und ihre Augen waren korn-

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blumenblau und blickten heimtückisch. Tordo lief voraus. Die Nachrichten, die er über Chwums Ge-sundheitszustand erhalten hatte, waren alles andere als erfreu-lich. Sein Befinden hatte sich noch verschlechtert. Er war be-wußtlos, und es stand zu befürchten, daß er die heutige Nacht nicht mehr überleben würde.

Der Stamm hatte schon alle Vorbereitungen zum Aufbruch getroffen. Die Erdgrubenhäuser waren geräumt worden, nur die Felle, die als Wände dienten, mußten abgenommen wer-den. Sie hatten keine Zeit mehr zu verlieren, denn wenn es ihnen nicht gelang, bis morgen das Göttertor zu erreichen, war ihnen der direkte Weg zum Winterlager möglicherweise ver-schlossen. Es war schon öfters vorgekommen, daß Lawinen den Eingang des Tunnels verschüttet hatten. In so einem Fall mußten sie einen großen Umweg machen, der sie durch un-wegsame Pässe führen würde, wo sie die Schlitten nicht ver-wenden konnten, die für eine schnelle Fahrt unerläßlich wa-ren.

Tordo betrat das Lager. Er winkte den ihn begrüßenden Stammesmitgliedern kurz zu, dann betrat er eines der mit Per-len und Federn geschmückten Erdgrubenhäuser. Rasch stieg er die zwei Stufen hinunter.

Drinnen war es heiß. In der Mitte brannten Holzscheite in der Feuerstelle. Die Luft war stickig und roch nach Ausschei-dungen und ungewaschenen Körpern. Auf einigen Felldecken lag der Schamane, der röchelnd atmete. Neben dem Lager hockte Olinga und murmelte beschwörend Zaubersprüche.

Langsam trat Tordo näher. Chwums Atem kam rasselnd. Sein hageres Gesicht war eingefallen, die Haut war gelb und faltig. Seine Lippen waren verzerrt, und Schweiß stand auf seiner Stirn.

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»Wie geht es Chwum?« fragte Tordo leise, als wollte er nicht die Ruhe des Sterbenden stören.

»Er wird sterben«, antwortete die junge Frau, ohne sich um-zublicken.

»Vielleicht gibt es eine Rettung für ihn, Olinga.« »Er stirbt, Tordo.« Er öffnete seinen Umhang und ließ ihn einfach zu Boden fal-

len. Die junge Frau richtete sich auf und blickte ihn an. Für ein Chereber-Mädchen war sie ungewöhnlich groß: sechs Fuß und eine Handbreit und zwei Finger. Ihr Haar, dunkelbraun und borstig, war kunstvoll mit einem Geflecht aus Lederriemen verbunden. Ihr rundes Gesicht mit den großen dunkelbraunen Augen war nach den Begriffen der Bergvölker schön. Beson-ders anziehend wirkten die plattgedrückte Nase und der brei-te Mund. Bekleidet war sie mit einem dünnen Ledergewand, das ihre üppigen Formen unterstrich.

»Wir haben einen Bären und drei Pferde erjagt, Olinga. Und zwei Gefangene mitgebracht.«

»Wir brauchen keine Gefangenen. Sie sind nur zusätzliche Esser, die dem Stamm nichts nützen. Es wäre besser gewesen, du hättest sie gleich getötet.«

»Das wollte ich auch, aber…« »Aber?« »Einer der beiden ist ein Schamane!« »Das hat er wahrscheinlich nur behauptet, damit du ihn am

Leben läßt.« Tordo schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, ich habe ge-

sehen, wie er einen Bären mit einem brennenden Ast vertrie-ben hat. Er hat…«

Olinga schnaubte verächtlich. »… Nokkos Wunde geheilt, die ihm der Bär beigebracht hat-

te.« »Jede Wunde heilt irgendwann einmal.«

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»Der Bär hat Nokko in den Unterarm gebissen. Die Verlet-zung war tief und schmerzhaft. Der Fremde, der sich Adagar nennt, hat sie mit einer Salbe bestrichen, die sofort die Schmerzen vertrieb. Und als wir im Morgengrauen aufbra-chen, war die Wunde bereits verheilt!«

Olinga blickte ihn durchdringend an. »Du willst, daß der Fremde Chwum heilt?«

»Ja, das will ich.« Tordo wartete auf einen heftigen Widerspruch, doch er blieb

aus. »Der Fremde soll es versuchen«, flüsterte Olinga fast unhör-

bar, »denn meine Heilkunst ist am Ende.« »Ich werde ihn holen.« »Bleib nur!« sagte Olinga und stand auf. »Ich gehe hinaus.« »Der zweite Gefangene soll der Helfer des Schamanen sein.

Er gehört unserer Rasse an, doch er spricht kaum etwas. Sein Geist scheint verwirrt zu sein.«

»Er interessiert mich nicht.« Die junge Frau schritt an Tordo vorbei und trat vor die Erd-hütte. Ihr Blick fiel auf den blonden Mann. Nie zuvor hatte sie solch ein Haar gesehen. Der Schamane war alt, doch seine grauen Augen funkelten listig. Er stand gekrümmt da und war offensichtlich erschöpft. Im Augenblick war er keine Hilfe.

Und dann fiel Olingas Blick auf den Mann neben Sadagar. Tatsächlich, er mußte ihrer Rasse angehören, dachte sie. Er sah ihnen sehr ähnlich, doch gleichzeitig war etwas um ihn herum, was ihn auch fremdartig machte. Es war nicht der stumpfe Ausdruck seiner Augen, der sie störte, auch nicht die Narben und das fehlende Ohr, denn gerade das machte ihn für sie an-ziehend.

Es war etwas ganz anderes, was sie abstieß und gleichzeitig

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anzog, wie sie es nie zuvor bei einem Mann bemerkt hatte. Sie hatte einige Männer von anderen Stämmen näher gekannt, aber solch ein Mann war ihr nie begegnet.

Olinga war zum Stamm der Chereber gekommen, als sie drei Jahre alt gewesen war. So wie bei vielen der Bergstämme üb-lich, war sie von ihren Eltern ausgesetzt worden. Die Chereber hatten sie gefunden und aufgenommen.

Olinga war für den Stamm ein Glücksfall gewesen, da sie über ungewöhnliche Fähigkeiten verfügte, die für einen Scha-manen wichtig waren. Deshalb war sie auch Chwums Schüle-rin geworden, der ihr bereitwillig sein Wissen mitgeteilt hatte. Sie war für den Stamm ein Gewinn, trotzdem war sie allen anderen gleichgestellt. Sie handelte nach den Gesetzen des Stammes und wählte sich unter den Männern ihre Fellgefähr-ten aus.

Die meisten Frauen in ihrem Alter, sie war neunzehn Winter alt, waren bereits mehrmals schwanger gewesen, sie aber noch nicht. Denn sie wollte erst ein Kind haben, wenn sie den rich-tigen Fellgefährten gefunden hatte. Und der Fremde, der sie gleichgültig anglotzte, schien sich als geeigneter Fellgefährte anzubieten.

»Bringt die beiden zum Starken Arm des Großen Albs«, sag-te Olinga befehlend, »und gebt ihnen zu essen und zu trin-ken.« Sadagar musterte die junge Frau aufmerksam. Für seinen Ge-schmack war sie viel zu groß und viel zu kräftig. Aber ihr Inte-resse an Nottr war offensichtlich. Sadagar kannte die Frauen und ihre Blicke. Er unterdrückte ein Seufzen, da er Schwierig-keiten aufkommen sah. Kurz blickte er Nottr an, aber der Bar-bar, der früher weiblichen Reizen durchaus aufgeschlossen war, beachtete die Stammesschönheit überhaupt nicht.

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Sie sprach deutlicher als Tordo, und Sadagar hatte keine Schwierigkeiten, sie zu verstehen. Ihre Worte hoben seine Le-bensgeister. Der Gedanke an Essen und Trinken war überaus erfreulich. Aber wer der ›Starke Arm des Großen Albs‹ war, das wußte er nicht, und es interessierte ihn im Augenblick auch nicht.

Die Wilden führten sie zu einer der fellüberzogenen Hütten, zogen die Felltür zurück, und Sadagar trat ein. Nottr folgte ihm.

Ein kleiner Mann stand bei ihrem Eintritt auf. Er trug die Kleidung der Wilden, doch auf den ersten Blick erkannte Sa-dagar, daß er nicht zu ihnen gehörte.

»Willkommen«, sagte der kräftige Mann, der etwa fünfzig Sommer alt war. »Ich bin Duprel Selamy.«

»Ich bin Steinmann Sadagar«, stellte er sich vor. Duprel Se-lamy, diesen Namen hatte er schon gehört, doch er konnte sich nicht an den Zusammenhang erinnern. »Und das ist mein Freund Nottr.« Er wies mit dem Kopf auf den Barbaren, der Selamy nur flüchtig musterte.

»Schlüpft aus euren Kleidern und wärmt euch, Leidensge-nossen! Ich freue mich, endlich wieder einen Menschen aus meinen Landen zu sehen.«

Sadagar folgte der Aufforderung. Er zog seine klitschnassen Kleider aus und legte sie neben das Feuer. Nottr folgte seinem Beispiel.

»Setzt euch!« sagte Duprel. Selamy und Sadagar starrten sich neugierig an. Was Sadagar

zu sehen bekam, gefiel ihm. Nach dem Dialekt zu schließen, mußte der wuschelköpfige, breitschultrige Mann aus Ugalien stammen. Er war alles andere als hübsch mit seinem eckigen Kopf, den Henkelohren und der breiten Stirn. Aber auf Äußer-lichkeiten gab Sadagar nicht viel. Er ließ sich mehr von seinem Instinkt leiten. Und der sagte ihm, daß er Duprel trauen durf-

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te. »Wir wurden von den Wilden gefangengenommen«, brach

Sadagar das Schweigen. Er wärmte seine Hände am Feuer und rutschte näher.

»So wie ich«, stellte Duprel Selamy fest. »Ich bin ebenfalls ein Gefangener der Chereber, so nennt sich dieser Karsh-Stamm. Sie wollten mich töten, aber ich konnte sie davon überzeugen, daß ich lebend für sie nützlicher sein kann. Sie wissen über-haupt nichts von der Gewinnung und Handhabung von Me-tall. Da ich aber Schmied bin, habe ich ihnen…«

»Du bist Schmied«, unterbrach ihn Sadagar und legte die Stirn in Falten. »Jetzt erinnere ich mich. Du bist doch der be-rühmte Waffenschmied?«

Selamy nickte stolz. »Du hast von mir gehört«, freute er sich sichtlich.

»Ja, ich habe von dir gehört. Du hast den Goldharnisch für den L’umeyn gefertigt. Du hast die Kavaliers-Armbrust erfun-den. Man rühmt dich als den besten Waffenschmied Ugaliens. Doch plötzlich warst du verschwunden.«

Selamys Gesicht verdüsterte sich, und er nickte. Bevor er noch etwas sagen konnte, traten zwei Jäger in die Hütte. Einer trug eine dampfende Schüssel, der andere eine Holzplatte, auf der getrocknetes Fleisch, Nüsse, Wurzeln und fladenartiges Brot lagen.

»Eßt!« sagte einer der Jäger. Sie stellten die Schüssel und das Tablett auf den Boden, dann

verließen sie die Hütte. Gierig griff Sadagar nach der Schüssel. Eine braune Flüssig-

keit, die ölig glänzte, befand sich darin. Er nippte daran, es war ein Kräutertee, den er nicht kannte, der aber aromatisch schmeckte. Nachdem er einige Schlucke getrunken hatte, reichte er die Schüssel Nottr.

»Erzähl weiter, während wir essen, Duprel«, bat der Stein-

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mann und schob sich ein Stück Fleisch zwischen die Lippen. »Eigentlich sollte ich nicht darüber sprechen«, begann der

Schmied zögernd, »aber Ugalien, der L’umeyn und der Erz-magier Vassander sind weit weg. Ich sollte für den Magier ei-nen Harnisch anfertigen, der gewisse magische Eigenschaften hatte. Vassander steckte mich in das Gefängnis am Grund der verpesteten Lorana. Ich ahnte, daß er mich nach getaner Arbeit umbringen würde, und ich schützte mich dagegen.« Er kicher-te leise vor sich hin.

Sadagar knackte eine Nuß, schob sie sich in den Mund und starrte den Schmied gespannt an. »Erzähl weiter!«

»Ich legte den Erzmagier herein. Wie, das will ich dir lieber nicht berichten. Mir gelang die Flucht. Ich wanderte flußauf-wärts und erreichte die Blutquelle. Dort entdeckte ich zu mei-ner größten Verwunderung einen tiefen Krater, aus dem das schweflige Gebräu quoll, das die Lorana vergiftete. Ich sah einen großen Stein, der von Männern behauen wurde, die wie Angehörige der wilden Bergstämme aussahen. Bei ihnen war ein Caer-Priester, der sich Oghan nannte. Um eine lange Ge-schichte kurz zu machen: Es gelang mir, den Caer-Priester zu töten und den Krater mit dem Dämonenstein zu verschließen. Ich wußte, daß Vassander mit den Caer zusammenarbeitet, aber mir war auch klar, daß es sinnlos war, nach Ugalos zu-rückzukehren und von seinem Verrat zu berichten, denn nie-mand hätte mir geglaubt. So irrte ich umher und stieß schließ-lich auf die Chereber, die auf Jagd waren.«

»Du bist ein tapferer Mann«, sagte Sadagar schmatzend, während er an einem Stück Fleisch kaute.

»Bei den Wilden geht’s mir ganz gut. Ich vermisse nur schmerzlich einen guten Tropfen. Die Chereber haben keinen Wein. Aber trotzdem sehne ich mich nach Ugalos zurück. Oft schon hätte ich fliehen können, aber es hat keinen Sinn, denn in Ugalos erwartet mich Vassanders Rache.«

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Sadagar grinste vergnügt. »Ich habe gute Nachrichten für dich, Duprel. Vassander wurde zu einem Xandor!«

Der Schmied beugte sich aufgeregt vor. In seinem Gesicht wetterleuchtete es. »Lügst du auch nicht, Sadagar?«

»Nein, ich war dabei, als Vassander sich verwandelte, und ich kann dir versichern, Duprel, daß ich diesen Tag mein Le-ben lang nicht vergessen werde.«

»Das mußt du mir genau erzählen, Sadagar.« »Später werde ich dir alles ganz genau erzählen, Freund, a-

ber im Augenblick gibt es wichtigere Dinge. Nur soviel dazu: Es kam zwischen dem Sterndeuter Thonensen und Vassander zu einem Duell der Magier, bei dem ich, in aller Bescheiden-heit, eine wesentliche Rolle gespielt habe. Mein lieber Freund Thonensen siegte dank meiner Hilfe.«

»Ich kann es noch immer nicht glauben«, flüsterte Selamy. »Nun kann ich ja nach Ugalos zurückkehren, da ich Vassander nicht mehr fürchten muß. Zurück zu meiner Schmiede und meinen treuen Gehilfen Jules und Frerick.«

»Ja, das könntest du«, sagte Sadagar und nickte zustimmend. »Aber ich weiß nicht, ob es besonders klug von dir wäre, da die Entscheidungsschlacht mit den Caer unmittelbar bevor-steht. Ich brauche dein Hilfe, Duprel.«

»Wie kann ich dir helfen?« »Ich muß alles über diesen Stamm erfahren. Kannst du mir

da behilflich sein?« Duprel nickte. »Was willst du wissen?«

»Tordo ließ uns am Leben, da ich ein Magier bin. Er will, daß ich Chwum heile. Sollte mir das nicht gelingen, wird er Nottr und mich töten.«

Der Schmied blickte Nottr forschend an, der zusammenge-sunken ins Feuer stierte. »Was ist mit deinem Gefährten los?« fragte er fast unhörbar.

»Er landete in Graf Corians Folterkammer. Körperlich ist er

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genesen, doch geistig hat er einen Schaden erlitten. Ich habe meine ganze Heilkunst aufgeboten, doch sein Zustand bessert sich nicht.«

»Ich verstehe. Deine Aufgabe ist nicht leicht, Sadagar, denn Chwum ist ein alter Mann, dessen Zeit abgelaufen ist. Ich fürchte, du wirst ihn nicht retten können.«

»Ich werde es versuchen. Ist Tordo der Anführer des Stam-mes?«

»Nein. Sie haben keinen Anführer. Tordo ist der geschicktes-te Jäger des Stammes, daher fügen sich die anderen seinen Anordnungen bei der Jagd. Wenn man überhaupt von einem Häuptling oder Anführer sprechen kann, war es Chwum. Sei-ne Nachfolge wird Olinga antreten, die als einzige über magi-sche Fähigkeiten verfügt. Das Zusammenleben ist hier sehr einfach, so ganz anders als in Ugalien. Hier gibt es keinen Neid, keine Gier und keine Eifersucht.«

»Das hört sich merkwürdig an. Aber vermutlich sind sie blutrünstig?«

»Nein, das sind sie auch nicht. Sie sind nur Fremden gegen-über mißtrauisch. Mit den meisten anderen Stämmen leben sie in Frieden.«

»An welche Götter glauben sie?« »Ihr Hauptgott, wenn ich das so sagen darf, ist der Große Alb. Mir haben sie den Namen ›der Starke Arm des Großen Albs‹ gegeben, der aber nicht viel zu bedeuten hat. Wer oder was dieser Große Alb ist, wurde mir nie gesagt. Es gibt Stämme, die an eine andere Gottheit glauben. Mit denen sind die Cher-eber verfeindet, und da kommt es auch öfters zum Kampf.«

Sadagar verarbeitete das eben Gehörte. Doch es half ihm nicht weiter. Die Sitten der Chereber kamen ihm ziemlich merkwürdig vor.

»Der Stamm lebt hauptsächlich von der Jagd. Im Sommer steigen sie aus den Gletscherregionen herunter ins Tal. Jetzt

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bereiten sie alles zum Aufbruch ins Winterlager vor.« »Hm«, brummte Sadagar mißvergnügt. »Glaubst du, daß sie

uns tatsächlich töten werden, wenn ich den Schamanen nicht retten kann?«

Selamy hob die Schultern. »Ich weiß es nicht.« Ein junges Mädchen betrat die Hütte. »Ihr sollt zu Olinga

kommen«, sagte sie. Nun ist es soweit, dachte Sadagar und griff nach seinen noch

immer feuchten Kleidern. Männer und Frauen waren dabei, die Erdhütten abzudecken.

Sie zogen die Felle von den aus Holz und Knochen gefertigten Gestellen, rollten sie zusammen und verstauten sie auf den Schlitten. Andere brieten das Fleisch über großen Feuern. Ü-berall herrschte ein geschäftiges Treiben.

Das Mädchen führte sie in Chwums Hütte. Sadagar glaubte zu ersticken, so scheußlich roch es. Er begann zu husten, und Tränen stiegen ihm in die Augen.

Die hochgewachsene Frau, die so begehrliche Blicke auf Nottr geworfen hatte, stand neben dem Lager des Sterbenden und sah Sadagar mit unbewegtem Gesicht an. »Ich bin Olin-ga«, sagte sie mit fester Stimme. »Du bist Adagar.«

»Ja, ich bin Sadagar, ein mächtiger Schamane meines Stam-mes.«

»Dann beweise mir, wie mächtig du bist, Alter.« Das Mädchen trat zwei Schritte zur Seite, und nun sah Sadagar den röchelnden Greis, der noch immer bewußtlos war. Seine Hoffnung, ihn heilen zu können, war äußerst gering. Auf den ersten Blick hatte er gesehen, daß hier jede Hilfe zu spät kam.

Bedächtig kam Sadagar näher und blieb neben Olinga ste-hen. Der bestialische Gestank in der Hütte legte sich schwer auf seine Lungen.

»Ich brauche warmes Wasser«, keuchte Sadagar. »Das sollst du bekommen.«

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Der Steinmann kniete neben dem Sterbenden nieder und lüf-tete rasch eines der Felle, mit denen Chwum zugedeckt war. Der Körper des Schamanen war zum Skelett abgemagert, er schien nur mehr aus Haut und Knochen zu bestehen. Heilen konnte er Chwum keinesfalls, er konnte nur sein Leben ver-längern, und das wollte er tun.

Er öffnete den Lederbeutel, in dem sich die Kräuter befan-den, die ihm bei Nokko schon geholfen hatten. »Das Wasser«, bat er.

Olinga reichte ihm einen einfachen Holzbecher, der bis zum Rand mit Wasser gefüllt war. Sadagar warf ein gelbes Pulver hinein und bewegte den Becher leicht. Das Pulver löste sich langsam auf, und kurze Zeit später stiegen gelbe Dampfwol-ken auf. Er stellte den Becher auf den Boden und holte aus ei-ner Innentasche einen Tiegel mit Erdfarbe heraus. Er schmierte etwas Farbe auf die Stirn des Schamanen, dann zog er Linien über die Nase, die Wangen und das Kinn. Dabei murmelte er völlig sinnlose Worte, die aber recht eindrucksvoll klangen.

Schließlich stand er auf, schloß die Augen und steigerte seine Stimme. Aus dem Becher zogen noch immer gelbe Schwaden hervor. Er trat zwei Schritte zurück und warf ein paar ge-trocknete Blätter ins Feuer, das augenblicklich die Farbe än-derte. Die Flammen waren nun giftgrün, und ein eklig süßer Geruch breitete sich in der Hütte aus. Aus dem Augenwinkel beobachtete er Olinga, deren Gesicht weiterhin völlig unbewegt blieb.

Sadagar überlegte, wie er die junge Frau beeindrucken kön-ne. Schließlich entschied er sich für einen einfachen Zauber, den er Thonensen abgeschaut hatte.

Er richtete sich plötzlich auf, seine Glieder strafften sich, und er stieß einen gellenden Schrei aus. Dann bewegte er ruckartig den rechten Arm und zeigte mit dem Zeigefinger auf das Feu-er. »Sita!« schrie er und krümmte den Finger zusammen.

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Zischend, so als habe jemand einen Kübel Wasser in die Feu-erstelle geschüttet, erloschen die Flammen. Augenblicklich war es dunkel in der Hütte. Nur ein schwacher Lichtschimmer fiel durch die Rauchabzugsöffnung.

Sadagar bückte sich, hob den Becher hoch und reichte ihn O-linga. »Chwum muß den Heiltrank trinken«, sagte er.

Olinga ergriff den Becher und kauerte neben dem Lager nie-der.

»Siku, majuma, miezi er miaka«, flüsterte Sadagar und be-wegte rasend schnell seine rechte Hand. Die Wirkung dieses Zaubers war so verblüffend, daß Olinga einen unterdrückten Schrei ausstieß. Die Linien, die Sadagar auf Chwums Gesicht gemalt hatte, begannen plötzlich zu leuchten. Es war, als würden Flammen aus Chwums Gesicht lodern.

»Gib ihm den Heiltrank zu trinken!« sagte Sadagar scharf. Sie gehorchte. Sie hob den Kopf des Bewußtlosen an, drückte

den Becher an seine Lippen und ließ die gelbe Flüssigkeit in seinen Mund rinnen.

Sadagar war mit sich sehr zufrieden. Das habe ich sehr ein-drucksvoll gestaltet, freute er sich.

Als der Becher leer war, wollte die Frau aufstehen. »Du mußt sein Gesicht reinigen, Olinga«, sagte Sadagar sanft. Nun wandte er den einfachen Zauber an, mit dem er das Feuer entzünden konnte. Die Holzscheite flammten auf; diesmal brannten sie allerdings ganz normal.

Deutlich war Olingas Verwunderung zu bemerken. Sie war ganz offensichtlich von Sadagars Zauber beeindruckt.

»Reinige Chwums Gesicht!« befahl er wieder. Zögernd griff die junge Frau nach einem Lederlappen. Das

rasselnde Atmen des Sterbenden war verstummt. Seine Brust hob sich nun ruhig und gleichmäßig. Rasch wischte Olinga die Farbe fort und stand auf.

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»Wirf den Lappen ins Feuer!« Olinga gehorchte. Der Lappen fing rasch Feuer, loderte ein-

mal kurz auf, krümmte sich und zerfiel zu Asche. »Du scheinst tatsächlich ein mächtiger Zauberer zu sein«,

sagte sie leise. »Wann wird Chwum gesund werden?« »Es wird ein paar Tage dauern«, antwortete Sadagar auswei-chend. »Heute abend werde ich für ihn einen weiteren Zauber-trunk bereiten, der die Heilung beschleunigen wird.«

»Euer Leben ist mit Chwums Leben verbunden«, sagte sie, jedes Wort betonend. »Stirbt er, dann werdet ihr auch ster-ben.«

Sadagars Mund war plötzlich trocken. Er räusperte sich, doch sie schenkte ihm keine Beachtung mehr.

Ihre Aufmerksamkeit galt nur noch Nottr, vor dem sie ste-henblieb. »Wie heißt du?« fragte sie.

»Nottr.« »Nottr«, flüsterte sie. »Ein schöner Name. Woher kommst

du, Nottr?« Der Barbar blickte sie verwirrt an. Er verstand ihre Frage

nicht. »Nottrs Geist ist verwirrt«, sagte Sadagar rasch, »er war lan-

ge krank und…« »Ich habe dich nicht gefragt, Alter«, unterbrach sie ihn

scharf. Ihre Stimme wurde aber sofort wieder sanft, als sie mit Nottr sprach. »Hast du mich nicht verstanden? Ich habe dich etwas gefragt, Nottr.«

»Ich weiß nicht, was du von mir willst, Mädchen«, sagte er stockend.

»Immerhin kannst du wenigstens sprechen«, freute sie sich. »Willst du mein Fell mit mir teilen, Nottr?«

»Fell teilen…?« stotterte er verständnislos. »Nottr versteht dich nicht, Olinga.« »Dann erkläre ihm, was ich will. Und jetzt geht, da ich die

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Vorbereitungen zum Aufbruch treffen muß.« Sadagar ergriff Nottrs rechten Arm und zog ihn aus der Hüt-

te. »Habe ich Olinga richtig verstanden, Duprel?« fragte Sada-gar, als sie im Freien waren.

»Ich denke schon. Sie will, daß Nottr heute nacht mit ihr schläft.«

»Sind alle Frauen des Stammes so direkt in ihren Wün-schen?«

»Ja, das sind sie. Und sollte Nottr ablehnen, dann wäre das eine große Beleidigung für Olinga und den ganzen Stamm.«

»Beim Kleinen Nadomir«, fluchte Sadagar verärgert, »ich ahnte, daß es mit diesem Weib noch Schwierigkeiten geben wird.«

»Weshalb soll es denn Schwierigkeiten geben?« wunderte sich der Schmied. »Es ist doch eine große Ehre für Nottr, das Lager mit dem schönsten Mädchen des Stammes zu teilen.«

»Das mag schon sein, trifft aber nicht auf Nottr zu. Durch die Folter scheint sein Interesse an Frauen erloschen zu sein, dabei war er früher alles andere als ein Kostverächter. Im Augen-blick ist er an Frauen sowenig interessiert wie ein Wallach an einer rassigen Stute!«

Duprels Gesicht verfinsterte sich, dann grinste er aber plötz-lich. »Du bist doch ein großer Zauberer, Sadagar. Hast du nicht gewisse Mittelchen in deinem Kräuterbeutel, die da hel-fen könnten?«

»Bei Nottr versagen meine Mittel.« »Dann, mein Freund, sehen wir einer unangenehmen Nacht

entgegen.« Sadagar nickte kummervoll.

Der Himmel war frostklirrend, und die Landschaft war in ein düsteres Licht getaucht. Das flache, schneebedeckte Tal zog

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sich zwischen mächtigen Bergen dahin, deren Gipfel nicht zu sehen waren.

Einige Zeit vergaß Sadagar seine Sorgen. Gebannt sah er dem Stamm beim Aufbruch zu. Die Felle der Erdhütten und alle Gebrauchsgegenstände wurden auf die Schlitten verladen, die unterschiedlich groß und verschiedenartig gearbeitet wa-ren. Die meisten waren Kufenschlitten, von denen es zwei Formen gab. Die erste Art bestand aus einem Paar gerader Ku-fen aus Holz, die durch hölzerne Querstäbe miteinander ver-bunden waren; sie waren bis zu zwanzig Fuß lang. Die zweite Art war kleiner, da waren die Kufen nach oben gebogen, und darauf waren senkrechte Stützen angebracht, auf denen sich ein mit einer Lehne ausgestatteter Sitz befand.

Gezogen wurden die Schlitten von den bösartig knurrenden Hunden, die seit zwei Tagen nichts zu fressen bekommen hat-ten. Es waren genügsame Tiere, die nur etwa alle drei Tage ein paar Fleischstücke und Knochen vorgeworfen bekamen. Jeder der Hunde war an einer eigenen Leine befestigt. Die Schlitten wurden von jeweils sechs bis zu vierzehn Hunden gezogen.

Die Beförderung selbst war recht einfach. Die Kinder und Al-ten, die nicht mehr rasch laufen konnten, durften die ganze Reise auf dem Schlitten verbringen. Die jungen Jäger, Frauen und Halbwüchsigen liefen neben den Schlitten her, und sobald sie müde geworden waren, saßen sie für einige Zeit auf, um zu rasten.

Chwum war auf einen der Transportschlitten gelegt worden. Er war so zugedeckt, daß kaum die Nasenspitze zu sehen war. Hinter dem Schlitten stand Olinga, die den Schamanen nicht aus den Augen ließ.

Sadagar durfte die ganze Fahrt auf dem Schlitten sitzen, während Selamy und Nottr nur gelegentlich für kurze Zeit ruhen durften.

Die Hunde verursachten einen ohrenbetäubenden Lärm. Sie

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bellten, jaulten, knurrten und heulten vor Verlangen, endlich losrasen zu dürfen. Schließlich war es soweit.

»Hiiii!« brüllte einer der Jäger, und los ging die wilde Jagd. Die Hunde legten sich ins Geschirr. Nun waren das Hecheln der Tiere und das Knirschen der Kufen zu hören, und dazu kam noch das anfeuernde Schreien der Fahrer.

Sadagar fand die Fahrt aufregend. Die Hunde legten ein sol-ches Tempo vor, daß die dahinter laufenden Jäger Mühe hat-ten, ihnen zu folgen.

Es war eisig kalt. Um Sadagars Nasenlöcher bildeten sich kleine Eiströpfchen. Für kurze Zeit kam die Sonne hervor. Schnee und Eis funkelten so stark, daß Sadagar geblendet die Augen schloß. Dann verschwand sie wieder, und weiter ging die Fahrt über die weiße Fläche. Das Tal wurde enger; die Schlitten fuhren nunmehr hintereinander.

Die Hunde waren langsamer geworden, jetzt konnten die Jä-ger mühelos mithalten. Ihre Zähigkeit und Ausdauer beein-druckten Sadagar immer wieder.

Dann lief Selamy neben dem Schlitten her. Sein Atem kam stoßweise, und weiße Wölkchen hingen vor seinen Lippen. Er sprang auf den Schlitten und blieb erschöpft neben Sadagar sitzen.

»Weshalb eigentlich diese Eile, Duprel?« Der Schmied rang noch immer nach Luft. »Sie wollen noch

heute das Göttertor erreichen. Das ist ein Tunnel, der durch einen der Berge führt. Sie befürchten, daß der Zugang von Lawinen verschüttet wird.«

»Und wie weit ist es dann bis zum Winterlager?« »Etwa drei Tagesreisen, wenn es nicht schneit. Nach dem

Tunnel erreichen wir die Straße der Götter, frage mich aber nicht, wie sie aussieht oder was sie ist. Ich habe nur davon ge-hört.«

»Werden wir die ganze Nacht hindurch fahren?«

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»Nein, das glaube ich nicht. Sie wollen nur durch den Tunnel hindurch.«

Nun schwiegen beide. Die eiskalte Luft stach in den Lungen, spannte die Haut und schmerzte auf den Zähnen. Sadagar verkroch sich, so gut es ging, in seinen Pelz und hielt sich ei-nen Ärmel vors Gesicht, um sich vor dem aufkommenden Sturm besser zu schützen. Als seine Augen zu tränen began-nen, schloß er sie einfach.

Irgendwann hielten sie an, um den Jägern und Hunden eine Verschnaufpause zu gönnen. Die Fahrer lösten die Eis- und Schneeklumpen zwischen den Pfoten der Hunde.

Sadagar blickte sich suchend nach Nottr um, den er auch schließlich fand. Der Barbar stand neben Olinga, die auf ihn einsprach, doch sie waren zu weit von ihm entfernt, um ver-stehen zu können, was sie sagte.

Ergeben schloß Sadagar die Augen, als er bemerkte, daß Nottr auf Olingas Fragen nicht antwortete und sie immer wü-tender wurde.

Er war froh, als die Fahrt weiterging. Aber die düsteren Ge-danken ließen ihn nicht los. Trotz seiner Bemühungen war es ziemlich sicher, daß Chwum kaum mit dem Leben davon-kommen würde. Und dazu kam noch der Ärger mit der lie-bestollen Olinga.

Sadagar wurde aus seinen bitteren Gedanken gerissen, als die Jäger begeistert zu brüllen begannen. Er hob den Kopf, blickte sich um, konnte aber den Grund für ihre Aufregung nicht entdecken.

Erst einige Zeit später erblickte er eine fast senkrechte, ver-witterte Felswand, in der sich eine runde Öffnung befand, die halb vom Schnee zugeweht war. Das mußte der Tunnelein-gang sein.

Männer und Frauen warfen den Schnee zur Seite und stampften ihn fest. Alle stiegen von den Schlitten. Fackeln

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wurden entzündet, und sie betraten den Tunnel, der etwa zwanzig Fuß breit und zehn Fuß hoch war. Nach wenigen Schritten verschluckte sie die Dunkelheit. Die Wände waren feucht und rissig.

Sadagar und Selamy gingen nebeneinander. Die Geräusche im Tunnel waren merkwürdig verzerrt und pflanzten sich wie geheimnisvolle Echos fort. Die flackernden Fackeln spendeten nur wenig Licht. Es schien Sadagar, als sei er in einem Alp-traum gefangen und wandere durch endlose Gänge, die ins Nichts führten. Sein Herz schlug schneller. Da war die unbe-stimmte Angst, sich tief unter gewaltigen Steinmassen zu be-finden und erdrückt zu werden.

Langsam wurde es heller. Sadagar atmete erleichtert auf; der Marsch durch den Tunnel war ihm wie eine Ewigkeit vorge-kommen. Aber nicht nur er war erleichtert. Die Freude, dem Tunnel entronnen zu sein, spiegelte sich auf allen Gesichtern. Auch die Hunde bellten ihre Freude heraus.

Die Chereber nützten das Tageslicht. Die Fahrt ging weiter, das Tal stieg sanft an. Als es dunkel wurde, hielten sie an und errichteten das Lager im Windschatten einiger hoher Steine.

Sie befestigten Stangen an den Schlitten, die mit Schnüren verbunden wurden, über die sie Felle warfen. So entstanden verschieden große Zelte. Darin stampften sie den Schnee fest und legten dicke Pelze auf den Boden. Überall brannten Feuer in der zunehmenden Dämmerung.

Sadagar, Selamy und Nottr bekamen eines der kleineren Zel-te zugewiesen. Licht spendete eine flache Talglampe aus Speckstein mit einem Moosdocht.

»Was hat Olinga von dir gewollt, Nottr?« erkundigte sich Sadagar.

»Olinga?« »Die Frau, die mit dir sprach«, sagte Sadagar ungeduldig. »Ich verstand sie nicht.«

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»Gefällt sie dir?« Nottr blickte ihn verständnislos an. »Findest du sie hübsch?« »Ich weiß nicht.« »Weckt ihr Anblick bei dir irgendwelche Gefühle, Nottr?« »Sie scheint kräftig zu sein.« Sadagar seufzte und wechselte mit Selamy einen Blick.

»Sonst fällt dir zu Olinga nichts ein?« Nottr überlegte kurz, dann lächelte er. »Ihr Umhang ist

hübsch. So einen hätte ich auch gern.« »Ihr Umhang ist hübsch«, stöhnte Selamy gequält auf. »Es ist

hoffnungslos, Sadagar, dein Freund ist zu einem geschlechts-losen Wesen geworden.«

Sadagar dachte angestrengt nach. Früher, als er noch mit der Runenkundigen Fahrna durch die Lande gezogen war, hatte er gute Geschäfte mit seinen erfundenen Prophezeiungen ge-macht. Und er hatte auch manchem Mann, der die ehelichen Pflichten nicht mehr zur Freude seiner Frau erfüllen konnte, ein Mittelchen zur Steigerung der Manneskraft verkauft, das aber völlig nutzlos war. Doch gelegentlich hatte es dank der Kraft des Wunschgedankens auch geholfen. Aber bei Nottr lagen die Dinge ganz anders. Er hatte ein Mittel bei sich, das möglicherweise Nottr anregen würde, aber nur ein paar Trop-fen zuviel, und Nottr würde zum Stier werden. Bei Thonensen hatte er einen Zauberspruch gelesen, der dieses Problem lösen konnte, doch er hatte sich den Spruch nur unvollständig ge-merkt.

»Adagar!« riß ihn Olingas Stimme aus seinen Gedanken. »Komm heraus, Adagar!«

Brummend stand er auf und trat ins Freie. Es war nun dun-kel geworden. Ein sternenloser Himmel spannte sich über die Ebene. Um die Feuer saßen die Jäger und brieten Fleisch auf langen Spießen.

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»Komm mit zu Chwum, Adagar!« Gehorsam folgte er der jungen Frau, die über ihrem Fellge-

wand einen Umhang trug, der mit Raubvogelfedern ge-schmückt war. Sie führte ihn zu einem Zelt am Ende des La-gers.

»Chwum ist noch immer wie tot«, sagte sie. »Aber sein Zu-stand scheint sich gebessert zu haben. Seine Wangen sind nicht mehr so bleich.«

Das Zelt wurde von zwei Talglampen erleuchtet. Sadagar beugte sich über den Schlafenden, konnte aber keine Besse-rung feststellen.

»Laß mich allein, Olinga! Ich werde nun einen starken Zau-ber anwenden, bei dem ich völlige Ruhe brauche.«

Die Frau zögerte, dann huschte sie geräuschlos aus dem Zelt. Sadagar setzte sich schnaufend nieder und starrte den Greis

mißmutig an. In seinem Kräutersack hatte er ein Mittel, das den Alten für kurze Zeit aufwecken würde. Aber seinen Tod konnte er nicht verhindern.

Er öffnete den Beutel, feuchtete seinen rechten Zeigefinger an und drückte ihn in ein türkisfarbenes Pulver. Er beugte sich über Chwum, öffnete dessen Lippen und strich das Pulver auf seine Zunge. Der Alte röchelte und schluckte.

Bedächtig steckte er den Beutel ein und begann sinnlose Worte zu murmeln. Es war ein Singsang, der nur für Olinga bestimmt war, die sicherlich vor dem Zelt lauschte. Immer wieder rief er den Kleinen Nadomir an.

Es dauerte nicht lange, und Chwum bewegte sich. Seine Na-senflügel bebten, und seine Lider zuckten. Er brummte und warf den Kopf zur Seite. Speichel tropfte über seine welke Wange. Für kurze Zeit öffnete er ein Auge und starrte Sadagar an.

»Beim Kleinen Nadomir«, flüsterte der Steinmann. »Ich habe es geschafft. Er erwacht! Ich danke dir, Kleiner Nadomir!«

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»Ich nehme deinen Dank gern an!« Sadagar zuckte zusammen und wandte den Kopf schnell

nach links, woher die Stimme gekommen war. Doch er sah nur ein paar Fellbündel im düsteren Schein der Lampen. Ich muß mich wohl getäuscht haben, dachte er.

Chwum hob langsam den Kopf, dann räusperte er sich. »Wasser!« hauchte er fast unhörbar.

Rasch griff Sadagar nach dem Wasserkrug neben dem Lager des Schamanen und ließ ihn ein paar Schlucke trinken. Ermat-tet schloß Chwum wieder die Augen und murmelte unver-ständliche Worte.

Als sich Sadagar setzte, sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Ein Fellbündel bewegte sich auf ihn zu. Ungläubig riß er die Augen auf, als daraus ein Kopf zum Vorschein kam. Ein Kopf mit einer gewaltigen Mähne aus borstigem, sich zu blätterförmigen Strähnen formendem Haar. Das Gesicht nahm sich in diesem Kugelkopf winzig klein aus: Es war so groß wie die Handfläche eines Zehnjährigen. Der unverhältnismäßig breite Mund mit den fleischigen Lippen war zahnlos.

Sadagar dagegen war sprachlos. Sein Mund stand weit offen. Das seltsame Geschöpf bewegte sich langsam. Es war etwa drei Fuß groß und mit einem dichten Pelz bekleidet, der seiner ganzen Gestalt eine Kugelform verlieh.

»Wer bist du?« fragte er stotternd. »Du hast mir eben gedankt«, sagte das Geschöpf mit undeut-

licher Stimme. »Ich bin Nadomir, aber nicht der Kleine Nado-mir, wie du mich nennst, sondern der Schöne Nadomir!«

Einen Augenblick glaubte Sadagar, den Verstand zu verlie-ren. Oft schon hatte er den Kleinen Nadomir angerufen, einen Geist, den er nur zur Täuschung anderer Leute erfunden hatte. Es war ihm zur festen Gewohnheit geworden, ihn anzurufen, doch niemals hätte er geglaubt, daß es ihn tatsächlich gab. Und nun stand er wirklich vor ihm.

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»Dich gibt es tatsächlich«, keuchte er mit versagender Stim-me. »Ich kann es noch immer nicht glauben.«

»Ich bin ein Troll«, sagte der Kleine. »Unter den Karsh-Völkern bekannt als der Kleine oder auch der Schöne Troll.«

Sadagar hatte sich etwas von seiner Überraschung erholt. Klein war der Troll, aber als schön konnte man ihn beim bes-ten Willen nicht bezeichnen.

»Einige der Stämme«, sprach der Gnom weiter, »verehren mich, andere huldigen dem Großen Alb, der mein größter Feind ist. Ich werde dir helfen, Sadagar. Du mußt mir vertrau-en…«

In diesem Augenblick setzte sich Chwum auf und stieß einen durchdringenden Schrei aus.

»Der Große Alb«, brüllte er, »der Große Alb stehe mir bei!« »Du mußt verschwinden, Nadomir«, sagte Sadagar heftig.

»Jeden Augenblick können…« Er hörte Olingas Aufschrei, und als er sich nach dem Gno-

men umdrehte, war dieser bereits verschwunden. »Nicht, Chwum!« schrie Olinga entsetzt. Sadagar blickte zum Alten hin. Er war wie gelähmt. Der

Schamane hielt in der rechten Hand ein scharfes, spitzes Feu-ersteinmesser, das er sich mit aller Kraft in die Brust stieß. Ein Zittern durchlief seinen Körper, dann sackte er leblos zusam-men.

Olinga stieß Sadagar zur Seite und warf sich laut schluch-zend über den Toten.

Sadagar saß noch immer erstarrt da. Seine Gedanken schos-sen hin und her wie Sternschnuppen, die er nicht festhalten konnte.

Jäger stürmten in das Zelt, schrien durcheinander und ver-stummten dann.

Olinga ließ den Toten los und drehte sich langsam Sadagar zu. Ihr Gesicht war plötzlich unmenschlich verzerrt.

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»Du Mörder«, zischte sie. »Ich habe dich mit jemandem spre-chen hören. Du und dein Geisterhelfer, ihr habt Chwum ver-hext, so daß er sich selbst tötete. Chwums Tod wird gerächt werden. Du und dein Gefährte werden sterben. Schafft ihn fort!«

Er wurde hochgerissen. Harte Fäuste schlugen auf ihn ein. Sein linkes Auge schloß sich, Blut tropfte aus seiner Nase, und seine Lippen sprangen auf. Verzweifelt versuchte er die Hiebe abzuwehren, hielt sich die Arme vors Gesicht und taumelte ins Freie. Ein paar Jäger verfolgten ihn und prügelten ihn quer durch das Lager. Schließlich brach er bewußtlos zusammen. Olinga strich zärtlich mit beiden Händen über das Gesicht des Toten. Tränen rannen über ihre Wangen.

»Olinga.« Die Stimme schien weit fort zu sein. »Olinga, du mußt dem Stamm den Tod verkünden.«

Sie wischte die Tränen fort und stand schwankend auf. Tor-do reichte ihr Chwums Lebensstab, ein kunstvoll geschnitztes Stück Holz. Olinga griff danach und preßte die Lippen zu-sammen. Ihr Gesicht war nun zu einer Maske geworden, nur die dunklen Augen funkelten fiebrig.

Gefaßt durchschritt sie das Zelt, vor dem sich bereits der Großteil des Stammes versammelt hatte. Sie wichen vor ihr zurück, als sie den Lebensstab hochhielt, den Kopf zurückwarf und den Todesschrei ausstieß, ein durch Mark und Bein ge-hendes wolfsähnliches Geheul.

Zuerst stimmten die Frauen in den Todesschrei ein, dann die Jugendlichen und Kinder und schließlich auch die Männer. Die Totenklage verbreitete sich im ganzen Lager.

Die Schreie verstummten langsam, und es wurde unwirklich still. Nur das wehklagende Heulen des Windes, der an den Fellen der Zelte zerrte, war zu hören.

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Tordo trat neben Olinga und hielt ihr eine Holzschüssel hin. Die junge Frau kniete nieder, spreizte die Beine und rammte Chwums Lebensstab vor sich in den Boden. Danach griff sie mit beiden Händen in die Schüssel, in der sich roter Staub be-fand. Zum Zeichen der Trauer schmierte sie sich die Farbe ins Gesicht, die sie erst abwaschen würde, sobald Chwum bestat-tet war.

Sie stand auf. Die Stammesmitglieder drängten näher. In der linken Hand hielt sie nun die Farbschüssel, in der rechten Chwums Lebensstab, den sie in die Farbe tauchte. Alle Stam-mesmitglieder zogen an ihr vorbei, und jeden berührte sie mit dem Lebensstab an der Stirn.

Als sie damit fertig war, trat sie ins Zelt. Tordo und Acco folgten ihr.

Olinga zögerte einen kurzen Augenblick, dann zog sie das Messer aus Chwums Brust und ließ es neben den Toten fallen. Sie bestäubte die Wunde mit Farbe, dann das Gesicht, den Bauch und die Oberschenkel.

Tordo und Acco brachten Chwums reichverziertes Zeremo-niengewand und kleideten den Toten an. Zwei Jäger brachten eine Bahre, auf die der Tote gelegt wurde. Schweigend verlie-ßen die Männer das Zelt und ließen Olinga mit dem Toten al-lein.

Ihr Herz war schwer, als sie vor Chwum niederkauerte. Er hatte, bald nachdem sie zum Stamm gestoßen war, ihre be-sonderen Fähigkeiten erkannt und sie gefördert. Geduldig hat-te er ihr die Pflanzen der Berge gezeigt und ihr beigebracht, wann man sie pflücken mußte und wie man sie anwenden konnte. Alle Sitten und Gebräuche und die Grundlagen der Jagdmagie hatte er sie gelehrt. Immer war er freundlich und geduldig gewesen. Und nun war er tot. Eingegangen in die Unterwelt, aus der er erst erlöst werden konnte, wenn sein Name, der seine Seele war, einen neuen Träger erhielt. Der

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erste neugeborene Knabe des Stammes würde seinen Namen erhalten, und dadurch konnte er der Unterwelt entfliehen. So wollte es der Brauch des Stammes.

Einige Zeit später traten wieder Tordo und Acco ins Zelt. O-linga stand auf und hüllte Chwum in kostbare Pelze. Die Männer trugen die Bahre ins Freie und stellten sie auf den Bo-den.

Olinga stimmte den Totengesang an, in den der Stamm ein-fiel. Während sie sang, ging sie im Kreis um den Toten herum und ließ bei jedem Schritt einen schwarzglänzenden Stein fal-len. Als der Kreis geschlossen war, trat sie heraus, und der Gesang verstummte.

Damit war der erste Teil der Trauerfeierlichkeiten abge-schlossen, der zweite Teil würde erst im Winterlager erfolgen.

Die Stammesmitglieder zogen sich in ihre Unterkünfte zu-rück. Schließlich war sie allein. Der Stamm durfte schlafen, doch sie würde über die Ruhe des Toten wachen.

Im Lager wurde es still. Nur gelegentlich schreckte einer der Hunde auf und stieß ein klagendes Winseln aus.

Sadagar wurde von Alpträumen gequält. Stöhnend wälzte er sich auf seinem Lager hin und her. Immer wieder erwachte er, richtete sich auf und lauschte auf die regelmäßigen Atemzüge Nottrs und Selamys.

Sein Gesicht brannte, und die Wunden schmerzten noch immer, obzwar er sie mit seinen Heilkräutern behandelt hatte. Sein ganzer Körper war mit blauen Flecken bedeckt, und alle Knochen taten ihm weh.

Vorsichtig setzte er sich auf und unterdrückte mühsam ein Stöhnen. Als er aus seiner Bewußtlosigkeit aufgewacht war, hatte ihn Selamy mit Fragen bestürmt. Die Geschichte vom Kleinen Nadomir hatte der Schmied nicht geglaubt, wie er ihm auch nicht glaubte, daß er an Chwums Tod unschuldig war. Chwum war tot, und Olinga gab ihm die Schuld – so standen

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die Dinge. Lange hatte er sich mit Selamy über einen Flucht-versuch unterhalten, der aber ziemlich hoffnungslos war. Die Jäger hätten die Hunde auf sie gehetzt, und vor den scharfen Zähnen dieser Bestien hatten er und Selamy Angst. Es blieb ihnen keine andere Wahl, als abzuwarten und auf ein Wunder zu hoffen.

»Der Kleine Nadomir wird uns helfen«, flüsterte Sadagar vor sich hin. Er kroch zum Zelteingang hin und hob das Fell ein Stück hoch. Im Lager war es noch immer ruhig. Es wurde langsam hell. Im diffusen Licht sah er die Bahre mit dem To-ten, um die Olinga noch immer im Kreis ging.

Und dann erinnerte er sich an Mythor, und ihm fiel ein, daß heute der entscheidende Tag war. Der Tag der Wintersonnen-wende war angebrochen. In wenigen Stunden, bei Sonnenauf-gang, würde es zur Schlacht kommen, die über das Schicksal der Welt entscheiden sollte.

Das Schicksal der Welt kümmerte Sadagar aber herzlich we-nig. An seinem eigenen lag ihm im Augenblick viel mehr. Und so, wie es aussah, würde es der letzte Tag seines Lebens wer-den.

Als ein Jäger eines der Zelte verließ, ließ er rasch das Fell fal-len und kroch zurück auf sein Lager. Sein Magen knurrte. Die Wilden hatten ihnen nichts zu essen gegeben. Aber der Hun-ger war sein geringstes Problem.

Als es im Lager lauter wurde, erwachte Duprel Selamy und setzte sich laut gähnend auf.

»Einen schönen guten Morgen«, sagte Sadagar. »Vermutlich ist es der letzte, den wir erleben«, brummte der

Schmied, stand auf und streckte sich. Nun wachte auch Nottr auf, doch Sadagar und Selamy be-

achteten den Barbaren nicht. »Weshalb sollten sie dir etwas tun, Duprel?« »Ich fürchte, daß sie mich für Chwums Krankheit verant-

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wortlich machen werden. Der Alte war zwar schon krank, als sie mich gefangennahmen. Aber das haben sie vermutlich be-reits vergessen. Wir drei sind Fremde, die Unglück über den Stamm gebracht haben. Das wird sie in Zukunft nur noch in ihrem Mißtrauen allen Fremdartigen gegenüber bestärken.«

»Und was ist mit Nottr?« Duprel hob die Schultern. »Er gehört zu dir, deshalb ist auch

sein Leben verwirkt. Ich bin nur neugierig, wie sie uns töten werden.«

»Du siehst dem Tod gelassen ins Auge, mein Freund.« »Hilft es etwas, wenn ich jetzt zu wehklagen beginne? Ir-

gendwann müssen alle sterben. Und ich kann auf ein erfülltes Leben zurückblicken, das ich sehr genossen habe. Mir tut es nur leid, daß ich nie mehr meine Schmiede sehen werde, nie mehr Metall bearbeiten darf. Aber glaube mir, mein Freund, ich werde lächelnd sterben.«

»Ich stimme mit deinen Ansichten überhaupt nicht überein, Duprel. Schon oft sah ich dem Tod ins Auge. Oft schien es, als sei ich verloren, doch immer fand ich eine Möglichkeit, dem Tod zu entkommen. Warum sollte es mir nicht auch diesmal gelingen?«

»Das Leben des Menschen ist vorbestimmt. Die Götter len-ken die Wege, die Götter entscheiden, ob man leben oder ster-ben soll.«

Sadagar schüttelte entschieden den Kopf. »Die Götter hätten viel zu tun, wenn sie jeden von uns beobachten wollten. Glau-be mir, mein Freund, der Mensch ist in seinen Entscheidungen frei. Er ist dafür verantwortlich, was er tut. Rede dich nicht auf die Götter hinaus.«

»Du bist ein gottloser Mensch, Sadagar.« »Diese Feststellung, Duprel, habe ich mir schon oft selbst als

Frage gestellt. Ich war in vielen Ländern und habe vieles gese-hen. Überall gibt es Götter, die alle verschieden sind. An wel-

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che Götter soll ich nun glauben, Duprel?« »Ich glaube an Erain, den Gott, der beweist, daß auch im Bö-

sen das Gute steckt.« »Ich will dir deinen Glauben nicht nehmen, mein Freund«,

sagte Sadagar leise, »ich freue mich für dich, daß du noch glauben kannst.«

Nottr hatte der Unterhaltung verständnislos gelauscht, jetzt war er ungeduldig geworden. Er war hungrig. »Wann gibt es etwas zu essen?« fragte er ungeduldig.

»Sieh dir den Barbaren an, sein Gott wohnt in seinem Ma-gen«, sagte Sadagar kichernd. Doch er wurde sofort wieder ernst. »Ich fürchte, Nottr, daß uns deine Artgenossen nichts Eßbares anbieten werden.«

»Ich habe Hunger, großen Hunger«, knurrte der Barbar und stapfte auf den Zelteingang zu.

Bevor ihn Sadagar zurückhalten konnte, war der Lorvaner schon im Freien. Aber er kam nicht weit. Drei Jäger stellten sich ihm entgegen, die drohend ihre Lanzen auf seine Brust richteten.

»Geh zurück ins Zelt!« Nottr stieß ein tief aus der Kehle kommendes Brummen aus.

Er hatte Hunger, und nur das Bedürfnis nach Nahrung ließ ihn handeln. Blitzschnell duckte er sich, warf sich zur Seite, ramm-te seine geballte rechte Faust dem nächststehenden Jäger in den Magen und rannte auf einen der Schlitten zu. Frauen wa-ren eben dabei, Fleischstücke zu verladen.

Knurrend blieb Nottr vor den Frauen stehen, ergriff ein Stück Fleisch und biß gierig hinein.

»Achtung! Nottr!« schrie Sadagar, als er ein paar Jäger sah, die sich dem Barbaren vorsichtig näherten. Doch Nottr war so vertieft ins Essen, daß er ihn nicht hörte. Die Jäger erreichten ihn. Einer hob eine Keule und schlug sie Nottr über den Hin-terkopf. Er zuckte zusammen, wankte etwas, dann drehte er

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sich um und bekam einen Hieb auf die Stirn, der so gewaltig war, daß er wie vom Blitz getroffen zusammenbrach.

»Sie haben ihn erschlagen«, murmelte Sadagar. »Er hat einen raschen Tod gehabt«, flüsterte Selamy. Die Jäger kamen jetzt auf sie zu. Ein paar Schritte vor ihnen

blieben sie stehen. »Ihr habt Unglück über unseren Stamm gebracht«, sagte

Harbo, einer der ältesten Männer der Chereber, »ihr werdet sterben.«

Selamy trat einen Schritt vor. »Macht es rasch!« Harbo schüttelte den Kopf. »Nein, so einfach ist es nicht,

Duprel. Euer Blut soll nicht über uns kommen. Euer Schicksal legen wir in die Hände des Großen Albs. Er soll entscheiden, ob ihr sterben oder leben sollt. Streckt die Arme aus!«

Die Jäger umringten sie. Beiden wurden die Handgelenke mit dünnen Lederschnüren zusammengebunden.

»Was habt ihr mit uns vor?« fragte Duprel. Er bekam keine Antwort.

Sadagar warf immer wieder sorgenvolle Blicke zu Nottr hin. Er wußte, welch harten Schädel der Barbar hatte, und er hoffte, daß er auch die beiden gewaltigen Hiebe überlebt hatte. Und er hatte sich nicht getäuscht, Nottr bewegte sich. Aber auch ihm wurden die Hände gefesselt.

Die Jäger führten Nottr zu ihnen. Der Barbar schüttelte im-mer wieder verwundert den Kopf, dazu kniff er die Augen zusammen und blickte sich verwundert um. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch nur ein heiseres Krächzen kam über seine Lippen. Seine Augen waren blutunterlaufen. Wütend riß er an den Fesseln.

»Jetzt ist er total verrückt geworden«, sagte Selamy leise. Alles war zum Aufbruch bereit. Die Hunde hechelten bereits

ungeduldig, als Olinga zu ihnen kam. Ihr Gesicht war ernst. Sie sah müde aus.

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»Der Große Alb wird über euch richten«, sagte sie mit fester Stimme. »Er wird entscheiden, ob ihr weiterleben sollt oder ob er euren Tod wünscht. Ihr werdet jetzt an einen Schlitten ge-bunden. Seid ihr bei Einbruch der Dunkelheit noch am Leben, dann lassen wir euch frei. Wahrscheinlich werdet ihr aber tot sein. Was dann noch von euch übrig ist, werden die Hunde fressen.«

Sadagar sah ihr wortlos nach, als sie sich auf den Schlitten setzte, auf dem der Tote ruhte. Dann hob er den Blick und hielt unwillkürlich den Atem an.

Es war ein herrlicher Wintertag. Der Himmel war strahlend blau, und zum ersten Mal konnte er die Berge im Süden sehen, diese gewaltigen, hoch aufragenden Gipfel, bedeckt vom ewi-gen Schnee, der in der Morgensonne funkelte.

Ein Jäger stieß ihn zu einem der kleineren Schlitten hin. Er befestigte eine daumenstarke Lederschnur an seinen Handfes-seln, dann trat er ein paar Schritte zur Seite.

»Hiiii!« schrie einer der Jäger. Sofort ging Sadagar in die Knie. Der Schlitten fuhr an. Die

Leine spannte sich, und er wurde auf den Bauch geschleudert. Er schrie vor Schmerzen auf, als sich die Handfesseln tief in sein Fleisch bohrten. Einen Augenblick glaubte er, daß ihm die Arme aus den Schultern gerissen würden. Ich hätte die Leine packen müssen, dachte er verbittert. Blut tropfte aus seinen Handgelenken. Die Lederriemen rieben seine Haut auf und durchdrangen das Fleisch bis zu den Knochen. Tränen rannen über seine Wangen. Er wurde fast verrückt vor Schmerzen, doch er biß die Zähne zusammen und ließ das straff gespannte Lederseil nicht aus den Augen. Er mußte es zu fassen bekom-men, bevor er so geschwächt war, daß es ihm nicht mehr mög-lich war.

Erst ging es flach dahin, und nur wenige Buckel rüttelten seinen Körper durch. Dann stieg das Land sanft an.

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Er preßte die Hände zusammen und versuchte mit den Fin-gern das Seil zu packen, was ihm auch schließlich gelang. Keuchend vor Anstrengung, zog er sich daran entlang, und er schnaubte zufrieden, als die Schmerzen in seinen Handgelen-ken schwächer wurden. Mit aller Kraft hielt er nun das Seil umklammert. Durch die beißende Kälte hatte er aber bald kein Gefühl mehr in den Händen. Er konnte das Seil nicht länger halten und ließ los. Sofort waren wieder die peinigenden Schmerzen da, die ihn verzweifelt aufschreien ließen.

Die wilde Fahrt ging nun eine Senke hinunter. Einige der Hunde mußten sich im Geschirr verfangen haben, denn der Fahrer hielt an.

Das war die Chance, auf die Sadagar gewartet hatte. Sofort kroch er ein paar Schritte vorwärts, setzte sich stöhnend auf und nestelte mit den gefesselten Händen an seinem Umhang herum. Es gelang ihm, einen der Beutel hervorzuziehen, den er mit den Zähnen öffnete. Rasch stülpte er sich den Lederbeu-tel über die rechte Hand, dann ergriff er die Lederschnur, ließ etwa einen Fuß Spielraum und wickelte sie sich ein paarmal um die geschützte rechte Hand. Keinen Augenblick zu früh, denn der Schlitten ruckte an und er wurde wieder auf den Bauch geschleudert.

Die Lederschnur fraß sich schmerzhaft in seine Hand, doch der Schmerz war zu ertragen. Aufmerksam beobachtete er den Boden. Bei jeder Bodenschwelle zog er den Bauch ein.

Endlich wurden die Hunde langsamer. »Ich schaffe es«, flüs-terte er. »Ich schaffe es. Kleiner Nadomir, hilf mir.«

Das Tal wurde enger. Spitze Steine, die seine Kleidung zer-rissen, ragten aus dem Boden. Seine Ellbogen, der Bauch und die Schenkel und Knie waren bald blutüberströmt. Seine Arme schienen abgestorben zu sein.

Er war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Sein Körper bestand nur mehr aus Schmerzen. Irgendwann wurde er auf

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den Rücken geschleudert, doch er merkte es nicht. Als er eini-ge Zeit später wieder auf den Bauch geworfen wurde, erwach-te er aus seiner Erstarrung. Mühsam hob er den Kopf. Sein Blick fiel auf steile eis- und schneebedeckte Wände. Müde schloß er die Augen.

Als er sie wieder öffnete, war die Landschaft in ein fremdar-tiges, unheimliches Licht getaucht. Der Himmel hatte sich ver-färbt, als wollte die Welt untergehen. Dann hörte er das Trommeln von Tausenden Hufen und das Gebrüll unzähliger Männer.

Der Kleine Nadomir hat meine Hilferufe erhört, dachte er erleich-tert.

Das Geschrei wurde lauter. Das Hufgetrappel war über ihm und neben ihm, doch er konnte keine Reiter sehen.

Schneebrocken fielen donnernd von den Felswänden. Die Schreie und das Trommeln der Hufe entfernten sich immer mehr.

Doch in die Bergwelt war Bewegung gekommen. In den eis-bedeckten Felswänden klafften plötzlich Risse. Eisplatten zer-sprangen, und riesige Schneebretter teilten sich und rutschten talwärts.

Die Jäger erkannten die Gefahr, die ihnen in diesem engen Tal drohte, und sie trieben die Hunde zu höchster Eile an.

Ein Knall zerriß die Luft, laut wie ein Donnerschlag. Dann war ein Tosen zu vernehmen, das immer lauter und durch-dringender wurde.

Sadagar drehte erschöpft den Kopf zur Seite und hob ihn. Seine Augen weiteten sich, als er die Lawine sah, die, immer schneller werdend, einen Berghang herunterdonnerte – genau auf sie zu. Schneewolken rasten hoch in den Himmel.

Jetzt ist alles vorbei, dachte er. Und schon begrub eine Schnee-ladung den Schlitten, an dem er angebunden war. Er selbst rutschte noch ein Stück vorwärts, bevor ihn die Lawine be-

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grub. Vor Jahren hatte ihm ein Barbar in einer Schenke erzählt, wie

er in den Karsh-Bergen von einer Lawine verschüttet worden war und wie er es geschafft hatte zu überleben. Mehr konnte er nicht überlegen, denn da rissen ihn schon die Schneemassen zur Seite. Unwillkürlich handelte er jedoch richtig. Er hielt sich die Arme vors Gesicht, um sich so einen Atemraum zu schaf-fen.

Endlich kam die Lawine zur Ruhe, und Sadagar wunderte sich, daß er noch lebte. Kein Laut war zu hören. Sollte die La-wine die ganze Schlittenkarawane verschüttet haben, überleg-te er, dann war er verloren. Ihm war nur zu deutlich bewußt, daß er sich aus eigener Kraft nicht retten konnte. Vergeblich versuchte er die Beine zu bewegen. Den Kopf jedoch konnte er hin und her drehen. Erst jetzt fiel ihm auf, daß nicht Dunkel-heit um ihn herum war, sondern im Atemraum ein düsteres Licht herrschte. Wahrscheinlich steckte er nicht allzu tief in den Schneemassen. Er spuckte aus und sah dem Speichel zu, wie er nach unten rann. Das bedeutete, daß er nicht auf dem Kopf in der Lawine steckte.

Er rief sich alle Zaubersprüche in Erinnerung, die er kannte, doch es war kein passender dabei, der ihn aus seiner üblen Lage gerettet hätte. Tiefste Verzweiflung überkam ihn, als er die hoffnungslose Situation erkannte, in der er sich befand. »Kleiner Nadomir, rette mich!« flehte er verzweifelt.

Später begann er wild zu fluchen, und noch später versank er in einen dämmerartigen Schlummer, der durch die Unter-kühlung und den Luftmangel ausgelöst wurde.

Olinga sah das Unglück auf sich zukommen, und sie wußte, daß der Stamm verloren war. Die Lawine überraschte sie an einer Stelle, an der das Tal nur etwa zwanzig Schritt breit war.

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Die vordersten Schlitten konnten vielleicht der Lawine ent-kommen, für die hinteren gab es keine Rettung. Und damit würden vermutlich die Gefangenen überleben, da sie an die ersten drei Schlitten gebunden waren.

Schreie waren zu hören, die vom Krachen der herniederdon-nernden Lawine verschluckt wurden.

Olinga blickte der Lawine gefaßt entgegen. Sie konnte ihr nicht entfliehen. Der Schneeberg erreichte sie und schleuderte sie hoch. Sie steckte bis zur Brust im Schnee und wurde auf eine der Felswände zugetragen. Ohne zu denken, begann sie Schwimmbewegungen zu machen, und kurz bevor die Schneemassen zum Stillstand kamen, riß sie sich die Arme vors Gesicht. Mit dem Hinterkopf schlug sie gegen die Wand und wurde bewußtlos.

Ihr Kopf dröhnte, als sie erwachte. Olinga bewegte die Hän-de und bohrte den rechten Arm durch den Schnee. Erleichtert atmete sie auf, als sie die Schneedecke durchstieß. Sie hatte großes Glück gehabt, denn sie war sicher, daß sie sich aus ei-gener Kraft befreien konnte.

Nach und nach erweiterte sie das Loch über ihrem Kopf, warf den Schnee hoch und schaffte einen Hohlraum um ihren Oberkörper. Schließlich gelang es ihr, sich hochzuziehen.

Entsetzt blickte sie sich um. Der Schnee und die Eisbrocken hinter ihr türmten sich bis zu dreißig Fuß auf. Da kommt wohl jede Rettung zu spät, dachte sie verzweifelt. Vermutlich waren die meisten Stammesmitglieder sofort tot gewesen, und die anderen waren wahrscheinlich bereits erstickt.

Einer der Hunde kam laut kläffend auf sie zugelaufen und sprang an ihr hoch. Sie tätschelte seinen Kopf.

Sie sah die vier schneebedeckten Gestalten, die auf sie zuka-men. Vom Stamm hatten Tordo und Retto überlebt, von den Gefangenen waren Nottr und Selamy am Leben. Ein Dutzend Hunde liefen laut winselnd hin und her. Einige gruben im

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Schnee. In Olinga war alles erstorben. Sie bemerkte, daß die Gefan-

genen ungefesselt waren. Das war auch gut so, denn ange-sichts der Vernichtung ihres Stammes war Rache sinnlos.

»Wir müssen nach Überlebenden suchen«, sagte Selamy. »Uns fehlt das notwendige Werkzeug dazu«, stellte Tordo

fest, der bleich wie Schnee war. Retto, ein etwa dreißig Winter alter Jäger, schluchzte und

fing an zu weinen. Einige der Hunde begannen durchdringend zu bellen und

stellten die Haare auf. Drei Hundeschlitten näherten sich rasch.

»Das sind Jäger vom Stamm der Heusen«, sagte Olinga. »Sie sind uns feindlich gesinnt.«

»Bist du sicher, daß es die Heusen sind?« fragte Tordo. Olinga nickte. »Ich erkenne Guravo und Dörövo. Es sind die

Heusen, und bei ihnen ist der Gnom, den sie als Gott vereh-ren.«

Die Schlitten hielten an, und etwa fünfzehn Jäger näherten sich ihnen. Die Heusen unterschieden sich äußerlich und auch in ihren Sitten und Gebräuchen kaum von den Cherebern. Nur ihr Glaube war anders.

Guravo, ein kräftiger, bärtiger Mann, hob die rechte Hand und ballte sie zur Faust, und die linke legte er auf sein Herz. Das bedeutete, daß er nicht in feindlicher Absicht kam.

Olinga starrte den drei Fuß hohen Gnomen an, über den sie schon einiges gehört hatte. Die Heusen hatten schaufelartige Werkzeuge bei sich.

»Das ist das Werk des Großen Albs«, sagte der Troll mit sei-ner nuschelnden Stimme und zeigte auf die Lawine.

Olinga schwieg. Sie glaubte dem Gnomen nicht, denn sie vermutete, daß er die Lawine ausgelöst habe.

Der Troll kümmerte sich nicht weiter um sie. Die Hunde wi-

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chen winselnd vor ihm zurück. Der kugelrunde Gnom stapfte auf und ab und blickte dabei forschend den Boden an. Schließ-lich blieb er stehen, und Dampfwolken stiegen auf. »Grabt hier!«

Drei der Jäger begannen zu graben, während der Troll wei-terging. Die anderen Jäger folgten ihm. Zweimal noch befahl er ihnen zu graben, dann kam der Gnom zu den Überlebenden zurück.

»Du bist Olinga«, sagte er und musterte die junge Frau. »Du warst Chwums Gehilfin.«

Olinga nickte zustimmend. »Du weißt, wer ich bin?« »Man nennt dich den Troll«, antwortete sie leise. »Den Schönen Troll«, verbesserte er sie. »Ich bin aber auch

unter dem Namen Nadomir bekannt.« »Der Kleine Nadomir!« rief Nottr aus und starrte den Zwerg

verblüfft an. »Dein Stamm ist vernichtet«, sprach der Gnom weiter, ohne

auf Nottrs Ausruf zu achten. »Ich biete euch die Hilfe der Heusen an. Sie werden euch aufnehmen, wenn ihr wollt.«

»Wir nehmen die Hilfe gern an, Nadomir.« Einer der Jäger stieß einen Schrei aus, und alle blickten zu

ihm hin. Sie zogen eine leblose Gestalt aus den Schneemassen. »Das ist Sadagar!« rief Selamy. »Er scheint aber tot zu sein.« »Er lebt«, sagte der Gnom bestimmt. »Bringt den Mann zum

Schlitten!« Sadagar war noch immer mit der Lederschnur verbunden.

Einer der Jäger durchschnitt sie und löste die Fesseln, dann hob er den schmächtigen Mann hoch und trug ihn zu den Schlitten.

Die Jäger fanden noch zwei weitere Überlebende, einen zehn Winter alten Knaben und einen alten Mann. Nur fünf des Stammes hatten das Unglück überlebt.

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Stöhnend öffnete Sadagar die Augen. »Du bist zäh, Alter.« Sadagar blickte in Nadomirs grinsendes Gesicht. »Du hast also doch meinen Hilferuf erhört«, flüsterte der

Steinmann. »Danke.« »Ich habe versprochen, daß ich dir helfen werde, und ich hal-

te meine Versprechen.« »Wo sind wir?« Sadagars Stimme war fast unhörbar. Er fühl-

te sich unendlich schwach, und jede Bewegung bereitete ihm Schmerzen.

»Bei den Heusen, das ist ein Stamm, der mich verehrt.« »Bin ich der einzige, der überlebt hat?« »Nein. Deine Freunde und fünf Chereber haben auch über-

lebt.« »Die anderen… sind alle tot?« »Ja, sie sind tot.« Sadagar schloß die Augen. »Furchtbar.« »Du warst zwei Tage bewußtlos, Sadagar. Du bist noch im-

mer krank. Schlaf weiter!« »Ich will alles ganz genau wissen«, hauchte er. »Ich muß mit

dir sprechen, Kleiner Nadomir.« »Das hat Zeit, Sadagar.« Der Gnom rutschte näher und berührte mit einer dünnen Ru-

te Sadagars Stirn, was diesen sofort einschlafen ließ. Als er wieder erwachte, war es hell im Zelt. Duprel Selamy

saß neben seinem Lager und grinste ihn an. »Ausgeschlafen, Sadagar?«

»Ich denke schon.« »Wie fühlst du dich?« Sadagar setzte sich auf und streckte sich, dann starrte er sei-

ne Handgelenke an. Die Haut war glatt, und keine Narben

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waren zu sehen. »Eigentlich fühle ich mich recht gut. Ein we-nig schwach noch. Und hungrig.«

»Da kann ich dir helfen.« Duprel stand auf und kam mit ei-nem Tablett zurück, das voll beladen mit Nahrungsmitteln war. »Greif zu!«

Das ließ sich Sadagar nicht zweimal sagen. Heißhungrig schlang er ein Stück Fleisch hinunter.

»Du hast fünf Tage geschlafen. Ich dachte, daß du tot bist, als dich die Heusen aus der Lawine gruben. Aber du bist ein har-ter Mann. Und du hattest recht, man darf nie die Hoffnung aufgeben, auch wenn die Lage noch so aussichtslos aussieht.«

»Wo steckt Nadomir?« »Er kommt heute abend zurück. Ich hatte dir die Geschichte

vom Kleinen Nadomir nicht geglaubt, entschuldige.« Sadagar nickte gnädig. »Wie geht es Nottr?« »Sein Geisteszustand scheint sich von Tag zu Tag zu bessern.

Gelegentlich beteiligt er sich sogar schon an einer Unterhal-tung.«

»Das ist erfreulich. Kenne ich jemanden der Überlebenden des Stammes?«

»Ja, Tordo und Olinga.« Vor Schreck verschluckte sich Sadagar und hustete gequält. »Keine Angst«, sagte Selamy lächelnd. »Olinga trachtet uns

nicht mehr nach dem Leben. Die Götter wollten, daß wir am Leben bleiben, und dagegen lehnt sich Olinga nicht auf.«

»Ist sie noch immer hinter Nottr her?« »Ja, aber er teilt das Lager nicht mir ihr.« »Sie wird es schon noch schaffen«, brummte Sadagar und aß

eifrig weiter. »Nadomir hat mir gesagt, daß wir uns bei den Heusen befin-

den. Was ist das für ein Stamm, Duprel?« »Sie sind den Cherebern ziemlich ähnlich. Wir befinden uns

in ihrem Winterlager, das in einem kleinen Seitental liegt. Es

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sind freundliche Leute, die den Kleinen Nadomir verehren. Mir gefällt es hier.«

»Hast du vielleicht die Absicht, dich hier niederzulassen?« Duprel zuckte die Schultern. »Vielleicht. Ich weiß es noch

nicht genau… Ich könnte sie die Metallverarbeitung lehren. Das wäre eine lohnende Aufgabe.«

»Hm«, brummte Sadagar und stellte das Tablett auf den Bo-den. »Ich möchte mich ein wenig umsehen. Wo sind meine Kleider?«

»Die Heusen haben dir neue Kleider gefertigt. Hier hast du sie.«

Der Steinmann schnaubte verächtlich, als er die Fellkleidung sah. Sehnsuchtsvoll dachte er an seine alte Kleidung, die aber in dieser unwirtlichen Gegend höchst unpassend gewesen wä-re. Langsam schlüpfte er in die Hosenkleidung. Die Fellseite war innen, die hohen Stiefel mit Moos gefüllt.

Sadagars Augen glänzten, als er seinen Gürtel mit den Wurfmessern sah. Liebevoll zog er ein paar Messer hervor und streichelte sie zärtlich. Dann, so plötzlich, daß das Auge kaum folgen konnte, schleuderte er drei Messer, die an Duprel vor-beizischten, der zur Seite sprang. Die drei Messer blieben in der Zeltstange stecken, so dicht nebeneinander, daß man nicht einmal den kleinen Finger dazwischen stecken konnte.

»Du bist ein wahrer Meister in der Kunst des Messerwer-fens«, sagte der Schmied tief beeindruckt.

Breit lächelnd zog Sadagar die Messer aus der Stange und schob sie in den Gürtel, den er sich umschnallte. »Es hat Jahre gedauert, bis ich so gut treffen konnte«, meinte Sadagar. »Laß uns nun gehen.«

Duprel schlug eines der Zeltfelle zur Seite. Sadagar blieb er-staunt stehen. Das Zelt stand in einer riesigen Höhle unweit des Eingangs.

»Wenn es noch kälter wird, zieht sich der ganze Stamm in

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solche Höhlen zurück, in denen sie die Zelte aufstellen. So sind sie viel besser vor der Kälte geschützt.«

Sie traten ins Freie. Ein Erdgrubenhaus lag neben dem ande-ren. Langsam blickte sich Sadagar um. Im Hintergrund waren die schneebedeckten Berge zu sehen, nahe den Häusern lag ein tief verschneiter Tannenwald. Der Himmel war strahlend blau, und es war eiskalt. Sofort stülpte er sich die Kapuze über den Kopf.

Die Kälte und der heftige Wind schienen die Heusen aber nicht zu stören.

Die beiden schritten an einer Gruppe Frauen vorbei, die im Freien arbeiteten. Sie bereiteten Felle für Kleidungszwecke vor. Mit Steinschabern lösten sie das verfaulende Fleisch von der Innenseite ab. Lächelnd blickten sie Sadagar an, und einige kicherten.

»Die Felle werden später dann über dem Feuer getrocknet und geräuchert«, erläuterte Duprel, »damit sie wasserdicht werden.«

Sadagar zuckte zusammen, als er Olinga erblickte, die in Be-gleitung zweier junger Frauen auf sie zukam.

»Keine Angst«, sagte Duprel lachend. »Sie tut dir nichts.« Olinga war so wie die anderen Frauen des Stammes geklei-

det: Kapuzenanzug, Stiefel und ein bestickter Umhang. Die Farbe, die sie sich zum Zeichen der Trauer über Chwums Tod ins Gesicht geschmiert hatte, war abgewaschen.

»Die Frauen in Olingas Begleitung sind Xogra und Aka-hara.«

Beide sahen Olinga ziemlich ähnlich, ihr Haar war dunkel und streng nach hinten frisiert und im Nacken mit einer Span-ge zusammengehalten. Beide waren aber etwas kleiner und zierlicher und jünger als Olinga.

Olinga blieb vor Sadagar stehen. »Es freut mich, daß du wie-der gesund bist, Adagar.«

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Sadagars Mund blieb vor Verblüffung offen. Mit so einer herzlichen Begrüßung hatte er nicht gerechnet.

Sie nickte ihm freundlich zu und gesellte sich zu den ande-ren Frauen.

»Nun, es ist so, wie ich es dir gesagt habe, Sadagar. Olinga ist nun eine Angehörige der Heusen geworden, und nur das zählt für sie. Chwum ist unter der Lawine begraben, und damit ist die Zeit der Trauer für sie vorüber.«

Sadagar nickte nachdenklich. Ihm waren die Sitten und Ge-bräuche dieser wilden Stämme unverständlich.

Auf einem großen Platz zwischen den Häusern spielten Kin-der. Halbwüchsige warfen mit Steinen und Speeren auf einen in der Mitte des Platzes aufgestellten Holzpfahl. Jeder gelun-gene Wurf wurde mit Beifallsrufen aufgenommen.

»Haben die Heusen einen Anführer?« »Sie gehorchen dem Troll. Er ist für sie wie ein Gott.« »Wo kann ich Nottr finden?« »Vermutlich hilft er den Männern bei der Waffenherstel-

lung.« Sie wanderten zwischen den Häusern hin und her, und

schließlich blieb Duprel vor einem langgestreckten Gebäude stehen. Fünf Männer saßen um ein hochloderndes Feuer und sahen auf, als sie eintraten.

»Nottr!« rief Sadagar erfreut. Der Barbar legte den großen Stein zur Seite, den er mit einem

Geweihstück bearbeitet hatte. »Nottr ist froh, daß du wieder in Ordnung bist, Sadagar. Alle fürchteten, daß du sterben wirst.«

Auch die anderen Männer standen auf und begrüßten Sada-gar freundlich. Die verwegen aussehenden Jäger, die alle Voll-bärte hatten, umringten Sadagar und stellten sich vor, doch der Steinmann hatte Mühe, sich die fremdartig klingenden Namen wie Dörövo, Guravo, Sekiz und Negen zu merken.

Nottrs Anblick erfreute Sadagars Herz. Es schien, als habe

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sich der Barbar endgültig von seinen Wunden erholt. Der dümmliche Ausdruck war aus seinen Augen verschwunden.

»Setzt euch!« sagte Sekiz. Alle nahmen Platz. Die Männer unterhielten sich lautstark

und sprachen so rasch, daß Sadagar nur Bruchteile der Unter-haltung mitbekam. Sie schienen sich alle irgendwelcher Hel-dentaten zu rühmen.

Nottr beteiligte sich nicht am Gespräch. Aufmerksam wid-mete er sich dem Feuersteinknollen. Mit einem Steinhammer schlug er kraftvoll auf den Knollen ein, bis einige Splitter ab-sprangen. Danach bearbeitete er den Steinblock mit einem Hammer aus Hirschgeweih. Schließlich setzte er ein Stanz-werkzeug an und schlug mit dem Hammer dünne Klingen ab, die später zu Messern oder Speerspitzen verarbeitet werden würden.

»Diese Klingen sind schärfer als Eisen«, sagte Duprel. »Trotzdem möchte ich ihnen gern die Kunst des Metallma-chens beibringen. Hier in den Bergen liegt überall Erz herum. Man braucht sich nur zu bücken und es aufzuheben.«

Sadagar begann sich zu langweilen. Ein paarmal hatte er versucht, ein Gespräch mit Nottr in Gang zu bringen, doch der Barbar hatte nur einsilbig geantwortet. Eine Zeitlang war es ja interessant gewesen, den Männern bei der Arbeit zuzusehen, doch die stickige Luft machte Sadagar zu schaffen und schlä-ferte ihn ein.

»Laß uns gehen, Duprel«, bat der Steinmann. Sie verabschiedeten sich von den Männern und traten ins

Freie. Die frische Luft tat Sadagar gut. Er atmete tief durch. Einige Frauen waren mit der Bereitung der Abendmahlzeit

beschäftigt. »Würde es dir nicht gefallen, hierzubleiben, Sadagar?« er-

kundigte sich der Schmied. Der Steinmann schüttelte den Kopf. »Nein, denn ich bin ein

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unruhiger Geist. Mein ganzes Leben lang war ich immer un-terwegs. Ich würde unglücklich sein, an so einem Platz gefan-gen zu sein. Dieses friedliche Leben wäre nichts für mich.«

»Mir gefällt es hier. Hier bedrängen mich keine ungeduldi-gen Kunden, die mich mit Sonderwünschen zur Verzweiflung bringen. Da gibt es keine Steuereintreiber, keinen Streit und keine Hast. Nicht einmal den Wein vermisse ich.«

»Dann bleib doch hier, Duprel.« »Ich werde es mir noch überlegen. Ich habe ja Zeit.« Kinder fütterten die Schlittenhunde mit Knochen und

Fleischstücken. Die Frauen brachten den Männern das Essen in die Häuser. Langsam wurde es dunkel.

Von irgendwoher war ein lauter Schrei zu hören, der sich rasch fortpflanzte.

»Einer der Wachtposten hat Nadomir gesehen«, sagte Duprel.

Männer und Frauen strömten ins Freie und blieben erwar-tungsvoll auf dem großen Platz stehen.

Dann war der Schlitten im dämmrigen Licht zu sehen. Ein prächtiges Gefährt, kunstvoll verziert und von zehn kräftigen Hunden gezogen. Der Fahrer war ein mächtiger Bursche. Sein Gesicht war bartlos und sein dunkles Haar zu einem Zopf ge-flochten. Sein Kapuzenanzug war mit fremdartigen Mustern bestickt.

Der Schlitten hielt an, und der Mann stieg ab und half Na-domir heraus.

»Die meisten von euch kennen Aravo«, sagte der Gnom mit durchdringender Stimme. »Er ist der kühnste Jäger der Gru-den, der als Abgesandter seines Stammes am Kampf gegen den Alb teilnehmen wird!«

Zustimmendes Gemurmel erhob sich. »Tod dem Alb!« schrie einer der Jäger, und die anderen

stimmten in den Ruf ein.

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Nadomir kam auf Sadagar zu. »Geh in dein Zelt, Sadagar! Ich muß mit dir sprechen.«

»Gut, ich werde auf dich warten.« Sadagar holte sich ein paar Stücke Fleisch und ein fladenartiges Brot. Dann ging er in sein Zelt. Er aß langsam und dachte angestrengt nach. Der Kleine Nadomir hatte offenbar die Absicht, gegen den Großen Alb zu kämpfen.

Es war schon dunkel, als der Gnom das Zelt betrat. Sadagar wollte aufstehen.

»Bleib sitzen, mein Freund.« Der Troll suchte einen bequemen Platz und musterte Sada-

gar eingehend. Dann nickte er zufrieden. »Du scheinst gesund zu sein, Sadagar«, stellte er schließlich fest. »Das ist gut so, denn ich brauche deine Hilfe.«

»Meine Hilfe?« wunderte sich der Steinmann. »Meine Geduld ist jetzt endgültig erschöpft. Bis jetzt habe ich

dem Treiben des Großen Albs eher gleichgültig zugesehen, aber nun hat er das Faß zum Überlaufen gebracht. Überall in der Bergwelt gab es Beben, und unzählige Lawinen gingen nieder. Es störte mich auch nicht sonderlich, daß er einige Stämme für seine dunklen Zwecke einsetzte. Dazu gehört der Bau der Straße der Götter, den ich zwar immer wieder gestört habe, aber nie so richtig wirksam, und das will ich nun tun. Du sollst mir bei meinem Kampf gegen den Großen Alb bei-stehen.«

»Ich bin ein alter Mann, Schöner Nadomir. Mein Arm ist schwach, ich kann mir nicht vorstellen, daß ich dir eine große Hilfe sein könnte.«

»Starke Arme habe ich genug«, brummelte der Kleine, »aber an Hirn fehlt es den Wilden. Deine Erfahrung gleicht deine körperliche Schwäche aus. Willst du mir helfen?«

Zögernd nickte Sadagar. »Ja, ich werde dir helfen. Aber ich würde gern mehr wissen. Wer bist du wirklich, Nadomir?«

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Der Gnom kicherte. »Ich bin ein Troll, das habe ich dir schon erzählt. Mein Volk lebt im ewigen Eis, wo es im Winter nicht hell wird und im Sommer die Sonne nicht untergeht. Wir ha-ben kein eigenes Reich errichtet, es liegt uns nicht, zu herr-schen. Uns hat der Lichtbote dazu bestimmt, den Menschen zu helfen. Wir sind eine alte Rasse, und ich bin auch sehr alt, wie alt, das weiß ich nicht mehr, und es ist auch nicht wichtig.«

»Wie bist du dann in die Karsh-Berge gekommen?« »Ich ging auf Wanderschaft, und auf dem Rückweg blieb ich

in den Götterbergen hängen. Mir gefallen die Gegend und die Menschen, die hier leben. Aber das ist nicht der eigentliche Grund, weshalb ich hierblieb. Ich entdeckte, daß hier ein Alb hauste, und deshalb ließ ich mich hier nieder.«

»Wer oder was ist ein Alb?« »Eine Frage, auf die ich schon lange gewartet habe, mein

Freund. Alben sind Riesen und die erklärten Feinde der Trol-le.«

»Was verstehst du unter Riesen?« »Sie sind menschenähnlich und werden bis zu dreißig Fuß

groß!« »Dreißig Fuß?« Der Kleine Nadomir nickte. »Ja, es sind scheußliche, gefühl-

lose Bestien, die den Dunklen Mächten dienen. Die Trolle und Alben sind Feinde, seit es die Welt gibt. Bis jetzt vermied ich jede direkte Auseinandersetzung mit dem Riesen, aber nun denke ich daran, ihn aufzusuchen und zu töten! Und du wirst mir dabei helfen!«

Der Gedanke, einem dreißig Fuß großen Burschen entgegen-zutreten, war alles andere als erbaulich für Sadagar. Ich Narr, da habe ich mich ja wieder einmal in ein schönes Abenteuer eingelas-sen.

»Der Große Alb läßt von den Seinen eine Straße bauen, die sich bereits weit in den Süden zieht. Bald schon, vielleicht in

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drei Generationen, wird die Straße die Gräberstätte der Riesen erreichen, und dann sollen nach der alten Legende die toten Riesen erwachen und die Welt vernichten. Das muß ich ver-hindern.«

»Aber das ist doch nur eine Sage, wie du selbst sagst.« »Eine Legende, die aber stimmen kann. Ich will mich ein

wenig im Gebiet des Albs umsehen und dann meine Entschei-dung treffen. Wir brechen morgen auf.«

»So bald schon«, flüsterte Sadagar. »Ich weiß nicht, ob ich schon kräftig genug…«

»Keine Angst, mein Lieber, du bekommst einen hübschen Schlitten zur Verfügung gestellt. Bis wir das Gebiet des Albs erreicht haben, bist du völlig gesund.«

Sie waren nun schon drei Tage lang unterwegs. Die Fahrt ging über die Straße der Götter, die aber nicht zu sehen war, da sie von einer fünf Fuß hohen Schneeschicht bedeckt war. Bis jetzt waren die zehn Schlitten rasch vorwärts gekommen. Über-nachtet hatten sie bei Stämmen, die den Kleinen Troll verehr-ten.

Sadagar hatte Nadomir gefragt, ob zwischen dem Titanen-pfad und der Elvenbrücke in Yortomen mit dieser Straße der Götter eine Verbindung bestehe, doch der Troll hatte darauf höchst ausweichend geantwortet. Vermutlich wußte er viel mehr, als er Sadagar gegenüber sagen wollte.

Die Stimmung war überaus gut. Das Wetter war prächtig, und an die Kälte hatte sich Sadagar bereits gewöhnt. Der Großteil der Jäger, die an der Fahrt teilnahmen, war vom Stamm der Heusen, doch es hatten sich auch junge, unterneh-mungslustige Männer anderer Stämme angeschlossen. Nottr, Duprel Selamy und Tordo waren mitgekommen, und auch Olinga hatte es sich nicht nehmen lassen, mitzufahren. Aber es

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waren auch fünf andere Frauen dabei, alle kräftig und ver-gnügt.

Sie näherten sich dem Ende der Straße. Dort würden dann die Schwierigkeiten beginnen, denn es war das Land, in dem der Große Alb über alle Menschen und Tiere herrschte. Die Jäger hatten von unheimlichen Bestien erzählt, die den Zugang zum Tunnel bewachten, der in die Totenstadt der Riesen führ-te. Aber weit gefährlicher waren vermutlich die dem Alb treu ergebenen Stämme, die viel grausamer und wilder waren als die Jäger aus dem Norden.

Bis jetzt war es nichts anderes als eine vergnügliche Spazier-fahrt gewesen, doch morgen mußten sie vorsichtig sein. Hinter jeder Talkrümmung, in jeder Felsspalte konnte eine Gefahr lauern. Hier gab es keine Stämme mehr, die ihnen helfen wür-den. Nun waren sie ganz auf sich gestellt.

Sadagar hatte in den vergangenen Tagen genügend Gele-genheit gehabt, sich mit dem Kleinen Nadomir anzufreunden. Immer wieder hatte er den Gnomen mit Fragen bestürmt, doch er hatte nur ausweichende Antworten erhalten. Schließ-lich hatte er es aufgegeben und die Ausfragerei eingestellt.

Meist saß der Zwerg bei ihm im Schlitten, so wie auch jetzt. Bekleidet war er mit einem dichten schwarzen Pelz, der seiner Gestalt eine Kugelform verlieh. Manchmal, wenn er nicht ge-stört werden wollte, stülpte er sich auch den Pelz über den Kopf. Dann sah er wie ein zusammengerollter Igel aus, so sta-chelig war der Pelz. Seine Hände vergrub er meist in einem Muff, der aus dem gleichen Material gefertigt war.

Nur einmal hatte Sadagar den Zwerg ohne Pelz gesehen. Er trug darunter einen enganliegenden Anzug, wie ihn Sadagar nie zuvor gesehen hatte. Das Material war dünn und glänzend und schmiegte sich wie eine zweite Haut an Beine und Leib des Gnomen. Das Oberteil war langärmelig mit einem runden Halsausschnitt. Um den Hals schlangen sich drei Goldreifen,

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in die fremdartige, unverständliche Zeichen und Symbole gra-viert waren.

Über die magischen Fähigkeiten des Trolls war sich Sadagar nicht klargeworden. Der Kleine hatte einige recht nützliche Gegenstände in seinem Muff verborgen, war jedoch bisher jeden Beweis für eine überwältigende Beherrschung der Magie schuldig geblieben. Aber das konnte sich ja noch ändern. Sa-dagar wollte jedenfalls den Kleinen genau beobachten, um vielleicht etwas Neues zu lernen.

Oft hatte er in den vergangenen Tagen an Mythor und die anderen Freunde gedacht. Er hatte auch nicht seine Verabre-dung mit dem jungen Krieger vergessen, aber so, wie es im Augenblick aussah, würde er sie nicht einhalten können.

Die Schatten wurden länger. Hoch über ihnen zogen ein paar schwarze Vögel ihre Kreise, die Sadagar entfernt an Krähen erinnerten. Geschöpfe, die sie im Auftrag des Albs beobachte-ten? Eine Frage, die ihm niemand beantworten konnte.

Er genoß die friedliche Stille und schob alle Gedanken weit von sich. Sie fuhren genau auf die unbezwingbaren Götterber-ge zu, die im Widerschein der untergehenden Sonne purpur flammten. Berge, die so gewaltig waren, daß er sich richtig bewußt wurde, wie klein und unwichtig er war, Berge, die seit der Erschaffung der Welt standen und die noch stehen wür-den, wenn die ganze Menschheit zu Staub zerfallen war.

»Giiii!« schrie einer der Jäger, und die Stimmung brach wie Glas.

Die Hunde bellten vergnügt und verlangsamten ihr Tempo. »Giiii!«

Sadagar stieg ab und bewegte die steifen Glieder. Ein sanfter Wind spielte mit seinem Haar. Er blickte zu Olinga und Nottr hinüber, die sich während der Fahrt nähergekommen waren. In ihren Augen war noch immer das Begehren, das von ihm nicht erwidert wurde.

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Nadomir blickte sich prüfend um. Dann nickte er langsam. »Das scheint ein guter Platz für ein Nachtlager zu sein«, mein-te er und sprang vom Schlitten. »Komm mit, Sadagar. Wir werden uns umsehen.«

Das Tal war an dieser Stelle etwa zweihundert Fuß breit. Es führte schnurgerade auf den höchsten Berg zu. Links und rechts ragten steile Felswände empor.

Immer wieder blieb der Gnom forschend stehen. Er musterte die schneebedeckten Felsen und suchte den Boden nach Spu-ren ab.

»Der Schnee ist ziemlich frisch. Er fiel vergangene Nacht«, sagte der Troll.

Nur selten entdeckten sie Spuren. Meist stammten sie von Vögeln und anderen kleineren Tieren. Das Tal wurde immer breiter, und dann lag eine riesige, zerklüftete Ebene vor ihnen, die sich in der Weite verlor. Dünne Rauchfäden stiegen in den dunkel werdenden Himmel.

»Dort leben die Stämme, die den Alb verehren«, sagte Na-domir. »Im Winter behauen sie die großen Steinblöcke, die sie dann im Sommer für den Straßenbau verwenden. Außerdem bewachen sie den Zugang zum Tal der Riesen.«

»Was hast du vor, Nadomir?« »Ich habe die Wilden oft beobachtet«, sprach dieser weiter,

ohne auf Sadagars Frage einzugehen. »Der Zugang zum Tal der Riesen ist ein Tunnel oder ein Schacht, der von ihnen be-wacht wird. Es ist der einzige Zugang zum Tal, in dem sich der Alb versteckt.«

»Warst du schon mal im Tal der Riesen?« »Nein. Ich habe mit einigen der Wilden gesprochen, doch

auch sie wissen nichts über das Tal. Keiner von ihnen war dort, denn der Alb hat ihnen verboten, es zu betreten.«

»Du weißt also nicht, was uns in diesem Tunnel und dem Tal erwartet?«

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»Richtig. Ich habe keine Ahnung. Laß uns zurückgehen.« Als sie zurückkamen, waren bereits die Zelte aufgestellt, und

ein halbes Dutzend Feuer brannten. »Ist es nicht gefährlich, die Feuer brennen zu lassen?« fragte

Sadagar. »Die Wilden werden uns entdecken.« »Sie haben uns bereits bemerkt. Wir müssen vorsichtig sein.

Diese Nacht werden wir Wachen aufstellen.« »Befürchtest du einen Überfall?« »Ich kann ihn nicht ausschließen.« Sadagar gesellte sich zu Duprel, Nottr und Olinga, die um

eines der Feuer saßen. Er ließ sich auf ein Fell nieder, und O-linga reichte ihm einen Becher dampfenden Tee, den er dank-bar annahm. Bedächtig trank er.

»Hast du irgendwann einmal den Großen Alb gesehen, O-linga?« erkundigte er sich.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, Chwum sah ihn einmal. Er hatte große Angst vor ihm.«

»Hat dir Chwum erzählt, wie der Alb aussieht?« »Er ist ein Riese. Mehr wollte mir Chwum nicht sagen.« »Stört es dich nicht, daß wir den Großen Alb zum Kampf

stellen wollen?« »Nein, denn jetzt gehöre ich zum Stamm der Heusen, und

wir betrachten den Großen Alb als unseren Feind.« So einfach ist das, sinnierte Sadagar und griff nach einem

Stück Dörrfleisch. Ihre religiösen Empfindungen waren an-scheinend nicht sehr stark ausgeprägt. Olinga trauerte auch nicht mehr um Chwum. Es war, als habe sie ihren früheren Stamm bereits vergessen.

Der Kleine Nadomir bestimmte einige Männer für die Wa-che, dann zog er sich in eines der Zelte zurück.

Sadagar unterhielt sich noch kurze Zeit mit Duprel, der sich noch immer nicht klargeworden war, ob er zurück nach Uga-lien gehen sollte. Zwar sehnte er sich nach seiner Arbeit in der

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Schmiede, doch auf der anderen Seite hatte er auch Ge-schmack am einfachen Leben der Wilden gefunden.

Schließlich ging auch Sadagar schlafen. Lautes Geschrei ließ ihn aufschrecken. Er sprang hoch und

lief aus dem Zelt. Es war noch dunkel. Während der Nacht hatte es geschneit, und noch immer fielen dichte Flocken.

Das Gekläff der Hunde wurde durchdringender. Vereinzelt waren Schreie zu hören. »Ein Wollmammut!« pflanzte sich der Schrei fort. Nun war auch das wütende Trompeten des riesi-gen Tieres zu vernehmen.

Sadagar hatte schon ein paarmal mit Mammuts zu tun ge-habt. Eigentlich waren es friedliche Tiere, Pflanzenfresser, die mit ihren langen Stoßzähnen die Schneekruste aufbrachen und so an die darunter liegende Nahrung gelangen konnten. Aber wenn sie gereizt wurden, gingen sie auch auf Menschen los. Der Rüssel, die Stoßzähne und die gewaltige Kraft des wuch-tigen Körpers konnten überaus gefährlich werden.

Blitzschnell entzündete er ein Feuer. Einige der Jäger ergrif-fen die flackernden Holzstücke und liefen in die Richtung, aus der das Geschrei kam. Sadagar schloß sich ihnen an.

Allmählich wurde es hell. Und dann erblickte er das Wollmammut. In seinen zottigen

Pelz hatten sich ein paar Hunde verbissen. Einige Jäger stießen mit den Speeren auf das Untier ein, das den Kopf senkte, sich herumdrehte und mit den Stoßzähnen seine Peiniger erwi-schen wollte. Der lange Rüssel bewegte sich ständig, erfaßte einen Hund und schleuderte ihn durch die Luft. Mehrere Jäger sprangen mit den brennenden Ästen auf das doppelt manns-hohe Tier zu und versuchten, es vom Lager fortzutreiben. A-ber unbeirrt stapfte es weiter, obzwar es aus unzähligen Wun-den blutete.

»Das Mammut soll uns nur ablenken!« schrie jemand. »Die Alb-Krieger greifen…« Gurgelnd brach der Schrei ab.

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Kleine, dunkle Gestalten liefen auf sie zu, die mit Lanzen und Steinäxten bewaffnet waren. Ein Speer raste heran und bohrte sich dem neben Sadagar stehenden Jäger in die Brust. Die Angreifer stießen durchdringende Kampfschreie aus. Jetzt war es bereits hell genug, daß man die Feinde besser sehen konnte.

Sadagar riß ein Wurfmesser aus dem Gürtel. Dann schleu-derte er es, und er traf gut, denn einer der Angreifer riß die Arme hoch und stürzte tödlich getroffen zu Boden.

Das Wollmammut trompetete wütend und tobte im Lager herum. Es zertrampelte einige der Schlitten und zerfetzte die Zelte. Doch seine Bewegungen wurden immer schwächer. Endlich brach es zusammen und zerdrückte zwei weitere Schlitten.

Sadagar hatte keine Zeit, sich um das sterbende Mammut zu kümmern. Seine ganze Aufmerksamkeit galt den tollkühn heranstürmenden Alb-Kriegern.

Bei den Wilden gab es keine Taktik, keine Strategie. Alles war viel primitiver. Jeder gegen jeden. Und wie Sadagar bald feststellte, waren die Angreifer in der Überzahl.

Ein finster blickender Mann stürmte auf Sadagar zu. Dro-hend schwang er die blutverschmierte Axt. Ein gut gezieltes Messer riß den Krieger in den Schnee.

Sadagar zog sich ein paar Schritte zurück. Er hatte schon vie-le Kämpfe miterlebt, und daher merkte er bald, daß die An-hänger des Kleinen Nadomir die viel geschickteren Kämpfer waren.

Zu seiner größten Überraschung beteiligte sich auch Nottr am Kampf. Er war weiter auf dem Weg der Besserung. Er stieß grimmige Schreie aus und schwang sein Krummschwert wie in alten Tagen. Neben ihm stemmten sich Tordo und Olinga den Angreifern entgegen. Die Reihen der Alb-Krieger lichteten sich immer mehr. Ihre blindwütig vorgetragenen Angriffe wa-

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ren leicht abzuwehren. Sadagar griff nur noch einmal ein, als er bemerkte, daß Tor-

do in Bedrängnis kam, da er von zwei Kriegern angegriffen wurde. Ein Messerwurf, und die Sache war erledigt.

Es dauerte nicht lange, und die Angreifer zogen sich zurück. Ihre Verwundeten und Toten nahmen sie mit. Nottr wollte sie verfolgen, doch der Kleine Nadomir hielt ihn zurück. »Es wurde genug Blut vergossen«, sagte der Gnom.

Die Alb-Krieger hatten ihr Ziel teilweise erreicht. Das Lager war fast völlig zerstört. Von den zehn Schlitten waren nur mehr drei verwendbar. Mehr als die Hälfte der Hunde war tot oder so schwer verletzt, daß sie sterben mußten.

Bei dem Angriff waren drei Männer und eine Frau getötet worden. Zehn hatten böse Verletzungen erlitten, und die an-deren waren mit unwesentlichen Verwundungen davonge-kommen.

Sadagar und Olinga kümmerten sich um die Verletzten, während der Kleine Nadomir und die unverletzten Jäger das Lager zusammenräumten und die Gegenstände bargen, die noch zu verwenden waren.

»Die Schwerverletzten werden zurück zum Winterlager ge-bracht«, sagte der Kleine Nadomir. »Das werden die leichter Verletzten besorgen.« Niemand widersprach.

Einige der Jäger begannen das Mammut geschickt zu zerle-gen. Sein Fleisch stellte eine willkommene Abwechslung dar. Kurze Zeit später durchzogen die ersten Bratendüfte das zer-störte Lager. Die Verwundeten wurden auf die Schlitten gebet-tet. Dann brachen sie auf, zurück zum Winterlager der Heu-sen.

Sadagar blickte über das Häufchen derjenigen, die weiterhin den Kampf gegen den Alb aufnehmen wollten. Außer seinen beiden Freunden und dem Kleinen Nadomir waren noch Tor-do und Olinga und sechs vom Stamm der Heusen dabei. Ins-

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gesamt also nur zwölf Personen. Sie stapften im Gänsemarsch durch den immer tiefer wer-

denden Schnee. Das Gelände wurde hügeliger. Der Schneefall verstärkte sich, und kräftiger Wind kam auf. Aber trotz der widrigen Umstände kamen sie rasch vorwärts.

Einmal sahen sie in der Ferne ein paar Alb-Krieger, die grimmig zu ihnen herüberstarrten, sich aber nicht näherten. Nun waren auch häufiger die großen Steinbrocken zu sehen, die von den Alb-Anhängern für den Straßenbau verwendet wurden. Aber keiner der feindlichen Krieger ließ sich mehr blicken.

Sadagar fühlte sich immer unbehaglicher, je mehr sie sich dem mächtigen Berg näherten, der ihnen den Weg zum Tal der Riesen versperrte. Eigentlich erwartete er jeden Augen-blick einen Überfall der Alb-Krieger, der aber zu seiner größ-ten Überraschung ausblieb. Die ganze Landschaft schien ihnen allein zu gehören. Nur das Säuseln des Windes begleitete sie.

In einer der eisbedeckten Felswände klaffte eine dunkle Öff-nung: der Eingang zum Tunnel.

Plötzlich war wieder die Angst da, die Sadagar die ganze Zeit verdrängt hatte. Nur zu deutlich erinnerte er sich an seine Furcht, die er vor ein paar Tagen empfunden hatte, als sie mit den Cherebern den kurzen Tunnel durchquert hatten. Vergeb-lich versuchte er, seine angespannten Sinne zu beruhigen.

Er seufzte tief auf, als sie vor einer etwa zweihundert Fuß hohen Steilwand stehenblieben. Klettern war noch nie seine Stärke gewesen.

Sie kamen nur langsam vorwärts. In den Ritzen lag der Schnee, und jeder Schritt mußte genau geprüft werden. Sada-gar begann zu keuchen. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, ehe er endlich die Steilwand überwunden hatte.

Der Himmel wurde zusehends dunkler. Die großen Schnee-flocken fielen gleichmäßig. Vor ihnen lag nun ein sanft anstei-

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gendes Schneefeld. Immer wieder hob Sadagar hoffnungsvoll den Kopf, doch

die Tunnelöffnung war nicht zu sehen. Und wieder mußten sie eine Steilwand emporklettern. Die Kälte kroch durch ihre Kleider, und die Finger wurden steif. Aber sie schafften den Aufstieg und blieben ermattet vor der Höhle stehen.

Sie hielten ihre Waffen bereit, doch auch hier ließen sich kei-ne Alb-Krieger blicken.

»Sollen wir hier übernachten?« fragte Tordo. »Nein«, antwortete der Kleine Nadomir. »Wir legen nur eine

kurze Rast ein, dann gehen wir weiter.« Erleichtert setzte sich Sadagar nieder. Er sah sich nach Na-

domir um, doch der Gnom war plötzlich verschwunden. Kur-ze Zeit später tauchte er breit grinsend aus der Höhle auf. »Weit und breit sind keine Alb-Krieger zu sehen«, sagte er zu-frieden.

Der Tunnel führte schnurgerade in den Berg hinein. Die Wän-de waren grau und glatt. Von der Decke ging ein fahles Leuch-ten aus, das hell genug war, um den Gang zu erleuchten. Sie brauchten die mitgebrachten Fackeln nicht zu entzünden.

Der Tunnel mußte in jahrhundertelanger Arbeit vollendet worden sein. Die Luft war frisch und der Boden feucht. Dann versperrten ihnen Stufen den Weg, die nicht für normale Men-schen ins Gestein gehauen waren. Sie waren etwa fünf Fuß hoch und glattpoliert.

»Das schaffen wir nie«, flüsterte Sadagar. Die Stufen schienen in die Unendlichkeit zu führen. »Keine Angst, Adagar«, sagte Olinga. »Ich werde dir helfen.« Fast spielerisch leicht schwang sie sich hinauf und reichte

Sadagar die rechte Hand, der sie ergriff und von ihr hochge-zogen wurde. Auch der Kleine Nadomir und Duprel Selamy

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brauchten Hilfe. Die anderen kamen besser zurecht. Trotzdem war es ein mühsamer und ziemlich kräfteraubender Aufstieg.

Nach fünfzig Stufen zeigten alle die ersten Ermüdungser-scheinungen, und sie legten eine Rast ein.

»Diese Stufen sind mir unheimlich«, flüsterte Sadagar. »Der ganze Schacht scheint kein Menschenwerk zu sein. Ihn müssen Riesen erbaut haben.«

»Du irrst«, sagte Nadomir. »Es ist Menschenwerk. Viele Jahrhunderte arbeiteten Menschen daran.«

Sadagar war davon nicht überzeugt, denn ihm kam es un-wahrscheinlich vor, daß die Wilden mit ihren einfachen Werk-zeugen eine so gewaltige Leistung vollbringen konnten.

Sie stiegen höher. Die Stufen wirkten nun irgendwie unfer-tig. Sie waren nicht mehr glattpoliert. Und dann erreichten sie plötzlich eine riesige Höhle. Auch hier strömte mattes Licht von der wild zerfurchten Decke auf sie nieder. Sechs hohe Gänge waren zu sehen.

Nadomir untersuchte den Boden, betrat die Gänge der Reihe nach und entschied sich dann für den linken. »Dies müßte der richtige Gang sein«, meinte er.

Gelegentlich kamen sie an Nischen vorbei, in denen Men-schenknochen und Totenschädel aufgestapelt waren. Der Bo-den war uneben, mit großen Steinen übersät und an einigen Stellen voller tiefer Löcher.

Plötzlich schimmerte Tageslicht in den Schacht herein. Sie gingen schneller, verließen den Tunnel und blieben überrascht stehen. Vor ihnen lag ein endlos tiefer Abgrund. In die rechts liegende Felswand war ein schmaler Pfad gehauen, der auf ein dunkles Loch zuführte. Sadagar wurde schwindelig, als er in die schwarze Schlucht blickte.

Ein Stein löste sich aus der Felswand, schlug auf dem Pfad auf und fiel in die Tiefe. Sein Aufschlag am Boden war nicht zu hören.

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Vorsichtig betraten sie den Pfad. Sadagar wagte nicht in die Tiefe zu blicken. Er drückte sich an die Felswand und hielt sich an vorstehenden Steinen fest. Als er etwa fünfzig Schritte getan hatte, lösten sich wieder ein paar Steine aus der Wand und rissen größere Brocken mit, die auf den Pfad stürzten.

Einer der Heusen versuchte dem Steinschlag auszuweichen, stieß dabei an den vor ihm gehenden Guravo an, klammerte sich an ihm fest, und beide verloren das Gleichgewicht und wurden mit der Steinlawine in die Tiefe gerissen. Ihre Schreie hallten von den Wänden wider, wurden leiser und verstumm-ten dann.

Sadagars Knie schlotterten. Er wischte sich den Angst-schweiß von der Stirn.

»Weiter, geht weiter!« schrie der Kleine Nadomir. Alle waren bleich, als sie den Tunneleingang erreichten.

Schaudernd warfen sie entsetzte Blicke in den Abgrund. Der Tod der beiden Jäger hatte sie erschüttert, und jeder dachte wohl, daß es auch ihn hätte erwischen können.

Schweigend betraten sie den Gang. Auch hier glühte die De-cke in geheimnisvollem Licht. Der Gang war hoch, aber ziem-lich schmal.

Der als erster gehende Aravo stieß einen Warnschrei aus. Ein riesiges, fledermausartiges Geschöpf schoß auf ihn zu und verkrallte sich in seinem Gesicht. Dzurgo kam ihm zu Hilfe und erschlug das Biest mit seiner Axt.

Aber diese Bestie war nur die Vorhut gewesen. Der Tunnel wurde schwarz von den fledermausartigen Wesen, die ein durchdringendes Pfeifen ausstießen.

»Stellt euch nebeneinander!« schrie der Kleine Nadomir. »Versucht, sie mit den Lanzen aufzuhalten!«

Tordo, Xogra und Aravo stellten sich nebeneinander auf und richteten die Lanzen auf die heranfliegenden Monstren. Sie stießen nach ihnen, konnten aber nicht alle Fledermäuse auf-

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halten. Einige flogen so tief, daß sie zwischen den Beinen der Jäger hindurchschossen.

Doch da wartete Nottr mit seinem Krummschwert auf sie. Seine Hiebe waren so rasch, daß das Auge kaum folgen konn-te. Aber auch er konnte nicht alle der ihn umflatternden Tiere erledigen. Einige stürzten sich auf den Kleinen Nadomir, dem Duprel und Olinga zu Hilfe kamen.

Drei Fledermäuse hatten sich auf Dzurgo gestürzt und ver-krallten sich in seinem Haar und in seinem Gesicht. Akagara konnte zwei der Tiere mit ihrer Axt töten, doch das dritte ver-biß sich in Dzurgos Kehle, erwischte die Schlagader und trank gierig das Blut. Der Jäger ging in die Knie, stieß einen un-menschlichen Schrei aus, riß sich das Vampirwesen ab und zerquetschte es mit seinen Händen.

Sadagar traf eine der Fledermäuse im Flug mit einem Messer und spießte sie auf. Eine zweite setzte sich in seinem Haar fest und hackte mit den spitzen Zähnen auf ihn ein. Blut spritzte aus seiner Stirn und verklebte seine Augen. Verzweifelt ergriff er einen der flatternden Flügel und versuchte es aus seinem Haar zu reißen. Die Bestie ließ sich davon nicht stören und bearbeitete ihn weiterhin. Nun endlich erwischte er den Kopf des Tieres. Er drehte ihm den Hals um und schleuderte es an-gewidert zu Boden.

Überall lagen nun tote und noch zuckende Vampirgeschöpfe herum. Der Ansturm war abgewehrt worden. Doch sie hatten einen weiteren Toten zu beklagen: Dzurgo. Und alle waren verletzt und bluteten aus unzähligen Wunden.

Nottr und Tordo töteten die verwundeten Fledermäuse, dann blieben sie keuchend stehen. Von den toten Tieren ein eklig faulender Geruch aus, der sie rasch weitergehen ließ. Als sie eine Seitenhöhle erreichten, legten sie eine Rast ein.

Olinga und Sadagar behandelten die Verletzungen, die bei einigen ziemlich schwer waren. Die Stimmung war sehr ge-

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drückt; auch als der Kleine Nadomir ein paar aufmunternde Worte sprach, änderte sich nichts daran. Alle waren niederge-schlagen und schweigsam. Sie waren müde, doch niemand dachte an Schlaf. Alle wollten den Tunnel möglichst rasch ver-lassen. Kurze Zeit später brachen sie auf.

Der Tunnel schien endlos zu sein. Die Luft wurde stickiger, doch es wurde wärmer. Irgendwo rauschte Wasser.

Schließlich wurde die Luft besser und das Wasserrauschen immer lauter. Und plötzlich standen sie im Freien!

Es war eine Sternenlose Nacht, die sich wie ein Tuch über die Landschaft breitete und alles verschluckte. Sie konnten nichts sehen. Doch es war unwahrscheinlich warm, und die Luft war vom Rauschen unzähliger Wasserfälle erfüllt.

»Kannst du etwas erkennen, Nadomir?« fragte Sadagar. »Leider nein. Wir übernachten hier. Es ist sinnlos, bei dieser

Finsternis weiterzugehen.« Völlig erschöpft ließen sich alle auf den harten Boden fallen

und hüllten sich in Felle. Tordo reichte einen Wasserschlauch herum.

Sadagar trank einen Schluck und aß etwas Dörrobst, dann schloß er die Augen und versuchte zu schlafen.

Es war noch finster, als sie aufstanden. In das Wasserrauschen mischte sich auch gelegentlich ein durchdringendes Zischen. Es roch nach Schwefel.

Langsam wurde es hell. Sie standen auf einem mit Felsbrocken und versteinerten

Bäumen und Ästen übersäten Hang. Zur Rechten schoß ein Bach aus einer Felsöffnung und stürzte über Klippen ins Tal hinunter. Vor ihnen lag ein riesiger Talkessel. Im Hintergrund waren die Felskuppen und zerklüfteten Zinnen der Berge zu sehen. Und überall sprudelten heiße Bodenquellen, deren

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dampfendes Wasser durch ein Netz von künstlich angelegten Kanälen floß. Von Zeit zu Zeit stiegen dünne Dampfwolken aus kraterähnlichen Hügeln. Gurgelnd schoß das Wasser aus einem größeren Krater hervor, dann war ein lautes Zischen zu vernehmen, und eine riesige Dampfsäule, vermischt mit Was-ser, stieg hoch. Immer mehr kochendes Wasser spritzte hervor, und die Fontäne stieg höher in die Luft.

»So etwas habe ich noch nie gesehen«, flüsterte Sadagar be-eindruckt.

Felsen aus schwarzem Gestein schimmerten in der Morgen-sonne. Bizarr geformte, rotglühende Felsnadeln stießen in den Himmel. Es war ein verwirrender Anblick, Steilhänge, abge-flachte Kegel und spitze Säulen und alle in den verschiedens-ten Farben schimmernd: rot, violett, rosa, orange und braun.

Alle waren sprachlos. Lange standen sie stumm da und blickten über die fremdartige Landschaft.

»Das Tal der Riesen«, hauchte Olinga, die neben Sadagar stand.

»Es dürfte schwierig sein, hier den Großen Alb zu finden«, brummte Duprel Selamy.

Der Kleine Nadomir blickte sich aufmerksam um. Gelegent-lich stieß er knurrende Laute aus. »Seht ihr den Weg hier?« fragte er schließlich und trat ein paar Schritte zur Seite. »Die-ser Pfad wird uns zum Alb führen!«

Der Abstieg war ziemlich steil. »Zuerst werden wir uns aber stärken«, sprach der Kleine

Nadomir weiter. »Olinga und Sadagar sollen sich die Verlet-zungen ansehen.«

Sadagars Stirnwunde schmerzte nur leicht, doch die rechte Hand konnte er kaum bewegen. Die anderen waren auch nicht besser dran. Trotz der Heilkräuter brannten die Wunden und waren entzündet.

Tordo holte frisches Wasser vom Bach. Sie setzten sich nieder

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und tranken und aßen. Es wurde unerträglich warm, und sie legten Teile ihrer Pelzkleidung ab.

Im ganzen Tal zischte und dampfte es ununterbrochen. Tau-sende heißer Quellen und Schlammlöcher brodelten. Das gan-ze Gebiet mußte ein Labyrinth aus unterirdischen Wasserlei-tungen sein. Aus all den unzähligen Rissen und Spalten stie-gen Dampfwolken hoch. Es war ein beunruhigendes Schau-spiel.

Zögernd machten sie sich an den Abstieg. Der Pfad war feucht und führte steil in die Tiefe. Sie kamen nur langsam vorwärts. Immer wieder überschütteten sie heiße Wassertrop-fen. Dann ging es eine etwa zweihundert Fuß hohe Klippe hinunter, und danach wurde der Pfad leichter begehbar. Aber auch hier schoß aus allen Spalten das kochende Wasser her-vor.

»Diese Gegend gefällt mir gar nicht«, brummte Duprel. »Ich war ein Narr, daß ich mitgekommen bin. Wie schön wäre es jetzt in Ugalos.«

»Vielleicht steht die Stadt nicht mehr«, meinte Sadagar, der neben dem Schmied ging. »Die Caer werden die Stadt verwüs-tet haben.«

»Du glaubst also, daß sie gesiegt haben?« »Ich befürchte es, Duprel.« »Hoffentlich irrst du dich.« Sadagar dachte wieder an seine Verabredung mit Mythor

beim Koloß von Tillorn. Aber wie es im Augenblick aussah, würde er sie nicht einhalten können.

Je tiefer sie ins Tal hinabstiegen, um so heißer wurde es. Für die Wilden war diese Hitze völlig ungewohnt und beängsti-gend. Immer wieder blieben sie stehen und legten Kleidungs-stücke ab. Sogar der Kleine Nadomir war aus seinem Pelz ge-schlüpft. Ihm machten die Hitze und die hohe Luftfeuchtigkeit am meisten zu schaffen, denn er war an eisige Temperaturen

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gewöhnt. Olinga blickte Nottr gebannt an, als er seine Kleidung ableg-

te und die Narben auf seinem Rücken zu sehen waren, wo man ihm das mit seinem Fleisch verwachsene Bärenfell abge-zogen hatte. Und sie stieß einen leisen Schrei aus, als sie das kreisrunde weiße Bärenfell über seinem Herzen sah. Ihre Ver-wunderung wuchs noch mehr, als er auch seine Beinkleider auszog und die gelben, schwarz getüpfelten Beine zum Vor-schein kamen.

Nottr wandte sich ihr breit grinsend zu. Olinga trat einen Schritt näher und strich mit der rechten Hand sanft über seine Schultern und dann über das Herzfell.

Sadagar freute sich, als er das Aufblitzen in Nottrs Augen bemerkte. Der Lorvaner hatte in den vergangenen Tagen im-mer mehr zu sich selbst gefunden. Er wirkte noch immer leicht beschränkt, doch die Zuneigung der Karsh-Frau tat ihm wohl. Ganz offensichtlich begann er sich für Olinga zu interessieren, und ihre Bewunderung behagte ihm. Auch die junge Frau war aus den Kleidern geschlüpft und nur mehr mit einem schma-len Lendenschurz bekleidet. Ihr halbnackter Körper mit den schweren Brüsten weckte in Nottr lange zurückgedrängte Be-gierden. »Du bist schön, Olinga«, sagte Nottr mit rauher Stimme und zog die junge Frau an sich.

»Hört sofort damit auf!« schaltete sich Nadomir wütend ein. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Liebesspiele.«

Zögernd ließ Nottr sie los, doch ihre leuchtenden Augen ver-sprachen ihm alles.

»Sieh dich einmal genau um, Sadagar, und sag mir, ob dir etwas auffällt.«

Der Steinmann gehorchte. Überall flossen Bäche das Tal her-unter, scheinbar sinnlos und verwirrend, doch nach kurzer Zeit dachte er anders. Es steckte doch ein System dahinter. Alle Kanäle wurden auf eine schroffe Felswand zugeleitet, in

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der sich unzählige Öffnungen befanden, durch die das damp-fende Wasser in den Berg strömte.

»Diese rotbraune Felswand vor uns«, sagte Sadagar. »Es sieht so aus, als würde das Wasser dort hingeleitet.«

»Du hast gut beobachtet«, lobte ihn der Gnom. »Das ist auch meine Vermutung. Wir werden uns diese Felswand näher an-sehen.«

Sie durchschritten einen Wald, der aus fremdartig aussehen-den Bäumen bestand, wie sie keiner je zuvor gesehen hatte. Es roch faulig, und der Boden war mit roten und gelben Blättern bedeckt. Die Bäume waren hoch, und überall hingen zwischen den Stämmen die Ranken der Lianen herunter. Immer tropfte es von den Bäumen, die Luft war mit Feuchtigkeit geschwän-gert, die einem den Atem raubte. Faustgroße Falter flogen herum, und im Laub raschelte es.

Nottr ging voran. Manchmal mußte er mit seinem Krumm-schwert einige Lianen und andere Kletterpflanzen abschlagen. Auf den Bäumen wuchsen farbenfrohe Blumen, die einen süß-lichen Geruch verströmten. Die Luft war vom Surren unzähli-ger Insekten erfüllt.

Xogra stieß einen gellenden Schrei aus, als sich aus dem Ge-äst eine armdicke, etwa zehn Fuß lange Schlange auf sie fallen ließ und sich blitzschnell um ihren Körper wand.

Nottr wirbelte herum. Mit einem gewaltigen Hieb schlug er der Schlange den Kopf ab. Das Tier krampfte sich noch im Tod zusammen und erdrückte die Frau fast. Aravo und Tordo ka-men ihr zu Hilfe.

»Danke«, keuchte Xogra und rieb sich den schmerzenden Hals. Schaudernd blickte sie den noch immer zuckenden Kör-per des Reptils an.

Der dschungelartige Wald ging in einen Sumpf über. Der Boden war weich und trügerisch.

»Da kommen wir nicht weiter«, sagte Tordo.

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Ein stiller Wasserlauf versperrte ihnen den Weg. Blasen stie-gen zur Oberfläche und zerplatzten. Luftwurzeln ragten aus dem Wasser, Flechten hingen wie riesige Bärte von Ästen und Stämmen der bizarr geformten Sumpfbäume.

»Seht, da!« rief Akagara und zeigte auf das Wasser hinaus. Eine lange Schnauze ragte heraus, und zwei grün schillernde Augen blickten tückisch die Eindringlinge an.

»Das ist ein Krokodil«, sagte Sadagar. In diesem Augenblick riß das Biest das gewaltige Maul auf

und entblößte die messerscharfen Zähne. Die Jäger wichen angstvoll zurück. Dieses Sumpfgebiet ließ sie ängstlich wer-den. Es war eine Welt, die ihnen völlig fremd war.

»Laßt uns umkehren«, flüsterte Aravo. »Das kommt nicht in Frage«, sagte Nadomir heftig. »Wir

werden einen Weg aus dem Sumpf finden.« Sie wandten sich nach links und gingen den Tümpel entlang.

Immer wieder blockierten ihnen Bäume mit dichten Ranken den Weg.

Sadagar war schon öfters in einer ähnlichen Landschaft ge-wesen. Aber Sumpfgebieten hatte er nie etwas abgewinnen können. »Paßt auf den Boden auf«, sagte er. »In solchen Land-schaften gibt es Unmengen von Schlangen und Spinnen, deren Biß tödlich ist.«

Diese Warnung trug ihm von Nadomir einen bösen Blick ein, und sie ließ die Karsh-Jäger noch furchtsamer werden. Schlan-gen kamen in den Götterbergen nur äußerst selten vor, und alle hatten eine instinktive Angst vor ihnen.

Sie wateten am Tümpel vorbei, und der Boden wurde etwas fester. Aber dichte Büsche hinderten sie am raschen Vorwärts-kommen.

»Vorsicht, Nottr!« schrie Sadagar, der hinter dem Barbaren ging.

Nottr blieb stehen. Er entdeckte das Spinnennetz, und dann

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erblickte er die Raubspinne, die groß wie ein Säuglingskopf war. Mit dem Schwert zerriß er das Netz, und die Spinne lief wütend auf ihn zu. Er spießte sie mit der Schwertspitze auf, und eine gelbe, stinkende Flüssigkeit floß aus dem zuckenden Leib hervor. Der Barbar schleuderte das tote Tier weit von sich, dann stapfte er ruhig weiter. Er schien der einzige zu sein, der keine Angst hatte.

Insekten verfolgten sie, die sich summend auf sie stürzten und gierig ihr Blut saugten. Innerhalb kurzer Zeit waren ihre Gesichter verschwollen.

Wieder verlegte ihnen ein Wasserarm den Weg, den sie mühsam umrunden mußten. Sie entfernten sich immer mehr von der Felswand, zu der sie gelangen wollten. Der Boden war nun so weich, daß sie oft bis zu den Knien im Schlamm ver-sanken.

Nun führten Tordo und Aravo die Gruppe an. Sie prüften jeden Schritt ganz vorsichtig. Mit den Lanzen stießen sie in den Boden, und erst wenn sie Grund unter den unsicher tas-tenden Füßen spürten, schritten sie weiter. Aber auch das bot keine vollständige Sicherheit. Einmal versank Tordo bis zum Hals im Wasser, und Nottr und Aravo zogen ihn heraus.

Alle atmeten erleichtert auf, als der Boden hart wurde. Nun war wieder die Felswand zu sehen. Der Boden wurde steinig. Nur gelegentlich mußten sie einen Umweg machen, wenn ih-nen ein glucksendes Schlammloch den Weg versperrte. Manchmal schoß vor ihnen eine Dampfwolke hoch, und ko-chendes Wasser sprühte über sie.

Im Schutz einiger großer Steine sanken sie einfach stöhnend und keuchend nieder. Sie waren alle fürchterlich gezeichnet. Die Gesichter waren aufgedunsen, und die Leiber und Glieder mit unzähligen Stichwunden bedeckt.

Sadagar kroch zu einem Schlammloch und steckte seine Hände hinein. Dann wälzte er sich auf die Seite und strich sich

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Schlamm auf Gesicht und Körper. Der Schlamm brachte den beißenden Juckreiz der Wunden zum Schwinden.

»Kommt her!« krächzte Sadagar und setzte sich auf. Müde schleppten sie sich heran. »Der Schlamm kühlt die Wunden.«

Die Jäger legten die wenigen Kleidungsstücke ab, die sie noch trugen, warfen sich einfach in das Schlammloch und wälzten sich darin.

»Das war eine gute Idee, Adagar«, sagte Olinga. Ihr ganzer Körper, das Gesicht und das Haar waren mit einer dicken Schlammschicht bedeckt. »Der Schlamm hält uns die Insekten vom Leib.«

Der Kleine Nadomir beschmierte nur Hände und Gesicht mit dem Schlamm.

Sadagar ließ sich auch in das Loch fallen und schloß die Au-gen. Vor Jahren hatte er heilende Moorbäder genommen, und dieser braune Schlamm hatte eine ähnliche Wirkung.

Sie kehrten zu den Steinen zurück. Alle, mit Ausnahme Na-domirs, sahen wie Tonfiguren aus. Der Schlamm trocknete rasch und bildete eine gute Schutzschicht. Nun hatte sich auch die Stimmung gebessert. Einige machten sich über den An-blick lustig, den sie boten. Der Wasserschlauch wurde herum-gereicht, und langsam stellte sich auch der Hunger ein. Fleischstückchen wurden gekaut und harte Brotfladen herum-gereicht.

Der Kleine Nadomir kletterte einen Felsen hoch, legte sich auf den Bauch und starrte zur Höhle hinüber, die etwa hun-dert Fuß entfernt war.

»Der Alb!« keuchte er plötzlich. »Ich sehe den Riesen!« Sadagar und Nottr sprangen auf. »Bleibt sitzen!« Doch Nottr und Sadagar hörten nicht auf ihn. Neugierig lug-

ten sie hinter den Steinen hervor. Sadagar hielt den Atem an, als er den Riesen erblickte, der gemächlich auf die Höhle zu-

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schlenderte. Er hatte sich den Riesen immer wie einen übergroßen Men-

schen vorgestellt, doch da hatte er sich gründlich geirrt. Der Große Alb war ein tierhaftes Zwittergeschöpf, das etwa zwan-zig Fuß hoch war, also etwa viermal so groß wie Sadagar selbst. Der Kopf des Riesen erinnerte ein wenig an einen Mammutschädel mit dem kurzen Rüssel und den nach oben gebogenen Stoßzähnen, die aus einem froschartigen Maul rag-ten. Die Augen lagen eng nebeneinander und leuchteten glut-rot. An Stelle der Ohren waren zwei schneckenhausartige Ge-bilde zu sehen. Der Oberkörper, die stämmigen Beine und die Arme schienen menschlich zu sein, jedoch war der Oberkörper mit weißem Pelz bedeckt. Der Riese verschwand in der Höhle, und Sadagar atmete schnaubend aus.

Nadomir glitt vom Steinbrocken herunter. »Wir werden uns hinschleichen und vor der Höhle auf ihn warten. Es liegen ge-nügend große Steine dort herum, hinter denen wir uns verste-cken können«, flüsterte er heiser.

»Und was machen wir dann?« fragte Xogra. »Wir warten, bis er herauskommt, und greifen ihn an.« »So einfach wird das nicht sein, Schöner Nadomir«, meinte

Tordo und trat einen Schritt vor. »Adagar und Duprel sind keine große Hilfe beim Kampf, und verzeih, Kleiner Nadomir, du bist auch keine Verstärkung.«

Der Gnom plusterte sich empört auf. »Ich werde meine ge-waltigen Zauberkräfte zum Einsatz bringen.«

»Von deinen Zauberkräften haben wir aber bisher noch nicht viel bemerkt, Nadomir«, ließ sich Olinga respektlos verneh-men.

»Dann paßt nur auf, wie ich sie einsetzen werde.« »Gerede, nichts als Gerede«, schaltete sich Sadagar verärgert

ein, der es überhaupt nicht mochte, wenn man seine Stärke anzweifelte und noch dazu auch seinen Schutzgeist beleidigte.

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»Wir sollten wie bei der Bärenjagd die Felswand hochklet-tern«, sagte Tordo, »und dem Großen Alb ein paar Steine auf den Kopf fallen lassen.«

»Dazu haben wir zu wenige Leute. Nein, wir machen es an-ders. Wir teilen uns in zwei Gruppen. Ich werde den Großen Alb aus der Höhle locken. Er wird sich auf mich stürzen wol-len, wahrscheinlich rasend vor Wut, da ich in sein Gebiet ein-gedrungen bin. Und dann greift ihr von zwei Seiten an.«

Der Plan stieß auf wenig Begeisterung, aber schließlich wur-de er doch widerstrebend angenommen, da es keine besseren Vorschläge gab.

Die eine Gruppe, der sich Olinga, Tordo und Sadagar an-schlossen, stand unter Nottrs Führung. Die zweite wurde von Aravo angeführt, dem die beiden Frauen zur Seite standen und natürlich Duprel Selamy.

Sie warteten, bis der Gnom die Höhle erreicht hatte. Er wink-te sie heran, und sie liefen los. Nottr postierte sich hinter ein paar Steinen auf der rechten Seite, während sich Aravo auf der anderen versteckte.

Nottr hielt in der linken Hand eine Steinaxt und in der rech-ten das Krummschwert. Tordo und Olinga umklammerten mannslange Lanzen, und Sadagar hielt in jeder Hand eines seiner Wurfmesser.

»Hörst du mich, Alb?« ließ sich der Kleine Nadomir ver-nehmen. »Komm heraus, du Feigling! Oder traust du dich nicht, du schwacher Zwerg?« Ein trompetenhaftes Tuten war zu vernehmen, das rasch lauter wurde. »Komm schon, winzi-ger Alb! Ich bin da, um dich zu töten, feiger Winzling!«

Sie standen auf und blickten zur Höhle hin, vor der Nadomir stand und weiterhin den Riesen beschimpfte. Plötzlich sprang er ein paar Schritte zurück und riß die Arme hoch, das Zei-chen, daß sich der Riese näherte. Rasch wich er weiter zurück.

Das Tuten wurde überlaut, und da rannte auch schon der

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Riese aus der Höhle. Für einen Augenblick waren Tordo und Olinga wie gelähmt,

dann handelten sie gleichzeitig. Sie rissen die Lanzen hoch und schleuderten sie dem Riesen entgegen. Von der anderen Seite folgten zwei weitere Lanzen. Alle vier bohrten sich in den Oberkörper des Albs, der gequält aufheulte. Mit seinen gewaltigen Händen riß er sich die Lanzen aus dem Körper und zerbrach sie. Nun stürmten alle hervor.

»Konzentriert euch auf die Knie!« schrie Nadomir. Nottr schlug auf die linke Kniescheibe ein, während sich

Xogra und Aravo die rechte mit ihren scharfen Steinäxten vor-nahmen.

Sadagar wartete, bis sich der Riese etwas bückte, dann warf er ein Messer, das sich in die Stirn bohrte. Wieder heulte der Alb auf. Er versetzte Nottr einen Fußtritt, der den Barbaren durch die Luft wirbeln ließ. Tordo und Olinga schlugen gleichzeitig mit ihren Äxten gegen das linke Schienbein. Nun griffen auch Akagara und Duprel in den Kampf ein.

Der Alb versuchte den wuchtigen Schwert- und Axthieben zu entkommen, benahm sich dabei aber ziemlich dumm. Er taumelte ein paar Schritte vorwärts, verfolgt von den wild schreienden Jägern, die wie verrückt seine Beine angriffen.

Nun bückte sich aber der Riese und packte Akagara, die ihm ausweichen wollte, jedoch einen Augenblick zu spät handelte. Er griff sie mit seiner riesigen Hand, hob sie hoch über den Kopf und schleuderte die Frau gegen die Felswand, wo sie mit zerbrochenen Gliedern liegenblieb.

Als er nach Nottr griff, erlebte er aber eine unliebsame Über-raschung. Der Barbar schlug mit aller Kraft zu und spaltete die linke Hand des Riesen bis zum Handgelenk. Nun sah Sadagar, daß der Daumen die Form eines krallenartigen, nadelspitzen Horns hatte. Die unheimlichen Geräusche, die der Alb von sich gab, kamen aus den schneckenartigen Gebilden.

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Verblüfft sah der Riese seine blutende Hand an, da schlug ihm Nottr zwei Zehen ab. Das war zuviel für den Alb. Panik-artig ergriff er die Flucht. Damit hatte niemand gerechnet.

»Er wird zurückkommen, sobald er sich von seiner Überra-schung erholt hat«, stellte der Kleine Nadomir fest.

Sadagar kniete neben Akagara nieder, doch bei ihr kam jede Hilfe zu spät. Ihr Schädel war zerschmettert. »Sie ist tot«, sagte der Steinmann leise und stand auf.

Der Kleine Nadomir nickte bedauernd. »Komm mit mir, Sa-dagar! Wir sehen uns die Höhle des Riesen an. Ihr wartet draußen.«

Ein bestialischer Gestank schlug ihnen entgegen. Es roch nach verfaulten Eiern.

So wie in den Tunneln, durch die sie in das Tal des Riesen gelangt waren, wurde auch diese Grotte von einer unbekann-ten Lichtquelle erhellt, die von der hohen Decke herabstrahlte. Die Höhle war leer. Wasser rann ihnen entgegen.

Der Boden stieg sanft an, und der eklige Geruch verstärkte sich mit jedem Schritt. Die Höhle verjüngte sich langsam und endete in einem schmalen Gang, der nun steil anstieg. Über-gangslos standen sie plötzlich in einem riesigen Gewölbe.

Der Gestank wurde so stark, daß sie sich die Nasen zuhiel-ten. Ihre Augen begannen zu tränen.

»Sieh selbst, Sadagar!« sagte der Kleine Nadomir mit versa-gender Stimme und streckte die linke Hand aus.

Hustend hob Sadagar den Kopf, ließ vor Entsetzen seine Na-se los und japste nach Luft.

Von der Decke stürzte das dampfende Schwefelwasser her-unter auf Lehmgruben, in denen Dutzende von Alben lagen! Das Wasser brodelte und zischte. Einige der Alben bewegten sich bereits.

»Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen«, sagte Nado-mir. »Der Alb will seine Artgenossen aufwecken, und das

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müssen wir verhindern.« »In diese Schlammgruben können wir nicht hinunterstei-

gen«, meinte Sadagar, »da würden wir nur jämmerlich ertrin-ken.«

»Wir müssen die Wasserzufuhr unterbrechen. Ich bin sicher, daß dieses schwefelhaltige Wasser eine belebende Wirkung auf die Riesen hat.«

»Deine Vermutung dürfte stimmen, Nadomir, aber wie sol-len wir vorgehen?«

»Vorerst einmal müssen wir den Großen Alb töten. Und ich habe auch schon eine Idee, wie wir das schaffen können.«

Sadagar hustete wieder und hielt sich die Nasenlöcher zu. Langsam gewöhnte er sich an den furchtbaren Anblick der im Wasser treibenden Riesen.

»Nicht auszudenken, wenn sie plötzlich alle lebendig wür-den«, hauchte er.

»Du sagst es, mein Freund. Laß uns gehen.« »Erzähl mir deinen Plan.« »Warte, ich werde ihn allen erzählen. Außerdem muß ich

mir noch einige Dinge dazu überlegen.«

Der Große Alb wimmerte vor Schmerzen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er zuletzt Schmerzen gehabt hatte. Aber er konnte sich überhaupt an kaum etwas erinnern; alles lag so weit zurück.

Verwirrt starrte er seine verletzte Hand an, dann die Wun-den an seinen Beinen und Füßen. Die Wunden an der Stirn und der Brust schmerzten ihn kaum.

Er taumelte auf eine der stinkenden Quellen zu und warf sich einfach hinein. Sofort spürte er die belebende, erfrischen-de Wirkung des Wassers. Behaglich brummend ließ er sich im heißen Wasser treiben.

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So weit er sich zurückerinnern konnte, lebte er in diesem Tal und bewachte seine schlafenden Brüder und Schwestern, de-nen er täglich ein wenig des lebensnotwendigen Wassers zu-führte.

Irgendwann in der fernen Vergangenheit hatte er den Auf-trag erhalten, eine Straße zu bauen, die das Tal der Götter mit dem Tal der Riesen verbinden sollte. Dabei halfen ihm die wilden Bergstämme, die ihn fürchteten und anbeteten.

Seine Tage waren einsam gewesen, doch er sehnte sich nicht nach Gesellschaft, wahrscheinlich war er auch deshalb für die-se Aufgabe ausgewählt worden. Undeutlich konnte er sich daran erinnern, daß er eine zwingende Stimme gehört hatte, die ihm Befehle erteilte, denen er sich nicht entziehen konnte.

Erst vor ein paar Tagen hatte er die Stimme wieder vernom-men, zuerst ganz leise, dann immer deutlicher. Sie war in sei-nem Kopf gewesen. »Hörst du mich, Großer Alb? Hörst du mich?« Ein leises Wispern nur, sanft und eindringlich.

»Ja, ich höre dich.« »Gut, Großer Alb. Ist die Straße der Götter fertig?« »Nein, noch nicht. Es wird noch Jahrhunderte dauern.« »Du warst langsam, Alb. Zu langsam. Ich werde dich bestra-

fen. Hörst du mich?« »Ja, ich höre dich.« »Das Böse hat gesiegt. Die Mächte des Lichtes werden ster-

ben. Und du wirst mir dabei helfen.« »Ja, ich werde dir helfen. Was soll ich tun.« »Weck deine Brüder und Schwestern auf! Wiederhole mei-

nen Befehl!« »Ich werde meine Brüder und Schwestern aufwecken.« »Es wird einige Tage dauern, bis sie wach sind. Überstürze

nichts, Alb! Handle gewissenhaft und vorsichtig! Ich werde dir bald sagen, was du und deine Geschwister für mich tun müßt. Ihr werdet Furcht und Schrecken unter den Menschen verbrei-

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ten und dadurch zur allgemeinen Verwirrung beitragen.« Die Stimme in seinem Kopf lachte dröhnend. »Ich melde mich wieder, Großer Alb.« Da war das Lachen wieder, doch es wurde leiser und verstummte dann.

Sofort war er darangegangen, den Befehl auszuführen. Er hatte die Zufuhr des Wassers langsam verstärkt, und es würde nur mehr einen halben Tag dauern, bis seine Geschwister aus dem langen Schlaf erwachten.

Der Große Alb wurde unruhig und setzte sich im heißen Wasser auf.

Der Königstroll! dachte er und an die schlammbedeckten Ges-talten, die ihm die Schmerzen bereitet hatten und jetzt ver-schwunden waren.

Ruckartig sprang er aus der Quelle und stieß ein wütendes Trompeten aus. Er würde den Troll und die anderen Zwerge töten. Und diesmal würde er sich nicht überraschen lassen. Kichernde Geräusche kamen aus den Schneckenhäusern an seinem Kopf. Er bückte sich und sammelte ein paar große Steine, die er auf seine verletzte Hand legte. Einige größere Brocken drückte er mit dem Unterarm an seinen Leib.

Ich werde sie töten. Ich werde alle töten, dachte er. Vorsichtig kehrte er zu seiner Höhle zurück, doch er konnte

den Troll und seine Gefährten nirgends sehen. Mißtrauisch blickte er sich um.

»Ich werde den Großen Alb besiegen«, sagte der Kleine Na-domir mit fester Stimme.

»Und wie willst du das anstellen?« erkundigte sich Nottr wenig beeindruckt.

»Die Mächte des Lichtes gehorchen mir«, behauptete der Gnom feierlich. »Ich kann das Tageslicht, aber auch Feuer-schein und das Restlicht der Nacht beherrschen.«

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»Wie nützt dir das?« fragte Olinga neugierig. »Ich kann mit dem gebündelten Licht Blitze werfen!« »Wirf mal einen Blitz!« bat Sadagar. »Nicht jetzt«, wehrte der Troll ab. »Das wäre nur eine unnö-

tige Kraftvergeudung. Ja, meine Fähigkeit geht sogar so weit, daß ich auf dem Licht reiten und große Entfernungen über-brücken kann.«

»Das glaube ich dir nicht«, zweifelte Olinga. »Ich werde es dir beweisen, Ungläubige. Hört mir zu! Der

Große Alb wird sicher zurück in seine Höhle kommen. Ich werde mich im Eingang verstecken. Mein Zauberblitz wird ihn blenden. Dann werde ich ihn von der Höhle fortlocken. Und ihr verfolgt ihn. Kommt, wir haben keine Zeit mehr zu verlie-ren, denn der Alb kann jeden Moment auftauchen.«

Nadomir hockte sich tief in den Schatten, während sich die anderen in die Höhle zurückzogen. Sie mußten nicht lange warten, bis der Riese erschien. Er sah sich forschend um, zö-gerte aber, die Höhle zu betreten.

Der Troll richtete sich vorsichtig auf. Dann stellte er sich so, daß er die tief stehende Sonne gut sehen konnte, denn von ihr wollte er sich die Kraft für seine Magie holen.

Der Alb kam langsam näher. Einen Augenblick lang schloß der Troll die Augen und

sammelte all seine Kräfte, dann sprang er ins Sonnenlicht und schlug die Augen auf.

Der Riese stieß ein wütendes Trompeten aus, ergriff mit der unverletzten Hand einen Steinbrocken.

Ein gelbes Licht war plötzlich vor Nadomirs Augen, das ei-nen kurzen Moment sein Gesicht einhüllte. Mit einem don-nernden Knall fuhr ein Blitz aus diesen glühenden Augen und raste auf den Riesen zu, der die Steine fallen ließ und sich die Hände schützend vor den Kopf halten wollte. Doch er hatte zu spät reagiert. Der magische Lichtblitz traf sein Gesicht und

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blendete ihn. Der Riese heulte auf, preßte sich die Hände vors Gesicht und taumelte hin und her.

Nadomir riß die Arme hoch und fiel rücklings zu Boden. Auch er hatte sich beide Hände aufs Gesicht gepreßt. Seine Beine zuckten.

»Was ist, Nadomir?« fragte Sadagar besorgt und kniete ne-ben dem Gnomen nieder.

»Meine Augen brennen«, stöhnte er. »Ich habe zuviel Kraft in den Blitz gelegt.«

Als er die Hände vom Gesicht nahm, merkte Sadagar, daß es schwarz war, wie von Ruß.

»Hilf mir hoch, Sadagar. Der Riese lebt noch. Ich will ihn für meine Zwecke benutzen.«

Sadagar hob ihn hoch. Der Gnom nickte dankbar und lief hinaus ins Freie. »Hier bin ich, dummer Alb!« kreischte er mit überschnappender Stimme.

Der Riese blieb stehen und drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.

Nadomir lief eine Geröllhalde hoch. »Hier bin ich, Alb!« Der geblendete Riese folgte ihm. Er stolperte über ein paar

Steine, stand aber sofort wieder auf. »Komm doch, faß mich, Alb!« Der mammutköpfige Riese trompetete seine Wut und seine

Schmerzen laut hinaus. Obwohl er nichts sehen konnte, folgte er dem Gnomen. Die anderen hielten sich zurück.

»Was hat er vor?« fragte Olinga leise. »Ich ahne es«, flüsterte Sadagar. »Er will den Alb höher den

Berg hinauflocken. Da er nichts sehen kann, wird er einige der Kanäle und Wasserbrücken zerstören. Aber folgen wir ihm.«

»Beeile dich, Alb. Sonst erwischst du mich nicht.« Das tierische Schreien des Riesen wurde immer durchdrin-

gender. Er war anscheinend nur noch von einem Gedanken beherrscht: den Gnomen zu töten.

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Er stolperte über ein paar der Holzleitungen und riß sie aus den Verankerungen. Er achtete nicht auf das kochende Was-ser, das über seinen Körper spritzte.

»Hier bin ich«, kicherte der Gnom. Der Riese zertrampelte ein paar Kanäle, dann fiel er nieder, rappelte sich hoch und bekam einen der ausgehöhlten Baumstämme zu fassen, durch den das Wasser strömte. Rasend vor Wut, hob er den Baum-stamm hoch und schleuderte ihn nach Nadomir, der spiele-risch auswich. Der schwere Stamm krachte auf einen Aquä-dukt, und ein Teil der Brücke fiel in sich zusammen.

»Du hast mich nicht getroffen, Alb«, spottete der Troll. Nun drehte der Alb völlig durch. Blindwütig riß er Baum-

stämme aus den Halterungen und schleuderte sie dorthin, wo er den Gnomen vermutete.

Ein Stützpfeiler des Aquädukts begann zu wanken und neig-te sich bedrohlich zur Seite.

Nadomir kletterte die Brücke hoch. »Hörst du mich, armer Alb?«

Blitzschnell eilte Nadomir über die Brücke. Keinen Augen-blick zu früh. Wieder schleuderte der Riese einen Baumstamm hoch. Der Pfeiler pendelte hin und her, dann bekam er Risse, und die riesigen Steinbrocken schmetterten auf die Geröllhal-de und rutschten talwärts, genau auf den Riesen zu. Er hörte das Krachen der in sich zusammenstürzenden Brücke und wollte fliehen, doch er schaffte es nicht. Die Steinlawine erfaß-te ihn, begrub ihn und riß ihn mit sich. Staubwolken stiegen in den Himmel. Dann war es still.

»Du hast es geschafft!« brüllte Sadagar erfreut. »Der Große Alb ist tot!«

Nun brüllten alle begeistert durcheinander. Stolz wie ein König stieg der Gnom zu ihnen herunter. »Die Wasserzufuhr zur Höhle ist ebenfalls unterbrochen«,

jubelte Nadomir. »Die Riesen werden alle sterben.«

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Sadagar zog den Gnomen an sich, dann reichte er ihn an O-linga weiter, die ihm einen Kuß auf das geschwärzte Gesicht drückte.

Sie hatten in einer der warmen Quellen gebadet. Nun saßen sie vor der Höhle um ein loderndes Feuer, tranken Wasser und aßen die Reste ihrer Vorräte.

»Ich bin nun der alleinige Herrscher über die Götterberge«, sagte Nadomir nachdenklich. »Hier kann ich eine Insel des Lichts erschaffen, auch wenn die übrige Welt in der Finsternis versinkt.«

»Und was wirst du tun, Nadomir?« Der Gnom blickte nachdenklich ins Feuer. Sadagar lehnte sich zurück und schloß die Augen halb.

Duprel Selamy lag neben ihm und schnarchte. Xogra saß zwi-schen Tordo und Aravo und war sich anscheinend nicht schlüssig, welchem der beiden sie die Freuden ihres Schoßes gewähren sollte. Die handgreiflichen Zärtlichkeiten der beiden jungen Männer schienen ihr sehr zu gefallen.

Olinga und Nottr waren vor einiger Zeit in der Dunkelheit verschwunden, aber die Geräusche, die Sadagar hörte, waren eindeutig. Nun haben sich die beiden doch noch gefunden, dachte er versonnen.

»Ich habe dich getäuscht, Sadagar«, sagte der Gnom und blickte ihn durchdringend an. »Ich habe mich dir gegenüber als der Kleine Nadomir ausgegeben, der ich aber nicht bin.«

Sadagar setzte sich überrascht auf. »Aber weshalb hast du das getan?«

»Du glaubtest so stark an den Kleinen Nadomir, deshalb gab ich mich für ihn aus.«

»Und wer bist du wirklich?« fragte Sadagar zutiefst ent-täuscht.

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»Ein Troll«, sagte der Kleine lächelnd. »Sei nicht traurig, mein Freund. Sadagar ist auch nur ein Scheinname. Und was man mit den Augen sieht, ist auch nicht die wahre Natur der Dinge. So, wie das Auge außerstande ist, die Wirklichkeit zu erfassen, so ist auch die Sprache Gorgan unfähig, die Dinge beim wirklichen Namen zu nennen. Nur die Magie kann die wahren Werte bezeichnen, darum ist sie so mächtig. Deshalb ist die Magie die höchste, die schlichtweg vollkommene Wis-senschaft.«

»Das verstehe ich nicht, Nado… Wie soll ich dich nun nen-nen?«

»Nenne mich ruhig weiterhin Nadomir. Mir gefällt der Na-me. Vielleicht wirst du irgendwann einmal meine Worte ver-stehen, Sadagar. Ich will dir helfen, denn du hast mir geholfen. Was kann ich für dich tun? Welche Pläne verfolgst du?«

»Ich habe eine Verabredung, die ich gern einhalten würde.« »Ich bringe dich aus den Bergen heraus. Wohin willst du?« »Mein Ziel ist der Koloß von Tillorn.« »Was willst du denn beim Monument des Lichtboten?« frag-

te der Troll verblüfft. »Den Sohn des Kometen treffen!« Schweigend stand der Troll auf und verschwand in der

Dunkelheit. Sadagar sah ihm verwirrt nach.

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Horst Hoffmann

DIE STRAßE DES BÖSEN

Ein langgezogener Todesschrei zerriß die Stille, die sich über das Land gesenkt hatte. Jemand weinte.

Für Augenblicke riß das dichte Schneetreiben auf, das kurz nach Einbruch der Nacht und dem plötzlichen Abklingen der klirrenden Kälte eingesetzt hatte. Wankende Gestalten schäl-ten sich schattenhaft aus dem Dunkel. Blutverkrustete Hände streckten sich dem Mann auf dem schwarzen Einhorn entge-gen. Krieger verschiedener Stämme kamen näher und starrten den Reiter aus fieberglänzenden Augen an. Einige hatten noch ihre Schwerter in den Händen. Andere stützten sich gegensei-tig. Sie waren halb erfroren, ausgemergelt, zerlumpt und krank im Geist, von unsagbaren Schrecken gezeichnet.

»Wasser!« rief einer. »Gib mir Wasser!« Die Hände streckten sich wie Klauen nach dem Hals des

Einhorns aus. Das Tier scheute und tänzelte zurück. »Reißt ihn herunter!« schrie eine andere Stimme. »Schlachtet

das Pferd!« »Das ist kein Pferd! Seht ihr denn nicht, wer es ist?« Ein Schatten flog heran. Mythor duckte sich blitzschnell und

fing die Lanze im Flug. Er drehte sie, wollte sie zurückschleu-dern, doch… Vielleicht wäre der Tod das gnädigere Schicksal für diese Unglücklichen gewesen, die die Geisterreiter, die Runengabeln und die Moortoten überlebt hatten.

Wie viele waren gefallen, gestorben nicht im Kampf Mann gegen Mann, sondern durch die finsteren Kräfte der Schwar-

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zen Magie? Wie viele streiften nun irrend umher oder lagen sterbend im Schnee, der kein Schnee war – kein Schnee, wie Mythor ihn jemals zuvor gesehen hatte?

Er war rot, rot wie das Blut der Gefallenen. In dicken Flocken fiel er vom Himmel, zu Kristallen erstarrte Tränen, kristallge-wordenes Licht, das von den Mächten der Finsternis besiegt worden war. Die Schlacht war geschlagen, vielleicht das letzte große Aufbäumen der Lichtwelt gegen das Dunkel und die Macht der Dämonen. Und die Finsternis breitete sich aus, un-aufhaltsam, trieb diejenigen, die noch frei waren in ihrem Denken, vor sich her, bis…

»Zurück!« schrie Mythor, als sich immer mehr gierige Hände nach ihm ausstreckten. »Kehrt heim in eure Länder und zu euren Stämmen!« Ein leichter Schenkeldruck, und Pandor bäumte sich schnaubend auf. Die Zerlumpten wichen zurück. Einen Söldner, der sich an seinem linken Bein festklammerte, stieß Mythor mit der Hand in den Schnee. »Ihr lebt! Habt ihr vergessen, wofür eure Kameraden fielen?«

»Laßt euch nicht blenden!« schrie eine Stimme. »Er ist einer von denen, die uns ins Verderben schickten! Tötet ihn!«

»Ihr wißt nicht, was ihr sagt!« entgegnete Mythor heftig. »Geht zu euren Frauen und Kindern! Die Schlacht ist verloren, aber der Kampf geht weiter!«

»Lieber wollen wir zu Sklaven werden als noch einmal sol-ches erleben! Du steckst mit ihnen im Bunde! Du hast uns an die Dämonen verkauft!«

Erschüttert trieb Mythor sein Reittier an. Erneut erhob sich der Schneesturm zu voller Heftigkeit, und der eisige Wind trieb dem Sohn des Kometen die roten Flocken ins Gesicht und zerrte an seinem Haar.

Hinter ihm verschwanden die Söldner im Gestöber. Das letz-te, was Mythor von ihnen sah, waren Fäuste, die sie wütend in seine Richtung schüttelten. »Verflucht sollst du sein! Niemals

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sollst du Frieden finden auf dieser Welt und niemals eingehen ins Reich der Heroen!«

Mythors Herz klopfte heftig. Er legte die Hände an Pandors Hals und ließ sich vornübergebeugt vom Einhorn tragen.

Irgendwo schrie ein Mensch in Todesangst. Pandor verfiel in einen leichten Galopp, doch der Schrei schien, vom Sturm ge-tragen, Mythor zu verfolgen.

Er hatte alles getan, um die Schlacht zu verhindern, alles, um Graf Corian und die anderen Heerführer von der Aussichtslo-sigkeit des Kampfes zu überzeugen. Doch auch das konnte kein Trost für ihn sein, nicht angesichts des Elends, das ihm von allen Seiten entgegenschlug.

Die Sicht reichte kaum zwanzig Fuß weit. Immer wieder tauchten Versprengte vor Mythor auf. Immer wieder wich Pandor am Boden Liegenden aus. Schwerter und Schilde rag-ten aus dem Schnee. Arme streckten sich Mythor entgegen. Tote lagen aufeinandergeschichtet neben Männern, die keine Kraft mehr hatten zum Weitergehen, der Kälte und dem Wahnsinn hoffnungslos ausgeliefert. Mythor machte nicht halt. Er ritt ohne Orientierung durch die Nacht. Irgendwo nördlich von ihm mußte das Hochmoor von Dhuannin liegen, im Osten die Yarl-Straße. Wohin sollte er sich wenden? Er ü-berließ es Pandor, die Richtung zu wählen.

Über ihm schrie der Schneefalke, und Harks Heulen war von Zeit zu Zeit durch das Brausen des Sturmes zu hören.

Dies alles um Mythor herum schien Niemandsland zu sein. Manchmal war es ihm, als reite er geradewegs in eine Welt zwischen Sein und Nichtsein hinein, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft.

Was sollte aus der Lichtwelt werden, nun, da ihr Widerstand gebrochen schien? Waren die Heerscharen der Caer, geführt von ihren Priestern, bereits auf dem Vormarsch gen Süden und Osten? War es Rechtens, daß er noch lebte?

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Bei dem Gedanken richtete er sich auf und starrte finsteren Blickes voraus. Pandor drehte den Kopf und wieherte leise, wie um ihn zu trösten, ihm zu sagen, daß das Licht noch nicht erloschen sei, daß ein neuer Tag anbrechen würde und neue Aufgaben vor ihm lagen.

Mythor spürte seine Glieder kaum noch. Er mußte sich be-wegen. Er brachte den Kopf an Pandors Ohr und flüsterte et-was. Das Einhorn blieb stehen, scharrte aber unruhig mit den Vorderhufen im Schnee. Eine Warnung?

Mythor saß ab. Er ging in die Knie. Seine Beine gehorchten ihm nicht. Es dauerte eine Weile, bis er spürte, wie sich wieder Wärme in seinem Körper ausbreitete. Mythor schlug mit den Armen und hauchte in die Hände.

Das Schneetreiben ließ wieder etwas nach. Erst jetzt bemerk-te der Sohn des Kometen, daß sich Nebel über das Land ge-senkt hatte, in den der Sturm gespenstische Schatten und For-men wirbelte.

War es Rechtens, daß er noch lebte? Zorn auf sich selbst stieg in ihm auf, als er vergeblich ver-

suchte, die peinigenden Gedanken zu verdrängen. Wie so oft, wenn die Einsamkeit ihn zu erdrücken drohte, griff er unter sein Wams und zog das Pergament hervor.

»Fronja«, murmelte er, und als ob er ein Zauberwort gesagt habe, frischte der Sturm auf und schien den Namen mit tau-send schaurigen Stimmen zu wiederholen.

Mythor wischte die Flocken vom Pergament und betrachtete das Bildnis der unbekannten Schönen, die ihm vor Stunden so nahe gewesen war, wenn auch nur als Trugbild. Er hatte etwas von ihr gespürt, tief in seiner Seele. Etwas, das sein Herz wilde Sprünge machen ließ, das ihm Hoffnung machte und auch Angst?

Angst wovor? Daß er niemals den Weg zu ihr finden könnte? Obwohl es dunkel war, waren die vollkommenen Züge der

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Frau deutlich genug zu erkennen. Und plötzlich war es, als ob sich der Mund Fronjas bewege, und die Augen auf dem Per-gament schienen zu erstrahlen. Mythors Hände zitterten.

Reite voran, Mythor! schien das Bild zu sagen. Reite und kämp-fe! Die Lichtwelt braucht dich nun dringender als je zuvor! Glaube an dich!

Mythor steckte das Pergament, von plötzlicher Unruhe ge-packt, zurück unters Wams. Fronja sollte ihn nicht so sehen, nicht, wie er jetzt war.

Er erschrak über seine Gedanken. Griff der Wahnsinn bereits nach ihm? Sah er Dinge, die nicht existierten?

Er hatte gelernt, daß es nichts gab, was unmöglich war. Aber Fronja sollte von Magie verschont bleiben. Was immer auch in dieser Welt geschah, sie mußte davon verschont bleiben. Und wenn er schon nicht sie selbst vor dem Grauen dieser finsteren Zeiten behüten konnte, dann doch wenigstens ihr Bildnis.

Mythor sprang auf den Rücken des Einhorns. Sofort setzte Pandor sich wieder in Bewegung. Schweigend zogen sie wei-ter, begleitet von Horus und Hark.

Es schneite nicht mehr. Wie eine Decke lag der frisch gefalle-ne Schnee leicht leuchtend über dem Land. Nur noch hier und da war er rot gefärbt. Der Sturm ließ allmählich nach.

Mythor wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als er den hellen Schein vor sich sah. Er wollte Pandor zum Stehen brin-gen, doch das Einhorn trabte weiter.

Zwei Gestalten schälten sich schemenhaft aus dem Nebel. »Zurück!« rief eine weibliche Stimme. »Absitzen, Bursche,

oder du spürst meine…« Mit einemmal vergaß Mythor die verlorene Schlacht, die Käl-

te und die Caer. Er sprang ab und landete direkt vor der Frau, die das Einhorn und ihn in diesem Augenblick erkannte.

»Mythor!« rief sie aus. »Bei Erain und…!« Mythor war heran und nahm ihr das Breitschwert aus der

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Hand. Mit dem anderen Arm zog er sie fest an sich heran. »Was läßt du mich spüren?« rief er ausgelassen. »Deine Klin-ge?«

Buruna schlang die Arme um seinen Nacken und preßte ihre Lippen auf die seinen. Als sie wieder zu Atem kam, flüsterte sie mit verführerischem Augenaufschlag: »Ich weiß etwas Bes-seres.«

»Später!« Mythor küßte sie noch einmal und sah, wie Buru-nas Begleiter, ein Ugalier, den er noch nie gesehen hatte, ihn mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Befremden anstarrte.

Mythor wurde augenblicklich ernst. Es gab absolut keinen Grund zur Ausgelassenheit. »Wo sind unsere Freunde?« fragte er Buruna.

»Komm mit!« forderte sie ihn lächelnd auf. Sie nahm seine Hand. Pandor und der Krieger folgten ihnen. Horus’ Schreie waren über dem Feuerschein zu hören, und eine nur zu gut bekannte Stimme jubilierte:

»O großes Glück! Wacht auf, ihr müden Knochen! Das ist Mythors Falke!«

Was dann folgte, hörte sich grauslich an. Das Springen einer Saite beendete die künstlerische Darbietung, bevor Mythor und Buruna die Feuerstelle erreicht hatten.

Die Freude über das Wiedersehen währte nur kurz. Lamir von der Lerchenkehle, der das Lager alarmiert hatte, und Mythor fielen sich in die Arme. Aus umgestürzten Karren, über die Planen gebreitet worden waren, kamen Männer herausgekro-chen und musterten den Ankömmling voller Argwohn.

Gapolo ze Chianez hatte Tränen in den Augen, als er Mythor die Hand drückte. Er sagte nicht viel, doch seine Blicke spra-chen Bände. Und Mythor erschrak, als er ihnen begegnete. Die Freude, den Freund lebend wiederzusehen, konnte nicht dar-

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über hinwegtäuschen, daß der salamitische Stammesfürst nur mehr ein Häufchen Elend war. Gapolo blieb dann auch im Hintergrund, als Mythor sich mit Buruna und Lamir ans wär-mende Feuer setzte. Mythor fragte sich, wie die Versprengten im Schneetreiben der Nacht überhaupt ein Feuer hatten entfa-chen können. Ein Krieger brachte einigermaßen trockenes Holz, das er aus einem der Karren brach, und warf es in die Flammen. Beißender Rauch quoll unter der Plane hervor, die auf vier Pflöcken hoch genug über das Feuer gespannt war, um nicht selbst in Flammen aufzugehen. Geschmolzener Schnee tropfte noch von ihren Seiten herunter.

Pandor stand neben einem der Karren. Hark saß neben dem Einhorn und gab allzu neugierigen Kriegern deutlich genug zu verstehen, daß sie sich fernhalten sollten. Mythor sah Männer mit Schwertern und Lanzen, die paarweise rings ums Lager Wache hielten. Die anderen zogen sich nach einer Weile unter die Planen zurück. Doch oft genug schoben sich Köpfe darun-ter hervor mit Augen, die nicht nur Mythor mißtrauisch an-blickten, und einige Male sah Mythor blanken Stahl im Feuer-schein aufblitzen.

Unwillkürlich legte er seine Hand auf Altons Griff. Aus der Ferne drangen die Rufe und Schreie Umherirrender herüber. Und jedesmal wurden Planen zurückgeschlagen, und Männer spähten mit ihren Schwertern in den Händen in den Nebel. Mythors Eindruck, daß hier jeder jedem mißtraute, verstärkte sich. Und der Gedanke schmerzte, daß jene, die vereint das Böse hatten besiegen wollen, sich nun gegenseitig anfeindeten.

»Sie sind verzweifelt«, sagte Lamir leise. »Wir haben gese-hen, wie Krieger, die Seite an Seite kämpften, aufeinander los-gingen und sich gegenseitig den Garaus machten.«

Noch leiser fügte er hinzu: »Jetzt, da du hier bist, wird manch einer an Rache denken. Sie sind nicht mehr Herr ihrer Sinne, Mythor. Sie geben ihren Führern die Schuld an ihrem

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Elend. Du tust gut daran, die Augen offenzuhalten.« »Das habe ich gemerkt«, sagte Mythor finster. »Wie viele

seid ihr?« Lamir zuckte die Schultern und strich mit der flachen Hand

über die Laute. »Schau dich um. Vielleicht zwanzig. Vielleicht mehr. Ich habe sie nicht gezählt. Einige waren schon da, als wir das Feuer fanden. Andere kamen nach und nach.«

»Ihr habt das Feuer… gefunden?« »So ist es«, bestätigte Buruna. »Keiner von denen, die du hier

siehst, hat es angelegt. Es war schon da.« Mythor zog eine Braue in die Höhe. Er mußte an die glühen-

den Himmelssteine denken, die er kurz gesehen hatte, wäh-rend ein Trugbild das andere jagte. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, sich über sie Gedanken zu machen. Der Himmel war verzaubert gewesen, von schrecklichen Farben erfüllt, bis die Sonne ganz am Horizont verschwunden war. Vielleicht waren auch die glühenden Himmelssteine nur Einbildung gewesen, wie sie ihre feurigen Bahnen zogen und überall im Hochmoor einzuschlagen schienen.

»Wie seid ihr der Schlacht entkommen?« fragte Mythor, und während Buruna und Lamir abwechselnd berichteten, wie die Liebessklavin und der Barde vom Strom der vorwärts stür-menden Salamiter aufs Hochmoor mitgerissen wurden und Buruna nur durch ihre teilweise Unempfänglichkeit für die Einflüsse der Schwarzen Magie nicht wie die Salamiter dem Wahnsinn verfiel, sah Mythor zu Gapolo hinüber.

Der Salamiter wich seinem Blick aus. Gapolo legte den Kopf in die Armbeuge, so als sei er zu müde, der Unterhaltung der Freunde zu folgen.

Mythor nickte Buruna zu und gab ihr zu verstehen, daß sie weiterreden solle, dann rutschte er zu Gapolo hinüber und legte dem Worsungen-Fürsten die Hand auf den Arm. Gapolo blickte auf. Sein Gesicht war vom Kampf gezeichnet. Eine

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Narbe zog sich quer über die rechte Wange, und das lange, gelockte schwarze Haar war an einigen Stellen blutverkrustet.

Und wieder wandte der Salamiter sich ab. Der junge Fürst stand auf. »Ich werde eine der Wachen ablösen«, verkündete er mit leerer Stimme. Nichts an ihm erinnerte jetzt mehr an den tatendurstigen, lebensfreudigen und stolzen Mann, den Mythor auf Burg Anbur zum Freund gewonnen hatte. Gapolo war innerlich gebrochen.

Mythor weigerte sich zu akzeptieren, was er in seinen Bli-cken sah. Das waren nicht nur Enttäuschung und Gram, es war etwas viel Schlimmeres, eine tiefe Sehnsucht… nach dern Tod?

Mythor sah Gapolo nach, bis er halb im Nebel verschwand und den Platz eines Kriegers einnahm, der zum Feuer kam und sich die Hände wärmte. Er rutschte zu Buruna und Lamir zurück.

Buruna sagte gerade: »Die Salamiter wurden durch diese Lichter am Himmel und um sie herum völlig kopflos. Sie be-kämpften sich gegenseitig und ritten geradewegs auf die… diese Scheuchen zu. Es war furchtbar, Mythor. Sie wurden aufgespießt, und manche gingen lachend in den Tod. Lamir erging es nicht viel anders. Ich mußte ihm eine übers Haupt geben, um ihn vor sich selbst zu schützen. Dann verlor ich mein Pferd. Wir mußten uns ein Versteck suchen, und da… da brach das Eis auf…«

»Die Moortoten«, sagte Mythor und erschauerte bei der Er-innerung an diese unselige Streitmacht der finsteren Mächte, aus Jahrhunderte währendem Todesschlaf aufgeweckt durch die Schwarze Magie der Dämonenpriester.

»Es gelang mir, mich und Lamir in Sicherheit zu bringen. Ich weiß nicht mehr, was alles geschah, welche Schrecken wir mit ansehen mußten, ehe wir hierherkamen. Später traf Gapolo mit einigen wenigen Getreuen ein.« Sie blickte zu dem Schat-

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ten hinüber, der am Rand des Lagers stand. »Die einzigen, die ihm geblieben waren.«

»Was ist mit ihm?« fragte Mythor leise. »Die acht Salamiter-Stämme, die er in die Schlacht führte,

machen ihn für die schreckliche Niederlage im Hochmoor ver-antwortlich. Er will sich entleiben, Mythor, um die Schande von sich abzuwaschen, die er glaubt auf sich geladen zu ha-ben. Er hat es nicht direkt gesagt, aber ich weiß es. Mythor, wenn einer ihn davon abbringen kann, bist du es. Geh zu ihm und rede mit ihm!«

Mythor schwieg lange. Die Freunde starrten in die kleinen blauen Flammen, die gierig am Holz entlang züngelten. Stim-men waren zu hören und die knirschenden Schritte einer Gruppe von Männern im Schnee.

»Halt! Nicht näher!« rief Gapolo jemandem zu. »Wir sind Ugalier!« war die Antwort. »Nehmt uns auf und

laßt uns an euer Feuer!« Vier, fünf Gestalten schälten sich aus dem Nebel. Kurz stan-

den sie und die beiden Wachen sich gegenüber, dann winkte Gapolo sie an sich vorbei.

Die Ugalier, zerlumpt und verwundet, schleppten sich ans Feuer und ließen sich zu Boden fallen. Einer von ihnen, der noch einigermaßen gut bei Kräften war, sprang auf, als er My-thor sah. In seiner Hand blitzte ein Schwert. Mythor umklam-merte Altons Griff.

Doch der Ugalier griff ihn nicht an. Er starrte ihn nur ver-ächtlich an, und die Freunde sahen, wie der Mann mit sich kämpfte. Seine Blicke schweiften umher, als suche er Verbün-dete, aber noch blieben die anderen unter ihren Planen.

»Es ist besser für dich, wenn du dich wieder hinsetzt, mein Freund«, sagte Buruna drohend. »Glaub es mir!«

»Wie viele Salamiter sind hier?« fragte Mythor flüsternd. Lamir hob die Schultern. »Drei oder vier. Die anderen sind

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Männer Graf Corians oder Rebellen Cannon Bolls, die es hier-her versprengte. Die Salamiter werden mit uns kämpfen, auch wenn Gapolo sie niemals darum bitten würde. Aber den-noch…« Lamir schluckte und sah sich unsicher um. »Du glaubst, daß es so ernst ist?«

»Vielleicht wäre es für euch besser gewesen, ich hätte euch nicht gefunden«, knurrte Mythor. Er stand auf. »Haltet die Augen gut offen!«

Damit trat er vom Feuer zurück und ging zu Gapolo ze Chi-anez. Bei jenem Ugalier, der sein Schwert gegen ihn erhoben hatte, blieb er kurz stehen. Er sah in fieberglänzende, abwei-sende kalte Augen.

»Was ist aus Graf Corian geworden?« fragte er. »Er starb den Heldentod!« fuhr der Krieger ihn an, und der

Vorwurf in seinen Worten war unüberhörbar. »Warst du dabei?« »Nein! Keiner seiner Recken ist mehr von dieser Welt! Du

wirst sie hören, wenn sie über uns hinwegreiten… alle, die den Spiegeltod starben.«

»Ich warnte ihn. Und er wußte, daß Vassander ihn in eine Falle gelockt hatte.«

Mythor ließ den Krieger links liegen und löste die Wache ab, die neben Gapolo stand.

Lange Zeit sagte keiner der beiden Männer etwas. Um Gapo-los Mundwinkel zuckte es verräterisch. Sein Gesicht war zu einer Maske geworden. »Ich weiß, was ihr am Feuer beredet habt«, sagte der Salamiter endlich. »Versuche nicht, mich an dem zu hindern, was ich tun muß.«

»Ein Mann muß wissen, wohin sein Weg führt«, meinte My-thor. »Auch wenn wir Freunde sind, so steht es mir nicht zu, dich darum zu bitten, ein Leben in Unwürde zu führen.« My-thor rieb sich mit der Hand über die kalten Wangen. »Aber bedenke eines, Gapolo: daß die Lichtwelt gerade jetzt Recken

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braucht, wie du einer bist.« »Lichtwelt.« Gapolo dehnte das Wort. »Es wird keine Licht-

welt mehr geben.« »Das Leben ist Licht, und wir leben noch. Nichts wird mehr

wie vorher sein, aber die Völker, die noch nicht unter dem Bann der Dämonenpriester stehen, werden fliehen, immer tie-fer nach Süden. Sie werden sich eine neue Heimat suchen müssen und immer in Angst davor leben, eines Tages Caer vor den Toren ihrer Städte zu sehen. Denk an all die Frauen und Kinder, die ihre Männer und Väter verloren haben und hilflos den Feinden ausgeliefert sind! Sie zu schützen muß unsere Aufgabe sein. Und ist das nicht etwas, wofür es sich zu leben lohnt, mein Freund?«

Gapolo schwieg. »Denk an Salamos, an die Karsh und alle die Völker tief im

Süden, die noch die Freiheit atmen. Vielleicht wird es bald nur noch Inseln des Lichts geben, aber es ist noch nicht erloschen. Denk an den Lichtboten und seine Hinterlassenschaften, die es noch zu finden gilt. Waffen, die die Mächte der Finsternis in ihre Schranken weisen können, wenn es Männer gibt, die sie zu benutzen verstehen.«

»Quäl mich nicht, Mythor!« »Du selbst bist es, der dich quält. Du weißt es, Gapolo. Willst

du mich nicht begleiten auf meinem Weg und mir helfen, die Bastionen des Lichtes zu finden? Es kann nicht der Wille des Lichtboten sein, daß seine besten Streiter sich selbst töten und damit der Verantwortung entziehen, die jedem gegeben ist, der die Schrecken der Schwarzen Magie überlebte.«

»Ich kann nicht mit der Schande leben!« entgegnete Gapolo heftig.

»Aber du kannst dich bewähren und von ihr reinwaschen. Denk darüber nach, mein Freund! Allein bin auch ich den Dunklen Mächten nicht gewachsen. Ohne starke und tapfere

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Freunde wie dich werde ich scheitern. Ich bitte dich um unse-rer Freundschaft willen, Gapolo, überdenke deinen Entschluß, und erfülle nicht die Herzen derer, die dich lieben, mit noch größerer Trauer.«

In Gapolo ze Chianez arbeitete es. Die Augen starr geradeaus gerichtet, umklammerte er den lilienförmigen Griff seiner schmalen Klinge so fest, daß die Handknochen weiß hervor-traten.

»Laß mich allein, Mythor«, flüsterte der Salamiter. Mythor sah ihn forschend an, nickte dann und ging zurück

zum Feuer. Auf die fragenden Blicke Lamirs und Burunas gab er keine

Antwort. Er sah, wie die Ugalier, die eben noch am Feuer ge-sessen hatten, bei den Karren standen und mit den Männern unter den Planen tuschelten, wobei sich immer wieder finstere Blicke auf ihn und die Freunde richteten.

Buruna hatte das Schwert, das sie wohl einem Toten aus der Hand genommen hatte, fest umklammert und glich einer sprungbereiten Katze. Lamir hatte die Laute wie eine Waffe in der Hand.

»Ich werde ein Lied anstimmen«, verkündete der Jüngling mit der Lerchenkehle. »Um die bösen Geister aus ihren Köpfen zu vertreiben.«

Mythor bezweifelte, daß Lamir damit Erfolg haben würde. Er befürchtete eher das Gegenteil.

Immerhin erreichte Lamir mit seinem Gekrächze, daß die Söldner und Krieger sich die Ohren zuhielten und nicht weiter Pläne schmieden konnten. Mythor aber wußte, daß es früher oder später zum Kampf kommen mußte. Zuviel Leid hatten diese Männer mit ansehen und am eigenen Körper erfahren müssen. Einige hatten einen Arm verloren, andere ihr Bein oder das Augenlicht.

Ein Funke genügte, um sie über ihn und die Freunde herfal-

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len zu lassen wie ein Rudel hungriger Wölfe. Was sich da bei den Karren zusammenbraute, war fast zu greifen. Wann end-lich wurde es wieder Tag?

»Und höret, hoch zu Dhuannin,

der Helden viele sich vereint, zu trotzen der Dämonen Macht,

doch gar zu grimmig war der Feind!« Mythor schloß seufzend die Augen und konnte nicht sagen,

was gräßlicher war – Lamirs Gesang oder die Klänge seiner Laute.

»Aufhören!« brüllte eine rauhe Stimme. »Oder ich quetsche dir den Kopf zwischen die Saiten!«

Lamir ließ sich nicht beirren.

»Graf Corian, Jamis von Dhuannin, Cannon Boll und der Tapferen mehr.

Sie fochten ohn’ Furcht und trotzten der Finsternis Heer. Sie fielen im Kampf, doch starben sie nicht.

Als Geisterreiter für das Licht, so reiten sie…« »Aufhören, du Krähe!« Gleich drei verwegen aussehende Krieger sprangen unter ei-

ner Plane hervor, die Schwerter in den Händen. Mythor sprang auf. Buruna war bereits auf den Beinen und

hielt ihre Klinge zum Schlag bereit. Die Krieger wichen für einen Moment zurück, als sie das Gläserne Schwert in Mythors Hand leuchten sahen. Mythor durchschnitt mit der Klinge den Nebel, und Altons singendes Wehklagen schien für Augenbli-cke die Luft erzittern zu lassen.

Doch nun gab es kein Zurück mehr. Überall hoben sich die Planen, und Männer mit Blicken, aus denen der blanke Irrsinn

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sprach, kamen zum Vorschein. Wie Gestalten aus einem Alp-traum näherten sie sich. Sie versuchten, die drei Freunde ein-zukreisen. Ganz langsam kamen sie heran, dunkel und dro-hend. Mythor mußte sich mit Gewalt ins Gedächtnis zurückru-fen, daß er es nicht mit Ausgeburten der Finsternis zu tun hat-te.

»Bleibt zurück!« sagte er eindringlich. »Oder hat es nicht der Toten genug gegeben?«

Ein schrecklicher Gedanke kam ihm. Reichte die Macht der Caer-Priester bereits bis hierher? Waren diese Verwirrten gar nicht mehr sie selbst?

Gapolo ze Chianez brach mit einem Schrei durch die Mauer aus lebenden Leibern. Er stieß drei von ihnen zu Boden und schlug einem vierten, der sich ihm in den Weg stellte, den Schwertknauf gegen die Schläfe. Dann stand er neben Mythor.

Drei Salamiter schlossen sich den Bedrängten an. Mythor, Buruna, Lamir und Gapolo standen Rücken an Rücken und erwarteten den Angriff.

»Es hat keinen Sinn«, sagte Mythor. »Es ist genug Blut ver-gossen worden, und mein Schwert ist nicht dazu bestimmt, Kranke zu fällen.« Er sah, wie Hark einen Söldner ansprang, der sich auf Pandor stürzen wollte. »Könnt ihr euch zu euren Pferden durchschlagen?« fragte er flüsternd.

»Der Tod soll mein Richter sein, wenn ich das nicht mehr kann«, grollte Gapolo.

Doch die Wahnsinnigen schienen nicht die Absicht zu haben, jene, die sie für die Niederlage auf dem Hochmoor verant-wortlich machten, lebend davonkommen zu lassen.

Mit einem Aufschrei aus einem halben Dutzend Kehlen stürmten sie vor.

»Zu den Pferden!« schrie Mythor. Er packte Lamirs Arm mit der Linken und führte Alton mit der rechten Hand. Er benutz-te die flache Klinge. Seite an Seite schlugen die vier sich eine

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Bresche in die Anstürmenden, und immer noch quollen alp-traumhafte Gestalten unter den Planen hervor, Männer, die grausam verstümmelt waren und sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnten. Aber unbändiger Haß trieb sie in ihrer grenzenlosen Verwirrung vorwärts. Lange Keulen flogen her-an. Die Schreie der Wahnsinnigen hallten in Mythors Ohren wie das Kreischen von Dämonen. Aber es waren keine Dämo-nen, die sich vor ihm in den Schnee warfen, wenn sie nicht mehr stehen konnten, und nach seinen Beinen griffen. Buruna kämpfte wie eine Besessene und nahm weniger Rücksicht als Mythor. Lamir ließ sich ziehen und drückte die Laute an seine Brust, als sei sie ihm wichtiger als das eigene Leben.

Gapolo ließ sein Schwert kreisen und bahnte den Weg zu den Reittieren. Mythor hatte seine Absicht, sich allein zu Pan-dor durchzuschlagen, längst aufgegeben, und es war gar nicht mehr nötig. Das Einhorn ging vorne hoch und schlug mit den Hufen nach denen, die es einfangen wollten. Hark stürzte sich ins Getümmel, und unter seiner Last gingen gleich drei Män-ner zu Boden. Der Bitterwolf war mit einigen Sätzen bei Gapo-lo und verbiß sich in den Arm eines Kriegers, dessen Schwert den Kopf des Salamiters gespalten hätte.

Mythor nahm kaum Einzelheiten des Kampfes wahr. Einen Angreifer nach dem anderen schüttelte er ab oder betäubte ihn. Als er die von Gapolo und Hark geschaffene Lücke sah, stieß er Lamir vor sich her. Buruna war bereits bei Gapolo.

Die von einem Salamiter bewachten Pferde scheuten. Gapolo sprang auf seines, und auch Buruna war bereits im Sattel, als Mythor den Barden auf den Rücken eines dritten Tieres hob. Er gab ihm einen Klaps, und das Pferd rannte mit Lamir da-von.

»Wartet nur!« schrie einer der Zerlumpten. »Ihr entkommt uns nicht! Es warten andere auf euch! Ihr…!«

Mythor stieß ihn zurück und pfiff durch die Zähne. Pandor

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tauchte aus dem Nebel auf. Der Bitterwolf hielt Mythor den Rücken frei und gab ihm die Zeit, als letzter aufzusitzen. Dann jagte er neben ihm und Pandor her in die nun einsetzende Morgendämmerung hinein.

»Wartet nicht auf mich!« schrie Gapolo. »Reitet weiter! Ich finde euch!«

Bevor jemand ihn zurückhalten konnte, riß er sein Reittier an den Zügeln herum und galoppierte zurück ins Lager. Die Ver-folger wichen entsetzt zurück. Gapolo brachte sein Pferd ganz nahe ans Feuer, beugte sich im Vorbeireiten hinab und fischte ein brennendes Scheit heraus.

Mythor und Buruna dachten nicht daran, den Salamiter im Stich zu lassen. Der Sohn des Kometen hatte die schlimme Be-fürchtung, Gapolo suche bewußt den Heldentod, um seinem Leben durch sein Opfer für die Freunde doch noch einen Sinn zu geben. Nur Lamir sah zu, daß er soviel Raum wie möglich zwischen sich und die tobende Meute brachte.

Mythor ließ Pandor tänzeln und sich drehen. Jetzt sah er, wie Gapolo auf die restlichen Pferde zuritt, die noch nicht längst Reißaus genommen hatten, und wild die Fackel schwang. Die Tiere wieherten, bäumten sich auf und galoppierten davon.

Der Salamiter schrie triumphierend, ließ sein Pferd in die Höhe steigen und ritt in scharfem Galopp auf die Wartenden zu. Hinter ihm wurden Fäuste geschüttelt und wüste Flüche ausgestoßen.

»Jetzt nichts wie weg von hier!« rief er im Vorüberreiten. »Meine Männer sind tot! Ich will diesen Haufen nicht mehr sehen, oder ich vergesse mich! Die holen uns nicht mehr ein!«

Die Amokläufer gaben die Verfolgung auf, und einige von ihnen fielen dafür selbst übereinander her.

Gapolo hatte recht. Auch Mythor wollte nichts mehr von ih-nen sehen. Ein einziger Tag hatte die Menschen dieser Breiten verändert. Und Zehntausende irrten jetzt umher, ziellos und

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krank. Mythor hatte die Vision einer gewaltigen Lawine, einer La-

wine von Menschen, die sich nach Süden wälzte, gefolgt von den Horden von Caer. Und er wußte, daß diese Vision bald Wirklichkeit sein würde. Lange bevor die Caer den Süden der Lichtwelt besetzen konnten, eilte ihnen das Chaos voraus.

Die vier Gefährten ritten ohne Rast dem neuen Tag entgegen, und bange fragte sich Mythor, was dieser Tag und alle, die ihm folgten, bringen würden.

Mit dem Licht der aufgehenden Sonne hob der Schneesturm erneut an. Die vier kamen nur langsam vorwärts, und als sie eine Hütte fanden, stiegen sie ab, um dort zu rasten. Kein Hauch kam aus dem Kamin der strohgedeckten Wohnstatt. Alle Fenster und die Holztür standen weit offen. Alles sah da-nach aus, daß diejenigen, die hier gelebt hatten, Hals über Kopf geflohen waren.

Dennoch waren die Freunde vorsichtig, vor allem, als Pan-dor unruhig mit den Hufen scharrte. Hark strich irgendwo in der Gegend umher, und auch vom Schneefalken war nichts zu sehen.

Mythor betrat die Hütte mit Alton in der Rechten. Zu seiner Überraschung brannte eine Öllampe. Doch wie er erwartet hatte, war niemand zu sehen, jedenfalls nicht in diesem Raum. Eine kleinere Tür führte in eine Kammer. Stühle und ein Tisch, ein Schrank und einige Wandbretter bildeten hier die gesamte Einrichtung. Das Feuer im Kamin war längst erloschen.

Auf dem Tisch standen einfaches Eßgeschirr, zwei Kessel mit Brei darin und tönerne Krüge, noch halb voll Ziegenmilch. Die Türen des Schrankes waren aufgerissen, und es sah so aus, als hätten die Bewohner noch hastig alles mitgenommen, was sie tragen konnten, bevor sie ihr Heim verließen.

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Aus der Kammer drang ein Stöhnen an die Ohren der Ge-fährten.

Buruna kam an Mythors Seite, während Lamir lieber bei Ga-polo blieb, der noch im Eingang der Hütte stand und un-schlüssig wirkte.

Mythor durchschritt den Wohnraum und betrat die Kammer. Sie war klein, kaum mehr als fünf Fuß breit und zehn Fuß lang. Auf einem von zwei einfachen Lagern aus Stroh lag ein Mann in Caer-Kleidung.

Mythor hatte einen Aufschrei auf den Lippen. Sein Arm mit dem Schwert zuckte in die Höhe. Und er hätte nicht zu sagen gewußt, was er in diesem Moment getan hätte, hätte er nicht rechtzeitig genug erkannt, daß er keinen Caer vor sich hatte. Allein der Anblick der Kleidung trieb ihm das Blut in den Kopf. Sie stand für alles, was er während des letzten Tages und der Nacht hatte durchstehen müssen, für Tod, Zauberei und Verderben, für unermeßliches Leid und die Bedrohung, die allgegenwärtig war.

Der Mann war schwer verwundet, ein Krieger zweifellos, aber eben kein Caer. Er hatte eher südländische Gesichtszüge. Und in seinen Augen stand der gleiche fiebrige Glanz, wie Mythor ihn schon viel zu oft bei den Überlebenden der Schlacht gesehen hatte.

Jetzt richtete er sich unter Schmerzen auf die Ellbogen auf, brachte den Kopf in die Höhe und starrte zuerst Mythor, dann Buruna an, bis sein Blick auf dem Gläsernen Schwert haf-tenblieb.

»Nicht«, flüsterte er. »Wenn diese Klinge deine ist, dann bist du der, den man den Sohn des Kometen nennt!« Diese weni-gen Worte schon strengten den Krieger so an, daß er auf den Rücken zurückfiel und nur eine Hand zur Abwehr ausstre-cken konnte. Sie zitterte. »Ich… bin kein Caer!« brachte er mühsam und mit weit aufgerissenen Augen hervor. »Schont

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mein Leben. Ich…« Mythor ließ das Schwert sinken. »Es ist gut, Freund«, sagte

er. »Das weiß ich.« Mythor ging neben dem Lager in die Ho-cke und schlug die schmutzige Decke zurück, mit der der Verwundete seinen Körper bedeckt hatte.

Mythor erschauerte. Er bedeckte den grausam verstümmel-ten Körper wieder und nickte Buruna zu.

»Sieh zu, was du für ihn tun kannst«, bat er sie, und die Lie-bessklavin verstand ihn. Buruna hatte gelernt, Wunden zu pflegen oder zumindest den schlimmsten Schmerzen Linde-rung zu verschaffen. Auch das gehörte zu ihrem Handwerk.

Der Krieger sah ihr ängstlich entgegen. »Ihr seid doch…? E-rain, es sind also nicht alle tot? Oder seid ihr Dämonen, die…?«

»Sprich jetzt nicht, Freund!« sagte Mythor. »Wir sind weder Dämonen noch tot.«

Mythor war schon in der Tür zum Wohnraum, wo Lamir und Gapolo warteten, als er den Mann noch etwas flüstern hörte. Er erstarrte und drehte sich ganz langsam um. »Was hast du da gesagt?«

Der Krieger blickte ihn verständnislos an. »Ich sagte, wenn ihr lebt, kann auch Luxon noch leben…«

Luxon! Mythor hatte tausend Fragen auf der Zunge, sah aber ein,

daß er den Südländer umbringen würde, wenn er jetzt in ihn zu dringen versuchte. Er blickte Buruna bedeutungsvoll an, und sie verstand.

Er kennt Luxon! dachte Mythor, als er sich zwischen Gapolo und Lamir in einen der zerbrechlich wirkenden Stühle setzte. Bei Erain, er mag wissen, wo Kalathee ist! Denn Luxon war der Name, den Samed genannt hatte, bevor er verschwunden war.

Mehr und mehr war Mythor klargeworden, daß dieser Un-bekannte namens Luxon jener sein mußte, der Nottr, Sadagar

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und Kalathee entführt und sich mit Kalathee selbständig ge-macht hatte, während seine Gefolgsleute den Steinmann und den Lorvaner an die Ugalier verkauften. Es mußte so sein, denn sonst hätte er Kalathee ebenfalls finden müssen.

»Woran denkst du, Mythor?« fragte Lamir traurig. »Soll ich ein Lied anstimmen, um dich…?«

»Erain bewahre mich davor!« wehrte Mythor schnell ab. »Du siehst auch nicht gerade aus, als ob du frohgelaunt wärest.«

»Ach«, seufzte Lamir, »diese Welt ist nicht die, in der ein Sänger Freude haben kann. Du hast selbst gesehen, wie diese Barbaren mich für meine Darbietung umbringen wollten.«

Mythor verzichtete auf einen Kommentar, überließ Lamir seinem Weltschmerz und sah Gapolo an.

Der Salamiter rang mit sich. Schließlich sprang er auf, ging ein paarmal auf und ab und blieb dann vor Mythor stehen. »Um unserer Freundschaft willen, Mythor!« sagte der junge Worsungen-Fürst. »Ich werde mit der Schande leben, und viel-leicht gibt es einen Weg, sie zu vergessen.« Er nickte grimmig, wie um sich selbst Mut zuzusprechen, und fügte mit resignie-rend erhobenen Händen hinzu: »Die Lilie wird eben versu-chen müssen, als Unkraut zu leben.«

Mythor stand auf und legte Gapolo die Hand auf die Schul-ter. »Danke«, sagte er nur.

Aber der Unterton in Gapolos Worten war ihm nicht entgan-gen. Auch wenn er an den Worten des Salamiters nicht zwei-felte, so spürte er doch den Hauch von Todessehnsucht, der sie begleitete. Gapolo mochte wohl hoffen, im Kampf ehren-voll zu sterben und den in der Schlacht gefallenen Recken ins Reich der Heroen folgen zu können.

»Die Lilie wird wieder blühen«, sagte er. »Strählender als je zuvor.«

»Niemals«, sagte Gapolo und tat mit einer Handbewegung kund, daß er nichts mehr davon hören wolle.

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Mythor war nur wenig erleichtert. Er fand keine Ruhe. Im-mer wieder mußte er an sich halten, um nicht in die Kammer mit Buruna und dem Südländer zu gehen, während Gapolo, zusehends von neuem Tatendrang beseelt, auf den Aufbruch drängte. Er wollte nach Süden, obwohl er fürchten mußte, daß er in seiner Heimat keine Freunde mehr finden würde.

Auch der Helm der Gerechten wies Mythor diesen Weg. Die längst vertraut gewordenen Einflüsterungen waren in den letzten Stunden wieder stärker geworden, und diese wiesen eindeutig aus, daß Mythor sich nach Süden halten mußte, wenn er sein nächstes Ziel, den nächsten Fixpunkt des Licht-boten, finden wollte – entlang der Yarl-Straße.

Mythor waren die Signale des Helmes willkommen. Sie scheinen ihm einen neuen Anfang zu weisen, nachdem alles zusammengebrochen schien, was ihm vertraut und lieb gewe-sen war.

Und vielleicht fand er tief im Süden der Lichtwelt einen wei-teren Hinweis auf Fronja. Flüchtig dachte er daran, daß er sich mit Sadagar und Nottr verabredet hatte. Er wollte sie am Ko-loß von Tillorn treffen, in knapp zwei Monden. Dies war der Ort, an dem Nottr allem Anschein nach das Pergament gefun-den hatte.

»Warte noch«, bat Mythor den Salamiter. »Wir werden den gleichen Weg haben. Aber mit leeren Bäuchen reitet sich’s schlecht, und wer weiß, was uns erwarten mag.«

Das überzeugte auch Gapolo. Er und Lamir, der damit fürs erste beschäftigt war und keine Zeit für seine Reimerei finden würde, begannen nach versteckten Vorräten zu suchen. My-thor wollte ihnen dabei helfen, als plötzlich Buruna nach ihm rief.

Er betrat die kleine Kammer. »Er redet irre«, sagte die Lie-bessklavin. »Von dir, Mythor, und von einem Luxon… und einer Kalathee…«

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Der Krieger hatte sich mit Burunas Hilfe aufgerichtet und

sich, mit dem Rücken gegen die Wand, in eine sitzende Stel-lung gebracht. Jetzt starrte er Mythor an und redete wie je-mand, der nach vielen Jahren seine Sprache wiedergefunden hatte. Die Worte sprudelten nur so aus ihm hervor, und bei all dem scheinbar Unzusammenhängenden von zunehmender geistiger Umnachtung Zeugenden, was er hörte, kristallisierte sich für Mythor ein vages Bild heraus:

Der Südländer hatte ihn erkannt, und dies löste bei ihm eine Erinnerung an Dinge aus, die er scheinbar längst vergessen hatte.

Der Mann hieß Mojrin und hatte sich mit einigen anderen als Caer verkleidet, um die feindlichen Linien zu durchdringen, wobei sie jedoch immer tiefer ins Schlachtgeschehen gerieten. Er und seine Begleiter hatten zu jener Gruppe gehört, die mit ihrem Anführer Luxon Sadagar, Nottr und Kalathee gefan-gengenommen und entführt hatten. Schon in Darain jedoch trennten sie sich von Luxon, der mit Kalathee und dem Kna-ben Samed allein weiterritt.

Mythor rüttelte an Mojrins Schultern und versuchte, ihn zur Besinnung zu bringen. Doch das Dunkel griff immer mehr nach dessen Verstand. Sie hörten nur noch sinnloses Gestam-mel, aus dem immerhin klar wurde, daß Mojrin wirklich nichts über den weiteren Verbleib von Luxon, Kalathee und Samed wußte.

Enttäuscht ließ Mythor ihn los. Buruna blickte ihn eigenartig an. Sie versuchte erfolglos, ihre sofort aufgeflammte Eifersucht zu verbergen, als sie sah, wie sehr Mythor über das Schicksal einer anderen Frau besorgt war.

Eines aber war nun gewiß: Kalathee befand sich bei jenem geheimnisvollen Luxon.

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Buruna folgte Mythor zur Tür. Scharf fragte sie: »Wer ist die-se Kalathee? Warum willst du wissen, wo sie ist?«

»Vergiß es«, riet Mythor ihr. Er sah über die Schulter. Mojrin stammelte weiterhin leise vor sich hin.

»Wie lange noch?« »Ein paar Stunden«, sagte Buruna. »Aber es wäre gnädiger

für ihn, wenn er… Ich habe ihm die Schmerzen genommen. Seinen Geist kann ich nicht gesund machen.« Sie packte My-thors Arm. Ihr Tonfall wurde flehend. »Mythor, willst du mir nicht sagen, wer sie ist? Bedeutet sie dir so viel?«

»Sie ist mir weniger als ich ihr«, murmelte der Sohn des Ko-meten. »Sie ist eine alte Freundin, eine, die man nicht im Stich läßt. Oder möchtest du im Stich gelassen werden?«

»Nein! Aber…« »Dann laß es gut sein und zerbrich dir nicht den hübschen

Kopf.« Mythor küßte sie. »Er wird noch gebraucht.« Buruna ließ sich schnell versöhnen. Mythor entwand sich ih-

rer Umarmung und sah nach, ob Lamir und Gapolo etwas ge-funden hatten. Und tatsächlich kam gerade der Barde mit zwei großen Räucherschinken eine Treppe herauf, die unter einer versteckten Bodenklappe in einen Keller führte. Ein Topf mit gepökeltem Fleisch und fünf bauchige Flaschen standen schon vor Gapolo auf dem Boden.

»Wir stärken uns und brechen dann auf«, sagte der Salami-ter. »Wir sollten zusehen, daß wir weit genug von hier fort sind, wenn dieser Tag zu Ende geht.«

Gapolo schnitt dicke Scheiben vom Fleisch ab und verteilte sie. Eine Flasche wurde geöffnet und machte die Runde. My-thor war in seine Gedanken vertieft. Durften sie den Sterben-den hier einfach zurücklassen?

Nach dem dritten tiefen Schluck Wein griff Lamir nach sei-ner Laute. Geistesgegenwärtig schob Buruna ihm ein Stück Schinken in den Mund, als er zu singen anhob.

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Plötzlich spürte Mythor eine innere Unruhe wie seit der Flucht aus dem Lager nicht mehr. Irgend etwas geschah, et-was, das nicht greifbar und nicht zu sehen war. Es kündigte sich an, und…

Aus der Kammer drang ein grauenvoller Schrei. »Hört ihr sie? Hört ihr sie denn nicht? Sie kommen, um uns

mit sich zu nehmen!« Mojrins Stimme überschlug sich. »Die Geisterreiter!«

Schinken und Flasche fielen zu Boden. Lamir spuckte das Fleisch aus. Die Gefährten sprangen auf.

Und plötzlich wurde es dunkel. Nur die Öllampe tauchte den Raum in flackerndes, gespenstisches Licht. Mythor lief zu einem der offenen Fenster. Der Himmel hatte sich verfinstert, und es fiel kein Schnee mehr.

Dafür hörte er das Hufgetrappel. Es kam von Hunderten von Rossen, und die Hufe schlugen auf harten Boden. Eine mäch-tige Reiterei kam da heran und zog über die vor Schreck Er-starrten hinweg.

Sie lagen am Boden. Nur Mythor stand noch am Fenster und versuchte wider besseres Wissen, irgend etwas zu erkennen. Unter dem Hufschlag hätte die Erde erzittern müssen, und die Lehmhütte wäre in Grund und Boden gestampft worden, hätte es sich um leibhaftige Reiter gehandelt, die in einem schier unaufhörlichen Zug über die Freunde hinweggaloppierten. Es war nichts zu sehen, nichts außer einigen unheimlichen Leucht erscheinungen am Himmel. Und nur Mojrins Schreien mischte sich in das ohrenbetäubende Donnern der Hufe.

Dann waren sie vorbei. Der Hufschlag verklang. Die Helden der Schlacht von Dhuannin ritten weiter in ihr unheimliches Reich hinein, trieben ihre Rosse über die Ebenen jener Welt, in die sie die Schwarze Magie der Dämonenpriester geschleudert hatte.

Die folgende Stille war vollkommen. Kein Lufthauch regte

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sich, und als es draußen wieder hell wurde, schien die Sonne von einem wolkenlosen, klaren Himmel herab.

Gapolo, Lamir und Buruna richteten sich auf. Niemand sprach ein Wort, und auch Mojrins Schreie waren verstummt. Der Südländer lag mit weit aufgerissenen Augen und gebro-chenem Blick in der Tür zur Kammer. Er war tot.

Lamir wandte sich beim Anblick des verstümmelten Körpers ab. Für Mythor war es unbegreiflich, wie Luxons ehemaliger Komplize sich bis zur Tür geschleppt hatte.

»Laßt uns gehen«, forderte Gapolo mit Nachdruck, und nie-mand widersprach mehr.

Die Freunde bestatteten den Toten vor der Hütte, packten Schinken und Weinflaschen in die Satteltaschen der Pferde, stiegen auf und ritten davon.

Horus kreiste hoch am Himmel, als sie den Weg nach Süden antraten. Es war nach wie vor bitter kalt, aber die Geisterreiter schienen Schnee und Sturm mit sich genommen zu haben.

Mythor versuchte sich Graf Corian, Cannon Boll und all die anderen vorzustellen, die den Spiegeltod gestorben und nun dazu verurteilt waren, für immer über die unwirklichen Wei-ten einer anderen Welt zu galoppieren. Dabei stand nicht ein-mal fest, ob Corian und andere von Lamir Besungene tatsäch-lich unter ihnen waren. Mit Sicherheit allerdings wußte My-thor, daß er die Geisterreiter nicht zum letztenmal gehört hat-te.

Der Helm der Gerechten sagte: Nach Süden! Er gab keine Auskunft darüber, was Mythor dort finden sollte.

Sie ritten den ganzen Tag und machten nur einmal für eine halbe Stunde Rast, als sie die Yarl-Straße erreichten. Hier, so schien es, hielt der vor Jahren von den Yarls in den Boden ge-stampfte Weg keine Gefahren für jene bereit, die ihren Fuß auf

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ihn setzten. Zwar war auf eine Breite von fast zweihundert Schritt der Boden wie glasiert, und keine noch so widerstands-fähigen Pflanzen hätten darin Fuß fassen können, aber kein Getier huschte über den schwarzgrauen, zerfurchten Streifen öden Landes. Doch das mochte täuschen. Es gab Verstecke zuhauf, in denen die kleinen Mörder auf ihre Opfer lauern mochten.

Von nun an hielten die vier Reiter sich dicht an dem quer durchs Land ziehenden Band. Sie begegneten auch jetzt noch vereinzelten Gruppen versprengter, Krieger und Söldner ohne Führer, die alle nach Süden zogen, sich aber davor hüteten, die Yarl-Straße zu überqueren. Meist gehörten sie zu den Überle-benden der 50.000 Mann, die der Herzog von Nugamor in die Schlacht geschickt hatte, und offensichtlich wollten sie versu-chen, sich nach Westen zu ihrer Heimatstadt durchzuschlagen. Dabei wußte keiner von ihnen, ob sie nicht ein schon von den Caer besetztes Nugamor vorfinden würden.

Die vier Gefährten machten große Bogen um die Flüchten-den. Jene, die zu Fuß waren, bildeten keine Gefahr. Andere aber, die noch über Reittiere verfügten, jagten sie oft bis zur völligen Erschöpfung ihrer Pferde, wenn sie Mythor erkann-ten. Manche fielen vor Entkräftung aus dem Sattel, und keiner ihrer Kameraden kümmerte sich um sie. Immer noch trieb der Wahnsinn diese Menschen, und es würde viele Tage dauern, bis sie wieder zu sich selbst fanden.

Mythor hatte die Parole ausgegeben, jedem Kampf auszu-weichen.

»Auch du hast deine Freunde verloren«, sagte Gapolo, als sie über hügeliges Land ritten und ihren Pferden Schonung gönn-ten. »Jene, die zu dir aufsahen, haben sich gegen dich ge-wandt.«

»Sie setzten zuviel Hoffnung in den, von dem sie sich Wun-derdinge erwarteten«, murmelte Mythor niedergeschlagen.

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»Ich kann sie nicht verurteilen. Sie müssen sich auf sich selbst und ihre Kraft besinnen, sonst sind sie verloren.«

»Wie?« fragte Gapolo zweifelnd. »Sie haben ihre Führer ver-loren.«

»Sie werden neue finden, und bei Erain, es sollen keine mit schwarzen Mänteln sein!«

Sie ritten weiter, nun nicht mehr in Sichtweite der Yarl-Straße, nachdem sie auf der anderen Seite des unfruchtbaren Bandes einen Trupp Caer erspäht hatten. Die Erkenntnis, daß die Horden von der Insel, offenbar die Verwirrung nach der Schlacht ausnutzend, schon so weit nach Süden vorgedrungen waren, dämpfte auch den letzten Rest von Hoffnung, den sie sich bewahrt hatten.

Sie begegneten immer weniger Überlebenden. Einmal schnit-ten ihnen etwa fünfzig Berittene den Weg ab. Zum Kampf ge-rüstet, stellten die vier zu ihrer Erleichterung fest, daß es sich um Männer aus Nugamor handelte, Bauern, Knechte und selbst halbe Kinder, die zum letzten Aufgebot des Herzogtums gehört und das Schlachtfeld nicht mehr rechtzeitig erreicht hatten. Sie waren allerdings Überlebenden begegnet, und an der Art ihrer Fragen erkannten die Gefährten, daß schon jetzt die wildesten Gerüchte über den Verlauf der Schlacht im Um-lauf waren. Die Männer fragten, ob es wahr sei, daß Mythor und die Heerführer die Krieger an die Mächte der Finsternis verkauft hätten, wie sie es gehört hatten. Sie konnten und wollten nicht daran glauben und boten Mythor an, ihn auf sei-nem Weg zu begleiten.

Mythor dankte ihnen und schickte sie nach Hause, er trug ihnen auf, die Wahrheit über die Schlacht zu berichten. Fast kam er sich dabei wie ein Bittsteller vor. Er hatte keinen Grund, sich rechtfertigen zu müssen.

Dies war die letzte Begegnung mit anderen bis zum Abend. Kurz vor Sonnenuntergang fanden Mythor, Buruna, Lamir

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und Gapolo eine Ruine nahe an der Yarl-Straße. Bevor sie sich entschlossen, hier die Nacht zu verbringen, ritt Mythor im Schutz der hier dicht beieinanderstehenden hohen Tannen bis knapp an die Straße heran, stieg ab und schlich zur Kuppe eines kleinen Hügels weiter, von wo aus er einen guten Über-blick über das sich anschließende Gelände hatte.

Flach auf den Boden gepreßt, sah er auf der gegenüberlie-genden Seite der Yarl-Straße Caer-Wächter und zerlumpte Männer, die jene Langsteine, die er bereits gesehen hatte, unter der Leitung eines Dämonenpriesters entlang dem unfruchtba-ren Band aufstellten.

Mythor kehrte zu den Freunden zurück und berichtete knapp. Sie brachten ihre Reittiere hinter die Ruine, und wie schon bei der Hütte übernahm Pandor es, die drei Pferde zu bewachen. Sie wurden jedoch zur Sicherheit noch angebun-den.

Jetzt zeigte sich die Erschöpfung bei Gapolo, Buruna und Lamir. Sie nahmen ihre Satteldecken und betteten sich darauf, nachdem sie sich noch einmal mit Fleisch und Wein gestärkt hatten. Mythor fühlte sich noch frisch genug, um die erste Wa-che zu übernehmen, was ihm böse Blicke des Barden einbrach-te. Lamir schickte sich gerade an, ein Schlaflied anzustimmen, als Mythor sich vor der Ruine in den hier noch spärlich lie-genden Schnee hockte.

Buruna und Gapolo ertrugen die Darbietung mit Fassung. Ob sie tatsächlich dabei einschliefen, wußte Mythor nicht. Ihn beschäftigte anderes: die Caer auf der anderen Seite der Yarl-Straße.

Wenn es richtig war, daß die überall aufgestellten Langsteine wesentlichen Anteil an der Beschwörung der dämonischen Kräfte hatten, die die Schlacht auf dem Hochmoor entschieden hatten, welche Aufgabe sollten dann jene erfüllen, die jetzt dort droben aufgestellt wurden?

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Mythor dachte an die Reaktion der Tainnier, als Churkuuhl in die Fluten des Meeres der Spinnen gestürzt war, ins Ver-derben gerissen von den dämonisierten Yarls. Er sah wieder deutlich vor sich, wie die Krieger des Herzogs von Elvinon die Marn vor sich her trieben und niedermetzelten. Er dachte an all die Gerüchte, daß die Marn vom Bösen besessen waren.

Und er erinnerte sich an einen alten Freund, dem er auf der Wanderschaft nicht weit von hier begegnet war: den Drachen Feuerauge. Auf wunderbare Weise hatte er Anteil an den Er-innerungen und Vorstellungen des Drachen gehabt. Darin wa-ren die Yarls und die Marn Schattengeschöpfe gewesen, die der Dämon Quyl erschaffen und in die Welt der Lebenden ausgesandt hatte, um sie zu erkunden und Schattenbastionen zu schaffen.

Sie hatten eine von Leben entleerte Straße geschaffen, die tief im Süden ihren Ursprung hatte. Diente diese unheimliche Straße einem ganz bestimmten Zweck? Sollten auf ihr einmal die Caer gegen den Süden in den Krieg ziehen? War es das, was Churkuuhl vorbereitet hatte? Wurde die Yarl-Straße des-halb nun von den Caer befestigt?

Und es war eine Befestigung, die sie vornahmen, wenn auch nicht im herkömmlichen Sinn. Eine magische Befestigung, die aus dem verödeten Streifen eine Straße für Dämonisierte ma-chen sollte.

Mythor schwankte. Einerseits durfte er die Gefährten nicht im Stich lassen, denn es mochte doch noch allerhand Gesindel in der Nacht unterwegs sein. Zum anderen aber drängte es ihn, zum Lager der Caer zu schleichen, wo er vielleicht dieses oder jenes in Erfahrung bringen konnte.

Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Doch er setzte sich wie-der hin, als er sah, wie Burunas üppige Gestalt sich aus der Dunkelheit schälte. Trotz der Kälte hatten die Gefährten es vorgezogen, auf ein verräterisches Feuer zu verzichten. Nur

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der Mond warf sein fahles Licht über die Wipfel der Tannen ringsum.

»Du solltest schlafen«, flüsterte Mythor, als die Liebessklavin sich zu ihm setzte und sich an ihn kauerte.

»Ohne dich, Geliebter? Du brauchst mich, um auf andere Gedanken zu kommen, und ich brauche dich, um von dir ge-wärmt zu werden.« Kokett fügte sie hinzu, während ihre Hände über seinen Körper glitten: »Mächtig gewärmt. Ich vermisse das schon zu lange, Mythor.«

Er spürte ihre Leidenschaft, und für Augenblicke war er ver-sucht, seinen eigenen Gefühlen nachzugeben.

Doch keine tausend Schritt entfernt waren die Caer an ihrem unseligen Werk…

»Später«, flüsterte er zu Buruna. »Ich verspreche dir, wir ho-len alles nach.«

Buruna verzog enttäuscht das Gesicht. Ihre großen Augen sahen ihn forschend an. »Ich werde für dich Wache halten«, sagte sie dann. »Tu, was du tun mußt, aber sei vorsichtig. Du wirst mich nicht mitnehmen, oder?«

Hoffnung schwang in ihren Worten mit, doch sie kannte My-thor zu gut, um eine Antwort zu erwarten.

»Du wirst einschlafen«, sagte Mythor. »Bestimmt nicht. Wie sollte ich einschlafen können, wenn ich

dich in Gefahr weiß?« Mythor gab sich einen Ruck. Er drückte Burunas Hände,

küßte sie und lächelte. Dann erhob er sich, rückte den Helm zurecht und tastete nach der Scheide mit dem Gläsernen Schwert. Kurz sah er zu den Pferden und Pandor hinüber. Der Bitterwolf tauchte hinter einem Mauervorsprung auf. Für Au-genblicke glühten seine Augen in der Dunkelheit, dann war er wieder verschwunden.

»Paß auf dich auf!« rief Buruna noch einmal leise. Mythor nickte ihr zu. Dann schritt er endgültig davon.

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Von der Hügelkuppe aus sah er mehrere Feuer und in ihrem

Schein die Zelte der Caer. Er zählte sechs von ihnen. Immer noch waren die Sklaven dabei, die gewaltigen Langsteine auf-zurichten. Der schwarze Priester stand auf einem schweren Karren und dirigierte die Arbeiter mit den Armen.

So sicher fühlen sie sich! dachte Mythor verbittert. Als ob das ganze Land, die ganze Welt ihnen bereits gehörte!

Im Schutz von Büschen und hohem Gras schlich er sich den Hügel hinunter bis zur Yarl-Straße, wo alles Pflanzenwachs-tum abrupt aufhörte. Einen Moment lang zögerte er, bevor er den Fuß auf die glasierte Erde setzte.

Die nächste Arbeitsgruppe befand sich gut dreihundert Schritt weiter südlich am gegenüberliegenden Rand des schwarzen Bandes. Der Priester hatte Mythor halb den Rücken zugewandt, und der vor Mythor liegende Abschnitt der Straße war dunkel.

Vorsichtig und geduckt ging der Sohn des Kometen weiter. Erst als er die Mitte der Straße erreicht hatte, blieb er stehen und sah sich um. Insgeheim hatte er damit gerechnet, daß Bu-runa ihm doch folgte. Aber alles blieb still. Kein heimtücki-sches Getier kroch aus seinen Löchern, um Giftzähne in seine Schenkel zu schlagen. Kein magischer Einfluß griff nach sei-nen Sinnen. Hier war die Yarl-Straße tatsächlich friedlich. A-ber wie lange noch?

Mythor schritt weiter über das grob zerfurchte Band, das an einigen Stellen leicht im Mondlicht schimmerte. Unentdeckt erreichte er bewachsenes Land und warf sich ins hole Gras. Erst jetzt, als er gelegentliches Rascheln aufgescheuchter Klein-tiere um sich hörte, wurde ihm bewußt, wie unheimlich die Stille doch gewesen war.

Der Friede täuschte. Es war eine Strecke des Unheils, die von

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den Yarls ins Land getrieben worden war, eine Straße des Bö-sen.

Mythor schlich weiter, weit im Rücken des Priesters und großem Bogen um die Sklaven und ihre Bewacher herum, auf das Lager zu. Auf allen vieren kroch er bis zu einem der Zelte heran. Weiter vor durfte er sich nicht wagen, selbst wenn er wie Mojrin eine Caer-Uniform getragen hätte. Hier kannte je-der jeden, und er wäre sofort aufgefallen.

Mythor schob den Kopf gerade so weit in die Höhe, daß er am Zelt vorbei auf den sechseckigen freien Platz mit den Feu-ern blicken konnte. Caer saßen auf Holzkisten und roh ge-zimmerten Bänken und aßen und tranken. Einige grölten, ein weiteres Zeichen dafür, daß sie sich völlig sicher fühlten. Und das konnten sie, denn der ganze Osten, ganz Tainnia war wohl mittlerweile in ihrer Hand. Nach der großen Niederlage stell-ten auch Cannon Bolls versprengte Widerstandskämpfer kaum noch eine ernstzunehmende Gefahr für sie dar. Vermut-lich waren die Sklaven eingefangene Rebellen.

Mythor konnte nicht viel von dem verstehen, was die Krie-ger sich zuriefen, aber was er verstand, reichte aus, um ihn in Zorn zu versetzen. Sie feierten den Sieg Drudins über die Lichtwelt und schmähten jene, die bei der Schlacht ihr Leben verloren hatten.

Etwa eine halbe Stunde lang beobachtete und lauschte My-thor, aber keiner der Caer sprach darüber, warum sie hier wa-ren. Schon wollte Mythor sich vorsichtig zurückziehen, als er Hufgetrappel hörte.

Er drückte sich noch tiefer ins Gras und wandte den Kopf. Im fahlen Mondlicht sah er vier dunkle Gestalten, die sich zu Pferde über die Yarl-Straße näherten. Erst kurz vor dem Lager verließen sie sie und ritten nur etwa fünfzig Schritt an Mythor vorbei ins Lager ein. Caer sprangen auf und nahmen die Zügel ihrer Pferde. Die vier Reiter saßen ab und begaben sich zu den

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Feuern, ohne auch nur einen Blick hinüber zu den Arbeiten-den und dem Priester zu werfen, der sie lenkte.

Ein zweiter Priester trat aus einem der Zelte, und noch bevor er die Ankömmlinge erreichte, erkannte Mythor, wen er vor sich hatte. Eiskalt lief es ihm über den Rücken.

Er hatte diese vier Reiter schon gesehen. Das war gewesen, als er mit seinen Freunden und drei von Cannon Bolls Leuten versucht hatte, dem von den Rebellen aus Elvinon so sehnlich erwarteten Herzog Krude entgegenzureiten, der angeblich aus der Gefangenschaft der Caer hatte ausbrechen können.

Nun waren sie alle vier schwarz vermummt. Nicht einmal ihre Gesichter waren zu sehen. Doch für Mythor gab es keinen Zweifel daran, daß er jene vor sich hatte, die die drei Rebellen niedergemetzelt hatten, als diese auf den dämonisierten Krude zuritten. Und Krude war einer von ihnen, obwohl er nun nicht mehr seine Kriegsrüstung trug.

Der Priester begrüßte sie. Seine silberrote Gesichtsmaske leuchtete im Schein der Feuer. Doch wenn Mythor geglaubt hatte, die vier Ankömmlinge würden ihre Gesichter zeigen, so wurde er enttäuscht.

Sie sprachen miteinander, aber so leise, daß er kein Wort ver-stehen konnte. Selbst die Krieger der Caer hatten sich zurück-gezogen, als ob das, was geflüstert wurde, nichts für ihre Oh-ren sei.

Aber was suchte Krude hier? Und was seine drei Mordgesel-len?

Als die Vermummten das Zelt des Priesters betraten, zog Mythor sich zurück. Es war unmöglich, unentdeckt nahe ge-nug heranzukommen, um vielleicht doch ihre Unterhaltung belauschen zu können. Mythor mußte sich mit dem begnügen, was er gesehen hatte.

Von finsteren Ahnungen geplagt, machte er sich auf den Rückweg, und die Zukunft wäre ihm noch düsterer erschie-

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nen, hätte er gewußt, wer unter den Vermummungen steckte. So aber beschäftigten ihn quälende Fragen, ob er nicht die Pflicht habe, Herzog Krude zu helfen, und ob es überhaupt noch möglich sei, den Vater Nyalas vom dämonischen Bann zu befreien.

Als er die Ruine erreichte, fand er Buruna nicht mehr drau-ßen vor, dafür aber eine recht eindeutige Situation im Inneren des zerfallenen Bauwerks.

Buruna lag eng an Gapolo gekuschelt. Sie hatte sich ein an-deres »Opfer« für ihre Leidenschaft gesucht. Nur für einen Augenblick empfand Mythor Zorn auf sie, aber nicht, weil sie einem anderen die Freuden ihres Körpers geschenkt hatte. Damit hatte sie vielleicht das erreicht, was noch so viele Worte nicht schafften: dem Salamiter neuen Lebensmut zu geben. Und wahrscheinlich war genau das ihre Absicht gewesen.

Nein. Mythor ärgerte sich darüber, daß sie ihr Wort nicht gehalten hatte und die Ruine unbewacht ließ.

Lamir schlief fest und machte eine besondere Art von Musik: Er schnarchte. Allerdings mußte Mythor zugeben, daß dies auch nicht viel schlechter klang als seine sonstigen Darbietun-gen.

Er fand einen noch halb vollen Weinschlauch und setzte ihn an seinen Mund. Er trank in vollen Zügen, bis er leer war. Da-nach fühlte er sich ein wenig besser, schläfrig zwar, aber die trübsten Gedanken waren ihm für einen Augenblick genom-men. Doch er durfte nicht schlafen. Jemand mußte hinaus, Wache halten.

Mythor trat aus der Ruine und fand zu seiner Überraschung Hark dort zusammengekauert, wo sein Platz hätte sein sollen. Der Bitterwolf hob den Kopf; samtig glühten seine Augen in der Dunkelheit. Harks Schweif wedelte über den Boden, als Mythor sich neben ihn hockte und ihm durchs Nackenfell strich.

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»Braver Kerl«, murmelte Mythor, und als habe Hark seine Worte verstanden, begann er, Mythors Arm zu lecken.

»Du meinst, du willst die Wache übernehmen?« fragte My-thor amüsiert. »Wahrhaftig, einen Besseren als dich wüßte ich nicht dafür.«

Mythor stand auf und sah nach Pandor und den Pferden. Pandor war hellwach. Mythor gab ihm einen Klaps auf den Hals und sah, daß auch hier alles ruhig war.

Nur als der Wind einmal die Arbeitsgeräusche der Caer und ihrer Sklaven über die Yarl-Straße und die Hügel herübertrug, schnaubte das Einhorn verstört.

Auf Pandor und Hark würde er sich verlassen können, über-legte Mythor. Und sicher kreiste irgendwo über der Ruine Ho-rus, wenn er nicht gerade Jagd auf Mäuse und anderes Klein-getier machte.

Mythor ging zurück zu den anderen und legte sich hin. Er lag nicht lange wach. Mit den Händen auf Fronjas Bildnis un-ter dem Wams schlief er ein.

Er schlief fest, die ganze Nacht hindurch, und er sah und hörte nicht, wie sich ihm jemand auf Zehenspitzen näherte, eine Weile bei ihm verharrte, um sich dann ebenso lautlos wieder zurückzuziehen.

Mythor erwachte, als die ersten Strahlen der Wintersonne wie Lichtspeere durch die schmalen Fenster, Scharten und über Mauervorsprünge in die Ruine fielen.

Lamir saß neben Hark im Eingang und machte sich an dem Kadaver einer Katze zu schaffen. Gapolo und Buruna schliefen noch.

Mythor ging an Lamir vorbei hinaus und wurde von Hark zur Begrüßung angesprungen. Er spielte mit dem Wolf und wusch sich das Gesicht mit dem wenigen Schnee, der noch vor

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der Ruine lag. Sein Gesicht brannte. Allmählich wurde Mythor klar. Der

Wein war schwer gewesen, doch die Benommenheit wich schnell. Und plötzlich wußte der Sohn des Kometen, daß et-was nicht stimmte.

Einige Herzschläge lang stand er da und versuchte zu er-gründen, woher die Unruhe kam, die ihn erfaßt hatte. Dann war es wohl eine Eingebung, die ihn über sein Wams tasten ließ, über die Stelle, wo er das Pergament mit dem Bildnis Fronjas trug.

Es war nicht mehr da! Mythor stieß einen Schrei aus. Er griff unter das Wams,

konnte nicht glauben, daß er seinen wertvollsten Besitz verlo-ren hatte. Aber seine Hand tastete nur über die eigene Haut. Und das Pergament hatte er noch angesehen, bevor er sich hinlegte!

Mythor fuhr herum. Lamir sprang entsetzt auf und begann zu stammeln, als er diesem Blick aus Mythors Augen begegne-te: »Wa… was hast du? Ist dir nicht gut? Sieh mich… nicht so an. Ich…!«

Mythor stürmte an ihm vorbei bis zu Gapolo und Burunas Lager. Die beiden waren wach und starrten ihn überrascht an. Mythor riß die Decke, die sie über sich gebreitet hatten, mit einem Ruck zurück.

»Gib es her!« fuhr er die Liebessklavin an. »Gib mir das Per-gament!«

»Mythor, du bist… wahnsinnig! Wovon redest du?« Er klopfte sich gegen die Brust. »Davon! Wer sonst könnte

mir das Bildnis gestohlen haben? Zum letzten Mal, gib es zu-rück! Buruna, ich spaße nicht!«

Gapolo sprang auf und sah zu, daß er in seine Kleider schlüpfte. Buruna dachte nicht daran, es ihm gleichzutun. Un-bedeckt, wie sie war, richtete sie sich halb auf und nahm eine

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provozierende Pose ein. »Mythor, du kannst mir keine Angst machen. Schlag mich, wenn dir danach ist! Tu mit mir, was du willst! Aber falls du zürnst, weil ich mich Gapolo hingab, dann sag es freiheraus! Bestrafe mich, aber hör auf, wie ein Kind zu reden! Was ist mit dem Pergament?«

Sie redete so überzeugend, daß Mythor zu zweifeln begann. Doch wer anders als sie in ihrer fast krankhaften Eifersucht sollte ihm das Pergament entwendet haben? Andererseits, was konnte sie sich davon erhoffen? Sie war nicht dumm und würde wissen, was er…

Mythor kam nicht mehr dazu, der Sache nachzugehen. Plötz-lich hörte er Lamir rufen, und Hark knurrte drohend.

Der Barde kam in die Ruine. Er zeigte nach draußen, und seine Augen waren weit aufgerissen. »Reiter!« rief er. »Es sind viele. Sie kommen über die Hügel, aus der Richtung, aus der wir auch kamen!«

Mythor und Gapolo sahen sich an. Augenblicklich war ias Pergament zweitrangig geworden.

»Zieh dich an!« sagte Mythor zu Buruna, bevor er mit Lamir nach draußen eilte.

Lamir hatte recht. Mindestens zwei Dutzend Berittene ka-men über die Hügel heran, in scharfem Galopp.

»Keine Caer«, knurrte Mythor. »Sie würden die Yarl-Straße benutzen.«

»Aber…« Lamir schluckte. »Du meinst, die Kerle, die uns tö-ten wollten?«

»Wir sollten besser damit rechnen. Hol die Pferde, Lamir. Gapolo?«

Der Salamiter stand bereits voll ausgerüstet und mit den Waffen in der Hand neben ihm. »Sie müssen es sein«, sagte Gapolo ze Chianez tonlos. »Bei Erain! Und sie haben sich ver-stärkt!«

Lamir brachte die Pferde. Pandor kam allein herangetrabt

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und blieb neben Mythor stehen. Buruna erschien und reichte Mythor Helm und Schwert.

Jetzt waren das Hufgetrappel der Reiterei zu hören und die Schreie, die die Horde ausstieß, als sie die vier bei der Ruine sahen. Und das nahm die letzten Zweifel. »Das gilt uns!« rief Mythor. »Auf die Pferde! Wir reiten auf die Yarl-Straße!«

Lamir hatte seinem Reittier bereits Decke und Sattel aufge-legt und war aufgesessen. Gapolo und Buruna beeilten sich, die Decken aus der Ruine zu holen. Mythor half der Liebes-sklavin, hob sie in den Sattel und sprang auf Pandors Rücken.

»Wieso auf die Yarl-Straße?« fragte Gapolo. »Die Caer wer-den uns sehen und…«

»Uns und die Burschen dort! Aber wir haben ausgeruhte Tie-re! Kommt!«

Die vier Freunde verloren keine Zeit mehr. Die anrückende Meute trieb ihre Tiere mit Peitschen und Knüppeln an. Als die Gefährten die Ruine hinter sich ließen, waren die Reiter nur noch knapp hundert Schritt hinter ihnen, und ihr Gebrüll hall-te wie Dämonengeschrei in den Ohren.

Schon jetzt mußten die Gaer aufmerksam geworden sein. Pandor trug Mythor wie der Wind. Die drei anderen konnten kaum mithalten. Immer wieder mußte Mythor warten, bis sie aufgeholt hatten.

»Wie groß muß ihr Haß sein!« schrie Gapolo. »Laß uns kämpfen, Mythor!«

»Nein! Nicht Haß treibt sie, sondern Schmerz! Sollen die Caer das Kämpfen übernehmen! Und gebe Erain, daß die Ver-blendeten sich schnell genug besinnen und kehrtmachen!«

Sie ritten zwischen Tannen den Hügel hinauf, von dem aus Mythor die Caer und ihre Sklaven beobachtet hatte, den Ab-hang hinunter und auf die Yarl-Straße.

»Nach Süden!« rief Mythor. In scharfem Galopp jagten die Freunde über den unfruchtba-

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ren Weg. Hinter ihnen kamen die Verfolger den Hügel herab, und zur Rechten sprangen Caer auf ihre Pferde. Ein Priester, jener, der die Schwarzvermummten empfangen hatte, erschien und bellte Befehle.

Mythor sah sich im Reiten um. Er hatte sich etwas zurückfal-len lassen. Für Augenblicke sah es so aus, als hetzten die Caer hinter ihnen her. Doch dann entbrannte ein mörderischer Kampf zwischen ihnen und jenen, die gekommen waren, um Mythor und die, die zu ihm standen, zu richten. So groß ihr Haß auf die sein mochte, von denen sie glaubten, sie hätten sie verraten, der Haß auf die Caer war ungleich größer. Nur we-nige nahmen die Verfolgung der Freunde auf, doch auch sie wurden alsbald von den Caer eingeholt und niedergemacht. Sie wehrten sich mit allem, was sie hatten, aber gegen die Ü-bermacht der Inselbewohner waren sie ohne Chance. Der Kampf war kurz, und es war grauenvoll anzusehen, wie die Männer starben.

Mythor mußte sich zum Weiterreiten zwingen. Eine Gruppe Caer nahm anstelle der Verblendeten die Verfolgung auf. Doch dann sah Mythor, wie der Priester sie zurückbefahl.

»Weiter!« rief er den Freunden zu und schloß zu ihnen auf. »Wenn auch nur einer uns erkannt hat, werden sie uns auf den Fersen sein bis zur Düsterzone!«

»Die gewiß nicht unser Ziel sein wird!« rief Lamir. Auch Gapolo schrie etwas, das im Schlagen der Hufe auf den

harten Boden unterging. Der Wind griff in die Haare der Rei-ter. Mythor wischte sich Strähnen aus dem Gesicht.

Sie ritten weiter in scharfem Galopp, immer der Yarl-Straße nach, die ihre Schrecken noch nicht preiszugeben gewillt schien. Das Caer-Lager und die auf eine lange Strecke aufge-stellten Langsteine verschwanden aus der Sicht. Vor den Ge-fährten lag unebenes, karges Land. Nur noch vereinzelt stan-den Tannen, Fichten und Birken. Der Schnee auf der Yarl-

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Straße war geschmolzen, und schmutziges Wasser sammelte sich in tiefen Furchen. Sie kamen flott voran. Erst als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, machten sie halt.

Gapolo, der zuletzt an der Spitze geritten war und die ganze Zeit kein Wort gesprochen hatte, zeigte mit ausgestrecktem Arm voraus. »Was ist das?« fragte er atemlos. »Nebel?«

Mythor kniff die Augen zusammen. Tatsächlich war in der Ferne Dunst über der Yarl-Straße zu sehen.

Es war wärmer geworden, viel zu warm für diese Jahreszeit, fast schon heiß. Und so weit nach Süden waren die Freunde noch nicht vorgestoßen, daß darin die Erklärung liegen konn-te. Rechts und links der Straße lag stellenweise noch Schnee. Büsche und Laubbäume waren kahl.

»Wartet hier«, sagte Mythor. Dann verließ er den verbrann-ten Streifen und ritt ein Stück nach Westen. Sofort wurde es eisig kalt.

»Ich fürchte, daß die Straße die längste Zeit ruhig gewesen ist«, sagte er, als er zurück war. Wieder nahm er den Helm ab, und diesmal spürte er ganz schwach etwas Bedrückendes, un-sagbar Fremdes. Lamirs und Gapolos Blicke zeigten ihm an, daß auch sie davon betroffen waren. Allein Buruna, die sich den ganzen Ritt über auffallend zurückgehalten hatte, schien nichts wahrzunehmen.

Mythor setzte den Helm der Gerechten wieder auf. Sofort nahm er die lautlosen Einflüsterungen wieder wahr, die ihm sagten: Nach Süden! Über die Yarl-Straße!

»Wir sollten diesen Weg verlassen«, sagte Lamir, »und wei-ter über Land reiten.«

Ein Bein der halb zerlegten Katze hing aus einer Satteltasche. »Was hast du eigentlich damit vor?« erkundigte sich Buruna.

»Sie verzehren?« »Wie kannst du!« entrüstete sich der Barde. »Du warst selbst

dabei, als einer dieser Halunken mir so in die Saiten griff, daß

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eine von ihnen sprang. Und vielleicht hast du gehört, daß man die besten Saiten aus Katzendarm macht.«

»Und wie?« »Weiß ich noch nicht, aber ich werde es herausfinden.« Mythor hörte kaum zu. Er bezweifelte aber, daß Lamir in

nächster Zeit zu seinen Experimenten kommen würde. Die Straße hinter ihnen war frei, und gerade das machte My-

thor mißtrauisch. Warum hatte der Dämonenpriester die Caer zurückgewinkt?

Er ließ Pandor eine halbe Drehung vollführen und sah die Gefährten der Reihe nach an. »Ich werde auf diesem Weg wei-terreiten. Keinen von euch kann ich zwingen, mich zu beglei-ten.«

Lamir erschrak. Sein Blick richtete sich auf das, was wie eine Nebelwand aussah.

»Auf mich kannst du zählen, Mythor!« versicherte Gapolo. »Ich sagte dir, daß ich mit dir ziehen will.«

Ja, dachte Mythor. Und je größer die Gefahr, desto größer die Aussicht, den Heldentod zu finden.

Buruna nickte heftig. Auch sie würde bis ans Ende der Welt mit ihm gehen. Lamir schluckte ein paarmal. Schließlich brei-tete er die Arme zu einer Geste tiefster Verzweiflung aus und rief pathetisch: »Wer soll eure Taten besingen, wenn nicht ich! Wer soll euch vor den Tücken der Weiber bewahren, die euren Weg kreuzen mögen!«

Mythor und Buruna schmunzelten. Nur Gapolo verzog keine Miene und blickte starr geradeaus auf den Nebel.

»Dann reiten wir!« Der Salamiter trieb sein Pferd an, ohne sich umzusehen. Der Weg ins Grauen begann.

Es war kein Nebel, was da aus den Bodenspalten drang und sich in die Lungen der vier Reiter fraß, sobald sie heran waren. Giftige Dämpfe stiegen aus Rissen von ein, zwei oder drei Mannslängen auf, drückten sich über den Boden, breiteten

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sich schnell aus und wurden in die Höhe gewirbelt. Gapolo, der in seinem übertriebenen Eifer mitten in diese

Dämpfe hineingeritten war, tauchte aus den Schwaden auf, doch nur für Augenblicke. Sein Pferd schien ihm nicht länger gehorchen zu wollen. Es scheute und bockte, stieg in die Höhe und schlug mit den Hufen aus, wie gegen unsichtbare Gegner. Der Salamiter hatte Mühe, sich im Sattel zu halten. Er hustete, und mit einer Hand bedeckte er seine Augen. »Das ist Dämo-nenwerk!« war seine Stimme aus den Schwaden heraus zu hören.

Mythor sah ihn kurz und ritt auf ihn zu, doch als er die betreffende Stelle erreichte, fand er nichts mehr. Dafür war Gapolos Husten nun aus einer anderen Richtung zu hören und nicht nur seines.

Mythors Augen brannten. Tränen liefen ihm über die Wan-gen. Und auch Pandor begann unruhig zu tänzeln. Von ir-gendwoher kam Harks wütendes Gebell. Lamir schimpfte, jammerte und hustete.

»Zurück!« rief Mythor, und er spürte stechenden Schmerz in den Lungen, als ob feine Klingen ihm in den Rücken fuhren. Er konnte keine drei Fuß weit sehen. »Wir müssen diese Zone umreiten!«

Er sah Gapolo, der schlaff vornübergebeugt im Sattel hing, trieb Pandor an und griff in die Zügel von Gapolos Reittier. Schwarze Punkte erschienen vor seinen Augen, und für einen Moment verlor er das Gleichgewicht. Ein Arm griff nach ihm. Er drehte den Kopf und sah Buruna dicht neben sich, die ein Tuch vor Mund und Nase gebunden hatte.

Sie riß ihn wieder in eine aufrechte Lage. Mythor griff in Pandors Mähne und zog mit der anderen Hand das Pferd des Salamiters mit sich.

Lamir erwartete sie vor der giftigen Zone. Mythor riß den Mund auf und atmete gierig. Das Schwindelgefühl schwand,

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und auch Gapolo richtete sich wieder auf. Aber der Weg zu-rück war abgeschnitten.

Die Straße der Yarls verwandelte sich vor den Augen der Ge-fährten. Dort, wo sie eben noch geritten waren, platzte der Bo-den auf, und neue Risse bildeten sich. Die verbrannte Straße warf Wellen, als zögen von den Seiten Titanenfäuste an ihr. Dort türmten sich innerhalb weniger Augenblicke mannshohe Wälle auf, so steil und schroff, daß kein Pferd sie zu über-springen vermochte. Wo Schneewasser in die neu entstande-nen Risse rann, wurde es Herzschläge später in heißen Fontä-nen weit in die Höhe geschleudert. Warmer Regen fiel auf die Freunde herab, die nun dicht beieinander waren und verzwei-felt nach einem Weg aus dieser tückischen Falle suchten.

Von allen Seiten umgaben sie die Dämpfe. Sie stiegen aus der Erde, flossen bis zu den Wällen und schwebten daran em-por. Die kleine Insel atembarer Luft schrumpfte zusehends.

»Wir müssen hindurch!« rief Mythor, während er Pandor be-ruhigend gegen den Hals schlug. »Macht es wie Buruna! Bin-det euch Tücher vor die Gesichter! Irgendwann muß diese Zo-ne zu Ende sein!«

»Ja«, krächzte Lamir. Er hustete. »Und was kommt dann?« Buruna holte ein Laken aus einer Satteltasche, riß es in Stü-

cke und reichte die Fetzen den anderen. Der Salamiter zögerte einen Moment, bevor er zugriff. Mythor begegnete seinem Blick und erschauerte.

»Denk an dein Versprechen, Gapolo!« schrie er, um das Ge-töse einer Dampffontäne zu übertönen, als die Erde erneut aufriß und Dampf, Wasser und Staub ausspie.

Noch einmal holten die Gefährten tief Luft. Als sie alle ihre Gesichter bedeckt hatten, gab Mythor das Zeichen.

Mit angehaltenem Atem galoppierten sie in die gelblichgraue Wand hinein. Der Himmel war nicht mehr zu sehen. Von ü-berall her drang unheimliches Kreischen an ihre Ohren. Pan-

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dor war nicht mehr zu bremsen. Nur kurz tauchten die Ge-fährten schattenhaft neben Mythor auf, als er an ihnen vorbei-sprengte. Er sah kaum noch etwas. Wieder schossen ihm Trä-nen in die Augen, und das Beißen der Dämpfe schien uner-träglich zu werden.

Die Zone des Schreckens nahm kein. Ende. Die Luft wurde knapp. Wieder begannen dunkle Punkte vor Mythors Augen zu tanzen. Nur das Schlagen der Hufe zeigte ihm an, daß die Freunde dicht hinter ihm waren.

Ein gellender Schrei zerriß das Kreischen, Brodeln und Zi-schen rings um ihn. Pandor wieherte und drehte sich. Mythor griff mit beiden Händen in die Mähne des Einhorns, um nicht vom Rücken des Tieres geschleudert zu werden, als Pandor nun wilde Sprünge vollführte.

»Ich… spüre meine Beine nicht mehr!« Das war Lamirs Stimme.

Auch Gapolo schrie, wie nur ein Mensch in höchster Todes-angst schreien konnte. Aber Gapolo fürchtete den Tod nicht. Was ihn erfaßt hatte, mußte schlimmer sein.

Mythor sah nichts. Er fluchte und schwitzte. Immer heißer wurden die Dämpfe, und seine Lungen schrien nach Luft. Ein einziger Atemzug aber bedeutete hier das Ende. Doch die Freunde schrien!

»Hierher!« rief Buruna von irgendwoher. »Wir haben es ge-schafft! Wir… Aaahh!«

Mythor überlief es eiskalt. Pandor setzte sich in Bewegung, und wieder hatte Mythor Mühe, sich auf seinem Rücken zu halten. Eine Gestalt tauchte neben ihm auf, aber es war nicht zu erkennen, wer es war.

Die Lungen drohten zu platzen. Wie ein Sturmwind jagte Pandor durch die Schwaden, und dann war Mythor hindurch.

Er sog gierig die klare Luft ein. Lamir kam hinter ihm aus den Dämpfen geritten, kreidebleich im Gesicht. Er hustete und

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ließ sich vom Pferd fallen, mitten hinein in ein Gewimmel schwarzer, hasengroßer Tiere, gegen die Buruna zu kämpfen hatte. Geschmeidig wie Katzen schnellten sie sich in die Höhe und verbissen sich in alles, was sie mit ihren scharfen Zähne erreichen konnten. Burunas Pferd schlug mit allen vieren aus und beförderte eines der kleinen Ungeheuer nach dem ande-ren dorthin zurück, woher es gekommen war. Und immer mehr von ihnen krochen aus Erdspalten und Löchern.

Es gab nur noch die Yarl-Straße. Obwohl keine Dämpfe mehr die Sicht nahmen, war zu beiden Seiten des schwarzen Strei-fens absolut nichts mehr zu sehen. Es war geradeso, als ziehe sich das verbrannte Band endlos lang durch das Nichts. Und es bewegte sich!

Mythor, Lamir, Buruna, die Pferde und das schwarze Getier schienen auf ihm fortzugleiten, gezogen von überweltlichen Kräften. Es gab kein Halten. Lamirs Roß stob davon, von Scha-ren der schwarzen Kreaturen gefolgt.

Gapolo preschte an Mythor vorbei. Sein Pferd bäumte sich auf und schlug aus.

Das alles nahm Mythor mit einem einzigen Rundblick wahr. Er handelte, ohne zu überlegen. Instinktiv trieb er Pandor vor-an, auf Lamir zu. Pandor gehorchte nun. Im Vorbeireiten beugte sich Mythor hinab und fischte den zappelnden Barden vom Boden. Drei Tiere hatten sich in Lamirs Schuhe und einen Arm verbissen. Lamir schrie wie am Spieß. Er erkannte My-thor nicht und schlug nach ihm. Mit einer Hand hielt der Sohn des Kometen ihn fest, in der anderen hatte er Alton und trenn-te den festgebissenen kleinen Ungeheuern die Köpfe vom Rumpf. Altons Wehklagen erfüllte die Luft für Augenblicke, als Mythor nach dem schwarzen Gewimmel unter ihm hieb und zwei anspringende Tier in der Luft zerteilte. Und die mordlüsternen Kreaturen erstarrten!

Das schwarze Band riß sie weiter mit sich fort, Mythor und

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Lamir auf Pandor, Buruna und Gapolo auf ihren Pferden und die erstarrten Ausgeburten tiefster Finsternis.

Kein Wind zerrte an den Haaren der Gehetzten. Kein Laut war zu hören, als Buruna den Mund aufriß und etwas schreien wollte. Es gab nichts außer der Yarl-Straße, der Straße der Finsternis.

Lamir rührte sich nicht mehr. Gapolo schlug nach den er-starrten Tieren, und Buruna versuchte verzweifelt, an Mythors Seite zu gelangen. Doch je mehr sie ihr Pferd antrieb, desto weiter entfernte sie sich von ihm. Etwas riß die Gefährten im-mer wieder auseinander. Gapolo war schon in weite Ferne gerückt, und seltsame Lichter umspielten seinen Körper. Der Salamiter schien es nicht einmal zu bemerken. Er schlug um sich wie besessen, und immer wieder griff er sich an die Beine, wie um zu fühlen, ob sie noch an seinem Körper seien.

Mythor wagte nicht, den Helm der Gerechten abzunehmen. Allzu deutlich war auch so, daß hier Schwarze Magie am Werk war. Es gab nichts mehr, an das man sich klammern konnte. Alles schien zu verschwimmen, selbst der harte, gla-sierte Boden unter den Hufen der Pferde.

Als ob dies die Grenze zu einer anderen Welt sei… Wieder kam Leben in die schwarzen Bestien. Geistesgegen-

wärtig ließ Mythor das Gläserne Schwert über seinem Haupt kreisen, und das ferne Wehklagen war der einzige Laut in die-ser Zone absoluter Stille.

Geisterhaft wirkten alle Bewegungen. Die Kreaturen am Bo-den erstarrten erneut, doch diesmal nur für einige Atemzüge. Dann verschwanden sie so schnell, wie sie gekommen waren. Risse und Löcher taten sich auf in der Straße des Bösen, wie Mythor den Weg der Yarls nannte, und das Getier verschwand schneller darin, als das Auge folgen konnte.

Doch die unsichtbare Kraft zerrte weiterhin an den Gefähr-ten, zog sie immer weiter mit sich fort, und plötzlich stieg das

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schwarze Band steil an, und Gapolo und Buruna trieben nicht länger davon.

Der unheimliche Sog vom Ende der Welt verkehrte sich in sein Gegenteil. Die Luft wurde dick wie ein zäher Brei. Von allen Seiten her wetterleuchtete es. Blitze zuckten aus einem Himmel, den man nicht sehen konnte, und schlugen lautlos in die Straße ein. Krater von einer Größe, daß ein Mammut ihnen hätte entsteigen können, klafften auf, und Mythor blickte in endlose Tiefen, aus denen blutrotes Wabern heraufglomm. Kleine, hellrote Flammenzungen leckten nach Pandor.

Es war nun fast unmöglich, von der Stelle zu kommen. Pan-dors Hufe stemmten sich gegen den schwarzen Boden, aber er kam keinen Schritt voran.

Weit vor ihm richtete sich die Straße weiter auf. Gapolo ze Chianez stand mit seinem Roß nicht mehr auf ebenem Boden, sondern schien an einem Band zu kleben, das sich unaufhalt-sam aufrollte. Doch er rutschte weder, noch fiel er.

Der Helm der Gerechten trieb Mythor voran, wo kein Vo-rankommen war, und nun spürte auch der Sohn des Kometen die magischen Kräfte. Wie eine Woge drohten sie ihn zu über-schwemmen. Buruna, wie er vor solcherart Einwirkungen teilweise geschützt, schrie lautlos. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse des Entsetzens. Lamir bäumte sich auf Mythors Schoß auf.

Und wieder verkehrten sich die Dinge. Wieder wurde My-thor auf Pandor jäh nach vorne gerissen, fort von den klaffen-den Kratern und Höllenfeuern, die aus der Tiefe aufstiegen. Er glitt an Buruna vorbei, die langsamer war als er, und wollte ihre ausgestreckte Hand ergreifen. Doch seine Finger fuhren durch sie hindurch.

Das alles ist unwirklich! versuchte Mythor sich einzureden. Aber wo, was war die Wirklichkeit? Mythor schwitzte, und sein Herz schlug heftig. Er spürte die Schmerzen in den Glie-

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dern, die zu brennen begannen, als wüteten Feuer in seinem Körper. Der Schmerz war wirklich. Das war kein Traum!

Gapolo blieb scheinbar stehen, obwohl sein Pferd weite Schritte machte. Buruna wurde an Mythor wieder vorbeige-trieben. Lamirs Pferd, eben noch fast neben Gapolo, war plötz-lich hinter Mythor. Der Held der Lichtwelt schrie, doch jetzt gab selbst Alton keinen Laut von sich, als er das Schwert in höchster Verzweiflung schwang, auf ein erneutes Wunder hof-fend.

Alton und der Helm der Gerechten schützten ihn nicht mehr vor den Kräften, die hier am Werk waren.

Das schwarze Band peitschte durch das Nichts, dann streckte es sich. Es verschwand irgendwo in der Unendlichkeit. My-thor und die Freunde befanden sich auf einer endlos weiten, golden strahlenden Ebene, und sie waren nicht mehr allein.

Eine mächtige Reiterei erschien aus dem Nichts. Tausende von Hufen schlugen auf die Ebene, und goldene Funken sto-ben in alle Richtungen davon.

Die Ebene erzitterte unter dem Hufschlag des riesigen Hee-res, das sich wie ein Lawine auf die Freunde zuschob, die plötzlich wieder dicht beisammen waren. Die Rüstungen der Reiter blitzten im Licht einer nicht sichtbaren Sonne. Schwerter wurden hoch in der Luft geschwungen, Lanzen waren zum Stoß gesenkt.

»Worauf wartet ihr? In den Kampf!« Erschreckender noch als der Anblick der Kriegerschar war,

plötzlich wieder die Stimmen der Freunde hören zu können. Alle riefen sie durcheinander. Buruna schrie Mythors Namen. Lamir stöhnte gequält, und Gapolo machte alle Anstalten, sich gegen die Übermacht zu wenden.

Mythor faßte sich. »Bleib hier! Oder ist das deine Art, Ver-sprechen einzuhalten?« rief er Gapolo zu.

Der Salamiter brachte sein Pferd zum Stehen und starrte My-

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thor zornig an. »Zu oft sind wir geflohen!« rief er. »Diesmal gilt es!«

Mythor erreichte ihn und schlug ihm mit der flachen Klinge das Schwert aus der Hand. Es konnte nur noch wenige Herz-schläge dauern, bis die Reiterei heran war. Sie füllte den ge-samten Horizont aus, und nun erkannte Mythor, daß es sich um ein Ugalier-Heer handelte. Aber wie kamen Ugalier hier-her? Mythor hob beide Hände. Pandor stand ruhig, und La-mir, inzwischen bei Bewußtsein, krallte sich in seiner Mähne fest.

»Haltet ein!« schrie Mythor, so laut er konnte. »Wir sind Freunde! Wir…«

Die Führer des Heeres reagierten nicht. Sie schienen ihn nicht einmal zu hören. Es gab kein Ausweichen mehr, keine Möglichkeit, den alles niederstampfenden Hufen zu entkom-men.

»Sie überreiten uns!« rief Buruna. »Erain!« Der erste Reiter war heran. Mythor sah die Lanzenspitze auf seine Brust ge-richtet, doch der Blick des Kriegers – hatte er diesen Mann nicht schon einmal gesehen, irgendwo, irgendwann? – schien durch ihn hindurchzudringen.

Plötzlich war ein wütendes Knurren zu hören. Etwas verbiß sich in Mythors linken Arm. Der Schmerz ließ den Sohn des Kometen aufschreien. Mythor sah Hark, den Bitterwolf, wie er an ihm hing und ihn von Pandor herunterzerren wollte.

Im gleichen Moment schoß etwas durch die Luft. Buruna schrie gellend auf. Fassungslos sah Mythor, daß der Schnee-falke seine Klauen in die Zöpfchenfrisur der Liebessklavin verkrallt hatte. Buruna griff nach ihm. Horus stieg mit schnel-lem Flügelschlag auf und riß dabei Strähnen aus Burunas Haar. Sie schrie vor Schmerzen, während Horus nun Gapolo angriff.

Harks Knurren wurde wütender. Er ließ nicht los und kratz-

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te mit seinen Krallen lange rote Striemen in Mythors Haut. Mythor versuchte verzweifelt, den Bitterwolf abzuschütteln. Er verstand seine Tiere nicht mehr. Was trieb sie dazu, ihren Herrn gerade jetzt anzugreifen, da…

Die Reiter mußten heran sein, aber da war nichts mehr vor Mythor, obwohl der Hufschlag der gewaltigen Schar noch wie Donner über das Land rollte. Über das Land!

Mythor kämpfte um seine Fassung. Unter ihm erstreckte sich wieder das schwarze Band der Yarl-Straße, und links und rechts vor ihm türmten sich steile Felswände auf. Die Straße des Bösen war nicht länger ein schwarz schimmerndes Band im Nichts, aus dessen Kratern rote Glut waberte. Sie war fes-ter, verläßlicher Boden unter den Hufen der Reittiere.

Hark löste die Umklammerung seiner Fänge und landete auf der Straße. Mit mächtigen Sätzen rannte er voraus, wo er nach etwa hundert Schritten haltmachte und sich hinkauerte. Horus landete neben ihm.

Das Hufgetrappel der ugalischen Reiterei fegte noch für ei-nige Dutzend Atemzüge über die vollkommen verwirrten Ge-fährten hinweg, um dann irgendwo hinter ihnen in der Ferne zu verebben, bis nur noch das leise Säuseln des Windes zu hö-ren war.

Mythor begegnete Burunas Blick, und beide begriffen sie, was geschehen war.

Gapolo kam herangeritten. Außer Atem brachte er hervor: »Ich war töricht! Ich wollte gegen sie kämpfen!« Er starrte ehr-furchtsvoll in den Himmel, in jene Richtung, in der der Huf-schlag verklungen war. »Gegen die Geisterreiter.«

»Dieser Weg wird schrecklicher, je weiter er nach Süden führt«, flüsterte Buruna. Sie sah Mythor an, wagte aber nicht, ihn darum zu bitten, kehrtzumachen, solange dies noch mög-lich war.

Doch auch Mythor hatte vorläufig genug von der Yarl-

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Straße. Liebend gern hätte er sie verlassen, doch links und rechts des nun schmaler gewordenen Streifens türmten sich die schroffen, unerklimmbar scheinenden Felswände auf, und hinter ihnen lag jene Zone, die die Grenze zu einer anderen Welt zu bilden schien, zu jenem geheimnisvollen Land der Geisterreiter. Mythor konnte nicht sagen, was geschehen wäre, hätte die Reiterei sie erreicht. Vielleicht gar nichts. Vielleicht wäre das gewaltige Heer der rastlos Dahinziehenden einfach durch sie hindurchgeritten. Wahrscheinlich war es so. Den-noch hatten Hark und Horus die Gefährten vor dem grauen-vollen Schicksal bewahrt, noch tiefer in jene andere Welt ein-zutauchen und so vielleicht ebenfalls für immer dort gefangen zu sein.

Allein der Schmerz hatte die Gefährten in die Wirklichkeit zurückgeholt, noch an der Schwelle zur Überwelt. Mythor ver-suchte erst gar nicht zu begreifen, was genau geschehen war. Es gehörte zu den Geheimnissen, die keinem Sterblichen zu-gänglich waren – mit Ausnahme vielleicht der Dämonenpries-ter, deren Wissen um die Dinge direkt aus der Schattenzone kam.

Außerdem spürte Mythor, daß er seine ganze Aufmerksam-keit auf den Weg zu richten hatte, der vor ihnen lag. Es gab nur den einen, auch wenn Mythor nun entschlossen war, trotz der Einflüsterungen des Helmes die Straße des Bösen bei der nächstbesten Gelegenheit zu verlassen und ein Stück abseits von ihr gen Süden zu reiten.

Waren die Caer ihnen auf den Fersen? Hatte der Priester sei-ne Krieger nur deshalb zurückgerufen, um ihnen eine andere, schrecklichere Armee hinterherzuschicken?

Unwillkürlich mußte Mythor an die vier Vermummten den-ken.

Pandor wurde unruhig. Hark sprang auf einen Felsvor-sprung und blickte leise knurrend in die Richtung, aus der sie

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gekommen waren. Und nun war, leise noch, Hufgetrappel zu hören.

Mythor wollte sich nicht darauf verlassen, daß die, die da kamen, mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben würden wie er und die Freunde. Sie mußten weiter.

Gapolo wartete ungeduldig. Sein Verhalten hatte nur allzu deutlich gezeigt, wie sehr er trotz des gelegentlich auffla-ckernden Lebenswillens den Tod im Kampf suchte.

Buruna zeigte sich tapfer. Doch auch sie spürte den magi-schen Einfluß, den die Straße des Bösen auszuatmen schien. Wie stark mußte dieses Gefühl erst in Gapolo und Lamir sein? Sie hatten lange vor ihm und Buruna gespürt, daß etwas nach ihnen griff.

Lamir hatte sich so weit erholt, daß er allein auf seinem Pferd reiten konnte. Doch er war gebissen worden, und das Gift mochte schon in seinem Körper wirken. Mythor fürchtete, daß er auch ihn verlieren würde, wenn es nicht bald gelang, einen Heiler zu finden. Doch wo sollte das sein?

Das Hufgetrappel wurde lauter. Mythor mußte sich dazu zwingen, noch so lange zu warten, bis er Lamirs Körper von den abgetrennten Köpfen der schwarzen Kreaturen befreit hat-te. »Reitet voraus!« sagte er zu Buruna und Gapolo.

»Wir lassen dich nicht im Stich!« protestierte die Liebesskla-vin. »Entweder reiten wir alle oder keiner.«

Gapolo sagte nichts. Er wirkte abwesend, mit seinen finste-ren Gedanken beschäftigt.

Mythor half Lamir in den Sattel und entfernte die Tierköpfe. Er mußte die harten Kiefer mit dem Schwert aufbrechen, und die scharfen, halb fingerlangen Giftzähne hinterließen häßliche schwarze Narben im Arm des Barden. Auch aus den Löchern in seinen Schuhen sickerte Blut. Mythor machte ihm die ent-sprechenden Stellen frei. Füße und Arme begannen sich eine Handbreit um die Wunden herum dunkel zu verfärben.

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»Halte aus, Lamir. Wir werden Hilfe finden.« Mythor glaub-te selbst kaum daran, aber er konnte sonst nichts für den Sän-ger tun.

Er gab das Zeichen. Nebeneinander galoppierten die vier Ge-fährten davon, und das keinen Augenblick zu früh.

Hinter ihnen erschienen die Verfolger. Mythor stieß einen wilden Schrei aus, als er die Caer mit einem ihrer Priester an der Spitze sah. Die Hufe ihrer Pferde wirbelten Staub auf, so daß nicht genau zu erkennen war, wie groß die Übermacht war. In Gapolos Augen blitzte es auf. Mythor griff abermals in die Zügel seines Pferdes und verhinderte, daß der Salamiter sich der Meute entgegenwarf. Gapolo fluchte und schimpfte und biß schließlich schicksalsergeben die Zähne zusammen.

Die Felswände zu beiden Seiten wurden immer höher und die Schlucht, durch die die Freunde jagten, noch enger. Keine hundert Schritt mehr war die Yarl-Straße nun breit. Die Caer trieben ihre Pferde weiter an, nun da sie ihre Opfer vor sich sahen, doch noch hatten Mythor, Buruna, Lamir und Gapolo einen beruhigenden Vorsprung.

Lamir hielt sich mit Mühe im Sattel, doch auch er trieb sein Reittier an, als sitze ihm Drudin persönlich im Nacken.

Etwa eine halbe Stunde lang kamen die vier schnell voran, und der Vorsprung war so groß, daß die caerische Reiterei bald nicht mehr zu sehen war. Pferde und Reiter schwitzten, und schon wagte Mythor zu hoffen, daß sie die Verfolger über kurz oder lang völlig abschütteln würden.

Im nächsten Moment schalt er sich einen Narren. Buruna hatte recht gehabt. Je weiter sie nach Süden kamen und je län-ger es also her war, daß die Yarls ihre Spur der Verwüstung durch das einst fruchtbare Land gezogen hatten, desto größer wurden die Schrecken, die die Straße des Bösen bereithielt.

Kaum zwei Bogenschüsse vor den Gefährten tat sich die Erde auf, und glühende Fontänen aus flüssigem Feuer spritzten in

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die Höhe, regneten auf den Pfad nieder und flossen von den Felswänden herab.

Die Pferde und Pandor scheuten. Geistesgegenwärtig schlang Mythor seine Arme um Pandors Hals. Lamir krallte sich an den Zügeln fest. Buruna schrie. Hark, der ein Stück vorausgeeilt war, machte mit eingezogenem Schwanz kehrt und sah zu, daß er hinter die Pferde kam, die sich erst wieder einigermaßen beruhigten, als die Gefährten ein Stück zurück-geritten waren, wieder näher an die Caer heran.

Dann schoß keine Lava mehr in die Höhe. Doch es gab kein Aufatmen. Etwas anderes schob sich aus der Tiefe. Mythor hielt den Atem an und riß Alton aus der Scheide.

Hinter ihm und den Freunden galoppierten die Caer heran, und vor ihnen stieg ein Tier aus dem Krater, wie Mythor noch keines zuvor gesehen hatte. Die Erde erbebte. Schwere Felsen lösten sich aus den Wänden der Schlucht.

Gapolo schlug seinem Pferd die Stiefel in die Seiten und ritt schreiend, das schlanke Schwert in der Rechten, auf das Un-geheuer zu.

Flüssige Glut lief und tropfte zäh von der grünen, geschupp-ten Haut des Ungeheuers herab, dessen schrecklicher Schädel sich gut fünf Mannslängen über dem Schluchtboden hin und her bewegte und dessen Augen sich nun auf die vier Men-schen vor ihm richteten. Furchtbare Zahnreihen saßen in ei-nem Maul, in dem ein Ochse Platz gefunden hätte. Riesige Pranken schlugen gegen die Felsen und rissen weitere Steine herab. Lavatriefende Hinterbeine, dicker als Eichenstämme, waren zum Sprung gebeugt. Ein Schwanz, so lang und schwer wie zwei Ochsengespanne, wand sich aus dem Krater und peitschte schwer über den Boden. Wo er gegen Felsen schlug, zersplitterten diese, und die Glut aus den Tiefen der Erde wurde weit in die Schlucht geschleudert.

Und Gapolo ze Chianez trieb sein Pferd wie besessen schrei-

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end auf diese Ausgeburt der Tiefe zu, alle Rufe der Freunde mißachtend. Er wollte in den Tod, und dieser Gegner war ihm dafür gerade recht.

Der Drache sah ihn. Ein ohrenbetäubendes Kreischen erfüllte die Schlucht, und heißer Atem schlug dem Salamiter entgegen.

Als Mythor sah, wie Gapolos Pferd sich aufbäumte und sei-nen Reiter in hohem Bogen abwarf, wußte er, daß er nicht zö-gern durfte. Ein schneller Blick nach hinten zeigte ihm, daß die Caer zum Stillstand gekommen waren, um aus einer sicheren Entfernung das Ende ihrer Gegner mit anzusehen.

Der Zorn drohte den Sohn des Kometen blind zu machen. Er hörte kaum noch, wie Buruna ihn anflehte, zurückzubleiben. Alton in der Rechten, beugte er sich tief über den Hals des Einhorns und flüsterte: »Jetzt gilt es, Pandor. Trotz dem Bösen! Lauf wie nie zuvor!«

Und Pandor schritt aus. Leicht wie der Wind trug er Mythor vorbei an Gapolos fliehendem Pferd.

Der Salamiter war benommen auf den Beinen, über ihm der schreckliche Rachen des Drachen. Gapolo schrie und hieb mit dem Schwert nach den Pranken, die nach ihm griffen, doch die Klinge prallte an der Schuppenhaut ab.

Mythor war heran, als eine Pranke den Worsungen-Fürsten erreicht hatte, und stieß ihn im Reiten einige Schritte zur Seite. Gapolo blieb liegen und starrte fassungslos auf den Kampf, der jetzt vor seinen Augen ausgetragen wurde. Es war ein Kampf, in dem selbst Mythor ohne jede Chance schien, der Kampf eines Zwerges gegen einen Giganten.

Mythor spürte, wie der heiße Atem des Ungeheuers über ihn hinwegfuhr. Er sah seine Pranke herankommen und schwang das Gläserne Schwert mit fester Hand. Pandor trug ihn, als seien sie eins.

Mythor wartete, bis die Klauen ihn fast erreicht hatten, dann tauchte er unter ihnen hinweg und schmetterte Alton mit aller

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Kraft seines Armes gegen die Schuppenhaut. Wehklagend drang die leuchtende Klinge tief in das Fleisch. Blitzschnell zog Mythor sie zurück, als das schaurige Gebrüll des Unge-heuers seine Trommelfelle zum Platzen zu bringen drohte. Für einen Herzschlag drohte die Panik ihn zu übermannen. Er leg-te sich flach auf Pandor und trieb das Einhorn zwischen den mächtigen Beinen des Drachen hindurch. Wenige Schritte vor ihm klaffte der Krater, und der Schwanz des Ungeheuers peitschte nur knapp über ihn hinweg.

Mythor wartete nicht ab, bis der Drache sich von seiner Ü-berraschung erholt hatte. Er hatte Pandor bereits gewendet und stürmte erneut vor. Gelbes Blut tropfte aus der verletzten Pranke, als Mythor den nächsten Hieb führte. Von hinten durchtrennte er mit einem einzigen Streich die Sehnen eines der schweren Beine. Wieder erscholl das schreckliche Gebrüll. Der Drache knickte an einer Seite ein und drehte sich um das lahme Bein. Die Pranken griffen nach Mythor. Rasend vor Schmerzen und Zorn, erhob er sich wie ein bebender und zu-ckender Berg aus Fleisch, Muskeln und Sehnen über dem Re-cken, dessen Haut zu brennen schien, der heiße, schweflige Luft atmete und spürte, wie ihm die Kraft aus dem Arm zu schwinden begann und Schwindel nach ihm griff. Mythor streckte sich und zog mit Alton auch in die zweite Pranke ei-nen armlangen Streifen aus hervorquellendem gelben Blut.

Das Untier fuhr schreiend in die Höhe. Pandor wich im letz-ten Augenblick einem Schwanzschlag aus. Mythor rang nach Luft. Sein ganzer Körper schmerzte. Nebelstreifen tanzten vor seinen Augen. Doch er sah noch die Lücke zwischen dem Dra-chen und der Felswand zur Linken.

Er ritt hindurch, bevor der schwere Körper des Ungeheuers sich gegen die Wand werfen konnte, um ihn zu zermalmen.

Drei, vier Atemzüge lang standen sie sich gegenüber. My-thor blickte in rote Augen, die jene Glut zu versprühen schie-

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nen, aus der das Untier ans Licht der Welt gestiegen war. Die blutenden Pranken waren weit in die Höhe gereckt, das eine Bein des Drachen völlig eingeknickt. Kopf und Brust des Geg-ners waren viel zu hoch, als daß Mythor sie mit dem Schwert hätte erreichen können, und keine Lanze wäre imstande gewe-sen, die Panzerhaut über dem Herzen zu durchdringen.

Mythor sah nur eine Chance für sich. Noch einmal holte er tief Luft. Dann, als der Drache angriff,

preschte er an ihm vorbei. Er flüsterte etwas in Pandors Ohr, und das Einhorn schien durch die Luft zu fliegen, als es den klaffenden Krater übersprang.

Der Drache fuhr kreischend herum. Mythor durfte nicht dar-an denken, daß der peitschende Schwanz Gapolo treffen und zerschmettern könnte.

»Komm doch!« schrie Mythor. »Komm her, du Scheusal! Hier bin ich!«

Er winkte mit den Armen, jetzt gute zwanzig Schritt hinter dem Krater. Noch schien das Untier unschlüssig, doch blinder Zorn und verheerender Schmerz lähmten seinen Instinkt und ließen es trotz des unbrauchbar gewordenen Beines auf My-thor zutaumeln. Mythor beugte sich von Pandors Rücken hin-ab, hob einen schweren Stein auf und schleuderte ihn gegen den Schädel des Ungeheuers. Es bäumte sich ein letztes Mal auf, warf sich nach vorne und stürzte, von seinem ganzen Ge-wicht gezogen, in den Krater. Mythor empfand wilden Tri-umph und ritt schnell weiter zurück, als wiederum flüssige Glut in die Höhe spritzte und als schnell erkaltender Feuerre-gen rings um den Krater niederging.

Aufplatzende Blasen und ein gurgelndes Geräusch waren al-les, was von dem Drachen blieb, der nicht mehr die Kraft hat-te, sich noch einmal aus der Tiefe zu erheben.

Erschöpft und wie gelähmt von den eingeatmeten Dämpfen, ließ Mythor sich mit dem Oberkörper auf Pandors Hals fallen.

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Das Einhorn drehte sich. Schwer atmend und schweißüber-strömt sah Mythor, wie Lamir, Buruna und Gapolo, der wie-der auf seinem Pferd saß, dicht an der Felswand vorbeireitend, den Krater hinter sich brachten. Sie machten nicht halt, als sie Mythor erreichten, und Gapolos Blick war nur schwer zu deu-ten. Pandor setzte sich in Bewegung und trug seinen Herrn.

Weit hinten in der Schlucht erscholl das Kriegsgeschrei der Caer. Mythor hielt sich an Pandors Mähne fest, als die Freunde in scharfem Galopp weiterritten. Buruna ritt dicht neben ihm und fand keine Worte, aber ihre Blicke sagten alles. Da war eine Mischung aus Stolz, Angst und Schrecken in ihnen, vor allem aber ungeheure Erleichterung.

Es gab jedoch keinen Grund zur Erleichterung. Die Freunde kamen nicht weit. Die Schlucht erweiterte sich

nur wenig, und mächtige Felsblöcke türmten sich an den Wänden oder versperrten den Weg.

Sie konnten leicht umritten werden, nicht aber der Feuersee, der plötzlich vor den Freunden auftauchte und das Ende der Schlucht und ihres Weges bildete. Auf der ganzen Breite der Schlucht hatte sich die Erde aufgetan, und Dämpfe und Mag-ma, das in hohen Fontänen gen Himmel gespien wurde, ließen kein Ende des Feuersees erkennen.

»Das ist das Ende«, flüsterte Buruna. Mythor aber bäumte sich auf. Irgend etwas erwachte in ihm,

das Gefühl, daß hier nicht alles zu Ende sein konnte, daß all das, was sie hinter sich gebracht hatten, nicht umsonst gewe-sen sein durfte, daß er jetzt nicht aufgeben würde.

Noch waren die Caer nicht in Sichtweite. Der Krater hatte wieder Lava zu speien begonnen und hielt sie auf.

»Die Felsen dort!« brachte der Sohn des Kometen unter ste-chenden Schmerzen in der Lunge hervor. »Wir müssen… uns hinter ihnen verstecken. Vielleicht…« Die Kraft verließ ihn erneut.

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Gapolo schrie: »Dann versteckt euch! Die Lilie wird dem Bö-sen Einhalt gebieten!«

Er wendete sein Pferd, und als ob er von Dämonen getrieben wäre, ritt er den Caer entgegen.

Mythor hatte nicht einmal mehr den Atem, ihn zu verflu-chen. Er hatte keinen Halt mehr und rutschte seitwärts von Pandor. Buruna war plötzlich da und fing ihn auf. Sie stützte ihn und führte ihn zu den Felsen am Rand der Schlucht.

Auch Lamir fiel mehr vom Pferd, als daß er absaß. Die vom Feuersee kommende Hitze war kaum zu ertragen. Doch das war nicht der Grund für die Schwäche des Barden. Die Haut um die Bißwunden herum hatte sich fast schwarz gefärbt, und das Gift breitete sich schnell im Körper aus.

Nebeneinander kauernd, warteten Mythor, Buruna und La-mir auf die Caer. Von Gapolo war nichts mehr zu hören. Pan-dor trieb die beiden Pferde vor sich her in die Deckung, und es war, als gebe er ihnen Befehle, die sie widerstandslos befolg-ten, als nehme er ihnen die kreatürliche Furcht vor dem flüssi-gen Feuer.

»Gapolo«, preßte Mythor hervor. Buruna legte ihm eine Hand auf den Mund. Flüchtig sah Mythor, wie Hark plötzlich an Felsvorsprüngen die Wand emporkletterte, mit einer Si-cherheit, als hafteten seine Pfoten am kahlen Gestein.

Und auch Horus erhob sich in die Lüfte und flog aus der Schlucht. Gleichzeitig mit dem Bitterwolf verschwand er weit oben hinter den Felsen.

Mythor kam nicht dazu, sich den Kopf darüber zu zermar-tern, denn nun erschienen die Caer.

Sie kamen ohne den Salamiter. Buruna und Lamir lagen flach auf dem heißen Gestein hinter den mächtigen Felsen, die auch den Pferden so lange Schutz vor der Entdeckung boten, bis nicht konzentriert nach ihnen gesucht wurde oder sie sich durch Angstschnauben verrieten. Daß letzteres nicht geschah,

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schien allein Pandors Verdienst zu sein. Die Caer ritten an den Freunden vorbei in die Mitte der

Schlucht. Erst kurz vor dem Feuersee brachten sie ihre Pferde zum Stehen und blickten sich ratlos um.

Mythor spürte, wie seine Kräfte allmählich zurückkehrten. Burunas warnende Blicke mißachtend, schob er sich so weit an einem der Felsen in die Höhe, daß er die Caer sehen konnte. Es mochten zwei Dutzend Krieger sein, angeführt von ihrem Priester. Und bei ihnen befanden sich die vier Schwarzver-mummten, die immer noch nicht ihre Gesichter zeigten. Allein ihr Anblick jagte Mythor eiskalte Schauer über den Rücken.

Durch das Brodeln und Zischen der Lava waren ihre Worte nicht zu verstehen, aber offensichtlich beratschlagten sie, wo-bei der Priester nur mit den vier Vermummten sprach. Den Kriegern hingegen schien dieser Ort alles andere als geheuer zu sein. Sie blickten ängstlich um sich und hatten Mühe, ihre Pferde ruhig zu halten.

Für sie mußte es den Anschein haben, als habe der Erdboden die Gejagten verschluckt. Die Vermummten begannen, den Boden nach Hufspuren abzusuchen. Nur ihre Augen waren unbedeckt. Wohin immer sie sich wandten, wichen die Krieger zurück. Mythor fragte sich, ob sie wußten, wer unter den Vermummungen steckte. Sicher war, daß sie kaum wünschten, mit dem, der den Drachen besiegt hatte, nähere Bekanntschaft zu schließen.

Wieder sprachen die vier und der Priester miteinander. Nun sahen sie auf den See hinaus, als gebe es in den dichten Rauch-schwaden etwas zu erkennen. Bald aber würden sie den einzig richtigen Schluß ziehen und mit ihrer Suche beginnen, jeden einzelnen Felsen umreiten und unweigerlich die finden, die mit angehaltenem Atem in ihrem Versteck lagen.

Da plötzlich waren Geräusche von jenseits der Rauchwand zu hören. Mythor glaubte, seine Sinne spielten ihm böse Strei-

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che, doch das waren zweifellos Harks wütendes Gebell und Horus’ heiseres Krächzen, was da von hinter dem Feuersee herüberdrang.

Durch die Caer ging ein Ruck. Der Priester rief etwas. Offen-sichtlich gebot er seinen Kriegern zu warten. Dann ritt er selbst nahe an die Feuerwand heran, griff in eine Satteltasche und warf wie ein Sämann etwas, das wie funkelnder Staub aussah, auf den See.

Wieder glaubte Mythor, seine Augen gaukelten ihm etwas vor. Dort, wo der Staub aus den Händen des Priesters auf die flüssige Glut fiel, bildete sich innerhalb weniger Atemzüge eine feste, erkaltende Kruste, und Flammen und Rauch wichen nach allen Seiten davon. Der Dämonenpriester ritt auf die er-kaltete Scholle und wiederholte, was er getan hatte. Dies ge-schah so lange, bis sich mitten durch das brodelnde, spritzen-de Magma ein Pfad gezogen hatte, fest und breit genug, um die gesamte caerische Reiterei zu tragen. Selbst die Hitze schien gebannt, denn dort flimmerte die Luft nicht wie überall sonst über dem See.

Während Mythor atemlos beobachtete, wie zuerst die Krie-ger, dann die Vermummten dem Priester über den solcherart geschaffenen Pfad durch die Flammenwand folgten und schließlich nicht mehr zu sehen waren. Da begriff er, daß seine Tiere ihn und die Freunde zum zweitenmal gerettet hatten.

Hark und Horus waren nicht geflohen. Sie hatten hoch dro-ben über der Schlucht einen Weg um den Feuersee herum ge-funden und waren hinter ihm wieder herabgekommen. Von Anfang an hatten sie nur das eine im Sinn gehabt – die Caer auf ein falsche Fährte zu locken.

Eine seltsame Wärme breitete sich in Mythor aus, wohltuend und kräftespendend. Nein, nie würde er wirklich allein sein, solange er diese drei treuen Freunde hatte. Er versuchte sich vorzustellen, was der Priester gedacht haben mochte, als er die

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Laute der Tiere hörte, von denen er genau wußte, daß sie zu Mythor gehörten. Er mit seinem Zauber hatte eine Brücke über das Lavameer schlagen können. Traute er ihm ähnliche Macht über die Naturgewalten zu?

Hufgetrappel näherte sich, als das der Caer längst verklun-gen war.

Buruna stieß einen Jubelschrei aus, als sie sah, wer da heran-geritten kam. Zusammen mit Mythor verließ sie die Deckung.

Gapolo brachte sein Pferd vor ihnen zum Stehen und saß ab. Er keuchte. »Wo sind sie?« fragte er außer Atem, als er nur die Feuerwand und die erkaltete Gasse darin sah.

Mythor klärte ihn auf und sparte nicht mit Vorwürfen. Gapolo wirkte tief betroffen. »Kannst du mich denn nicht

verstehen, Mythor?« fragte er. »Ich mag nicht auch vor mir selbst als Feigling dastehen. Aber…« Er lachte humorlos. »Die-ser Priester nahm meinen Fehdehandschuh gar nicht entgegen, als ich ihn forderte. Er lachte nur und ließ mich von seinen Kriegern wie einen räudigen Hund davonjagen! Und, Mythor, ich habe sie gesehen, die vier Vermummten.«

»Natürlich«, sagte Mythor. »Auch sie sind durch das Feuer geritten.«

Gapolo blickte verständnislos auf den Lavasee. Von hinter den Felsen war Lamirs Stöhnen zu hören.

»Er stirbt«, flüsterte Buruna. Mythor schüttelte heftig den Kopf. »Er ist noch nicht tot, und

irgendwann ist diese Schlucht zu Ende, und wir werden Men-schen finden.«

Sie sah ihn bestürzt an. »Du… willst den Caer folgen?« Mythor nickte ernst. »Solange der Weg noch offen ist, ja. Ihr

Vorsprung müßte groß genug sein. Sicher locken Hark und Horus sie noch ein gutes Stück von uns fort.«

»Und wenn sie merken, daß sie getäuscht wurden, werden wir diese Straße des Bösen endgültig verlassen haben.«

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Mythor stieß einen leisen Pfiff aus, und Pandor kam mit den Pferden hinter den Felsen hervor.

»Dein Tier kann zwei Männer tragen, Gapolo«, sagte My-thor. »Du wirst Lamir nehmen. Er kann nicht mehr allein rei-ten.«

Schweigend nickte der Salamiter, den Blick schon wieder voller Wehmut in die Ferne gerichtet.

Wenig später ritten die Gefährten über den Zauberpfad, und Rauch, Feuer und Hitze wichen vor ihnen zurück. Selbst der Gedanke daran, daß die Caer ihnen diesen Weg geebnet hat-ten, konnte Gapolo kein Lächeln entlocken.

Mythor strich über sein Wams, dort, wo das Pergament sein sollte.

Buruna bemerkte es und zuckte leicht zusammen.

Als hätten sie nur dem einen Zweck gedient, ein Umreiten der gefährlichen Zone aufbrechender Erdkruste zu verhindern, verschwanden die Felswände bald. Das unfruchtbare Band stieg leicht an, und zu beiden Seiten war üppiger Pflanzen-wuchs zu sehen. Bäume und Büsche, selbst Gräser wie hier hatte Mythor noch nie gesehen. Er versuchte sich daran zu er-innern, wie diese Landschaft ausgesehen hatte, als er mit Churkuuhl und den Marn zum erstenmal dieses Gebiet durchquert hatte.

Zu lange war das her. Er hatte nur vage Erinnerungen. Auf jeden Fall hatte es diese Pflanzen noch nicht gegeben. Sie rahmten den Yarl-Paß ein. Mythor ritt dicht an einen Baum heran, der mitten im Winter dicke, fleischige grüne Blätter trug, und konnte durch ein lichte Stelle im Dickicht weiter aufs umgebende Land hinaussehen. Dort befanden sich Wiesen und brachliegendes Ackerland.

Von einer menschlichen Ansiedlung war nichts zu sehen, a-

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ber es mußte Bauern geben, die die Äcker im Frühjahr bestell-ten. Und diese wußten vielleicht um einen Heilkundigen ir-gendwo in der Nähe.

Langsam, um die Pferde und Pandor zu schonen, ritten die Gefährten weiter. Vor ihnen befanden sich die Caer. Mythor bemerkte Burunas Blicke, und er selbst fragte sich, warum sie sich noch auf der Straße des Bösen bewegten und nicht zusa-hen, daß sie auf freies, ungefährlicheres Gelände kamen.

Es waren nicht nur die Signale des Helmes, die Mythor noch weiterreiten ließen. Irgend etwas war an diesen Pflanzen, ir-gend etwas, das nicht sein durfte, und es reizte ihn, hinter die-ses Geheimnis zu kommen. Solange das Gelände links und rechts offen war und es nur einiger Schritte bedurfte, um die Straße zu verlassen, sobald sich eine Gefahr zeigte, wollte er auf ihr bleiben. Alles, was er und die Freunde hier an Abson-derlichem herausfanden, konnte sich später als nützlich erwei-sen.

Lamir redete im Fieber. Gapolo hielt ihn mit einer Hand fest, mit der anderen die Zügel.

Etwa eine Stunde ritten sie, ohne daß etwas geschah. Gapolo erklärte, daß er hier die Schwarze Magie der Straße nur schwach spürte, schwächer als an deren Rand.

Dann war der Weg abermals versperrt. Die Pflanzen überwucherten die Yarl-Straße. Sie bildeten ei-

ne undurchdringlich erscheinende Mauer, und doch ließen abgetötete Pflanzenteile vermuten, daß die Caer diesen grünen und roten Vorhang passiert hatten.

»Ich hatte es erwartet«, sagte Gapolo, als er sein Pferd zum Stehen brachte. »So weit sind sie also schon gekommen.«

»Die Pflanzen?« fragte Mythor. Sie erinnerten ihn an etwas. Was die Gefährten nun vor sich hatten, waren keine Bäume

und Sträucher im eigentlichen Sinne mehr. Es waren zwei, drei Mannslängen in die Höhe ragende Ruten und unbelaubte und

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astlose, nur armdicke Stämme, die biegsam wie Schlangen wa-ren. Im leichten Wind wogten die an ihrer Spitze befindlichen fleischigen Blätter und etwas, das wie rote Speerspitzen aus-sah, hin und her. Eine eigentümliche Melodie erfüllte die Luft, wenn die Stämme sich bogen. Einmal klang es wie fernes Wei-nen, dann wieder lag eine Verlockung in dieser Melodie. Für einen Augenblick hatte Mythor die Vision von sich in den Himmel reckenden Schlangen, die langsam ausholten, um dann blitzschnell vorzuschnellen.

»Ja«, antwortete Gapolo, und Mythor glaubte, abergläubi-sche Furcht aus den Worten des Mannes herauszuhören. »Weiter im Süden haben diese Pflanzen schon vor Jahren zu wuchern begonnen, und wer sich zu nahe an sie heranwagte, bezahlte seinen Leichtsinn mit dem Tod. Halte dich aus der Reichweite der Ruten, Mythor!«

»Du sagst, sie tauchten plötzlich auf?« Gapolo nickte, ohne den Blick von der lebenden Wand zu

nehmen. Er ließ sein Pferd einige Schritte zurück machen, und Mythor und Buruna taten es ihm gleich.

»Die Yarl-Straße ist im Süden auf weite Strecken von ihnen überwuchert, und man sagte, daß sie zuerst auf ihr wuchsen, wo sonst kein Leben möglich ist. Ich weiß, daß der Yarl-Paß an der Grenze zu Salamos noch passierbar ist. Zumindest war das so, bevor ich mein Land verließ. Möglicherweise ist auch er jetzt bereits überwuchert, wie die ganze Straße bis tief in den Süden.«

Plötzlich wußte Mythor, woran diese Pflanzen ihn erinner-ten. Zwischen den »tanzenden Schlangen«, wie er sie bei sich nannte, befanden sich, nur auf den zweiten Blick sichtbar, jene roten Ranken, die Althars Wolkenhort umgaben und das Ein-dringen für ihn, Nottr, Sadagar und Kalathee fast unmöglich gemacht hatten.

Und er sah das schimmernde, unglaublich feine Geflecht

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wieder vor sich, das dort den Boden in einer Tiefe von nur ein, zwei Fuß durchzogen hatte. Bereits damals hatte er vermutet, daß diese Gewächse Pflanzen des Bösen seien, die sich breit-gemacht hatten, um den Wolkenhort förmlich zu ersticken.

Bedeutete dies, daß ein weiterer Fixpunkt des Lichtboten sich schon ganz in der Nähe befand? Daß die Kräfte der Fins-ternis diese mörderische, schreckliche Armee deshalb hier aus dem Boden schießen ließen?

»Woran denkst du, Mythor?« fragte Buruna drängend. »Laß uns diese Straße verlassen.«

»Die Yarls«, sagte Mythor, mehr zu sich selbst. »Sie kamen von tief im Süden und pflügten dieses Band in den Boden. Sie waren wahrscheinlich Schattenkreaturen…«

»Du meinst, daß sie die Saat dieser Gewächse mit sich ge-schleppt haben?« fragte Buruna ungläubig. »Immer weiter nach Norden und… direkt aus der Düsterzone?«

Mythor gab keine Antwort. »Die Caer sind hindurchgeritten«, sagte Buruna. »Siehst du

einen toten Caer? Es sind Dämonenpflanzen, und der Priester hatte Macht über sie.«

Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht aber hatten die Caer auch einen Umweg genommen. Es würde zuviel Zeit kosten, weit genug zurückzureiten, um nach ihren Spuren zu suchen, ir-gendwo am Rand der Yarl-Straße.

Und Lamirs Stöhnen erinnerte Mythor nachhaltig daran, daß er seinen Wissensdurst vorerst hintanstellen mußte. Lamirs Leben ging vor. »Wir reiten nach Westen«, entschied er. Buru-na stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und war nahe daran, ihm um den Hals zu fallen.

Die Gefährten ritten ein Stück des Weges zurück, bis sie eine Stelle fanden, an der der Rand der Straße des Bösen auf eine Strecke von fünf Mannslängen unbewachsen war. Dennoch hätte dies fast nicht gereicht.

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Mythor wartete, bis Buruna und Gapolo mit Lamir zwischen den Peitschenpflanzen hindurch und auf freiem Gelände wa-ren. Lamirs Pferd folgte ihnen. Dann erst schickte Mythor sich selbst an, die Yarl-Straße zu verlassen.

Ein Wall von einer halben Mannslänge Höhe begrenzte sie hier. Und genau in dem Augenblick, als Pandor die Vorderhu-fe auf die aufgetürmte Erde setzte, schrie Buruna eine War-nung.

Mythor hörte das Rauschen in der Luft. Hochblicken und Al-ton aus der Scheide ziehen waren eines. Eine Schlangenpflan-ze, die zwei Mannslängen von Mythor entfernt aus dem Boden wuchs, peitschte auf ihn herab. Mythor sah die rote Spitze auf sich zuschießen, duckte sich im letzten Augenblick und wurde von dem messerscharfen, spitzen Stachel nur um eine Hand-breit verfehlt. Bevor der biegsame Stamm wieder in die Höhe zucken konnte, durchtrennte Mythor ihn mit einem einzigen Hieb des Gläsernen Schwertes. Pandor übersprang den Wall aus dem Stand und galoppierte davon. Mythor drehte sich auf seinem Rücken und sah, wie ein Strahl ätzender Flüssigkeit aus dem peitschenden Stamm spritzte und eine andere Pflan-ze, die davon getroffen wurde, in Augenblicken zerfraß.

Dies war der letzte Beweis dafür, daß diese Gewächse hier und jene beim Wolkenhort den gleichen Ursprung hatten.

Was Mythor dann sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrie-ren.

Wo die Flüssigkeit auf die Yarl-Straße gespritzt war, brach die Erde auf, und ein halbes Dutzend Schlangenpflanzen schnellten in die Höhe. Vor den Augen der entsetzten Gefähr-ten wuchsen sie aus der verbrannten Erde.

Nichts hielt die Freunde mehr an diesem Ort. Nur Mythor beugte sich noch einmal von Pandor hinab und kratzte mit der Spitze Altons den hier weichen Boden auf.

Violett schimmerndes Geflecht durchzog die Erde.

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Und so ist es vielleicht überall, dachte Mythor verbittert. Es be-durfte nur der Befehle aus der Schattenzone, um die Dämo-nenpflanzen an jeder beliebigen Stelle aus dem Boden sprin-gen zu lassen.

Mythor beeilte sich, zu den Freunden aufzuschließen.

Kurz vor Sonnenuntergang sahen sie die Karawane. Sie hatten unangefochten ein gutes Stück zwischen sich und

die Yarl-Straße bringen können und eine Rast gemacht, um die Pferde abzureiben und Buruna sich um Lamir kümmern zu lassen. Keine einzige der fremden Pflanzen hatten sie mehr zu Gesicht bekommen.

Es stand schlecht um den Barden, sehr schlecht. Nur hin und wieder noch hatte Lamir wache Augenblicke, in denen er die Freunde erkannte. Das Fieber rüttelte an ihm, und der Schmerz fraß sich durch seinen Körper.

Dies war letztlich ausschlaggebend dafür, daß Mythor beschloß, die Karawane nicht zu umreiten, sondern dort um Hilfe für Lamir zu bitten. Falls – und das konnte als sicher an-genommen werden – es sich um Flüchtlinge handelte, würden sie als Gegenleistung den Schutz von ein paar guten Klingen zu schätzen wissen, hier, wo sie Fremde waren.

Ein wenig überrascht war Mythor darüber, daß der Helm der Gerechten ihm nun eine neue Richtung wies – nach Südwes-ten.

»Dort liegt der Stadtstaat Leone«, hatte Gapolo auf eine ent-sprechende Frage erklärt. »Die sogenannte Insel des Löwen.« Mehr konnte oder wollte er dazu nicht sagen.

Immer mehr bemächtigte sich seiner eine finstere, grübleri-sche Stimmung, und Mythor nahm sich vor, in der kommen-den Nacht besonders gut auf den Freund zu achten. Bisher hatten ihn die Schrecken der Straße des Bösen kaum zu Atem

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kommen lassen. Zwar hatte er den Tod im Kampf gesucht, aber nun befürchtete Mythor, daß er wieder auf den Gedanken kommen könnte, selbst Hand an sich zu legen.

Mythor wußte kaum mehr über Leone, als daß deren Be-wohner tausend Mann in die Schlacht gegen die Caer ge-schickt hatten.

Die Karawane war zum Stehen gekommen. Offensichtlich bereitete man sich dort auf die Übernachtung im fremden Land vor. Das Gelände ringsum war leicht hügelig und gras-bewachsen. Nur hier und da standen kahle Bäume und ver-dorrte Büsche. Die Sicht reichte fast bis zum Horizont. Weit und breit war nichts von einer menschlichen Ansiedlung zu sehen.

Es war um so kälter geworden, je weiter sich die Gefährten von der Straße des Bösen entfernt hatten, und nun war die Temperatur fast bis auf den Gefrierpunkt abgesunken. Aber der Himmel blieb klar, und kein Schnee war zu erwarten.

Mythor, Buruna und Gapolo mit Lamir ritten langsam auf die bedeckten Wagen zu, die sich zu einem Kreis formiert hat-ten und zwischen denen Männer, Frauen und Kinder zu er-kennen waren, wie sie geschäftig verschiedenen Tätigkeiten nachgingen. Zelte wurden aufgeschlagen und Feuer entfacht.

Ein Trupp Reiter kam den Freunden entgegen, als sie noch drei, vier Bogenschüsse von der Karawane entfernt waren. Es waren Bauern, und in ihren Händen hielten sie schwere Lan-zen drohend auf die Ankömmlinge gerichtet.

Mythor bedeutete Gapolo und Buruna stehenzubleiben. Er selbst ritt den Männern entgegen, beide Arme weit von sich gestreckt, zum Zeichen seiner Friedfertigkeit. Mißtrauische Blicke begegneten ihm, als die Reiter vor ihm haltmachten. Dann erkannten sie das Einhorn, und neugierige Blicke wan-derten zum Schwert in der Scheide.

»Wir kommen als Freunde!« rief Mythor. »Wir sind auf der

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Flucht wie ihr, müde und hungrig. Wollt ihr uns für die Nacht bei euch aufnehmen?«

Die Reiter schienen nicht recht zu wissen, wie sie sich zu verhalten hatten. Mythor hörte zwar, wie sie untereinander tuschelten und einmal sein Name fiel, doch sie hatten die Ver-antwortung für ihre Frauen und Kinder zu tragen und oben-drein auf ihrem Weg vielleicht sehr böse Erfahrungen mit um-herstreunenden Überlebenden der Schlacht machen müssen, die nun, aller Hoffnung beraubt, brandschatzend und plün-dernd über das Land zogen.

Vielleicht hatten sie gehört, daß er und die Heerführer für die Niederlage auf dem Hochmoor verantwortlich gemacht wurden.

»Du bist der, den sie den Sohn des Kometen nennen!« rief der Anführer des Trupps, und es war eine Feststellung, keine Frage. »Du sollst uns willkommen sein. Aber wer sind deine Begleiter?«

»Meine Freunde«, antwortete Mythor, »und die euren. Einer von ihnen ist krank. Habt ihr einen Heilkundigen in eurer Mit-te?«

Der Anführer ritt zu Gapolo hinüber, musterte zuerst den Sa-lamiter und dann Lamir, der vor Gapolo auf dem Sattel lag. »Das sieht böse aus«, sagte er. »Ja, wir haben eine, die sich aufs Heilen versteht, aber ob sie diesem hier noch helfen kann…«

Der Mann kam an Mythors Seite, betrachtete das Einhorn fast ehrfürchtig und nickte. »Ihr sollt uns willkommen sein. Wir können jeden starken Arm brauchen. Mächtig viel Gesin-del ist in diesen Tagen unterwegs.«

Sie ritten auf die Wagenburg zu. »Woher kommt ihr?« fragte Mythor, erleichtert darüber, daß

ihm niemand Fragen nach der Schlacht stellte. »Aus Akinlay. Ich bin Wolvur. Unsere Stadt wurde von den

Caer genommen, schon Tage vor dem Ende.«

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»Ich weiß«, sagte Mythor, der leicht erschauerte, als er Wol-vur vom »Ende« reden hörte. Diese Umschreibung der Nie-derlage drückte aus, in welcher Stimmung sich diejenigen be-fanden, die abseits vom Kampfgeschehen den Ausgang der Schlacht erlebt hatten. »So wie Elvinon und Nyrngor, Darain und…«

»Die ganze Lichtwelt wird ihnen gehören«, knurrte Wolvur. »Nichts hält sie mehr auf. Sie besetzen das ganze Land, und wer nicht flieht, wird zum Bleiben gezwungen und versklavt, magisch beeinflußt, bis er eine Hülle ohne Seele ist.« Der An-führer der Flüchtlinge aus Akinlay lachte rauh. »Wir haben auf unserem Weg andere getroffen, die im letzten Moment ent-kommen konnten und von den Greueln berichteten, die sie beobachten mußten. Selbst Kinder und gebärfähige Frauen werden verschleppt.«

»Verschleppt?« fragte Mythor. »Nach Norden?« »Überallhin, wo die Inselhorden sich breitmachen. Manche

von uns glauben, daß sie die entführten Frauen dazu benutzen wollen, um mit ihnen ihre dämonische Brut zu zeugen.«

»Sie werden das ganze Land mit ihrer Schwarzen Magie erdrücken«, sagte einer der anderen Akinlayer.

Sie erreichten das Lager. Zwischen zwei Wagen ritten sie ein und saßen ab. Gapolo trug Lamir zu einem Zelt, auf das Wol-vur wies.

Neugierige, ängstliche Blicke folgten den Freunden, als sie sich an eines der Feuer setzten. Es wurde rasch dunkel. Die Kinder, unter ihnen auch Säuglinge, verschwanden unter den Wagenplanen. Hin und wieder waren ihr Geschrei und die tröstenden Worte einer Mutter zu hören. Frauen brachten Wein und Dörrfleisch herbei, und Buruna holte zwei der eige-nen Flaschen und den Rest Schinken aus den Satteltaschen der Pferde, die bei den Reittieren der Flüchtlinge standen.

Mythor starrte in die Flammen, nachdem alles gesagt war,

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was zu berichten war. Er fragte sich, ob die Caer inzwischen kehrtgemacht hatten und auf der Yarl-Straße zurückgeritten waren. Möglich war auch, obwohl Mythor nicht recht daran glauben konnte, daß sie zu Opfern ihrer eigenen dämonischen Kreaturen geworden waren.

Und Hark und Horus? Mythor war sicher, daß sie noch im Lauf der Nacht auftau-

chen würden, und bereitete die Akinlayer darauf vor. Es wa-ren freundliche Leute, nun, da sie ihre Scheu verloren hatten. Wolvur stand auf und verschwand für eine Weile vom Feuer. Als er zurückkehrte, forderte er Mythor zum Mitkommen auf und führte ihn zu dem Zelt, in dem Lamir auf einigen Decken lag. Über ihn gebeugt kauerte ein altes Weib mit weißem Haar und wettergegerbter Haut. Als sie die beiden Männer eintreten sah, wich sie von Lamirs Lager zurück. Mythor hockte sich vor den Barden.

Der Sänger schlief. Das rote Ärmelkleid war über der Brust geöffnet worden. Auch die Schuhe standen neben seinem La-ger. Die Bißwunden waren von einer grünlichen Salbe und daraufgestreuten Kräutern bedeckt. Mythor erschrak, als er sah, wie weit die Verfärbung der Haut schon fortgeschritten war. Die Beine und der Arm waren schwarzgrau.

»Wird er leben?« fragte Mythor flüsternd. »Wenn er die nächsten Stunden übersteht, kann er gesund

werden«, antwortete die Alte schrill. »Die Salbe wird das Gift aus seinem Körper ziehen, aber das hilft ihm nur etwas, wenn es ihn nicht schon innerlich zerfressen hat.«

Mythor stand auf, warf noch einen Blick auf den Barden und nickte zögernd. Dann drehte er sich um und legte der Alten eine Hand auf die Schulter. »Tu für ihn, was du kannst, gute Frau«, bat er.

»Du wirst es tun, nicht wahr, Murnja?« sagte Wolvur grim-

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mig. »Geht jetzt und laßt mich mit ihm allein.« Draußen vor dem Zelt fragte Mythor: »Besitzt sie… Kräfte?« »Du meinst, ob sie etwas von Zauberei versteht?« Wolvur

lachte. »Das weiß niemand von uns so genau. Zwar wird sie deinen Freund jetzt mit allerlei Beschwörungen bedenken, doch wir vertrauen eher ihren Salben und Kräutern. Vielen von uns hat sie das Leben zurückgegeben, aber sie kannte die Gifte, die in uns waren.«

Mythor verstand den Hinweis. »Eine Zauberin«, sagte Wolvur, »ist sie allerdings, wenn

auch auf eine andere Art. Sie ist eine Kundige Frau und ver-steht sich auf alle Arten von Liebeszauber. Schon manchem hat sie damit in Herzensnöten geholfen.« Der Akinlayer grins-te. »Wenngleich einige der so Beglückten sie hinterher dafür am liebsten umgebracht hätten.«

Die letzten Worte hatte Wolvur gesprochen, als sie schon wieder am Feuer saßen. Buruna erwartete Mythor voller Un-geduld. Nun, da keine unmittelbare Gefahr zu drohen schien, mochte sie sich eine leidenschaftliche Nacht mit Mythor er-warten.

Dieser jedoch enttäuschte sie aufs neue. Zu viele Gedanken spukten in seinem Kopf herum, und er durfte Gapolo nicht zu lange aus den Augen lassen.

Der Salamiter sah nicht einmal auf. Er saß da und starrte in die Flammen, und Mythor fragte sich plötzlich, ob er das Recht hatte, den Salamiter zu einem Leben in Schande und Qualen zu zwingen.

Nachdem gegessen und getrunken worden war, legten die Akinlayer sich schlafen. Sie verschwanden in Zelten oder un-ter den Planen der Wagen. Eine Handvoll Bewaffneter postier-te sich um die Wagenburg und übernahm die erste Wache. Ringsum war alles still. Nur gelegentliches Kinderweinen und

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flüsternde Stimmen aus den Zelten waren zu hören. Insgesamt schätzte Mythor die Zahl der Flüchtlinge auf

knapp zweihundert. Wie viele solcher Züge mochten noch nach Süden unterwegs sein? Bald würde kein Volk mehr in seiner Heimat leben. Angehörige aller Stämme würden sich auf neuem Land zusammenfinden und neue Siedlungen er-richten, bis die Caer auch dort erschienen.

Im Süden… Mythor wollte nicht daran denken, wie es dort aussah, wenn

Gapolos Schilderungen der Wahrheit entsprachen. Salamos, Leone, die Karsh-Länder – war auch dort die Finsternis auf dem Vormarsch, um die Bewohner der Lichtwelt von Norden und von Süden in die Zange zu nehmen?

Das Knistern der brennenden Scheite riß den Sohn des Ko-meten aus seinen Gedanken. Mythor schob neues Holz ins Feuer und bemerkte erst jetzt, daß Buruna nicht mehr an sei-ner Seite saß. Er blickte sich um. Nur noch Gapolo und eine Handvoll Akinlayer hielten sich im Freien auf.

»Unsere Wege werden sich trennen, Mythor«, sagte Gapolo plötzlich, ohne aufzublicken. »Ich kann mein Versprechen nicht halten und bitte dich, mich davon zu entbinden. Ich muß in meine Heimat und dort die Wahrheit über die Schlacht be-richten.«

Mythor sagte lange Zeit nichts. Er verstand den Freund nur zu gut. Gapolo wollte reinen Tisch machen. Aber er würde auf Ablehnung stoßen, immer wieder. Die Salamiter waren ein zu stolzes Volk, um ihm schnell zu verzeihen.

»Ich werde dich nicht halten«, sagte der Sohn des Kometen schließlich. »Wann willst du aufbrechen?«

Jetzt fuhr der Kopf des jungen Fürsten in die Höhe. Unglau-be und Dankbarkeit standen in seinem Blick. Die züngelnden Flammen warfen gespenstische Schatten auf sein Gesicht.

»Gleich morgen«, antwortete Gapolo. »Sobald die Sonne

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aufgeht.« »Mein Weg führt nach Südwesten, vielleicht nach Leone«,

sagte Mythor. »Es wäre kein großer Umweg für mich, wenn ich dich ein Stück begleiten würde. Erlaube mir wenigstens das, Gapolo, und ich entbinde dich deines Versprechens.«

Der Salamiter rang sichtbar mit sich. Schließlich stimmte er zu. »Du solltest nach Buruna sehen«, sagte er. »Ich weiß, daß sie es war, die das Pergament aus deinem Wams genommen hat. Und sie hörte, wie Wolvur den Liebeszauber der Kundi-gen Frau erwähnte.«

»Danke«, sagte Mythor nur. Mehr brauchte Gapolo ihm wahrhaftig nicht zu sagen.

Mythor verließ das Feuer und stand Augenblicke später im-Zelt der Alten. Lamir lag schwer atmend auf seinem Lager, aber das nahm Mythor kaum wahr. Er erstarrte.

Buruna kniete mit dem Rücken zu ihm vor einer kleinen De-cke, auf der eine Öllampe brannte. Die Alte war völlig in eine Beschwörung vertieft und bemerkte ihn ebenfalls noch nicht. Und in ihren Händen hielt sie das Pergament mit dem Abbild Fronjas!

»Weiche aus ihm!« zischte die Alte ganz leise und machte mit einer Handfläche kreisende Bewegungen über dem Per-gament. »Weiche aus dem Manne Mythor! Gib ihn frei! Fahre aus seinem Geist und seinem Herzen! Gib ihn frei für diese, die dich nun durch ihre Hände und das Feuer der Reinheit für immer verbannen wird. Brennen sollst du! Brennen!«

Noch ein paarmal folgten diese Worte und die kreisenden Handbewegungen. Mythor konnte nicht fassen, was er da sah. Er schluckte, und nur mit Mühe konnte er noch an sich halten. Dann aber, als Buruna das Pergament nahm und die Alte die Abdeckung der Öllampe entfernte, stieß er einen Schrei aus und stürzte vor. Ehe Buruna das Pergament in die Flammen halten konnte, war er heran und riß es ihr aus der Hand.

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Die Alte schrie schrill und kroch auf allen vieren in die hin-terste Ecke des Zeltes, schlug beide Hände vors Gesicht und begann laut zu jammern und zu zetern.

Buruna drehte sich ganz langsam um, sah Mythor über sich, sprang auf und rannte an ihm vorbei aus dem Zelt.

Kein Muskel zuckte in Mythors Gesicht, als er das Perga-ment betrachtete. Buruna hatte es nicht beschädigt. Fronjas Antlitz sah ihm überweltlich schön wie immer entgegen.

»Schlange«, murmelte Mythor. »Wahrlich, Alte, ich hätte dich brennen lassen wie sie.«

Vor dem Zelteingang entstand Lärm. Wolvur und zwei be-waffnete Akinlayer stürmten herein. Blitzschnell ließ Mythor das Pergament unter seinem Wams verschwinden, und erst jetzt fühlte er, wie heftig sein Herz schlug.

»Du brauchst nichts zu sagen«, knurrte der Anführer der Flüchtlinge. »Wir haben deinen Schatz aus dem Zelt laufen sehen und ihn uns geschnappt. Sie hat uns alles gebeichtet.«

Wolvur schritt an Mythor vorbei auf die Alte zu. Er zerrte sie an ihren Lumpen in die Höhe und rüttelte sie, bis ihr Jammern verstummte.

»Du hast dich dazu hergegeben, die unseren Freunden ge-währte Gastfreundschaft zu mißachten, Murnja.« Im flackern-den Lampenlicht wirkte sie tatsächlich wie eine Hexe, und bei dem Gedanken daran, daß Lamir von ihr »behandelt« wurde, erschauerte Mythor.

Doch Wolvur schien seine Befürchtungen zu kennen. »Du wirst diesen jungen Barden gesund pflegen, Murnja. Ich weiß, daß du es tun wirst, denn sonst wirst du als Hexe brennen, darauf mein Wort!«

Der Akinlayer ließ sie los und zog Mythor mit sich aus dem Zelt. »Mach dir keine Sorgen um deinen Freund«, sagte er, als sie weit genug fort waren. »Er wird leben, wenn es auch nur die geringste Aussicht dafür gibt. Murnja wird nun die beste

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Heilerin sein, die er sich wünschen kann.«

Am nächsten Morgen brachen Mythor und Gapolo auf. Lamir hatte das Bewußtsein wiedererlangt und die Freunde erkannt. Beine und Arme waren schon nicht mehr so dunkel, und auch das Fieber ging zurück.

Buruna war Mythor aus dem Weg gegangen. Nur Gapolo hatte kurz mit ihr gesprochen. Sie wollte bei Lamir bleiben und mit diesem nach Leone weiterziehen, sobald er ganz ge-sund war. Bis dahin war ihnen die Gastfreundschaft der Akin-layer gewiß, die Mythor herzlich verabschiedeten. Lamir hatte Tränen in den Augen, als Mythor ihm Mut zusprach, und der Sohn des Kometen wünschte sich nichts sehnlicher, als bald wieder die Klänge der verstimmten Laute zu hören.

Natürlich hoffte Buruna darauf, Mythor in Leone wiederzu-treffen, wenn sein Zorn auf sie erst einmal verraucht war. My-thor hatte jedenfalls nicht das Bedürfnis, sie an diesem Morgen noch einmal zu sehen. Er hatte die ganze Zeit über geahnt, daß sie ihm das Pergament im Schlaf entwendet hatte. Aber daß sie so weit gehen würde, es zu zerstören…

Kurz vor Anbruch des Morgens waren zu Mythors größter Erleichterung Hark und Horus im Lager aufgetaucht.

Das Ziel der Freunde war zunächst der Yarl-Paß, jene Engstelle in den Vorbergen an der Grenze zwischen Tainnia und Salamos. Mythor erinnerte sich noch daran, wie die Sala-miter damals versuchten, die Nomaden aufzuhalten, indem sie Barrikaden und ähnliche Hindernisse errichteten – vergeblich. Bei dieser Gelegenheit war es auch zur ersten, allerdings flüch-tigen und eher einseitigen Begegnung zwischen ihm und Ga-polo gekommen, der damals selbst noch ein Halbwüchsiger war.

Der Boden war noch hart vom nächtlichen Frost. Ein eisiger

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Wind blies den beiden Reitern ins Gesicht. Unangefochten rit-ten sie den ganzen Tag. Nur zweimal rasteten sie. Gapolo stieg widerwillig vom Pferd und drängte schon nach kurzer Zeit wieder zum Aufbruch. Ansonsten redete er nicht viel, aber er kannte das Land, und wie er vorausgesagt hatte, erreichten er und Mythor mit seinen Tieren am Abend den Paß.

Mythor war es rätselhaft, was den Salamiter dazu trieb, die Grenze zu seinem Land gerade dort zu überqueren und auf oder dicht neben der Straße des Bösen nach Süden weiterzu-reiten. Gapolo hatte etwas im Sinn, was er noch verschwieg. Und Mythor stellte vorerst keine Fragen, denn ein Passieren des Passes war nicht mehr möglich.

Mythor hatte erwartet, hier den gleichen Pflanzendschungel wie weiter nördlich vorzufinden, doch seltsamerweise war dies nicht der Fall. Es mochte mit dem zusammenhängen, was die Freunde aus sicherer Entfernung von einer Anhöhe aus in der Abenddämmerung beobachteten. Gapolo fluchte leise vor sich hin. Dort, wo sich vor zehn Jahren die Yarls durch den Engpaß gewälzt hatten, waren Caer dabei, den Paß zu befesti-gen. Feuer brannten, und Hunderte von Kriegern und Sklaven gingen Beschäftigungen nach, deren Sinn für Mythor nicht erkennbar war. Was er sah, erinnerte ihn allerdings an die Be-festigung der Yarlstraße weiter nördlich. Diesmal jedoch be-kam er keine Gelegenheit dazu, von den Felsen zu steigen und sich anzugleichen, denn Gapolo weigerte sich, soviel Zeit zu »vergeuden«. Und je näher die Grenze zu Salamos gekommen war, desto unruhiger war der Worsunge geworden. Mythor mußte ihm folgen, wollte er sich nicht ewig Vorwürfe machen.

Es erwies sich, daß Gapolo hier im hügeligen Grenzland ge-nügend Schleichwege kannte, um auch in der Dunkelheit mit Mythor ungehindert und sicher nach Salamos zu kommen. Sobald sie den Paß genügend weit hinter sich gebracht hatten, ritt er in einem Bogen zurück zur Straße des Bösen. Als My-

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thor in der Ferne Dutzende von großen Feuern und in deren Schein turmhohe Pflanzenungetüme sah, brachte er Pandor zum stehen.

Gapolo drehte sich im Sattel um und zügelte sein Pferd. »Was ist?« fragte er ungeduldig. »Warum reitest du nicht wei-ter?«

Mythor schüttelte den Kopf. »Gapolo, bisher habe ich dir keine Fragen gestellt, weil ich hoffte, daß du weißt, was du tust. Nun sind wir in Salamos. Warum willst du zur Yarl-Straße zurück?«

»Ich… muß!« brachte der Salamiter trotzig hervor. »Sieh die Feuer! Dort kämpfen meine Leute gegen die Saat des Bösen! Ich sagte dir, daß die Mörderpflanzen hier alles zu überwu-chern begonnen haben. Wie kann ich besser meine Tapferkeit beweisen, als daß ich ihnen in ihrem Kampf helfe?«

»Oder indem du dabei stirbst? Gapolo, willst du zum Märty-rer werden?«

»Nicht mehr, Mythor. Glaub mir das. Es gibt einen anderen Weg, um…« Gapolo biß sich auf die Lippen, als habe er zuviel preisgegeben. »Es gibt einen anderen Weg ins Reich der Hero-en.«

»Und diesen Weg willst du gehen?« »Wenn es sein muß, ja. Und diesmal bitte ich dich, mich zu

meinem letzten Ziel zu begleiten.« »Du willst nach wie vor den Tod«, stellte Mythor fest. »Wenn es so sein muß, ja!« schrie der Salamiter und schlug

die eisernen Beinschienen hart in die Seiten seines Pferdes. »Auf dem Lilienhügel!«

Damit galoppierte er davon, ohne sich noch einmal umzuse-hen. Mythor folgte ihm, erschüttert und im Bewußtsein, den Freund nun nicht mehr von dem abbringen zu dürfen, was er vorhatte. Zu groß war sein Stolz, und zu sehr war er gekränkt worden. Strenger noch als zu anderen waren die Salamiter zu

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sich selbst. Nein, Gapolo hatte seinen Entschluß schon lange vorher getroffen, und nur sein Mythor gegebenes Versprechen hatte ihn davon abgehalten.

Mythor folgte Gapolo in geringem Abstand, bis sie die Feuer erreichten. Und er würde mit ihm zum Lilienhügel reiten, was für ein Ort dies auch immer sein mochte. Denn dies war das letzte, was er für ihn tun konnte.

Hier, im hügeligen Grenzland, wo Salamos, Tainnia, Ugalien und das Karsh-Land aufeinandertrafen, lebten die Worsungen. Hier war Gapolos Heimat, und die Männer, die den Dämo-nenpflanzen mit Feuer zu Leibe rückten, waren einst seine Freunde und Nachbarn gewesen.

Nun sahen sie sich nur kurz um, als sie ihn und Mythor her-anreiten hörten, drehten sich wieder den Feuern zu und taten gerade so, als sei er Luft.

Gapolo saß ab und ging auf eine Gruppe von Bauern zu, die mit Pechfackeln und Schwertern gegen die Pflanzenmauer anrückten, die sich hier scheinbar endlos an der Straße des Bösen entlangzog. Es gab keine Lücken mehr wie weiter nörd-lich. Hier war alles zugewachsen, und die Pflanzen breiteten sich weiter aus. Von der Yarl-Straße aus fraßen sie sich ins Land wie lange Kolonnen von Kriegern. Der Grund für den nächtlichen Eifer der Worsungen wurde klar, als Mythor einen Trupp Reiter gewahrte, der zur Verstärkung anrückte. In der Richtung, aus der sie kamen, lag im fahlen Licht des abneh-menden Mondes eine kleine Siedlung, auf die sich einer der Pflanzenkeile zuschob. Mythor sah, wie die Schlangengewäch-se sich mit der Spitze zum Boden beugten und die roten Speerspitzen abschossen, oft ganze Steinwürfe weit. Und dort, wo die Samenträger ins Land fuhren, schnellten sich nur Au-genblicke später neue Pflanzen aus der Erde, wuchsen in Stunden zu ihrer vollen Größe und schossen selbst neue Sa-men ab.

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Mit langen Holzwällen, die sie vor ihnen aufschichteten und anzündeten, versuchten die Worsungen sie aufzuhalten, und immer wieder verschossen die Pflanzen ihren Samen dann in andere Richtungen. Sie umgingen die Hindernisse regelrecht, so daß Mythor sich unwillkürlich fragte, ob sie Verstand besa-ßen.

Der Gedanke war absurd. Sie waren von einer unglaublichen Gier besessen, der Gier nach Leben und Zerstörung. Immerhin schien das Feuer ihnen zu schaffen zu machen. Wo die Wor-sungen Glut um die Stämme häuften, verendeten die Pflanzen innerhalb kurzer Zeit, doch vorher starben viele Männer, die sich zu nahe an sie heranwagten. Blind rannten sie mit den Schwertern gegen die biegsamen Stämme an, obwohl die Klingen wie an Stahl abprallten.

Und über allem lag das schaurige Ächzen, Stöhnen und Sin-gen der Schlangengewächse. Männer schienen von der Melo-die verzaubert zu werden und gingen wehrlos in den Tod. Die Stämme peitschten umher und schleuderten die roten Spitzen nach jedem, der in ihre Reichweite kam.

Das alles nahm Mythor innerhalb weniger Augenblicke wahr. Jetzt war Gapolo an einem der Feuer angelangt und wollte nach einem brennenden Scheit greifen. Drei Männer stellten sich ihm einfach in den Weg, mit dem Rücken zu ihm. Sie fanden es offensichtlich nicht einmal der Mühe wert, ihn anzusehen. Grenzenlos mußte ihre Verachtung für ihren Fürs-ten sein, und auf grausamste Weise ließen sie ihn sie spüren.

Die Kunde von dem, was auf dem Hochmoor geschehen war, war also schon bis hierher gedrungen, erkannte Mythor. Er mußte an sich halten, um den Verblendeten nicht eine Lek-tion zu erteilen, die sie so schnell nicht vergessen sollten. Doch das war allein Gapolos Angelegenheit. Jede Einmischung My-thors mußte für ihn eine weitere Demütigung bedeuten. Er mußte allein damit fertig werden.

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»Bleib hier, Hark!« sagte Mythor, als der Bitterwolf wütend zu knurren begann.

Gapole redete auf die Männer ein. Nicht ein einziger drehte sich zu ihm um. Wohin er auch ging, verstellten sie ihm den Weg, bis ihm die Geduld riß.

Der junge Worsunge schlug einen der Bauern, die ihn am Weitergehen hinderten, von hinten nieder. Einen zweiten be-täubte er durch einen Schlag mit der flachen Klinge. Blitz-schnell stürmte er durch eine Lücke auf ein Feuer zu und riß ein Scheit heraus.

»Kommt mir nicht näher!« schrie er. »Das ist unser aller Kampf!«

»Du gehörst nicht mehr zu uns!« schrie eine rauhe Stimme. »Verschwinde, Elender!«

»Redet nicht mit einem räudigen Hund, der euch die Beine näßt! Erschlagt ihn!«

»Er ist die Klinge nicht wert!« Gapolos Schultern sanken herab. Mythor hielt sich zum Ein-

greifen bereit, doch wieder wandten sich die Salamiter ab, um auf breiter Front den aussichtslosen Kampf gegen die Pflanzen aufzunehmen.

Wortlos, mit hängendem Kopf kehrte Gapolo zurück und stieg in den Sattel. Kurz blickte er Mythor an, und der Schein der Feuer reichte aus, um die Qualen des Worsungen erken-nen zu lassen.

»Komm«, sagte Gapolo nur. Er wollte sein Pferd antreiben und nach Westen reiten, als ein Aufschrei aus mehreren Keh-len ihn und Mythor zusammenzucken ließ.

Fünf, sechs Schlangenpflanzen beugten ihre Spitzen blitz-schnell herab und verschossen ihre Samenträger gleichzeitig um eine Gruppe von Salamitern herum. Noch bevor die Män-ner davonlaufen konnten, sprangen überall vor ihnen die peit-schenden Schlangen aus dem Boden. In abergläubischer

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Furcht wichen die Eingeschlossenen zurück. »Warte hier!« rief Mythor Gapolo zu. Und schon galoppierte

er auf Pandor auf die schnell in die Höhe schießenden Stämme zu, Alton in der Rechten. So schnell, daß das Auge es kaum erfassen konnte, ritt er um die Ableger herum, und Alton durchteilte klagend die Luft und fällte einen Stamm nach dem anderen.

»Das soll euch lehren, den Stab über andere zubrechen!« rief Mythor den fassungslosen Männern zu. »Es kommt der Tag, an dem ihr zu Erain flehen werdet, Recken wie den in eurer Mitte zu haben, den ihr Elenden verschmäht!«

Mythor blickte sich nicht um. Seite an Seite mit Gapolo ritt er davon, und weithin waren die Feuer vor der peitschenden, singenden und ächzenden Wand zu sehen.

»Ich mußte es tun«, sagte Mythor. »Nicht um deinetwillen!« »Du bist ein wahrer Freund, Mythor. Aber auch du änderst

nichts mehr an meinem Entschluß. Ich habe genug gesehen.« Als der Worsunge sein Pferd antrieb und nach Südwesten

ritt, da wußte Mythor, daß irgendwo dort der Lilienhügel lag.

Sie ritten zwei Tage lang, bis Gapolo sein Reittier in langsame-ren Schritt fallen ließ und die Unruhe der letzten Tage zuse-hends von ihm abfiel. Nachts hatten sie in Gehöften geschla-fen, deren Bewohner ihr Zuhause erst vor kurzem verlassen hatten. Schon von hier flohen die Menschen, dachte Mythor bitter. Und von Norden her kamen immer mehr, die sich hier Sicherheit erhofften.

Dreimal hatten sie Flüchtlingskarawanen aus der Ferne ge-sehen, und einige Male waren sie Salamitern begegnet, die nicht zu Gapolos Stamm gehörten, ihn aber dennoch ihre gan-ze Verachtung spüren ließen. Doch nun schien das alles von Gapolo abzuprallen. Er war dabei, seinen Frieden mit sich zu

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machen. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als der Worsun-

gen-Fürst sein Pferd zügelte und auf einen mächtigen Hügel inmitten des hier ebenen Landes zuritt. Mythor kniff die Au-gen zusammen und erkannte unzählige an den Hängen errich-tete primitive Lehmhäuser, die wahllos ineinander verschach-telt erschienen.

»Der Lilienhügel«, sagte Gapolo mit Ehrfurcht in der Stim-me. »Hierher kommen Stammesführer, um zu sterben.

Hier tragen Krieger ihre Ehrenhändel aus, und hierher kommen Entehrte, um sich von der Schande reinzuwaschen und doch noch Eingang ins Land der Heroen zu finden. Hier liegen die Helden vieler Schlachten begraben und jene, die an diesem Ort gerichtet wurden.«

»Gapolo…«, begann Mythor, doch der Salamiter brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er sah ihn an, und ein eigentümlicher Glanz lag in seinen Augen, als er Mythor zunickte und anlächelte, zum erstenmal seit der Schlacht von Dhuannin.

»Trotze nicht dem Schicksal, das in den Händen größerer Mächte als derer des Lichtes und der Finsternis liegt«, sagte der Worsunge. Die Wintersonne ließ sein schulterlanges, ge-locktes schwarzes Haar an Stellen golden schimmern. Kein Lufthauch regte sich, als täten die Elemente das Ihre dazu, die-sem Augenblick die nötige Würde zu verleihen.

Groß war der Schmerz in Mythors Herz, groß die Versu-chung, den liebgewonnenen Freund mit Gewalt an seinem Vorhaben zu hindern.

Ein Blick in Gapolos Augen genügte, um diese Absicht zer-bröckeln zu lassen. »Erzähl mir mehr vom Lilienhügel«, for-derte er den Salamiter auf, als sie nun langsam weiterritten.

Je näher sie kamen, desto mehr Einzelheiten konnte Mythor erkennen. Die Lehmhäuser waren neben- und übereinander

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gebaut. Schmale Wege führten zwischen ihnen hindurch, wei-ter auf die Kuppe des Hügels zu, die sich den Blicken noch entzog. Vereinzelt stehende hohe Birken reckten ihre kahlen weißen Stämme erhaben dem Himmel entgegen.

»Der Lilienhügel ist seit alters her ein heiliger Ort«, sagte Gapolo bereitwillig. »Eine Kultstätte, solange die Erinnerung zurückreicht. Vor langer Zeit wurde sie von den Sarronen er-richtet, den Ureinwohnern dieses Landes. Für uns Salamiter, egal welchen Stammes, wurde sie Heldenfriedhof, Richtstätte und Kampfarena zugleich. Die meisten der Gebäude, die du siehst, sind Grüfte, in denen die Gebeine unserer toten Helden ruhen. Und noch im Tod sind sie erhaben.«

»Sie werden einbalsamiert?« »In Lehm verpackt, ob sie nun aufgebahrt hierhergebracht

wurden oder auf dem Hügel im Zweikampf fielen. Die Lehm-form zeigt sie allen, die hierherpilgern, in ihrer im Tod einge-nommenen Haltung.«

Schweigend ritten sie weiter, bis sie die ersten Lehmbauten erreichten. Durch eine Gasse ging es weiter den Hügel hinauf. Der Boden war mit behauenen Steinen gepflastert, und dunkle Öffnungen klafften in den Bauten. Ein-, zweimal sah Mythor neugierige Augen auf sich und Gapolo gerichtet. Doch jene, die bei den Toten lebten und wachten, zeigten sich nicht noch nicht.

Gapolo sah zum Himmel auf und lächelte wieder versonnen. »Wir haben uns eine gute Zeit ausgesucht«, sagte er.

Mythor wurde hellhörig. Wir? Ein Verdacht beschlich ihn, ganz vage, aber der Gedanke,

der Mythor kam, mußte töricht sein. Dennoch: Wieso wurde er als Fremder nicht von dieser heiligen Stätte gewiesen? Oder war es üblich, daß diejenigen, die hier den Tod suchten, einen Begleiter mitbringen durften, der aller Welt von ihren letzten Augenblicken kündete?

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Mythor wünschte sich, mehr über die Sitten der Salamiter zu wissen. Wortlos ritt er hinter Gapolo den gepflasterten Pfad hinauf, bis die Lehmhäuser hinter ihnen zurückblieben. Nun, da er von oben auf sie hinabblickte, kamen sie ihm vor wie ein Wall um den eigentlichen Hügel, durch den keiner gelangen sollte, der nicht befugt war, die Kultstätte zu betreten. Und durch den keiner mehr zurückkommen sollte, der die heilige Stätte betreten hatte?

Zu beiden Seiten des Pfades breiteten sich nun blühende Gärten aus. Blumen und Sträucher, die auch im Winter gedie-hen, rahmten große rechteckige Felder ein, auf denen zwi-schen Lilien geschliffene Steine mannshoch aus dem Boden ragten, mit allerlei Inschriften versehen.

Der Weg führte geradlinig auf die Kuppe zu. Als ein anderer ihn kreuzte, hielt Gapolo sein Pferd an und deutete mit ausge-strecktem Arm nach links. »Die Totenweiber«, sagte er.

Ganz in Weiß gehüllte Frauen kamen in einer Prozession heran, eine seltsam eindringliche Melodie summend. Erst jetzt sah Mythor den Salamiter, der ihr Ziel war.

Vornübergebeugt kauerte er zwischen blühenden Lilien. Auf den ersten Blick wirkte er wie einer, der in ein stilles Gebet versunken war. Dann sah Mythor die schmale Klinge, die aus seinem Rücken ragte, und die Hände vor seinem Leib, die noch im Tod den Griff des Schwertes umklammerten, mit dem er sich selbst gerichtet hatte.

Mythor erschauerte. Die Totenweiber erreichten den Selbst-mörder und begannen, sich an ihm zu schaffen zu machen.

»Was sind das für Frauen, Gapolo?« »Sie hausen zeitlebens hier«, antwortete der Worsunge. »Sie

sind es, die die Toten salben und zur letzten Ruhe betten.« Gapolo lächelte. »Ich kenne diesen Mann nicht. Er gehört ei-nem anderen, weit von hier beheimateten Stamm an. Doch die Todesart, die er für sich wählte, ist die gleiche, die auch ich für

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mich bestimmt habe.« Sie ritten weiter bergauf, während die Totenweiber einen

klagenden Gesang anstimmten. Mythor sah sich nach Hark um. Offensichtlich wartete der Bitterwolf unten vor den Lehmhäusern auf ihn, und auch Mythor sehnte den Augen-blick herbei, in dem er wieder auf dem Weg fort von hier war.

Andererseits berührte ihn der vollkommene Friede, der von hier ausstrahlte. Dieser Ort war eine Insel in einer Welt des Kampfes, der Umwälzungen und der allgegenwärtigen Angst.

»Es leben nur diese Weiber hier?« fragte Mythor nach lan-gem Schweigen. Sie begegneten niemandem mehr. Nur an ei-nigen Stellen auf den gepflegten Feldern waren Frauen dabei, den Boden von Unkraut zu säubern.

»Auch Männer«, sagte Gapolo. »Selbst diese Stätte ist nicht gefeit gegen Abenteurer, die hier Schätze zu finden hoffen. Sie muß verteidigt werden. Doch warum fragst du?«

Mythor stellte die Frage, die ihn immer mehr beschäftigte: »Ist es Brauch, daß Angehörige anderer Völker eure Helden auf dem letzten Ritt bis hierhin begleiten dürfen?«

Gapolo zügelte sein Pferd und wartete, bis Mythor mit ihm gleichauf war. Dann legte er ihm eine Hand auf die Schulter und sagte mit einem Lächeln, aus dem nichts als aufrichtiges Wohlwollen sprach: »Bis hierhin und zum letzten Schritt ihres Weges, Mythor. Glaubst du denn, ich wollte dir den Eingang ins Reich der Heroen verwehren? Nie hatte ich einen besseren Freund als dich, und ich bin dir die Ehre schuldig, dich mit auf die Reise zu nehmen.«

Mythor wich zurück. »Was sagst du da?« »Du hast richtig gehört, Mythor. Der Tod wird die Bande un-

serer Freundschaft nicht zerreißen. Gemeinsam werden wir aus dieser Welt scheiden und in eine bessere, vollkommenere eingehen.«

»Du weißt nicht mehr, was du redest!« rief Mythor aus. »Ich

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will leben, um für das Licht zu kämpfen!« Das Lächeln schwand aus dem Gesicht des Worsungen. Lan-

ge sah er Mythor in die Augen, und eine Spur von Trauer ü-berschattete sein Gesicht. »Es ist zu spät zur Umkehr, mein Freund. Wußtest du denn wirklich nicht, daß niemand diesen Ort lebend verlassen kann? Wer das versucht, wer angesichts des Todes schwach wird, den erschlagen die Wächter des Hü-gels. Und dies wäre deiner nicht würdig. Nun komm und be-reite dich mit mir vor, denn nur wer allem Weltlichen entsagt hat, findet Eingang ins Paradies der Heroen.«

Kaltes Entsetzen griff nach Mythor, der keiner Worte mehr fähig war. Bestürzt erkannte er, daß Gapolo es ernst meinte.

Mythor sah sich um, als der Worsunge sein Pferd weiter den Hügel hinauftrieb. Der Ring der Lehmbauten dort unten wirk-te nun auf ihn wie der Wall einer uneinnehmbaren Festung – einer Falle, aus der es kein Entkommen mehr gab. Mythors Zorn auf den Salamiter war nur von kurzer Dauer. An seine Stelle traten Mitleid und ein Gefühl vollkommener Hilflosig-keit. Gapolo meinte es ja nur gut mit ihm – zu gut. Die Bande der Freundschaft gingen ihm über alles andere, und es war seine aufrichtige Überzeugung, daß er Mythor einen Dienst erwies.

Nein, Mythor konnte ihm nicht lange dafür zürnen, daß er so einfach über sein Leben entschieden hatte. Gapolos Wertbeg-riffe waren anders als seine, und der Worsunge war bereits so weltabwesend, daß Begriffe wie Licht und Schattenmächte für ihn gegenstandslos geworden waren. Er sah sich bereits im Land der Helden, von einer Schande reingewaschen, die er niemals wirklich auf sich geladen hatte.

Mythor fühlte sich zwischen widersprüchlichen Gefühlen hin und her gerissen. Er durfte jetzt nicht umkehren, nicht be-vor Gapolo das getan hatte, was er im Geiste längst vollzogen hatte. Andererseits hatte er nicht die Absicht, selbst hier zu

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sterben. Wie viele Wächter mochte es geben? Wie waren sie bewaff-

net? Wachten sie, irgendwo versteckt, darüber, daß diejenigen, die hierherkamen, sich selbst den Tod gaben?

In geringem Abstand folgte er Gapolo, bis dieser sein Pferd zum Halten brachte und aus dem Sattel stieg. Ohne seine Ha-be, nur mit der schmalen Klinge in der Hand, schritt er auf einen von Steinen gebildeten Kreis knapp unterhalb der Hü-gelkuppe zu, wartete, bis Mythor bei ihm war, und trat in die Mitte des Kreises.

Auch Mythor hatte das Schwert in der Hand. Pandor wartete wenige Schritte vor dem Steinkreis, und Horus war nun am Himmel zu sehen, wo er lautlos und wachsam seine Bahnen zog.

Mythor wollte den Freund in dem Glauben sterben lassen, er gehe mit ihm in sein Paradies. Er sollte seinen Frieden finden. Mythor aber würde bis zum letzten Blutstropfen kämpfen, um zu leben.

Mythor blieb außerhalb des Kreises stehen, in dessen Mitte sich Gapolo nun auf die Knie fallen ließ.

Lange kauerte er vornübergebeugt, nur den Arm mit dem Schwert zur Seite gestreckt. Es kostete Mythor fast über-menschliche Überwindung, tatenlos zuzusehen und den Tod-suchenden nicht im letzten Augenblick noch zurückzureißen.

Was für ein Leben hätte er ihm geschenkt? Das eines Ausge-stoßenen, ewig Ruhelosen, der geächtet und angespien wurde, getreten wie ein Hund, wohin er auch kam!

Dann, als die Sonne ihren höchsten Stand am Himmel er-reicht hatte, richtete der Worsungen-Fürst sich auf. Stolz und ungebeugt stand er vor Mythor. Das schwarze Haar schim-merte in der Wintersonne. Gapolos Blick war zum Himmel erhoben. Das Schwert blinkte. Der Brustharnisch hob und senkte sich unter schweren Atemzügen. Gapolos Hand zitterte

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nicht. Er stand völlig still, und ein Ausdruck war in seinem Gesicht, daß Mythor begann, Ehrfurcht vor diesem Mann zu empfinden.

Gapolo ze Chianez wandte sich ihm ein letztes Mal zu. Er sagte nichts. Nur die Verheißung überweltlichen Glücks sprach aus seinem Blick. Keine Trauer war darin, kein Schmerz. »Ich werde auf dich warten, Mythor«, sagte der Sa-lamiter mit ruhiger Stimme. »Auf ein Wiedersehen dort, wo der Platz für Helden ist.«

Dann legte er den Harnisch ab und brachte die Spitze seiner Klinge an seine Brust. Mit beiden Händen umklammerte er den Griff des Lilienschwerts.

Mythor wandte sich ab, um seine Beherrschung ringend. Er verharrte, bis er einen kurzen, erstickten Laut hinter sich hörte. Dann hielt ihn nichts mehr. Nur fort von hier, nur diesen einen Gedanken hatte er. Pandor kam ihm entgegen. Mythor sprang auf den Rücken des Einhorns und sprengte davon, von Trauer und Verzweiflung geschüttelt.

Ein Zug Totenweiber, die den Hügel heraufkamen, wich ent-setzt schreiend vor Pandors weit ausschlagenden Hufen zu-rück. Wie ein Sturmwind ritt Mythor den Weg hinab, den er mit Gapolo gekommen war.

Vor den Lehmbauten erwarteten ihn die Wächter, Salamiter in blinkenden Rüstungen mit der Lilie auf der Brust und auf schnellen Pferden. Klingen blitzten in der Sonne. Der Weg durch die Gassen war versperrt.

»Über den Hügel, Pandor!« rief Mythor. In scharfem Galopp ging es ein Stück des Weges zurück,

dann trieb Mythor das Einhorn nach Westen. Die Salamiter stimmten wildes Kampfgeschrei an und hefteten sich an seine Fersen. Pandors schnelle Hufe rissen große Erd- und Grasbal-len aus den gepflegten Anlagen. Es ging immer weiter nach Westen, den Hügel hinab, durch schmale Gassen und über

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Hindernisse. Von überall her kamen Schreie des Entsetzens. Bewaffnete stellten sich Mythor in den Weg, Männer in wei-

ßen Kutten und mit goldenen Ketten über der Brust. Mythor ließ Alton kreisen und wehklagen, und die Wächter

wichen schreiend zur Seite. Pfeile flogen heran und verfehlten Mythor nur knapp. Weit

nach vorne hängend, die linke Hand in Pandors Mähne ge-krallt, erreichte der Sohn des Kometen endlich die letzten Lehmhäuser und sprengte ins Freie. Von rechts kam Hark her-an und fegte neben dem Einhorn her. Horus stieß auf die Ver-folger herab, doch es waren zu viele, als daß der Schneefalke sie aufhalten konnte.

Ihre Pferde waren schnell, doch Pandor wuchs über sich hin-aus. Wie der Wind trug er Mythor davon, und der Lilienhügel schrumpfte schnell hinter ihm. Der Abstand zu den Verfolgern vergrößerte sich, doch sie hatten Mythors Spur, und sie wür-den dem Frevler folgen.

Die Signale wurden stärker. Nach Südwesten! Nach Leone! Mythor gönnte sich und Pandor keine Rast, auch nicht, als

die Salamiter nicht mehr zu sehen waren und nur eine Staub-wolke von den Verfolgern kündete.

Zwei Tage und zwei Nächte lang war Mythor ständig auf der Flucht. Hunger und Durst quälten ihn, und die Schlaflosigkeit ermattete seine Sinne.

Er hatte keine Vorräte bei sich, und Hark war längst schon irgendwo im Gebüsch verschwunden. Der Bitterwolf konnte das mörderische Tempo nicht mithalten und würde sich sei-nen eigenen Weg suchen. Horus hatte zweimal kleine Tiere geschlagen und sie Mythor gebracht. Doch kaum war dieser abgestiegen, um sich und Pandor wenigstens eine Stunde Rast zu gönnen, da tauchten in der Ferne auch schon die Salamiter

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auf. Als die Mauern von Leone am frühen Morgen des dritten

Tages endlich am Horizont auftauchten, glaubte Mythor einige Herzschläge lang, der in seinen Eingeweiden wütende Hunger und der noch schlimmere Durst gaukelten ihm Trugbilder vor.

Aber es war Leone! Der Anblick der Stadtmauern verlieh dem Gehetzten noch einmal neuen Auftrieb, und das war auch bitter nötig, denn schon waren wieder die Verfolger in der Ferne zu sehen. Und sie kamen bedrohlich schnell näher.

Auch sie sahen nun die Stadt, und sie wußten wie Mythor, daß hier die Entscheidung fallen mußte. Mythor kannte die Leoniter längst nicht gut genug, um zu wissen, ob sie ihm Aufnahme gewähren und die Saiamiter fortschicken oder ob sie ihn ausliefern würden. Die Hügelwächter jedoch schienen entschlossen zu sein, ihn noch vor den Stadtmauern zu stellen.

»Lauf, Pandor! Lauf um unser Leben!« raunte Mythor dem Einhorn ins Ohr.

Und Pandor lief, während die Signale des Helmes immer drängender wurden. Doch auch das Einhorn war am Ende seiner Kraft.

Kurz nur dachte Mythor, halb auf Pandor liegend, an Lamir und Buruna. Waren sie möglicherweise schon in der Stadt? Unwillkürlich sah er die beiden und Gapolo vor seinem geisti-gen Auge. Es fiel so schwer, sich damit abzufinden, daß Gapo-lo nicht mehr bei ihnen sein würde – niemals mehr.

Pandor wurde langsamer. Verzweifelt redete Mythor ihm zu. Immer wieder drehte er sich um. Sie würden ihn erreichen, bevor er um Hilfe bitten konnte.

Und was machte Pandor nun? Das Einhorn ritt nicht mehr geradewegs auf das Stadttor zu,

sondern auf eine seltsame Prozession, die Mythor anscheinend direkt entgegenkam. An der Spitze ritten prächtig gekleidete und gerüstete Krieger mit stark südländischem Aussehen. Da-

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hinter folgten Männer und Frauen in Prunkgewändern. Dann sah Mythor ein Gespann mit Schimmeln, die einen prachtvol-len Kampfwagen zogen.

Pandor verfiel in leichten Trab und näherte sich, immer lang-samer werdend, dem seltsamen Zug, während die Salamiter von hinten heranstürmten.

Mythor verstand gar nichts mehr, als die Krieger an der Spit-ze der Prozession ihre Reittiere antrieben und herangaloppier-ten. Sie umringten ihn.

Dann waren die Salamiter heran. Roh zügelten sie ihre er-schöpften Pferde und schwangen die Schwerter.

Die Krieger aus Leone bildeten eine Schutzmauer um My-thor und Pandor. Mit wehenden Bändern geschmückte Lanzen senkten sich den Salamitern entgegen.

»Halt!« dröhnte die Stimme eines Leoniters. »Kehrt um. Die-ser Mann steht unter unserem Schutz!«

Ein wütender Aufschrei aus einem halben Dutzend Kehlen war die Antwort. Ungläubiges Erstaunen und unbändiger Zorn standen in den Gesichtern der Salamiter.

»Er gehört uns!« rief ihr Anführer. »Ihr habt kein Recht, ihn seiner Strafe zu entziehen! Gebt den Frevler heraus, der es wagte, die heilige Stätte unserer Stämme zu entweihen!«

Der Leoniter, der gesprochen hatte, ein schlanker, kräftig ge-bauter, großer Mann in der Blüte seiner Jahre, wirkte betrof-fen. Mythor spürte das Blut in seinen Schläfen hämmern. Er begriff das alles nicht, was jetzt um ihn herum vorging. Wieso schützten diese Krieger ihn?

Die weitaus bedeutungsvollere Frage war: Wie war das Ver-hältnis der Leoniter und der Salamiter zueinander? War seine Flucht vom Lilienhügel auch in den Augen dieser prächtig gewandeten Männer ein Frevel, für den er den Tod verdient hatte?

Der Hochgewachsene blickte ihn scheu und unsicher an.

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Dann warf er einen Blick hinüber zur Prozession, während die Salamiter immer unruhiger wurden und ihre Pferde unge-duldig mit den Hufen scharrten.

Wem der Blick galt, konnte Mythor nicht feststellen. Doch als der Leoniter sich nun wieder umwandte und die Lanze in sei-nem Arm leicht anhob, war sein Gesicht hart geworden. »Rei-tet dorthin zurück, wo ihr hergekommen seid!« sagte er mit Nachdruck. »Dieser Mann bleibt hier.«

»Ihr werdet nicht wagen, ihn uns streitig zu machen!« bellte der Anführer der Salamiter.

»Glaubt ihr?« Irgend jemand blies in ein Horn. Nur Augenblicke später

preschte Reiterei aus dem Stadttor. Hundert Krieger und mehr waren es, die schnell heran waren und sich zu Mythors Be-schützern gesellten.

Die Blicke der Salamiter schienen Mythor durchbohren zu wollen. Einige Herzschläge lang sah es so aus, als solle es zum Kampf kommen. Dann wendete der Anführer der Hügelwäch-ter sein Pferd und gab den anderen ein Zeichen.

»Wir kommen wieder!« drohte er an. »Unsere Stämme wer-den nicht dulden, daß Leone seine Tore für Schänder unserer Toten öffnet!« Damit galoppierten er und seine Männer davon.

Eine Weile herrschte Schweigen. Die Prozession war längst zum Stillstand gekommen. Die zur Verstärkung erschienene Reiterei rückte wieder ab. Mythor brachte Pandor neben das Pferd des Hochgewachsenen.

»Ich danke euch«, sagte er und versuchte, im Blick des Man-nes zu lesen. »Doch ihr habt euch um meinetwillen Feinde gemacht. Sie werden ihre Drohung wahr machen und ihre Stämme auf euch hetzen.«

»Das werden sie mit Sicherheit nicht tun«, antwortete der Leoniter. »Leone ist unantastbar, auch für sie.«

»Aber warum habt ihr das für mich getan, der ich für euch

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ein Fremder bin?« »Es war das mindeste, was wir für unseren neuen…« Der

Leoniter biß sich auf die Unterlippe und deutete auf eine junge Frau in prächtigen Gewändern, die nun vor dem Kampfwagen stand. »Steig ab und geh zu ihr hin!«

Mythor begriff noch immer nichts, doch kam er der Auffor-derung nach. Pandor trabte neben ihm her, während er lang-sam auf die Frau – nein, eigentlich noch ein Mädchen – zu-ging, die vielleicht an die fünfzehn Sommer zählte. Ihr Haar war kunstvoll geflochten, die Farbe des Gesichts samtigbraun wie bei allen Männern und Frauen, die ihm erwartungsvoll und mit einem Respekt, für den er keine Erklärung fand, ent-gegensahen. Sie waren völlig anders gekleidet als die Salami-ter. Manche trugen gewickelte Tücher handspannenhoch auf dem Kopf, dazu Pluderhosen und Schuhe aus kostbaren Stof-fen, die vorne spitz zuliefen und nach oben gebogen waren. Die weiten Gewänder der Frauen leuchteten in allen Farben und wiesen kostbare Stickereien auf.

Zu sehr unterschieden sich diese Menschen von den Salami-tern, als daß es eine Verwandtschaft zwischen diesen Völkern geben konnte. Mythor vermutete, daß jene, die den Stadtstaat einst errichtet hatten, von weit im Süden gekommen waren.

Er sah Banner in den Händen einiger Männer, als er an ihnen vorbei auf das Mädchen zuschritt. Sie zeigten einen aufgerich-teten Löwen mit eingeringeltem Schwanz und einem Pflänz-chen in einer Vorderpfote.

Zu viele Eindrücke strömten auf Mythor ein, als daß er sich ein einigermaßen klares Bild hätte machen können. Wenige Schritte vor dem Mädchen blieb er stehen.

Sie lächelte ihn an und beugte den Kopf. Dann sprach sie: »Sei gegrüßt, mein König. Du bist gekommen, wie es uns ver-heißen wurde. Nimm als Willkommensgeschenk das Zeichen deiner künftigen Würde, und reite ein in deine Stadt, deren

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Bewohner ihre Herzen zu deinen Füßen legen.« Das alles konnte nur ein Traum sein! Mythor stand da, unfä-

hig, auch nur ein Wort hervorzubringen. Er sah sich um und erwartete, daß irgend jemand auf ihn zuritt und ihm sagte, daß dies ein Scherz sei. Doch er begegnete nur demütigen, ehr-fürchtigen und hoffnungsvollen Blicken.

Kleine Glöckchen wurden geschlagen. Die prunkvoll geklei-deten Männer und Frauen stimmten ein Loblied auf den »Kö-nig, der aus der Ferne kam« an.

Das Mädchen hob den Kopf und wies auf den Kampfwagen. Mythor folgte der in der Geste liegenden Aufforderung wie ein Schlafwandler.

Ein einmalig schöner Sattel lag auf dem Wagen, mit weißem Pelz überzogen und mit einem zu einem Löwenhaupt gearbei-teten Vorderzwiesel aus edlem Holz. Der Löwenkopf fand sich auch auf der roten, weichledernen Decke. Zögernd streckte Mythor die Hand aus und fuhr fast zärtlich über den Pelz, die Satteltasche aus hartem Leder, die vielen ledernen Tragschlau-fen für Waffen und andere Dinge, die ein Reiter mit sich führ-te.

Nein, erkannte Mythor. Es war kein Traum. Die Leoniter sa-hen ihn an und lächelten. Sie erwarteten, daß er diesen Sattel, der wahrhaftig für Könige gemacht war, nahm und Pandor auflegte.

»Wie heißt du?« fragte er das Mädchen mit dem schwarzen, geflochtenen Haar.

»Ich bin Viliala, die auserlesen wurde, den neuen König zu begrüßen«, antwortete sie lächelnd.

»Viliala, ich bin nicht…« »Du bist der, der uns verheißen wurde, König Mythor. Laß

Freude Einkehr finden in die Herzen deiner Untertanen, und nimm den Königssattel an dich. Leg ihn dem Einhorn auf, und reite im Triumph in deine Stadt.«

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Sie erwarteten es von ihm! Sie erwarteten es wirklich! So vorsichtig, als könne er unter seinem Griff zerbrechen,

hob Mythor den Sattel vom Wagen, und Pandor, der noch nie einen Sattel auf seinem Rücken geduldet hatte, ließ ihn sich auflegen, ohne zu scheuen.

Noch einmal zögerte Mythor. Dann hörte er den Jubel, der von der Stadt her aufbrandete. Überall auf den Mauern stan-den Leoniter und winkten ihm zu. Mythor wurde von seinen Gefühlen überwältigt. Wie im Traum stieg er in den Sattel und ritt, gefolgt von der Prozession, in Leone ein. Das Stadttor war weit für ihn geöffnet, und an den Straßen standen weitere Hunderte von jubelnden Menschen, die ihn als ihren neuen König hochleben ließen. Blumengebinde und geflochtene Kränze wurden vor ihm auf das Pflaster geworfen.

»Hoch lebe König Mythor!« erscholl es von allen Seiten. »Hoch lebe der neue König!«

Mythor war außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Nur eines fuhr ihm immer wieder durch den Sinn, während er seine Blicke über die Jubelnden schweifen ließ: Wenn dies ein Traum war, würde er früher oder später aus ihm erwachen.

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Horst Hoffmann

KÖNIG MYTHOR

Ein Traum! dachte Mythor immer wieder, und er fürchtete sich vor dem Erwachen. An der Seite des Mädchens Viliala und eines Greises, der sich ihnen nach dem Passieren des östlichen Stadttors zugesellt hatte, ritt Mythor in Leone ein. Menschen säumten die prächtige Straße, standen auf den Stadtmauern und den schlanken Türmen und riefen: »Hoch König Mythor! Es lebe unser neuer König!«

Sie warfen Blumengebinde und geflochtene Kränze. Sie winkten ihm zu und hoben Kinder in die Höhe, so daß sie den sehen konnten, der da im Triumphzug in »seine« Stadt kam, auf dem schwarzen Einhorn und in einem Sattel, der für Köni-ge gemacht war.

Traumhaft wie der Empfang, der Mythor bereitet wurde, war auch die Stadt selbst. Mythor ritt durch hohe Torbögen, die weiß gekalkt waren wie die Mauern und Häuser aus Back-stein. Hoch in den Himmel ragten die schlanken Türme und Türmchen, deren Spitzen im Licht der Wintersonne golden glänzten. Traumhaft waren die Menschen mit samtbrauner Haut in ihrer fremdartigen, prunkvollen Kleidung. Mythor sah Frauen in farbenfrohen Gewändern mit herrlichen Stickereien und Männer mit seltsamen Kopfbedeckungen, weiten Hosen und Schuhen aus Samt, deren Spitzen nach oben gebogen wa-ren. Andere trugen einfache Sandalen und bis zu den Knien reichende weiße Gewänder, wieder andere Boleros und Wäm-ser.

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Von blumengeschmückten Baikonen hingen kostbare Teppi-che und große Leintücher herab, auf denen immer wieder das stilisierte Abbild eines aufgerichteten Löwen zu sehen war, der in einer Vorderpfote ein Pflänzchen hielt.

Mythor tat das, was von ihm erwartet wurde. Obgleich er nichts von dem begriff, was um ihn herum vorging, winkte er zurück, fing Blumengebinde auf und warf sie zurück in die Menge. Männer, Frauen und Kinder bückten sich danach und drückten sie an ihre Herzen.

So groß der Zauber und die Begeisterung waren, die ihn um-fingen, konnte Mythor ein Gefühl des aufsteigenden Unbeha-gens nicht verscheuchen. Er war hierhergekommen, um Schutz vor den Salamitern zu erbitten und weil der Helm der Gerechten ihm diese Richtung gewiesen hatte. Dieser Empfang konnte nicht wirklich ihm gelten. Doch ein Blick in Vilialas Augen war dazu angetan, diese Zweifel vergessen zu machen.

»Du bist gekommen, wie es uns verheißen wurde«, hatte das Mädchen, ein Kind fast noch, zu ihm gesagt. Mit andächtigem Blick hatte sie ihn angesehen und hinzugefügt: »Mein Ge-mahl!«

Vor dem Stadttor war er ihr zum erstenmal begegnet, und sie zählte bestenfalls fünfzehn Sommer!

Niemand schien vorerst daran zu denken, Mythor aufzuklä-ren, auch Hapsusch, der Greis an seiner Seiten, nicht. Aber die Menschen riefen seinen Namen und priesen ihn als Sohn des Kometen.

Weiter ging es durch die breiten Straßen dieser reichen und prächtigen Stadt, einer Insel in einer Welt des Kampfes und der allgegenwärtigen Bedrohung durch die Mächte der Fins-ternis.

Hatte der Helm der Gerechten ihn deshalb hierhergeführt? Sollte er hier seßhaft werden?

Nein! dachte Mythor, während er den Jubelnden zuwinkte.

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Zu vieles lag noch vor ihm, zu viele Aufgaben, zu viele Her-ausforderungen. Instinktiv fuhr seine Hand zu der Stelle sei-nes Wamses, unter der sich das Pergament mit dem Bildnis Fronjas befand.

In den Jubel der Leoniter mischten sich plötzlich Schreie des Entsetzens, als die Straße vor der von Mythor angeführten Prozession aufbrach. Männer und Frauen wichen in Panik zu-rück und rissen ihre Kinder mit sich, als der Boden unter ihren Füßen zu beben begann. Doch für viele kam jede Flucht zu spät.

Das prächtige Pflaster bekam Risse. Große Steine wurden in die Luft geschleudert. Das Erdreich teilte sich, und dicke Pflanzenstränge schnellten daraus hervor, biegsam wie Schlangenleiber, und wie Schlangen peitschten sie über die Straße. Pandor scheute. Mythor, der ahnte, was nun kommen würde, riß Alton aus der Scheide. Wer nicht schnell genug aus dem Bereich der peitschenden Stränge gelangte, wurde getrof-fen und weit davongeschleudert. Schreiende Menschenmassen drängten in Seitenstraßen und flohen in Häuser, die zu Todes-fallen wurden. Wo die Stränge gegen Mauern schlugen, stürz-ten Wände ein. Unter ohrenbetäubendem Krachen kamen Dä-cher herunter und begruben Dutzende von Fliehenden unter sich.

»Hapsusch!« brüllte Mythor. Der Greis stand fassungslos ne-ben ihm und starrte auf das Bild der Verwüstung. »Hol die Stadtwachen! Dieser ganze Bezirk muß geräumt werden! Niemand darf mehr in die Häuser!«

Wie zur Bestätigung seiner Worte wurde ein zweistöckiges Gebäude von drei unter ihm hervorbrechenden Pflanzen-strängen regelrecht in die Luft gehoben, bis es zerbarst.

»Renn los, Hapsusch! Ich befehle es dir!« Erst jetzt erwachte der Greis aus seiner Starre. Dann lief er

davon. Mythor drehte sich kurz um und sah Männer in blit-

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zenden Rüstungen und mit gebogenen Schwertern in den Händen heranstürmen.

»Kein Schwert kann ihnen etwas anhaben! Lauft zurück und holt Feuer!«

Mythor wartete nicht ab, ob seine Worte verstanden worden waren. Er beugte sich über Pandors Hals und flüsterte dem Einhorn etwas ins Ohr. Pandor wieherte und tänzelte unruhig.

Viliala stand noch neben ihm. »Ich bleibe bei dir, Mythor!« sagte sie, und die Entschlossenheit in ihrem Blick ließ Mythor erschauern.

So zog er sie hinter sich auf den Sattel. Viliala schlang ihre Arme um ihn und drückte sich eng an seinen Rücken.

Die Straße voraus war nun menschenleer. Nur die Toten und Bewegungsunfähigen lagen zwischen den peitschenden Stämmen.

»Pandor!« sagte Mythor nur, und das Einhorn lief. Wehklagen ließ die Luft erzittern, als Mythor das Gläserne

Schwert schwang. Er und sein Reittier wurden eins. Pandor reagierte auf den geringsten Schenkeldruck und trug den Sohn des Kometen unter einem peitschenden Strang hindurch mit-ten zwischen die Schlangenpflanzen.

Mythor hieb nach allem, was grün war und sich bewegte. Bevor die Pflanzen sich auf den Gegner einstellen konnten, der sich ihnen entgegenwarf, hatte er vier von ihnen gefällt. Seine Klinge durchschnitt die armdicken Stämme mühelos.

Doch dann waren sie heran. Von allen Seiten schnellten sich die Spitzen der Dämonengewächse mit ihren tödlichen roten Speeren ihm entgegen. Mythor trennte sie ab, sobald sie in sei-ne Reichweite kamen, duckte sich und ließ sie über sich hin-wegpeitschen. Vilialas Finger gruben sich tief in seinen Magen, aber kein Schrei kam über die Lippen des Mädchens. Wie ein Wirbelwind arbeitete Mythor sich durch die Zone der Pflan-zen, bis sein Schwertarm zu erlahmen drohte. Schwitzend ließ

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er Pandor tänzeln und Kreisbewegungen vollführen. Vor ihm platzte die Erde auf, und Mythor durchtrennte den Strang, bevor dieser sich in die Höhe schnellen konnte.

Aus den Augenwinkeln heraus sah er, daß die Pflanzen nur in einem begrenzten Umkreis von etwa zehn, fünfzehn Mannslängen aus dem Boden brachen, und es hatte den An-schein, als ob jene dämonische Kraft, die sie erzeugte, sich für den Augenblick erschöpft habe. Noch etwa zehn Schlangen-stämme peitschten umher und schossen ihre Speerspitzen ab. Zweien von ihnen entging Mythor nur knapp. Die anderen schlugen in Häuserwände ein und platzten dabei auf. Gelbli-che zähe Flüssigkeit lief an den Mauern herunter.

Mythor war durch die zuckenden Kreaturen hindurch, ritt weiter, bis er außer Reichweite der Peitschen war, und wende-te Pandor.

Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Auf der anderen Seite der Pflanzen standen die Krieger der

Stadtwache. Einige, die seine Warnung mißachtet oder nicht gehört hatten, starben bei dem Versuch, es ihm gleichzutun und den Strängen mit ihren Schwertern zu Leibe zu rücken. Andere schoben Karren mit brennendem Stroh heran, stießen sie von sich, und wo das Feuer die Stämme erreichte, färbten diese sich innerhalb von Augenblicken braun und rollten sich zuckend ein.

Doch dies alles schien umsonst zu sein. Wo Alton die Stränge dicht über dem Boden abgeschlagen

hatte, wuchsen neue aus den zuckenden Stümpfen zwei für jeden abgeschlagenen Stamm. Und um das Maß des Schre-ckens vollzumachen, bildeten sich dort, von wo die roten Speerspitzen abgeschossen worden waren, große Knospen an den Enden der Schlangengewächse, die schnell anschwollen, dann aufplatzten und abscheuliche Gebilde freigaben, kleine Ungeheuer in allen möglichen Formen und Größen, halb Tier,

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halb Pflanze. Die Leoniter wichen entsetzt zurück. Brennende Karren blie-

ben mitten auf der Straße stehen. Dafür tauchte nun eine Schar Krieger mit Armbrüsten auf und verschoß brennende Bolzen, die dort, wo sie die Stränge trafen, wie an blankem Stahl ab-prallten.

Mythor sah ein, daß gegen diese Armee des Schreckens mit diesen Mitteln nichts mehr auszurichten war. Wenn über-haupt, gab es nur eine Chance für Leone und seine Bewohner.

Noch einmal wagte er sich mit Pandor so weit vor, daß eine der nunmehr gut fünf Mannslängen hohen Dämonenpflanzen nach ihm peitschen konnte. Das Gläserne Schwert trennte die Spitze mit dem Tier-Pflanzen-Gebilde daran ab. Mythor duck-te sich blitzschnell, als Pandor zurückwich und die Kreatur über ihn hinweg zu Boden flog. Er trieb Pandor darauf zu.

Das Alptraumgeschöpf am Boden war groß wie ein Kalb, hatte riesige, halbkugelförmige Augen und Dutzende von Auswüchsen – Äste oder Arme, Mythor konnte es nicht sagen. Doch allein der Anblick erregte Übelkeit.

Noch während die Chimäre am Boden zu zerfließen schien und eine schleimige Spur hinter sich zog, schnellte eine Zunge daraus hervor. Blitzschnell reagierte Mythor und zerteilte das ganze Etwas mit einem einzigen Hieb. Aus dem Alptraumwe-sen wurden zwei!

Und nun wurden andere von den Spitzen der Schlangen-pflanzen abgeschossen wie vorher die Speerspitzen. Wo sie landeten, rutschten sie schnell von Häuserwänden auf die Straße herab und krochen auf die Krieger zu.

»Reite zum Palast, König!« rief Viliala. »Ich weise dir den Weg.«

Mythor zögerte. Er sah sich um und stellte fest, daß tatsäch-lich keine neuen Pflanzen mehr aus dem Boden brachen. Doch schon begannen dort, wo an ihren Spitzen die Chimären abge-

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schossen worden waren, neue Speerspitzen nachzuwachsen, und wie Mythor von den Ereignissen bei der Yarl-Straße her wußte, waren darin die Samen dieser Streitmacht des Bösen.

An einigen Stellen, wo Samenträger an Wänden zerschellt waren und der gelbliche Saft den Boden erreicht hatte, wuch-sen bereits neue Dämonenpflanzen.

»Was ist hinter den Häusern?« fragte Mythor und deutete auf die Bauten, die die Straße umrandeten.

»Freie Plätze«, antwortete das Mädchen. »Erst hinter dem Bogen dort stehen die Häuser dicht beieinander!«

Mythor blickte zum Rundbogen, auf den Viliala wies. Bis dorthin waren es zwei Steinwürfe.

»Steckt die Häuser in Brand!« rief Mythor mit trichterförmig an den Mund gelegten Händen den Kriegern zu, die entsetzt vor den anrückenden Tier-Pflanzen-Wesen zurückwichen. »Nur so könnt ihr verhindern, daß die Kreaturen sich über ganz Leone ausbreiten! Es muß brennen, wo ihr Same hinfällt! Kontrolliert das Feuer und kommt zum Palast, wenn alles vorüber ist!« Sie hörten ihn, zögerten aber.

»Es gibt nur diese Möglichkeit!« brüllte er. »Legt Feuer!« Endlich wagten sich einige an die Karren heran und schoben

sie in dunkle Eingänge. Mythor wartete, bis die ersten Flam-men aus den Fenstern der Häuser schlugen.

Dann appellierte er noch einmal an die Männer, sich außer Reichweite der Peitschenschlangen und ihrer Geschosse zu halten.

»Jetzt zeig mir den Weg, Viliala!« sagte er. Das Bild der Stadt hatte sich innerhalb kürzester Zeit grundlegend gewandelt. Wo Menschen gestanden und ihn gefeiert hatten, gähnten nun leere Gassen. Nur auf den Türmen sah Mythor Leoniter, die aus sicherer Entfernung das grausame Geschehen mit ansa-hen.

»Ist so etwas schon einmal vorgekommen?« fragte der Sohn

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des Kometen. »Nicht in Leone!« antwortete Viliala. »Aber draußen in Sal-

amos. Und wir wissen, daß die Dämonenpflanzen ihre Wur-zeln hierher vortrieben! Hapsusch sagte voraus, daß…«

»Wer ist Hapsusch eigentlich?« wollte Mythor wissen, wäh-rend Pandor ihn und das Mädchen durch die Straßen trug.

»Der Lebensgärtner. Er wird im Palast auf dich warten.« Mythor drehte sich im Sattel um. Flammen schlugen dort, wo die Dämonenpflanzen aus dem

Boden gebrochen waren, in den Himmel. Viliala hatte Tränen in den Augen, und auch Mythor mußte um seine Beherr-schung kämpfen. Er hoffte inbrünstig, daß das Feuer nicht auf andere Teile der Stadt übergriff – der schönsten, die sein Auge jemals geschaut hatte.

Viliala zeigte ihm den Weg. Sie ritten an prächtigen Parks vorbei mit Blumen und immergrünen blühenden Sträuchern, wie Mythor sie noch nie gesehen hatte. Herrliche Brunnen spritzten Wasserfontänen hoch in die Luft, die sich im Licht der Sonne in allen Farben des Regenbogens brachen.

Von irgendwoher war das Heulen des Bitterwolfs zu hören. Die vertrauten Töne nahmen Mythor etwas von dem Gefühl der Einsamkeit in dieser Stadt der Wunder. Hark war zurück, und auch Horus zog hoch am Himmel seine Kreise.

Endlich, als Mythor schon zu glauben begann, die Pracht-straßen nähmen überhaupt kein Ende mehr, sah er den Kö-nigspalast. Inmitten riesiger Grünanlagen, auf einem gewalti-gen Sockel, zu dem breite Treppen hinaufführten, stand ein Bauwerk wie aus einem Märchen. Schlanke Türme ragten in den Himmel. Weiße Wände mit runden Torbögen darin erho-ben sich, bis sie zwischen den Türmen kuppelförmig zusam-menliefen. Mythor sah in der Sonne blitzende Dächer, die zur Spitze hin spiralförmig gewunden waren. Mehrere Reihen ü-bereinanderliegender Zinnen umliefen den gesamten Palast.

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Fanfaren wurden geblasen, und Männer in prachtvollen Rüs-tungen kamen aus den Toren geritten, um Mythor zu flankie-ren.

»Deine Krieger, mein König«, flüsterte Viliala. »Und dein Pa-last.«

Als Mythor mit Viliala den Palast betrat, bekam er recht bald eine Vorstellung davon, was ihn erwartete. Die Palastwache bildete ein Spalier bis zur gewaltigen Treppe, die hinauf zum Thronsaal und den Gemächern des Königs führte. Zwischen und hinter den Männern mit dem Löwen auf dem Brustteil ihrer Rüstungen standen andere, phantasievoll gekleidet und teilweise mit tiefbrauner Hautfarbe, die ihn unterwürfig grüß-ten, dabei aber ihre offensichtliche Bestürzung darüber, daß ihr König den Palast in einem Fellrock und Lederwams betrat, nur schlecht verbergen konnten.

Schon jetzt nahmen sie mit den Augen Maß für neue Ge-wänder.

Hinter mannsdicken Marmorsäulen standen Mädchen in mehr oder weniger durchsichtigen Kleidern aus feinstem Stoff. Sie neigten scheu die Köpfe, als sie Mythors Blick begegneten. Einige von ihnen trugen Schleier vor dem Gesicht, doch große dunkle Augen musterten ihn neugierig von oben bis unten.

»Es sind die Hofjungfern, mein König«, flüsterte Viliala, als sie Mythors Stirnrunzeln bemerkte. »Sie werden dich schmü-cken, salben und…«

»Das muß warten!« sagte Mythor. Er brachte ein Lächeln zu-stande und nahm Vilialas Arm. Am oberen Ende der Treppe sah er Hapsusch und einige Männer auf ihn warten. »Schon gut, Viliala. Aber zunächst will ich wissen, wie es in der Stadt aussieht. Wer ist der Hauptmann der Palastwache?«

Das Mädchen deutete auf einen schlanken, hochgewachse-

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nen Mann am Ende der Reihe der spalierbildenden Wachen. Mythor erkannte ihn. Er war es gewesen, der die Salamiter abgewiesen hatte.

»Nahir«, sagte Viliala. Mythor ging auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die

Schulter. Der Leoniter zuckte unter der Berührung leicht zu-sammen, hielt aber Mythors Blick stand.

»Schick Kuriere in den Teil der Stadt, in dem die Pflanzen wüteten, Nahir!« ordnete Mythor an. »Sie sollen sich umsehen und mir berichten. Ich muß wissen, ob auch in anderen Bezir-ken solche Pflanzen aufgetaucht sind. Falls dies so ist, dann bekämpfe sie mit Feuer, denn nur Feuer kann sie vernichten.«

»Ich selbst werde reiten, mein König«, versicherte der Hoch-gewachsene.

Mythor nickte und bestieg die Treppe. Viliala blieb in der Halle zurück. Hinter ihm begannen die Hofjungfern zu tu-scheln, und die Schneider und Diener beeilten sich, aus der Halle zu verschwinden.

Kostbare Teppiche bedeckten die Stufen aus Marmor und große Teile der Wände. Geschliffene Kristalle hingen von der gewölbten weißen Decke herab und bildeten Trauben um brennende Öllampen, wodurch sie ein berauschendes Lich-terspiel auf die Wände zauberten.

Hapsusch erwartete Mythor mit unbewegter Miene. Als ein-ziger schien der greise Lebensgärtner nicht von der Begeiste-rung über sein Auftauchen angesteckt zu sein. Mythor ver-suchte, im Gesicht des in ein einfaches weißes Gewand geklei-deten alten Mannes zu lesen, doch es war starr wie eine Mas-ke.

Mythor fragte sich, was sich hinter der Bezeichnung »Le-bensgärtner« verbarg, als er Hapsusch gegenüberstand. Offen-sichtlich war nur, daß Hapsusch großen Einfluß auf die Leoni-ter hatte.

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»Es schmerzt unsere Herzen, daß unserem neuen König kein würdigerer Empfang bereitet werden konnte«, sagte der Alte, doch es klang kalt und teilnahmslos. »Folge mir!«

Hapsusch drehte sich um und ging voran, über lange Teppi-che, zwischen Marmorsäulen hindurch und durch kostbar eingerichtete Räume. Jene, die bei ihm gestanden hatten, folg-ten in geringem Abstand. Auch sie trugen einfache Gewänder.

Mythor fühlte sich unwohl. Viel lieber wäre er jetzt draußen gewesen bei den Kriegern, die den Pflanzen zu Leibe rückten und ihr Leben für ihre Stadt wagten.

Es folgte ein langer Korridor. Die Wände waren weiß wie fast alles in diesem Palast, der Boden war mit geschliffenem rotem Marmor gefliest. Trauben von Kristallen fingen das Licht der Lampen ein und warfen es in feinen Strahlen über den Gang. Bogenförmige Durchgänge führten in kleinere Räume.

Je mehr das Ende des Korridors sich näherte, desto stärker wurde der berauschende Duft, der diesen Teil des Palastes erfüllte.

Mythor hielt Hapsusch am Arm fest. Ihm schwante Arges. »Sag mir, Lebensgärtner, wohin bringst du mich?«

Hapsusch sah ihn so befremdet an, daß Mythor sich wünsch-te, die Frage nie gestellt zu haben.

»Es ist Brauch in Leone«, sagte der Greis, »daß die Könige vor der Thronbesteigung gesalbt, gebadet, massiert und ein-gekleidet werden. Seit Tagen bereiten sich die Hofjungfern und Schneider auf nichts anderes vor.«

Ein unüberhörbarer Vorwurf lag in den Worten des Alten. Natürlich war die Kleidung, in der Mythor steckte, nicht die eines Königs, und ein Bad konnte er auch dringend brauchen, doch…

»Ich erwarte die Kuriere zurück«, sagte Mythor. »Du wirst alles erfahren, was du wissen mußt. Nun komm!«

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Irgendwo kicherten Jungfrauen. Mythor kam sich fehl am Platz vor. Hapsusch behandelte ihn wie einen Dahergelaufe-nen, den zu »betreuen« seine leidige Aufgabe war. Seine Ü-berheblichkeit und Ablehnung machten Mythor zornig.

Doch es war klüger, vorerst mitzuspielen. Wenn Hapsusch solche Macht in Leone hatte, sollte er in der Zwischenzeit auch dafür sorgen können, daß die Stadt sich gegen die Dämonen-pflanzen verteidigte.

Also ließ er sich in einen Raum führen, aus dem ihm duften-de Dämpfe entgegenschlugen. Verschleierte Jungfern erwarte-ten ihn. Hapsusch gab ihnen flüsternd Anweisungen und zog sich zurück.

Mythor atmete auf. Und schon griffen zierliche Hände nach ihm und zogen ihn aus. Bevor er sich’s versah, lag er in einer mit warmem Wasser gefüllten Wanne und wurde gewaschen, massiert und mit stark duftenden Ölen eingerieben.

Mythor vergaß die Welt um sich herum, spürte nur noch den leichten Druck und das Streicheln zarter Hände auf seiner Haut und ließ sich verwöhnen. Er genoß die Sonnenseiten sei-nes Königtums.

Die Schattenseiten würde er ohnehin früh genug kennenler-nen.

Als Mythor dem Lebensgärtner eine gute Stunde später wie-der gegenüberstand, trug er weite weiße Kleidung aus Samt, eine Bluse mit dem aufgestickten Symbol des Löwen, bis zu den Knien reichende Hosen mit großen Taschen darin und einen purpurroten Umhang. Schnabelschuhe saßen anstelle der Stiefel an seinen Füßen, und sein Haar fiel in Locken auf die Schultern.

Zum erstenmal sah er so etwas wie widerwillige Anerken-nung im Blick des Greises. Hapsusch wies schweigend auf einen mit weißem Pelz überzogenen Hocker und setzte sich selbst erst, nachdem Mythor Platz genommen hatte.

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Einer der Schneider, die ihn angekleidet hatten, hatte ihn hierhergeführt – in eine kleine Kammer und nicht, wie Mythor erwartet hatte, in den Thronsaal. Er ahnte, daß er von Hapsusch nun die Antworten auf die Fragen erhalten sollte, die ihn beschäftigten. Und er fühlte sich frisch genug, um die Anwesenheit des mißmutigen Alten eine Weile ertragen zu können. Das Pergament saß da, wo er es auch unter dem Wams getragen hatte, genau über seinem Herzen.

Hapsusch ließ ihm die Zeit, sich umzusehen. Sie befanden sich allein in der Kammer, und wie Mythor mit einem Blick aus dem einzigen kleinen Fenster feststellte, in einem der Türme des Palastes. Von hier aus hatte er einen einigermaßen guten Überblick über einen Teil der Stadt, und alles dort unten schien ruhig zu sein.

Mythor setzte sich wieder, betrachtete kurz die geschmück-ten Wände und bestaunte ein gläsernes Gefäß, in dem kleine Fische schwammen.

»Sie stammen aus dem Sarro«, erläuterte Hapsusch. »Du wirst noch Gelegenheit haben, dir den Fluß anzusehen, der aus den Karsh-Bergen kommt und in der Spirischen Bucht in den Ozean mündet. Er durchfließt die Stadt.«

Mythor nickte. Dann blickte er Hapsusch scharf an. »Also«, begann er. »Bevor du mir sagst, wie einer, der noch

nie zuvor in Leone war, dazu kommt, zum König gemacht zu werden – hast du Nachrichten aus der Stadt?«

»Das Stadtviertel, in dem die Dämonenpflanzen angriffen, ist so gut wie eingeäschert. Im Augenblick scheinen die Pflanzen zu ruhen. Sie konnten nicht alle durch Feuer vernichtet wer-den, aber ihr Same fiel auf brennende Erde. Die Krieger stell-ten sich auf den Kampf mit Feuer ein.«

»Ihr habt also mit dem Auftauchen der Pflanzen gerechnet?« »Schon lange, bevor du kamst, Mythor. Wir beobachteten,

wie sie ihre Wurzeln unter der Erde immer weiter nach Leone

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vortrieben.« Hapsusch blickte ihn eindringlich an, dann stand er auf und

ging zum Fenster. »Du weißt, daß tausend leonitische Krieger in die Schlacht

von Dhuannin zogen«, begann der Lebensgärtner gedehnt. »König Lerreigen selbst führte sie an und kehrte nie mehr zu-rück. Nur wenige seiner Krieger fanden den Heimweg, doch waren sie so verwirrt im Geist und so krank am Körper, daß wir von ihnen kein vernünftiges Wort erfuhren. Nur einer gab die Auskunft, daß König Lerreigen mit seinem Gefolge den Spiegeltod starb.« Hapsusch drehte sich um und blickte My-thor finster an. »Du weißt, was das bedeutet.«

»Ich weiß es«, sagte Mythor finster. »Sie wurden zu Geister-reitern.«

»Und ziehen für alle Zeiten über die Ebenen im Reich der Heroen. Für uns aber ist König Lerreigen tot. Er wird nie zu-rückkehren.«

»Und ihr braucht einen Nachfolger für ihn«, sagte Mythor. »Es gibt einen alten Brauch in Leone«, fuhr Hapsusch fort,

als habe er Mythors Worte gar nicht zur Kenntnis genommen. »Danach wird nach eines Königs Tod der nächste würdige Edelmann, der des Weges kommt, zu dessen Nachfolger be-stimmt. Lerreigen wurde auf diese Weise vor dreißig Som-mern König, als er im Golf von Aspira mit seinem Schiff ken-terte und als einziger der Mannschaft überlebte. Nach seinen eigenen Worten war Lerreigen vormals Herrscher einer klei-nen Insel eines unbekannten Inselreichs im Westen.« Hapsusch winkte barsch ab, als er die Zweifel in Mythors Blick bemerkte. »Auch wenn wir in Wirklichkeit nichts über seine Herkunft wissen, wurde er uns ein guter König.«

»Was du in meinem Fall bezweifelst?« Der Greis setzte sich Mythor wieder gegenüber. Eine Weile

sahen die ungleichen Männer sich an, dann nickte Hapsusch.

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»Ja, das bezweifle ich, denn die Zeiten haben sich geändert. Das Volk von Leone hat dich bereits in sein Herz geschlossen, denn es heißt, du seiest der Sohn des Kometen und dazu aus-ersehen, die Lichtwelt vom Dunkel, das nach ihr greift, zu be-freien. Ich maße mir kein Urteil darüber an, was daran wahr ist und was nicht. Wohl hätte ich selbst mir einen König ge-wünscht, der in der Lage wäre, die Caer von Leone fernzuhal-ten. Ich bin überzeugt davon, daß dieser erste Angriff der Pflanzen auf die Schwarze Magie der Caer-Priester zurückzu-führen ist.«

»Du willst sagen, daß du dir einen König wünschst, der mit den Caer verhandeln und sie besänftigen kann, Hapsusch? Ich sage dir, einen solchen Menschen gibt es nicht! Andere ver-suchten, mit den Caer zu reden, und sie bezahlten dafür!«

»Aber du ziehst sie an!« »Wie auch die Pflanzen? Denkt das Volk von Leone so?« »Ich denke so, Mythor! Das Volk glaubt an dich und daran,

daß du mit deinen Waffen des Lichtes das Unheil von Leone abwenden kannst. Aber du wirst immer unterlegen sein!«

»Mit Beratern wie dir bestimmt«, knurrte Mythor. »Ich kenne die Caer besser als du, und jeder, der bei ihnen um Gnade winselt, stärkt ihre Macht!«

Hapsusch schwieg. »Man nennt dich den Lebensgärtner«, sagte Mythor nach ei-

ner Weile. »Was ist deine Aufgabe, außer daß du meinst, dei-nem König gute Ratschläge erteilen zu müssen?«

Hapsusch ging nicht auf den beißenden Spott ein. Wenn My-thor geglaubt hatte, ihn reizen zu können, so sah er sich ge-täuscht. Völlig ruhig nun, wie unbeteiligt, antwortete der Greis: »Wie du bereits bei deiner Ankunft gesehen haben wirst, liegt rund um die Stadt ein großer Flecken ungewöhn-lich fruchtbaren Landes. Diesen Flecken nennen wir Leoniter das Lebensgärtchen. Bislang ist es uns gelungen, es gegen alle

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Widerstände zu verteidigen. Wir bebauten es und schufen eine Lebensvielfalt, die in diesen Breiten einmalig ist.«

Mythor hatte bei seiner übereilten Ankunft kaum Gelegen-heit gehabt, auf die Landschaft ringsum zu achten. Er nahm sich vor, dies nachzuholen. Aber so bedeutungsvoll diese Grünzone für die Leoniter auch sein mochte, Hapsusch konnte seine offenkundige Macht nicht allein daher beziehen, daß er dieses Lebensgärtchen hütete.

»Ist das alles?« fragte Mythor. »Alles, was du zu diesem Zeitpunkt wissen mußt. Sobald du

dich mit deiner Stadt und ihren Bewohnern vertraut gemacht und als weiser und starker König erwiesen hast, sollst du mehr erfahren.«

Mythor mußte an sich halten, um dem so sehr von sich ein-genommenen Alten nicht eine Lektion zu erteilen. Er wandte sich zum Gehen. Kurz vor dem Eingang blieb er noch einmal stehen. »Welche Rolle spielt Viliala?« fragte er scharf.

»Sie ist dazu ausersehen, deine Gemahlin zu werden, My-thor.«

Er hatte es geahnt. Mythors Unbehagen verstärkte sich im-mer mehr. Viliala war ein bezauberndes junges Geschöpf, aber Mythors Sinn stand nicht danach, eine Heranwachsende zu ehelichen und sich damit für immer an Leone zu binden. Im-mer stärker wurde das Gefühl, in einem goldenen Käfig ge-fangen zu sein.

Aber der Helm der Gerechten hatte ihm den Weg hierher gewiesen. Gab es also in oder außerhalb Leones einen Fix-punkt des Lichtboten? War es das, was Hapsusch ihm beharr-lich verschwieg?

Mythor hatte nicht die Absicht, noch mehr Zeit mit dem ab-weisenden Greis zu vergeuden. Andere würden aufgeschlos-sener für seine Fragen sein. Nur eines wollte er jetzt noch wis-sen. »Du sagtest, der nächste würdige Edelmann würde zum

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Nachfolger des toten Königs bestimmt werden. Wer also hat mir diesen Leumund ausgestellt?«

»Dein Barde natürlich, der mit den Flüchtlingen aus Akinlay kam und deine Herkunft als Sohn des Kometen und deine Ta-ten in den höchsten Tönen des Lobes besungen hat«, antworte-te Hapsusch.

»Lamir? Wo ist er?« »Er erwartet dich, Mythor.« Wieder vermied der Greis es,

das Wort »König« zu gebrauchen. »Im Thronsaal.« Hauptmann Nahir stand mit einer Handvoll seiner Männer

auf der östlichen Stadtmauer und sah starren Blickes auf die fast menschenleeren Straßen hinab. Die Leoniter hatten ihre Häuser verlassen und drängten sich in den Grünanlagen ängstlich zusammen. Nur die Krieger der Stadtwache warte-ten in ihren blitzenden Rüstungen auf den nächsten Angriff der Dämonenpflanzen, der, wie Hapsusch angekündigt hatte, unweigerlich erfolgen mußte.

»Die Dinge sind in Bewegung geraten«, hatte der greise Le-bensgärtner gesagt, als Nahir seinem König Bericht erstatten wollte und von Hapsusch abgefangen wurde. »Die Pflanzen des Bösen greifen zuerst nach der Stadt, um sie in Besitz zu nehmen und ihre Bewohner zu vertreiben. Dann gilt es, den Lebensbaum zu verteidigen!«

Stille hatte sich über Leone gesenkt. Es war bitter kalt. Noch stand die Wintersonne am Himmel. Nahir, der viele Kämpfe gegen jene ausgefochten hatte, die es auf den Baum des Lebens abgesehen hatten, hatte Angst vor der Nacht, denn mit ihr würde das Böse kommen.

Nicht umsonst hatte König Lerreigen gerade Nahir in Leone zurückgelassen, um während seiner Abwesenheit die Stadt zu verteidigen, auch gegen die Caer, die schon mehrere Male ver-sucht hatten, den Baum des Lebens zu erobern. Lerreigen hatte damit gerechnet, daß sie seine Abwesenheit dazu nutzen wür-

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den, erneut anzugreifen. An ihrer Stelle hatten die Schattenmächte die Pflanzen ge-

schickt. Nahir fürchtete nicht den Kampf Mann gegen Mann, doch was nun seinen Würgegriff um Leone und das Lebens-gärtchen legte, war schrecklicher als jeder Kämpfer.

Die Krieger in den Straßen hatten fast alle ihre Schwerter und die schweren Armbrüste gegen in Pech getränkte Fackeln eingetauscht. Mochten auch die Bolzen der Armbrüste die Stränge durchschlagen wie die Rüstungen früherer Feinde – sie konnten die Dämonenpflanzen nicht vernichten.

Nur Feuer konnte das. Wer noch seine Armbrust trug, hatte Brandbolzen in seinem Köcher. Die meisten der wartenden Krieger waren um große, fahrbare Blasebälge postiert, die mit der Luft auch ein Gemisch aus ätherischem Öl und explosi-onsartig verbrennendem Pulver verpusteten, das am Mün-dungslauf durch einen glimmenden Docht entzündet wurde. Auf diese Weise spien die Blasebälge Flammenlohen von zehn, fünfzehn Mannslängen. König Lerreigen hatte diese Geräte erdacht und damit bei den Erntedank- und Fruchtbarkeitsfes-ten die Abfälle aus dem Lebensgärtchen feierlich verbrannt, auf daß aus der Asche neues Leben sprießen sollte.

Nahir ließ seinen Blick schweifen, bis er den eingeäscherten Stadtteil sah, wo noch immer einige der Schlangengewächse ihre Stränge aufrecht in den Himmel streckten. Sie bewegten sich nicht mehr. Wäre es nach Hauptmann Nahir gegangen, so hätten seine Krieger auch sie mit den Feuerwerfern verbrannt. Doch Hapsusch hatte darauf bestanden, sie zu verschonen. »Beobachtet sie gut aus sicherer Entfernung«, waren die Worte des Lebensgärtners gewesen. »Sie werden euch das Zeichen geben.«

Nahir schätzte es nicht, wenn Hapsusch in Rätseln sprach. Für ihn wurde es höchste Zeit, daß ein anderer die Belange der Stadt in seine Hände nahm. Sicher, Hapsusch war weise und

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stand als Hüter des Lebensbaums keinem König in Macht und Ansehen nach. Doch die Leoniter liebten ihn nicht. Eher fürch-teten sie den alten Mann.

Stille. Die Krieger unterhielten sich flüsternd, wenn über-haupt. Kein Lufthauch war zu spüren, als die Sonne tiefer sank und der Abend nahte.

Dann geschah es. Die hochgereckten Dämonenpflanzen be-gannen sich zu bewegen, zaghaft zunächst, dann immer hefti-ger. Wieder begannen sie durch die Luft zu peitschen.

Nahir verstand Hapsuschs geheimnisvolle Andeutung, als er die Schreie aus der Stadt hörte. Überall brach der Boden auf, und dicke grüne Stränge schnellten sich in die Höhe. Ganze Häuser wurden hochgehoben und zertrümmert. Männer, Frauen und Kinder flohen in Panik zum Sarro, wo Boote für sie bereitstanden. Sie ließen all ihre Habe zurück und rannten schreiend durch die Straßen. Viele fielen den hervorbrechen-den Dämonenpflanzen zum Opfer, bevor sie den Fluß errei-chen konnten.

Schreckliche Szenen spielten sich vor Nahirs Augen ab. Der Hauptmann brüllte Befehle, um das Brausen und Singen zu übertönen, das nun wieder die Luft erfüllte und ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Kuriere saßen auf und sprengten auf ihren Pferden davon, um die Nachricht vom Angriff der Pflanzen zum Palast zu bringen oder die Krieger mit den Bla-sebälgen zu den Kampfschauplätzen zu dirigieren, wo Männer ihre Brandbolzen auf die unheimlichen Gegner abschossen und mit ihren Lanzen, deren gebogene Klingen mit pechge-tränkten Lappen umwickelt waren, nach den peitschenden Strängen stießen.

Es wurde schnell dunkel, und in der Dunkelheit wuchsen die Pflanzen und gebaren ihre fürchterlichen Chimären. An vielen Stellen der Stadt erhellten Feuer die Straßen. Flammenlohen schossen den Schlangenstämmen entgegen, doch wo eine Dä-

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monenpflanze sich verfärbte und sterbend einrollte, wuchsen drei, vier neue aus dem Boden. Wer ein Schwert hatte, nahm in seiner Panik damit den Kampf gegen die Chimären auf, obwohl Nahir dies streng untersagt hatte.

Doch die Männer dort unten in den Straßen konnten nicht mehr klar denken. Die Angst trübte ihren Verstand. Wo es dunkel war, geschahen unheimliche Dinge. Ganze Häuserrei-hen fielen unter großem Getöse in sich zusammen, bevor peit-schende Stränge im Licht der Feuer in die Höhe schnellten. Ein Pflanzenarm schob sich nur wenige Steinwürfe von der Stadtmauer entfernt unter einen Blasebalg, hob ihn hoch und ließ Feuer auf die Krieger herabregnen, die ihn bedient hatten. Flammen schossen nach allen Seiten hin über die Straße, als der Blasebalg in der Luft barst. Männer wurden zu brennen-den Fackeln und wälzten sich verzweifelt auf dem Boden. Und die Nacht hatte gerade erst begonnen.

Unsagbarer Schmerz überkam den Hauptmann der Palast-wache, als er sah, wie seine Stadt in Trümmer fiel. Noch war die Verwüstung auf einzelne Stadtviertel begrenzt, doch wie sollte Leone diese Nacht überstehen?

In ihrer Verzweiflung steckten Krieger Häuser in Brand. Flammen schlugen lodernd hoch in den Himmel und machten die Nacht zum Tag. Nahir nahm die Schreie, die an sein Ohr drangen, und das furchtbare Singen, Stöhnen und Ächzen der Pflanzen kaum noch wahr.

Wo blieb der König? Wo blieb der Sohn des Kometen mit seinem wunderbaren Gläsernen Schwert, das allein die Saat des Bösen bezwingen konnte?

Stumm schüttelte Nahir den Kopf. Auch er würde gegen die-se Übermacht nichts ausrichten können.

Neben Nahir schrie ein Mann in höchster Todesangst. Der Hauptmann fuhr herum, eine Pechfackel in der Hand. Das Grauen nahm von ihm Besitz. Eiskalt kroch es in sein Gehirn

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und lähmte sein Denken. Mit einem Schrei stieß er die Fackel dem Sterbenden in die Brust. Es war das einzige, was er für ihn tun konnte. Zuckend verging das schleimige Wesen, das unbemerkt die Stadtmauer heraufgekrochen war und sich in den Leib des Kriegers gefressen hatte.

Und nun kamen sie zu Dutzenden über die Mauer. Nahir nahm zwei der bereitliegenden Fackeln in die zitternden Hän-de, zündete sie über einem Feuerkessel an und schwang sie. Andere hieben mit ihnen auf die schleimigen Kreaturen ein, die sich zwischen den Zinnen auf den Wehrgang schoben, die Mauer heraufglitten oder von den Seiten kamen.

Einer der mächtigen weißen Steinblöcke barst mit lautem Knirschen aus der Befestigung und stürzte in die Tiefe. Wo er eingefügt gewesen war, peitschte der schimmernde Strang einer Dämonenpflanze über die Stadtmauer.

Das Wiedersehen war herzlich. Mythor und Lamir fielen sich in die Arme. Der Barde hatte Tränen in den Augen, als er My-thor ansah, als wären sie für Jahre voneinander getrennt gewe-sen. Lamir trug wieder die gelbe Gugel über dem Kopf, den grasgrünen Tappert und sein rotes, enganliegendes Arm- und Beinkleid. Als Mythor ihn zuletzt gesehen hatte, lag er halb entblößt im Zelt der Kundigen Frau aus Akinlay, Murnja, und seine Beine und ein Arm waren vom Gift der schwarzen Na-ger dunkel gefärbt gewesen. Lamir hatte im Fieber gelegen, dem Tode nahe. Nun war er lebendig wie nie zuvor.

Als Mythor sich Buruna zuwandte, die mit Lamir zusammen im Thronsaal gewartet hatte, klingelten die Glöckchen an Gu-gelzipfel, Kragen und Gürtel. Dann ließ er seine Laute erklin-gen und stimmte einen Lobgesang auf den neuen König von Leone an.

Mythor hütete sich, eine Entschuldigung zu suchen, um

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fluchtartig den Saal zu verlassen. Lamir hatte eine neue Krän-kung nicht verdient. Zwar hatte er ihm die zweifelhafte Kö-nigswürde eingebrockt, doch noch war die Freude, ihn lebend wiederzusehen, zu groß.

Mit gemischten Gefühlen stand Mythor allerdings Buruna gegenüber. Sie war die fleischgewordene Versuchung und vermied es, Mythor lange in die Augen sehen zu müssen, in-dem sie ihm die Arme um den Hals schlang und ihn die Wär-me ihres Körpers spüren ließ. Wie er trug sie neue Kleider, falls man den Hauch von Stoff, der ihre Hüften und Beine be-deckte, als solche bezeichnen konnte.

Mythor seufzte, drückte sie fest an sich, küßte sie lange und schob sie dann sanft von sich.

»Oh, Mythor«, hauchte sie mit kokettem Augenaufschlag, »warum kannst du es nicht vergessen? Zeigt dir meine Schwä-che nicht das ganze Ausmaß meiner Liebe?«

»Darüber reden wir noch«, sagte der Sohn des Kometen, verwundert darüber, daß sie ihn nicht gleich bei der Hand nahm, um ihm seine Schlafgemächer zu zeigen. Überhaupt wunderte er sich darüber, daß der gestrenge Hapsusch sie im Palast geduldet hatte. Mythor fragte sich, was Lamir dem Le-bensgärtner und den Leonitern alles über ihn berichtet hatte.

Er nahm Burunas Hand, als er die ehemalige Liebessklavin wie ein Häufchen Elend dastehen sah, und blickte sich um. Der Thronsaal war gut zwanzig Schritt breit und doppelt so lang. Vor dem auf einem Podest stehenden, reich verzierten Thron selbst waren drei lange Tische in der Form eines Hufei-sens angeordnet. Prachtvolle Waffen und Teppiche schmück-ten die Wände. Durch mehrere schmale, oben spitz zulaufende Fenster fiel kaum noch Licht ein. Draußen dämmerte es be-reits. Mehrere Dutzend Öllampen an den Wänden spendeten ausreichende Helligkeit.

Als Mythor Hapsusch im Eingang stehen sah, zog er Buruna

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mit sich und bestieg voller Trotz seinen Thron. »Stimme ein neues Lied an, Lamir!« rief er laut. »Ein Loblied

auf König Hapsusch!« Der Greis zuckte zusammen, ballte die Hände und drehte

sich auf dem Absatz um. Seine Diener folgten ihm. »Das war nicht nötig, Geliebter«, sagte Buruna, als sie allein

waren. »Er hat einen Dickkopf, aber man kann mit ihm umge-hen.«

Mythor warf ihr einen fragenden Blick zu. »Hast du etwa mit ihm…?«

»Aber Mythor!« Buruna machte große Augen. »Bist nun etwa du eifersüchtig? Auf diesen alten Sauertopf? Oh, ich bezweifle, daß er überhaupt weiß, was eine richtige Frau ist! Seine Bräute sind seine Pflanzen.«

Sie hielt inne. Für Augenblicke waren nur Lamirs Gesang und die seltsamen Laute zu hören, die sein Instrument von sich gab. Es klang anders als bisher. Buruna stieß Mythor leicht an, als dieser sich auf dem Thron zurücklehnte und grimmig vor sich hin blickte.

»Ich hörte, daß du und Viliala… ein Paar werden sollt.« Mythor lachte rauh und winkte ab. »Man hört vieles, wenn

man die Ohren spitzt. Willst du auch sie verbrennen?« Die Anspielung genügte. Schmollend zog Buruna sich zu-

rück und setzte sich auf die mit Fellen überzogene Kante des Podests.

Lamir brachte seine Darbietung zu Ende, kam strahlend auf Mythor zu und hielt ihm seine Laute entgegen. »Die tote Kat-ze, erinnerst du dich? Ich habe mir aus ihren Därmen neue Saiten gemacht. Klingen sie nicht wie das zarte Plätschern von Wasser? Wie Halme im Wind? Wie…«

»Großartig, Lamir«, sagte Mythor. Der Barde sah ihn forschend an, nicht sicher, ob er dies als

Kompliment werten sollte. »Oh, die Leoniter sind ein musi-

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sches Volk! Ich habe Instrumente gefunden, wie ich sie noch niemals sah, und…«

»Später, mein Freund. Jetzt will ich wissen, was du den Leo-nitern über mich erzählt hast.«

»Erzählt? Ich habe gesungen, Mythor, und deine Taten ge-würdigt, so, wie nur ein wirklich Begnadeter es kann!«

»Auch nachdem du wußtest, was sie mit mir machen wür-den?«

»Da gerade! Wer wäre ihnen ein besserer König als du?« »Ich hätte gute Lust, es ihnen zu sagen.« Mythor wehrte ab,

als der Barde etwas entgegnen wollte. Er sah zuerst ihn, dann Buruna ernst an. »Gapolo ist tot. Ich konnte unseren Freund nicht daran hindern, selbst Hand an sich zu legen. Ich durfte es nicht tun, nicht mehr, nachdem er gedemütigt wurde und…«

Das Bild des Salamiters entstand vor Mythors geistigem Au-ge, wie er aufrecht auf dem Lilienhügel stand und den Griff des Schwertes in beide Hände nahm, um es sich in den Leib zu stoßen. Knapp berichtete er über den Ritt über den Lilienhügel und die Flucht vor den Hügelwächtern.

»Das ist schlimm«, antwortete Lamir. Auch Buruna hatte feuchte Augen bekommen. »Aber wenigstens du lebst.«

»Ja!« Mythor stand auf und ging ein paar Schritte, Als er sich wieder umdrehte, war nichts von der Wiedersehensfreude mehr in seinem Blick. »Du bist sehr stolz darauf, mir das hier eingebrockt zu haben, oder?«

Lamir erschrak. »Natürlich, Mythor. Begreifst du nicht? Du bist ein König!«

»Das begreife ich sehr gut! Zu gut!« »Mythor hat recht!« bekam der Sohn des Kometen unerwar-

tete Schützenhilfe von Buruna. »Deinetwegen muß er jetzt die-ses… Kind zur Gemahlin nehmen!«

»Aber…«

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Lamir starrte zuerst Mythor, dann Buruna an, als verstehe er die Welt nicht mehr. Dann verzog er beleidigt das Gesicht und verließ schmollend den Saal.

»Du wirst sie doch nicht wirklich ehelichen, Geliebter?« frag-te Buruna. »Nicht wahr, Mythor? Ich weiß, die Gesetze von Leone verlangen es, aber…«

»Hör auf damit! Natürlich denke ich nicht daran.« Bevor Bu-runa ihn ihre Erleichterung auf sehr handfeste Weise spüren lassen konnte, brachte er sich mit einem Sprung in Sicherheit, und die Arme der Gefährtin fuhren ins Leere.

Zornig funkelte sie ihn an. »Lamir ist wütend auf dich, My-thor, und auch ich könnte es werden! Willst du das?«

»Du warst einige Tage im Palast?« wechselte Mythor schnell das Thema.

»Wir trafen einen Tag vor dir ein«, antwortete sie trotzig. »Und du hast sicher einiges über Leone erfahren – und über

Hapsusch und sein Lebensgärtchen?« »Nun, einiges hört man schon, wenn man…« »Dann komm mit. Ich nehme an, du kennst dich hier besser

aus als der König. Führe mich in den höchsten Turm des Pa-lasts!«

Neue Hoffnung auf ein ungestörtes Beisammensein glomm in Burunas Augen auf. Mythor ließ sie in dem Glauben, bis sie seinen Wunsch erfüllt hatte. Von Hapsusch war nichts zu se-hen, doch seine Stimme war undeutlich von unten zu hören.

In der Turnkammer eröffnete sich Mythor erstmalig der Blick auf fast die ganze Stadt. Und er erschrak.

»Warum hat man es mir nicht gemeldet?« schrie er wütend, als er sah, was dort unten in den Straßen vorging. An vielen Stellen waren neue Dämonenpflanzen aus dem Boden gebro-chen, und Krieger bekämpften sie mit Feuer. Lange Flücht-lingsströme wälzten sich zu dem im Mondlicht silbern schim-mernden Band, das die Stadt teilte. Menschen stiegen in Boote

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und versuchten, dem Tod durch die Flucht zu Wasser zu ent-rinnen.

»Hapsusch«, flüsterte Buruna, als hätten die Mauern Ohren. Mehr brauchte sie auch nicht zu sagen.

Mythor versuchte, sich einen genauen Überblick über die Stadt zu verschaffen, bevor er hinabstieg und den Lebensgärt-ner zur Rede stellte. Leone war kleiner, als es bisher für ihn den Anschein gehabt hatte. Die Stadt war in der Form eines gleichschenkligen Sechsecks angelegt, durchzogen von schnurgeraden Straßen und Gassen. Die Grünflächen waren mehr oder weniger gleichmäßig verteilt. Mythor mußte sich dazu zwingen, die Kämpfenden und die Feuer in den Straßen zu ignorieren. Weit hinten, jenseits der Mauern, brannten wei-tere Feuer.

»Das Lebensgärtchen«, erklärte Buruna. »Dort leben die meisten Leoniter.«

Mythor sah sie erstaunt an. »Ja«, sagte sie. »Leone selbst, das befestigte Leone, hat nur an

die fünfzehntausend Einwohner. Du hast gar nichts gesehen, wenn du das Lebensgärtchen nicht gesehen hast, Mythor. Ich stand auf der Westmauer. Im Osten, von wo du kamst, ist nicht viel von diesen Wundern zu sehen. Das Lebensgärtchen erstreckt sich viele Reitstunden nach Westen und umschließt Leone völlig, außer im Osten. Und in seiner Mitte…«, Buruna senkte die Stimme und sah zum Treppendurchgang, »… be-findet sich das größte Geheimnis der Leoniter. Hapsusch weiß nicht, daß ich es kenne, wenn auch nur vom Hörensagen. Etwa zwei Reitstunden von Leone entfernt steht der Baum des Le-bens, und es heißt, daß niemand außer Hapsusch dorthin ge-langen kann.«

»Du mußt dir sehr gute Beziehungen geschaffen haben in dieser kurzen Zeit«, sagte Mythor. »Was weißt du noch über den Baum des Lebens?« Er bemühte sich, die in ihm aufstei-

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gende Aufregung nicht zu zeigen. Hätte er nur den Helm der Gerechten getragen…

»Nichts, Geliebter. Frag Hapsusch danach! Ich weiß nur, daß die Leoniter den Baum als Symbol allen Lebens ansehen und daß sich ein Fruchtbarkeitskult um ihn gebildet hat, dem na-türlich Hapsusch vorsteht. Am Baum des Lebens sollen alle Fäden der Lichtwelt zusammenlaufen. Dort soll gleicherma-ßen Anfang und Ende sein. Die Menschen hier sehen die Welt als eine runde Scheibe an, die im Westen durch den Ozean, im Norden durch das Eis, im Osten durch die Götterberge und im Süden durch die Schattenzone begrenzt wird, die langsam, aber sicher die Welt verschlingen wird, falls ihr nicht durch das Licht Einhalt geboten wird.«

»Wobei der Baum des Lebens eine Rolle spielen soll?« »Vielleicht, Mythor. Ich weiß, was du jetzt denkst. Vielleicht

ist er der nächste Fixpunkt, nach dem du suchst. Ich fürchte, nur Hapsusch kann dir darauf eine Antwort geben. Jedenfalls gibt es um ihn Feste zu allen Jahreszeiten, die die Phasen des werdenden und vergehenden Lebens symbolisieren. Die Leo-niter sind allerdings keine Bauern im eigentlichen Sinn. Es sind für sie rituelle Akte.« Sie hob die Schultern. »Es hat mich Mühe genug gekostet, Jehaddi diese Auskünfte zu entlocken.«

»Jehaddi?« fragte Mythor grinsend. »Und Mühe?« »Einer von Hauptmann Nahirs Männern. Mythor, du bist

nicht etwa doch eifersüchtig?« »Ich werde ihm den Hals umdrehen, wenn ich ihn treffe.

Was ist mit den Leonitern selbst? Sie sind kein Mischvolk wie die Salamiter-Stämme. Woher kommen sie?«

»Soviel ich hörte, tief aus dem Süden. Auch sie haben mit den Ureinwohnern von Salamos, den Sarronnen, die in ihren Pueblos noch im Mündungsgebiet des Sarro leben, nichts ge-meinsam. In fast allen Bereichen sind sie ein Sonderfall hier im nördlichen Salamos.«

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Mythor nickte. Er dachte an die Armbrüste, die zweifellos eine Eigenentwicklung der Leoniter waren, ebenso wie die Feuer verspuckenden Blasebälge, mit denen er die Krieger nun unten in den Straßen gegen die Mordpflanzen anrücken sah. Im Gegensatz zu den Mischvölkern hatten die Leoniter sich anscheinend über Jahrhunderte hinweg ihre Eigenständigkeit bewahrt – und ihre Mythen.

Mythor hielt es nicht länger auf dem Turm, während in Leo-ne mit dem Mut der Verzweiflung gekämpft wurde. Noch einmal ließ er seine Blicke schweifen – und stutzte.

Täuschte er sich, oder war da tatsächlich ein Plan im auf den ersten Blick ungestümen und unkontrollierten Angriff der Dämonenpflanzen zu erkennen? Große Teile der Stadt waren noch von ihnen verschont, während andere in Trümmern la-gen. Mythor kniff die Augen zusammen, und wirklich sah es ganz so aus, als konzentrierten sich die Angriffe auf den Ost-teil Leones. Dort loderten die Feuer. Dort peitschten die Strän-ge durch die Luft und schrien Männer. Von dort wälzte sich die Flüchtlingslawine zum Fluß. Im Westen dagegen war es noch völlig ruhig. Und im Westen sollte der Baum des Lebens stehen.

Mythor nahm diese Eindrücke in sich auf und merkte sich einige Straßenzüge. Diese Beobachtungen konnten später wichtig sein.

»Komm!« sagte er zu Buruna. Sie verließen die Turmkam-mer, stiegen über die gewundenen Treppen hinab und erreich-ten den zum Thronsaal führenden Gang gerade in jenem Mo-ment, als von unten aus der Halle laute Stimmen heraufklan-gen.

»Hapsusch!« flüsterte Buruna. Mythor legte ihr einen Finger auf den Mund und lauschte. Als er seinen Namen hörte, schlich er auf leisen Sohlen bis zur in die untere Halle führen-den Treppe und sah den Lebensgärtner in heftigem Streit mit

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einigen Kriegern der Stadtwache. »Wir haben Befehl, dem König selbst zu berichten!« rief einer

der Männer. »Nicht dir, Lebensgärtner!« »Sagt mir, was ihr zu sagen habt, und ich unterrichte König

Mythor!« fuhr der Greis ihn an. Einer der Krieger sah Mythor, als dieser nun die Treppe hin-

abstieg. Hapsusch fuhr herum und erschrak. »So, wie du mich bisher unterrichtet hast, Hapsusch?« fragte

Mythor scharf. Er trat neben den Greis und blickte die Krieger auffordernd an.

»Ich…«, begann der Alte. Mythor winkte barsch ab. »Sprecht. Schickt Nahir euch?« Der Krieger, der mit Hapsusch gestritten hatte, ein großer,

gutaussehender Mann mit samtbrauner Haut und pech-schwarzem, langem Haar, nickte heftig. Seine Rüstung war an einigen Stellen rußgeschwärzt und verbeult. Mit einem grim-migen Blick auf den Lebensgärtner sagte er hastig: »Wir kön-nen die Ostmauer nicht länger halten, König! Nahir und eine Handvoll Krieger versuchen die Kreaturen so lange aufzuhal-ten wie möglich. Doch sie greifen nun auch von außerhalb der Stadt an! Viele von uns sind gefallen! Es ist schrecklich, mein König! Die Chimären sind noch schlimmer als die Pflanzen. Sie überwuchern die Stadt. Und die Dämonenpflanzen, die aus ihrem Schleim wachsen, sprengen die Steine!«

»Der Osten der Stadt ist nicht länger zu halten!« rief ein an-derer. »Und wir können doch nicht ganz Leone in Brand ste-cken!«

»Wie viele Kuriere kamen schon?« fragte Mythor den Le-bensgärtner.

»Das ist unwichtig!« schrie dieser unbeherrscht. »Ich habe veranlaßt, was zu tun war! Die Dämonen haben es nicht auf die Stadt abgesehen, sondern auf den…«

Hapsusch stockte. Mythor sah ihn durchdringend an, wäh-

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rend er um seine Beherrschung kämpfte. »Auf den Baum des Lebens?«

»Woher weißt du…?« fragte der Greis erschrocken. »Ich weiß es eben, und meine Geduld ist zu Ende, Hapsusch.

Ich wollte nicht König dieser Stadt werden, doch nun trage ich die Verantwortung für ihre Bewohner. Was ist der Baum des Lebens? Weshalb wird Leone wirklich angegriffen?«

»Wir hätten einen König finden sollen, der mit den Caer zu verhandeln bereit ist«, knurrte der Alte. »Er hätte einen Kom-promiß schließen können, damit die Dämonen den Baum des Lebens in Ruhe ließen!«

»Was ist mit dem Baum?« Mythor packte Hapsusch unsanft und schüttelte ihn.

Der Lebensgärtner riß sich los und brachte sich mit zwei, drei schnellen Schritten in Sicherheit. Einer der Krieger hob drohend sein Schwert gegen ihn.

Ein listiges Lächeln trat auf Hapsuschs Gesicht. »Wohlan, König Mythor!« sagte er voller Spott. »Als König ist es ja deine Pflicht, den Baum vor den Dämonen zu schützen. Also höre!«

Und Hapsusch redete. Schon nach wenigen Worten wußte Mythor, daß es sich bei dem Baum des Lebens um den von ihm gesuchten Fixpunkt des Lichtboten handelte. Nach dem Glauben der Leoniter stand der Baum schon seit Anbeginn der Lichtwelt an seinem Platz, zwei Reitstunden westlich von Le-one, und wurde einst vom Lichtboten selbst gepflanzt. Hapsusch beschrieb ihn als 100 Mannslängen hoch und schmückte dramatisch aus, daß die Caer schon einige Male den Versuch gemacht hätten, den Baum des Lebens zu er-obern, wobei sie jedoch bis jetzt immer wieder kläglich ge-scheitert waren, denn der Baum stand mitten in einem Irrgar-ten aus giftigen Dornenhecken. Wer sie überwand und bis zu ihm gelangte, wurde dort von den Januffen, den wilden Be-wohnern des Baumes, empfangen und zerfleischt.

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Niemanden, der ihr Hoheitsgebiet betrat, ließen die Wächter des Heiligtums am Leben, sagte Hapsusch. »Nur mir als einzi-gem ist es möglich, zu gewissen Zeiten und durch eine Reihe von bestimmten Vorkehrungen in den Baum zu gelangen. Ich bin sein Hüter und Beschützer!«

»Warum bist du dann nicht dort?« fragte Mythor ungehal-ten. »Jetzt in der Stunde der Gefahr?«

Hapsusch lachte bitter. »Gegen die Caer verteidige ich ihn. Aber jetzt, da die Inselhorden gescheitert sind, schicken die Mächte der Finsternis ihre Dämonensaat! Du solltest dort kämpfen, Mythor, der du dich so gut auf den Kampf gegen Dämonen verstehst!«

Mythor biß die Zähne aufeinander, daß seine Backenknochen hart hervortraten. Unsicher sah er von Hapsusch zu den war-tenden Kriegern, in deren Augen er Verzweiflung und eine Spur von Hoffnung sah.

Ihre Kameraden kämpften im Osten der Stadt. Sie erwarte-ten, daß er ihnen zu Hilfe kam. Allein sein Anblick und das Klagen seines Schwertes würden ihnen neue Kräfte geben. Doch wenn Hapsusch recht hatte und der Angriff letztlich nur dem Baum des Lebens galt…

»Ist der Baum nicht in der Lage, sich selbst zu schützen?« fragte Mythor.

»So heißt es«, antwortete Hapsusch. »Seine Früchte sollen die Macht haben, die Mächte der Finsternis in den Bann zu schla-gen und zurückzuwerfen. Aber dies geschieht nicht, und nie-mand weiß, warum!« Wieder bemerkte Mythor den listigen Blick in den Augen des Lebensgärtners. »Finde du es heraus! Ich werde dir meine Erfahrungen zukommen lassen und dich zum Baum des Lebens führen, wenn du dazu bereit bist! Sonst werden die Dämonenpflanzen ihre Wurzeln so weit vorantrei-ben, bis sie die Basis des Heiligen Baumes erreicht haben und ihn mit ihrer dämonischen Umschlingung ersticken!«

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Mythor kämpfte mit sich. Einerseits lastete die Verantwor-tung für die an der Ostmauer und in den Straßen kämpfenden Männer schwer auf seinen Schultern, zum anderen aber fühlte er, daß er keinen Moment mehr zögern durfte, um zum Fix-punkt des Lichtboten zu gelangen. Dort lag sein Ziel, und dort hatte er seine nächste Bewährungsprobe zu bestehen. Die Wurzeln der Dämonenpflanzen! Mythor mußte wieder an die Ranken denken, die Althars Wolkenhort umwuchert hatten, und an das schimmernde Geflecht im Boden, das er auch an der Straße des Bösen gefunden hatte. Den Wolkenhort hatten die Pflanzen nicht ersticken können, aber der Baum des Le-bens war in Gefahr – und vielleicht alle Fixpunkte des Lichtbo-ten, die noch auf ihn warteten.

In Leone hatten die Verteidiger keine Chance gegen die Pflanzen, wenn sie nicht die ganze Stadt in Schutt und Asche legen wollten. Dem Baum des Lebens galt der Angriff, und nur von ihm aus konnte er zurückgeschlagen werden.

»Geht zurück zu Nahir und sagt ihm, daß er die Ostmauer aufgeben soll! Alle Krieger müssen den Flüchtenden helfen. Ich will keine unnützen Opfer. Nahir soll die Leoniter in Si-cherheit bringen und hier vom Palast aus alle erforderlichen Maßnahmen treffen, solange ich fort bin.«

»Du… du verläßt uns?« fragte Hapsusch. »Nein, Lebensgärtner. Du wirst mich zum Baum des Lebens

führen.« »Du willst den Kampf aufnehmen?« Ungläubiges Erstaunen

sprach aus den Blicken des alten Mannes, kein Spott mehr, keine offen zur Schau getragene Verachtung.

»Mit deiner Hilfe, ja.« Staunend verfolgten die Krieger und Mythor die Verände-

rung, die nun mit Hapsusch vor sich ging. Der Greis kam her-an, blieb dicht vor Mythor stehen und neigte den Kopf. »Ver-zeih mir, König! Verzeih meine Zweifel und…«

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»Es ist gut, Hapsusch«, sagte Mythor. »Bereite alles für unse-ren Aufbruch vor. Wir warten den Morgen ab.« Zu den Wa-chen gewandt, sagte er: »Und ihr beeilt euch, bevor es für Na-hir und eure Kameraden zu spät ist!«

Sie grüßten und verließen den Palast. Mythor hörte wie sie draußen aufsaßen und davongaloppierten. Am liebsten wäre er mit ihnen geritten, doch es gab bis zum Morgen noch viel für sie zu tun, und Pandor war, wie Hapsusch ihm jetzt sagte, mit Hark und Horus zusammen ins Lebensgärtchen gebracht worden.

Mythor unterdrückte seinen Zorn über diese eigenwillige Handlungsweise des Greises. Nun, da er die Zusammenhänge in etwa kannte, sah er den verbitterten Alten in einem anderen Licht.

Hapsusch trug eine ungeheure Verantwortung, und seine Macht mochte ihren Ursprung in den Mythen der Leoniter haben. Für sie war er der Hüter ihres größten Heiligtums. My-thor beneidete ihn nicht um diese Aufgabe, die ihn geformt hatte.

In seinen inzwischen hergerichteten Gemächern wurde er von Buruna erwartet, die entsetzt war, als sie von seiner Ab-sicht hörte. Sie konnte ihn nicht umstimmen. Mythor setzte den Helm der Gerechten auf, und als er dessen Einflüsterun-gen vernahm, waren auch die letzten Zweifel beseitigt. Er war nahe an seinem Ziel, doch seine Gegner griffen bereits nach dem Fixpunkt des Lichtboten.

Noch ahnte Mythor nicht, daß er einen weiteren, mit allen Wassern gewaschenen Gegner hatte.

In dieser Nacht fand er keine Ruhe. Von bösen Ahnungen geplagt, stand er mit Hapsusch in der Turmkammer und beo-bachtete verzweifelt, wie sich die Saat des Bösen immer weiter in die Stadt hineinfraß. Die Feuer im Westen, jenseits der Mauern, waren ein untrügliches Zeichen dafür, daß auch dort

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bereits gekämpft wurde. Einmal begegnete er während seiner rastlosen Wanderungen

durch den Palast Viliala, doch anders als vorher wich sie ihm diesmal aus. Wenig später erfuhr er von Hapsusch, daß sie sich auf die bevorstehende Hochzeit mit ihm vorbereite.

Hauptmann Nahir mußte Stück für Stück zurückweichen. Er und seine Männer waren kaum noch in der Lage, sich aufrecht zu halten. Schwefelgestank drang in ihre Lungen. Von dort, wo schnell herbeigeschafftes brennendes Öl über den Wehr-gang und an der Mauer hinuntergeschüttet worden war, kam unerträgliche Hitze. Ein Teil der Ostmauer stand in Flammen, die viele Mannslängen hoch in den Nachthimmel schlugen. Zwischen ihnen waren schemenhaft sich einrollende Dämo-nenpflanzen zu sehen, doch bevor sie starben, schossen sie ihre Samenspeere oder die schrecklichen Kreaturen ab, die aus ihnen hervorwuchsen.

Nahirs Augen schmerzten. Die Schreie seiner Krieger dröhn-ten in seinen Ohren. Sie waren stumpf im Geist geworden, schlugen mit ihren brennenden Fackeln nach allem, was sich auf der Mauer kriechend bewegte, und manches Mal trafen sie einen Kameraden, der nicht mehr die Kraft hatte, aufzustehen. Und wer kraftlos liegenblieb, den holten sich die Schleimge-bilde.

Große Abschnitte der Stadtmauer waren aus der Befestigung herausgebrochen worden. Riesige Lücken klafften darin, und über das Geröll auf der Straße schoben sich die gespenstische Armee aus peitschenden Strängen und ihre Vorhut: im Schein der Feuer blaß schimmernde unheimliche Leiber aus Schleim, umherschwingenden Auswüchsen und Augen, groß wie Männerfäuste.

Nahir hatte gesehen, wie sich Krieger, vom Grauen überwäl-

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tigt, allein beim Anblick dieser Kreaturen von der Mauer in den Tod stürzten oder sich das Schwert in die Brust stießen. Er selbst war nahe daran gewesen, aufzugeben.

Die Straßen waren überwuchert. Schlangenarme schoben sich über die Dächer der höchsten Häuser und tasteten nach Leben. Sie krochen in Fenster und brachen die Mauern auf. Dort unten befand sich kein lebender Leoniter mehr. Unheim-liche Kräfte waren am Werk, Kräfte, die nicht von dieser Welt waren. Wo noch vor Stunden erste vereinzelte Pflanzen aus dem Boden gebrochen waren, peitschte, ächzte, stöhnte und sang ein Dschungel des Todes.

Nur eine Bresche gab es noch, die die Krieger dort unten freihalten konnten, eine einzige Straße, zu der Nahir alles diri-giert hatte, was sich noch auf den Beinen halten und die Blase-bälge bedienen konnte. Lachen brennenden Öles trieben den Pflanzen und Chimären entgegen, die dort angriffen.

Es war der einzige noch verbliebene Fluchtweg, denn auch außerhalb Leones wucherten die peitschenden Schlangenarme. Nahir schickte einen seiner Krieger nach dem anderen von der Mauer, bis er als letzter auf dem Wehrgang stand. Mit den Pechfackeln in beiden Händen schlug er nach herangleitenden Chimären. Dann schüttete er den letzten Kessel mit heißem Öl vor sich aus und warf die Fackeln in die Lache.

Vergeblich hatte er auf den neuen König gewartet. Voller Verbitterung kletterte er die zum Teil schon brennenden Trep-pen hinab und sprang das letzte Stück. Seine Krieger schirm-ten ihn mit Feuerwerfern gegen die anrückende Pflanzenar-mee ab. So schnell sie laufen konnten, zogen sie sich von der Mauer zurück und überließen sie dem unheimlichen, gnaden-losen Gegner.

Etwa fünfzig Mann verteidigten die Straße, und knapp die Hälfte von ihnen schaffte es, dem über ihnen zusammenschla-genden Dschungel zu entkommen. Dort, wo die Pflanzenmau-

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er aufhörte, standen andere mit frischen Pferden. Nahir wurde in den Sattel geschoben und klammerte sich am Hals seines Reittieres fest.

»Ich war im Palast!« rief ein Krieger, der neben ihm auf-tauchte. »Ich habe mit dem König gesprochen! Hapsusch ver-suchte es mit aller Gewalt zu verhindern!«

Nahir hörte es kaum. »Er wird zum Baum des Lebens gehen, um ihn gegen die

Dämonen zu verteidigen, Hauptmann! Du sollst während sei-ner Abwesenheit die Geschicke der Stadt in die Hand neh-men!«

Auch das drang kaum an Nahirs Bewußtsein. Erst später, als er schwer atmend auf einem Lager zwischen Verletzten und Sterbenden in einer schnell eingerichteten Notunterkunft lag und seine Wunden und Verbrennungen behandeln ließ, erfaß-te er die Bedeutung der Worte.

Draußen graute der Morgen, und mit dem Licht des neuen Tages, so schien es, kehrte Stille in Leone ein. Doch es war eine unheilverkündende Stille.

Es schien tatsächlich so, als banne das erste Licht des neuen Tages die Macht der dämonischen Kreaturen, die in der Nacht ein Viertel der Stadt Leone erobert hatten. Wie schon einmal, kurz vor dem Einbruch der Dunkelheit, brach das Singen und Ächzen der Schlangengewächse ab, und die geschmeidigen grünen Stränge reckten sich starr dem Himmel entgegen. Die Chimären verfielen in eine todesähnliche Starre, und Haupt-mann Nahir schickte seine frischesten Krieger in den Osten der Stadt, um diese unerklärliche Starre auszunutzen und sie und ihre Ausgeburten zu verbrennen – aus sicherer Entfer-nung.

Mythor und Hapsusch waren bereits aufgebrochen, als Nahir

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den Palast am frühen Morgen erreichte. Kaum noch jemand war auf den Straßen. Frauen, Kinder und alte Männer hatten Leone über den Sarro verlassen und waren weit genug nach Nordwesten gerudert, um vor den Pflanzen vorläufig sicher zu sein. Sie warteten an der Grenze des Stadtstaats. Diener des Lebensgärtners hatten sie sicher durch das Lebensgärtchen geleitet.

Während sich die Krieger der Stadt- und Palastwache dar-anmachten, unter Nahirs Führung Stück für Stück verlorenen Boden zurückzuerobern, verließen unbemerkt zwei Gestalten den Palast durch einen kaum benutzten Hintereingang. Beide waren in weite weiße Gewänder gehüllt und trugen Sandalen. Das Gesicht der Frau war bis auf die Augen verhüllt, und ihr Begleiter trug einen mächtigen Turban, unter dem sein Kopf fast verschwand.

Wie Diebe schlichen sie sich an den Palastmauern vorbei, wi-chen jedem Posten aus und gelangten im Schutz der immer-grünen Bäume und Sträucher der Zieranlagen in eine enge Gasse, die direkt nach Norden führte.

»Bist du auch sicher, daß wir so zum Tor kommen, vor dem die Akinlayer lagern?« fragte der Mann, der sich immer wie-der scheu umblickte.

»Zum letzten Mal, Lamir«, flüsterte die Frau. »Du hast mir dein Wort gegeben! Versuche nicht länger, dich herauszuwin-den!«

»Aber ich…!« »Du bist ein Feigling! Sage nicht, ich hätte dich überredet!

Du weißt, daß du nur so Mythors Gunst wiedererlangen kannst. Und außerdem… du bist ein Mann, Lamir, und blut-jung. Du hast gerade das richtige Alter für sie.«

»Schon, Buruna. Aber ob das Mythor recht ist?« »Willst du damit sagen, daß er diese Hochzeit will?« Lamir schrak zusammen, als Buruna ihn finster ansah.

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»Nein, nein«, beeilte er sich zu versichern. »Dann ist es gut. Denk auch an dich! Es ist nicht gut, wenn

ein stolzer Jüngling wie du so lange keine Jungfrau im Arm hat.«

»Ich denke ja an mich«, beteuerte der Barde. »Und an Graf Corians Tochter…«

»Murnja wird schon den richtigen Zauber für dich machen.« Schweigend schlichen sie weiter, eng an Häuserfassaden ge-

drückt und über freie Plätze huschend. Keinem von beiden konnte daran gelegen sein, von Stadtwachen entdeckt und auf ein vielleicht noch auf dem Fluß liegendes Boot gebracht zu werden.

In ihrer Verkleidung erreichten sie ungesehen das nördliche Stadttor. Vorsichtshalber hatten sie große Körbe mit allerlei »Früchten« darin mitgenommen. Und als ihnen tatsächlich zwei Krieger den Weg versperrten, sagte Buruna schnell mit verstellter Stimme und mehr schlecht als recht den Dialekt der Leoniter nachahmend: »Geschenke des neuen Königs an die Flüchtlinge aus Akinlay! Laßt uns passieren.«

Die Krieger sahen sie an, hoben die Schultern und traten zur Seite. Buruna entgingen nicht ihre Blicke, als sie das Gewand über der Brust straff zog. Zur Not hätte sie die Wachen auch auf andere Art »überzeugen« können, doch auch die Nacht mit Jehaddi reichte ihr fürs erste. So gesittet und freundlich diese Leoniter auch waren… von der Liebe hatten sie recht seltsame Vorstellungen.

»Du hattest recht«, flüsterte Lamir, als sie weit genug weg waren. »Und ich dachte, alle kampffähigen Männer seien im Osten der Stadt.«

»Wie du siehst, ist es nicht so. Trotz der Dämonenpflanzen rechnen sie mit einem Angriff der Caer.«

Die Flüchtlingskarawane aus Akinlay hatte ihr Lager nicht weit vom Nordtor entfernt vor der Stadtmauer aufgeschlagen.

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Noch war hier weit und breit nichts von den Pflanzen zu se-hen. Buruna hatte sich von der Turmkammer des Palasts aus kurz vor ihrem Aufbruch einen gründlichen Überblick ver-schafft.

Spätestens in der kommenden Nacht jedoch würde die Ka-rawane sich einen neuen Lagerplatz suchen müssen, wenn Wolvur, der Anführer der Akinlayer, es nicht ohnehin vorzog, weiterzuziehen.

Wolvur und seine Leute begrüßten Buruna und Lamir mit gemischten Gefühlen. Buruna riß sich den Schleier vom Ge-sicht. Ungeduldig berichtete sie über die Vorgänge in der Stadt, wobei sie Lamir gut im Auge behielt. Vor dem Zelt der Kundigen Frau nahm Buruna den Barden beim Arm und rede-te noch einmal auf ihn ein.

»Sie wird sich sträuben, denn sie hat eine Menge Ärger be-kommen, weil sie Mythors Pergament verbrennen wollte«, flüsterte sie. »Also vergiß nicht, daß du sie bitten mußt. Sag ihr, daß du unsterblich verliebt in Viliala bist, daß dein Herz blutet und du nicht mehr leben willst, wenn sie dir versagt bleibt, hörst du?«

»Buruna, du verlangst zuviel von mir!« »Soll Mythor erfahren, daß du Pandors Mähne abschneiden

wolltest, um daraus Saiten für deine Laute zu machen?« Lamir zuckte zusammen und wurde kreidebleich. »Aber

das… das hatte ich niemals vor! Bei Erain, eher würde ich…« »Das weißt du, und das weiß ich, Lamir von der Lerchenkeh-

le! Aber wem von uns beiden wird Mythor eher glauben?« »Schlange!« zischte der Barde und ergab sich in sein Schick-

sal. Nach ihm betrat Buruna das Zelt der Kundigen Frau. Hin-

tergründig lächelnd klopfte sie auf den Korb, in dem sich an-geblich nur Früchte befanden.

Das heimlich entwendete königliche Tafelsilber würde

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Murnja schon zur richtigen Einsicht bringen. Und einige Haa-re, die sie Viliala im Schlaf abgeschnitten hatte, und ein Stück Unterwäsche des Mädchens sollten genügen, um über es einen Zauber wirken zu lassen.

Als die beiden das Zelt verließen, waren die Körbe leichter, und Lamir trug seinen Liebesknoten, ein über dem Ellenbogen gebundenes Tuch um den rechten Arm, der seiner Angebete-ten kundtun sollte, wie es um ihn stand.

Und er betete Viliala an. Ein seltsamer Glanz war in seine Augen getreten, und er hatte es sehr eilig, zurück zum Palast zu gelangen. Buruna war zufrieden. Wenn Murnja nicht ge-mogelt hatte, und das schloß sie aus, würde in diesen Stunden auch Viliala den Palast durchsuchen und sehnsüchtig auf die Rückkehr des einzigen Mannes warten, für den ihr junges Herz nun schlug.

Nur flüchtig dachte die Liebessklavin daran, wie Mythor re-agieren würde, sollte er ihr Spiel durchschauen. Aber er wollte diese Hochzeit ja nicht. Sie tat ihm nur einen Gefallen, und sicher würde er ihr bald seine Dankbarkeit zeigen. Buruna hat-te Mühe, den Barden zurückzuhalten, um Wolvur noch einmal eindringlich vor der kommenden Nacht zu warnen. Allein durfte sie Lamir jetzt nicht zurückgehen lassen. Er würde auch ohne seine Laute Vilialas Vorzüge so laut preisen, daß selbst die Dämonenpflanzen aus ihrer Starre erwachen mochten.

Auf der Suche nach Wolvur hielt sie plötzlich inne. Bevor sie mit Lamir Murnjas Zelt betreten hatte, hatte sie den Karawa-nenführer bei einer Gruppe von Frauen gesehen, auf die er beruhigend einredete. Wo die Frauen gestanden hatten, im Schatten zwischen zwei der bedeckten Wagen, die zu einer Wagenburg zusammengefahren waren, hockten nun einige Akinlayer und ein seltsames Pärchen, das Buruna während der Tage, die sie und Lamir mit den Flüchtlingen verbracht hatten, nie gesehen hatte. Die Art, wie sie miteinander tuschel-

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ten und sich scheu umsahen, weckte Burunas Aufmerksam-keit. Und als sie sah, daß sich auch noch einer von Hapsuschs Dienern bei ihnen befand, war ihre Neugierde nicht mehr zu zügeln.

Langsam ging sie mit Lamir an der Gruppe vorbei. Augen-blicklich verstummten die Akinlayer und der Fremde, der of-fensichtlich das große Wort schwang.

»Sing!« flüsterte Buruna dem Barden zu. »Sing ein Lied für dein Herzchen, aber laut!«

Er blickte sie an, als ob er fragen wolle: »Darf ich wirklich?« Dann hob er an, und über seine Lippen kam ein Lobgesang auf Viliala, wie sich keine Jungfrau einen schöneren wünschen konnte. Zumindest dachte Lamir dies.

Buruna ertrug es mit Fassung und bemühte sich, die Blicke der aus den Zelten und unter den Planen aufgeschreckt her-vorschauenden Akinlayer zu ignorieren. Erst als sie weit ge-nug von den Heimlichtuern weg waren, griff die Liebessklavin Lamir in den Arm und flüsterte: »Jetzt gehst du allein weiter bis zur Stadtmauer. Du hörst erst auf zu singen, wenn du sie erreicht hast. Warte dort auf mich.« Sie nahm ihm den Turban aus der Hand und setzte ihn ihm auf. »Keinen Laut mehr, wenn du die Mauer erreicht hast, damit die Wachen am Tor dich nicht entdecken!«

»Aber ich… Was hast du vor, Buruna? Wie kannst du von mir verlangen, meine Seele zu verschließen, nachdem du mei-ne Leidenschaft entfacht hast?«

»Deinen Mund sollst du verschließen, nicht deine Seele. Tu, was ich dir sage, oder willst du, daß ich zu Murnja gehe und ihr sage, daß sie den Zauber wiederaufheben soll?«

»Das würdest du nicht tun!« »Oh doch!« Lamir schickte einen gequälten Blick zum Himmel. »Ach,

wüßtest du, was in mir brennt, du könntest nicht so grausam

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sein. Könntest du lieben wie ich…« »Dann wäre ich aus Graf Corians Schloß gejagt worden. Jetzt

geh und tu, was ich gesagt habe! Warte an der Mauer auf mich!«

Lamir seufzte und ging davon wie ein geprügelter Hund. Sein Lied klang nun noch schrecklicher als zuvor. Einige

vierbeinige Begleiter der Karawane schienen keinen Sinn für seine Herzensqualen zu haben. Jaulend und fauchend verkro-chen sie sich unter die Wagen.

Buruna schlich sich hinter den Wagen zurück. Einige Frauen, die an einem Feuer Kräuter in große Kessel gaben, blickten sie neugierig an, gingen aber wieder ihrer Arbeit nach, als Buruna ihnen freundlich zuwinkte. Lamirs Gesang wurde schwächer. Buruna hatte sich die beiden Wagen gemerkt, zwischen denen die Heimlichtuer hockten. Auf Zehenspitzen erreichte sie ei-nen von ihnen, schlug die Plane hoch und sah, daß niemand darin war. Vorsichtig stieg sie hinein und schlich sich auf allen vieren bis zum hinteren Ende. Durch einen winzigen Spalt zwischen Plane und Holz konnte sie die Männer und das hell-haarige Mädchen sehen. Auf keinen Fall stammte sie aus A-kinlay. Ein solch zartes, zerbrechlich wirkendes und doch auf seine Art wunderschönes Geschöpf hatte Buruna überhaupt noch nie gesehen.

Buruna spitzte die Ohren und lauschte. Von Lamir war nichts mehr zu hören, und sie hoffte nur, daß er sich an ihre Anweisungen hielt und an der Mauer wartete.

Die in den Schatten zwischen den Wagen gedrückten Gestal-ten tuschelten wieder miteinander. Buruna war nahe genug bei ihnen, um jetzt jedes Wort verstehen zu können.

»Und wenn es dort gar keinen Schatz gibt?« fragte einer der Akinlayer gerade. Burunas Schmunzeln, als sie Krahnun er-kannte, dessen Liebeskraft während ihres nächtlichen Bei-sammenseins auf dem Weg nach Leone durch die bangen Ge-

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danken an sein eifersüchtiges Weib arg gelitten hatte, ver-schwand augenblicklich, als sie die Antwort des großen, mus-kulösen Fremden mit der bronzefarbenen Haut und den brau-nen, etwas traurig blickenden Augen hörte. »Ich weiß, daß es ihn gibt und daß er uns alle reich machen wird. Alles, was ihr zu tun habt, ist, mir den Rücken freizuhalten, wenn ich in den Baum des Lebens steige. Ich sage euch, unermeßlicher Reich-tum erwartet uns dort. Malmand hier…«, dabei deutete er auf den Diener des Lebensgärtners, »… wird uns den Weg wei-sen.«

»Aber Wolvur wird noch heute die Zelte abbrechen lassen und weiterziehen«, wandte ein anderer Akinlayer ein.

»Was braucht ihr Wolvur, wenn ihr reich seid! Ihr seid auf der Flucht und habt kein rechtes Ziel. Schließt euch mir an, und eure Sorgen sollen vergessen sein. Denkt ihr an eure Wei-ber? Bald werdet ihr euch Weiber kaufen können!«

Schweigen. Buruna, die kaum noch zu atmen wagte, sah, wie die Flüchtlinge sich gegenseitig zweifelnd ansahen, bis einer sich aufrichtete und verkündete: »Rechne mit mir, Arruf! Ich bin dabei!«

Buruna zuckte zusammen. Wie hatte der Mann den Fremden genannt?

»Ich komme auch mit!« versprach Krahnun. »Ich auch!« »Du hast mich gewonnen, Arruf.« Als Buruna noch Mühe hatte, das eben Gehörte zu verdauen,

erhob sich der mit Arruf Angeredete und sagte verschwöre-risch: »Dann geht jetzt und verhaltet euch, als ob nichts gewe-sen sei. Ich selbst werde mich um Wolvur kümmern und dafür sorgen, daß er keinen Verdacht schöpft. Haltet euch jedoch bereit. Kalathee wird euch das Zeichen geben, wenn es soweit ist.«

Kalathee!

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Burunas Herz schlug schneller. Sie hatte Mühe, sich still zu verhalten. Ihre Gedanken waren in wildem Aufruhr. Dieser Fremde dort nannte sich Arruf. Zweifellos war er jener, dessen Bekanntschaft Mythor auf dem Mammut-Floß im Feindgebiet gemacht hatte. Aber wenn diese zerbrechlich wirkende Schön-heit tatsächlich jene Kalathee war, nach der Mythor suchte – war dann Arruf wirklich Arruf, oder war sein wirklicher Na-me Luxon? Denn der Sterbende in der verlassenen Hütte un-weit des Hochmoores von Dhuannin hatte ausgesagt, daß Ka-lathee mit einem Mann namens Luxon verschwunden sei.

Buruna mußte an sich halten, um die aufkeimende Eifersucht auf das hellhaarige Mädchen zu unterdrücken. Natürlich muß-te sie verhindern, daß sie Mythor begegnete. Von allen Kon-kurrentinnen um Mythors Liebe war diese mit Sicherheit die ärgste.

Auf der anderen Seite spürte die Liebessklavin, daß von Ar-ruf oder Luxon, wenn sie recht behielt, Unheil auf Mythor zu-kam. Dann aber mußte sie ihn warnen.

Buruna rang mit sich. Sie wartete, bis niemand mehr in der Nähe war. Dann kroch sie aus dem Wagen und beeilte sich, die Karawane zu verlassen. Ungesehen erreichte sie Lamir, der tatsächlich mit zerknirschter Miene auf sie wartete und die Lippen trotzig zusammenpreßte.

Sie konnte Mythor verlieren, wenn dieser sich von Kalathee einwickeln ließ, auch wenn er beteuert hatte, daß ihm weniger an Kalathee liege als dieser an ihm. Mit Sicherheit aber war er in Gefahr, falls Arruf zum Baum des Lebens gelangte und es zum Kampf kam.

Andererseits, überlegte Buruna, war es unwahrscheinlich, daß Arruf Kalathee auf ein so gefahrvolles Unternehmen mit-nahm. Eher würde er sie an einem vorher ausgemachten Ver-steck in der Nähe der Stadt oder im Lebensgärtchen warten lassen.

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Sie gab sich einen Ruck. Knapp berichtete sie Lamir von dem, was sie gesehen und mit angehört hatte. »Wir müssen Mythor warnen«, schloß sie. Lamirs Groll verflog schnell, als der Barde erkannte, warum sie ihn vorausgeschickt hatte. Ob-wohl fast all seine Gedanken nur noch um Viliala kreisten, begriff auch er, in welcher Gefahr Mythor schwebte.

»Aber er ist bereits mit Hapsusch im Lebensgärtchen.« »Doch noch nicht beim Baum des Lebens. Dazu erfordert es

langer Vorbereitung, Lamir. Wir müssen in den Palast, rasch. Und Viliala muß uns helfen.«

»Viliala.« Buruna legte dem Barden die Hand auf den Mund, als sie

den verträumten Blick in seinen Augen bemerkte. »Du kannst singen, wenn wir bei ihr sind. Jetzt bist du still!« Sie verbarg ihr Gesicht wieder hinter dem Schleier und schloß ihr Gewand über der Brust. Lamir wollte sich schon in Bewegung setzen, als sie Hapsuschs Diener aus der Wagenburg kommen und schnellen Schrittes zum Stadttor gehen sah. Er bemerkte sie nicht. Und erst als er die Wachen passiert hatte und in den Gassen der Stadt untergetaucht war, folgten ihm Mythors Ge-fährten.

Unwillkürlich mußte Buruna Bewunderung für den Frem-den empfinden, ob er nun Arruf oder Luxon hieß. Erst in der letzten Nacht konnte er zu den Akinlayern gestoßen sein. Wie er es in dieser kurzen Zeit geschafft hatte, einen Diener des Lebensgärtners auf seine Seite zu bringen, war ihr schleierhaft. Nicht weniger verblüffte sie sein Wissen vom Baum des Le-bens. Er schien Mythor zu gleichen – in vieler Hinsicht.

Als sie den Königshof erreichten, war es später Nachmittag.

Verantwortlich dafür waren einige patrouillierende leonitische Krieger, die Buruna und Lamir in eines der noch am Flußufer

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liegenden Boote setzten und aus der Stadt bringen wollten. Erst als die beiden schließlich ihre Verkleidung ablegten und sich als des Königs Freunde zu erkennen gaben, ließ man sie ziehen. Nur mit Mühe gelang es Buruna dabei, Lamir den Mund zu stopfen. Jedermann wußte, daß die junge Viliala des neuen Königs Gemahlin werden sollte, und es war kaum aus-zudenken, was mit Lamir und Buruna geschehen wäre, hätten die Krieger Wind von den Absichten des Barden bekommen.

Viliala selbst war nicht mehr in der Abgeschiedenheit ihrer Kammer in die Vorbereitungen für die Hochzeit vertieft. Sie empfing Lamir, als ob dieser ihr frisch angetraut sei. Wieder hatte Buruna alle Hände voll zu tun, um die beiden Verliebten rechtzeitig in eine abgelegene Kammer zu bringen, bevor die Palastwachen, die nicht im Ostteil der Stadt die immer noch reglosen Dämonenpflanzen und Chimären verbrannten, auf sie aufmerksam wurden.

Lamirs Leid war kaum noch mit anzusehen. Dennoch riß auch er sich zusammen und wehrte sogar Vilialas Zärtlichkei-ten ab, um Buruna berichten zu lassen.

Als diese geendet hatte, sah Viliala sie lange an. Dann schüt-telte sie traurig den Kopf. »Sie sind im Lebensgärtchen und werden den Rest des Tages und die Nacht noch in Hapsuschs Tempel verbringen, um sich vorzubereiten«, sagte das Mäd-chen. »Der König, eine Handvoll Krieger und Hapsusch selbst mit seinen Dienern.«

»Mit allen Dienern?« fragte Buruna. Viliala schien den Sinn der Frage nicht zu verstehen. Buruna

winkte ab und berichtete erst jetzt von Malmand. »Viliala, wir müssen sie warnen! Wenn schon nicht bis zum

Baum des Lebens, so werden einige Krieger mit uns doch we-nigstens bis zu Hapsuschs Tempel gelangen können?«

»Unter normalen Umständen, ja«, gab Viliala zu. »Bald aber wird die Sonne untergehen, und die Dämonenpflanzen wer-

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den aufs neue erwachen. Wir wissen inzwischen, daß sich mindestens ebenso viele wie im Osten der Stadt im Lebensgar-ten breitgemacht haben. Es sind zwei Reitstunden bis zum Tempel. Vor Einbruch der Nacht kann niemand ihn errei-chen.«

»Wir müssen es versuchen, Viliala!« »Wartet hier.« Mit einem sehnsüchtigen Blick auf Lamir verließ das Mäd-

chen die Kammer und kehrte kurz darauf mit Hauptmann Nahir zurück. Wie sich herausstellte, hatte sie ihn auf dem Weg bereits unterrichtet.

Natürlich hatte Buruna verschwiegen, warum sie mit Lamir zu den Akinlayern gegangen war, und vorgegeben, nur einige alte Freunde wiedersehen zu wollen, so daß der Hauptmann keinen Argwohn empfand.

Viliala sah wohl, wie groß Lamirs Sorge um Mythor war, und die stumme Bitte in seinem Blick ließ sie auf Nahir einre-den. Buruna gewann den Eindruck, daß Nahir ihr väterlich zugetan war. Doch groß war die Verantwortung, die auf den Schultern dieses Mannes lastete. Jeden Mann, den er zum Le-bensgärtchen schickte, würde er bei der zu erwartenden nächt-lichen Schlacht gegen die Pflanzen schmerzlich vermissen. So dauerte es eine geraume Zeit, bis Nahir schließlich mit grim-migem Gesicht nickte.

»Wenn der König in Gefahr ist, müssen wir ihm beistehen«, sagte er. »Ich werde einige meiner besten Krieger abstellen, die sofort aufbrechen. Aber macht euch keine zu großen Hoffnun-gen.«

Nahirs Sorge um Mythor war echt. Ebenso wie Hapsusch schien er es ihm hoch anzurechnen, daß er sich in Gefahr be-geben hatte, um das Heiligtum der Leoniter vor dem Zugriff der Schattenmächte zu schützen. Andererseits schien er zu glauben, daß der neue König von keinem Sterblichen ernsthaft

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bedroht werden könne. Er hatte Arrufs Blick nicht gesehen! Er hatte ihn nicht reden

hören! »Er ist in größerer Gefahr, als du glaubst«, murmelte Buruna.

»Ich reite mit den Männern!« Sie sah Lamir fragend an. Innerlich verwünschte sie sich für

das, was sie getan hatte. Lamir gab den Blick an Viliala weiter, und er war nicht länger allein mit seinen Seelenqualen.

Wenn Hauptmann Nahir sich wunderte, so zeigte er es nicht. Endlich sagte Viliala: »Auch wir werden sie begleiten, nicht

wahr, Lamir?« Sie sprach den Namen aus, als gehörte er zu einem Goldschatz.

Lamir errötete leicht und hauchte: »Wie du befiehlst, Vilia-la.«

Nahir wollte protestieren, doch Viliala schaffte es wieder, ihn schnell umzustimmen. »Mein Platz ist an der Seite des Kö-nigs«, sagte sie bestimmt, aber dabei sah sie nur Lamir an, der aufgeregt an seinem Liebesknoten zupfte.

»Ich werde euch die doppelte Menge Krieger mitgeben«, sag-te Nahir seufzend, als ob er großes Unheil ahne.

Bis zum Einbruch der Dunkelheit mochte es noch eine Stun-de hin sein, als ein Dutzend leonitischer Krieger mit Viliala, Buruna und einem Barden aufbrach, dessen Ziel aller Sehn-süchte so nah und doch so fern war.

Mythor stand vor dem kleinen Tempel, einem einfachen, vier-eckigen weißen Gebäude mit flachem Dach und vier kleinen Türmchen am Eingang des Heckenlabyrinths, das den Baum des Lebens umgab.

Die Faszination beim Anblick dieses erhabenen, uralten Baumes war nicht geringer geworden, seitdem Mythor ihn am Vormittag zum erstenmal gesehen hatte – eher noch größer.

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Mythor hatte den Helm der Gerechten vorübergehend abge-nommen, weil die Signale, die ihn zu seinem Ziel drängten, unerträglich geworden waren.

Wie ein Berg aus immergrünen Blättern, starken Ästen und mächtigen Luftwurzeln ragte der Baum inmitten des Hecken-labyrinths in den von der untergehenden Sonne blutrot gefärb-ten Himmel. Mythor schätzte seine Höhe auf gut hundert Mannslängen, und breiter noch war die nach oben hin spitz zulaufende, unregelmäßig geformte Krone. Vom Tempel aus glich der Baum des Lebens einem jener geheimnisvollen Bau-werke, wie Thonensen sie auf einem Pergament skizziert und Mythor gezeigt hatte.

Der Sterndeuter Graf Corians hatte sie Pyramiden genannt und gesagt, irgendwo tief im Süden, wo die Düsterzone Fuß-breit um Fußbreit das Land verschlang, gebe es solche Bau-werke. Allerdings wußte auch er nicht zu sagen, ob dies vor oder hinter der Schattenzone war. Thonensen wußte um viele Dinge, die er auch Mythor nicht preiszugeben gewillt gewesen war und die Mythor nicht verstand. Geheimnisvoll hatte er geäußert, sein magisches Fernrohr könne ihm wohl Dinge zei-gen, die längst vergangen waren und einer anderen, vergesse-nen Welt zugehörten.

Mythor hatte Hapsusch mehrere Male gedrängt, schon in dieser Nacht zum Baum des Lebens zu gehen, doch der Le-bensgärtner hatte strikt abgelehnt. Die Wächter des Baumes, so Hapsuschs Worte, würden ihn trotz der getroffenen Maß-nahmen zerfleischen, sollte er versuchen, sich ihnen nachts zu nähern.

Und einen weiteren Grund zum Warten gab es. Mythor drehte sich um und sah die kerzengerade in die Höhe gereck-ten Stränge der Dämonenpflanzen, die während der vorigen Nacht das Lebensgärtchen bis fast zu Hapsuschs Tempel ü-berwuchert hatten. Erst dort schien eine magische Kraft sie

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aufzuhalten, doch ihre Wurzeln waren schon weit in Richtung des Baumes vorgetrieben, wie weit, das konnte auch Hapsusch nicht sagen.

Mythor hatte den Boden mit dem Gläsernen Schwert aufge-kratzt und das gleiche schimmernde Geflecht gefunden wie an der Straße des Bösen und bei Althars Wolkenhort. Hier jedoch hatten sich Knoten und armdicke violette Stränge gebildet, wirkliche Wurzeln, in die das Geflecht überging.

Überhaupt schienen die Pflanzen nirgendwo gleich zu sein. Es hatte den Anschein, als würden sie um so schrecklicher, je näher sie an den Baum des Lebens herankamen. An der Straße des Bösen hatten sie keine Chimären ausgespien, und beim Wolkenhort hatten Mythor, Nottr und Steinmann Sadagar nur gegen die roten Ranken zu kämpfen gehabt, aus deren durch-trennten Strängen alles zerfressende Säure gespritzt war.

Der Baum des Lebens war der fünfte Fixpunkt des Lichtbo-ten, den Mythor erreicht hatte. Somit lagen noch zwei vor ihm. Wüteten auch dort die Pflanzen oder noch weitaus abscheuli-chere Kreaturen der Finsternis?

Mythor bezweifelte es fast. Der Baum des Lebens war der erste lebende Fixpunkt, und seiner unfaßbaren Größe nach zu schließen, mochte er wahrhaftig so alt sein wie die Lichtwelt selbst.

Doch die Nacht war nahe, und es war zu erwarten, daß die aus ihrer unerklärlichen Starre erwachenden Pflanzen und ihre halb tierischen Ausgeburten sie nutzen würden, um sich weiter auszubreiten, über den Tempel hinweg.

Nach einem langen Blick auf den Baum des Lebens kehrte Mythor in den Tempel zurück, wo Hapsusch und ein halbes Dutzend leonitischer Krieger auf ihn warteten.

Von den Januffen, den Wächtern des Baumes, die angeblich zwei Gesichter haben sollten, war nur gelegentliches schrilles Kreischen zu hören. Gesehen hatte Mythor noch nichts von

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ihnen. Ansonsten herrschte Stille. Nur dann und wann waren die Laute der Löwen zu hören, die für die Leoniter heilige Tie-re waren und seit Anbeginn der Lichtwelt in unmittelbarer Nähe des Baumes lebten – das glaubten sie jedenfalls. Ihnen brachten sie regelmäßig in feierlichen Prozessionen Opfer dar, die Früchte des Lebensgärtchens, Ziegen und Schafe.

Mythor bedauerte, nur wenig von diesem Paradies gesehen zu haben. Wo sonst Männer und Frauen arbeiteten, wuchsen nun die Schlangenpflanzen in den Himmel. Das Lebensgärt-chen begann nicht gleich hinter den Stadtmauern von Leone, sondern erst hinter einem breiten Streifen freien Landes, auf dem auch die Akinlayer ihr Lager aufgeschlagen hatten. Und es war kein Gärtchen, sondern ein riesiger Garten des Friedens und blühenden Lebens. Bis jetzt.

Mythor setzte sich auf einen einfachen Hocker und legte den Helm der Gerechten auf seine Knie. Erwartungsvoll blickte er Hapsusch und die Krieger an, die erst vor kurzem zurückge-kehrt waren und die Spuren im Gesicht geschrieben trugen, die der Tag hinterlassen hatte. Mit Fackeln und Blasebälgen hatten sie die erstarrten Pflanzen und Chimären auf eine Breite von vierzig, fünfzig Schritt verbrannt. Doch dahinter erhob sich der schreckliche Dschungel, und er würde sich das verlo-rene Gebiet nach Einbruch der Dunkelheit zurückholen – in-nerhalb weniger Augenblicke.

»Das«, sagte der Lebensgärtner und berührte dabei ein Schälchen mit etwas drin, das wie feiner gelber Staub aussah, »werden wir vor Anbruch des Morgens wiederholen. Ich wer-de dich dann zum Baum des Lebens führen, und die Löwen werden dir kein Leid antun. Anschließend kehre ich hierher zurück und bereite auch mich vor. Du wirst auf mich warten, König.«

Mythor nickte und hob den rechten Arm an seine Nase. Der gelbliche Staub und ein besonderes Wässerchen, mit dem

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Hapsusch ihn am ganzen Körper bestäubt hatte, verlieh ihm, wie der Lebensgärtner sagte, »Januffengeruch«.

»Du zweifelst, mein König?« Hapsusch lächelte sinnig. »Du wirst sehen, daß deine Sorgen unbegründet sind. Mit

diesem Geruch werden dich die Januffen als ihresgleichen ak-zeptieren. Und wenn du dich geschickt anstellst und ihnen dies hier gibst…«, Hapsusch holte ein Fläschchen aus einer Tasche seines Gewandes hervor und ließ es ebenso schnell wieder verschwinden, »… werden sie dir aus der Hand fres-sen. Ich weiß es, weil ich es selbst schon erlebt habe.«

»Dann warst du schon im Baum?« »Leider nur in den unteren Ebenen«, gestand Hapsusch, und

sein Blick verriet, wie sehr er sich wünschte, höher hinauf ge-langt zu sein, bis in die Spitze in schwindelerregender Höhe. »Ich bin zu alt dazu, Mythor, zu schwach. Und vielleicht ist es mir nicht bestimmt, die Geheimnisse zu ergründen.«

»Aber du hast es versucht.« »Ich versuchte herauszufinden, warum sich die Prophezei-

ungen nicht erfüllen… warum der Baum keinen Samen ab-wirft, der jedes Lebewesen und jede Pflanze auf wunderbare Weise befruchten soll, warum er das Licht nicht in die Welt hinausträgt, die von Finsternis bedroht ist.« Er schüttelte den Kopf. »Es heißt, daß wir Leoniter dazu berufen seien, dieses Vermächtnis des Lichtboten zu verwalten. Doch es heißt auch, daß wir nicht versuchen sollten, seinen Geheimnissen auf den Grund zu gehen. Deshalb darf niemand außer dem Lebens-gärtner an den Baum des Lebens heran. Alles, was wir tun können, ist, die Geister des Lebens und des Lichtes zu preisen und ihnen die Früchte unserer Arbeit zu weihen.«

Das alles klang mutlos und verstärkte nur Mythors Unge-duld. Den ganzen Tag über hatte er sich durch innere Versen-kung auf seine Aufgabe vorbereitet, so, wie Hapsusch es woll-te, während die Diener des Lebensgärtners zu den Löwen gin-

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gen und in einiger Entfernung vom Baum des Lebens Früchte auf dem Boden ausbreiteten, in einer genau vorgeschriebenen Anordnung.

Nun wurde das Warten zur Qual. Immer wieder fragte sich Mythor, was dieser Fixpunkt des Lichtboten an Prüfungen und Belohnungen für ihn bereithalte. Anders als bisher hatte er keinen einzigen Hinweis darauf erhalten.

Wie weit mochten die Wurzeln dieses uralten, erhabenen Gewächses unter der Erde getrieben haben? Bis nach Leone? Befanden sie sich dann schon jetzt im Würgegriff des dämoni-schen Geflechts?

»Es heißt, daß alles Leben um den Baum herum stirbt, sobald er selbst seine Lebenskraft verliert«, sagte Hapsusch, der My-thors Gedanken zu erraten schien. »Habe Geduld, König. Wenn es der Wille des Lichtboten ist, daß du sein Vermächt-nis…«

Schreie unterbrachen den Alten. Zwei seiner Diener kamen schwer atmend in den Tempel und redeten wirr durcheinan-der.

Mythor brauchte ihre Worte nicht zu verstehen, um zu wis-sen, was geschehen war.

Es war dunkel geworden. Öllampen und ein großer mit glü-henden Kohlen gefüllter Kessel vor dem Tempeleingang spendeten Licht und warfen gespenstisch flackernde Schatten auf die Wände.

An der Spitze der Krieger stürmte Mythor aus dem Tempel, als das Ächzen und Stöhnen der Pflanzen erklang. Was er sah, hatte er erwarten müssen. Dennoch jagte es ihm eiskalte Schauer über den Rücken. Die Männer neben ihm stöhnten.

Zehn, zwölf Mannslängen hoch wogte der Dschungel aus grünen, glatten Strängen durch die Luft. Die Dämonenpflan-zen bogen und wanden sich, wie um sich aus dem Bann, den ihnen das Licht des Tages auferlegt hatte, zu befreien. Erste

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Stränge peitschten weit über den Boden und verschossen ihre Samenspitzen. Die dämonische Armee erwachte, so weit der Blick nach beiden Seiten reichte.

Weit hinten über Leone schien der Himmel zu brennen. My-thor schauderte und umklammerte Altons Griff in unbändi-gem Zorn, als er sich vorstellte, was jetzt in der Stadt geschah, wie abermals viele tapfere Männer ihr Leben verloren, wäh-rend die grüne Mauer unaufhaltsam vorrückte, und wie ir-gendwo außerhalb des Lebensgärtchens am Fluß Frauen und Kinder beteten.

»Vorwärts!« befahl Mythor. »Bringen wir ihnen das Feuer!« Die Blasebälge wurden auf die heranrückende Pflanzenmau-

er zugefahren und Pechfackeln in den Feuerkessel gehalten, bis sie brannten. Die Diener des Lebensgärtners nahmen die Armbrüste der Krieger und verschossen Brandbolzen auf das trockene Laub und Stroh, das über und zwischen die während des Tages verbrannten Pflanzen gestreut worden war, und setzten es in Brand. Bei den Blasebälgen, die von jeweils zwei Mann bedient werden mußten, wartete Mythor, ein gutes Stück vom Tempel entfernt. Da zusätzlich Öl über die einge-rollten toten Pflanzen geschüttet worden war, dauerte es eine Weile, bis die Feuerwand vor den peitschenden Riesen in sich zusammenfiel. Erste Stränge zuckten durch die Flammen und rollten sich absterbend auf. Die nächsten schossen ihre Saat und die ersten Chimären ab.

Mythors Gläsernes Schwert sang wehklagend, als der Sohn des Kometen es gegen die aus dem Boden springenden Schlangenpflanzen schwang und alles, was da in die Höhe wuchs und in seiner Reichweite lag, wie mit einer Sense nie-dermähte. Die Tempeldiener hatten Fackeln in den Händen und nahmen den Kampf gegen die schleimigen Ungeheuer auf, die zuckend über den Boden rutschten, blitzschnell ihre Auswüchse ausschoben und versuchten, die Körper der Män-

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ner zu erreichen. Wo die Fackeln in die schleimigen Leiber gestoßen wurden,

starben die Chimären mit schrecklichen, ächzenden Lauten. Mythor rannte hin und her, von einer aus dem Boden schnel-lenden Pflanze zur nächsten, und mähte sie nieder, bevor die Stränge zu hoch wuchsen und auf ihn herabpeitschen konn-ten.

Doch es waren zu viele. Links und rechts von Mythor wuch-sen die Stränge in die Höhe und trieben ihn regelrecht vor sich her, wieder zurück auf den Tempel zu, bei dem Hapsusch be-bend wartete.

Früher oder später mußten Mythors Kräfte erlahmen. Und die Nacht hatte erst begonnen.

Eine Handvoll Männer standen gegen Hunderte von Schlan-genpflanzen. Die zuckende, peitschende Mauer kam heran, unaufhaltsam und unerbittlich. Ächzen, Singen und Stöhnen wie von Dämonen erfüllten die Luft.

Mit der Kraft der Verzweiflung schwang Mythor sein Schwert, das in der von Feuern zerrissenen Dunkelheit wie ein Strahl reinen Lichts durch die Luft fuhr. Doch die Übermacht war zu groß.

Erneut mußte Mythor zurückweichen und entging nur knapp einem wahren Hagel aus Samenspitzen.

Dabei sah er den Baum des Lebens und hörte im gleichen Augenblick Hapsuschs erstickten Schrei.

Der riesige, uralte Baum hatte zu leuchten begonnen, ganz schwach nur, aber stark genug, um neue Hoffnung in Mythor und den Kriegern aufkeimen zu lassen.

Mit neuer Kraft gingen die Männer gegen die Armee des Grauens an, die ihre Befehle von tief in der Schattenzone er-hielt, und jeder einzelne kämpfte in dem Bewußtsein, daß er das Leben verteidigte, während die Pflanzen den Tempel ein-zuschließen begannen.

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Es hatte Augenblicke gegeben, in denen Mythor der Glaube daran, den nächsten Morgen zu erleben, verlassen hatte; Au-genblicke, in denen er keine Kraft mehr in sich spürte. Als die Männer sich an den Blasebälgen abwechselten, einige schwit-zend und schwer atmend am Boden lagen, um die anderen, die sie wieder ablösen würden, den aussichtslos erscheinen-den Kampf fortführen zu lassen, schloß sich der grüne peit-schende Vorhang um den Tempel.

Das war irgendwann in der Nacht gewesen. Doch dann war die grüne Mauer zum Stillstand gekommen. Die roten Samen-speere blieben im Boden stecken, und keine neuen Gewächse wuchsen daraus hervor. Als ob die dämonische Armee, der hin und her wogende, peitschende Dschungel spüre, daß ihm ein nicht greifbares Hindernis in den Weg gelegt war, schwoll das Ächzen und Singen an, ließ die Krieger die Hände auf die Ohren drücken und schreiend umherlaufen. Mit ungestümer Gewalt warf sich die grüne Mauer nach vorne, doch sie faßte keinen Fuß mehr. Im Gegenteil verfärbten und rollten sich jene Pflanzen dort ein, wo sie die giftigen Hecken erreicht und zum Teil überwunden hatten.

Ungläubig hatte Mythor dagestanden und zum Baum des Lebens geblickt, doch dessen Leuchten war erloschen. Hapsusch war auf die Knie gefallen.

Wenngleich die Leoniter und Mythor nun, während der letz-ten Stunden der Nacht, nicht mehr direkt bedroht waren, machte doch das Singen und Ächzen des ungestüm peit-schenden Dschungels diese Stunden zur Hölle. Mythor spürte, wie etwas von ihm Besitz ergreifen wollte, und setzte sich den Helm der Gerechten auf. Schlagartig erlosch der fremde Einfluß. Dafür jedoch peinigten ihn die drängenden Einflüste-rungen. Mehrere Male bewahrte er Krieger und Tempeldiener vor dem sicheren Tod, als diese, von dem dämonischen Einfluß getrieben, blind in die Pflanzenmauer hineinrennen

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wollten. Nun stand die Sonne im Osten blutrot am Himmel, und Stille

war eingekehrt. Hapsusch schien am wenigsten fassen zu können, daß diese Nacht überstanden war. »Der Baum des Lebens wehrt sich«, sagte er.

Und Mythor glaubte zu wissen, was der alte Mann damit meinte.

Wurzelwerk prallte auf Wurzelwerk, Licht gegen Schatten. Was in diesen Stunden hier, im Westen von Leone, geschah, spiegelte den Zustand der gesamten Lichtwelt wider. Männer, Frauen und Kinder befanden sich auf der Flucht vor den Caer. Hütten, Städte und Gehöfte wurden zurückgelassen. Nur mit dem Nötigsten ausgestattet, wälzte sich eine noch unüberseh-bare Flüchtlingslawine gen Süden. Wer nicht entkam, wurde zu Sklaven der Inselhorden und ihrer schrecklichen Priester, oft dämonisch beeinflußt. Nie wieder würden diese Menschen das Licht sehen.

Diese Gedanken trieben Mythor den Zorn ins Herz, und er hörte sich murmeln: »Der Lichtbote brachte der Welt das Licht, aber es ist schutzlos den Mächten der Finsternis ausge-liefert. Das Licht gebar die Menschen, und die Menschen müs-sen darum kämpfen, im Licht leben zu dürfen.«

Hapsusch sah ihn erschrocken an. »Was meinst du damit?« fragte er.

Mythor blickte sich ein letztes Mal um. Die Pflanzen reckten ihre Spitzen starr in den blutroten Himmel. Nichts rührte sich. Die Zeit schien eingefroren.

»Du weißt es, mein Freund. Der Baum des Lebens wird ster-ben, falls nicht einer die Kräfte, die in ihm schlummern, zu wecken in der Lage ist. Der Lichtbote mag ihn gepflanzt ha-ben. Den Menschen, den Kindern des Lichtes, obliegt es, ihn zu benutzen.«

Hapsusch schien erstaunt darüber, solche Worte aus dem

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Munde Mythors zu hören. Seine Achtung vor ihm stieg weiter. »Ich führe dich zu ihm«, sagte der Lebensgärtner.

»Warte dann auf mich und versuche, etwas von seinem We-sen zu ergründen. Ich komme zu dir, sobald auch ich mich vorbereitet habe.«

Ohne sich umzublicken, schritt der Greis voran. Mythor folg-te ihm, das Gläserne Schwert in der Rechten. Die Einflüste-rungen des Helms wurden noch stärker, je mehr er sich dem Baum des Lebens näherte.

Vor Hapsusch wichen die giftigen Dornenhecken zur Seite, als habe der greise Lebensgärtner sie mit einem Bann belegt. Hapsusch führte Mythor durch das Labyrinth. Mit sicherem Schritt bewegte er sich durch den Irrgarten, als habe er nie im Leben etwas anderes getan.

Niemand begleitete die beiden Männer. Beim Tempel nah-men die Krieger und Tempeldiener den Kampf gegen die er-starrten Dämonenpflanzen wieder auf, ohne mehr als ein, zwei Stunden Ruhe gehabt zu haben. Sie alle wußten, worum es ging, und das gab ihnen schier übermenschliche Kraft.

Der Tempel war nicht mehr zu sehen, als sich die über-mannshohen Dornen ein letztes Mal teilten. Dann lag das La-byrinth hinter den beiden ungleichen Männern. Mythor sah den Baum des Lebens aus nächster Nähe. Das Blätterwerk war über ihm. Unzählige bis auf den Boden reichende Luftwurzeln hingen aus ihm herab, auf den Stamm zu so dicht, daß Mythor dessen wahre Stärke nicht ermessen konnte. Doch er mußte erkennen, daß er dieses uralte Gewächs vom Tempel aus zwar gesehen, keineswegs aber in seiner ganzen Erhabenheit erfaßt hatte. Hier, unter dem dichten Blätterwerk, das sich wie ein grüner Himmel über ihm ausbreitete, erhielt er einen Eindruck von der Macht, die dem Baum innewohnte. Und doch wußte er, daß er blind war, daß sich ihm diese Macht erst dann of-fenbaren würde, wenn er hoch in den Baum stieg, bis zur Spit-

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ze. »Dort, wo er der Sonne am nächsten ist«, hatte Hapsusch im

Tempel gesagt, »dort wirst du finden, wonach du suchen mußt.«

Vergeblich versuchte Mythor, etwas von den Januffen zu er-kennen.

Hapsusch bestäubte ihn noch einmal mit den Duftstoffen, die er unter seinem Umhang hervorholte, und reichte ihm nun das Fläschchen.

»Es mag sein, daß sich dir die Wächter des Baumes zeigen, während du auf mich wartest«, erklärte der Greis. »Dann vermeide es, in ihre beiden Gesichter zu schauen, denn wer ihr hinteres Gesicht schaut, verliert seinen Willen, Mythor. Sollten sie herabsteigen und dich angreifen wollen, so bestäube sie mit dem Inhalt des Fläschchens.«

Zwei der beim Baum des Lebens lebenden Löwen kamen ganz nahe heran und blickten Mythor aus unergründlichen Augen an.

»Befürchte nichts von ihnen«, sagte Hapsusch. Der Lebens-gärtner nickte Mythor noch einmal zu und schärfte ihm ein, daß er nicht ohne ihn versuchen solle, in den Baum zu steigen. Dann verschwand er, um sich selbst im Tempel vorzubereiten. Mythor stellte keine Fragen. Die Leoniter verfügten über keine Magie, abgesehen von den Fetischen, die überall um den Baum herum ausgebreitet lagen und stark dufteten. Sie alle bestanden aus den Früchten des Lebensgärtchens und schie-nen etwas bannen zu wollen, was Mythor nicht ermessen konnte. Hapsusch aber schien in seinen Tempel weitere Vor-kehrungen treffen zu wollen, die ihm in Mythors Gegenwart untersagt waren. Bestäuben hätte er sich auch hier können.

So wartete Mythor, und mit jedem Herzschlag wuchs seine Ungeduld. Allein gelassen, wurde er von jener Erregung er-griffen, die er nur zu gut kannte. Sie hatte von ihm Besitz er-

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griffen bei den Wasserfällen von Cythor, in Xanadas Lichtburg und vor Althars Wolkenhort, und doch fiel es ihm schwer, sie zu meistern.

Er bemühte sich, nicht zu denken, sich nicht vorzustellen, was ihn dort oben, hoch in der Krone des Baumes, erwartete. Es würde anders sein als in seinen Phantasien, und es bestand die Gefahr, daß er von der Wirklichkeit überrumpelt wurde.

So stand er da und starrte in den grünen Himmel über sich. Ab und zu war Rascheln im Laub zu hören, aber es kam von weit oben, wohin der Blick nicht reichte. Schwere Körper be-wegten sich durch das dichte Blätterwerk. Mythor hatte das Gefühl, von tausend Augen beobachtet zu werden.

Die Löwen umschlichen den Baum lautlos. Dann und wann blieb eines der stolzen Tiere stehen und sah zu ihm herüber.

Und die Signale des Helmes wurden dringender. Sie wiesen nach oben, in die Spitze des mächtigen Baumes, der Mythor nicht länger wie ein Baum erschien. Es war eine Welt für sich, eine Welt, die ihn ganz in sich aufnehmen würde, sobald er sie betrat.

Einladend hingen dicht vor ihm die Luftwurzeln, stärker als Schiffstaue, herab. Er brauchte nur danach zu greifen, an ihnen hochzuklettern und…

Mythor hielt an sich. Die Zeit verstrich. Es wurde bitter kalt. Die Sonne stieg im Osten höher, zog ihre ewige Bahn am Fir-mament, doch Mythor sah sie nicht. Nur an einigen Stellen, am Rand des pyramidenförmigen Laubdachs, schienen ihre Strahlen durch und wurden eins mit dem Grün über ihm.

Endlich hörte der Sohn des Kometen ein Geräusch hinter sich. Schritte näherten sich ihm. Mythor drehte sich nur halb um in der Gewißheit, den Lebensgärtner neben sich treten zu sehen.

Aber es war nicht Hapsusch, der nun dicht vor ihm ste-henblieb. Es war niemand, den Mythor hier und jetzt erwartet

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hätte. Es kostete ihn viel Überwindung, nicht die Hand zu he-ben und das zu verscheuchen, was er für einen Zauber halten mußte. Doch es war kein Zauber, keine magische Illusion.

»Kalathee«, flüsterte Mythor.

Sie trat auf ihn zu, berührte seine Hand und schlug den Blick nieder. Sie stand vor ihm, als wäre sie nie von ihm fort gewe-sen, schön, zerbrechlich und zart. Ihre Lippen waren ver-schlossen, als sie wieder aufblickte. Mythor hatte die erste Ü-berraschung verdaut. Wie lange hatte er nach der ehemaligen Weggefährtin gesucht! Nun war sie hier, am Baum des Lebens – und allein!

Wieder wich sie seinem Blick aus, als fürchte sie sich vor den Fragen, die auf sie zukommen mußten. Mythor aber empfand keinen Groll. Im Gegenteil schlich sich Freude über das Wie-dersehen, so unverhofft es auch kam, in sein Herz. Für einige Augenblicke gelang es ihm sogar, die drängenden Einflüste-rungen des Helmes zu ignorieren, die wieder stärker wurden, als erkenne der Helm die Gefahr, die von Kalathee ausging, als fürchte er, daß Mythor sein Ziel aus den Augen verlieren kön-ne.

Plötzlich, nachdem sie sich lange scheu gegenübergestanden hatten, wobei keiner von ihnen die ersten Worte fand, warf Kalathee sich Mythor laut schluchzend in die Arme. Oben im Laubwerk raschelte es heftig, als habe ihre Stimme die Wäch-ter des Baumes auf den Plan gerufen. Doch die Januffen blie-ben verborgen.

»Oh, Mythor!« schluchzte Kalathee, und der Sohn des Kome-ten umfaßte ihre zierlichen Schultern mit dem linken Arm und drückte sie an sich. »Vergib mir!«

»Still«, flüsterte Mythor. »Sei ganz still.« Sie machte sich von ihm los und starrte ihn an. Tränen ran-

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nen über ihre blassen Wangen. »Es… war nicht meine Schuld, Mythor! Es war Luxon, der mich zu dem trieb, was ich tat!«

Mythor war so tief bewegt, daß ihm gar nicht der Gedanke kam, wie Kalathee ohne Hapsusch den Weg hierher gefunden haben konnte, wie sie überhaupt nach Leone gekommen war. Er strich sanft über ihre Wangen und wischte die Tränen ab.

»Du bist zurück«, sagte er leise. »Nur das ist wichtig.« Wie zur Antwort verstärkte der Helm der Gerechten seine

Signale so sehr, daß Mythor versucht war, ihn abzusetzen. »Es ist nicht gut, denn du mußt mich verachten«, brachte sie

weinend hervor. »Oh, Mythor, Luxon hat mich gezwungen, mit ihm zu gehen. Ich wollte auf dich warten, nur auf dich.« Es war, als habe sie Jahre darauf gewartet, sich das von der Seele zu reden. Flüchtig blickte Mythor sich nach Hapsusch um, doch nichts war vom Lebensgärtner zu sehen.

»Als ich am Nadelfelsen auf dich wartete«, schluchzte Ka-lathee, »da kam er, und er sagte, daß er der wahre Sohn des Kometen sei. Ich lachte ihn aus, Mythor, aber er… er blendete mich mit seinen Worten. Ich wurde wankelmütig und…« Sie packte Mythors Schultern mit ihren zarten Händen. »Mythor, das alles hätte nie geschehen können, hättest du mich nicht behandelt, als ob ich dir gar nichts bedeute!«

»Du weißt, daß es nicht so ist. Beruhige dich, Kalathee!« »Nein, du sollst alles wissen! Denn es ist auch wichtig für

das, was du tun willst. Luxon hat mich geblendet, Mythor. Während du nur Augen für andere Frauen hattest, tat er alles für mich. Er gab mir die Liebe, die ich so sehr vermißte.« Sie schluchzte wieder. »Wenigstens ließ er mich dies glauben. Durch sein Auftreten, so selbstsicher und gewandt, durch al-les, was er tat, wie er mich anblickte und zu mir sprach… ich mußte schließlich glauben, daß er der wahre Sohn des Kome-ten sei. Er verzauberte mich. Und er sprach unentwegt von den Fixpunkten des Lichtboten, so, wie nur einer reden kann,

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der um diese Geheimnisse weiß. Er sprach von Schätzen, die auf uns warteten, viel kostbarer als alles, was Althars Wolken-hort und Xanadas Lichtburg beherbergten. Sein Wissen war es, was mich verzauberte, und daß er niemals versuchte, dich schlechtzumachen. Sein Auftreten war das eines Ausersehe-nen. So vieles kam zusammen, Mythor. Ich fiel darauf herein wie ein dummes Mädchen.« Sie sah Mythor flehend an. »Erst als er mich mitten im von den Caer beherrschten Gebiet schmählich im Stich ließ, erkannte ich seine wahre Natur. Er ist ein Betrüger und Abenteurer und ein Lügner und…«

»Wo ist er jetzt?« fragte Mythor, um seine Beherrschung rin-gend.

Zu vieles strömte auf einmal auf ihn ein. Da waren der Baum des Lebens und sein Ziel, das er nicht aus den Augen verlieren durfte, zu dem es ihn mit aller Gewalt drängte. Aber Kalathees Worte schlugen ihn gleichermaßen in ihren Bann, und sein aufsteigender Zorn auf Luxon tat ein übriges.

»Er ließ mich im Stich, ich sagte es doch. Ich weiß nicht, wo-hin es ihn zog, aber ich weiß, daß er zu den Fixpunkten des Lichtboten wollte, um sie ihrer Schätze zu berauben. Er mag schon hiersein, Mythor, oder auf dem Weg hierher!«

»Bist du deshalb gekommen? Um mich vor Luxon zu war-nen?«

»Auch, Mythor! Ich habe ihn unterschätzt! Du sollst nicht den gleichen Fehler begehen. Hüte dich vor Luxon! Aber nicht allein deshalb suchte ich dich. Ich bin hier, um dich um Ver-zeihung zu bitten. Ich möchte wieder an deiner Seite sein, My-thor!«

Mythor hörte das Rascheln über sich, und ein paar Luftwur-zeln wurden bewegt. Die Januffen mußten dicht über ihm sein. Mit der rechten Hand tastete er nach dem Fläschchen, das er sich in eine Tasche gesteckt hatte. Kalathees flehende Blicke ließen keinen Argwohn in ihm aufkommen. Ihre Worte er-

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schienen ihm offen und ehrlich. Er zog sie erneut an sich und redete leise auf sie ein. Ihr

Schluchzen verstummte. Hoffnungsvoll blickte sie ihn an. »Kannst du mir verzeihen, Mythor?« fragte sie kaum hörbar.

»Es gibt nichts zu verzeihen«, versicherte er sanft. »Im Ge-genteil habe ich dir zu danken, Kalathee. Und gebe das Schick-sal, das uns hier wieder zusammenführte, daß auch Nottr und Sadagar bald wieder bei uns sind.«

»Was ist mit ihnen?« fragte Kalathee etwas zu schnell, doch auch dies fiel Mythor nicht auf, der ungeduldig nach Hapsusch Ausschau hielt.

»Ich erkläre dir alles später. Dies ist nicht der Augenblick da-für.«

Sie schwieg und schmiegte sich an ihn. Mythor wußte, daß er nun doppelt wachsam sein mußte,

obwohl er daran zweifelte, daß Luxon, den er, wie er glaubte, noch nie gesehen hatte, bereits bis zum Lebensgärtchen vor-gedrungen sein konnte.

Kalathees Körper war warm, und ihre Wärme schien auf ihn auszustrahlen. Seine Freude über das Wiedersehen war echt. Und er glaubte nicht daran, daß es ein Zufall war, daß sie ge-rade hier wieder zu ihm gestoßen war. Es mochte ein Omen sein, eine tiefere Bedeutung haben.

Und so war es auch, wenngleich Mythor die wahre Bedeu-tung noch nicht ahnte.

Kalathee aber war zufrieden. Sie hatte Zeit gewonnen für sich und für Luxon. Auch als Mythor sich nach weiterem War-ten entschloß, Hapsusch entgegenzugehen, fürchtete sie nicht mehr um Luxon.

Kalathee wich nicht von Mythors Seite, und als Mythor, der

sich schon im Kampf mit den Dornenhecken gesehen hatte,

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