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Der Kämpfer

Date post: 04-Jan-2017
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Zum Buch

Es scheint, als seien die letzten Tage der Menschheit gezählt, die vor Jahrhunderten voller Hoffnung den Weg zu den Sternen antrat. In diesen Jahrhunderten splitterte sich die menschliche Rasse auf in drei große Kulturen – die Dorsai als Kriegerkaste; die Friendlies, Männer und Frauen von tiefem Glauben; die Exotiker, Philosophen und Wissenschaftler auf der Suche nach den letzten Wahrheiten. Doch nun taucht wie aus dem Nichts eine neue Macht auf: die Anderen. Obwohl körperlich und in ihren Fähigkeiten abweichend, sind sie menschlich. Innerhalb weniger Jahre haben sie die Kontrolle über die meisten besiedelten Welten erlangt. Sie glauben, der Höhepunkt aller menschlichen Entwicklung zu sein. Ihr Ziel ist die absolute Herrschaft über alle Menschheitsplaneten. Doch ihr Sieg würde den völligen Stillstand und unweigerlich die Degeneration des Menschen bedeuten. In dieser apokalyptischen Zeit erscheint ein junger Mann auf der Bildfläche. Sein Name ist Hal Mayne. Auf ihm ruhen die letzten Hoffnungen der traditionellen Kulturen. Im Kampf gegen die Anderen soll er die Entscheidung herbeiführen, geschult von den Großen Frauen. Er muß tief in sich selbst hineintauchen, um die Kraft für die große Auseinandersetzung gegen seinen Erzfeind zu finden – Bleys Ahrens, den schattenhaften, mächtigen Anführer der Anderen …

Zum Autor

Gordon R. Dickson gehört zu den bekanntesten und beliebtesten SF-Autoren, ist mehrfacher HUGO- und NEBULA-Preisträger und wurde außerdem mit dem »E. E. Smith Memorial Award« sowie dem »August Derleth Award« ausgezeichnet. Der Dorsai-Zyklus zählt zu seinen berühmtesten Werken. Dickson, 1923 in Edmonton/Alberta geboren, begann 1950 nach Abschluß seines Studiums seine schriftstellerische Karriere und konnte auch als Anthologist glänzen. Inzwischen liegen weit über 150 Erzählungen und fast 40 Romane von ihm vor.

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GORDON R. DICKSON

Die letzte Enzyklopädie Der Kämpfer

MOEWIG

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MOEWIG Band Nr. 3781 Verlag Arthur Moewig GmbH, Rastatt

Deutsche Erstausgabe

Titel der Originalausgabe: THE FINAL ENCYCLOPEDIA

Aus dem Amerikanischen von Andreas Brandhorst Copyright © 1984 by Gordon R. DicksonCopyright © der deutschen Übersetzung

1987 by Verlag Arthur Moewig GmbH, RastattLektorat: Horst Hoffmann

Umschlagentwurf und -gestaltung: Franz Wölzenmüller, München Umschlagillustration: Ken Kelly/Agentur VEGA

Verkaufspreis inkl. gesetzl. Mehrwertsteuer Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg,

Niederalm 300, A-5081 Anif Printed in Germany 1987

Scan by ed209 k-lesen by Brrazo

Druck und Bindung: Ebner, Ulm

ISBN 3-8118-3781-8

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1 Nach dem äußeren Erscheinungsbild zu urteilen, sahen die Männer und Frauen von Rukhs Kommando nicht in erster Linie wie Guerillakämpfer aus, sondern eher wie Flüchtlinge. Der nachhaltigste Eindruck, der sich Hal darbot, als Jason ihn durch das Lager geleitete, war der von ausgesprochener Armut. Die wie Bienenstöcke geformten Zelte waren alt und an vielen Stellen geflickt. Die Kleidung der Kämpfer wies ebenfalls Löcher auf. Ihre Werkzeuge, die Unterkünfte und all die anderen Utensilien – alles schien sehr lange und sehr oft benutzt worden zu sein.

Nur die Waffen deuteten darauf hin, daß es sich nicht um Flüchtlinge handelte, entsprachen aber keineswegs der einer gut ausgerüsteten Kampfeinheit. Wenn ein Fremder diese Leute nicht für verarmte Flüchtlinge halten mochte, so aufgrund aller Hinweise doch zumindest für eine Gruppe heruntergekommener Gesetzloser. Insgesamt waren es offenbar einige Dutzend. Als sie sich zwischen den Bäumen befanden, revidierte Hal seine erste zahlenmäßige Schätzung, denn die meisten Zelte waren so in dem umgebenden Grün versteckt, daß sie vom Rand des Taleinschnitts weiter oben nicht gesehen werden konnten. Als Jason ihn am linksseitigen Ufer flußaufwärts führte, begegneten sie vielen Männern und Frauen, die sich mit häuslichen

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Arbeiten befaßten, die Dinge reparierten, Risse in Hosen, Hemden und Jacken zunähten und Ausrüstungsteile reinigten.

Das Alter der Kämpfer reichte von knapp zwanzig bis gut fünfzig Jahren. Kinder gab es hier nicht, und Hal sah auch keine wirklich alten Leute. Alle sahen auf, als Jason und Hal vorbeikamen. Einige lächelten, aber die meisten beobachteten sie nur einfach. Ihre Gesichter wirkten zwar nicht mißtrauisch, aber wachsam.

Nach ungefähr hundert Metern erreichten sie einen Ort, der eigentlich keine echte Lichtung darstellte, an dem die Bäume aber nicht ganz so dicht wuchsen und durch größere Lücken im Blätterdach der Himmel zu sehen war.

Einige Esel waren an Stämmen festgebunden und taten sich an dem spärlichen Gras und den anderen Boden­pflanzen gütlich, die das Sonnenlicht zum Wachstum reizte. Jason führte seinen Begleiter auf das erste der Tiere zu, klopfte ihm auf den Kopf, sah sich die Zähne an und strich dann über die Flanken.

»In guter Verfassung«, sagte er und trat zurück. »In letzter Zeit wurde Rukhs Kommando offenbar nicht zu stark von der Miliz bedrängt.«

Er sah Hal an. »Hast du schon einmal Esel aus der Nähe gesehen?«

»Vor vielen Jahren«, erwiderte Hal. »In einigen Parks auf der Erde werden noch welche gehalten und für Ausflüge eingesetzt.«

»Und hattest du während eines solchen Ausflugs einmal direkt mit einem Esel zu tun?« fragte Jason.

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Hal schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nur aus der Ferne gesehen – und natürlich über sie gelesen, als ich aufwuchs. Soweit ich weiß, haben sie große Ähnlichkeit mit Pferden.«

Jason lachte. »Und was nützt uns das?« »Ich meine nur … Nun, mein Wissen über Pferde

könnte sich hier vielleicht als nützlich erweisen.« Jason musterte ihn. »Du warst also lange genug auf der

Erde, um Erfahrungen im Umgang mit Pferden gehabt zu haben?« fragte er.

Hal fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut. »Entschuldige«, erwiderte er. »Ich habe Rukh mehr erzählt als dir – und ich kann dir noch immer nicht alles sagen. Für einen Augenblick lang habe ich vergessen, daß du nicht Bescheid weißt. Nun, ich bin tatsächlich auf Pferden geritten und weiß, wie man mit ihnen umgeht.«

Jason schüttelte langsam und überrascht den Kopf. »Im Ernst?« fragte er. »Keine Variformen? Richtige

und echte Pferde?« »Ja«, sagte Hal. Er hatte nicht daran gedacht, daß die meisten

Säugetiere der Erde – selbst die Variformen, die genetisch so gut wie möglich an ihre jeweiligen Bestimmungsplaneten angepaßt wurden – sich kaum oder gar nicht auf den anderen Welten vermehrten. Die Gründe dafür waren nach wie vor weitgehend unbekannt. Man vermutete jedoch, daß selbst die höchstentwickelten Tierarten im Gegensatz zum Menschen sich nur in einem geringen Maß an veränderte Umweltbedingungen gewöhnen konnten, insbesondere an unterschiedliche

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Abfolgen von Tag und Nacht und andere Zyklen, die den Biorhythmus beeinflußten. Je größer die Tiere, desto weniger schienen sie dazu in der Lage zu sein, sich unter Außenweltbedingungen zu vermehren – ein Problem, das sich mit dem der großen Raubkatzen vergleichen ließ, die in irdischen Zoos nur selten Nachwuchs zeugten. Pferde waren im Gegensatz zu Eseln auf den anderen Welten nahezu unbekannt – mit der Ausnahme von Dorsai, wo ihre Art aus irgendeinem Grund überleben konnte.

»Kennst du dich mit Gurtzeug aus? Und weißt du, wie man einen Packesel belädt?« fragte Jason.

Hal nickte. »Ich bin damals oft in die Berge gezogen«, erwiderte

er. »Ganz allein und nur mit einem Pferd und einem Packtier.«

Jason holte tief Luft und lächelte. »Rukh wird sich freuen, das zu hören«, sagte er. »Nun, sieh dir diese Esel einmal genauer an und sag mir, was du von ihnen hältst.«

Gemeinsam traten sie nacheinander an alle Tiere heran. Hal gewann den Eindruck, daß sie sich in einem fast schon erstaunlich gut zu nennenden Zustand befanden.

»Aber wenn es meine Tiere auf der Erde wären«, sagte er, als sie sich den letzten Esel angesehen hatten, »würde ich ihnen mehr Korn zu fressen geben und vielleicht auch noch einige Proteine hinzufügen.«

»Das schlag dir hier aus dem Kopf«, antwortete Jason daraufhin. »Diese Tiere müssen ebenso zurechtkommen wie die Männer und Frauen des Kommandos. Hier draußen kann man nicht einfach in ein Geschäft gehen

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und sich das kaufen, was man braucht – vorausgesetzt, man hat überhaupt das nötige Geld.«

Mit dem späten Nachmittag verblaßte das Sonnenlicht ein wenig, und als sie ihre Inspektion beendet hatten, wurde es Zeit für die zweite Mahlzeit dieses Tages. Jason erklärte Hal diese Angelegenheit kurz, als sie ins Lager zurückkehrten.

»Wir stehen hier mit der Sonne auf und gehen schlafen, wenn es dunkel wird«, sagte er unterwegs. »Die Leute frühstücken, wenn es hell genug ist, um zu sehen, was sie essen, und die Abendmahlzeit gibt es kurz vor Sonnen­untergang. Die Zeiten verschieben sich natürlich etwas, wenn wir höhere Breitengrade erreichen, wo es im Sommer rund sechzehn Stunden lang hell ist.«

»Hier hat jetzt gerade der Frühling begonnen, nicht wahr?« fragte Hal.

»Das stimmt. Im Tiefland ist es noch ziemlich schlammig.«

Der Küchenbereich war in einem etwas größeren Zelt untergebracht, das auf der anderen Seite der Haupt­lichtung zwischen den Bäumen stand. Darin befanden sich Lebensmittelvorräte und einige mit Energiezellen betriebene Zubereitungsgeräte. Außerhalb des Zeltes standen Töpfe, Teller und anderes Geschirr in Regalen. Drinnen hielten sich die Köchin – ein schlankes, strohblondes Mädchen von knapp zwanzig Jahren – und drei Helfer auf: ein Mann und zwei Frauen von gut vierzig Jahren. Die Vorbereitungen für die Mahlzeit waren fast abgeschlossen, und ein appetitanregender Duft zog über die Lichtung. Jason und Hal erhielten den

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Auftrag, die großen und aus Kunststoff bestehenden Kochbehälter, in denen die verschiedenen Speisen untergebracht waren, nach draußen zu tragen.

Als sie damit fertig waren und auch eine geradezu riesenhafte Kanne mit Harmonie-Kaffee bereitgestellt hatten, kamen die Angehörigen des Kommandos heran und erwarteten die Essensausgabe.

Sie stellten sich in einer langen Reihe auf und traten an den Behältern vorbei, wo sie von den drei Kochgehilfen und Jason und Hal die Mahlzeiten erhielten. Hal hielt eine große Schöpfkelle in der Hand und lud den Männern und Frauen damit eine Masse auf die Teller, die aussah wie graubrauner Porridge und sehr zäh und klebrig war. Rechts von ihm goß Jason eine Art Soße über den Brei.

Als die letzten Kämpfer ihr Essen erhalten hatten, bedienten sich auch die drei Kochgehilfen und schließlich Jason und Hal. Als letzte kam die Köchin namens Tallah an die Reihe. Sie nahm sich nur eine kleine Portion und kehrte in ihr Zelt zurück.

Jason und Hal wandten sich mit ihren Tellern von den Behältern ab und blickten sich nach einer Stelle um, wo sie ihr Essen bequem einnehmen konnten. Die meisten anderen Männer und Frauen waren mit ihren Mahlzeiten in die jeweiligen Zelte zurückgekehrt.

»Kommen Sie hierher, Howard. Ich würde gern mit Ihnen sprechen.«

Bei dem klaren Klang der Stimme Rukhs drehte sich Hal um. Zusammen mit Gotteskind saß sie etwa zwanzig Meter vom Rand der Lichtung entfernt. Rukh hatte auf dem einen Ende eines umgestürzten Baumstumpfs Platz

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genommen, und James Gotteskind hockte auf dem anderen. Durch die natürliche Verwitterung war ein Teil der Borke abgesplittert. Hal trat auf sie zu, ließ sich im Schneidersitz im Gras nieder und sah sie an.

»Jason hat Ihnen alles gezeigt, ja?« fragte Rukh. »Essen Sie nur. Wir können uns unterhalten, während wir die Mahlzeit einnehmen.«

Hal probierte die breiige Menge, die er sich selbst auf den Teller geladen hatte, und sie schmeckte wie eine zermahlene Masse aus Kartoffeln und Reis und einigen Nüssen. Er bemerkte, daß Gotteskind nur einen Eintopf aus grünem Gemüse aß. Und er erinnerte sich daran, daß sich nur in einem der Behälter vor dem Kochzelt etwas befunden hatte, was eine gewisse Ähnlichkeit mit Fleisch aufwies; die einzelnen Rationen, so kam es ihm in den Sinn, konnten eigentlich nur den Sinn haben, die entsprechenden Erinnerungen der Männer und Frauen aufzufrischen.

»Ja«, antwortete er Rukh, »wir sind durch das Lager gegangen und haben uns auch die Esel angesehen. Jason ist offenbar der Meinung, daß sich meine auf der Erde mit Pferden gesammelten Erfahrungen im Umgang mit den Tieren als nützlich erweisen können.«

Rukh hob die Augenbrauen. »Das glaube ich auch«, sagte sie. Wie Jason vorher­

gesagt hatte, wirkte sie recht zufrieden und ließ die Gabel sinken. »Ich habe mein Versprechen gehalten und niemandem – auch James nicht – etwas von dem gesagt, was Sie mir erzählten. Andererseits ist James der stellvertretende Befehlshaber dieses Kommandos und

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sollte daher vieles von dem erfahren, was ich von Ihnen weiß. Ich habe ihn also gebeten, gut zuzuhören, während ich Ihnen einige bestimmte Fragen stelle.«

Hal nickte, aß weiter und war sehr aufmerksam. Das Essen schmeckte nicht ganz so übel, wie es aussah, und sein wie immer sehr großer Appetit veranlaßte ihn dazu, es regelrecht in sich hineinzuschlingen.

»Wie ich feststelle, tragen Sie keine Waffe«, sagte Rukh. »Selbst angesichts der Dinge, die Sie mir erzählt haben, muß ich Sie fragen, ob Sie es prinzipiell ablehnen, Waffen zu benutzen.«

»Prinzipiell nicht«, erwiderte Hal. »Aber ich will ganz ehrlich sein. Ich bin im Umgang mit den verschiedensten Waffen ausgebildet worden, hatte jedoch nie Gelegen­heit, sie auch in einem Kampf einzusetzen. Ich bin mir also nicht sicher, wie ich reagieren werde, wenn es zum Ernstfall kommt.«

»Das ist niemand«, warf Gotteskind ein. Hal sah den Mann an und bemerkte dessen durchdringenden und prüfenden Blick. Es war kein offenes Mißtrauen, das Gotteskind ihm entgegenbrachte, nur eine Art gesunder Argwohn. Und seltsamerweise, fand Hal, ließ sich die Unverhohlenheit seines fast starren Blicks mit der vergleichen, die kleinen Kindern zu eigen ist. »Wenn Ihr das erstemal direkt gegen einen Feind gekämpft habt«, sagte er und benutzte dabei die besondere Sprechweise, die in der Regel von den besonders religiösen Quäkern verwendet wurde, »werdet Ihr es wissen. Bis dahin sind solche Dinge Geheimnisse Gottes.«

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»An was für welchen Waffen sind Sie denn ausgebildet worden?« fragte Rukh.

»An Konusgewehren, Nadlern, Schrapnellkatapulten aller Art, darüberhinaus auch an verschiedenen Energie- und Handfeuerwaffen sowie an Stab und Stock, Messern,Äxten, Schlingen, Speeren, Ketten, Armbrüsten, Bögen und …« Hal brach ab, als ihm plötzlich die Länge der Auflistung bewußt wurde. »Wie gesagt: Ich habe nur damit geübt, und als Kind hielt ich die ganze Sache für nichts weiter als ein Spiel.«

Gotteskind drehte langsam den Kopf und sah Rukh an. Sie wechselten einen kurzen Blick.

»Ich habe allen Grund zu der Annahme, Howard zu glauben«, sagte Rukh an die Adresse Gotteskinds gerichtet.

James musterte Hal und sah dann Tallah an, die plötzlich herangekommen war.

»Geben Sie mir Ihren Teller«, sagte Tallah und streckte die Hand aus. »Ich werde ihn erneut für Sie füllen.«

»Das werdet Ihr nicht«, erwiderte Gotteskind. »Ich durchschaue Euch und Euer Bestreben, mich in Versuchung zu führen und sündig werden zu lassen.«

»Ich wollte Ihnen nur ein wenig von dem Fraß anbieten, von dem Sie sich zu ernähren belieben. Es ist mir egal, ob Sie an Vitaminmangel sterben. Warum sollte mich das auch kümmern? Wir können uns überall einen zweiten stellvertretenden Befehlshaber besorgen.«

»Ihr könnt mich nicht hinters Licht führen. Ich kenne Eure Tricks und weiß, daß Ihr mir manchmal andere

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Dinge ins Essen mischt. Ich habe Euch schon einmal dabei erwischt, Tallah.«

»Nun, dann gehen Sie meinetwegen vor die Hunde!« platzte es aus Tallah heraus. Ihr Zorn, so stellte Hal fest, war nicht gespielt. »Machen Sie so weiter wie bisher und kratzen Sie ab!«

»Immer mit der Ruhe«, warf Rukh besänftigend ein. »Warum befehlen Sie ihm nicht zu essen?« wandte sich

Tallah an sie. »Wenn Sie ihm die Anweisung gäben, würde er bestimmt etwas Anständiges essen.«

»Würdest du das, James?« fragte Rukh den älteren Mann.

»Nein«, erwiderte Gotteskind. »Und ob er das würde. Sie müßten es nur befehlen!« »Regen Sie sich nicht auf«, sagte Rukh. »Nun, James,

wenn es wirklich erforderlich wird, könnte ich mich tatsächlich dazu gezwungen sehen, dir zu befehlen, Speisen zu essen, die du für sündig erachtest. Aber derzeit habe ich nichts gegen deine Wahl der Mahlzeiten einzuwenden. Wenn ich deinen Teller fülle – könntest du genug Vertrauen aufbringen, um nicht zu argwöhnen, daß ich dir etwas hineinmische, das du normalerweise ablehnst?«

»Euch vertraue ich natürlich«, erwiderte Gotteskind barsch. »Wie könnt Ihr das in Zweifel ziehen?«

»In Ordnung«, sagte Rukh. Sie stand auf, nahm ihm den Teller ab und war schon

auf halbem Weg zum Kochzelt, als James aufsprang und ihr nacheilte.

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»Aber ich brauche niemanden, der mich bedient …«, rief er. Er schloß zu Rukh auf, und gemeinsam traten sie an die Behälter heran und wählten eine zweite Portion aus.

»Diese alten Propheten!« entfuhr es Tallah aufgebracht, als sie sich zu Hal umwandte. Sie starrte ihn einige Sekunden lang finster an und lächelte dann. »Sie verstehen die ganze Sache nicht, wie?«

»Ich sollte wohl«, erwiderte Hal. »Ich habe das Gefühl, ich müßte begreifen, was das bedeutet, aber das ist leider nicht der Fall.«

»Es gibt nicht mehr viele von ihnen«, sagte Tallah. »Das dürfte der Grund sein. Wo sind Sie aufgewachsen?«

»Nicht auf Harmonie.« »Das erklärt alles. Eintracht kann man in diesem Sinn

kaum als eine Welt des Herrn bezeichnen. James … Sie sollten ihn niemals James nennen!«

»Nein?« »Niemand von uns nennt ihn James, Rukh

ausgenommen. Aber wie dem auch sei: Er ist einer von denen, die noch immer an den alten Diätbestimmungen festhalten, die bei den meisten Sekten Gültigkeit hatten, als wir alle noch sehr arm waren und uns nur von Gras und Kräutern ernähren mußten – damals, als alles, was nicht dem unmittelbaren Überleben diente, als Versündigung vor dem Angesicht des Herrn galt. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum er sich nach wie vor allein mit diesem Zeug begnügt. Aber er ist offenbar davon überzeugt, daß Gott ihm eine Vernachlässigung

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der Diät nicht verzeihen würde – obwohl er sein Leben lang für den Glauben kämpfte. Und obgleich er sich selbst als einen der Auserwählten bezeichnet.«

Hal erinnerte sich daran, daß von den selbsternannten »Auserwählten« einer jeden Sekte auf Harmonie oder Eintracht angenommen wurde, das himmlische Paradies sei ihnen gewiß, ganz gleich, was sie auch taten – allein aufgrund der Tatsache, daß sie eben Auserwählte Gottes waren.

»Und wenn wir unterwegs sind … es ist einfach unmöglich, immer die Gemüse zu finden, die er ißt. Mit unseren Vorräten sind wir nicht dazu in der Lage, ihm eine ausgewogene Kost zu gewährleisten. Rukh wird irgendwann keine andere Wahl bleiben, als ihm zu befehlen, etwas anderes zu essen.«

»Warum hat sie das nicht schon längst getan?« Hal probierte seine eigene Portion des Gemüseeintopfs. Er schmeckte sonderbar und war recht pikant – nicht gerade unangenehm, aber auch nicht überwältigend.

»Weil er sich nach wie vor große Vorwürfe machen würde, die Diätbestimmungen gebrochen zu haben – selbst wenn das nicht seine Schuld wäre. Ah, dort kommen sie. Wenigstens hat Rukh ihm ordentlich den Teller gefüllt.«

Tallah ging fort. Rukh und Gotteskind traten auf sie zu und nahmen wieder Platz.

»Wir haben zwei Aufgaben«, wandte sich Rukh an Hal. »Während der kommenden Monate werden wir versuchen, sie zu bewältigen und gleichzeitig der Miliz zu entgehen, und wir legen dabei mehr als tausend

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Kilometer zurück. Wenn die Miliz uns entdeckt, erwarte ich von Ihnen, daß Sie Waffen benutzen. Sollten wir in keine Kämpfe verwickelt werden, haben Sie ebenso zu arbeiten wie alle anderen in diesem Kommando. Und das bedeutet: so hart wie möglich, vom Aufstehen beim Morgengrauen bis zum Schlafengehen bei Sonnenunter­gang. Als Gegenleistung dafür werden wir versuchen, Sie angemessen zu ernähren, Ihre Freiheit zu schützen und Sie am Leben zu erhalten. Für dieses Kommando – wie auch für alle anderen Kampfgruppen, die von den Schergen der Anderen gejagt werden – gibt es weder Feiertage noch Freizeit. Wir sind einzig und allein darauf konzentriert zu überleben. Verstehen Sie, auf was Sie sich einlassen?«

»Ich glaube ja«, sagte Hal. »Und in jedem Fall: Würde ich versuchen, mich allein durchzuschlagen, hätte ich es noch weitaus schwerer.«

»Damit haben Sie recht.« Rukh nickte. »Es gibt da noch zwei weitere Punkte. Erstens: Ich erwarte von Ihnen, daß Sie jedem Befehl, den Sie von mir oder James erhalten, sofort Folge leisten, ohne groß Fragen zu stellen. Sind Sie dazu fähig – und damit einverstanden?«

»Das gehörte zu den ersten Dingen, die ich lernte, als ich aufwuchs«, sagte Hal. »In kritischen Situationen bedingungslos zu gehorchen.«

»Gut. Zweitens: Jason gehörte schon einmal einem Kommando an, und außerdem ist er des Glaubens. In den nächsten Wochen werden Sie feststellen, daß er sich recht rasch eingewöhnt und dann einen festen Platz findet, der seinen Fähigkeiten gerecht wird. Sie hingegen

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sind ein Fremder. Sie kennen nicht unsere Art. Und das wird dazu führen, daß alle im Lager meinen, rangmäßig über Ihnen zu stehen. Bestimmt wird Ihnen jeder irgendwann einmal Befehle geben. Glauben Sie, Sie können diese Anweisungen ebenso rasch und bereit­willig ausführen wie die von James und mir?«

»Ja«, sagte Hal. »Wenn Sie bei uns bleiben wollen, müssen Sie das

auch«, meinte Rukh. »Und vielleicht stellen Sie fest, daß es nicht ganz so einfach ist, wie Sie annehmen. Bestimmt kommt einmal der Tag, an dem jemand Ihnen einen Befehlt gibt, der Ihre Waffenkenntnis tangiert, und auch wenn Sie sicher sind, daß Sie weitaus mehr davon verstehen als der Betreffende, müssen Sie gehorchen – oder uns verlassen. Denn ohne diese Art von bedingungslosem Gehorsam kann unser Kommando nicht überleben.«

»Ich verstehe«, sagte Hal. »Gut. Ich verspreche Ihnen, daß Sie langfristig für alle

Ihre Fähigkeiten, die Sie uns beweisen, die angemessene Anerkennung erhalten werden. Doch wir dürfen nicht das geringste Risiko eingehen und müssen Sie so lange als den Geringsten von uns einstufen, bis wir Sie besser einschätzen können.«

Daraufhin begann Rukh wieder zu essen. »Ist das alles?« fragte Hal. Sein Teller war leer, und er

befürchtete, nicht rechtzeitig zum Kochzelt zurück­kehren zu können, um ihn noch einmal zu füllen.

»Das ist alles«, bestätigte Rukh. »Wenn Sie fertig sind, helfen Sie der Köchin und ihren Gehilfen beim

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Saubermachen, und anschließend suchen Sie Jason auf. Er wird ein Zelt und Ausrüstung für Sie beide finden. Wenn Sie sich eingerichtet haben, dürfte es schon dunkel sein, und Sie sollten sich schlafen legen und Kräfte sammeln – obwohl es Ihnen natürlich niemand verwehren kann, sich zu den anderen Leuten ans Lagerfeuer zu setzen. Ich würde es Ihnen aber nicht raten, zu lange aufzubleiben. Morgen wartet ein langer und arbeitsreicher Tag auf Sie. Und die kommenden Tage werden ebenso anstrengend sein.«

»In Ordnung«, sagte Hal. »Danke.« Er stand auf und trat ans Kochzelt heran. Dort füllte er

seinen Teller erneut, verspeiste eine Mahlzeit und zögerte, da er nicht wußte, ob er noch ein drittes Mal zulangen sollte. Tallah sah sein Zaudern und sagte ihm, es sei ganz in Ordnung, wenn er so viel esse, wie er wolle.

»Zumindest derzeit«, schränkte sie ein. »Wenn die Vorräte des Kommandos zur Neige gehen, werden Sie das erfahren wie alle anderen auch. Im Augenblick haben wir in dieser Hinsicht keine Probleme. Wir sind in Reichland, und es tut gut, Leute ordentlich essen zu sehen.«

»Reichland?« fragte Hal. Tallah lachte. »Dies ist ein Distrikt, in dem es viele

Gläubige gibt, und sie haben so viele Lebensmittel und andere Dinge, daß sie uns helfen können.«

»Ich verstehe.«

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»Wenn Sie fertig sind, sollten Sie sich die Speisenbehälter vornehmen. Tragen Sie sie an den Fluß und waschen Sie sie. Anschließend können Sie gehen.«

Hal aß, reinigte die Behälter und ging. Es wurde nun rasch dunkel. Zwischen den Bäumen suchte er nach Jason und hoffte darauf, ihn zu finden, ohne jemanden fragen zu müssen. Schließlich aber war er gezwungen, sich bei einem fast kahlköpfigen, aber immer noch recht jung aussehenden Mann zu erkundigen, der im Schneidersitz vor einem der Zelte saß und ein Paar Stiefel mit neuen Schuhnägeln versah.

Der Mann ließ den Hammer sinken und streckte die rechte Hand aus, um Hal zu begrüßen.

»Joralmon Troy«, stellte er sich vor. »Sie sind Howard Immanuelson?«

»Ja«, sagte Hal und schüttelte ihm die Hand. »Jason Rowe hat drüben bei den Tieren ein Zelt für Sie

beide errichtet. Entweder ist er jetzt dort oder füttert noch immer die Esel. Sie sind nicht des Glaubens?«

»Nein«, bestätigte Hal. »Aber Sie verachten Gott nicht?« »Ich wurde mein Leben lang gelehrt, nichts zu

verachten.« »Dann ist alles in Ordnung«, sagte Joralmon. »Da Gott

alles ist, kann jemand, der nichts verachtet, auch Ihn nicht verachten.«

Er legte Stiefel, Hammer und Nägel beiseite, direkt neben sich in den Eingang des Zeltes. »Zeit für das Abendgebet«, sagte er. »Manche beten allein, aber einige

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von uns versammeln sich abends und morgens. Sie sind uns jederzeit willkommen.«

Er sah zu Hal auf und erhob sich. Sein Blick zeichnete sich durch eine einfache Direktheit aus, eine weniger intensive Version der Unverhohlenheit Gotteskinds.

»Ich glaube, heute abend kann ich leider nicht«, sagte Hal.

Durch das Halbdunkel kehrte er dorthin zurück, wo die Esel angebunden gewesen waren. Die Schatten um ihn herum wuchsen zusehends in die Länge, und dadurch wirkte der Wald größer: Die Bäume sahen aus wie große Säulen, die das sich trübende Himmelsgewölbe stützten. Eine etwas kältere Brise wehte an den Stämmen entlang und kühlte das Gesicht Hals.

Er entdeckte das Zelt etwas abseits der Stelle, an der sich die Esel befanden, und es stand neben einem größeren, dessen Eingangsplanen zugezogen und versiegelt waren. Aus diesem größeren Unterstand driftete ein schwacher, modriger Geruch hervor.

»Howard!« Jason kam lächelnd um das Zelt herum. »Was hältst du davon?«

Hal betrachtete den kleinen Bau. Auf der Erde wäre es ihm geradezu unvorstellbar erschienen, in ein solches Ding zu kriechen und zu schlafen, ohne es entweder neu aufgebaut und durch ein anderes ersetzt zu haben. Vor langer Zeit mußte es einmal ein prächtiges Zelt gewesen sein, das für vier Personen und ihr Gepäck Platz bot. Jetzt aber machte es aufgrund vieler Reparaturen einen armseligen Eindruck, und der Stoff der Planen sah aus, als könne er jeden Augenblick reißen.

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»Gute Arbeit«, sagte Hal. »Es war wirklich Glück, daß sie überhaupt noch ein

Zelt für uns hatten«, sagte Jason. »Einige Leute begannen schon damit, für uns einen Unterstand aus Zweigen zu bauen … Ach, da fällt mir noch ein: Wir haben auch Fütterungsmaterial für die Schlafsäcke bekommen. In dieser Höhe können wir das auch gut brauchen.«

»Wie hoch sind wir denn?« fragte Hal, als er sich beugte und Jason ins Zelt folgte. Unter der an Dutzenden von Stellen geflickten und nach Essen und Waffenöl riechenden Plane hatte Jason die Schlafsäcke jeweils an den gegenüberliegenden Seiten ausgerollt, wobei sich die Fußenden unter dem höchsten Punkt der Hauptstützleiste trafen. Die Rucksäcke und Ausrüstungsmaterialien lagen neben den Kopfbereichen, und Jason hatte sichergestellt, daß sie die Plane nicht berührten und so vor möglicher Kondensationsfeuchtigkeit geschützt waren. Jason berührte die Glühröhre an der Hauptstütze, und ein angenehmer und gelblicher Schein erhellte das Innere des Zeltes.

»Ein wenig mehr als zweitausend Meter«, erwiderte Jason. »Und wenn wir aufbrechen, geht es noch höher empor.«

Er war offenbar guter Stimmung und stolz auf ihr Zelt, versuchte andererseits jedoch nicht, Hal zu entsprechenden Komplimenten zu nötigen.

»Sehr gut«, sagte Hal und drehte sich im Kreis. »Wie hast du das fertiggebracht?«

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»Wir haben das alles allein den Leuten dieses Kommandos zu verdanken«, sagte Jason. »Sie konnten uns all das geben, was wir brauchen. Ich wußte, du würdest überrascht sein.«

»Das bin ich in der Tat«, bestätigte Hal. »Nun, jetzt hast du Gelegenheit genug gehabt, dir

unsere Unterkunft anzusehen«, sagte Jason. »Laß uns ans Hauptfeuer gehen; dort können wir uns mit den anderen unterhalten. Wir müssen der Kochgruppe helfen, aber morgen werden wir uns auf den Aufbruch vorbereiten.«

Sie löschten das Licht der Glühröhre und verließen das Zelt. Das Lagerfeuer, von dem auch Rukh und Joralmon gesprochen hatten, war abseits des eigentlichen Lagers entzündet worden, flußaufwärts jenseits des gegenüberliegenden Randes der Lichtung. Es war ein recht großes Feuer, und es wärmte einen voluminösen Kaffeebehälter, an dem sich, wie Jason erklärte, all diejenigen trafen, die nach der Arbeit und den Gebeten des Tages noch Vergnügen an Gesprächen fanden. Als Hal und Jason eintrafen, hatten sich bereits sechs Männer und Frauen eingefunden, und sie tranken Kaffee und unterhielten sich. Im Verlauf der nächsten halben Stunde verdreifachte sich diese Anzahl.

Jason und Hal schenkten sich Kaffee ein, ließen sich ebenfalls am Feuer nieder und genossen die Wärme. Nacheinander stellten sie sich den anderen Kämpfern vor, und kurz darauf setzten die Männer und Frauen ihre vorherigen Gespräche fort.

»Wozu dient das Zelt hinter uns?« wandte sich Hal an Jason.

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»Zu Experimenten«, erwiderte der mit gedämpfter Stimme.

»Experimenten?« Hal wartete auf eine genauere Erklärung Jasons, aber sein Begleiter lächelte nur.

»Ich verstehe nicht«, sagte Hal. »Was meinst du mit ›Experimenten‹?«

»Es geht dabei um eine … militärische Waffe«, erwiderte Jason schließlich. »Eine, die noch nicht ganz einsatzbereit ist.«

Hal runzelte die Stirn. Jasons Stimme hatte zögernd geklungen. Er musterte ihn, und der Ausdruck seines Gesichts erschien ihm sonderbar. Dann erinnerte er sich an die Worte Jasons über die mangelnde Abschirmung der Latrinenecke in der Zelle des in der Stadt gelegenen Hauptquartiers der Miliz.

»Aufgrund des Geruches«, sagte er, »schließe ich auf organische Materialien. Was für Stoffe befinden sich in dem Zelt dort?«

»Pscht«, machte Jason. »Schrei nicht so laut. Körperflüssigkeiten.«

»Körperflüssigkeiten? Was denn für welche? Urin?« »Pscht.« Hal starrte ihn groß an und dämpfte gehorsam die

Stimme. »Gibt es irgendeinen Grund, warum ich nicht …«

»Keineswegs!« erwiderte Jason und sprach noch immer ganz leise. »Doch niemand, der auch nur eine Spur von Taktgefühl hat, brüllt solche Worte einfach heraus. Anders geht es nun einmal nicht. Und es gibt

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bereits genügend schmutzige Witze über den entsprechenden Vorgang.«

Hal wechselte das Thema. »Für welche Art von Waffe braucht man Urin?« fragte

er. »Und außerdem: Bei den Waffen, die ich bisher in diesem Lager gesehen habe, handelte es sich um Konusgewehre und tragbare Nadlergeschütze – abgesehen von einigen wenigen handlichen Energieschleudern wie zum Beispiel der, die Rukh bei sich führt.«

Jason blickte ihn überrascht an. »Woher weißt du, daß Rukh mit einer Energieschleuder ausgerüstet ist? Sie öffnet das Holster nur dann, wenn sie die Waffe einsetzen will.«

Hal konnte darauf nicht sofort Antwort geben, nahm sich einige Sekunden Zeit und dachte nach. Bis zu diesem Augenblick hatte er es für ganz selbstverständlich gehalten, davon auszugehen, daß es sich bei der Waffe Rukhs um eine Energieschleuder handelte.

»Durch das Gewicht«, erwiderte er schließlich. »Und darauf kann man aufgrund der Art und Weise schließen, wie das Holster am Gürtel zerrt. Von allen Waffen dieser Größe hat nur eine energetische ein entsprechendes Gewicht.«

»Entschuldigen Sie«, erklang eine Stimme über ihnen. Sie sahen auf und musterten einen stämmigen Mann, der etwa im Alter Gotteskinds war. Er trug eine schwere Kampfjacke und eine dicke Hose. »Ich bin Morelly Walden. Ich hatte außerhalb des Lagers zu tun und daher

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bisher nicht die Gelegenheit, Sie kennenzulernen. Wer von Ihnen ist Jason Rowe?«

»Ich«, sagte Jason, als er zusammen mit Hal aufstand und sie den Neuankömmling begrüßten. In dem kantigen Gesicht Waldens zeigten sich zwar nur wenige Falten, aber die Haut war rauh und trocken.

»Ich kenne Columbine, und er erwähnte einmal, daß Sie seinem Kommando angehörten. Und Sie sind …?«

»Howard Immanuelson.« »Und Sie stammen nicht von dieser Welt? Von

Eintracht also?« »Tatsächlich bin ich weder auf Harmonie noch auf

Eintracht geboren.« »Aha. Nun, seien Sie uns trotzdem willkommen.« Eine Zeitlang unterhielt sich Walden mit Jason über

verschiedene Angehörige des Kommandos Columbines. Weitere Kämpfer stießen von Zeit zu Zeit zu ihnen und stellten sich vor. Jason führte angeregte Gespräche mit ihnen, doch abgesehen von kurzen Vorstellungen richtete kaum jemand ein Wort an Hal.

Er setzte sich wieder, hörte aufmerksam zu und beobachtete das Feuer. Der Instinkt von Tieren und kleinen Kindern, so hatte Walter der Unterweiser ihn gelehrt – tatsächlich handelte es sich dabei um einen allgemeinen Reflex, der Menschen aller Altersgruppen zu eigen war –, veranlaßte die Betreffenden dazu, einen Fremden zunächst zu meiden, sich ein Bild von ihm zu machen und sich an sein Eindringen in ihre Welt zu gewöhnen. Und erst dann, wenn sie dazu bereit waren, machten sie den Versuch, mit ihm zu kommunizieren.

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Wenn die anderen Angehörigen des Kommandos Rukhs erst gelernt hatten, ihn zu akzeptieren, so überlegte Hal, würden sie auch mit ihm sprechen.

Er gab sich mit dieser Einsicht zufrieden. Am Morgen dieses Tages war er noch ein Fremder in einer fremden Welt gewesen, hilflos und allein. Nun aber hatte er bereits einen Platz gefunden. Das Lagerfeuer hatte etwas Vertrautes, und er erachtete die Männer und Frauen, die sich darum herum versammelt hatten, fast schon als eine Art Familie. Das war ein Gefühl, das sich Hal seit dem Tod seiner drei Mentoren nicht mehr offenbart hatte – abgesehen von dem Tag im Bergwerk auf Coby, als er zum Brenner befördert worden war. Eine Familie, deren Angehörige sich am Abend zusammensetzten. Einige Gespräche, die er mithörte, stellten nur Höflichkeitskonversationen dar, während es in anderen um gemeinsame Verantwortlichkeiten oder Probleme ging, die von Leuten diskutiert wurden, die tagsüber infolge unterschiedlicher Aufgaben voneinander getrennt gewesen waren. Als weitere Kämpfer an das Lagerfeuer herantraten, wurde mehr Holz nachgelegt. Daraufhin loderten die Flammen höher empor, und ihr flackerndes Licht schob den Rand der schwarzen Kugel aus Nacht, in der sie sich alle befanden, weiter hinaus. Sie waren im finsteren Freien vereint, innerhalb eines immateriellen Hauses aus Wärme, Freundschaft und gemeinsamen Bestrebungen.

Diese Eindrücke erweckten plötzlich wieder das Poesieempfinden in Hal, das sich nach langem Schlaf zum erstenmal beim Anblick Rukhs erneut in ihm geregt

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hatte. Doch dieses Fühlen ließ nicht die Reime eines neuen Gedichts in Hal entstehen, sondern erinnerte ihn:

Sie ist lang, die Nacht unseres Wartens, Doch Geduld lautet unser Befehl …

Das waren die ersten beiden Zeilen eines Gedichts, das er im Alter von zehn Jahren geschrieben hatte – nach einer Erzählung Walters, von der er sehr beeindruckt worden war. In dieser Schilderung ging es um die jahrhundertelange Suche der Exoten nach einer entwickelten Form des Menschen, einer wahrhaft erwachsen gewordenen Spezies, die alle gegenwärtigen Schwächen überwunden hatte und nicht mehr die alten Fehler machte. Wie die meisten Gedichte, die in sehr jungen Jahren geschrieben wurden, steckte die größte Ausdruckskraft in den ersten Zeilen, während es sich beim Rest nur um Triviales handelte. Seit jenen Tagen hatte es Hal gelernt, nicht sofort die ersten Worte zu Papier zu bringen, die ihm in den Sinn kamen. Man brauchte Selbstdisziplin und Erfahrung, um sich das Unbewußte bewußt zu machen und die Zeilen so lange im Kopf hin und her zu schieben, bis das ganze Werk fertig war und komplett Gestalt angenommen hatte.

Hal konzentrierte sich nun darauf. Er zwang seine Gedanken dabei nicht in eine bestimmte Richtung, sondern gab sich ganz dem Eindruck der ihn umgebenden Dunkelheit hin, der Wärme des Feuers, den Stimmen der Männer und Frauen. Und er setzte die mächtigen Kräfte der Kreativität unkontrolliert frei, wurde zu einem Beobachter, der die Bilder betrachtete,

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die sich in ihm formten, die Erinnerungen, gute und schlechte, frische und verblaßte.

Er schuf mentale Gemälde in der Stadt der weißrot glühenden Asche unter den brennenden Holzscheiten, und er sah ganze Armeen vorbeimarschieren. Sost, Walter, Malachi und Tonina vereinten sich in seinen Gedanken, und der Geist Obadiahs stand am Feuer und sprach mit jenen Lebenden, die Hal das Gefühl einer Familie vermittelten.

Nach und nach gewann er immer größeren Abstand von sich selbst und betrachtete das, was in den drei Jahren auf Coby geheilt war. Aber es gab noch immer andere Faktoren, die wie Wunden wirkten, die sich nicht schließen wollten. Irgendwo wartete etwas, das seinem Leben einen Sinn geben konnte. Doch gerade diesen Aspekt hatte er in den zurückliegenden Monaten und Jahren vergessen wollen – bis er an diesem Nachmittag auf der Lichtung in sein Bewußtsein zurückgekehrt war, als er Rukh, Gotteskind und die anderen gesehen hatte. Es mußte einen Sinn geben, denn was war das Leben sonst wert …?

Und so verlor sich Hal in seinen eigenen Gedanken, hockte am Feuer und überlegte und träumte und unterbrach sich nur kurz dabei, um einige wenige Worte mit jemandem zu wechseln, der sich ihm vorstellte. Schließlich spürte er, wie ihn etwas am Arm berührte. Er wandte sich um und sah Jason.

»Howard«, sagte Jason. »Ich lege mich jetzt schlafen. Du kannst so lange am Feuer sitzen bleiben, wie du

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möchtest, auch ganz allein. Aber denk daran: Morgen erwartet uns ein langer und arbeitsreicher Tag.«

Hal nickte und stellte plötzlich fest, daß die meisten Männer und Frauen inzwischen in ihre Zelte zurückgekehrt waren. Abgesehen von Jason und ihm selbst hielten sich nur noch einige wenige Kämpfer am Feuer auf.

»Ja«, sagte er. »Du hast recht. Ich komme mit.« Er stand auf, und zusammen mit Jason wanderte er

durch die Dunkelheit. Abseits vom Feuer erschien ihm die Nacht zunächst völlig finster, doch nach und nach gewöhnten sich seine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse. Trotzdem wirkte das Lager nun völlig anders, und wenn Jason nicht eine kleine Taschenlampe gehabt hätte, wären sie vielleicht stundenlang auf der Suche nach ihrem Zelt umhergeirrt. Das matte Licht der Lampe spiegelte sich auf in Augenhöhe an den Baumstämmen angebrachten Reflektoren wider, die die markierten Routen kennzeichneten. Sie nahmen den Weg, der nach der Lichtung zurückführte. Und von dort aus schritten sie nach dem Ort, an dem sich die Esel befanden und Jason das Zelt aufgebaut hatte.

Jetzt war Hal für diese Art der Unterkunft sehr dankbar. Und als Jason das Licht der Glühröhre löschte und er sich die Kapuze des Schlafsacks über den Kopf zog, spürte er, wie müde er war. Die Erschöpfung glich einem warmen Bad, das seinen ganzen Körper entspannte. Und während ihm noch dieser Gedanke durch den Kopf ging, schlief Hal ein.

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Er erwachte plötzlich und wurde sich bewußt, daß seine Hände in der Dunkelheit eine Kehle so fest umklammerten, daß der Betreffende weder ein Wort sagen noch atmen konnte. Ein Daumendruck hätte dem Unbekannten auf der Stelle das Genick gebrochen. Doch rasch – obgleich es ihm sehr langsam erschien – ließen ihn der Duft der Zeltplanen und die Gerüche der Kleidung und der Ausrüstung begreifen, wo er sich befand. Und es war Jason, den er festhielt und fast erwürgte.

Er zwang sich dazu, die Hände sinken zu lassen, stand auf, tastete in die Dunkelheit und schaltete die Glühröhre ein. Gelbliches Licht fiel auf Jason, der nun am Boden lag und wieder atmete. Ansonsten gab der Mann kein Geräusch von sich und starrte nur aus weit aufgerissenen Augen zu Hal empor.

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2 »Alles in Ordnung mit dir?« fragte Hal erschrocken. »Was ist geschehen?«

Jasons Lippen bewegten sich lautlos. Er hob die eine Hand und tastete nach seinem Hals. Schließlich fand er die Sprache wieder und krächzte:

»Ich erwachte und hörte dich stöhnen. Dann hörtest du plötzlich auf zu atmen. Ich rief deinen Namen, um dich zu wecken, aber du reagiertest nicht darauf. Daraufhin kroch ich an dich heran, um festzustellen, ob du … Du hast überhaupt nicht geatmet. Ich versuchte, dich an der Schulter wachzurütteln …«

Seine Stimme verklang. »Und ich wurde tatsächlich wach und packte deine

Kehle«, sagte Hal. Jason nickte und starrte ihn noch immer groß an. »Es tut mir leid«, sagte Hal. »Ich wußte nicht, was ich

tat. Ich war nicht bei mir. Entschuldige bitte.« Jason stand langsam auf. Ihre Gesichter waren nur

einige wenige Zentimeter voneinander entfernt, als sie sich im gelblichen Schein der Glühröhre ansahen.

»Du bist gefährlich, Howard«, sagte Jason fast monoton.

»Ich weiß«, erwiderte Hal unbehaglich. »Es tut mir leid.«

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»Nein«, widersprach Jason. »Dieses Kommando kann sich freuen, einen so gefährlichen Mann wie dich auf seiner Seite zu haben, als Feind seiner Feinde. Aber was hat dich denn dazu veranlaßt, mich anzugreifen?«

»Ich weiß nicht.« »Vielleicht weil ich dich aufweckte?« »Möglicherweise«, sagte Hal. »Trotzdem …

normalerweise falle ich nicht einfach über die Leute her, die mich aufwecken.«

»Hast du geträumt?« »Ich erinnere mich nicht …« Hal horchte in sich hinein.

»Ja.« »Ein Alptraum?« »In gewisser Weise …«, erwiderte Hal. »Ein Alptraum also«, sagte Jason. »Das überrascht

mich nicht. Viele von uns haben bereits ähnliche Erfahrungen gesammelt. In Ordnung, Schwamm drüber. Da wir schon einmal wach sind, könnten wir einen Kaffee trinken.«

Hal schauderte. »Ja«, sagte er. »Gute Idee.« Jason begab sich in eine Ecke des Zeltes und kam mit

einem isolierten Kunststoffbehälter zurück, dessen Größe darauf schließen ließ, daß er ungefähr einen Liter Flüssigkeit aufnehmen konnte.

»Ich habe ihn nach dem Essen gefüllt«, sagte er und fügte ein wenig verlegen hinzu: »Das habe ich dir eigentlich sagen wollen.« Mit dem Daumen betätigte er einen kleinen Hebel, und aus dem Ventil schoß der dicke Strahl einer dunklen Flüssigkeit hervor. Jason schenkte

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zwei Tassen voll und reichte eine davon Hal. Dann kroch er in die Wärme seines Schlafsacks zurück und setzte sich darin auf.

Hal folgte seinem Beispiel. Eine Weile tranken sie schweigend den Kaffee und sahen sich an.

»Möchtest du mir den Traum schildern?« fragte Jason. »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, entgegnete Hal. »Ich

erinnere mich nur noch sehr verschwommen daran …« »Ja«, sagte Jason und nickte. »Das ist meistens so.

Versuch also nicht, mir davon zu erzählen. Trink den Kaffee und leg dich wieder hin. Du brauchst nicht zu befürchten, daß der Alptraum zurückkehrt.«

»Ja«, sagte Hal. Jason trank seine Tasse rasch aus, legte sich hin und

zog sich erneut die Kapuze über den Kopf. »Du kannst das Licht anlassen oder ausschalten, ganz

wie du möchtest«, sagte er. »Ich kann auch schlafen, wenn es hell ist.«

»Ich schalte es aus«, sagte Hal. Er stand auf, desaktivierte die Glühröhre und kroch in

der Dunkelheit in seinen Schlafsack. Er hatte die Tasse neben sich abgestellt, und sie war noch immer halbvoll. Er setzte sich auf, trank sie ganz leer und streckte sich anschließend aus. Das sonderbare Gefühl, von dem der Alptraum begleitet gewesen war, bildete sich ein zweites Mal in ihm. Es gab nichts, das er Jason hätte erzählen können, um ihm seine heftige Reaktion auf das plötzliche Wecken oder die besorgniserregende Tatsache seines Atemstillstandes zu erklären.

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… Bewaffnet und in ein Kettenhemd gekleidet, ritt er auf einem Pferd, begleitet von anderen Reitern. Auf einer weiten Ebene ließen sie einige Bäume hinter sich zurück und hielten an. Fern in der ansonsten sonderbar leeren Ebene erhob sich eine dunkle und düstere Festung, die aussah wie eine mittelalterliche Burg, die nur aus einem Turm bestand. Hal sah Zinnen und Schießscharten. Andere Gebäude gab es nicht, nur den Turm – und der war sehr weit entfernt. Das schreckliche Gefühl, daß der Turm auf sie wartete, ließ sie alle schweigen.

»Ich mache mich allein auf den Weg«, wandte sich Hal schließlich an seine Begleiter.

Er schwang sich vom Rücken des Pferdes, gab die Zügel einem der anderen Männer und brach auf, um die Ebene zu durchqueren und den fernen Turm zu Fuß zu erreichen. Nach einiger Zeit blieb er stehen und wandte sich um.

Die Männer, die ihn begleitet hatten, saßen noch immer auf ihren Rössern, und die Entfernung machte sie und die Bäume hinter ihnen zu kleinen und verschwommenen Flecken. Hal setzte seinen Weg fort, und er schien dem Turm überhaupt nicht näher gekommen zu sein. Und ganz plötzlich, von einem Augenblick zum anderen,sprang etwas aus der Öde hinter ihm heran und berührte ihn an der Schulter.

Das war alles. Als nächstes erinnerte sich Hal nur daran, den Hals Jasons umklammert gehalten zu haben. Während vor seinem inneren Auge noch das Bild des fernen Turmes verweilte, schlief er wieder ein.

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Er erwachte, als jemand seinen Fuß bewegte. Er schlug die Augen auf und sah Jason. Er hockte am Fußende seines Schlafsackes, so weit wie möglich von Hal entfernt. Und seine Augen blickten besorgt.

»Habe ich schon wieder zu atmen aufgehört?« fragte Hal und lächelte.

Jason ließ seinen Fuß los und grinste. »Nein, es war alles in Ordnung. Ich habe dich geweckt, weil wir beim Frühstück helfen müssen. Und wir sollten uns beeilen.«

Hal rollte sich auf die andere Seite, tastete umher und fand schließlich die Waschsachen, die Hilary ihm gegeben hatte. Anschließend kroch er aus der Wärme des Schlafsacks und fröstelte angesichts der kalten Morgenluft. Er verließ das Zelt und wankte dem nahen Fluß entgegen.

Fünfzehn Minuten später wanderten sie durch den Wald in Richtung des Kochzelts. Grauweißes Licht filterte durch die hohen Wipfel zu ihnen herab, und zwischen den Baumstämmen verharrten noch einige Nebelfetzen. Geräusche klangen durch den Morgendunst: Stimmen, die sich gegenseitig Anweisungen zuriefen, Holz, das gehackt wurde, das Klirren von Metall auf Metall. Die kühle und feuchte Luft rötete die frisch enthaarten Wangen Hals und vertrieb den Rest der Müdigkeit aus ihm, als er sie tief einatmete. Eine neue Vitalität durchströmte ihn, und er fühlte sich wohl in der Wärme der dicken Kleidung. Sein Magen knurrte beharrlich.

Als sie jedoch das Kochzelt erreichten, hatten Jason und er nur Zeit für eine rasche Tasse Kaffee, bevor sie

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sich an die Arbeit machen mußten. Nachdem die anderen Angehörigen des Kommandos ihren morgendlichen Appetit gestillt hatten, ergab sich endlich auch für sie die Gelegenheit zu einem ausgiebigen Frühstück.

»Zuerst kümmern wir uns um die Packsättel«, sage Jason während des Essens. Sie saßen auf einigen im Kochzelt untergebrachten Kisten. »Und dann um die anderen Ausrüstungsteile. Dann nehmen wir uns die Tiere vor und entscheiden, welche Esel wir beladen und welche wir für den Austausch verwenden. Bisher hatte ich noch keine Gelegenheit, einen Blick in das Vorratszelt zu werfen. Rukh meinte jedoch, wir hätten bereits drei Viertel all der Dinge, die wir brauchen, und den Rest würden wir unterwegs aufnehmen.«

»Unterwegs wohin?« Jason ließ kurz die Gabel sinken und sah ihn an. »Hat

dir niemand etwas gesagt?« fragte er. »Nicht einmal Rukh?« »Nein.« »Am besten, du gehst zu ihr und fragst sie nach dem,

was du wissen müßtest. Dann kommst du wieder zurück.« Jason wirkte ein wenig verlegen. »Ich bin mir nicht sicher, was ich dir sagen kann und was nicht.«

»Ich erinnere mich daran, daß du im Wagen mit Hilary über die oberen Wasserwege gesprochen hast …«

»Ich wüßte nicht, daß du wach warst.« Jason blickte ihn erschrocken an.

»Das war ich aber.«

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»Nun«, sagte Jason, »sprich am besten mit Rukh darüber. Dann wissen wir beide genau, woran wir sind.«

»In Ordnung«, erwiderte Hal. Sie beendeten das Frühstück und begaben sich zu den

Eseln und ins Vorratszelt. Den ganzen Tag über beschäftigten sie sich mit den Packsätteln und anderen Traggeschirren und übten das Be- und Entladen. Zehn der Tiere wurden gebraucht, um nicht nur die Gemeinschaftsausrüstung des Kommandos zu tragen, sondern darüberhinaus die Dinge, die die einzelnen Kämpfer zu sehr belastet hätten. Damit blieben sechzehn Esel für den Austausch und die Beförderung der Dinge übrig, die offenbar im Zusammenhang mit dem von Jason erwähnten »Experiment« standen. Hal erfuhr, daß man es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, die jeweiligen Ladungen abwechselnd von allen Tieren tragen zu lassen, so daß jeder Esel in regelmäßigen Abständen ohne Last war. Es ging dem Kommando nicht allein darum, eine möglichst gute Verfassung der Tiere zu gewährleisten. Die Gläubigen hielten es darüberhinaus für sündig, den Tieren – im Gegensatz zu Menschen – keine Ruhepausen zu gönnen.

Am nächsten Tag brach das Kommando das Lager ab und machte sich auf den Weg. Damit begann ein langer Marsch durch die Berge. Sie legten fünfzehn bis achtzehn Kilometer pro Tag zurück, und wenn sie nachts lagerten, wurden sie von Leuten besucht, die in der Nähe wohnten. Sie brachten ihnen Lebensmittel oder Geräte und Waffen – und weitere Rohstoffe für das Kaliumnitrat.

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Die physischen Bedingungen eines solchen Lebens unterschieden sich völlig von denen, die die Arbeit im Bergwerk Hal aufgezwungen hatten, aber er paßte sich rasch an. Er war noch immer rank und schlank, und er vermutete, daß sein Wachstum noch kein Ende gefunden hatte. Andererseits jedoch entwickelte er inzwischen die kräftige Ausdauer eines wirklich Erwachsenen, während er sich gleichzeitig an der Elastizität der Jugend zu erfreuen vermochte. Schon nach einer knappen Woche hatte er sich ganz an das neue Leben gewöhnt. Und selbst der hiesige Kaffee begann ihm zu schmekken.

Die verstreichenden Wochen waren alle gleich: helle und windige Tage in großer Höhe, am Himmel nur einige wenige Wolken, die Luft sehr klar, das Wasser der Bergbäche kalt, der Schlaf tief nach den anstrengenden und arbeitsreichen Tagen, die immer länger wurden, je weiter sie nach Süden gelangten, dem Sommer entgegen.

Hal und Jason standen beim Morgengrauen auf. Sie frühstückten und legten anschließend den Eseln die Geschirre an und beluden sie für die jeweilige Tagesetappe. Zwei Stunden später war das Kommando wieder unterwegs, und die Männer und Frauen wanderten im Gänsemarsch dahin, in den Taschen und Rucksäcken die persönlichen Gerätschaften. Gefolgt wurden sie von Jason, der vor den Eseln mit der Gemeinschaftsausrüstung, den Materialien des »Experiments« und den unbeladenen Tieren ging. Hal bildete den Abschluß und gewissermaßen die Rückendeckung der Streitmacht. Seine Aufgabe bestand darin sicherzustellen, daß weder Kämpfer noch Tiere zurückfielen und möglicherweise den Anschluß

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verloren, und gleichzeitig achtete er darauf, daß den Eseln keine Teile der Beladung von den Rücken rutschten.

Es war eine Pflicht, die in erster Linie Wachsamkeit verlangte und nicht so sehr eigenständige Aktivität, und sie ließ die Gedanken Hals unbeschäftigt. Jetzt hatte er das erste Mal seit seiner Flucht von der Erde wirklich Zeit nachzudenken. Auf Coby war er ganz von der Arbeit absorbiert worden, und selbst die wenige in den Bars der Raumhafenstadt verbrachte Freizeit hatte ihm nicht die Ruhe gegeben, die er brauchte, um Abstand von sich selbst zu gewinnen und psychische Bestandsaufnahme zu machen. Nun endlich bot sich ihm ausreichend Gelegenheit dazu. Angesichts der Isolation am Ende der Kolonne, der Monotonie des Marsches und der Einsamkeit der Berge empfand er einen tiefen Frieden, und er hatte Zeit genug selbst für langwierige und komplexe Überlegungen.

In der Rückschau betrachtet, begriff er jetzt, daß das Leben auf Coby sich durch eine eher künstliche Natur auszeichnete. Die letzten drei Jahre hatte er wie in einer großen Höhle verbracht. Das war als ein Versteck notwendig gewesen, als Schutz, während er erwachsen wurde. Und diese Zeit hatte ihn gelehrt, mit fremden Menschen zu leben – auch wenn die entsprechenden Erfahrungen nicht immer sehr angenehm gewesen waren. Jetzt war er wie ein Gefangener, der seinen Kerker verlassen hatte. Er hatte erneut Zugang gefunden in das Universum, in dem sich viele Geschehnisse zutrugen. Und Hal sah die Dinge nun in ihren richtigen Dimensionen.

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Eine der Erkenntnisse, zu denen er während seiner langen Überlegungen gelangte, bestand darin zu begreifen, wie leicht es war, die Leute zu unterschätzen, in deren Begleitung er sich befand. Er meinte damit nicht Rukh oder Gotteskind – diese beiden Personen strahlten Macht so intensiv aus wie eine glühende Kohle Wärme. Doch für die meisten anderen war ein eher beschränkter Horizont in Hinsicht auf die Wahrnehmung ihrer Welttypisch; ihre religiösen Überzeugungen, ihre naive Entschlossenheit, ihre Neigung, sich sofort mit allem abzufinden – das alles ließ Hal manchmal an ihrem Verstand zweifeln.

Andererseits jedoch war ihnen auch noch etwas anderes zu eigen, das über diese Beschränkungen hinausging – oder sie vielleicht gar nicht tangierte. Tatsächlich, so fand Hal, ähnelten sie den Bergen, deren Gipfel um sie herum gen Himmel ragten – gefangen in einem Konflikt, den sie nicht wirklich verstanden, und dennoch entschlossen dazu, zu kämpfen, so lange noch ein Hauch von Leben in ihnen war, im Namen ihres Glaubens.

Tief in ihnen war jeder von ihnen ungeheuer stark. Sie zehrten von einer Kraft, ohne die sie nicht das dargestellt hätten, was sie waren, und es ging ihnen um viel mehr alsnur das eigene Überleben. Dieser Faktor, der sie so sehr von den Bergleuten auf Coby unterschied, hatte Hal an den Sinn und Zweck seines eigenen Lebens erinnert. Er begann darüber nachzudenken, in welche Richtung er von jetzt an seine Schritte lenken, welches Ziel er anstreben und wie er vorgehen sollte.

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In den letzten Wochen war er nach und nach zu dem Entschluß gelangt, eine Konfrontation mit den Andern herbeizuführen, sobald er stark genug dafür war. Inmitten des komplexen Bündels aus Einstellungen, Haltungen und Ansichten, die ihn zu dem gemacht hatten, was er war, gab es einen Reflex, der ihn dazu veranlaßte, sich immer wieder daran zu erinnern, wie Malachi, Obadiah und Walter auf der Terrasse gestorben waren. Und bei solchen Gelegenheiten bildete sich dann ein ganz bestimmtes Gefühl in ihm, eine finstere und entschlossene Kälte, die Bleys, Danno und all den anderen galt. Doch außer diesem Empfinden verspürte er noch etwas – ein zielstrebiges Drängen, das ihn sein ganzes Leben lang im verborgenen begleitet hatte und sich nun in eine Art machtvolle Verpflichtung verwandelte und nur darauf wartete, endlich aktiv zu werden.

Weil Hal dieses Gefühl nicht fassen und ihm keinen Namen geben konnte, lenkte er seine Gedanken darum herum und ließ sie Eingang finden in den Bereich der poetischen Bilder, die ihm immer als mentale Übersetzer für das gedient hatten, was sein bewußter Verstand nicht zu benennen vermochte. In der Letzten Enzyklopädie hatte er die psychischen Projektionen Walters, Obadiahs und Malachis dazu benutzt, sein Problem zu lösen, sich vor den Anderen in Sicherheit zu bringen; und auf ähnliche Weise nutzte er das Formen von Reimen, um die konturlosen Mosaike und rudimentären Schlußfolgerungen besser zu verstehen, die in seinem Unterbewußtsein der Entdeckung harrten.

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Während Hal der Kolonne folgte, setzte er den kreativen Teil seines Selbst den Winden seines Bewußtseins aus, die hinter allen Gedanken wehten. Er setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen, beobachtete den im hellen Sonnenschein glitzernden Schnee an den Flanken der Berge – und nach und nach reihten sich tief in ihm die ersten Worte eines Gedichts aneinander, das jenem Bewußten verbalen Ausdruck verlieh. Zeile um Zeile wuchs das Dichtwerk, und kurz vor der Rast um die Mittagszeit war es fertig.

Niemand ist so hoch und fein, Daß er braucht einen farb'gen Mann, Wie die Seele der Reben von Wein Nur blind durch finstre Erde kriechen kann.

Kluge Leute mit Händen aus Stahl Haben uns zu einem hohen Turm gebaut, Der weit emporreicht aus dem stillen Tal Und auf das stumme Klagen des Steins nur schaut.

Und wenn eine Faust noch schlauer Den hohen Turm zerbrechen läßt, ruhen wir doch als steinerne Mauer Und feiern des farbigen Mannes Fest.

Wie eine sich wiederholende Melodie echoten die Worte hinter Hals Stirn. Es war ein Lied, so dachte er, mit dem sich die Entfernung zwischen ihm und dem dunklen Turm seines Traumes überbrücken ließ.

Bei dieser Überlegung bildete sich eine weitere und eher flüchtige Idee in ihm, die Vorstellung eines zweiten Gedichts über den dunklen Turm seine Traumes – eines

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Werkes, das ihm den Weg weisen mochte und größere Bereiche von Möglichkeiten, die irgendwo in der Schwärze seines Unterbewußtseins auf ihn warteten. Doch als er sich darauf zu konzentrieren versuchte, verblaßten die entsprechenden Bilder. Wie beim Lied vom farbigen Mann spürte Hal einen Zusammenhang zwischen sich und den Umständen, eine Beziehung, die er zwar fühlen, nicht aber konkretisieren konnte. Das zweite Gedicht über den Turm war zu gewaltig und berührte enorme Kräfte, die bald freigesetzt werden wollten. Hal zwang sich dazu, diese Gedanken beiseite zu drängen, und nahm sich das Lied über den farbigen Mann vor, um festzustellen, welche Botschaft es ihm brachte.

Ganz offensichtlich teilte es ihm mit, daß er nun ein bestimmtes Stadium erreicht und ein anderes hinter sich zurückgelassen hatte. Aber bevor er seine Analyse fortsetzen konnte, sah er Jason, der zur Seite getreten war und in den Händen die Zügel eines Esels hielt. Hal trieb die anderen Tiere an und kam so auf eine Höhe mit Jason.

»Was ist los?« fragte er. »Ein Hufeisen hat sich gelöst«, erwiderte Jason. »Ist

offenbar kurz nach unserem Aufbruch passiert. Wir müssen die Packtaschen auf ein anderes Tier laden.«

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3 Die Esel waren in zwei Gruppen aufgeteilt, und der mit dem losgelösten Hufeisen war der erste in Jasons Gruppe. Der Bergpfad, dessen Verlauf sie folgten, war an einigen Stellen gerade breit genug für ein Tier, und die anderen Esel konnten nicht weiter, da das Tier mit dem losen Hufeisen ihnen den Weg versperrte.

»Howard, kannst du Delilah nach hinten bringen?« fragte Jason. »Ich kümmere mich um die anderen.«

Hal kam heran und machte sich an die nicht ganz leichte Aufgabe, das betreffende Tier mit ruhigen Worten und sanftem Zerren an den Zügeln vom harten Fels des Pfades fortzudirigieren und auf das lose Geröll des Hanges zu lenken, wo er es umdrehen und zurückbringen konnte.

Sie befanden sich derzeit in einem Paß am Rand eines tiefen Einschnitts in der Flanke des Berges, und der Weg war ganz offensichtlich seit dem vergangenen Herbst nicht mehr benutzt worden. An einigen Stellen stapelten sich die unverkennbaren Hinterlassenschaften des Winters: Äste und Nadeln und Zapfen von den importierten Variform-Koniferen, die an diesen hochgelegenen Gebirgshängen in der gemäßigten Zone Harmonies wuchsen. Andererseits aber machte der Pfad ganz den Eindruck, als seien in den vergangenen Jahren bei gutem Wetter des öfteren Menschen mit Tieren darüber hinweggezogen. Er paßte sich ganz dem

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natürlichen Terrain an, wand sich einmal in die Höhe, dann wieder in die Tiefe – und führte direkt nach Süden.

Unterhalb des aus festem Fels bestehenden Weges neigte sich ein graubrauner und baumloser Hang über dreihundert Meter hinweg steil in die Tiefe und endete unten an einem breiteren Sims. An diesen Vorsprung schloß sich eine Schlucht an, in der tief unten ein von Hals Position aus nicht sichtbarer Gebirgsbach floß. Auf der anderen Seite des Pfades war der Hang weniger steil und daher auch bewachsen. Es waren zwar nur wenige Bäume und Sträucher, aber selbst diese spärliche Vegetation reichte aus, um die Sichtweite auf rund fünfzig Meter zu beschränken. Sie konnten daher den hohen Felsengang nicht sehen, der auf einige hundert Meter parallel zum Weg verlief.

Derzeit marschierten die Frauen und Männer, die dem Kommando Rukhs angehörten, um einen breiten und hohen Vorsprung herum. Vor Hal und Jason verschwanden die Kämpfer nacheinander nach links hinter dem Granit. Als Hal den Esel mit dem losgelösten Hufeisen herumdrehte, vermochte er kilometerweit in die Richtung zurückzusehen, aus der sie gekommen waren. Dort war die Vegetation noch etwas lichter, und man konnte den ganzen Hang bis hin zu dem von Bäumen bewachsenen Sims weiter oben überblicken. Die Luft war trocken und klar, so daß die Entfernungen nicht ganz so groß aussahen, wie sie tatsächlich waren, und der Wind wehte nur einige wenige Wolkenfetzen über den Himmel.

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»Ruhig … ruhig …«, sprach Hal leise auf den Esel ein und führte das Tier vorsichtig über das lose Geröll an den anderen vorbei, auf eine Stelle zu, an der er es auf den Felsenpfad zurückbringen konnte. Er erreichte sie kurz darauf, und als er sich wieder auf dem Weg befand und umdrehte, stellte er fest, daß Jason den ersten Esel seiner Gruppe inzwischen festgebunden hatte. Die anderen Tiere warteten geduldig, und Jason kletterte am Hang entlang auf ihn zu.

»Wir können die Packtaschen Delilahs …«, begann Jason, als er an die Seite Hals gelangte, unterbrach sich aber jäh. Sie vernahmen plötzlich ein Pfeifen und Zischen.

»Runter!« rief Hal und riß seinen Begleiter mit sich zu Boden. Scharfkantige Splitter von Steinen bohrten sich ihm durch das Material von Jacke und Hose in die Haut. Weiter vorn hatten sich einige der Esel in Bewegung gesetzt, rutschten den Hang hinab in die Tiefe und ließen sich einfach auf den Boden sinken. Das Pfeifen verklang, und die jähe Stille war wie ein Schock.

»Konusgewehre!« Jasons Stimme vibrierte. »Dort oben haben sich Milizionäre versteckt!«

Sein Gesicht wirkte angespannt, als er den Kopf hob und in Richtung des hinter den Bäumen weiter oben verborgenen Simses blickte. Er kroch auf den vorletzten Esel zu, der ihre Ausrüstung trug, und er zerrte an den Taschen, bis er endlich die Waffe hervorziehen konnte, die man ihm gegeben hatte. Anschließend kehrte er rasch zu Hal zurück und preßte sich neben ihn auf den Boden.

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»Auf diese Entfernung nützt sie dir überhaupt nichts«, sagte Hal. Bei Jasons Waffe handelte es sich um einen alten Nadler, der nur eine Reichweite von sechzig bis siebzig Metern hatte.

»Ich weiß«, erwiderte Jason und starrte noch immer in Richtung des Vorsprungs. »Aber vielleicht kommen sie zu uns runter.«

»Dann müßten sie verrückt sein …« Hal hatte gerade damit begonnen, sich die Lektionen ins Gedächtnis zurückzurufen, die Malachi ihn vor vielen Jahren gelehrt hatte, als er weiter rechts ein leises Knirschen vernahm und daraufhin den Kopf drehte. Er sah Laiter Wohlen, einen der jüngeren Männer des Kommandos, der geduckt auf sie zulief.

»Irgendwas geschehen?« fragte er keuchend und blieb neben ihnen stehen.

»Runter!« platzte es aus Hal heraus – aber es war bereits zu spät. Erneut ertönte das Pfeifen und Zischen,und Laiter stürzte und ließ seinen Nadler fallen. Über den Hang rutschte er in die Tiefe. Hal sprang ihm nach, hielt ihn fest und sah, daß man dem Mann nicht mehr helfen konnte. Drei Konen hatten sich ihm in die Brust gebort und ein vierter seinen Kopf gestreift. Hal ergriff die Waffe Laiters, beugte sich so weit nieder, wie er konnte, und lief in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.

»Wo willst du hin?« rief Jason ihm nach, aber Hal gab ihm keine Antwort.

Er eilte über das lose Geröll des Hanges, bis schließlich die gewölbte Flanke des Berges ihn vor direkter Sicht

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von der Stelle aus schützte, von der aus die Konusgewehre auf sie gefeuert hatten. Er befand sich nun in einem Einschnitt, in dem er rasch nach oben kletterte. Da er jetzt von den Milizionären nicht mehr gesehen werden konnte, kehrte er durch den Einschnitt auf den Pfad zurück und schob sich von dort aus weiter in die Höhe.

An dem nach oben führenden Hang gab es nicht so viele Steine. Er mußte über nackten Granit klettern, und er bewegte sich so schnell wie möglich, das Nadlergewehr auf dem Rücken, den Halteriemen der Waffe über die Schulter geschlungen. Schweiß brach ihm aus und kühlte ihm die Stirn und die heißen Wangen. Hal zwang sich dazu, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Es war schon eine ganze Weile her, daß er seinen Körper einer derartigen Belastung ausgesetzt hatte, und seine Glieder fühlten sich steif ein. Aber die Ausbildung durch seine drei Mentoren war wie eine Art Prägestempel gewesen, und er ließ sich nun ganz von seinen Reflexen leiten, pumpte die kalte Luft in sich hinein und spürte das schnelle und doch gleichmäßige Pochen seines Herzens. Rasch schob er sich aus dem Einschnitt heraus und in den Zugang des Kamins, und er blickte nach oben.

Der Kamin war knapp neun Meter hoch und verengte sich nach oben hin beträchtlich. Direkt unterhalb des Simses durchmaß er nur noch einen Meter. Hal hielt inne, atmete ganz ruhig, reicherte dadurch das Blut mit Sauerstoff an und reduzierte den Pulsschlag.

Das eigentliche Problem bestand in dem Nadler. Die normale Vorgehensweise hätte darin bestanden, ihn in

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die Höhe zu ziehen, sobald er den Kamin erstiegen hatte. Aber er führte keine Leine bei sich. Hal verharrte und schätzte die Entfernung zwischen dem Sims oben und der Stelle ab, von der die Konusgewehre auf sie geschossen hatten. Wenn er nicht gerade das Pech hatte, daß einer der Milizionäre direkt am Kamin Wache hielt, sollte das Geräusch der oben auf den Fels fallenden Waffe keine Rolle spielen.

Er trat auf der Grundfläche des Kamins umher und suchte nach einer Stelle, an der seine Füße während des Aufstiegs festen Halt finden konnten. Er schlang sich den Riemen von der Schulter und vergewisserte sich, daß der Nadler gesichert war. Dann griff er mit beiden Händen nach dem Lauf und warf die Waffe in die Höhe. Sie sauste aus dem Kamin hinaus, und außerhalb der Sichtweite Hals fiel sie leise scheppernd auf den Granit.

Hal wartete und lauschte. Aber er konnte nicht das Geräusch sich nähernder Schritte hören. Daraufhin begann er in die Höhe zu klettern.

Es war schon vier Jahre her, seit seine Muskeln zum letztenmal diese Art von Arbeit hatten verrichten müssen, und sie gewöhnten sich nur langsam wieder daran. Hal kletterte sehr vorsichtig und prüfte die Beschaffenheit des Felses sorgfältig, bevor er einen Vorsprung oder Riß mit seinem Gewicht belastete. Und während er kletterte, erwachte sein altes Geschick nach und nach wieder zum Leben. Er war inzwischen schweißüberströmt, und das Hemd klebte ihm am Rücken und den Schultern. Er atmete schwer, als er sich weiter in die Höhe schob. Aber allmählich fiel ihm das

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Klettern leichter, und er begann die Herausforderung zu genießen, die die senkrechte Granitwand für ihn darstellte.

Schließlich kroch er aus dem Schatten des Kamins heraus und in das warme Sonnenlicht auf dem Sims, und er blieb liegen und atmete tief durch. Nach einigen Sekunden strich eine leichte Brise sanft über ihn hinweg und verschaffte ihm willkommene Kühlung. Hals Atemrhythmus verlangsamte sich. Er blickte sich nach dem Nadlergewehr um, sah es in der Reichweite des linken Armes auf dem Fels liegen, zog es an sich und setzte sich auf.

Um ihn herum herrschte völlige Stille, und man hätte meinen können, er hielte sich ganz allein in den Bergen auf. Für den Hauch eines Augenblicks entstand fast so etwas wie Panik in ihm: Er befürchtete plötzlich, daß der Aufstieg durch den Kamin zu lange gedauert hatte und es den Angreifern in der Zwischenzeit gelungen war, das ganze Kommando zu erledigen. Dann jedoch verdrängte er diese Nervosität, und er wurde wieder ruhig, als die Erinnerungsstimme Malachis ihn zu kühler Besonnenheit ermahnte.

Er stand auf und zog die Waffe mit sich. Er atmete nun wieder annähernd normal. Völlig geräuschlos begann er über den Teppich aus Piniennadeln zu laufen, in die Richtung, in der er die Angreifer vermutete.

Während er lief, horchte er konzentriert. Als er einige Meter zurückgelegt hatte, vernahm er Stimmen und verharrte. Es mußten drei verschiedene Personen sein, und sie befanden sich offenbar hinter einer kleinen

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Baumgruppe weiter voraus. Daraufhin wandte sich Hal nach links, schob sich über den Hang und setzte seinen Weg noch vorsichtiger und leiser fort. Nach einer Weile war er dazu in der Lage, von oben her den Bereich jenseits der Baumgruppe einzusehen. Er beobachtete drei Männer mit Konusgewehren, und sie trugen schwarze Uniformen wie auch die Milizionäre in Zuflucht.

Ganz automatisch brachte Hal das Nadlergewehr in Schußposition. Die Entfernung zu den Männern betrug nur rund zwanzig Meter, und sie waren deutlich zu sehen und wandten ihm den Rücken zu. Geduld, flüsterte hinter seiner Stirn die Erinnerungsstimme Malachis. Hal ließ die Waffe wieder sinken und kroch weiter über den Felshang, parallel zu dem Sims.

Er entdeckte zwei weitere mit Konusgewehren bewaffnete Dreiergruppen und stieß dann auf vier Milizionäre mit Gewehren, die ab und zu den Kopf hoben, über den Hang in die Tiefe sahen und gelegentlich feuerten. Ein hagerer Uniformierter mit den Rangabzeichen eines Captains stand hinter ihnen, wie die andern Hal den Rücken zugewandt.

Hal empfand ein gewisses Unbehagen angesichts der offensichtlichen Unbekümmertheit der Milizionäre. Er versuchte über den Rand des Simses zu blicken und das Kommando weiter unten zu beobachten, aber er konnte nichts sehen. Leise drehte er sich um und kletterte noch höher, und schließlich vermochte er tief unten die Esel mit dem Gepäck und der Ausrüstung zu sehen. Von seinen Kameraden zeigte sich keine Spur. Er hoffte, daß sie vernünftig genug gewesen waren, sofort unterhalb der

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Kante des unteren Vorsprungs in Deckung zu gehen, erinnerte sich dann jedoch daran, daß die Bewaffneten, an denen er vorbeigekommen war, wie auch die Männer unter ihm, immer wieder in unregelmäßigen Abstanden das Feuer eröffneten.

Hal beschattete sich die Augen – und zum erstenmal konnte er am Berghang oberhalb des unteren Simses Bewegungen ausmachen. Einige Mitglieder des Kommandos schoben sich offenbar in die Höhe, wobei sie alle möglichen Deckungen ausnutzten. Sie wollten nun ihrerseits zum Angriff übergehen. Und während Hal sie noch beobachtete, erkannte er eine schlanke und dunkel gekleidete Gestalt: Rukh selbst führte den Gegenschlag an.

Von der Seite des Kommandos her war es ein Verzweiflungsunternehmen. Die Milizionäre konnten ganz ruhig an Ort und Stelle verweilen und sich Zeit lassen, auf die Kletterer zu zielen, wenn sie kurzfristig dazu gezwungen waren, ihre Deckung zu verlassen. Und den Angehörigen des Kommandos fiel es nicht nur schwer, auf Schußweite an die Uniformierten heranzukommen, sondern sie erschöpften sich darüberhinaus durch das mühsame Klettern. Trotzdem schoben sie sich immer höher, und plötzlich begriff Hal, was Rukh beabsichtigte.

Er sah nach links und beobachtete den Teil des oberen Vorsprungs, dem er bisher noch keine Beachtung geschenkt hatte. Dabei fiel ihm auf, daß sich der Sims nicht weit entfernt abrupt nach unten neigte, so als wolle er sich mit dem unteren Vorsprung vereinen. Er wurde

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jedoch rasch schmaler, und rund fünfzig Meter oberhalb des tieferen Simses vereinte er sich ganz mit der Flanke des Berges. Eine Zeitlang betrachtete er den Hang und hielt nach den Bewegungen Ausschau, die er erwartete. Schließlich sah er sie auch. Rukhs den Milizionären auf dem Sims über ihrer Gruppe geltender Frontalangriff hatte offenbar in erster Linie den Zweck, die Aufmerksamkeit der Uniformierten auf sich zu ziehen und von der zweiten Streitmacht abzulenken, die sich den Gegnern von der Seite her näherte.

Es war die einzige Möglichkeit, die sich Rukh darbot.Und bei dieser Überlegung drehte Hal ruckartig den Kopf und beobachtete den Mann mit den Rangabzeichenauf den Ärmeln seiner schwarzen Jacke. Bei diesem Captain handelte es sich bestimmt um den Befehlshaber der Einsatzgruppe der Miliz. Und er wäre geradezu unfähig gewesen, hätte er nicht auf irgendeine Weise für die Absicherung seiner linken Flanke gesorgt.

Hal wandte sich um und kroch weiter nach links. Nach einigen Metern entdeckte er eine breitere Stelle des Simses, eine Art Höhlung, die nicht nur von einigen Bäumen abgeschirmt wurde, sondern auch von einer aus einzelnen Stämmen errichteten Barrikade, die den Vorsprung in der Richtung schützte, aus der die Kämpfer Rukhs herankommen mußten. Und in der Einwölbung im Fels warteten zwanzig bewaffnete Milizionäre.

Hal ging am Hang in die Hocke, das Nadlergewehr quer auf den Knien. Er verspürte einen schmerzhaften Stich in seinem Innern: Die Angehörigen des Kommandos, die den eigentlichen Angriff Rukhs

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führten, hatten angesichts der wartenden Streitmacht keine Chance. Rasch machte er kehrt und begab sich wieder an die Stelle, von der aus er die vier Uniformierten und den Captain beobachten konnte.

Hal dachte einige Augenblicke lang nach und kehrte dann dorthin zurück, von wo aus er die erste Gruppe gesehen hatte. Einer der drei Uniformierten hob das Gewehr und feuerte. Dann lachte er und deutete nach unten. Einer der anderen beiden Milizionäre klopfte ihm auf die Schulter.

Irgend etwas Kaltes und Finsteres rührte sich in Hal. Er ließ sich auf die Knie sinken, stützte den Lauf des Nadlergewehrs auf den Felsen, hinter dem er hockte, und drückte dreimal ab. Die Nadeln sirrten leise, und es klang wie das Zirpen von Vögeln. Hal verharrte und horchte in die folgende Stille hinein. Von den anderen Stellungen der Milizionäre her ertönten keine Geräusche, die darauf hinwiesen, dass sie Verdacht geschöpft hatten. Daraufhin stand Hal auf und kletterte rasch in die Tiefe.

Die drei Uniformierten lagen auf dem Fels und rührten sich nicht mehr. Hal betrachtete die Leichen und verspürte eine jähe Leere in seinem Innern, eine Benommenheit, wie sie auf einen heftigen Schlag oder eine Wunde folgt – und der damit einhergehende Schmerz wurde noch von dem Schock ferngehalten. Er griff nach den drei Konusgewehren, ganz vorsichtig, so daß die metallenen Bestandteile der Waffen nicht gegeneinander klackten, und er nahm sie mit sich den Hang hinauf. Er verweilte an einer Stelle, von der aus er

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die beiden Angriffsgruppen des Kommandos sehen konnte.

Rukhs Leute kamen nur langsam voran, doch die Kämpfer der zweiten Gruppe schoben sich rascher in die Höhe. Es mochte noch etwa fünf Minuten dauern, bis sie in Kernschußreichweite der in der kleinen Höhlung auf sie wartenden Milizionäre gerieten.

Hal setzte sich und demontierte die Abdeckplatte eines Konusgewehrs, um an die Mechanik darunter zu gelangen. Waffen dieser Art reinigten sich nach jedem Schuß selbst, und aus diesem Grund hatte ein Füllen des Laufs mit Schmutz keinen Sinn. Hal schraubte das Lademagazin los und hebelte den letzten darin befindlichen Konus hervor. Anschließend arretierte er das Magazin wieder.

Vorsichtig nahm er den losgelösten Konus zwischen Daumen und Mittelfinger und achtete darauf, nicht den schmalen roten Rand am dickeren Ende des Geschosses zu berühren. Die Färbung markierte die kleine Kammer mit der Treibladung, die von dem Mechanismus der Waffe gezündet wurde, wodurch die Konen praktisch kleine Raketen darstellten. Er klemmte sich das Geschoß behutsam so zwischen die Knie, daß der rote Rand nichts berührte, und dann öffnete er die Abschußkammer und schob den Konus hinein – wobei die Spitze des Geschosses allerdings nicht zum Lauf hin gerichtet war, sondern vielmehr auf das Magazin zielte. Anschließend schloß er die Kammer wieder und bearbeitete auch ein weiteres Gewehr auf diese Weise.

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Als er die Abschußkammer der zweiten Waffe zuschnappen ließ, lächelte er ein wenig bitter. Einige der Angehörigen des Kommandos würden nur wenig Verständnis für die Verschwendung zweier ausgezeichneter militärischer Waffen haben – es sei denn, das hatte einen guten Grund. Und in diesem Punkt war Hal ziemlich sicher.

Er stand auf, griff nach den beiden erbeuteten Gewehren und kletterte rasch über den Hang, bis er sich über den beiden anderen Milizgruppen befand. Die betreffenden Uniformierten legten dann und wann an und feuerten auf die Leute Rukhs, und sie ahnten noch nichts davon, daß Hal ihre drei Kameraden an der rechten Flanke ausgeschaltet hatte. An dieser Stelle baute sich Hal eine improvisierte Barrikade aus größeren Felsbrocken. Anschließend kniete er sich hinter der Deckung nieder und zielte auf die drei schwarzgekleideten Milizionäre.

Das gedämpfte Sirren der Nadeln, mit denen Hal die Uniformierten der ersten Gruppe erschossen hatte, war von den anderen Bewaffneten unbemerkt geblieben. Doch das lautere Fauchen der Konen, die er nun abfeuerte und die die drei Männer unter ihm töteten, alarmierten den ganzen Rest der Einsatzgruppe.

Die Milizionäre blickten nicht in seine Richtung. Angesichts der Tatsache, daß die ersten Kämpfer Rukhs nun auf eine Höhe mit dem oberen Vorsprung gelangt waren, hatten sie keinen Grund zu der Annahme, daß der nahe Schütze sich am Hang über ihnen versteckte. Es konnte jedoch nur wenige Sekunden dauern, bis sie auch

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einen Blick nach oben warfen, und diese Zeit gab Hal ihnen nicht. Er stand auf, schwang das erste manipulierte Gewehr in Richtung der drei Männer neben der Gruppe mit dem Captain und schleuderte die zweite behandelte Waffe dem Befehlshaber entgegen, als der gerade seine Deckung verließ und dorthin kroch, wo er den ihm noch unbekannten Schützen vermutete.

Das erste Gewehr prallte auf den Fels, und der gespannte Mechanismus zündete die Treibladung des verkehrt herum eingesetzten Geschosses. Eine Explosion krachte, und eine Stichflamme leckte nach oben. Die Hitze ließ die Konen in dem Lademagazin explodieren. Und nur eine Sekunde später detonierte auch die zweite Waffe.

Eine knappe Minute lang verwehrten die Wolken aus Staub, Rauch und aufgewirbelten Felssplittern Hal den Blick, und als der Wind den Dunst der Zerstörung beiseite wehte, sah er, daß sich keiner der Milizionäre mehr rührte.

Hal hatte in erster Linie die Absicht gehabt, die Aufmerksamkeit der Uniformierten in der kleinen Höhlung von den sich ihnen nähernden Angreifern abzulenken. An das Donnern der beiden Explosionen schloß sich auf dem oberen Sims eine erschrockene Stille an, und dann erklangen aufgeregte Stimmen. Und einige der Milizionäre in der Einwölbung rutschten hinter der Barrikade hervor und eilten auf ihre toten oder bewußtlosen Kameraden zu. Hastig kletterte Hal den Hang in die Tiefe und brachte rasch eine möglichst große Entfernung zwischen sich und die Deckung aus

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aufeinandergestapelten Steinen. Vor einigen Minuten hätte sich dieser Schutz – wäre er vorzeitig entdeckt worden – noch als nützlich für ihn erweisen können. Jetzt aber war er besser zwischen den Bäumen und Sträuchern des oberen Vorsprungs aufgehoben.

Die Uniformierten, die die Höhlung verließen, konnten ihn zwar nicht sehen, hörten ihn aber. Rufe wurden laut – und in der Mulde kam es zu jäher Unruhe. Die Angreifer des Kommandos hatten die Männer hinter der Barrikade aus Holzstämmen erreicht.

Hal lag flach hinter einem Baum, weniger als zehn Meter von dem am Boden liegenden Offizier der Miliz entfernt, der sich nun wieder zu rühren begann, und er schoß auf die Schwarzgekleideten, die sich ihm nun näherten.

Das Konusgewehr ruhte warm an seiner Wange, und Hal blickte durch die Erfassungsoptik und hielt nach Bewegungen zwischen den Bäumen vor ihm Ausschau. Das gegnerische Feuer ließ rasch nach.

Er sah sich um. Etwas weiter unten am Hang stemmte sich inzwischen der Offizier in die Höhe. Er schwankte unsicher, stolperte aber in den Unterstand aus Zweigen zurück, in dem ihn die von seinen Männern fallen gelassenen Konusgewehre erwarteten. Offenbar hatte er durch die Splitter der explodierten Waffe keine ernsthaften Verletzungen davongetragen und war durch den jähen Detonationsdruck bewußtlos geworden. Der Lauf von Hals Gewehr schwang ganz automatisch herum, und die Mündung zielte auf den Rücken des hageren Mannes. Dann jedoch zögerte er. Es war nicht

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nötig, erneut zu töten. Rasch und lautlos erhob er sich, eilte halbgeduckt auf den Offizier zu und schlug ihn nieder.

Reglos blieb der Mann unter ihm liegen. Hal rollte sich zur Seite und stand auf. Er drehte den Offizier auf den Rücken und stellte fest, daß er noch immer bei Bewußtsein war. Der Hieb Hals hatte ihm einfach nur die Kraft geraubt. Einige Sekunden lang rang der Offizier nach Atem, und schließlich holte er rasselnd Luft. Hal starrte ihn überrascht an. Das schmale Gesicht erschien ihm vertraut. Einige Augenblicke lang wußte er nicht, wo er es einordnen sollte, dann erinnerte er sich. Der Mann, der nun unter ihm lag, war derjenige Offizier gewesen, der Jason und ihn zu Ahrens geführt hatte – der Mann, der Jason gedroht hatte, ihn an den Handgelenken aufzuhängen, wenn er noch einmal sprach.

Der Uniformierte bewegte sich. Sein Blick richtete sich auf das Gewehr, mit dem Hal weiterhin auf ihn zielte, dann auf das Gesicht des jungen Mannes, von dem er überwältigt worden war. Und plötzlich verzogen sich seine Lippen und deuteten ein dünnes Lächeln an. In seinen Augen glitzerte es.

»Ihr!« platzte es aus ihm heraus. »Also doch …« »Hier seid Ihr!« wurde er von einer scharfen Stimme

unterbrochen, und James Gotteskind trat zwischen den Bäumen hervor und auf sie zu. Erst jetzt bemerkte Hal, daß das Fauchen und Zischen der Konusgewehre verstummt war. Der Blick der dunklen Augen Gotteskinds richtete sich auf die Waffe in Hals Händen.

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»Und auch Ihr habt ein Konusgewehr erbeutet. Gut!« Er sah den Offizier der Miliz an, und einige Sekunden lang musterten sich die beiden Männer gegenseitig; der eine war zwanzig Jahre jünger als der andere, und sie unterschieden sich auch in der Kleidung und der Statur – was jedoch den Haß und die wilde und unerschütterliche Entschlossenheit betraf, hätte man sie für Brüder halten können.

»Erspart Euch die Mühe«, sagte der Offizier. »Ihr wißt ganz genau, daß ich Euch nichts verraten werde, ganz gleich, welche Verhörmethoden Ihr auch anwendet.«

Gotteskind ließ den Atem durch die Nase entweichen. Der Lauf seines Konusgewehrs schwenkte wie beiläufig herum und zielte auf den Offizier. Und einige Sekunden lang machte sich Hal nicht klar, was das zu bedeuten hatte. Dann begriff er.

»Nein!« Mit einer jähen Handbewegung stieß er den Lauf der Waffe nach oben.

Gotteskind drehte langsam den Kopf und sah ihn überrascht an. Meistens war das wie verwittert wirkende Gesicht völlig ausdruckslos, doch jetzt glaubte Hal darin so etwas wie fassungslose Ungläubigkeit zu erkennen.

»›Nein?‹« wiederholte Gotteskind. »Mir gegenüber?« »Wir brauchen ihn nicht zu töten.« Gotteskind starrte ihn weiterhin an und holte dann tief

Luft. »Ihr seid neu bei uns«, sagte er leise. »Leute wie diesen Mann hier müssen wir umbringen, bevor sie uns den Garaus machen. Und außerdem hatte der Abtrünnige recht, als er …«

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»Ihr seid die Abtrünnigen – die Verlassenen des Herrn!« warf der Offizier der Miliz rauh und heiser ein. Gotteskind schenkte ihm keine Beachtung. Er blickte nach wie vor Hal an.

»Der Abtrünnige hat recht«, wiederholte er. »Es ist sinnlos, einen Mann zu verhören, der einst zu den Auserwählten gehörte.«

»Ihr habt Euch von den Auserwählten abgewendet! Ich halte nach wie vor am Glauben fest, und Gott ist bei mir!«

Gotteskind achtete noch immer nicht auf die Worte des Captains. »Er würde uns nichts verraten. Vielleicht gibt es noch einen anderen Überlebenden, der kein Auserwählter war. Den könnten wir zum Sprechen bringen.«

Der Gewehrlauf richtete sich erneut auf den Offizier. »Ich habe nein gesagt!« Diesmal hielt Hal die Waffe

fest. Gotteskinds Augen blitzten, als er den jüngeren Mann ansah.

»Ihr werdet das Gewehr sofort loslassen«, setzte er langsam an, »denn sonst …«

Er unterbrach sich plötzlich, als sie ein leises Geräusch vernahmen. Sie wandten sich beide dem Captain der Miliz zu, der aufgesprungen war und mit langen Sätzen davonlief. Gotteskind reagierte unmittelbar: In einer fließenden Bewegung ließ er sich auf das Knie sinken, legte das Konusgewehr an und feuerte. Borke splitterte weißlich von einem Baumstamm. Langsam ließ er die Waffe wieder sinken und starrte in die Richtung, in die

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der Offizier verschwunden war. Dann wandte er sich Hal zu.

»Ihr habt einen derjenigen, der viele von uns umgebracht hat, entkommen lassen«, sagte er. »Und wenn wir ihn nicht stellen können, wird er weitere von uns töten.«

Seine Stimme klang ganz ruhig, aber der Blick seiner Augen brannte sich regelrecht in Hal hinein.

»Ihr habt seine Freiheit ermöglicht, weil Ihr mich daran hindertet, auf ihn zu schießen und ihn somit dem Gericht Gottes zu überantworten. Das wird Konsequenzen nach sich ziehen.«

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4 Kurz darauf kamen Rukh und die Kämpfer, die den Hang heraufgeklettert waren und die Stellungen der Miliz direkt angegriffen hatten, auf den Felsvorsprung. Die aufgeregten Stimmen und das Pfeifen der Konusgewehre ließ nach und verstummte dann schließlich ganz. Die Mitglieder des Kommandos eigneten sich die Waffen und Ausrüstungsteile der gefallenen Uniformierten an und kehrten über den Hang in die Tiefe zurück. Bis auf den Captain hatte keiner der schwarzgekleideten Uniformierten überlebt. Offenbar machte weder die Miliz noch das Kommando Gefangene, wenn nicht die Notwendigkeit bestand, sie zu verhören. Der Offizier, dem Hal unfreiwillig die Flucht ermöglicht hatte, konnte nicht gestellt werden. Und möglicherweise, so überlegte Hal, waren auch einige der anderen Milizionäre entkommen.

Vierzehn Esel waren entweder durch die von den Konusgewehren abgefeuerten Geschosse ums Leben gekommen oder so schwer verletzt worden, daß nichts weiter übrigblieb, als sie zu töten. Die Lasten, die sie getragen hatten, mußten nun von den Kämpfern der Streitmacht zusätzlich geschleppt werden. Als sich das Kommando wieder auf den Weg machte, trugen nur Rukh und James Gotteskind keine Packtaschen.

Bis zum Sonnenuntergang verblieben ihnen noch rund drei Stunden. Sie stützten ihre Verwundeten und

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beförderten auch die Toten, und nach nur anderthalb Stunden machten sie halt und errichteten das Nachtlager. Diese Zeit aber reichte aus, um aus dem Bergpaß herauszugelangen und ein Tal zu erreichen, das ganz dem ähnelte, in dem Hal und Jason zu der Einsatzgruppe gestoßen waren. Sobald die Zelte standen, fand im rötlichen Licht des Sonnenuntergangs eine Andacht für die Gefallenen des Kommandos statt, und anschließend nahmen sie seit dem Abbrechen des Lagers am vergangenen Morgen die erste Mahlzeit ein.

Nach dem Essen machte sich Hal daran, Jason bei der Pflege der Esel zu helfen, die ihnen noch geblieben waren. Er hatte sich ganz auf diese Arbeit konzentriert, als Rukh an ihn herantrat.

»Ich möchte mit Ihnen sprechen«, sagte sie zu Hal. Sie führte ihn fort vom Lager, auf das hohe Ufer eines

kleinen Flusses, bis sie sich außerhalb der Hörweite Jasons und der anderen Leute im Lager befanden. Während Hal ihr folgte, spürte er erneut die sonderbare Sensibilisierung seiner Sinne, die von Rukhs Nähe herbeigeführt wurde – von der Tatsache, daß sie sich von allen Menschen unterschied, die er bisher kennengelernt hatte. Etwas Einzigartiges haftete ihr an, und dieser Faktor gesellte sich auf erregende Weise zu dem Wissen von seiner eigenen Andersartigkeit. Seine sonderbare Reaktion ließ sich nicht etwa damit erklären, daß sie beide sich ähnelten, denn das war nicht der Fall. Aber sie teilten sich etwas Einzigartiges, und das baute eine Brücke zwischen ihnen – oder gab Hal zumindest das Gefühl, ihr näher zu sein als allen anderen.

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Schließlich blieb Rukh auf einer kleinen Lichtung zwischen den am Flußufer wachsenden Bäumen stehen und sah ihn an. Das Zwielicht war noch immer so hell, daß es den Anschein hatte, als nehme ihr Gesicht eine seltsame dreidimensionale Festigkeit an.

»Howard«, sagte sie, »zwischen Ihnen und demKommando muß irgendeine Art von Übereinkunft getroffen werden.«

»Zwischen mir und dem Kommando, oder zwischen mir und Gotteskind?« fragte er.

»James ist das Kommando«, erwiderte sie. »Ebenso wie unsere Gruppe von mir und allen anderen Angehörigen repräsentiert wird. Das Kommando kann nicht überleben, wen seine Kämpfer nicht gehorchen. Und niemand gab Ihnen den Befehl, die Stellungen der Miliz ganz allein und nur mit einem Nadler bewaffnet anzugreifen.«

»Ich weiß«, sagte Hal schlicht. »Ich habe bereits in ganz jungen Jahren gelernt, wie notwendig Befehle einerseits sind und wie wichtig es andererseits ist, sie zu befolgen. Dieses Wissen wurde zu einem Teil meines Wesens. Aber der Mann, der mich das lehrte, machte mir auch klar, daß man manchmal, wenn es die Lage erfordert, auch von sich heraus aktiv werden muß.«

»Aber wieso hielten Sie es für möglich, es ganz allein mit einer Streitmacht im Hinterhalt aufnehmen zu können?«

»Ich habe Ihnen ja gesagt, wer ich bin und wie ich aufwuchs«, antwortete Hal. Er zögerte, wußte aber, daß jetzt alles gesagt werden mußte. »Bis zum heutigen Tag

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habe ich noch nie auf einen lebenden Menschen geschossen. Doch Sie und das Kommando sollten sich jetzt eines klarmachen: Abgesehen von Ihnen und Gotteskind bin ich vermutlich besser als jeder andere für das geeignet, was wir gerade hinter uns haben.«

Er unterbrach sich. Rukh blieb still und beobachtete ihn nur. Vor seinem inneren Auge sah Hal erneut die Soldaten – wie sie lachten und auf die Leute auf dem unteren Felssims schossen.

»Größtenteils handelte ich allein aus Reflexen heraus«, sagte er. »Und ich wußte, daß ich nichts versuchte, was ich nicht auch schaffen konnte.«

Überraschenderweise nickte Rukh. »Na schön«, meinte sie. »Doch sagen Sie mir eins: Wie

fühlten Sie sich, als alles vorbei war? Wie fühlen Sie sich jetzt?«

»Elend«, gestand Hal offen ein. »Eine Zeitlang war ich ganz benommen. Jetzt aber fühle ich mich nur noch elend und erschöpft. Ich würde mich gern hinlegen und einen Monat lang schlafen.«

»Wir sind alle müde«, sagte Rukh. »Aber wir empfinden nicht Ihre Art von Elend – niemand von uns. Haben Sie Ihren Freund Jason gefragt, wie er sich fühlt?«

»Nein«, erwiderte Hal. Einige Sekunden lang musterte Rukh ihn schweigend. »Ich habe meinen ersten Gegner im Alter von dreizehn

Jahren getötet«, sagte sie dann. »Ich gehörte dem Kommando meines Vaters an, als es von der Miliz angegriffen und aufgerieben wurde. Ich entkam – auf die

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Weise wie der Offizier heute. So eine Erfahrung haben Sie im Gegensatz zu uns nie gemacht. Und Kampfgeschick allein macht Sie nicht wichtiger als die anderen Leute dieser Streitmacht.«

Hal sah auf sie hinab und kam sich seltsam losgelöst von der Realität vor. Rukhs Abbild, so fuhr es ihm durch den Sinn, verdiente eine bildhauerische Manifestation in ewigem Fels – und bei diesem Gedanken erinnerte er sich plötzlich an das Felsengesicht, das ihm geholfen hatte, dem Versuch Bleys', ihn zu kontrollieren, zu widerstehen.

»Vermutlich haben Sie recht«, entgegnete er nach einer Weile. »Ja … es stimmt.«

»In erster Linie sind wir das, was wir sein müssen«, sagte Rukh. »Erst dann sind wir das, was wir sind. James stellt das dar, was das Leben aus ihm machte – und was er jetzt sein muß. Sie sollten beide Aspekte von ihm verstehen. Es bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig, wenn Sie sich wie alle anderen auch in die Struktur des Kommandos einfügen wollen. Sie müssen James so sehen, wie er ist und wie er sein muß – als meinen Stellvertreter. Haben Sie das verstanden, Howard?«

»Hal«, berichtigte er sie unwillkürlich. »Ich glaube«, erwiderte Rukh, »ich sollte Sie weiterhin

Howard nennen.« »Wie Sie meinen.« Hal atmete tief durch. Wo es

Verstehen gibt, so erinnerte er sich an die lehrenden Worte Walters, da ist kein Platz für Zorn oder Trauer oder ein anderes kräftezehrendes Empfinden. »Ja, Sie

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haben recht. Ich sollte ihn verstehen. Und ich werde es versuchen.«

Er lächelte sie an, um sie zu überzeugen. »Es muß Ihnen gelingen«, sagte Rukh. Sie entspannte

sich. »Und jetzt, nachdem alles geklärt ist … Sie haben uns heute sehr geholfen. Wäre nicht Ihr Angriff auf die rechte Flanke der Miliz gewesen, hätte weder die Gruppe James' noch meine Erfolg gehabt. Und in einem solchen Fall wäre kaum jemand von uns mit dem Leben davongekommen. Außerdem konnten wir durch Sie einige gute Konusgewehre und weitere militärische Ausrüstungsteile erbeuten. Angesichts dieser Umstände tausche ich den Nadler, den wir Ihnen gaben, gegen ein Konusgewehr ein.«

Hal nickte. »Darüberhinaus«, fuhr Rukh fort, »bin ich der

Meinung, Sie sollten das über unsere Pläne erfahren, was die anderen schon wissen.«

»Jason meinte, ich sollte Sie danach fragen«, erwiderte Hal. »Ich hielt es für besser, zu warten, bis Sie von allein auf mich zukämen.«

»Er hatte recht«, sagte Rukh. »Ich will mich kurz fassen. Auf dieser Seite des Gebirges sind wir nach wie vor in Gefahr. Auf den weiteren Innenebenen sind die Angehörigen der verschiedenen Kommandos zahlenmäßig der Miliz überlegen. Unser Gegner beschränkt sich deshalb darauf, strategisch wichtige Positionen unter Kontrolle zu halten – soweit es die personellen Kräfte erlauben. Von diesen Bergen aus führen verschiedene Wege in die Ebenen. Ganz gleich,

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für welche Route wir uns auch entschieden hätten: Die Wahrscheinlichkeit für einen Angriff war in jedem Fall recht hoch. Aber nach dem Sieg über die Patrouille haben wir gute Aussichten, von nun an in Ruhe gelassen zu werden, so lange der Feind nicht weiß, was wir vorhaben.«

»Erklären Sie mir eines«, warf Hal ein. »Ich weiß, daß der auf den Jüngeren Welten herrschende Mangel an moderner Technik Flugzeuge und ähnliche schwere Gerätschaften sehr verteuert und es deshalb nur wenige entsprechende Maschinen gibt. Aber die Miliz verfügt doch bestimmt über Aufklärer – leichte Flugzeuge –, die uns von oben entdecken könnten, selbst dann, wenn wir die Ebenen erreicht haben. Oder?«

»Das stimmt«, sagte Rukh. »Aber es sind nicht viele. Es handelt sich um Fluggeräte aus Holz und Segeltuch, Segler, die selbst bei schlechtem Wetter fliegen können. Doch andererseits herrscht zwischen den verschiedenen Einheiten der Miliz ein ausgeprägtes Konkurrenz- und Neiddenken, und darum leiht eine Gruppe, die ein solches Flugzeug hat, es nur sehr ungern an eine andere aus. Der Treibstoff für die kleinen Hilfsmotoren ist knapp. Nun, und wenn tatsächlich mehrere solche Segler über den Ebenen kreisen: Es gibt in den betreffenden Regionen weite Wälder, und während rund neunzig Prozent des Weges sind wir auf diese Weise vor Entdeckung geschützt. Die restlichen zehn Prozent legen wir, wie Sie sich gewiß denken können, nachts zurück.«

»Ja«, sagte Hal.

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»Nun, ich will mit all dem folgendes sagen«, fuhr Rukh fort. »Da wir jetzt eine Patrouille erledigt haben, können wir ziemlich sicher sein, daß uns die Miliz in Ruhe läßt, so lange wir nicht irgendeine Dummheit begehen und ihre Aufmerksamkeit erwecken. Denken Sie daran: In erster Linie kommen der Miliz Polizeifunktionen für die Regierung zu, nicht nur auf dem Land, sondern vor allen Dingen in den Städten. Und das bindet die meisten Kräfte unseres Gegners in den großen Ansiedlungen.«

»Gut«, sagte Hal. »Sie haben sicher recht. Was also hat das Kommando vor? Darüber wollten Sie mir doch Auskunft geben, nicht wahr?«

Rukh zögerte. »Selbst jetzt kann ich Ihnen noch nicht alles sagen«, gestand sie ein. »Unser Ziel ist zum Beispiel nur einigen wenigen …«

»Auf der Fahrt nach Ihrem Lager«, warf Hal ein, »hörte ich, wie Hilary und Jason über eine Anlage an den oberen Wasserwegen sprachen.«

Rukh schüttelte den Kopf, und ihr Blick war nun forschend und wachsam.

»Ich erinnere mich jetzt«, sagte sie. »Jason berichtete mir davon. Das Problem ist, Jason selbst hätte eigentlich ebenfalls nichts davon erfahren dürfen. Mit Hilary sieht das ein wenig anders aus, aber Jason … Nun, da Sie das schon wissen, können Sie auch den Rest erfahren.« Sie holte tief Luft. »Die einzelnen Kommandos stellen nur die Speerspitze derjenigen dar, die gegen die Anderen und die von ihnen kontrollierten Personen opponieren. Wir experimentieren mit den speziellen Stoffen, die wir gesammelt haben. Wir versuchen, Knallquecksilber

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daraus herzustellen. Und sobald wir diese Technik beherrschen, geben wir das Wissen um sie an Sympathisanten wie zum Beispiel Hilary weiter, die daraufhin noch mehr Knallquecksilber produzieren, mit dem wir später dann den Kunstdünger explodieren lassen. Ein Kilogramm dürfte ausreichen, um viele Tonnen von ölgetränktem Nitratdünger in die Luft fliegen zu lassen. Wir hoffen, den Dünger durch einenÜberfall auf ein entsprechendes Lager in der Ebene in die Hand zu bekommen. Und die Menge sollte genügen, um die Anlage an den oberen Wasserwegen zu zerstören, von der die Anderen die Energie für die Maschinen beziehen, mit denen sie hier auf dem Nordkontinent interstellare Raumschiffe bauen.«

»Aber man sollte doch eigentlich annehmen, daß sich ein solches Düngerlager mitten im Zentrum einer Stadt befindet«, sagte Hal.

»Nicht direkt im Zentrum«, antwortete Rukh. »Aber innerhalb der Stadtgrenzen, ja. Während wir das Lager angreifen, führen wir gleichzeitig ein Ablenkungsmanöver durch und überfallen eine Metallbank in der gleichen Stadt. Unsere Leute können Metall – gleich von welcher Art – immer gut brauchen, und wir hoffen, daß wir genügend erbeuten und es uns gelingt, es durch die Berge an die Küste zurückzuschmuggeln. Aber der Überfall auf die Bank dient nur dazu, von dem Angriff auf das Düngerlager abzulenken, nicht umgekehrt. Nachdem wir die Nitrate haben, stecken wir das Gebäude in Brand, so daß beieiner Überprüfung nicht festgestellt wird, daß wir entsprechende Vorräte gestohlen haben.«

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»Ich verstehe«, sagte Hal, und ein Teil seines Bewußtseins befaßte sich mit den notwendigen militärischen Taktiken für ein solches Unternehmen.

»Die lokale Milizeinheit«, fügte Rukh hinzu, »wird uns nur so lange verfolgen, bis wir ihren Distrikt verlassen haben – es sei denn, unser Gegner argwöhnt das, was wir vorhaben. Und dann benachrichtigt er vielleicht die Milizen der anderen Distrikte, was zu einer großangelegten Verfolgungsjagd führen mag. Das wiederum könnte zu unserer Vernichtung führen und damit zur Vereitelung aller unserer weiteren Pläne.«

»Kann ich mir denken«, sagte Hal leise. »Aber mit viel Glück jagen wir die Anlagen unseres

eigentlichen Zieles in die Luft, machen uns anschließend rasch auf und davon und kehren in die Berge zurück – und wir hoffen, daß dann noch genügend von uns am Leben sind, um auch weiterhin als eigenständiges Kommando zu fungieren. Wenn wir allerdings nicht ganz so viel Glück haben, schaffen wir es nicht zurück in die Berge. Und wenn etwas schiefgeht, wird unsere Einsatzgruppe aufgerieben, bevor wir Gelegenheit haben, den Reaktor zu sprengen.«

»Die Bewohner dieses Kontinents – hängen sie nicht von der Energieversorgung durch die entsprechende Anlage ab?«

»Ja.« Rukh sah Hal ernst an. »Aber auch die Anderen. Sie brauchen den Reaktor für das Raumschiffs-Montagewerk – das einzige in der nördlichen Hemisphäre. Wenn wir ihn in die Luft jagen, sind sie gezwungen, ihre Konstruktionspläne an die

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Kapazitäten des Kraftwerks im Süden anzupassen – und der Reaktor ist kleiner und in logistischer Hinsich von geringerer Bedeutung.«

»Sie sind bereit, einen ziemlich hohen Preis zu zahlen, um Ihrem Gegner einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, nicht wahr?« fragte Hal.

»Alle Preise sind hoch«, antwortete Rukh schlicht. Das letzte Licht des Tages verblaßte nun rasch. Schon

seit mehreren Stunden hing die Scheibe des Vollmonds über dem einen Horizont, aber im hellen Glanz der Sonne war sie nur undeutlich zu erkennen gewesen. Hal und Rukh spürten nun den ersten Atemhauch des Nachtwinds, und die Brise ließ sie ein wenig frösteln. Trotz des Halbdunkels war Rukhs Gesicht nach wie vor deutlich zu erkennen, und es wirkte auf irgendeine Art und Weise fern, als werde sie von der heranrückenden Nacht nicht nur von Hal getrennt, sondern auch von allen anderen Personen. Plötzlich war er zutiefst bewegt, aus Gründen, die er nicht verstand, und aus einem jähen Impuls heraus berührte er sie mit beiden Händen an den Schultern, beugte sich vor und sah sie an. Einige Sekunden lang waren ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, und ohne nachzudenken schlang Hal die Arme um sie und küßte sie.

Für einen Sekundenbruchteil fühlte er ihre Verblüffung, und sie versteifte sich. Dann aber schmiegte sie sich an ihn. Doch schon kurz darauf drückte sie ihm ihre Hände auf die Oberarme und schob in von sich, mit einer Kraft, die ihn erstaunte.

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Er ließ sie los. Und in dem Halbdunkel musterten sie sich gegenseitig.

»Wer sind Sie?« fragte sie heiser und so leise, daß er sie kaum verstehen konnte.

»Sie wissen, wer ich bin«, erwiderte er. »Ich habe es Ihnen gesagt.«

»Nein«, entgegnete sie in dem gleichen gedämpften Tonfall. »Sie sind mehr als das.«

»Wenn das stimmt«, sagte Hal – und er hatte das Gefühl, als seien sie bereits in einem ganz besonderen Bann gefangen –, »so weiß ich nichts davon.«

»Doch, Sie wissen es.« Sie blickte ihm in die Augen. »Nein«, fügte sie

schließlich hinzu. »Sie wissen es wirklich nicht, oder?« Rukh trat zurück, von ihm fort. »Ich kann niemandem

gehören«, sagte sie, und ihre Stimme schien nun aus weiter Ferne zu kommen. »Ich bin eine Kriegerin des Herrn.«

Hal fiel keine Antwort darauf ein. »Verstehen Sie?« fragte Rukh nach einer Weile. Hal schüttelte den Kopf. »Ich bin eine Auserwählte«, erklärte Rukh. »Wie

James. Wissen Sie nicht, was das bedeutet?« »Einer meiner Mentoren war einmal ein

Auserwählter«, erwiderte er langsam. »Ich verstehe. Und es bedeutet mehr als nur das. Es bedeutet, daß Ihnen das Paradies sicher ist.«

»Es bedeutet, die besondere Gnade Gottes empfangen zu haben. Und mein Weg ist vorbestimmt. In meinem

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Leben ist kein Platz für das, was ich mir wünsche.« Inzwischen war Rukhs Gesicht nur noch ein helles Oval in der Finsternis, und ihre Stimme klang weich und sanft. »Verzeihen Sie mir, Hal.«

»Weshalb?« fragte er. »Für das, was ich tat.« »Sie haben überhaupt nichts getan.« Hals Stimme

wurde schärfer. »Ich bin es gewesen.« »Vielleicht«, sagte sie. »Aber ich ebenfalls. Es ist nur

… Solange ich die Verantwortung für dieses Kommando habe, darf ich an nichts anderes denken.«

»Ja«, sagte Hal schlicht. Rukh kam auf ihn zu und berührte ihn am Arm. Hal

spürte, wie ihre Finger zudrückten, und er glaubte auch, die Wärme ihrer Hand zu fühlen, selbst durch den dicken Stoff der Jacke.

»Kommen Sie«, sagte Rukh. »Wir müssen noch mit James sprechen. Er wartet auf uns.«

»In Ordnung«, erwiderte Hal. Rukh drehte sich um, und sie kehrten durch den Wald zurück, Seite an Seite – aber nicht so nahe, daß sie sich hätten berühren können.

Gotteskind befand sich in einem Einzelzelt in der Nähe des Lagerzentrums. Er hatte sich offenbar gerade schlafen legen wollen. Und im Licht der kleinen Lampe sahen die Furchen in seinem Gesicht tiefer aus; er machte auf Hal nun einen wesentlich älteren Eindruck. Als er zusammen mit Rukh in den Eingang des Zeltes trat, erhob sich Gotteskind.

»Ich komme«, sagte er.

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Er verließ das Zelt, und Hal und Rukh traten zurück, um ihm Platz zu machen. Die halb zur Seite gerollte Eingangsplane ließ gerade so viel Lampenlicht durch, daß sie sich gegenseitig erkennen konnten.

»James«, sagte Rukh, »ich habe mit Howard gesprochen, und ich glaube, er versteht nun unsere Lage hier draußen.«

Gotteskind sah Hal an und gab keine Antwort. Hal erinnerte sich an sein Versprechen, den älteren Mann zu verstehen zu versuchen, und als er seinem Gegenüber in die Augen blickte, unterdrückte er seinen instinktiven Trotz.

»Und da er uns außerdem bei der Erbeutung einiger guter Konusgewehre geholfen hat, versprach ich ihm eine der Waffen.«

Gotteskind nickte. »Darüberhinaus habe ich ihn in unsere Pläne für die

nächsten Wochen eingeweiht.« »Du bist die Befehlshaberin«, erwiderte Gotteskind. Er

hatte sich ihr zugewandt, als die Konusgewehre von Rukh erwähnt worden waren. Anschließend richtete sich sein dunkler Blick wieder auf Hal. »Ich bin Euer vorgesetzter Offizier, Howard. Wollt Ihr meinen Anweisungen von nun an gehorchen?«

»Ja«, sagte Hal. Er war todmüde – und Rukh und Gotteskind sicher

ebenfalls. Sie schwiegen, und er sah sie nacheinander an. »Wenn das alles ist«, meinte Hal, »dann kehre ich jetzt

in mein Zelt zurück. Gute Nacht.«

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»Gute Nacht«, antwortete Rukh. »Möge uns der Herr auch weiterhin gnädig sein«, sagte

Gotteskind. Hal drehte sich um und ging. In dieser Nacht war kein

großes Feuer entzündet worden, und kaum hatte er dem Zelt Gotteskinds und der darin leuchtenden Lampe den Rücken zugewendet, da schloß sich auch schon die Finsternis um ihn. Aber das Lager wurde immer in der gleichen Art aufgebaut. Und als Hal die Dunkelheit durchwanderte, gewöhnten sich seine Augen nach und nach an den blassen Schein des Mondes, der ihm den Weg zeigte. Er fand zu seinem Zelt zurück, und die Glühröhre war auf die niedrigste Emissionsstufe justiert. Ihr Schein reichte kaum aus, die kalten und gewölbten Wände im Innern zu erhellen.

Jason war bereits in seinen Schlafsack gekrochen und schlief. Hal entkleidete sich leise, schaltete die Lampe aus und streckte sich ebenfalls aus. Er lag auf dem Rücken und starrte ins Leere, gefangen in einem Zustand des Halbschlafs. Vor seinem inneren Auge erlebte er noch einmal, wie er durch den Kamin nach oben kletterte, wie er die Stellungen der Miliz ausfindig machte. Er sah, wie einer der Soldaten im ersten Versteck von einem seiner Kameraden auf die Schulter geklopft wurde und lachte. Noch einmal betätigte er den Auslöser seines Nadlers und sah die drei Uniformierten fallen. Er warf die manipulierten Konusgewehre in die Stellungen der anderen Feindgruppen. Er sah, wie der Lauf der Waffe Gotteskinds herumschwenkte und sich

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auf den Offizier der Miliz richtete, und erneut stieß er ihn beiseite …

Und er sah Rukh, die sich im Zwielicht bewegte und ihn ansah …

Hal kniff die Augen zu und sehnte sich nach der Ruhe des Schlafes, aber diesmal gehorchten ihm Geist und Körper nicht. Still lag er im Zelt, und aus seinem Gedächtnis kamen die Geister seiner drei Mentoren hervor, traten vor seinen Schlafsack und blickten auf ihn herab.

»Er hat es zum erstenmal erlebt«, sagte Malachi. »Er brauchte sie.«

»Nein«, widersprach Walter der Unterweiser. »Sein erstes Erlebnis in dieser Art war unser Tod. Und damals hatte er niemanden, mit dem er darüber sprechen konnte.«

»Unser Tod war etwas ganz anderes«, sagte Malachi. »Diesmal ist er selbst aktiv geworden. Und wenn er sich nicht ganz verlieren soll, braucht er Hilfe.«

»Sie kann ihm nicht beistehen«, warf Obadiah ein. »Sie ist allein Gott verpflichtet.«

»Er wird überleben«, sagte Walter. Es war eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen sich der Exote unerschütterlicher gab als die beiden anderen Mentoren. »Auch ganz allein, wenn es sein muß – ohne jede Hilfe. Dieser Aspekt von ihm unterlag meiner Obhut. Und ich versichere euch, daß er nicht nur dieses Erlebnis übersteht, sondern auch weitaus schlimmere.«

»Hoffentlich stimmt das«, sagte Obadiah scharf.

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»Es muß stimmen«, erwiderte Walter sanft. »Hal, du schläfst nur deshalb nicht, weil du nicht schlafen willst. Alles unterliegt allein dem Willen, auch dies. Wenn ein Problem nicht gelöst werden kann, muß man es zur Seite schieben – bis der Tag gekommen ist, an dem sich die Lösung zeigt. Was habe ich dich gelehrt? Niemand kann dir die Entscheidung abnehmen, auch nicht die des eigenen Todes. Wenn du also wach bleiben und leiden willst – bitte. Aber mach dir klar, daß das auf deine eigene Entscheidung zurückgeht und es sich dabei nicht etwa um etwas handelt, das du nicht kontrollieren kannst.«

Hal schlug die Augen auf und zwang sich dazu, ruhig und gleichmäßig durchzuatmen. Und er stellte fest, daß er die Zähne fest aufeinandergepreßt hatte. Er entspannte die Kiefermuskeln, aber es nützte nichts. Er starrte in die Finsternis.

»Ich kann nicht«, sagte er schließlich. »Doch, du kannst«, widersprach der Geist Walters

ruhig. »Dies und noch viel mehr.« Es war, als versuche man, die Finger einer Hand zu

strecken, die so lange zur Faust geballt gewesen war, daß sie ganz vergessen hatte, daß sie sich auch noch bewegen konnte. Und damit einher ging eine sonderbare Angst, die Furcht vor den Konsequenzen, die ein Öffnen der Hand nach sich ziehen mochte. Schließlich aber gelang es Hal, den Knoten in sich zu lösen. Die Wände des kleinen und türlosen psychischen Zimmers, in dem sein Bewußtsein gefangen gewesen war, stürzten ein, und erneut eröffnete sich ihm das Universum.

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Er schlief ein.

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5 Am nächsten Morgen brachen sie wieder auf, und am Nachmittag befanden sie sich bereits in einer fast ebenen Region, in der es viele Bauernhöfe gab. An einigen Stellen war der Boden schwarz und gefurcht – die Landarbeiter hatten ihn schon für die Frühjahrssaat gepflügt. Es war, so fand Hal, als gelange man nach einer langen Reise durch die Wüste an eine Oase, und der dumpfe Kummer, den er seit dem Angriff der Miliz empfunden hatte, begann sich zu verflüchtigen. Selbst die Stimmung der Verwundeten stieg, und auf den Bahren, die sich jeweils zwischen zweien der ihnen noch verbliebenen Esel befanden, stemmten sie sich in die Höhe. Sie sahen sich um, sogen sich die wärmere Luft des Tieflands in die Lungen und lachten dann und wann, während sie mit denen sprachen, die neben ihnen gingen und Packtaschen trugen. Es war so, als schickten sie sich alle an, eine bessere Welt zu betreten.

Hal dachte an seine früheren Studien und erinnerte sich, daß diese Region Harmonies nach den ärmlichen Maßstäben der beiden Quäkerwelten tatsächlich als reich galt. Der Boden war schwarz und fruchtbar, und die Bauernhöfe erwirtschafteten einen Überschuß, der den hungrigen Bewohnern der größeren Städte in der Nähe geliefert wurde – Städten mit einem Bevölkerungsvolumen, das sonst nur an der Küste hätte ernährt werden können, dort, wo die

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Nahrungsmittelreserven des Ozeans leicht zugänglich waren.

Als sie das eigentliche Farmland erreichten, begann sich das Kommando aufzulösen. Die Verwundeten wurden in den Häusern der Bauern untergebracht, wo sie von den Gesunden gepflegt wurden. Und man reorganisierte sowohl die noch verbliebenen Esel als auch die unverletzten Kämpfer zu kleinen Einheiten, die auf sich gestellt den vereinbarten Treffpunkt in der Nähe der Düngemittelanlage erreichen sollten: nahe einer kleineren Stadt, die einige hundert Kilometer von den Bergen entfernt war.

Hal wurde von Jason getrennt und einer Gruppe von zehn Kämpfern zugewiesen, deren Anführer Gotteskind war. Durch die besondere Zusammenstellung sollten die einzelnen Einheiten für große Familien gehalten werden, und daher reichte das Alter der jeweiligen Kämpfer von Großvätern bis hin zu erwachsenen Enkeln. Die Arbeit auf den Bauernhöfen des zentralen Nordkontinents von Harmonie wurde allein mit der Muskelkraft von Eseln und Menschen bestritten. Die kulturelle Struktur der Bauern entsprach der einer großen und in sich geschlossenen Familie, deren Söhne und Töchter sich gegenseitig heirateten und ihren Lebenspartner dann mit nach Hause nahmen, was nicht selten dazu führte, daß auf einem Bauernhof bis zu sechzig Personen lebten.

Wenn sich solche Familien – oder einzelne Gruppen davon – auf die Reise begaben, so wirkten sie auf den Straßen wie kleine Clans. Und dementsprechend konnte das zehn Personen umfassende Kommando mit

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Gotteskind als Familienältestem keinen Verdacht erwecken, als es aufbrach. Gekleidet waren Hal und die anderen in graue, dunkelblaue oder schwarze Jacken oder Kurzmäntel, und darüberhinaus trugen sie weiße Hemden, Schleifen und dunkle Mützen. Die Sachen stammten von den mit ihnen sympathisierenden Bauern, denen sie unterwegs begegnet waren, und vom äußeren Erscheinungsbild her konnten sie daher nicht von anderen Reisenden unterschieden werden.

Angesichts der veränderten Umgebung spürte Hal, wie sich auch seine allgemeine Einstellung wandelte. Sie wanderten über die Straße und winkten mit den Mützen, wenn sie einer Familiengruppe begegneten, die in die entgegengesetzte Richtung unterwegs war, und Hal machte bald die Feststellung, daß er mit der Veränderung sowohl etwas gewonnen als auch etwas verloren hatte.Als sie immer wieder an bestellten Äckern und Häusern vorbeikamen, verflüchtigte sich das tiefempfundene Freiheitsgefühl, das er in den Bergen genossen hatte. Hier sah er seinen Bewegungsspielraum wieder eingeschränkt – nicht so sehr wie auf Coby, aber doch so stark, daß er ein gewisses Unbehagen nicht ganz unterdrücken konnte.

Die Versuchung, Gedichte zu schreiben, ließ nach. Und an ihre Stelle traten ein Drängen und eine Verantwortung, die er nicht genauer zu erfassen vermochte. Auf irgendeine seltsame Weise hatte er nun das Gefühl, als sei der Aufenthalt in den Bergen wie eine Art Urlaub gewesen, und nun mußte er sich wieder an die Arbeit machen, in einem Universum, in dem es galt, den

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praktischen Aspekten des Lebens Beachtung zu schenken.

Der Angriff der Miliz im Paß, der fast intime Augenblick mit Rukh, die vorherige Konfrontation mit James Gotteskind – das alles veranlaßte Hal dazu, seine Aufmerksamkeit erneut in erster Linie auf das zu richten, was ihn umgab. Er war den Angehörigen des Kommandos inzwischen menschlich recht nahe gekommen – in der kurzen Zeit sogar näher als den Kollegen auf Coby, näher sogar als Sost, Tonina und John Heikkila. Der Grund war nicht nur der gemeinsame Kampf gegen die Miliz. Langfristig gesehen hatte er auf Coby Tonina, Sost und John gebraucht, während sie seine Hilfe nicht nötig gehabt hatten. Hier auf Harmonie hingegen war es so, als sei er der ganzen menschlichen Rasse einen Schritt nähergekommen. Gleichzeitig aber war er sich in einem verstärkten Ausmaß der Distanz bewußt, die ihn noch von jedem einzelnen Kämpfer trennte. Einerseits verlangte es ihn heftig nach Rukh, doch andererseits sah er keine Möglichkeit, sie jemals für sich zu gewinnen. Außerdem erweckte der Gedanke an Gotteskind nach wie vor eine gewisse Unruhe in Hal. Der ältere Mann war aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Obadiah – und Hal hatte Obadiah geliebt. Deshalb, so überlegte er, sollte er zumindest dazu in der Lage sein, Gotteskind Sympathie entgegenzubringen. Er hätte ihn gern gemocht – begriff aber, daß er dazu nicht in der Lage war.

Es ging um mehr als nur einen einfachen Wunsch, Gotteskind zu mögen. Wie Obadiah gesagt hatte: James personifizierte das eigentlich Wesentliche an der

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Splitterkultur der Quäker. Hal hatte auf die Quäker reagiert, ebenso wie auch die Exoten und die Dorsai. Er hatte auf sie reagiert und war auch traurig geworden, denn wie Walter ihm erklärt hatte: Sie alle würden eines Tages der Vergangenheit angehören.

Trotzdem sah er sich außerstande, Gotteskind zu mögen oder zu bewundern. Wenn Hal ganz kühl und emotionslos an ihn dachte, schien der ältere Kämpfer nichts weiter zu sein als eine voreingenommene und halsstarrige Person, die keine Tugenden aufzuweisen hatte, sah man einmal von seinem militärischen Geschick und der Tatsache ab, daß der Zufall ihn zum Gegner der Anderen gemacht hatte und er deshalb auf der Seite Hals stand.

Und bei dieser Überlegung fiel ihm auch noch etwas anderes ein. Auf lange Sicht konnte er sich nicht einfach damit zufriedengeben, ein einfacher Angehöriger des Kommandos zu sein, blindlings alle Befehle auszuführen und darauf zu hoffen, auf diese Weise den Anderen zu entgehen. Sicher gab es noch mehr als nur das. Er mußte irgendeinen langfristigen Plan entwickeln. Aber was für einen? Etwa zum hundertstenmal war er in dieser Hinsicht tief in Gedanken versunken, als ihn der Klang einer lauten Stimme jäh in die Wirklichkeit zurückbrachte.

Es war der Abend des dritten Tages ihrer Reise als einzelne Gruppe. Sie hatten gerade die Kuppe eines kleinen Hügels erreicht und machten sich auf der anderen Seite an den Abstieg, um auf eine etwa fünf Kilometer weite Ebene zu gelangen, die in mehrere gepflügte

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Ackerbereiche unterteilt war und auf der hier und dort Häuser standen, im Windschutz hoher Bäume. Über die Straße kam aus jener Richtung ein dicklicher Mann, der nur wenig jünger als Gotteskind zu sein schien und ihnen etwas zurief.

Eine knappe Minute später begegneten sie ihm und blieben stehen, um sich mit ihm zu unterhalten. Angesichts der Anstrengung des forcierten Marsches war sein Gesicht gerötet, und er nahm die Mütze ab und fächerte sich damit Luft zu.

»Sie sind Gotteskind und die andern Soldaten aus dem Kommando Rukh Tamanis? Wir haben gerade gehört, daß Sie auf dem Weg hierher sind. Wollen Sie heute abend in meinem Bauernhof übernachten? Es wäre mir ein Vergnügen, Sie im Namen des Herrn bei mir aufnehmen zu können. Ich wollte ohnehin schon seit langem einmal mit Kommando-Kämpfern sprechen.«

»Wir danken dem Herrn, der Euch schickte«, erwiderte Gotteskind. »Wir sind gern Eure Gäste.«

Angesichts seiner scharfen Stimme klangen seine Worte mehr wie ein Befehl und hörten sich nicht so sehr nach der freundlichen Annahme einer Einladung an. Doch der Bauer schien sich nicht daran zu stören. Er fächelte sich noch einige weitere Male Luft zu und setzte sich die Mütze dann wieder auf den Kopf.

»Kommen Sie«, sagte er. Und er führte sie den Hang hinunter und unterhielt sich mit Gotteskind. Die knappen und nach wie vor scharf klingenden Antworten, die er erhielt, machten ihm offenbar auch weiterhin nichts aus.

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Auf seinem Bauernhof lebten ganz offensichtlich mehr Personen als die einer normalgroßen Familie. Die Unterkünfte befanden sich in mindestens zwölf miteinander verbundenen Gebäuden. Als sie auf den Innenhof dieses Komplexes traten, an den sich auf drei Seiten Häuser anschlossen, vernahmen sie aus der offenstehenden Tür des größten Gebäudes, auf das sie zuhielten, leise Flötenmusik.

»Verzeihen Sie!« sagte der dickliche Mann. Hastig eilte er ihnen voraus und verschwand in dem

dunklen Rechteck des Eingangs. Die Klänge der Musik verstummten abrupt, und einige Sekunden später kam ihr Gastgeber wieder auf den Platz, das Gesicht erneut gerötet.

»Es tut mir leid«, schnaufte er und wandte sich diesmal insbesondere an ihren Anführer. »Diese Kinder … Aber er ist ein guter Junge. Er hat nur nicht begriffen … Bitte entschuldigen Sie.«

»Lobet nicht den Herrn mit Musikinstrumenten und anderen Dingen der sündigen Muße, denn Er ist nicht müßig und duldet kein derart verwerfliches Verhalten«, sagte Gotteskind finster.

»Ich weiß, ich weiß. Ach, aber die Zeiten … sie verändern sich so rasch, und Kinder verstehen nicht so ohne weiteres. Kommen Sie doch, kommen Sie!«

Sie folgten ihm in einen großen Raum mit hoher Decke, in dem es im Vergleich mit dem noch hellen Tag draußen geradezu dunkel war. Als sich Hals Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, fiel sein Blick auf einige Stühle und Bänke; der Boden des

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Zimmers bestand aus poliertem Holz, und am einen Ende befand sich ein nachgerade riesenhafter Kamin. Durch die Tür in der Wand gegenüber dem Kamin konnte man in einen weiteren Raum blicken, einen, der eher lang als breit war. Und darin stand ein Tisch, an dem, so schätzte Hal, rund hundert Personen Platz gefunden hätten.

»Setzen Sie sich«, sagte ihr Gastgeber. »Oh, entschuldigen Sie, ich habe ganz vergessen, mich Ihnen vorzustellen. Mein Name ist Godlun Amjak. Und dies ist mein Zuhause. Ältester Gotteskind, wollen Sie uns die Ehre erweisen und bei der kurz bevorstehenden Abendmesse zu uns sprechen?«

»Ich bin kein Ältester, und ich habe auch nie nach einem solchen Titel gestrebt«, erwiderte Gotteskind. »Ich bin Krieger des Herrn, und das genügt mir. Ja, ich werde zu Euch sprechen.«

»Vielen Dank.« »Dankt lieber Eurem und meinem Gott.« »Natürlich, natürlich. Das mache ich. Ich danke Gott.

Sie haben völlig recht.« Jüngere Männer und Frauen in der üblichen Kleidung –

oben weiß und unten schwarz – traten schüchtern ins Zimmer, und sie brachten Krüge mit kühlem Wasser und Teller mit kleinen und dunklen Kuchen. Gotteskind lehnte das Gebäck ab, ließ sich aber Wasser einschenken. Einige Minuten lang saßen sie auf den Stühlen und Bänken und genossen die Kuchen, und anschließend führte man sie durch das Haus auf einen weiteren, diesmal rechteckigen Innenhof. Der Boden bestand aus Steinfliesen, und die Wände waren weiß getüncht und

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schmucklos – bis auf ein dünnes schwarzes Kreuz, dessen Darstellung so groß war wie Hal. Vor diesem Kreuz stand eine kleine, aus dunklem Holz bestehende Plattform samt Lesepult. Letzteres war leer.

Auf dem Platz hielten sich bereits viele Personen auf – ganz offensichtlich die Angehörigen des Haushalts Godlun Amjaks. Sie hatten diszipliniert Aufstellung bezogen und bildeten zwei Gruppen, die rechts und links der freien Fläche eines Mittelgangs standen. Godlun führte die zehn Kämpfer des Kommandos durch diesen Gang dorthin, wo die rechte Gruppe extra Platz für sie gelassen hatte, einige Schritte von dem Kreuz und dem Lesepult entfernt. Anschließend betrat der dickliche Mann die Plattform und sah von dort aus auf sie herab. Von den Wänden der an allen vier Seiten an den Platz grenzenden Gebäude wuchsen lange Schatten zu ihnen heran, doch der über ihnen sichtbare Himmel stellte dazu einen hellblau glänzenden Kontrast dar.

Eine Sekunde lang war es auf dem Platz völlig still, so als hielten alle Anwesenden den Atem an. Dann erklang die Stimme Godluns.

»Der Herr hat uns heute mit Seiner besonderen Gnade bedacht«, sagte er, »indem er uns als unsere Gäste zehn Seiner Krieger schickte. Einer von ihnen ist ein Offizier aus dem Kommando Rukh Tamanis. Es sind Leute, die nicht nur gegen die Dämonen des Teufels kämpfen, sondern auch Satan selbst, der die Gestalt der Anderen Menschen angenommen hat – gegen sie und ihre Schergen, die uns dazu verleiten wollen, unserem Glauben zu entsagen und den Herrn hinter sie an die

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zweite Stelle zu setzen. Wir können uns weiterhin darüber freuen, daß der Offizier, den ich gerade erwähnte, ein Mann namens Gotteskind, bei dieser Gelegenheit der Besinnung zu uns sprechen wird. Es ist eine große Ehre für unsere Familie, und wir werden sie nicht vergessen.«

Im Anschluß an diese Worte stieg Godlun von der Plattform herunter und sah Gotteskind an, der daraufhin aus der vordersten Reihe der versammelten Gläubigen heraustrat und den Platz des dicklichen Mannes auf dem Podest einnahm. Sein schmales Gesicht war ihnen allen zugewandt. Und seine Stimme klang wie aufeinanderklirrendes Eisen, als er laut sagte:

»›… Und ich sah aus dem Munde des Drachens und aus dem Munde des Tieres und aus dem Munde des falschen Propheten drei unreine Geister gehen, gleich Fröschen.

Diese sind Teufelsgeister, die tun Zeichen und gehen aus zu den Königen der ganzen Welt, sie zu versammeln zum Streit auf jenen großen Tag Gottes, des Allmächtigen …‹«

Er unterbrach sich und sah seine Zuhörer an. »Ist euch diese Stelle aus der Offenbarung des

Johannes bekannt?« »Ja, das ist sie«, antworteten die Gläubigen um Hal

herum wie mit einer Stimme. »›Und er hat sie versammelt an einem Ort, der da heißt

auf hebräisch Harmagedon.‹« Erneut hielt er inne. »Ihr wißt auch«, fuhr er fort, »daß das Tier und der

falsche Prophet, deren Kommen in der Offenbarung vorhergesagt wurde, nun unter uns sind. Glaubt nicht,

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daß sie für euch einen Unterschied machen. Denn für diejenigen, die Zeugnis ablegen vor dem Lebenden Gott, gibt es keinen Unterschied zwischen dem, was war und immer sein wird. Es gibt nur einen Tag, den Tag des Herrn. Und welche Stunde dieses Tages begonnen hat, spielt keine Rolle für die, die in Ihn vertrauen und als Seine Diener auserwählt sind. Andere als ihr werden in der letzten Stunde verstoßen. Doch von denjenigen, die nicht verstoßen werden, braucht niemand zu fragen: ›Wann ist die Stunde gekommen, in der ich vor meinem Gott Zeugnis ablegen soll?‹ Denn alle, die dem Herrn dienen, werden gerufen, wenn sie Zeugnis ablegen sollen, und die Stunde ist nicht so wichtig.«

Gotteskind hielt erneut inne, und diesmal schwieg er so lange, dass Hal schon glaubte, seine Ansprache sei beendet. Dann aber fügte er hinzu:

»Und auch die Art des Zeugnisabiegens spielt keine Rolle. Insbesondere irren sich jedoch die, die hoffen, ihr Bekennen sei mit keinen Schwierigkeiten verbunden – und die, die in dieser Hinsicht sich das Schicksal eines Märtyrers erträumen. Es kommt nicht auf die Art des Zeugnisses, sondern auf das Zeugnis selbst an. Denkt immer daran: Ob es Nacht sei oder Tag, ob ihr schlaft oder wacht, ob ihr allein seid oder in Begleitung vieler – wenn euer Bekenntnis erforderlich wird, so ist nur wichtig, ob ihr es ablegt oder nicht. Und derjenige, der Teil des Lebenden Gottes ist, kann nicht umhin, in diesem Augenblick das Banner seines Glaubens zu heben. Und derjenige, der sich vom Herrn bereits abgewendet hat, wird nicht die Kraft dafür finden.«

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In der Menge um ihn herum vernahm Hal ein dumpfes Seufzen – ein so leises Geräusch, daß er es kaum wahrnehmen konnte.

»All diejenigen, die nicht des Glaubens sind, werden bestraft werden. Aber die, die Zeugnis ablegen, bekennen sich nicht nur deshalb, weil sie auf das ewige Leben hoffen. Denn eure Pflicht vor dem Herrn und Seinem Werk geht darüber hinaus. Wenn der Herr vor der Stunde eures Bekenntnisses zu euch kommt und spricht ›Mein Diener und Krieger sollst du sein. Doch eben für diesen Zweck mußt du zusammen mit den anderen, die sich von mir abgewendet haben, verstoßen werden‹, so werdet ihr nur dann, wenn ihr wahrhaftig des Glaubens seid, die richtige Antwort geben: ›Wenn du es so bestimmst, Herr, dann soll es so und nicht anders sein. Denn ich bitte nur darum, Zeugnis ablegen zu können …‹«

Bei den letzten Worten reduzierte sich die Lautstärke der Stimme Gotteskinds auf ein Flüstern – aber es war ein Wispern, das von allen Versammelten vernommen wurde.

»›Denn du, mein Herr und Gott, bist immer bei mir gewesen und wirst mich nie verlassen, und das, was du bist, kann niemals von mir genommen werden …‹« – und bei den nächsten fünf Worten wurde seine Stimme wieder zu dem heiseren und eindrucksvollen Raunen – »›… nicht einmal von dir selbst, mein Herr und Gott. Denn du bist in mir, und so bin ich in dir, vom Anfang bis zum Ende, für alle Ewigkeit. Denn du warst vor allen Dingen und wirst nach ihnen sein. Und die Seelen deiner

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Diener sterben nicht, sondern werden eingehen in das Sein selbst.‹«

Er schwieg, und seine Stimme verklang so plötzlich und überraschend, daß niemand, weder Hal noch einer der anderen Zuhörer, auf die jähe Stille vorbereitet war. Erst als Gotteskind wieder hinter dem Lesepult hervortrat und an seinen Platz zurückkehrte, begriffen sie, daß seine Ansprache zu Ende war. Godlun kletterte wieder aufs Podium.

»Wir singen Frag nicht, Soldat«, sagte er. Und sie begannen zu singen, ohne musikalische

Begleitung, allein mit einer Vielzahl von Stimmen, die seit langer Zeit eine spezielle Harmonie entwickelt hatten, und Hal sang mit all den anderen. Denn dieses Lied – ursprünglich militärischen Ursprungs und verwendet von den Söldnern der Quäkerwelten, die auf anderen Planeten kämpften – hatte er schon in jungen Jahren von Obadiah gelernt.

»Frag nicht, Soldat – nicht jetzt noch irgendwann, In welchen Krieg dein Banner dich führen mag …«

Sie sangen alle Strophen, und die ganze Zeit über blieben sie ruhig stehen, eine von den Mauern am Rand des Platzes isolierte Gemeinde. Als sie fertig waren, trat Godlun wieder von der Plattform herunter. Die Abendmesse war zu Ende. Am Himmel über ihnen zeigten sich nach wie vor keine Wolken, aber mit dem verblassenden Licht des sterbenden Tages hatte er sich zu einem dunklen Kobaltblau verfärbt, das noch für eine gewisse Zeit das Glänzen der Sterne überstrahlen würde.

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»Kommen Sie«, wandte sich Godlun an Gotteskind, und er führte seine Gäste ins Haus zurück. Dort ließ er sie auf einfachen Stühlen am oberen Ende des langen Tisches Platz nehmen. Er selbst ließ sich auf einem der beiden Sitze an den gegenüberliegenden Enden des Tisches nieder. Der andere blieb leer.

»Meine Frau Meah«, sagte Godlun zu Gotteskind, der rechts neben ihm saß. Er nickte in Richtung des leeren Stuhls, als wolle er ihnen ein Phantom vorstellen.

»Möge der Herr ihrer Seele für immer gnädig sein«, erwiderte Gotteskind.

»Sie ist bei Ihm«, sagte Godlun. »Seit ihrem Tod sind nun schon sechzehn Jahre vergangen. Dieses große Haus, das uns eine Heimstatt bietet, wurde für sie erbaut.«

Gotteskind nickte erneut, schwieg jedoch. »Sie sind nicht verheiratet?« fragte ihn Godlun. »Meine Frau und ich lebten zwei Jahre und fünf Tage

mit dem Segen des Herrn«, sagte Gotteskind, »bevor sie von der Miliz umgebracht wurde.«

Godlun blickte ihn groß an und zwinkerte überrascht. »Wie schrecklich!« »Es war der Wille des Herrn.« Godlun wandte sich abrupt von ihm ab, drehte sich halb

auf seinem Stuhl um und rief in Richtung einer offenen Tür, durch die Essensdünste in den großen Raum wehten:

»Kommt jetzt! Rasch, beeilt euch!« Im Anschluß an diese Aufforderung eilten die

erwachsenen Mitglieder der Familie in den Raum und

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nahmen die noch freien Plätze am Tisch ein. Kurz darauf kamen weitere Personen, und sie trugen gefüllte Tablette und Schüsseln aus der Küche.

Das Essen war erstaunlich gut. Hal zählte mehr als fünfzehn verschiedene Speisen. Selbst im Vergleich mit der Art und Weise, wie sie von den anderen Bauernfamilien unterwegs bewirtet worden waren, stellte dies ein Festbankett dar. Godlun nutzte die Anwesenheit seiner Gäste ganz offensichtlich dazu, ein Fest zu veranstalten. Insbesondere fiel Hal auf, daß ihnen auch viele verschiedene Gemüsesorten angeboten wurden, die den Diätbestimmungen gerecht wurden, an die sich Gotteskind hielt. Hal hatte den älteren Mann noch nie so herzhaft zugreifen sehen, und seine in sich geschlossene Art lockerte sich daraufhin etwas. Immer ausführlicher beantwortete er die Fragen Godluns. Und als sie sich nach dem Essen in das große Wohnzimmer begaben und Gotteskind sich neben Godlun setzte, hielt er praktisch einen Monolog, der nur dann und wann von einer Frage oder einer knappen Bemerkung ihres Gastgebers unterbrochen wurde.

»Es kann kein Zweifel daran bestehen«, wandte sich James Gotteskind an den Bauern, »daß die Miliz immer stärker wird, weil sich die Anzahl derjenigen erhöht, die von der Teufelsbrut dazu verleitet werden, sich vom Herrn abzuwenden. Das ist eine Tatsache, mit der wir uns abfinden müssen – so Gott will.«

»Aber …« Godlun zögerte. »Sie … Sie haben doch sicher eine Hoffnung, die Ihnen Kraft gibt.«

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»Eine Hoffnung?« In dem flackernden Schein des Kaminfeuers sah das schmale Gesicht Gotteskinds noch eindrucksvoller aus, und er drehte den Kopf und sah ihren Gastgeber an.

»Die Hoffnung, daß es schließlich gelingt, die Miliz und alle anderen Schergen der Teufelsbrut zu besiegen und vom Angesicht dieser Welt zu tilgen.«

»Meine Pflicht besteht nicht darin zu hoffen«, erwiderte Gotteskind. »Allein der Wille des Herrn ist wichtig.«

»Aber es kann doch nicht Sein Wille sein, daß alles, was wir hier – und ebenso auf Eintracht – aufgebaut und erreicht haben, vom Geschmeiß des Satans ruiniert wird. Daß unsere Kirchen geschlossen, unsere bekennenden Stimmen zum Schweigen gebracht und unsere Kinder im sündigen Unglauben erzogen werden.«

»Kennt Ihr den Willen des Herrn?« fragte Gotteskind. »Vielleicht hat Er es so und nicht anders vorgesehen. Und wenn das der Fall ist: Haben wir dann das Recht, Seinen Willen in Frage zu stellen? Haben wir nicht vor rund einer Stunde gemeinsam gesungen: ›Frag nicht, Soldat – nicht jetzt noch irgendwann, in welchen Krieg dein Banner dich führen mag!‹«

Godlun schüttelte langsam dem Kopf. »Ich kann es nicht glauben, daß Er …« »Ihr macht Euch große Sorgen um Eure Kinder und die

Kinder Eurer Kinder. Aber denkt daran, daß sie nicht Euch gehören. Der Herr hat Euch die Verantwortung für sie nur für eine gewisse Zeit übertragen. Und Er wird sie so benutzen, wie Er es für richtig hält.«

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»Andererseits steht es so schlimm nun auch wieder nicht«, meinte Godlun. »Die Miliz macht uns allen große Sorgen, ja. Und es stimmt: In den Städten führen diejenigen, die vor den Anderen kriechen, ihr eigenes Leben. Aber das Herz unserer Heimat, unseres Volkes und unserer Religion schlägt hier auf dem Land weiter. Wir …«

»Ihr klammert Euch an den Gedanken, daß hier in Eurem Heim nach wie vor Frieden herrscht«, unterbrach ihn Gotteskind. »Aber seht einmal über die Grenzen Eures Hauses und Landes hinweg. Wenn Ihr gebraucht werdet, wenn die Anderen nach den Diensten Eurer Kinder und den Früchten Eurer Äcker verlangen, werden sie dann nicht zu Euch kommen und sich einfach das nehmen, was sie möchten? Denkt nicht nur an die Städte auf dieser Welt, sondern auch die auf all den anderen Planeten. Überall wimmelt es von der Teufelsbrut, und kaum jemand stellt sich ihr entgegen. Denjenigen von uns, die stark im Glauben sind, können sie nichts anhaben. Aber diejenigen, die nicht wie wir bei Gott ausharren, unterwerfen sich ihnen sofort und beten fortan ihre Götzen an. Das Tier und der falsche Prophet, von denen in der Offenbarung des Johannes die Rede ist – sie sind bereits unter uns, und auf allen Welten sammeln sie ihre Kräfte für Harmagedon.«

»Doch Gott wird sie in der letzten Schlacht besiegen!« »Auf Seine eigene Art und Weise.« Godlun schüttelte erneut den Kopf, wandte den Blick

von Gotteskind ab und starrte in die Flammen des Kaminfeuers.

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»Ich kann es nicht glauben«, kam es leise von seinen Lippen. »Ich habe diese Wort schon oft gehört, aber ich will sie nicht glauben. Aus diesem Grund wünschte ich mir so sehr, mit jemandem wie Ihnen zu sprechen. Wie können Sie, der Sie Ihr Leben lang gegen Seine Feinde gekämpft haben, davon ausgehen, die letzte Schlacht sei schon verloren?«

»Verantwortungsbewußte Leute«, erwiderte Gotteskind fast traurig, »sehen in die Zukunft. Die Schlacht, von der Sie sprachen, ist tatsächlich bereits verloren. Die Zeiten haben sich schon gewandelt. Selbst wenn diejenigen, die Gott verflucht hat, morgen ausgelöscht werden: Die alten Traditionen sind zerstört – und daran sind nicht die Anderen schuld, sondern wir selbst. All die vielen Jahrhunderte, die vergangen sind, seit der Mensch ihnen zum erstenmal eine Grundlage des Glaubens verlieh, gehen nun zu Ende, und das, was wir aufbauten, wird zu Staub zerfallen. Als wir ankamen, habe ich da nicht direkt aus Eurem Haus den müßig-sündigen Klang eines Musikinstruments vernommen? Und doch befindet sich derjenige, der darauf spielte, nach wie vor unter Eurem Dach. Vor einer Stunde nahm er zweifellos mit uns zusammen an der Abendmesse teil. Wenn die Sünde schon Eingang in Euer eigenes Haus gefunden hat, wie könnt Ihr dann auf die Erlösung aller Menschenwelten hoffen?«

Godlun wandte sich Gotteskind zu und starrte ihn groß an. Die Sehnen in seinem Hals zitterten und traten ein wenig vor, aber er gab nur ein leises Stöhnen von sich.

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»Nein«, sagte Gotteskind, und seine Stimme klang nun wirklich weich und sanft. »Wer bin ich schon, daß ich Euch Vorhaltungen machen könnte? Ich schildere Euch nur die Realität. Viele tausend Jahre lang lebte der Mensch der Erde als Diener Gottes – bis das Böse in Form der Bequemlichkeit vieler Werkzeuge und Instrumente kam. Schon damals kündigte sich das Ende an. Aber der Herr gab dem Menschen noch eine zweite Chance und schenkte ihm weitere Welten. Und daraufhin zogen Seine Kinder in die Ferne und versuchten, im Licht fremder Sonnen das aufzubauen, was sie für richtig hielten. Aber all die Anstrengungen führten im Verlauf der Zeit nur zu drei neuen Völkern: wir, die wir des Glaubens sind, diejenigen, die wir die Leugner Gottes nennen und die sich selbst als Exoten bezeichnen, und die Männer und Frauen des Krieges, die als Dorsai bekannt sind. Und wie sich inzwischen herausgestellt hat, entspricht keines dieser drei Völker dem eigentlichen Wesen des Herrn. Und deshalb konnten sich die Hybriden entwickeln, die wir die Anderen nennen – und die inzwischen alle anderen Menschen versklavt haben und mit ihren Welten ganz nach Belieben verfahren. Wenn Ihr an all das denkt, sehr Ihr dann nicht ein, daß wir auch die zweite Chance vertan haben? Wir haben gar keine andere Wahl, als nun das zu ernten, was wir säten. Und anschließend wird die ganze Menschheit vom ewigen Dunkel des Untergangs vereinnahmt werden.«

Godlun riß die Augen auf. »Aber Sie setzen den Kampf fort!«

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»Natürlich!« bestätigte Gotteskind. »Ich bin ein Krieger des Herrn, und es spielt keine Rolle, welche Erfolgsaussichten wir haben. Ich muß Ihm gegenüber Zeugnis ablegen, indem ich meinen Körper dem Feind entgegenstelle, so lange mir das möglich ist – und indem ich diejenigen schütze, die ich zu schützen vermag, bis mein Ende gekommen ist. Wieso sollte es wichtig für mich sein, wenn die Menschen aller Planeten sich dazu entschlossen haben, direkt in die Hölle zu marschieren? Ihre Sünden haben für mich keine Bedeutung. Mir geht es allein darum, Gott zu dienen – und den Glauben derjenigen zu wahren, zu denen ich gehöre. Letztendlich werden all die anderen, die Eingang in die Hölle finden, einfach vergessen. Doch der Herr wird sich an uns Krieger und Diener erinnern – nach mehr verlangt es mich nicht.«

Godlun schlug die Hände vors Gesicht und verharrte so eine Weile. Dann ließ er die Arme wieder sinken und hob den Kopf. Hal bemerkte, daß er plötzlich sehr alt aussah.

»Für Sie ist das alles ganz leicht«, hauchte er. »Es sind fleischliche Sorgen, die Euch belasten«,

erwiderte Gotteskind ruhig und sanft. »Das weiß ich, weil ich mich daran erinnere, wie es in den Monaten war, die ich zusammen mit meiner Frau verbringen konnte. Und auch heute denke ich noch manchmal an die ungeborenen Kinder, von denen ich mit ihr träumte. Ihr möchtet Eure Kinder in den dunklen Tagen schützen, die uns allen bevorstehen. Und Ihr hofftet, ich könnte Euch Mut machen und davon überzeugen, daß Ihr dazu in der Lage seid. Eine solche Hoffnung aber kann ich Euch

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nicht geben. All das, was Ihr liebt, wird dem Untergang anheimfallen. Die Anderen verwandeln die Welten der Menschheit in einen Sündenpfuhl, und es gibt niemanden, der sie daran hindern kann. Wendet Euch an Gott, mein Bruder, denn nirgend sonst könnt Ihr Trost finden.«

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6 Irgendwann in der Nacht erwachte Hal in dem langen Zimmer, das man ihnen als Schlafstatt zugewiesen hatte. Vor den Fenstern hingen keine Gardinen, und in dem blassen Schein des Mondes sah er über die Doppelreihe der Matratzen und die darauf Schlafenden hinweg. Niemand von ihnen rührte sich, und alles war still.

Hal stemmte sich auf den Ellenbogen in die Höhe, und nach wie vor empfand er die namenlose Unruhe, die ihn geweckt hatte. Nach einer Weile vernahm er aus der Ferne ein leises Geräusch, dessen Ursache er nicht zu identifizieren vermochte. Es hatte seinen Ursprung außerhalb des Raumes, flüsterte durch die offenen Fenster am einen Ende des Zimmers. Hal stand auf, trat barfüßig auf die Fenster zu und sah hinaus. Auf dem Innenhof – dem Platz, auf dem die Abendmesse stattgefunden hatte – sah er die schattenhafte Gestalt eines Mannes, der auf einer der Bänke saß und die Schultern hängen ließ. Während er ihn beobachtete, zuckten die Schultern; die rechte Hand kam in die Höhe und preßte sich auf den Mund – und daraufhin ertönte das Geräusch erneut: ein unterdrücktes Husten. Das erleichterte es Hal trotz des Halbdunkels, den Mann zu erkennen. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um festzustellen, welche Matratze leer war.

Der Mann auf dem Platz war James Gotteskind. Hal beobachtete ihn noch eine Zeitlang, und zwei weitere

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Male hustete der ältere Mann hinter vorgehaltener Hand, und anschließend drehte er sich um und legte sich wieder hin. So lange Hal wach war, kehrte Gotteskind nicht ins Zimmer zurück, und es dauerte nicht lange, bis er erneut einschlief.

Am nächsten Morgen brachen sie auf, als im Osten noch das Rot der Dämmerung zu sehen war. Alle Mitglieder von Godluns Haushalt traten nach draußen, um sie zu verabschieden, und man füllte ihnen die Vorratstaschen mit Speisen, die bis zum Abend reichen würden – bis sie einer anderen Familie begegneten. Die Männer und Frauen behandelten Gotteskind und seine Kämpfer so, als gehörten sie zu ihnen.

Als sie wieder auf der Straße unterwegs waren, übernahm James Gotteskind wie üblich schweigend die Führung. Hal beobachtete den älteren Mann, und weder in seinem ledrigen Gesicht noch in seiner Verhaltensweise zeigte sich etwas, das den Hustenanfall in der vergangenen Nacht hätte erklären können. Irgend etwas veranlaßte ihn dazu, dem Stellvertreter Rukhs neues Interesse entgegenzubringen.

Am lag offenbarte Gotteskind keine Anzeichen von Schwäche oder einer Krankheit. Während der nächsten Wochen führte er seine Einheit im Marschtempo durch die Ebene, und es dauerte fünf weitere Nächte, bis Hal erneut in der Dunkelheit erwachte und feststellte, daß die Matratze Gotteskinds leer war. Er blickte nach draußen, und wieder sah er ihren Anführer: Er hockte im Freien, und dann und wann schüttelte sich sein Leib infolge von Hustenanfällen.

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Hal wandte sich mit vorsichtigen Fragen an die anderen Angehörigen der Einsatzgruppe. Doch ganz offensichtlich hatte niemand von ihnen jemals etwas von dem nächtlichen Leiden Gotteskinds bemerkt. Jede Vermutung, der stellvertretende Befehlshaber des Kommandos sei vielleicht krank, wurde mit der Überzeugung beantwortet, nichts könne dem Mann etwas anhaben, da er mehr sei als nur ein einfacher Mensch.

Schließlich erreichten sie den Treffpunkt. Es handelte sich dabei um den Mohler-Beni-Bauernhof, ein großes Anwesen, das zwei Familien gleichzeitig bewirtschafteten, so daß hier normalerweise hundertzwanzig Personen lebten und das Kommen und Gehen der zusätzlichen fast zweihundert Kämpfer des Kommandos nicht auffallen würde. Sie waren weniger als dreißig Kilometer von Masenvale entfernt, jener kleinen Stadt, in der sich die Metallbank und die Düngemittelanlage befanden, die Ziele ihres geplanten Angriffs.

Die Gruppe Gotteskinds traf als letzte ein. Es war am Ende eines ungewöhnlich warmen Sommertags, und nachdem sie ihre Ausrüstung in einem der großen Schuppen verstaut hatten, die ihnen als Baracken dienten, empfand Hal die kühle Abendbrise als recht angenehm, als er sich zusammen mit den Kameraden in die Hauptküche des Bauernhofs begab, um dort eine späte Mahlzeit einzunehmen.

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Nach dem Essen trat Rukh auf Gotteskind und auch Hal zu und bat sie beide in ihr Quartier – ein Schlafzimmer für Gäste, in dem sich nun Papiere und Vorräte stapelten.

»Howard«, wandte sich Rukh an Hal, nachdem sie die Tür fest hinter sich geschlossen hatte, »ich habe Sie nicht in erster Linie für eine gemeinsame Erörterung unserer Pläne hierher gebeten, sondern weil ich Ihre frühere militärische Ausbildung als eine Art zusätzliche Informationsquelle nutzen möchte.«

Hal nickte. »Tretet an die Karte heran«, sagte sie. Sie folgten ihr an einen Tisch, der vor einem offenen

Fenster stand, und auf der großen Karte lagen an den Ecken faustgroße Steine, damit sie nicht vom Wind fortgeweht werden konnte. Die Luft war schwül, und es deutete alles auf ein nahes Gewitter hin.

»James, ich habe gerade eine Nachricht von unseren Freunden in Masenvale erhalten«, sagte Rukh. »Sie haben uns versprochen, an verschiedenen Stellen Brände zu legen und in vier Geschäften im Süden der Stadt Einbrecheralarm zu geben, um die lokale Polizei und die Miliz von unseren Angriffszielen abzulenken. Bei unserem Vorstoß in Richtung der Düngemittelanlage werden wir es vermutlich mit der Distriktpolizei zu tun bekommen, aber mit ein wenig Glück und der Hilfe des Überfalls auf die Metallbank, an dem Sie teilnehmen werden, Howard, sollte es uns gelingen, die nötigen Nitrate zu erbeuten und den Gegner gleichzeitig daran zu hindern, bis zu unserem Abzug Verstärkung zu bekommen.«

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Sie drehte sich nach dem Tisch um. »Seht euch die Karte genau an.« Rukh deutete auf eine Stelle in der unteren Hälfte. »Hier befindet sich das Mohler-Beni-Anwesen. Masenvale liegt fast genau im Südwesten. Die Düngemittelanlage wurde am Rand der Stadt errichtet, an einem Ort also, der auf einer direkten Linie zwischen uns – hier – und dem Zentrum der Stadt mit der Metallbank liegt. Im Südsüdwesten …« – der Zeigefinger Rukhs strich über die Karte und um die Stadt herum – »… erheben sich die Vorberge des Aldos-Gebirges. Dorthin werden wir uns zurückziehen, sobald wir uns die Nitrate geholt haben …«

Sie unterbrach sich, als sie durch das offene Fenster das Motorengeräusch von Luftkissenfahrzeugen hörten. Rukh seufzte und entspannte sich ein wenig. Hal beobachtete sie überrascht. Es war gar nicht typisch für sie, auf diese Weise ihre Gefühle zu zeigen – auch wenn die Transporter, die nun eintrafen, für das Gelingen ihres Plans von großer Bedeutung waren.

»Die Laster«, sagte sie. Die Fahrzeuge gehörten in der Nähe wohnenden

Bauern, die sich solche vergleichsweise moderne Technik einerseits leisten konnten und andererseits dem Kommando verpflichtet waren, daß sie sie während des von Rukh geleiteten Unternehmens aufs Spiel zu setzen bereit waren. Ohne entsprechende Transportmittel wären die Angriffe auf die Metallbank und die Düngemittelanlage von vornherein sinnlos gewesen. Und bis zu diesem Zeitpunkt hatte niemand von ihnen sicher sein können, ob ihnen ausreichend Frachtraum zur

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Verfügung stehen würde. Nach den Geräuschen zu urteilen, die sie nun durch das offene Fenster vernahmen, trafen sogar mehr Laster ein, als sie unbedingt brauchten. Rukh wandte sich wieder der Karte zu.

»Mit ein wenig Glück«, sagte sie, »sollten wir die Stadt verlassen und die Vorberge erreicht haben, bevor die Miliz genug Kräfte zusammenziehen kann, um die Verfolgung aufzunehmen. Und sobald wir dort sind, überlassen wir die Wagen wieder ihren Fahrern und machen uns mit den Eseln auf und davon …«

»Was geschieht mit den Fahrern der Transporter, wenn sie von der Miliz erwischt werden?« fragte Hal.

Rukh sah in ruhig an. »Wie ich vorhin sagte, sind Sie nicht hier, um an der

Diskussion über unseren Plan teilzunehmen, sondern um uns als zusätzliche Informationsquelle zu dienen«, erwiderte sie. »Aber wie dem auch sei: Wenn wir uns trennen, werden die Wagen in verschiedene Richtungen fortgefahren. Und da sie leer sind, kann niemand den Besitzern irgend etwas nachweisen. Selbst die Miliz wird sich hüten, die hier lebenden Bauern einem verschärften Verhör zu unterziehen, wenn sie keine Beweise hat. Die Anderen wissen, wie wichtig dieses Farmland für das Überleben des ganzen Nordkontinents ist – ganz zu schweigen von den anderen Regionen Harmonies. Aus diesem Grund haben sie die Bewohner der Mittelebene bisher in Ruhe gelassen und ihnen nicht die Beschränkungen auferlegt wie den Bürgern in den großen Städten.«

Das Motorengeräusch verklang allmählich.

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»Zwar gibt es auch hier Glaubensbrüder«, sagte Gotteskind, »aber die meisten Leute sind träge geworden, und es ist jene Art von Trägheit, die durch eine Müßigkeit der Seele entsteht.«

»Nun«, fuhr Rukh fort, »auf jeden Fall habe ich Ihre Frage beantwortet, Howard. Bitte unterbrechen Sie mich nicht noch einmal. Seht euch bitte das Aldos-Gebirge auf der Karte an. Es verläuft von Süden nach Osten. Ich glaube, wir können jene Region in relativer Sicherheit durchqueren, bis wir in die Nähe Ahrumas gelangen, wo sich der Reaktor befindet. Dort müssen wir die Vorberge verlassen und uns in offenes Gelände begeben, um zu unserem Hauptangriffsziel vorzustoßen. Ich schätze, wir können es in einigen Stunden erreichen, zuschlagen und dann ebenso rasch wieder verschwinden. Dazu brauchen wir natürlich von den dortigen Bewohnern erneut Unterstützung, insbesondere wieder Fahrzeuge. Würden Sie bitte das Fenster schließen, Howard? Draußen wird es allmählich laut.«

Hal kam der Aufforderung nach, und aus den Augenwinkeln sah er dabei das starre Gesicht Gotteskinds, der aufgebracht und zornig nach draußen sah. Gerade als er das Fenster ganz schließen wollte, ertönten die musikalischen Klänge einer Ziehharmonika oder eines Akkordeons. Nur einen Sekundenbruchteil später schob Hal den Riegel in die Einfassung, und es wurde still. Als er sich umdrehte, sah er, daß Gotteskind gerade das Zimmer Rukhs verließ.

»James …«, setzte Rukh scharf an. Aber ihr Stellvertreter war bereits hinaus, und hinter ihm fiel die

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Tür ins Schloß. Rukh ließ den Atem zischend entweichen, straffte die Gestalt und sah Hal an.

»Während ich noch die Gelegenheit dazu habe …«, sagte Hal rasch, bevor sie ihn fortschicken konnte. »Ich möchte Sie etwas fragen: Ist er krank?«

Rukh versteifte sich. »Krank?« wiederholte sie. »James?«

»Auf dem Weg hierher ergab sich mir ein entsprechender Verdacht«, erwiderte Hal entschuldigend. Und er erzählte ihr von den nächtlichen Hustenanfällen Gotteskinds. Als er schwieg, sah ihn Rukh einige Sekunden lang kühl an.

»Haben Sie noch jemand anderem davon erzählt?« fragte sie dann.

»Nein.« Ihre jähe Anspannung ließ ein wenig nach. »Gut«, sagte sie. Sie musterte Hal eine Weile, und als

sie weitersprach, war ihre Stimme leise und klang fast monoton. »Er ist alt. Zu alt für das Leben, das er führt. Seit er ein Junge war, hat er ständig alles von sich abverlangt. Man kann ihn nicht davon abhalten. Sein einziges Bestreben besteht darin, Gott auf die Art und Weise zu dienen, die er für richtig hält. Wir erwiesen ihm keinen Gefallen, wollten wir ihn daran hindern.«

»Der Husten – ist das nur ein Zeichen seines Alters?« fragte Hal skeptisch.

Rukh sah ihn weiterhin ruhig an. »Er hustet, weil ihm Flüssigkeit in die Lungen sickert,

wenn er zu lange liegt«, erwiderte sie. »Sein Herz ist

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schwach. Und die Kräfte seines Körpers lassen allmählich nach. Solange er damit fortfährt, sich selbst so zu belasten, als sei er noch ein junger Mann, kann man ihm nicht helfen – und er will sich auch gar nicht helfen lassen. Darüberhinaus hat er sein Leben ganz dem Herrn geweiht. Erst an zweiter Stelle gehört es ihm selbst. Und auf dem dritten Platz folgt die Verantwortung gegenüber anderen.«

»Ich verstehe«, sagte Hal. »Aber …« Er unterbrach sich, als es draußen plötzlich still wurde

und die Musik abrupt verklang. Es folgte die zornige Stimme Gotteskinds, und aufgrund der Entfernung und der umgebenen Gebäudestrukturen war sie so verzerrt, daß Hal keine einzelnen Worte hören konnte.

»Aber was ist, wenn das Kommando in eine Situation gerät, in der es auf das angewiesen ist, was er einmal zu leisten vermochte, wozu er heute jedoch nicht mehr in vollem Ausmaß imstande ist …« Hal unterbrach sich erneut, als er feststellte, daß Rukh ihm nicht mehr zuhörte, sondern den Geräuschen draußen lauschte. Er musterte sie eine Zeitlang, fast so wie ein unbeteiligter Beobachter aus der Ferne.

»Nimm alle Signale in dich auf«, hatte ihn Walter der Unterweiser gelehrt. »Nicht nur die Botschaften, die dir Augen, Ohren und Nase übermitteln, sondern auch das, was dir das Gebaren der Personen in deiner Nähe sagt, ihre Gestensprache. Situationen, die dir nicht unmittelbar verständlich sind, lassen sich möglicherweise durch das Verhalten deiner Begleiter interpretieren. Beziehe Erkenntnisse auch aus indirekten Quellen. Tiere und

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Kinder machen das die ganze Zeit über. Wir alle tun das, wenn auch nur instinktiv. Doch die Angewohnheiten und Verhaltensstrukturen eines Erwachsenen hindern den betreffenden bewußten Verstand an der Beherrschung dieses Vorgangs.«

Hal beobachtete Rukh nun aufmerksam, und ganz offensichtlich bereiteten ihr die hörbaren Geräusche tiefes Unbehagen – aus Gründen, die sich seinem Verstehen entzogen. Doch das spielte auch gar keine Rolle, denn in diesem Fall reichte es, sich die Reaktionen Rukhs klarzumachen.

Von einem Augenblick zum anderen verwandelte sich das Unbehagen Rukhs in alarmierte Wachsamkeit – obgleich Hal im Klang der Stimme Gotteskinds keinen Unterschied feststellen konnte. Ganz plötzlich drehte sie sich um und hielt auf die Tür zu. Hal folgte ihr.

Gemeinsam traten sie auf einen großen Platz, und die Dunkelheit der Nacht wurde von hohen Lampen an den drei Wänden der nahen Gebäude zurückgehalten. Auf der einen Seite waren einige große Erntetransporter geparkt, und davor hatten sich einige der jüngeren Mitglieder des Kommandos versammelt. In ihrer Begleitung befand sich fast noch einmal die gleiche Anzahl an jungen Landarbeitern in der üblichen, einfachen Kleidung. Bei ihnen handelte es sich ganz offensichtlich um diejenigen, die die Wagen gebracht hatten.

Sie umringten einen der Fahrer, der an einem über die Schulter geschlungenen Riemen ein vermutlich selbst konstruiertes Akkordeon bei sich trug. Doch er spielte

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jetzt nicht mehr darauf, und die Aufmerksamkeit aller Anwesenden hatte sich auf Gotteskind gerichtet. Hal musterte die Gesichter der jungen Leute, und er verstand jetzt die Reaktion Rukhs. Die Mienen der Kommandomitglieder wirkten verlegen, doch das Stimmungsspektrum der Fahrer der Transporter reichte von Verdrießlichkeit bis hin zu offenem Ärger.

Als Rukh auf den Platz trat, schwieg Gotteskind. »Was geht hier vor?« fragte sie. »Sie haben getanzt!« stieß Gotteskind hervor. »Wie die

Huren von Babylon …« »James!« sagte Rukh scharf, und daraufhin schwieg er

erneut. Sie musterte die jüngeren Kämpfer des Kommandos und blickte schließlich auch die Fahrer an, die dichter an den Mann mit dem Akkordeon herangetreten waren.

»Dies ist kein Feiertag«, sagte Rukh laut und deutlich. »Auch kein Spiel von Kindern. Und es ist mir egal, welche Freiheiten Ihnen diese Gemeinschaft gibt. Ist das von all denen verstanden worden, die sich freiwillig dazu bereit erklärten, uns zu helfen?«

Die jungen Leute bewegten sich nervös. Der Fahrer mit dem Musikinstrument – ein breitschultriger Mann mit lockigem, braunem Haar – streifte sich den Halteriemen von der Schulter und ließ das Akkordeon zu Boden sinken.

»In Ordnung«, sagte Rukh, als ihr niemand widersprach. »Die Fahrer begeben sich nun zu ihren jeweiligen Wagen. Die Mitglieder des Kommandos sind bereits in entsprechende Einzelgruppen aufgeteilt

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worden. Die Zählung beginnt auf dieser Seite der Reihe der geparkten Fahrzeuge: Der ersten Gruppe mit dem Ziel Metallbank wird der folgende Wagen zugewiesen und die anderen den weiteren Einheiten. Die entsprechenden Gruppen treten nun auf die jeweiligen Fahrer zu. Ich möchte, daß Sie sich gegenseitig kennenlernen.« Rukh wandte sich von ihnen ab. »James, Howard!« rief sie. »Kommt mit mir ins Haus zurück, damit wir die Besprechung zu Ende führen …«

»Einen Augenblick!« Es war die Stimme des Akkordeonspielers, die sie

unterbrach. Rukh sah den betreffenden Mann an, der sein Musikinstrument nun auf dem Boden liegen ließ und auf sie und Hal zukam. Die anderen Einheimischen folgten ihm.

»Der da«, sagte der Mann, als er dicht vor Rukh stehenblieb, und er deutete auf Hal. »Das ist doch der, hinter dem sie her sind, nicht wahr? Und wenn das stimmt – hätte man uns das nicht sagen müssen?«

»Wovon sprechen Sie?« fragte Rukh. »Von diesem Mann hier«, erwiderte der

Akkordeonspieler und sah Hal an. »Die Anderen jagen ihn, nicht wahr? Und wenn das der Fall ist: Was macht er bei Ihnen, und wieso nimmt er an dem geplanten Unternehmen teil, obgleich seine Anwesenheit allein schon Gefahr bedeutet?«

»Ich gebe Ihnen noch eine letzte Chance zu erklären, was Sie meinen«, sagte Rukh. »Dieser Mann heißt Howard Immanuelson und gehört dem Kommando an. Wenn die Miliz ihn verfolgt, so jagt sie uns alle.«

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»Er wird gesucht«, erwiderte der Musikant. Er warf Gotteskind einen kurzen Blick zu, der an die andere Seite Rukhs getreten war. »Überall ist sein Bild zu sehen. Und es gibt da einen Sonderbeamten, einen ehemaligen Auserwählten, der rund vierzig Jahre alt ist und Barbage heißt – dieser Mann hat einzig und allein die Aufgabe, die Suche zu leiten. Er hat den ganzen Distrikt alarmiert, um diesen Immanuelson aufzustöbern. Wie ich schon sagte: Es ist schon gefährlich, daß er sich hier bei uns aufhält, und wir dürfen ihn auf keinen Fall mitnehmen. Wenn wir ihn nicht schnellstens von hier fortschaffen, geht es uns noch allen an den Kragen.«

»Der Beamte, der nach Euren Worten einmal ein Auserwählter war, obgleich er sich mit der Teufelsbrut eingelassen hat«, warf Gotteskind ein. »Ist er größer als ich? Hat er schwarzes Haar, und kneift er die Augen zusammen bei seinen blasphemischen Versuchen, die Sprache Gottes zu benutzen?«

Der Akkordeonspieler sah ihn an. »Sie kennen ihn also?«

Gotteskind wandte sich an Rukh. »Es war der Offizier, der den Befehl über die im Paß im Hinterhalt liegende Streitmacht hatte«, sagte er. »Er sah Howard und auch mich.«

»Aber er will in erster Linie Immanuelson«, sagte er Musikant. »Sie können auch die anderen fragen. Warum wird er gesucht?«

»Darauf erwarten Sie doch wohl von Kommandokämpfern keine Antwort, oder?« erwiderte Rukh scharf.

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Der Akkordeonspieler wich kurz ihrem durchdringenden Blick aus, hob dann aber erneut trotzig den Kopf.

»Dies ist nicht mehr allein eine Angelegenheit des Kommandos«, sagte er. »Als wir uns dazu bereit erklärten, Ihnen zu helfen, wußten wir nicht, daß sich dieser Mann bei Ihnen befindet. Ich warne Sie noch einmal: Er stellt hier eine Gefahr für uns alle dar! Und wenn Sie uns nicht erklären wollen, warum er gesucht wird, sollten Sie ihn fortschicken.«

»Dieses Kommando obliegt meiner Verantwortung«, sagte Rukh. »Wenn Sie sich uns anschließen, so bekommen Sie Befehle und erteilen keine.«

Sie machte Anstalten, sich umzudrehen. »Das ist nicht richtig!« platzte es aus dem

Akkordeonspieler heraus, und die anderen Fahrer murmelten mit gedämpften Stimmen ihre Zustimmung. Rukhs Blick richtete sich ein weiteres Mal auf den Mann. »Dies ist unser Distrikt, Captain! Wir müssen mit der Miliz fertig werden, nachdem der Überfall erfolgte. Das macht uns nichts aus. Ja, wir sind sogar gekommen, um Ihnen zu helfen. Aber wenn wir uns Ihnen anschließen, sollten wir in Hinsicht auf uns direkt angehende Gefahren auch ein Wort mitreden können. Warum stimmen wir nicht ab, ob er gehen soll oder nicht? Ist das nicht eine alte Tradition der Kommandos, die noch aus der Zeit der Quäkersöldner stammt? Ja, wenn ihre Anführer etwas planten, mit dem sie nicht einverstanden waren, so hatten sie doch das Recht, sich dagegen auszusprechen, nicht wahr?«

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Einige Sekunden lang war es auf dem Platz völlig still. »Der Söldnerkodex«, sagte Hal, und er hatte das

Gefühl, als sei ihm angesichts des allgemeinen Schweigens die eigene Stimme fremd, »erlaubte es den Truppen nur dann, ihre Offiziere zu überstimmen, wenn mindestens neunzig Prozent der Soldaten …«

Seine Worte verloren sich in einer verbalen Explosion Gotteskinds.

»Ihr würdet abstimmen?« Sie wandten sich alle ihm zu. Breitbeinig stand er vor

ihnen, die Schultern vorgeschoben, die Hände ein wenig gehoben. Und sein feuriger Blick glitt über die Gesichter der Fahrer hinweg.

»Ihr alle würdet abstimmen?« Das Echo seiner Worte hallte laut von den drei Wänden am Rande des Platzes wider. »Auf euren Lippen haftet noch der Geschmack der Milch Eurer Kühe, und an euren Stiefeln klebt der Mist der Ställe – und ihr wollt entscheiden, ob jemand, der für den Herrn gekämpft hat, fortgeschickt wird oder nicht?«

Er trat zwei Schritte auf sie zu. Die Fahrer waren wie erstarrt, rührten sich nicht von der Stelle, wagten kaum zu atmen.

»Wer seid ihr, daß ihr euch ein solches Recht anmaßt? Howard Immanuelson hat Seite an Seite mit den anderen Kämpfern dieses Kommandos gestritten, während ihr euch an den Früchten eurer Äcker erfreuen konntet. Er hat mit uns gearbeitet, ist mit uns marschiert, hat mit uns gefroren und gehungert, um sich der Teufelsbrut und ihren Schergen entgegenzustellen. Während ihr keinen

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Finger gegen sie rührtet und nun vor Furcht zu zittern beginnt. Was geht es euch an, wenn ein Krieger des Herrn in eurem Distrikt gesucht wird? Ihr seid die fetten Schafe, an denen sich unser Feind labt. Wir hingegen sind die Wölfe Gottes – und Ihr wollt uns allen Ernstes Befehle geben?«

Er machte eine kurze Pause. Die Fahrer bewegten sich noch immer nicht. Selbst der Akkordeonspieler schien angesichts des Zorns Gotteskinds wie gelähmt zu sein.

»Ich will es euch allen sagen, damit ihr es nie wieder vergeßt: Was ihr fürchtet, spielt für uns keine Rolle«, fuhr Gotteskind fort. »Warum sollte es für uns wichtig sein, daß in eurem Distrikt überall nach Howard Immanuelson gesucht wird? Welche Bedeutung sollte es für uns haben, wenn selbst in allen Distrikten von hier bis nach dem Gebirge nach ihm gefahndet wird, auf dem ganzen Kontinent, dieser Welt, vielleicht auf allen Menschheitsplaneten gleichzeitig? Wir würden ihn selbst dann nicht fortschicken oder ausliefern, wenn unsere Streitmacht Zehntausenden von Gegnern gegenüberstände – oder wir dadurch die Möglichkeit hätten, alle Werke der Teufelsbrut zu zerstören. Dafür wäre selbst der Preis einer einzigen Seele zu hoch.«

Er hielt erneut inne. In seinem faltigen Gesicht waren die Augen so dunkel wie der Raum zwischen den Sternen.

»Und doch gibt es einige von euch, die sich in der Gesellschaft Howard Immanuelsons fürchten?« fragte Gotteskind. »Nun, wenn dem so ist, so nehmt eure Wagen und verschwindet. Wir brauchen nicht die Hilfe

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solcher Leute, denn wir Krieger des Herrn stehen im Schatten Gottes, und das genügt uns völlig.«

Er schwieg, und diesmal erhob er seine Stimme nicht noch einmal. Hal warf Rukh einen kurzen Blick zu, und er erinnerte sich an ihre Erleichterung, als sie das Motorengeräusch der heranfahrenden Transporter gehört hatte. Sie stand nun ebenso reglos wie die anderen, beobachtete die jungen Leute und gab keinen Ton von sich. Die anderen Mitglieder des Kommandos blieben ebenfalls still. Wie Gotteskind und Rukh warteten sie, und ihre Blicke klebten an den Mienen der Fahrer fest. Schließlich bewegten sich die jungen Männer, einer nach dem anderen; sie trennten sich, und jeder trat an seinen Wagen heran und bezog neben der Tür Aufstellung. Als letzter von ihnen rührte sich der Akkordeonspieler. Er senkte den Kopf, drehte sich um und ging los. Neben dem letzten Wagen blieb er stehen.

»In Ordnung«, sagte Rukh. Ihre Stimme war zwar einerseits nach wie vor ganz ruhig, klang in der Stille auf dem Platz aber andererseits fast ebenso laut wie die Gotteskinds. »Die Einsatzgruppen begeben sich nun in die Wagen. Gruppenführer: Weisen Sie Ihre Fahrer auf das jeweilige Ziel ein und unterrichten Sie sie davon, was von ihnen erwartet wird. James, Howard – kommt mit mir.«

Zusammen mit den beiden Männern kehrte sie in ihr Quartier zurück, wo sie die unterbrochene Besprechung fortsetzten.

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7 Bei der Metallbank von Masenvale handelte es sich um einen fensterlosen Betonkasten, der von einem Elektrozaun umgeben war und nachts von starken Scheinwerfern beleuchtet wurde, deren grelles Licht sowohl das befestigte Wachhaus als auch die schweren und verriegelten Eingangstüren aus der Dunkelheit riß. In der Nacht nach der Ankunft der Wagen erreichten sie ihr Ziel, und in der Nähe erhoben sich die Barackenblocks des Hauptquartiers der Distriktmiliz. Die relative Finsternis hinter den Fenstern des Wachhauses machte die Uniformierten unsichtbar für die zwölf Kämpfer des Kommandos, die vom Akkordeonspieler an den Rand des Platzes geführt worden waren. Er hatte den Wagen etwas weiter entfernt geparkt, im Schatten zwischen zwei Straßenlampen, und anschließend waren, seine Passagiere, unter ihnen auch Hal, ausgestiegen und durch die Dunkelheit geschlichen. Jetzt duckten sie sich hinter den Mauervorsprung eines Gebäudes, das direkt an den Platz angrenzte. Der Fahrer kehrte zu seinem Transporter zurück und lenkte den Wagen fort; er hielt sich in Bereitschaft.

Die Metallbank und der Zaun schliefen in dem unveränderlichen Muster aus Licht und Schatten. Hinter dem Wachhaus verschmolz der Platz allmählich mit dem Dunkel.

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Hal spürte, wie sich die Muskeln seiner Schultern lockerten und er ganz automatisch die kühle Nachtluft tief in die Lunge sog. Sein Körper bereitete sich auf einen möglichen Kampf vor. Gleichzeitig verspürte er bei dieser Gelegenheit zum erstenmal eine ruhige Entschlossenheit. Er sah sich nach Jason um, begegnete dem Blick des kleineren Mannes und trat hinter dem Mauervorsprung hervor. Sie unterhielten sich mit leisen Stimmen und gaben sich wie zwei Passanten, die ganz in ihr Gespräch vertieft waren. Sie schritten schräg über den Platz und schlugen damit einen Weg ein, der sie an dem Tor, dem Wachhaus und den darin postierten Uniformierten vorbeibringen mußte.

Als sie am Zaun in Richtung Wachhaus entlangwanderten, konnte Hal durch eines der Fenster die Mütze eines Wächters sehen, der in dem Häuschen an einem Schreibtisch saß. Hal wurde allmählich langsamer, und Jason paßte seinen Schritt dem seinen an. Nach einer Weile blieben sie auf diese Weise direkt vor dem Tor stehen und gaben sich nach wie vor den Anschein, als sei ihnen nur ihre Unterhaltung wichtig.

Sie sprachen weiter, so leise, daß ihre Worte für jeden unverständlich bleiben mußten, der sich nicht in ihrer unmittelbaren Nähe befand. Der Zaun war nur einen knappen Meter entfernt, und die Spannung würde sich bei der geringsten Berührung entladen und den Betreffenden zumindest betäuben, wenn nicht gar töten. Die Sekunden verstrichen und wurden zu Minuten. Nach einer Weile öffnete sich die Tür des Wachhauses, und der Wächter kam zum Vorschein.

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»He, ihr beiden dort!« rief er. »Ihr könnt da nicht stehen bleiben. Geht weiter!«

Hal und Jason schenkten ihm keine Beachtung. Sie setzten ihr Gespräch fort.

Stiefelsohlen knirschten laut über die drei Stufen, die vom Wachhaus auf den Beton des Platzes führten, und der Wächter trat ganz aus seinem Unterstand hervor. Hinter ihm fiel die Tür laut ins Schloß. Der Mann schritt am Zaun entlang, und er hatte ganz offensichtlich nichts zu befürchten, wenn er ihn auf seiner Seite berührte. Von der Innenseite der Maschen her konnte keine elektrische Entladung herbeigeführt werden.

»Habt ihr nicht gehört?« Die Stimme des Mannes hallte laut durch den Zaun; der Wächter war nur noch eine knappe Armeslänge von ihnen entfernt. »Ihr beide – bewegt euch und verschwindet von hier, bevor ich das Hauptquartier der Miliz benachrichtige und euch abholen lasse!«

Hal und Jason verhielten sich noch immer so, als gäbe es den Mann überhaupt nicht. Daraufhin trat der Wächter ganz an den Zaun heran, griff nach dem Draht und brüllte sie an. Hal wich zusammen mit Jason zurück.

»Was geht hier …«, setzte der Wächter an. Er konnte den Satz nicht beenden. Hinter ihnen in der

Dunkelheit der Nacht ertönte ein dumpfes Pochen, dann ein leises Zischen – und einen Sekundenbruchteil später sauste ein vorn abgerundetes Armbrustprojektil heran und traf den Uniformierten mit der Wucht eines Schmiedehammers am Kopf. Der Mann stieß gegen den Zaun und begann langsam zu Boden zu sinken. Hal

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streckte rasch die Arme durch eine der recht großen Maschenöffnungen, hielt den Wächter fest und achtete gleichzeitig darauf, den Draht nicht zu berühren.

Da die Sensoren des Zaunes auf der anderen Seite einen aufrecht stehenden und lebenden Körper registrierten, wurden die Elektrokondensatoren von der Automatik aus dem Bereitschaftsnetz separiert. Jason schob sich rasch an die Seite Hals, langte an den angespannten Schultermuskeln seines Kameraden vorbei und griff nach dem mit einem Bild versehenen ID-Abzeichen des Wächters. Damit trat er anschließend an die Sensorplatte im rechten Torpfosten heran und preßte die Karte darauf. Einige Sekunden lang geschah nichts, und dann reagierten die Abtaster, und das Tor schwang leise auf.

Jason sprang sofort auf die andere Seite des Zaunes und drückte die flache Hand auf die Registerfläche, die in der rückwärtigen Front des Torpfostens eingelassen war. Solange er sie berührte, blieb das Tor geöffnet. Hal ließ den Wächter los, der daraufhin ganz zu Boden sank.

Jason hastete eilig weiter und blieb neben der geschlossenen Tür des Gebäudes stehen, und aus einer Tasche seiner Jacke holte er eine Handfeuerwaffe hervor. Hal begab sich ebenfalls auf die andere Seite des Zaunes, hob den bewußtlosen Wächter an, brachte ihn in das Häuschen zurück und fesselte und knebelte ihn dort. Indessen eilten die anderen zehn Mitglieder der Kommandogruppe über den Platz und durch das nach wie vor offene Tor, das der letzte von ihnen hinter sich schloß.

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Hal trat wieder aus dem Wachhaus hervor, und bei sich trug er die Waffe des Wächters, der inzwischen das Bewußtsein wiedererlangt hatte, aber gefesselt und entkleidet war. Er reichte die Uniform einem Mann des Kommandos, der etwa die gleiche Statur hatte wie ihr Gefangener, und der Betreffende streifte sie sich rasch über und zog sich die Kappe tief in die Stirn. Er senkte den Kopf, so daß der größte Teil seines Gesichts vom Mützenschirm beschattet wurde, und anschließend trat er direkt vor die Sensorplatte auf der rechten Seite der Tür. Als er sicher sein konnte, daß die optische Erfassung allein auf ihn beschränkt war und seine Begleiter nicht zu registrieren vermochte, betätigte er die Ruftaste.

Zwei oder drei Sekunden lang blieb alles still. »Jarvy?« erklang dann eine Stimme aus dem kleinen

Lautsprechergitter oberhalb des Paneels. Der nun uniformierte Kommandokämpfer brummte

nur etwas Unverständliches und hielt den Kopf nach wie vor gesenkt.

»Was ist denn?« fragte die Stimme. Erneut das wortlose Knurren. »Ich kann Sie nicht verstehen, Jarvy. Sprechen Sie

lauter.« Der Mann gab keine Antwort und hob den Kopf noch

immer nicht. »Einen Augenblick«, ertönte es aus dem Lautsprecher.

»Offenbar ist irgend etwas mit der akustischen Übertragung nicht in Ordnung …«

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Mit mechanischer Präzision öffneten sich die beiden Hälften der Tür. In dem nun aus der Metallbank auf den Platz fallenden hellen Licht zeichnete sich deutlich die Gestalt eines weiteren Wächters ab, der in die Finsternis spähte.

»Jarvy, was …«, setzte er an. Und dann ging er zu Boden, zum Schweigen gebracht von Händen, die sich ihm auf den Mund und den Hals preßten, als sich die anderen Mitglieder des Kommandos auf ihn stürzten.

»Wo befindet sich das Metallager?« wandte sich Jason mit gedämpfter Stimme an Hal.

»Direkt voraus«, erwiderte Hal, der sich deutlich an den Grundriß des Gebäudes erinnerte, den Rukh ihm gezeigt hatte. Er deutete mit der einen Hand in den breiten Korridor, in dem sie sich nun befanden. »Aber rechts befindet sich das Wachbüro. Du solltest besser warten, bis wir diese Sache erledigt haben.«

Jason nickte und blieb zurück. Hal schlich zusammen mit zwei anderen Männern und drei Frauen des Kommandos – sie alle hatten nun ihre Waffen hervorgeholt – leise durch den Gang und sprang durch die erste Tür auf der rechten Seite, die einen Spaltbreit offenstand. Im Büro hielt sich jedoch nur ein weiterer Wächter auf; er saß auf einem Stuhl und beobachtete die Überwachungsmonitoren, auf den Knien ein Energiegewehr.

Als er Hal und die anderen erblickte, starrte er sie für einen Sekundenbruchteil groß an, griff dann nach seiner Waffe – und ließ sie rasch wieder los, als habe er sich die Finger daran verbrannt. Hal verließ sich auf den

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Feuerschutz seiner Kameraden, trat vor und nahm das Gewehr an sich, das geladen und entsichert war.

»Was wollten Sie damit machen?« fragte er den Uniformierten.

»Nichts …« Der Mann starrte ihn an, und in seinen Augen glitzerte Furcht.

»Wie viele andere Wächter halten sich außer Ihnen hier auf?«

»Nur Ham … nur Ham und ich. Und draußen am Tor noch Jarvy.« Das Gesicht des Mannes war kalkweiß, und er begann zu zittern.

»Wie öffnen Sie das Metallager?« »Das können wir nicht«, erwiderte der Uniformierte.

»Wirklich – dazu sind wir nicht in der Lage. Man gibt uns nicht die Möglichkeit. Die Tür wird von einem Zeitschloß ver- und entriegelt.«

Einige Sekunden lang musterte Hal den Mann schweigend.

»Ich frage Sie noch einmal«, sagte er. »Und diesmal sollten Sie die Vorschriften vergessen. Wie öffnen Sie das Metallager?«

Der Wächter sah groß zu ihm auf. »Sie sind der Mann, nach dem überall gesucht wird,

nicht wahr?« platzte es aus ihm heraus. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, erwiderte

Hal. »Wie war das mit dem Lager …?« »Ich … Code KJ9R auf der Tastatur der

Kontrolleinheit …« Fast hektisch nickte der Uniformierte in Richtung der anderen Seite des

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Zimmers. »Die unter dem großen Schirm dort. Wirklich, das ist die Wahrheit. Damit kann man die Tür des Lagers öffnen.«

»Ich weiß.« Hal lächelte. »Ich wollte Sie nur auf die Probe stellen. So, und jetzt rühren Sie sich nicht von der Stelle, während man Sie fesselt. Wenn Sie keine Schwierigkeiten machen, haben Sie nichts zu befürchten.«

Die anderen Kommandokämpfer kümmerten sich um den Wächter, und Hal nahm das Energiegewehr mit, als er sich in Richtung Tür zurückzog. Während die anderen den Wächter fesselten, trat er an den Schirm heran, den der Uniformierte ihm gezeigt hatte, und über die Tastatur gab er den entsprechenden Code ein. Rukh hatte ihm erklärt, daß es dem Kommando normalerweise nicht schwerfiel, rechtzeitig die Informationen zu bekommen, die für das Gelingen derartiger Überfälle notwendig waren. Aber man hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, solche Hinweise wenn möglich zu überprüfen. Er umfaßte das Energiegewehr fester und kehrte auf den Korridor zurück.

»Die Tür des Lagers müßte jetzt offen sein«, wandte er sich an einen älteren Kommandokämpfer namens Heidrick Falt. »Der Wächter bestätigte den Code, den Rukh mir nannte.«

Falt nickte und musterte Hal nachdenklich. Er war für dieses Unternehmen zum Gruppenführer der Einheit Hals ernannt worden. Nach den Anweisungen Rukhs sollte Hal nur das Eindringen in die Metallbank leiten. Soweit Hal das feststellen konnte, verübelte Falt ihm

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diese Einschränkung seiner Kompetenz nicht, doch er war erleichtert, ihm nun das Kommando zurückzugeben.

»Gut«, sagte Falt. Seine Stimme war dünn und klang zu jung für ihn. »Dann beginnen wir mit dem Aufladen. Begeben Sie sich jetzt zum Fahrer.«

»In Ordnung.« Hal nickte. Er verließ das Gebäude. Auf dem Platz rührte sich

nichts, und das Muster aus Licht und Schatten zeigte keine Veränderung. Von außen betrachtet sah die Metallbank nach wie vor wie eine uneinnehmbare Festung aus. Hal eilte um den Mauervorsprung herum, erreichte den Wagen und kletterte in die Kabine. In dem matten Licht der Kontrolllampen des Instrumentenpults sah er, wie sich ihm ein Gesicht zuwandte, in dem sich keine Spur von Freundlichkeit zeigte.

»Können wir los?« fragte der Fahrer. »Wir sollten noch ein wenig warten«, erwiderte Hal. Einige Sekunden lang spielte er mit dem Gedanken, die

Barrieren der Feindseligkeit zu durchbrechen, hinter der sich der Fahrer verschanzt hatte. Dann aber seufzte er innerlich. Der Mann war im Augenblick viel zu angespannt, als daß ein entsprechender Versuch erfolgreich hätte sein können. Das derzeitige Problem bestand nicht etwa darin, wie sehr er Hal hassen und sich vor ihm fürchten mochte, sondern ob er während der Wartezeit nicht einfach die Nerven verlor, fortfuhr und die Mitglieder des Kommandos im Stich ließ. Falt hatte Hal in erster Linie deshalb zurückgeschickt. Und je weniger Worte jetzt zwischen ihnen gewechselt wurden, desto besser.

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Sie schwiegen, und die Zeit verstrich. Dann und wann rutschte der Fahrer unruhig in seinem Sitz hin und her, seufzte, rieb sich die Nase, sah aus dem Fenster, richtete den Blick dann wieder auf die Instrumente und vollführte weitere Bewegungen, die auf seine zunehmende Nervosität hinwiesen. Hal saß ganz ruhig und still – so wie man es ihm für einen solchen Fall gelehrt hatte –, und er konzentrierte sich darauf, einen Teil seiner Aufmerksamkeit von dem gegenwärtigen Unternehmen abzuwenden und auf das abstrakte Universum seines Geistes zu richten. In dem darauf folgenden Zustand der teilweisen Trennung von der Realität entstand das Gefühl in ihm, Rukh neben sich zu spüren, die sich nun in der Nähe der Düngemittelanlage befinden mußte.

Es ergab sich ihm der Eindruck, als sei sie gleichzeitig dort und bei ihm. Es war ein sehr intensives Empfinden, und in Hals Unterbewußtsein reihten sich einzelne Worte zu den Zeilen eines Gedichts aneinander:

Und wenn du es doch nicht werden solltest auf der Stelle – Du gehst durch den Gang, dann über die Schwelle, Oder in der Ferne langsam durch das Licht Von Straßenlampen, die stehen ganz dicht; Ich kehre nicht einfach zurück in mein Zimmer, Fröstelnd und mutlos, erfüllt von zornigem Gewimmer. Sondern will ich von dem Gedanken getröstet sein, Daß schon die Vorstellung dich macht zu einem Freunde mein.

Das Gedicht behagte ihm nicht ganz. Irgend etwas daran stimmte nicht. Die Worte – sie klangen zu oberflächlich, entsprachen nicht der Art und Weise, in

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der er normalerweise zu denken gelernt hatte. Gleichzeitig aber drückten sie etwas aus, das ihm bisher noch unbekannt geblieben war. Sie schienen ihm eine Botschaft von Dingen zu übermitteln, die nichts mit der gegenwärtigen Wirklichkeit zu tun hatten, Dingen, die halbverborgen waren in entfernten Winkeln und Sackgassen aus persönlichem Leid, von denen er nichts geahnt hatte und an die er sich nicht zu erinnern vermochte – eine tiefe Einsamkeit, die in diesem Ausmaß kein integraler Bestandteil seines Lebens war. Für einige Sekunden bewegte sich etwas in den dunklen Tiefen seiner Seele. Hal glaubte, ein Echo zu vernehmen, einen Jahrhunderte alten Widerhall von Ereignissen, die zu der Art von Isolierung geführt hatten, die er nun verspürte. Voller Unbehagen versuchte er, diese Schatten aufzulösen. Aber sie wallten immer wieder zu ihm zurück, zusammen mit den Empfindungsfragmenten einer Pein, an die er sich nicht zu entsinnen vermochte. Es war, als sei er vor langer Zeit Teil eines größeren Ganzen gewesen, als habe sich das ganze Universum in ihm vereint …

Die Kabinentür öffnete sich, und Falt sah zu ihnen herein.

»Öffnen Sie die Luken«, sagte er. »Wir kommen jetzt zurück.«

Der Fahrer beugte sich vor und betätigte eine Taste auf dem Instrumentenpult.

Hal hörte, wie hinter ihnen die Luken aufklappten. Hal kletterte aus der Kabine in den Frachtraum, um den

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Kameraden beim Verladen des erbeuteten Metalls zu helfen.

»Was habt ihr mitgebracht?« fragte er, als die Männer und Frauen der Einsatzgruppe ihm schwere, graue Barren reichten.

»Zinn«, sagte Jason und gab ihm schnaufend seine Last. »Insgesamt rund vierzig Barren. Das ist nicht allzuviel, aber es sollte die lokalen Behörden davon überzeugen, daß wir es in erster Linie auf das Metall abgesehen hatten und die Sache mit der Düngemittelanlage nur ein Ablenkungsmanöver war.«

Während Hal die Barren entgegennahm und verstaute, verdrängte er alle Gedanken an das Gedicht und die geisterhaften Erinnerungen. Er befand sich jetzt wieder im realen Universum, in dem es Dutzende von Problemen zu lösen galt.

Als sich das erbeutete Metall vollständig im Frachtraum befand, fuhren sie los. Falt nahm im Beifahrersitz in der Kabine Platz, bat Hal aber, bei ihm zu bleiben, da er sich mit ihm unterhalten wollte.

»Ich glaube, wir sollten direkt zu den Vorbergen fahren und nicht versuchen, zu den anderen Einheiten an der Düngemittelanlage zu stoßen«, sagte Falt. »Was meinen Sie?«

»Und dadurch den Plan aufgeben, das Metall auf die anderen Wagen aufzuteilen, so daß wir nicht alles verlieren, wenn Transporter verlorengehen?«

»Das ist nebensächlich«, erwiderte Falt. »Unserem Unternehmen kommt im Vergleich zum Angriff auf die Düngemittelanlage nur eine zweitrangige Bedeutung zu.

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Und außerdem haben wir länger gebraucht als vorgesehen. Nein, ich bin der Ansicht, unsere Hauptaufgabe besteht darin, so viele unserer Kämpfer wie möglich sicher mit dem Kommando zu vereinen. Und deshalb halte ich es für besser, wir fahren direkt zu den Vorbergen.«

»Wenn wir den Wagen verlassen haben«, warf Hal ein, »kommen wir mit all dem Metall nicht sonderlich schnell vorwärts. Wir sind bei der Bank auf keine besonderen Schwierigkeiten gestoßen. Niemand verfolgt uns. Und wenn Sie und die anderen die Wächter gut gefesselt und geknebelt haben, kann es Stunden dauern, bevor der Diebstahl des Zinns entdeckt und Alarm gegeben wird. Ich schlage deshalb vor, wir stoßen zu unseren Kameraden bei der Düngemittelanlage.«

Falt saß seitlich im Beifahrersitz, um den hinter den beiden Plätzen hockenden Hal anzusehen. Bei der Antwort Hals drehte er den Kopf und sah durch die Windschutzscheibe des Wagens. Sie fuhren mit recht hoher Geschwindigkeit über den Beton einer der aus dem Zentrum der Stadt herausführenden Hauptstraßen.

»Wir haben inzwischen bereits die Hälfte der Strecke bis zur Anlage zurückgelegt, nicht wahr, Fahrer?« fragte Hal.

Der Mann zögerte mit der Antwort. »Fast«, erwiderte er dann. Falt musterte ihn. »Sie würden es vorziehen, die Fahrt in Richtung der

Vorberge fortzusetzen?« »Ja!« bestätigte der Fahrer sofort.

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»Wir wissen nicht, was im Bereich der Düngemittelanlage geschieht«, sagte Hal. »Vielleicht könnten unsere Kameraden nicht nur einen zweiten Wagen, sondern auch die Hilfe zwölf weiterer Kämpfer gut brauchen.«

Falt ließ zischend den Atem entweichen und sah erneut durch die Windschutzscheibe. Dann blickte er Hal und den Fahrer an.

»Na schön«, sagte er. »Dann ist also die Anlage unser Ziel.«

Als sie an die Stelle gelangten, wo eine Nebenstraße von der Hauptroute abzweigte, sahen sie über den Dächern der Gebäude einen rötlichen Widerschein.

»Drüben könnte es jetzt bereits von Milizionären nur so wimmeln«, sagte der Fahrer.

»Bringen Sie uns hin«, erwiderte Falt. Der Fahrer fügte sich der Anweisung. Kurz darauf

bogen sie um die Ecke eines unbeleuchteten Bürogebäudes, und der Mann hinter den Kontrollen hielt den Transporter an.

Direkt voraus sahen sie einen umzäunten Bereich, der von der Größe her mehrere Häuserblocks zu umfassen schien. Jenseits des Zaunes erhoben sich die fast fensterlosen Wände eines Betonwürfels, und daran schlossen sich einige weitere lange und niedrigere Gebäude mit gewölbten Dächern an. Eins davon stand an einem Ende in Flammen. Und in den andern Häusern schrillten Alarmsirenen. Hinter zwei nun offenstehenden wagenbreiten Toren im Zaun zeichneten sich vor dem

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hellen Schein der Flammen die Konturen der anderen Fahrzeuge des Kommandos ab.

»Sie sind noch immer da«, sagte Hal. »Fahren Sie rein«, wandte sich Falt an den Mann hinter

den Kontrollen. »Nein«, widersprach der Fahrer. »Ich rühre mich nicht

von der Stelle, denn von hier aus können wir gegebenenfalls sofort fliehen. Wenn Ihnen unbedingt der Sinn nach Gefahr steht, müssen Sie zu Fuß rüber.«

Falt holte eine Handfeuerwaffe unter seiner Jacke hervor und richtete den Lauf auf die Schläfe des Fahrers.

»Los«, sagte er. Daraufhin startete der Mann wieder den Motor, und sie

fuhren durch eins der Tore. Als sie sich den anderen Transportern näherten, bot sich ihnen das Bild eines geordneten Chaos dar. Die meisten Männer und Frauen des Kommandos waren damit beschäftigt, auf ihren Schultern fünfundzwanzig Kilogramm schwere Behälter mit Nitraten zu tragen und sie in die Wagen zu verladen. Vor dem einen Ende der Wagenreihe lag jemand reglos am Boden. Und Rukh stand inmitten des Durcheinanders und gab ihren Kämpfern Befehle.

Hal und die anderen stiegen rasch aus, und zusammen mit Falt trat er auf Rukh zu. Die anderen Mitglieder ihrer Einsatzgruppe machten sich daran, beim Verladen der schweren Düngemittelbehälter zu helfen.

Als sich Hal zusammen mit Falt Rukh näherte, sah er einen Augenblick lang ihr Profil vor dem Widerschein der Flammen, und es war, als stände sie ruhig und unerschütterlich inmitten des lodernden Feuers. Dann

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eilte eine Frau mit einer Kiste an ihr vorbei, und die Illusion verflüchtigte sich. Rukh drehte sich um und sprach sie sofort an.

»Wir haben drei Verwundete«, wandte sie sich an Falt. »Niemand wurde getötet. Außerdem stellt die Distriktpolizei derzeit keine Gefahr für uns dar. Aber sicher wird bald Verstärkung für sie eintreffen, und darum gebe ich Ihnen die Anweisung, die drei Verletzten aufzunehmen und sich sofort auf den Weg zum Treffpunkt zu machen. Die Verwundeten befinden sich im Wagen Tallahs. Beauftragen Sie sechs Leute damit, sie rasch zu holen. Wie ist es Ihnen ergangen?«

»Es wurde nicht einmal jemand verletzt«, sagte Falt. »Wir stießen auf keine Milizionäre. Und die Wächter leisteten keinen Widerstand.«

»Gut«, sagte Rukh. »Brechen Sie jetzt auf. Wir haben die Kommunikationsverbindungen unterbrochen, und einige der Stadtbewohner helfen uns dabei, die Tatsache unserer Anwesenheit hier so lange wie möglich geheimzuhalten. Ich schätze jedoch, es bleiben uns nur noch etwa fünfzehn Minuten, bevor wir es mit der Miliz zu tun bekommen. Howard: Wenn die Verwundeten aus irgendeinem Grund von den anderen getrennt werden müssen, so bleiben Sie bei ihnen.«

»In Ordnung«, erwiderte Hal.

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8 Zusammen mit Falt kehrte Hal zum Wagen zurück. Als die Männer und Frauen ihrer Einsatzgruppe mit Düngemittelbehältern beladen herankamen, gab Falt einigen von ihnen die Anweisung, die drei Verwundeten zu holen. Den restlichen Kämpfern trug er dann auf, das erbeutete Metall auf die anderen Wagen zu verteilen. Fünf Minuten später fuhren sie aus dem umzäunten Bereich heraus und ließen den rötlichen Glanz des Feuers hinter sich zurück. Vor ihnen erstreckte sich das dunkle Band der Straße, und im Licht der am wolkenlosen Nachthimmel glänzenden Sterne sahen sie die schwarzen Schatten der Vorberge und die Gipfel des jenseits davon aufragenden Gebirges.

Erneut saß Falt im Beifahrersitz. Hal kroch in den Frachtraum und sah sich die Verwundeten an. Einer von ihnen war Morelly Walden. In dem trüben Licht der einen kleinen Lampe an der Decke der Transportkammer wirkten die Falten und Furchen in dem breiten Gesicht tiefer, und man hätte meinen können, er sei um mindestens zehn Jahre älter geworden.

»Sein Bein«, sagte Joralmon Troy, der im Schneidersitz neben der Bahre Morellys hockte, inmitten einiger Nitratbehälter. »Als wir die Tür des Lagers sprengten, traf ein Trümmerstück sein Bein und brach es.«

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»Hat man Ihnen ein schmerzstillendes Mittel gegeben?« wandte sich Hal an Morelly.

»Nein«, erwiderte der rauh. »Keine sündigen Drogen …«

Hal zögerte. »Wenn Sie möchten«, sagte er, »massiere ich Ihnen Stirn und Nacken so, daß der Schmerz ein wenig nachläßt.«

»Nein«, stieß Morelly mühsam hervor. »Die Pein ist eine Gabe Gottes. Und als Sein Krieger werde ich sie erdulden.«

Hal berührte ihn vorsichtig an der Schulter und rutschte dann an die Seite der anderen beiden Verletzten. Die Frau hatte an der rechten Schulter eine von einer Energiewaffe verursachte Verbrennung davongetragen, die nicht ihr Leben bedrohte. Der dritte Verwundete war ein Mann, in dessen Brust sich ein Nadlergeschoß gebohrt hatte. Sie beide waren bewußtlos und hatten Medikamente bekommen.

»Unsere Vorräte an schmerzstillenden Arzneien sind sehr knapp«, murmelte eine der Frauen, die neben den Bahren saßen. »Morelly weiß das. Und deshalb schiebt er seinen Glauben vor.«

Hal nickte. »Das dachte ich mir«, antwortete er ebenso leise. Er

drehte sich um und kehrte in die Kabine zurück. Alle drei Verwundeten mußten getragen werden. Und das bedeutete: Wenn sie tatsächlich dazu gezwungen waren, sich zu trennen, hatte Hal eine Gruppe zu leiten, die aus mindestens neun Personen bestand. Als er sich wieder in der Kabine befand und durch die Windschutzscheibe

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nach draußen sah, hatte sich die Umgebung verändert: Die Straße war enger geworden und ließ nur noch für vier Fahrzeuge nebeneinander Platz, und bei den Ausfahrten handelte es sich nicht mehr um breite Rampen, sondern einfache Wege. Falt entrollte die Karte, die er von Rukh erhalten hatte, und betrachtete sie im Licht der kleinen Deckenlampe. Voraus trübte sich der Glanz der Sterne, als sich im Osten der Horizont im Rot der Morgendämmerung verfärbte.

»Sehen Sie hier«, wandte sich Falt an Hal, der sich erneut hinter den beiden Sitzen zu Boden hockte. »Der Befehl lautet, daß Gruppen mit Verwundeten die sicheren Treffpunkte aufsuchen. Da wir – bisher – die einzige solche Einheit sind, bedeutet das, daß unser Ziel dieser Ort hier sein muß …«

Mit dem Zeigefinger deutete er auf ein Kreuz, das eine höher gelegene Stelle in den Vorbergen markierte als die anderen Kennzeichnungen.

»Dort sollten wir genügend Esel vorfinden, um sowohl unsere Ladung zu befördern als auch zwischen jeweils zwei Tieren Bahren zu befestigen.« Er hob den Kopf und sah den Fahrer an. »Wie lange dauert es, bis wir unser Ziel erreichen?«

»Ungefähr zehn bis fünfzehn …« Der Fahrer unterbrach sich abrupt. Sie hatten gerade eine langgestreckte Kurve hinter sich gebracht, und aus weit aufgerissenen Augen starrte der Mann hinter den Kontrollen durch die Windschutzscheibe. Sein Gesicht war nun blaß, und die Hände umfaßten das Lenkrad so hart, daß die Fingerknöchel weiß hervortraten.

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Hal und Falt folgten seinem Blick. Weit voraus auf der nun schnurgerade verlaufenden Straße glänzten die Lichter einer Barrikade.

»Gott steh uns bei«, flüsterte der Fahrer. »Ich kann nicht umdrehen. Sie müssen uns inzwischen längst gesehen haben.«

»Durchbrechen Sie die Sperre«, sagte Falt. »Das geht nicht«, erwiderte der Fahrer. Er schwitzte,

und er nahm Gas weg. Sie wurden allmählich langsamer, näherten sich der Barrikade aber weiterhin. »Bestimmt haben sie jenseits der Sperre Haken und Zacken angebracht, die uns erledigen würden.«

Er starrte Falt an. »Was machen sie hier draußen?« Er warf Hal einen

kurzen Blick über die Schulter zu. »Das ist Ihre Schuld! Sie wissen nichts von dem Überfall – das können sie gar nicht! Aber sie suchen nach Ihnen. Und jetzt haben sie uns!«

Sie waren der Sperre nun nahe genug, um zu beiden Seiten der Barrikade die schwarzgekleideten Gestalten von Milizionären zu sehen.

»Umfahren Sie das Hindernis«, sagte Falt. »Wenn ich das versuche, eröffnen sie sofort das Feuer

auf uns!« Das Gesicht des Mannes hinter den Kontrollen war eine Fratze des Entsetzens. »Gott steh uns bei! Gott …«

Falt holte erneut seine Handfeuerwaffe unter der Jacke hervor.

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»Umfahren Sie die Sperre«, wiederholte er ruhig. »Das ist die einzige Möglichkeit.«

Der Fahrer sah kurz auf die Waffe. »Wenn Sie bei dieser Geschwindigkeit auf mich schießen, gehen wir alle drauf«, erwiderte er bitter.

Hal hob die rechte Hand und preßte dem Fahrer Daumen und Zeigefinger auf bestimmte Stellen am Hals. Der Mann seufzte.

»Wenn ich ihm das Genick breche«, wandte sich Hal an Falt, »übernehmen Sie das Steuer.«

»Schon gut, ich fahre um das Hindernis herum«, hauchte der Fahrer. Hal verringerte den Druck seiner Finger etwas, ließ die Hand aber nicht sinken.

»Erst im letzten Augenblick«, ermahnte Falt den Fahrer. »Ich sage Ihnen, wann Sie von der Straße abbiegen sollen. Ganz ruhig … ruhig … jetzt!«

Es schien kaum mehr möglich gewesen zu sein, der Sperre auszuweichen. Und die Milizionäre zu beiden Seiten der Barrikade winkten mit den Armen, um ihnen ein Anhalten zu befehlen. »Gas!« rief Falt. »Geben Sie Gas!«

Aber der Fahrer hatte bereits von sich aus reagiert und den Daumen auf die Beschleunigungstaste gepreßt. Der Transporter sauste von der Straße herunter und schlitterte über weichen Boden. Es knirschte und knisterte in der Karosserie. Zahllose größere und kleinere Splitterrisse bildeten sich in der Windschutzscheibe, als sei das Glas von winzigen Schrotkugeln getroffen worden. Der Fahrer schrie auf und ließ das Steuer los. Falt griff sofort nach dem Rad und lenkte den Wagen hinter der Sperre

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und den dort im Beton verankerten Zacken und Haken schleudernd auf die Straße zurück. Er betätigte die Beschleunigungstaste ein weiteres Mal, und der Motor des Transporters heulte auf. Die Straßensperre und die schwarzgekleideten Milizionäre blieben rasch hinter ihnen zurück.

Der Fahrer war an die Tür gesunken und krümmte sich zusammen.

»Wo sind Sie getroffen worden?« fragte Falt. »O Gott!« stöhnte der Fahrer. »O mein Gott …« »Howard«, sagte Falt, »untersuchen Sie den Mann.

Stellen Sie fest, wo er verletzt ist, und versuchen Sie, ihn mir aus dem Weg zu schaffen und nach hinten zu bringen.«

Hal stand auf und beugte sich über den Fahrersitz. Er streckte den Arm aus und zog den Mann von der Tür zurück. Ein fingernagelgroßer Blutfleck zeigte sich hoch oben auf der linken Seite des Hemdes. Hal preßte den Stoff fest auf die Haut des Fahrers, tastete vorsichtig nach dem Rücken des Mannes und stellte fest, daß dort etwa auf der gleichen Höhe wie vorn Blut aus einer Wunde sickerte. Anschließend strich er ihm über die Hüften und, soweit er das vermochte, auch über die Oberschenkel.

»Ist mit Ihren Beinen alles in Ordnung?« fragte er. »O Gott …« Behutsam drückte Hal dem Mann erneut die Hand auf

den Nacken.

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»Ja … ja«, entfuhr es dem Fahrer. »Sie sind nicht verletzt …«

»Eine einzelne Nadel hat sich Ihnen durch die linke Schulter gebohrt. Ich möchte jetzt, daß Sie über den Sitz nach hinten klettern. Kommen Sie schon …«

Hal streckte beide Hände aus und schob sie dem Fahrer unter die Achseln. Er zog. Der Mann versuchte, sich in die Höhe zu stemmen, und ganz plötzlich schrie er auf und sank in den Sitz zurück. Hal hielt ihn fest, zog stärker und setzte rohe Gewalt ein, um den Fahrer über die Lehne des Sitzes zu zerren. Der Mann schrie erneut, als seine Knie gegen die Rückenstütze stießen.

»Mein Bein! O Gott, mein Bein …« Hal hebelte den Mann ganz zu sich heran, ließ ihn auf

den Boden hinter den Sitzen sinken und untersuchte eine Wunde, die sich dicht oberhalb des linken Knies zeigte.

»Sieht so aus, als hätte Sie am Bein ebenfalls eine Nadel erwischt«, sagte er. »Können Sie das Knie beugen?«

Der Fahrer versuchte es und schrie ein drittes Mal. »Diese Verletzung scheint mir ein wenig ernster zu

sein«, sagte Hal, und er tastete in die Kniebeuge. »Offenbar befindet sich das Geschoß nach wie vor in der Wunde.«

»O Gott …« »Er spielt uns etwas vor«, sagte Falt laut. »Es kann

unmöglich so weh tun.« Hal legte dem Fahrer die Hand auf den Mund.

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»Ich gebe Ihnen noch eine Chance«, flüsterte er dem Mann ins Ohr. »Wir wissen beide, daß Ihr linkes Bein schmerzt. Aber wir wissen auch, daß es nur dann weh tut, wenn Sie es bewegen. Also sollten Sie möglichst ganz still liegen. Keine der beiden Wunden ist lebensgefährlich. Und wenn Sie jetzt nicht den Mund halten, muß ich Sie zum Schweigen bringen, indem ich Sie bewußtlos schlage. Haben wir uns verstanden?«

Ein Teil seiner Seele war entsetzt von seinem Verhalten. Aber der andere sah die Notwendigkeit ein, und Hal begriff, wie sehr er die Lektionen seiner Ausbildungszeit verinnerlicht hatte. Einen Augenblick lang glaubte er fast, die scharfe und tiefe Stimme Malachi Nasunos zu hören. Hal hatte die Worte, die von ihm an den Fahrer gerichtet worden waren, so ausgesprochen, als habe er sie von einer mentalen Tafel abgelesen.

Der Erfolg stellte sich sofort ein. Der Mann blieb reglos liegen und schwieg. Hal stand auf und hielt sich an der Rückenlehne des Sitzes vor ihm fest. Inzwischen saß Falt hinter dem Steuer und hatte den Wagen sicher in der Gewalt.

»Nehmen Sie die Karte und weisen Sie mich ein«, sagte er.

Hal rutschte in den nun leeren Beifahrersitz und griff nach der Karte, die neben ihm auf dem Boden lag.

»Sind wir noch immer auf der Hauptstraße?« fragte er. Er blickte durch die Windschutzscheibe – die winzigen Risse bildeten ein feinmaschiges Netz im Glas – und er erkannte einen zweispurigen Kiesweg.

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»Nein. Bin zweimal abgebogen. Dies ist die Gemeindestraße zehn – können Sie sie auf der Karte finden?«

Hal betrachtete die Darstellungen und nickte. »Ja«, sagte er. »Vom Gemeindeweg zehn müssen wir auf die Hundertdreiundzwanzig wechseln, und von dort aus nehmen wir die Demmingstraße. Wenn wir sie erreichen, biegen wir in den ersten namenlosen Nebenpfad, der nach rechts abzweigt. Nach eins Komma acht Kilometern wenden wir uns um neunzig Grad nach links und setzen die Fahrt anschließend durch offenes Gelände fort. Danach richten wir uns nach dem Kompaß und dem Tachometer, um den Treffpunkt zu erreichen.«

»Gut«, sagte Falt. »Geben Sie mir bitte die jeweiligen Richtungen an?«

Während sie weiterfuhren, erhellte sich der Himmel über ihnen, und die lichten Wälder des Hügellands kamen nach und nach aus der sich verflüchtigenden Dunkelheit der Nacht zum Vorschein. Hal sah zum Fahrer zurück, der nun keinen Ton mehr von sich gab, und er stellte fest, daß der Mann nach wie vor auf der einen Seite lag und die Augen geschlossen hatte. Entweder schlief er oder war dazu entschlossen, keine unliebsame Aufmerksamkeit mehr zu erregen.

Im ersten grauen Schein des Tages erreichten sie schließlich den Treffpunkt. Inzwischen hatte die Nacht alle Wälder um sie herum freigegeben, obgleich die Sonne nach wie vor hinter den Berggipfeln rechts von ihnen verborgen war. Von einem Gehölz aus Variformulmen abgeschirmt, erwartete sie hier ein Stapel

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aus Packtaschen, Zaumzeug und ähnlichen Ausrüstungsmaterialien sowie fünfzehn geduldige Esel, die an den Bäumen in der Nähe oder an herabhängenden Zweigen festgebunden waren. Niemand hütete sie. Die hiesigen Bauern waren offenbar dazu bereit, einen Teil ihres Eigentums zu riskieren, wollten sich jedoch nicht selbst in Gefahr bringen.

Der Wagen hielt an. Falt öffnete mit einem Tastendruck die Ladeluken. Zusammen mit Hal und den anderen Männern und Frauen stieg er aus, und sie begannen damit, sowohl die Nitratbehälter als auch das erbeutete Metall zu entladen. Sie legten die Verwundeten auf die Bahren, die von ihren Helfern zwischen jeweils zwei Eseln festgebunden waren. Die Kisten mit den gestohlenen Düngemitteln wurden den anderen Tieren aufgebürdet, zusammen mit dem Zinn, das als Bezahlung für solche Ausrüstungen dienen würde, die sie sich unterwegs nicht ausleihen konnten.

Sie waren gerade damit fertig, als sie sich beim Klang einer zornigen Stimme umdrehten.

»So ist es richtig – verschwindet nur und laßt mich sterben!«

Aus einer der geöffneten Luken des Transporters sah sie der Fahrer an, der sich auf den Ellenbogen in die Höhe stemmte. Durch das anstrengende Kriechen war sein Hemd an einigen Stellen aufgerissen, und seine Augen glänzten rot und blutunterlaufen. Das Gesicht war verzerrt. Hal und Falt setzten sich gleichzeitig in Bewegung und traten an den Wagen heran, während die

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anderen die letzten Vorbereitungen für den Aufbruch mit den Eseln trafen.

»Ja, richtig«, knurrte der Fahrer, als er sah, daß sich Hal und Falt ihm näherten. Er starrte sie wütend an, und in der hohen Luke befand sich sein Gesicht auf einer Höhe mit denen der beiden anderen Männer. »Laßt mich einfach sterben.«

»Sie können fahren«, erwiderte Falt. »Es wird nicht gerade angenehm sein, aber ich habe schon Kommandokämpfer gesehen, die in einem weitaus schlimmeren Zustand viele Stunden lang einen Wagen gelenkt haben.«

»Und was geschieht, wenn ich nach Hause komme, vorausgesetzt, das gelingt mir überhaupt?« fragte der Fahrer. »Wenn es nämlich eine Straßensperre gibt, so sind bestimmt auch noch weitere errichtet worden. Und nach Ihrem halsbrecherischen Manöver wird die Miliz nach diesem Wagen suchen! Und selbst wenn ich es schaffe, den Bar rikaden auszuweichen und tatsächlich nach Hause zu kommen – die Miliz wird bestimmt Nachforschungen anstellen, und aufgrund meiner Verletzung bin ich leicht zu identifizieren. Was geschähe mit meiner Familie, wenn mich die Polizei bei ihr fände? Glauben Sie etwa, ich würde meine Nächsten einer solchen Gefahr aussetzen?«

»Uns können Sie nicht begleiten«, sagte Falt. »Gibt es irgendwo ein Versteck für Sie?«

Der Fahrer starrte ihn einige Sekunden lang groß an und holte dann rasselnd Luft.

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»Ich kenne einen Ort in den Bergen«, entgegnete er, nun etwas ruhiger. »Dort wäre ich vielleicht sicher. Aber allein schaffe ich es nicht.«

»Ich habe es Ihnen doch schon gesagt: Wenn Sie wollen, können Sie fahren«, gab Falt zurück.

»Fahren!« platzte es spöttisch aus dem Mann heraus. »Auf einer Straße, ja. Auch auf kleineren Wegen. Aber in meinem jetzigen Zustand bin ich nicht in der Lage, den Transporter zehn Kilometer durch den Wald zu lenken, wo ich jederzeit zwischen Bäumen steckenbleiben oder in eine Felsenschlucht stürzen könnte. Was schlagen Sie für einen solchen Fall vor? Erwarten Sie etwa von mir, daß ich die ganze Strecke bis zur Hütte krieche?«

»Einige Leute wären dazu fähig«, erwiderte Falt trocken. Dann sah er Hal an und runzelte andeutungsweise die Stirn.

»Ich bringe ihn in sein Versteck«, sagte Hal. »Wir brauchen Sie«, wandte Falt ein. »Derzeit nicht unbedingt«, widersprach Hal. »Wir

werden nicht verfolgt. Sie haben ausreichend Lasttiere, und die anderen Männer und Frauen sind in guter Verfassung. Ich fahre diesen Mann zu seiner Hütte, und ich kehre schnell genug zurück, um nicht mehr als einige Stunden hinter Sie zurückzufallen.«

Falt zögerte, und Hal wandte sich an den Fahrer. »Diese Hütte«, sagte er. »Welchem Zweck dient sie?« Der Mann senkte verlegen den Blick. »Einige von uns

angeln manchmal dort oben. Nicht oft, nur dann und wann. Um ein wenig Ruhe zu finden.«

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»Wie viele wissen von der Hütte?« Trotzig sah der Fahrer wieder auf. »Ich, meine beiden Brüder und mein Vetter Joab«,

erwiderte er. »Wir wohnen alle zu Hause. Und sie würden der Miliz ganz bestimmt nichts verraten. Außerdem: Wenn ich nicht zurückkehre, werden sie sicher auf den richtigen Gedanken kommen und sich in ein oder zwei lägen auf den Weg zur Hütte machen.«

»Wie weit ist sie von hier entfernt?« fragte Hal. »Und wie lange dauert es, sie mit Ihrem Wagen zu erreichen?«

»Eine halbe Stunde.« Die Stimme des Fahrers klang nun aufgeregt. »Nur eine halbe Stunde. Und ich schwöre es: Es besteht keine Gefahr, auf Milizionäre zu stoßen.«

»Das schwören Sie also, wie?« meinte Falt, und die Verachtung in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Der in der Luke liegende Mann errötete und senkte den Kopf.

»Ich meine nur …« Hals Blick richtete sich auf Falt. »Ich sehe keinen

Grund, warum ich ihn nicht zur Hütte bringen sollte. Und anschließend stoße ich wieder zu Ihnen.«

Falt seufzte und preßte kurz die Lippen zusammen. »Also gut«, sagte er dann. Er kehrte dem Fahrer den Rücken zu. »Gehen Sie seinetwegen keine Risiken ein. Er ist es nicht wert.«

Er ging fort. »Machen Sie mir Platz«, sagte Hal dem Fahrer. Der Mann stöhnte bei jeder Bewegung, und langsam

kroch er von der Luke fort. Hal kletterte in den

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Transporter und nahm vor den Kontrollen Platz. Mit einem Tastendruck schloß er die Türen, und anschließend schaltete er den Motor ein. Die Rotoren drehten sich, und unter dem Fahrzeug bildete sich das Luftkissen. Als er den Wagen wendete, winkte Hal durch die Windschutzscheibe den Kameraden der Einsatzgruppe zu, dann gab er Gas und lenkte ihn in Richtung Straße. Hinter ihm stöhnte und keuchte es, und nach einer Weile gelang es dem Verletzten, sich in den Beifahrersitz zu schieben.

»Wohin jetzt?« fragte Hal, als sie die Straße erreichten. »Nach links.« Hal lenkte den Wagen in die entsprechende Richtung,

und sie setzten die Fahrt fort. Tiefer hinein in die Vorberge ging es, in Richtung des Gebirges. Der Verletzte gab hin und wieder einsilbige Hinweise, und nach einer Weile steuerte Hal den Wagen steil in die Höhe. Die vormalige Straße war inzwischen kaum mehr als ein Eselspfad. Er rechnete damit, daß sein Beifahrer ihn jeden Augenblick dazu auffordern mochte abzubiegen, aber statt dessen gelangten sie kurz darauf an das Ende des Weges.

»Und nun?« fragte Hal. »Zunächst noch weiter geradeaus. Ich sage Ihnen

Bescheid.« Hal warf dem Verwundeten einen kurzen Blick zu,

während er sich an dessen letzte Richtungsangabe hielt. Das Gesicht des Mannes war verzerrt, als er durch die Windschutzscheibe nach draußen starrte, und er hatte die Lippen aufeinandergepreßt.

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»Jetzt nach links«, sagte er. Und nach einigen Metern: »Nun nach rechts, zwischen den beiden großen Bäumen hindurch und an dem großen Felsen vorbei. Langsam. Durch das Tauwetter des Frühlings könnten Erschütterungen des Bodens jederzeit zu einem Erdrutsch führen.«

Hal fuhr vorsichtig weiter, und der Mann neben ihm gab ihm dann und wann weitere Hinweise. Nach einiger Zeit erreichten sie eine Art Lichtung, an die sich eine Niederung anschloß, durch die ein Bach floß – ein kleiner Fluß, der Anglern keine allzu große Beute versprach, aber genügend Trink- und Waschwasser bot für diejenigen, die in der recht primitiv wirkenden Hütte unterkommen mochten. Das improvisiert wirkende Gebäude war direkt neben dem Bach errichtet worden, und in der vorderen Wand zeigte sich ein einzelnes Fenster.

»Wir sind da«, sagte der Verletzte. Hal hielt den Wagen an. Er stieg aus, trat um das

Fahrzeug herum und öffnete die andere Tür, um dem Fahrer herauszuhelfen. Für einen Bewohner Harmonies, der das Fluchen für eine Sünde hielt, erwies er sich als ausgesprochen fähig, seinen Ärger über die Art von Hilfe auszudrücken, die Hal ihm angedeihen ließ.

»Vorsichtig!« schnappte er zornig. »Können Sie nicht vorsichtiger sein?«

»Wollen Sie es vielleicht allein probieren?« erwiderte Hal. »Ich könnte Sie einfach hier liegen lassen.«

Daraufhin schwieg der Verletzte. Hal zerrte und trug den Mann langsam auf die Hütte zu, öffnete die Tür und

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brachte ihn ins Innere – einen Raum, der offenbar schon seit einiger Zeit nicht mehr aufgeräumt worden war und in dem ein Durcheinander aus zusammenklappbaren Feldbetten, einem Ofen und einem großen runden Tisch mit vier Stühlen herrschte, die hier fehl am Platz wirkten.

»Wofür dient der Tisch?« fragte Hal. »Zum Kartenspielen?«

Der Verletzte warf ihm daraufhin einen kurzen und wütenden Blick zu. Und Hal begriff plötzlich, daß er den wahren Zweck der Hütte erraten hatte. Er half dem Mann nach einem der Feldbetten, und der Verletzte sank darauf nieder.

»Gibt es hier irgendwo einen sauberen Behälter, den ich mit Wasser füllen und bei Ihnen lassen kann?« fragte Hal. »Und steht Ihnen hier irgendwo ein Abort zur Verfügung? Wie weit ist er entfernt? Morgen werden Sie tatsächlich nur noch kriechen können. Soll ich Ihnen irgendeinen Topf ans Bett stellen?«

»Links vom Ofen steht ein Wasserkrug«, erwiderte der Mann mürrisch. »Und unter dem Kanevas in der Ecke dort befindet sich eine Kompressionstoilette. Holen Sie mir mein Akkordeon.«

»Na schön«, sagte Hal. »Ich schiebe Ihnen die Toilette direkt ans Bett.« Er setzte seine Ankündigung in die Tat um, verließ dann die Hütte, um den Krug mit Wasser zu füllen, und brachte ihn dann mitsamt einer Schöpfkelle darin zurück. »Was ist mit dem Essen? Gibt es hier entsprechende Vorräte?«

»Neben der anderen Seite des Ofens steht eine Kiste«, entgegnete der Verletzte verdrießlich. »Schieben Sie die

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ebenfalls hierher. Sie enthält versiegelte Rationen, die nicht verderben. Und holen Sie mir auch die Decken von den anderen Betten. Nachts wird es hier recht kalt.«

»In Ordnung«, sagte Hal. Und anschließend fragte er: »Haben Sie hier Arzneien?«

»Irgendwo muß eine Erste-Hilfe-Tasche herumliegen«, erwiderte der Fahrer. »Suchen Sie sie.«

Hal brauchte zehn Minuten, um sie zu finden. Er kehrte mit ihr zu dem Verletzten zurück, reinigte dessen Wunden und verband Sie.

»Sie sagten doch, die Nadel sei im Bein steckengeblieben«, sagte der Mann und sah Hal plötzlich furchtsam an. »Was bedeutet das? Welche Konsequenzen hat das für mich?«

Hal hielt inne und rief das ins Gedächtnis zurück, was Malachi ihn gelehrt hatte.

»Wenn Sie das Geschoß nicht entfernen«, antwortete er, »wird Ihr Körper es entweder mit einer Art Schutzgewebe umhüllen, oder es tritt irgendwann von allein heraus – möglicherweise nach einigen Jahren. Wenn zusammen mit der Nadel kein Schmutz in die Wunde gedrungen ist, brauchen Sie eine Infektion nicht zu befürchten. Und das ist bei Nadeln dieser Art im Gegensatz zu anderen und größeren Geschossen nicht der Fall. Ich würde Ihnen aber trotzdem raten, sie so rasch wie möglich herausoperieren zu lassen.«

Er musterte den Mann einige Sekunden lang. »Ich meinte nur …« Der Fahrer unterbrach sich. Das

nun bereits sehr helle Tageslicht filterte durch das schmierige Fenster in der vorderen Wand und verdrängte

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die Schatten aus der Hütte; das Gesicht des Verletzten war blaß und nach wie vor verzerrt. In den zusammengekniffenen Augen glitzerte so etwas wie Haß – und eine wilde Hoffnung. »Sie lassen mich hier doch nicht ohne irgendwelche schmerzstillenden Mittel zurück, oder?«

»Es tut mir leid«, sagte Hal. »Aber solche Medikamente habe ich nicht für Sie.«

»Was soll das heißen?« Die Stimme des Fahrers wurde lauter und schärfer. »Ich habe gesehen, wie Sie entsprechende Vorräte in den Wagen luden. In Ihrer Arzneitasche befinden sich anästhetische Mittel. Ich weiß, daß jeder Kommandokämpfer über einen kleinen Vorrat verfügt – für den Fall einer Verwundung. Also her damit!«

Hal dachte an Morelly, an dessen festen Willen, seine Pein zu erdulden, weil andere die schmerzstillenden Medikamente dringender brauchten.

»Wir haben diese Arzneien nicht bei uns, um sie selbst zu nehmen«, erklärte er, »sondern sie unseren Brüdern und Schwestern im Kampf zu geben, wenn das erforderlich wird. Ich darf Ihnen nichts davon hierlassen, selbst wenn Sie solche Mittel brauchten – und das ist nicht der Fall.«

Damit drehte er sich um, verließ die Hütte und trat an den Wagen heran. Er öffnete die Heckklappe, holte seine Ausrüstung hervor, packte sie zusammen und schnallte sie sich auf den Rücken. Als er noch damit beschäftigt war, hörte er aus der Richtung der Hüttentür ein Geräusch. Er blickte zurück und sah den Verletzten, der

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es offenbar geschafft hatte, bis zum Eingang zu kriechen und sich dort in die Höhe zu stemmen.

»Vermutlich sind Sie der Meinung, ich sollte Ihnen danken, wie?« rief der Mann. »Aber das fällt mir nicht im Traum ein! Es ist ganz in Ordnung, wenn ein Teil unseres Volkes gegen die Miliz kämpft, aber Sie gehören nicht zu uns. Was haben Sie gemacht, daß Polizei und Miliz so hinter Ihnen her sind? Sie allein tragen die Schuld für alles. Allein Ihnen kommt die Verantwortung dafür zu, wenn weitere Männer und Frauen während dieses Unternehmens verletzt oder gar getötet werden, denn der Gegner hat es in erster Linie auf Sie abgesehen! Ich … ich bin verwundet worden, weil Sie bei mir waren. Und trotzdem glauben Sie, ich sollte Ihnen danken? Nein, ich denke überhaupt nicht daran. Wollen Sie wissen, was ich Ihnen statt dessen sage? Ich verfluche Sie! Ich verfluche Sie im Namen Gottes …«

Er ereiferte sich noch immer, als Hal die Heckklappe des Wagens schloß, sich umdrehte und mit voller Ausrüstung fortmarschierte, weg vom Bach und der Hütte. Er vernahm die schrille Stimme des Fahrers auch dann noch, als er längst außer Sicht war. Und er empfand eine kummervolle Verbitterung, die sich nicht einfach aus ihm verdrängen ließ. Während er mit langen und gleichmäßigen Schritten nach Süden durch die Bergwälder wanderte, mußte er mit einer gewissen Verwunderung daran denken, daß er zum erstenmal ganz wie ein Quäker empfunden hatte, als er dem Fahrer die schmerzstillenden Mittel verweigerte. Und diese Überlegung befreite ihn plötzlich von der Verbitterung aufgrund der Reaktion des Verletzten – die Traurigkeit

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angesichts der Tatsache, daß Leute wie Rukh, Morelly und James Gotteskind dazu bereit waren, ihr Leben für eine Sache zu geben, die Menschen wie dem Fahrer so wenig bedeuteten.

Eine Zeitlang verspürte er eine gewisse Belustigung, während er durch den vom Morgenlicht erhellten Wald marschierte. Er hatte Obadiah imitiert – doch bis zu diesem Augenblick nie wie ein richtiger Quäker reagiert. Das Verstehen dieser so strengen Kultur ließ sich mit den Auswirkungen eines tiefen Schocks vergleichen. Aber als er das begriff, wußte er auch, daß er gerade erst zu verstehen begonnen hatte, daß er sich nun damit zufriedengeben mußte, zu warten, sich zu gedulden, bis er den ersten Teil des Schocks verarbeitet hatte und dazu in der Lage sein würde, Abstand von sich selbst und diesem Vorgang zu nehmen und sein neugewonnenes Verstehen in allen Details zu analysieren.

Schließlich erreichte er den Ort, nach dem er Ausschau gehalten hatte. Eine Hanglichtung, von der aus er die Vorberge und, etwas weiter entfernt, die Stadt Masenvale überblicken konnte. Er sah über den Hang hinweg und beobachtete die grüne Decke des Waldes, die sich bis zum Rand des dunklen Ovals zu erstrecken schien, bei der es sich um die Ortschaft handelte. Er griff in eine seiner Taschen, holte den Feldstecher hervor und hob ihn vor die Augen. Er drehte die Schärfenregler und schaltete das Gerät dann auf automatische Justierung, als er sich langsam drehte und den Blick über die angrenzenden Regionen schweifen ließ.

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Es fiel ihm nicht schwer, den Bereich der Düngemittelanlage aus zumachen, von dem noch immer Rauch in die Höhe stieg. Daraufhin richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Weg, den sie genommen hatten, um die Stadt zu verlassen, und kurz darauf entdeckte er auch die Straßensperre. Er schaltete den Feldstecher auf volle Vergrößerung und stellte fest, daß hinter den Zacken und Haken der ersten Barrikade eine zweite errichtet worden war; die dort postierten schwarzgekleideten Milizionäre schienen sich nun nach beiden Richtungen hin abgesichert zu haben und nicht nur auf die Fahrzeuge zu achten, die von der Stadt her kamen.

Hal beobachtete auch den Treffpunkt, an dem er sich von den andern Kämpfern seiner Einsatzgruppe getrennt hatte. In seinem Gedächtnis, das darauf trainiert war, wichtige Dinge sicher zu speichern, befand sich ein deutliches Abbild der Karte, mit der er Falt dabei geholfen hatte, jenen Ort zu erreichen, und er schwenkte den Feldstecher nun herum und hielt auch nach den anderen markierten Treffpunkten Ausschau. Bis auf zwei befanden sich an den entsprechenden Orten keine Esel mehr. Und bei keiner der Gruppen, die nun in Richtung des Gebirges aufgebrochen waren, hielt sich Rukh auf.

Daraufhin konzentrierte sich Hal auf die Routen, die die einzelnen Einsatzteams seiner Einschätzung nach wählen würden, um tiefer in die Vorberge zu gelangen. Wenn die Männer und Frauen unter den Baumwipfeln marschierten, konnte er sie natürlich nicht sehen. Er entdeckte mehr als die Hälfte der Kommandogruppen, darunter auch seine eigene. Aber nach wie vor konnte er

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nirgends Rukh ausmachen – obgleich er die Gruppe fand, die von Gotteskind geleitet wurde. Alle Teams befanden sich inzwischen in unmittelbarer Nähe der Vorberge, und es hatte ganz den Anschein, als seien nur wenige der Kämpfer verwundet worden. Dann aber fiel ihm der verstärkte Verkehr auf den Straßen weiter südlich auf.

Erneut drehte er die Einstellregler des Feldstechers und beobachtete eine Kolonne aus sechs Truppentransportern. Die schweren Fahrzeuge ließen eine Staubwolke in die Höhe steigen, als sie über einen der Kieswege fuhren, der einige Kilometer vor dem Treffpunkt zu den Vorbergen führte. Hal ließ seinen Blick über die anderen Bereiche vor dem Hang schweifen, und er entdeckte dabei drei weitere Milizkolonnen. Er betrachtete sie eine Zeitlang. Er war ziemlich sicher, daß die Transporter nicht leer waren, sondern in ihnen ganze Streitmachten auf den Einsatz warteten. Und die ganz offensichtlich rasche Organisation der Verfolgung deutete darauf hin, daß die Milizionäre der Kolonnen sich entweder in Bereitschaft gehalten hatten oder bereits vorher von den bevorstehenden Überfällen auf die Metallbank und die Düngemittelanlage informiert gewesen waren.

Aber das war undenkbar. Hal hielt es für unmöglich, daß einer der Kämpfer aus dem Kommando Rukhs Verrat begangen hatte. Und wenn die Miliz tatsächlich informiert gewesen war, so hätte sie die Männer und Frauen der Einsatzgruppen sicherlich an den Orten der geplanten Angriffe erwartet. Das wäre weitaus einfacher und logischer gewesen, als die Mitglieder des

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Kommandos im nachhinein in die Vorberge zu verfolgen.

All diese Überlegungen, so dachte Hal, konnten nur zu einer plausiblen Schlußfolgerung führen, und das bedeutete, daß der verletzte Fahrer recht hatte. Die Milizionäre hatten sich nur wegen Hal in Bereitschaft gehalten. Und nur ein Mann konnte das veranlaßt haben: Bleys Ahrens. Der Andere hatte inzwischen offenbar keinen Zweifel mehr daran, daß sich Hal auf Harmonie befand, und auf seine Veranlassung hin war die Miliz planetenweit mit dem äußeren Erscheinungsbild des Gesuchten vertraut gemacht worden. Der Offizier namens Barbage hatte ihn erkannt und nach seiner gelungenen Flucht entsprechende Meldung gemacht.

Jetzt bekamen es Rukh und die anderen mit einer starken und sehr gefährlichen Verfolgungsstreitmacht zu tun. Und das bedeutete, daß sich die Anschuldigungen des verletzten Fahrers Hal gegenüber letztendlich als stichhaltig herausstellten.

9 Hal nahm einen Stock zur Hand, zeichnete damit Linien in den Boden – die geschätzten Routen, die einerseits die Einsatzgruppen und andererseits die Truppentransporter der Miliz nahmen – und kam zu dem Schluß, daß er selbst dann, wenn er sich sehr beeilte, den Treffpunkt des Kommandos erst erreichen konnte, nachdem die anderen Kämpfer bereits dort eingetroffen waren. Er marschierte wieder los.

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Seit er dem Kommando angehörte, befand er sich wieder in bester körperlicher Verfassung. Doch nach wie vor reichte seine Kondition nicht dazu aus, zu Fuß große Strecken in so kurzer Zeit zurückzule gen wie als sechzehnjähriger Junge auf der Erde. Damals hätte er, auch mit all dem Gepäck und der Waffe, die ganze Distanz im Laufschritt hinter sich bringen können.

Hal entschied sich dazu, möglichst rasch auszuschreiten, um einerseits mit seinen Kräften hauszuhalten, andererseits jedoch nicht mehr Zeit zu verlieren als unbedingt notwendig. Am vergangenen Tag hatte er nur wenig geschlafen, und während der ganzen letzten Nacht war er nicht dazu in der Lage gewesen, ein wenig Ruhe zu finden. Die ersten beiden Kilometer fielen ihm sehr schwer. Dann aber gewöhnte sich sein Körper allmählich an diese Art der Belastung, und Hal zwang sein Bewußtsein in eine Halbtrance, die es ihm ermöglichte, den Marsch so lange fortzusetzen, bis er sich vollkommen verausgabt hatte und einfach zu Boden sank.

Als er dieses Stadium erreichte, war sein Leib nichts weiter als eine organische Maschine, die nicht mehr bewußt kontrolliert werden mußte, und seine Gedanken trieben dahin.

Vor allen Dingen dachte er zunächst daran, daß seine Gegenwart sich für das Kommando und dessen Kämpfer als eine große Gefahr herausgestellt hatte. Anschließend folgte die Einsicht, daß es Bleys nun gelungen war, ihn zu lokalisieren – und ganz offensichtlich hatte er alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihn zu fassen. Daran

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wiederum schloß sich die Erkenntnis an, daß Bleys – und vermutlich alle Anderen – ihn, Hal, nicht nur als einen Unsicherheitsfaktor für ihre Pläne erachteten, sondern in ihm ein großes Risiko sahen. Der Versuch, ihn auf Coby zu stellen, mochte nur auf eine persönliche Neugier Bleys' zurückgehen. Aber die jetzigen Geschehnisse deuteten auf mehr als nur das hin.

Er hatte das sichere Gefühl, rasch eine Entscheidung treffen zu müssen. Auf Coby hatte er sich nur versteckt, um erwachsen zu werden und zu lernen, sich selbst zu schützen – und um die Gelegenheit zu haben, sich über seine Absichten in Hinsicht auf die Anderen und sein eigenes Leben klarzuwerden. Jetzt hatte es ganz den Anschein, als könne es dem Gegner tatsächlich gelingen, ihn in die Gewalt zu bekommen, und er wußte noch immer nicht, wie er seine Feinde bekämpfen, geschweige denn besiegen sollte. Sein Gewissen meldete sich und warf ihm vor, die letzten vier Jahre nicht genutzt, in der kindlichen Illusion gelebt zu haben, ihm stände unendlich viel Zeit zur Verfügung – bis es schließlich zu spät dafür geworden war, das eigene Schicksal fest in die Hand zu nehmen.

Hal befand sich nun zum größten Teil in offenem Gelände, und er verringerte seine Marschgeschwindigkeit nicht, wenn es darum ging, natürlichen Hindernissen auszuweichen. Dann und wann blieb er an einer Stelle stehen, von der aus er die unteren Hangbereiche einsehen konnte – oder er kletterte auf einen Baum, um sich zu orientieren. Bei der ersten Beobachtungspause entdeckte er nur eine der drei Milizkolonnen, diejenige, die über den Kiesweg fuhr.

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Nach den beiden anderen mußte er gesondert Ausschau halten, und als er sie fand, stellte er fest, daß die Wagen inzwischen angehalten hatten: Die Soldaten hatten vermutlich die Transporter verlassen und drangen nun zu Fuß bergauf in den Wald vor.

Die Kolonne auf dem Kiespfad stellte die Speerspitze der gegnerischen Streitmacht dar, und Hal vermutete, ihre Aufgabe bestand darin, vor den anderen beiden in die Vorberge vorzustoßen und dem fliehenden Kommando den Weg abzuschneiden. Als Hal zum zweitenmal innehielt und die weiter unten gelegenen Regionen beobachtete, sah er, daß die Wagen dieser ersten Kolonne ebenfalls haltgemacht hatten, an einem Ort, der fast auf gleicher Höhe mit dem Treffpunkt lag, und die Milizionäre in den Transportern waren wie ihre Kollegen ausgestiegen und unter den Baumwipfeln verschwunden. Angesichts der Stelle, von der aus sie den Weg zu Fuß fortsetzten, konnte Hal ziemlich sicher sein, daß er den Treffpunkt einige Stunden vor ihnen erreichen und der Gegner keine Möglichkeit haben würde, aus irgendeinem Grund zurückgebliebene Einsatzgruppen des Kommandos vorzeitig in Kämpfe zu verwickeln. Andererseits jedoch mußten die Soldaten auf entsprechende Spuren stoßen. Es war unmöglich, mit Eseln einen Wald zu durchqueren, ohne deutliche Hinweise zu hinterlassen.

Hal war versucht, sein Marschtempo zu erhöhen. Aber das ihm eingeprägte Muster seiner Ausbildung veranlaßte ihn dazu, vorausschauend zu planen. Und es war eindeutig, daß sein Arbeitstag mit dem Erreichen des Kommandos noch nicht beendet sein würde. Aus diesem

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Grund schritt er weiterhin so gleichmäßig aus wie zuvor,setzte seine Überlegungen fort und dachte über Bleys und darüber nach, wie sich sein Gegner unter derartigen Umständen verhalten mochte.

Er befaßte sich nach wie vor mit dieser Problematik, als er schließlich den Treffpunkt und das dort errichtete provisorische Lager des Kommandos erreichte. Hal hatte bisher nur am Rand zur Kenntnis genommen, wieviel Zeit verstrichen war, und bis zum Sonnenunter gang blieben ihm nur noch einige wenige Stunden. Bis zu diesem Augenblick hielt die Barriere, mit der er sich vor seiner Erschöpfung geschützt hatte. Doch der Anblick der bereits aufgebauten Zelte, die Geräusche der abendlichen Lageraktivitäten und die Kochdünste erinnerten ihn jäh an die Müdigkeit in seinem Körper.

»Howard!« rief Joralmon, der ihn erblickte, als Hal ins Lager trat. »Wir haben uns schon Sorgen um Sie gemacht!«

Joralmon wandte sich von dem Konusgewehr ab, das er demontiert und dessen Einzelteile er auf dem Boden vor dem Zelt für die Reinigung ausgebreitet hatte. Er kam auf Hal zu, gefolgt von den anderen, die seine Worte gehört hatten.

Hal winkte sie zur Seite. »Wo ist Rukh?« fragte er. »Ich muß sie dringend

sprechen.« »Kommen Sie, Howard.« Ihre Stimme klang klar und deutlich aus ihrem Zelt,

und er schob sich ins Innere des Unterstands. Rukh saß auf einem zusammenklappbaren Stuhl vor einem Tisch,

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auf dem eine Karte ausgebreitet war, und Gotteskind hatte ihr gegenüber Platz genommen. Sie sahen ihn beide an.

»Was ist denn?« fragte Rukh. »Drei Einheiten der Miliz verfolgen uns«, sagte er.

»Ich habe sie von den oberen Bereichen des Hanges aus gesehen, nachdem ich den verletzten Fahrer in der Hütte zurückließ.«

Er schilderte ihnen das, was er beobachtet hatte, und er beschrieb auch seine eigene Einschätzung der Lage.

»Und es dauert noch etwa zwei Stunden, bevor sie auf unsere Spuren treffen?« Rukh runzelte die Stirn. »Aber wie lange wird es dauern, bis sie uns finden?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Hal. Er beugte sich über die Karte, die die Vorberge jenseits

von Masenvale zeigte, und er deutete auf einige bestimmte Stellen, als er sagte: »Wenn ich von einem hohen Marschtempo unseres Feindes ausgehe und die Zeit berücksichtige, die ich brauchte, um hierher zu gelangen, so ziehe ich eine Linie von der Stelle, an der die Truppentransporter der Miliz parken, bis an die Route, die unsere Einsatzgruppen hierher nahmen. Wie Sie sehen, befindet sich der Endpunkt meiner Linie in unmittelbarer Nähe dieses Lagers. Aber andererseits gehe ich mit dieser Schätzung von besonders guten Voraussetzungen für den Gegner aus. Wo er tatsächlich auf die von den Eseln zurück gelassenen Spuren trifft, hängt ganz davon ab, welchen relativen Winkel seine Marschrichtung zu den von uns eingeschlagenen Wegen bildet. Wenn er neunzig Grad groß ist, dürfte es zwei

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Stunden dauern, bis die Milizionäre auf unsere ersten Spuren stoßen. Ist er größer als neunzig Grad, so brauchen sie länger, aber dann würden sie schließlich an ihren Ausgangspunkt zurückkehren, was bestimmt nicht in ihrer Absicht liegt. Bei einem kleinen Winkel dauert es ebenfalls länger, um unsere ersten Spuren zu finden – doch in einem solchen Fall könnten sie direkt hier auftauchen.«

Rukh nahm ein Lineal zur Hand, legte es auf die Karte und maß die Entfernung zwischen den Punkten, die Hal ihr gezeigt hatte.

»Der Gegner braucht ungefähr ein Drittel mehr Zeit, um diesen Ort zu erreichen«, sagte sie nachdenklich. Gotteskind beugte sich vor und betrachtete ebenfalls die Darstellungen auf der Karte. »Ein Maximum von vierzig Minuten, abgesehen von den beiden Stunden Ihrer Schätzung, Howard. Wir brauchen mindestens eine halbe Stunde, um das Lager abzubrechen und uns wieder auf den Weg zu machen, und selbst dann wären wir nicht richtig vorbereitet. Aber es bleibt uns keine andere Wahl.«

Sie sah Gotteskind an. »James?« Er schüttelte den Kopf. »Du hast recht.« Sein zerfurchtes Gesicht wandte sich

Hal zu. »Ihr habt uns einen großen Dienst erwiesen, Howard.«

»Der Zufall wollte es, daß ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort weilte«, erwiderte Hal. »Wenn ich den verletzten Fahrer nicht in seine Hütte gebracht hätte,

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wäre ich nicht dazu in der Lage gewesen, die feindlichen Kolonnen zu entdecken und Sie zu warnen.«

»Also los«, sagte Rukh. »James, bitte sagen Sie den Leuten Bescheid.«

Gotteskind stand auf und verließ das Zelt. »Howard«, sagte Rukh, »begleiten Sie ihn und helfen

Sie ihm.« Hal rührte sich nicht. »Wenn ich noch etwas sagen

dürfte …« »Selbstverständlich.« Der Blick der dunklen Augen

Rukhs musterte ihn nachdenklich. »Sie sind den ganzen Tag über im Eiltempo marschiert, um uns zu benachrichtigen. Ich verstehe. Ruhen Sie sich eine halbe Stunde lang aus, während sich das Kommando zum Aufbruch bereitmacht. Versuchen Sie, ein wenig zu schlafen.«

»Darum geht es mir nicht.« Hal stützte die eine Hand auf die Rückenlehne des Stuhles, auf dem zuvor Gotteskind gesessen hatte. Er empfand die Erschöpfung plötzlich als überwältigend. »Ich wollte Ihnen noch sagen, daß wir auf dem Weg aus der Stadt einer Straßensperre ausweichen mußten. Die Barrikade dürfte schon vor den Überfällen errichtet worden sein. Unser Fahrer hatte recht, als er noch auf dem Mohler-Beni-Bauernhof sagte, ich stelle eine Gefahr für Sie alle dar. Die Straßensperre galt allein mir. Und die drei Einheiten der Miliz, mit denen wir es nun zu tun haben, lagen nur wegen mir in Bereitschaft.«

Rukh nickte und wandte den Blick nicht von ihm ab.

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»Der Mann hatte recht«, bekräftigte Hal. »So lange ich bei Ihnen bin, müssen Sie immer wieder damit rechnen, von der Miliz bedroht zu werden. Vielleicht kann ich die Aufmerksamkeit des Gegners von Ihnen ablenken, wenn ich fortgehe.«

»Wissen Sie, warum sie hinter Ihnen her sind?« fragte Rukh.

Hal schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher. Meine unmittelbaren Erfahrungen mit den Anderen beschränken sich nur auf das Ereignis bei mir zu Hause auf der Erde. Ich vermute, Bleys Ahrens, der stellvertretende Vorsitzende, steckt dahinter – der größere der beiden Männer, die anwesend waren, als man meine Mentoren umbrachte. Ja, ich schätze, er hat es auf mich abgesehen. Aber den eigentlichen Grund dafür, den kenne ich nicht. Wie dem auch sei: Ich glaube, ich sollte mich von Ihnen trennen.«

»Sie erinnern sich doch sicher an den Vorfall auf dem Bauernhof«, erwiderte Rukh, »an die Worte, die James an den Mann mit dem Akkordeon richtete, als er einen entsprechenden Vorschlag machte. Kein Kommando hat jemals einen seiner Kämpfer im Stich gelassen.«

»Gehöre ich wirklich zu Ihnen?« Sie sah ihn nachdenklich an. »Sie haben mit uns gelebt und gekämpft«, sagte sie.

»Das genügt. Und abgesehen davon: Wenn man so sehr hinter Ihnen her ist, daß man die Miliz eines ganzen Distrikts mobilisiert – glauben Sie im Ernst, die Soldaten würden ein Kommando in Ruhe lassen, dem Sie

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angehören? Ein Kommando zudem, das in der Stadt gerade zwei Überfälle durchgeführt hat?«

Hal gab keine Antwort darauf. »Ruhen Sie sich jetzt aus, Howard«, sagte Rukh. Er schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig. Ich habe

nur Hunger.« »Lassen Sie sich von Tallah eine Mahlzeit zubereiten,

die Sie ver speisen können, wenn wir unterwegs sind«, riet ihm Rukh. »Und dann legen Sie sich hin. Das ist ein Befehl.«

»Wie Sie meinen«, sagte Hal. Er holte sich Brot und Bohnen von Tallah, schlang

einen Teil des Essens in sich hinein und packte den Rest ein. Anschließend streckte er sich auf der Matratze aus. Er hatte das Gefühl, gerade erst die Augen geschlossen zu haben, als man ihn auch schon wieder wachrüttelte. Benommen starrte er in das Gesicht Jasons.

»Wir müssen los, Howard«, sagte sein Kamerad. Er bot Hal eine Tasse mit dampfendem Kaffee an. »Hier, das ist der Rest.«

Dankbar trank Hal die heiße Flüssigkeit. Es war kein echter Kaffee – nicht einmal die entsprechende, auf Harmonie gebräuchliche Abart. Tatsächlich verwendete man die Früchte der Variform einer einheimischen Pflanzenart, die einen ähnlichen Geschmack hatten. Das bittere, grauschwarze Getränk enthielt einige Stimulanzien, und als Hal aufgestanden war und sowohl das Gewehr als auch die anderen Ausrüstungsteile an sich genommen hatte, war er vollkommen wach und zum Aufbruch bereit.

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Die Männer und Frauen des Kommandos marschierten so schnell, wie es das Terrain und die Belastung der Esel ermöglichten. Noch zwei Stunden blieben ihnen bis zur Abenddämmerung. Als sich die Konturen ihrer Umgebung nach und nach im grauen Zwielicht verflüchtigten, ließ Rukh ihr Kommando anhalten. Hal verließ seine Position, wanderte an den Kameraden mit den Eseln vorbei und gesellte sich zu der Befehlshaberin.

»Wollen Sie hier das Lager aufschlagen lassen?« fragte er.

»Ja«, antwortete sie. Rukhs Gesicht war zwar nur eine Armeslänge von ihm entfernt, stellte in der sich rasch verfinsternden Dunkelheit jedoch nur ein verschwommenes Oval dar.

Hal blickte zum zwar bedeckten, aber noch recht hellen Himmel empor.

»Der Mond dürfte bald aufgehen«, sagte er. »Und ab und zu könnte die Wolkendecke aufbrechen. Wenn wir weitergingen, wären wir dazu in der Lage, die Entfernung zu den uns verfolgenden Milizeinheiten zu vergrößern. Morgen dürften die Soldaten dann wieder zu uns aufschließen; sie brauchen sich nicht um Esel zu kümmern.«

»Morgen mittag«, erwiderte Rukh, »verlassen wir diesen Distrikt. Und bisher sind Kommandos von Milizeinheiten noch nie über die Grenzen des entsprechenden Distrikts hinweg verfolgt worden. Wir sollten es eigentlich schaffen, den Soldaten zu entkommen und in den nächsten Distrikt zu gelangen. Und während die dortige Miliz benachrichtigt und

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mobilisiert wird, setzen wir die Flucht fort und hängen unsere Verfolger ab.«

»Vielleicht haben Sie recht«, sagte Hal. »Aber wie dem auch sei: Es wäre durchaus möglich, weiterzumarschieren.«

Einige Sekunden lang schwieg Rukh, und dann fragte sie: »Wie?«

»Ich bin dazu fähig, mich selbst in einer derartigen Dunkelheit zu orientieren«, sagte Hal. »Das war Teil meiner Ausbildung, und ich glaube, ich bin nach wie vor dazu imstande. Wenn wir die einzelnen Mitglieder des Kommandos mit Seilen verbinden und ich die Führung übernehme, dürfte es zu keinen Zwischenfällen kommen. Und wenn der Mond aufgeht und es dadurch ein wenig heller wird, könnten wir die ganze Nacht durchmarschieren. Wenn wir jetzt aber anhalten und die Zelte aufbauen, ist nicht damit zu rechnen, daß wir vor dem nächsten Morgen den Weg fortsetzen.«

Erneut schwieg Rukh eine ganze Zeitlang, und ihre Augen waren zwei glitzernde Flecken in dem konturlosen Gesicht.

»Selbst wenn Sie uns anführen«, entgegnete sie schließlich. »Wer soll verhindern, daß wir über Hindernisse stolpern, die Sie zwar sehen können, wir jedoch nicht?«

»Ich könnte sichere Routen für uns auswählen. Glauben Sie mir, das ist tatsächlich machbar. Ich habe damals auf der Erde entsprechende Erfahrungen sammeln können.«

Wieder Stille.

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»Na schön«, sagte Rukh dann. »Wie sollen sich die Kämpfer des Kommandos anseilen?«

Die Fähigkeiten Hals erforderten keine besondere Gabe, nur Aufmerksamkeit und ein wenig Erfahrung. Wenn man imstande sein wollte, sich auch in völliger Dunkelheit zu orientieren, so mußte man einige bestimmte Dinge berücksichtigen. Wichtig in diesem Zusammenhang war zum Beispiel die Tatsache, daß selbst Menschen, die sich fast ausschließlich in freiem Gelände und Wäldern aufhielten, aus einem instinktiven Reflex heraus in der Nacht den Blick auf die relative Helligkeit selbst eines bewölkten Himmels fixierten und sich dadurch selbst der besseren Wahrnehmung beraubten, die sich ihnen darbot, so lange ihre Augen an die Finsternis in Bodenhöhe gewöhnt waren.

Außerdem setzte Hal auch noch eine fast hypnotische Konzentra tion ein, die dem unmittelbar vor ihm liegenden Terrain galt und verstärkt wurde von einer ähnlichen Sensibilisierung seiner anderen Sinne – des Geruchs, des Hörens und des Gleichgewichts. Das übermittelte ihm alle Informationen über seine Umgebung, die er brauchte. Während seiner Ausbildung auf der Erde hatte er sich immer wieder darin geübt. Und tatsächlich kam es in erster Linie auf entsprechende Erfahrungen an. Die einzige Gefahr bestand darin, gegen ein höher gelegeneres Hindernis zu stoßen, das sein zu Boden gerichteter Blick nicht rechtzeitig wahrnahm. Deshalb benutzte Hal einen Stock, den er so vor sich hielt, daß das obere Ende über seinen Kopf hinausragte und das untere Ende sich etwa auf einer Höhe mit seinen Waden befand.

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Zu Anfang kam das Kommando nur ganz langsam voran. Aber nach und nach gewöhnten sich die Männer und Frauen an die Art des Vorwärtskommens und lernten die dazu notwendigen Tricks. Immer seltener kam es vor, daß jemand fiel und so die ganze Kolonne aufhielt. Und sie kamen rascher vorwärts.

Dennoch war ihre Geschwindigkeit geradezu lächerlich gering. Auf der Erde hatte Hal zusammen mit Malachi als Führer sowie drei erfahrenen Helfern und ebenfalls eingewöhnten Packtieren geübt, und sie waren bei ihren nächtlichen Ausflügen fast ebenso rasch vorangekommen wie am Tag. Jetzt paßten sich die Esel schneller an als die Männer und Frauen. Insgesamt gesehen lernten die Kämpfer nur langsam. Rukh, die sich direkt hinter Hal hielt, begriff schon ziemlich rasch, wie wichtig es war, das Seil locker zu halten, aber es gab andere, wie zum Beispiel die Frau hinter ihr, die das dauernd vergaßen.

Hal selbst lenkte sein Bewußtsein rasch in den Zustand der Konzentration, die alles, was nicht mit seiner unmittelbaren Aufgabe im Zusammenhang stand, in den Hintergrund rückte. Und als die Zeit verstrich, dachte er überhaupt nicht mehr dabei, als er weiterhin einen Fuß vor den anderen setzte. Er bewegte sich durch einen Irrgarten aus Dutzenden von Wahrnehmungen und steuerte seinen Körper durch die Finsternis, ohne die Signale und Informationen zu analysieren, die seine Muskeln zu bestimmten Reaktionen veranlaßten. Sein Unterbewußtsein verarbeitete die Hinweise, die ihm der Boden unter seinen Füßen gab, ganz automatisch, und Hals Lippen gaben sie sofort an Rukh weiter, die

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daraufhin die hinter ihr marschierenden Personen einwies. Entlang der wandernden Kolonne flüsterte und raunte es im Wald.

Nach einer Weile ging hinter den Wolken der Mond auf, und die nächtliche Brise lebte auf. Immer häufiger bildeten sich Risse und Lücken in der hohen Wolkendecke. Und selbst wenn das einmal nicht geschah: Die grauen Schleier am Firmament waren nun dünner und ließen mehr Licht passieren. Hal schenkte diesen Veränderungen keine Beachtung. Er merkte nicht einmal, daß er nach und nach schneller ausschritt und die anderen Kämpfer sich seiner erhöhten Geschwindigkeit anpaßten, als immer mehr Einzelheiten des vor ihnen liegenden Terrains erkennbar wurden. Er war längst jenseits aller normalen Erschöpfung, und nur der hohe Adrenalinspiegel in seinem Blut machte es ihm möglich, sich weiterhin zu bewegen. Er hatte seinen Leib ganz vergessen – und fast ebenso seine Sinne als unmittelbare Instrumente von Körper und Geist. Hal lebte ausschließlich in einem Universum aus sich langsam verändernden grauschwarzen Schatten. Und diesen Kosmos durchwanderte er, allein darauf fixiert. Die Zeit, das Ziel, auf das sie zuhielten, der Grund für den nächtlichen Marsch – all das spielte keine Rolle mehr. Selbst die Hindernisse vor ihm, denen er immer wieder begegnete, schienen den größten Teil ihrer Bedeutung verloren zu haben. Ohne nachzudenken, ohne zu verstehen, wandte er sich nach rechts und links. Er begriff nur, daß dies seine Aufgabe war – sich in einer nicht enden wollenden Struktur aus Vorsicht und

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wahrnehmungstechnischer Aufmerksamkeit zu bewegen.

Ein jähes Zerren an dem Seil, das ihn mit Rukh verband, ließ ihn plötzlich stehenbleiben. Er drehte sich benommen um und sah sie an.

»Wir machen hier halt.« Ihre Stimme erschien ihm seltsam laut. »Inzwischen ist es hell genug.«

Zum erstenmal wurde sich Hal bewußt, daß die Finsternis nicht mehr absolut war. Das schloß er aus dem Grau der Schatten um ihn herum, der Abwesenheit von tiefer Schwärze. Aber obgleich Rukh nur rund einen Meter von ihm entfernt war, konnte er sie zunächst nicht als das erkennen, was sie darstellte. Nach wie vor war er in der Konzentration gefangen, die es ihm ermöglicht hatte, die Kameraden durch die Nacht zu führen. Seine Sinne nahmen Rukh nur als einen weiteren abstrakten Schemen aus verschiedenen Grauabstufungen wahr. Und ihre Worte ergaben keinen Sinn für ihn. Er hatte sie zwar gehört, sah sich aber außerstande, sie in seinem ganz persönlichen Universum geltenden Bedeutungszusammenhängen zuzuordnen.

Dann, von einem Augenblick zum anderen, begann sein Bewußtsein wieder zu arbeiten, und er verstand und konnte wieder richtig sehen. Er betrachtete den Waldboden, die Bäume, die Sträucher, das seltsame Zwielicht vor der eigentlichen Morgendämmerung. Und endlich begriff er, daß die Nacht vorüber war und er seine Aufgabe erfüllt hatte.

Er spürte, wie er fiel, aber er empfand nichts, als er auf den Boden stürzte.

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Langsam kam er wieder zu sich. Irgend jemand berührte ihn an den Schultern. Es kostete ihn große Mühe, die Augen aufzuschlagen, und er sah Rukh vor sich.

»Setzen Sie sich auf«, sagte sie. Hal stemmte sich in die Höhe und stellte dabei

überrascht fest, daß irgendwie eine Matratze unter ihm materialisiert war und ihm ein Phantom Decken zur Verfügung gestellt hatte. Als er saß, fühlte er etwas hinter sich, und er drehte sich halb um und entdeckte seinen gefüllten Rucksack, den ihm jemand als Rückenstütze zugeschoben hatte. Rukh drückte ihm eine Schüssel mit einer undefinierbaren warmen Mahlzeit in die Hand.

»Essen Sie das«, sagte sie. Hal sah sich um, und sein Blick fiel auf Bäume und das

helle Licht des späten Vormittags. »Wie spät ist es?« fragte er, und er erschrak, als er seine

eigene Stimme nur als ein heiseres Krächzen vernahm. »Eine Stunde vor Mittag. Essen Sie.« Sie erhob sich und trat von ihm fort. Noch immer

sowohl physisch als auch psychisch wie betäubt, begann Hal den Eintopf zu verspeisen. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals etwas so Köstliches gegessen zu haben. Und mit jedem warmen Löffel kehrte mehr Leben in ihn zurück. Auf einmal war die Schüssel leer. Er stellte sie zur Seite, stand auf und faltete sowohl die Matratze als auch die Decken zusammen – die Teil seiner eigenen Ausrüstung waren, wie er nun feststellte. Er verstaute sie in seinem Rucksack. Schüssel und Löffel allerdings

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gehörten nicht ihm. Er trat mit ihnen an den Fluß heran, an dem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, und er reinigte sie. Um ihn herum trafen die Kämpfer des Kommandos bereits wieder Vorbereitungen zum Aufbruch. Hal brachte das Geschirr zu Tallah.

»Nicht in die Küche!« rief sie ihm verärgert über die Schulter zu, während sie damit beschäftigt war, die ihr anvertraute Ausrüstung auf die Rücken der bereitstehenden Esel zu laden. »Die Sachen gehören Rukh.«

Daraufhin brachte Hal sie der Befehlshaberin zurück. »Vielen Dank«, sagte er. »Keine Ursache. Wie geht es Ihnen jetzt?« »Ich bin wach«, sagte Hal. »Wie fühlen Sie sich?« »Ein bißchen steif, ansonsten aber ganz gut.« »Ich schicke die Verwundeten mit einer gesonderten

Gruppe fort«, erklärte ihm Rukh. »Einschließlich der Menge an Ausrüstungsgütern, die wir entbehren können – so daß unsere Belastung nicht mehr so groß ist und wir schneller vorankommen. Sie werden uns unterwegs einzeln und in Zweiergruppen verlassen. Und ich hoffe, die Milizionäre übersehen während der Jagd auf uns die geringeren Spuren, die sie hinterlassen. Da auch Morelly uns verläßt, fehlt uns ein Gruppenführer. Ich habe mit James darüber gesprochen, und wir sind übereingekommen, daß es an der Zeit ist, uns Ihre Ausbildung auf einer ganz offiziellen Basis zunutze zu machen. Ich befördere Sie hiermit zum Gruppenführer.«

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Hal nickte. »Das ist noch nicht alles«, fügte Rukh hinzu. »Die

anderen Führer sind alle älter als Sie, und normalerweise müßten James, ich selbst und viele weitere Männer und Frauen fallen, bis Sie direkte Verantwortung für das Kommando übernehmen können. Aber ich möchte den anderen Gruppenführern etwas über Ihre besondere Ausbildung mitteilen, so daß ich ihnen begreiflich machen kann, daß James und ich aufgrund Ihrer Erfahrung wollen, daß Sie zum stellvertretenden Befehlshaber werden, wenn Gotteskind irgend etwas zustoßen sollte. Sind Sie damit einverstanden?«

Hals nach wie vor benommener Verstand brauchte einige Sekunden, bis er die Bedeutung der Worte Rukhs in vollem Ausmaß begriff.

»Da es ein offenes Geheimnis ist, daß die Miliz es in erster Linie auf mich abgesehen hat«, antwortete er, »gibt es keinen Grund, warum die anderen nicht Einzelheiten von meiner speziellen Ausbildung erfahren sollten. Ich wäre Ihnen allerdings sehr dankbar, wenn Sie ihnen nicht die Namen meiner Mentoren nennen und die Dinge verschweigen würden, die sie nicht unbedingt zu wissen brauchen.«

»Natürlich.« Für den Bruchteil eines Augenblicks gewann Hal den

Eindruck, als klinge ihre Stimme fast sanft. Doch dieser Eindruck verflüchtigte sich ebenso schnell, wie er entstanden war. Und nur durch seine besondere Fähigkeit zu einer memorialen Zeitreise konnte er sich vergewissern, sich nicht getäuscht zu haben. Während er

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noch in der unmittelbaren Nähe Rukhs stand, spürte er eine von ihr ausgehende Lebenskraft, die sich ihm wie etwas Massives entgegenpreßte.

»Von jetzt an sind Sie Unteroffizier«, fügte Rukh hinzu. »Ich erwarte von Ihnen, daß Sie bei jedem Halt James und mich aufsuchen, so daß wir bei unseren Beratungen auf Ihr Wissen zurückgreifen können. Zu unserer derzeitigen Lage: Die Milizionäre befinden sich rund acht Kilometer hinter uns, und pro Stunde kommen sie einen Kilometer schneller voran als wir. Bei unseren Verfolgern handelt es sich darüberhinaus um die erste und zweite Einheit, die sich zusammengeschlossen haben.«

Sie nannte ihm weitere Einzelheiten. Jason und zwei andere Kämpfer waren unmittelbar

nach dem Halt fortgeschickt worden, um am Berghang emporzuklettern und so weit in die Höhe zu gelangen, bis sie mit ihren Feldstechern die Verfolger deutlich sehen konnten.

Früh am Morgen hatten sie in der Ferne, gerade noch am Rand des Erfassungsbereichs der optischen Scanner, die dünnen Rauchfäden gesehen, die von den Lagerfeuern des Gegners stammten, und Jason und seine beiden Begleiter schätzten die Zeit ab, die die Milizionäre brauchen würden, um das Kommando zu erreichen, wenn es einfach an Ort und Stelle verweilte. Darüberhinaus deutete die Anzahl der Feuer auf eine Streitmacht hin, die etwa doppelt so groß war wie eine der Einheiten, die Hal gesehen und von der er berichtet

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hatte. Spätere Beobachtungen bestätigten das und ergaben, daß der Gegner aufbrach und weiterzog.

Nachdem sich die gegnerischen Truppen in Bewegung gesetzt hatten, waren Jason und seiner Kameraden dazu in der Lage, ihre Marschgeschwindigkeit zu bestimmen, und es stellte sich heraus, daß die Milizionäre mit rund vier Kilometern pro Stunde durch den Wald vorankamen. Das Kommando war mit den Eseln belastet und schaffte im gleichen Gelände nur drei Kilometer in jeweils sechzig Minuten. Der Feind war drei Stunden eher aufgebrochen und hatte damit zwölf Stunden Reisezeit gewonnen, wodurch er jetzt vom Kommando nur noch sechs Stunden entfernt war. Und wenn er die Verfolgung mit der gleichen Geschwindigkeit fortsetzte, würde er sie bei der Abenddämmerung erreicht haben.

»Aber ich glaube, bis zum späten Nachmittag sind wir dieses Problem los«, sagte Rukh.

Sie erklärte Hal, sie seien nur noch drei Stunden von der Grenze des nächsten Distrikts entfernt.

»Und sie setzen die Verfolgung nicht in einen anderen Distrikt fort?« fragte Hal.

»Rein rechtlich gesehen haben sie nur dann die Möglichkeit dazu, wenn sie eine Art Strafaktion durchführen – und vielleicht geht der Feind davon aus«, erwiderte Rukh trocken. »Tatsächlich aber herrscht zwischen den einzelnen Distrikten eine nicht unbeträchtliche Rivalität. Das geht noch zurück auf die alten Auseinandersetzungen zwischen den Sekten, die diese Welt einst in verschiedene Staaten aufteilten. Die Miliz des einen Distrikts mag es gar nicht, wenn die eines

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anderen in ihren Zuständigkeitsbereich vordringt. Die Soldaten, die es derzeit auf uns abgesehen haben, könnten die Verfolgung tatsächlich fortsetzen. Doch ich halte es für wahrscheinlicher, daß sie an der Grenze haltmachen und die Miliz des nächsten Distrikts über uns informieren.«

»Wenn sie bereits eine entsprechende Nachricht weitergegeben haben oder die Miliz des nächsten Distrikts in Kenntnis setzen, bevor wir die Grenze erreichen«, wandte Hal ein, »könnten wir zwischen zwei Fronten geraten.«

»Ich habe die Rivalität und das Konkurrenzdenken zwischen den einzelnen Milizen eben ja schon erwähnt. Wenn die Einheiten hinter uns glauben, uns erwischen zu können, so werden sie vermutlich keinen Grund sehen, die Soldaten des nächsten Distrikts zu benachrichtigen und dadurch zu riskieren, daß die einen entsprechenden Erfolg für sich verbuchen. Ich gehe davon aus, daß uns der Gegner zwar über die Grenze hinaus verfolgt, dann aber kehrtmacht. Und erst dann wird er die andere Miliz benachrichtigen. Und die dürfte ungefähr zwei bis drei Stunden benötigen, um eine Streitmacht zusammenzustellen und sie uns hinterherzuschicken.«

»Ich verstehe«, sagte Hal. »Mit ein wenig Glück sollten wir einen Vorsprung von

acht bis neun Stunden gewinnen, während unsere Verfolger sich ablösen.« Rukh deutete ein Lächeln an. »Und in der Zeit sind wir längst in Richtung des nächsten Distrikts im Süden unterwegs, wo sich alles noch einmal wiederholt und uns weitere Zeit gibt. Auf diese Weise

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entgehen Kommandos für gewöhnlich der Hatz durch die Miliz.«

Sie sah an Hal vorbei ins Lager. »Wir sind jetzt zum Aufbruch bereit«, sagte sie. »Im

Augenblick kommen Ihnen keine weiteren Pflichten als nur die zu, zusammen mit den anderen zu marschieren. Ich kehre später noch einmal zurück, um festzustellen, wie es um Sie steht. Sollten Sie auch in einigen Stunden noch bei Kräften sein, habe ich vielleicht eine besondere Aufgabe für Sie. Inzwischen überlegen Sie, welche Leute Sie für ihre Gruppe möchten. Zunächst einmal werden Ihnen natürlich die Kämpfer Morellys zugewiesen, aber später werden Sie die Möglichkeit haben, sich selbst einige Kommandomitglieder aussuchen zu können – vorausgesetzt, alle Beteiligten sind einverstanden.«

Hal kehrte zurück, um seine Ausrüstung zu holen.

10 Auch die anderen Männer und Frauen des Kommandos hatten überaus anstrengende vierundzwanzig Stunden hinter sich und den größten Teil der Ruhepause genutzt, um zu schlafen. Als sie nun wieder aufbrachen, marschierten sie steifbeinig, müde und schweigend, nicht mit der sonst für sie typischen Unbeschwertheit. Doch wie Hal am Vortag, als er sich von der Hütte aus auf den Rückweg gemacht hatte, gewöhnten sie sich rasch wieder an die Belastung und schritten schneller aus. Durch die langen Strecken, die sie in den vergangenen

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Wochen zurückgelegt hatten, waren sie in einer sehr guten körperlichen Verfassung, und auf den verschiedenen Bauernhöfen hatten sie wesentlich besseres Essen als sonst bekommen.

Nach und nach kamen sie schneller voran. Und obgleich sich die Milizionäre eine ganze Nacht lang hatten ausruhen können, machte ihnen die Hitze des Nachmittags schwerer zu schaffen und drosselte ihr Tempo. Diejenigen Männer und Frauen des Kommandos, die mit Feldstechern in Baumwipfel kletterten und höher gelegenere Lichtungen aufsuchten, berichteten davon, daß der Gegner in jeder Stunde eine zehnminütige Rast machte. Am späten Nachmittag schickte Rukh einen Kurier zu Hal, der ihn dazu aufforderte, die Spitze der Kolonne aufzusuchen, um dort mit der Befehlshaberin zu sprechen. Er befolgte die Anweisung rasch, und einige Meter vor den anderen Kämpfern marschierte er Seite an Seite mit Rukh und Gotteskind dahin.

»Wie geht es Ihnen jetzt?« fragte Rukh. »Gut«, erwiderte Hal. Ganz tief in seinem Innern war ein Rest der

Erschöpfung verblieben, aber abgesehen davon fühlte er sich so gut wie immer, wenn nicht sogar ein wenig besser. Ein entlegener Teil seines Bewußtseins begriff, daß dies in erster Linie auf einen erneut erhöhten Adrenalinspiegel in seinem Blut zurückging. Trotzdem ließ sich sein gegenwärtiger Zustand nicht annähernd mit der Müdigkeit nach der nächtlichen Konzentrationsfixierung vergleichen.

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»Dann habe ich eine Aufgabe für Sie«, sagte Rukh. Hal nickte. »Nach der übereinstimmenden Schätzung von James

und mir«, erklärte die Befehlshaberin, »haben wir gerade die Distriktgrenze passiert. Unsere Verfolger werden den Weg also mindestens bis hierher fortsetzen. Es würde uns bei der Beurteilung der Lage sehr helfen, wenn wir wüßten, in welcher Verfassung sich die Milizionäre befinden, welche Einstellung sie gegenüber ihren Offizieren haben und was sie überhaupt von dem Befehl halten, uns zu stellen. Diese Informationen können nur Sie uns beschaffen; Ihnen wäre es vielleicht möglich, unentdeckt nahe genug an den Gegner heranzukommen.«

»Das müßte ich eigentlich schaffen«, bestätigte Hal. »Es wäre leichter, wenn sie lagerten. Doch andererseits verschafft mir der Marsch der Milizionäre auch einige Vorteile.«

Gerade noch rechtzeitig verschluckte er die nächsten Worte, die in Gedanken von ihm bereits vorformuliert worden waren. Die allgemeine Amateurhaftigkeit der Miliz, die er hatte ansprechen wollen, betraf nämlich ebenso die Kommandos. Es war eine für ihn unübersehbare Tatsache, daß nach den Maßstäben Malachis – die sich Hal zu eigen gemacht hatte – die Kämpfer sowohl der einen als auch der anderen Seite sich eher wie Halbwüchsige auf einer Bergwanderung verhielten und nicht wie Angehörige echter militärischer Einheiten.

»Gut«, sagte Rukh knapp. »Wenn Sie weitere Leute brauchen, so wählen Sie sie nach Belieben aus. Ich

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würde allerdings vorschlagen, Sie nehmen nicht mehr als vier oder fünf, um schnell genug vorankommen zu können.«

»Zwei«, sagte Hal. »Als Sicherheit für den Fall, daß ich nicht zurückkehre. Einen als Nachrichtenübermittler und den anderen als Ersatz, falls dem ersten etwas zustoßen sollte. Wenn es möglich ist, möchte ich Jason und Joralmon als meine Begleiter wählen.«

Für ein oder zwei Sekunden bildeten sich über den Augen Rukhs zwei tiefe Furchen in der glatten Haut der Stirn.

»Die Betreffenden sollten eigentlich Ihrer Gruppe angehören«, erwiderte sie. »Aber da es sich um ein recht schwieriges und gefährliches Unternehmen handelt … Gut. Sagen Sie den jeweiligen Gruppenführern, ich hätte meine Einwilligung gegeben.«

Hal nickte. »Bleiben Sie hier, während wir den Weg fortsetzen und

die Miliz weiterhin beobachten«, sagte Rukh. »Auf diese Weise können Sie sich ein wenig ausruhen. Und wenn sich die Verfolger diesem Ort nähern, so setzen Sie Ihre speziellen Fähigkeiten ein. Oder warten Sie, bis sich Ihnen eine entsprechende Möglichkeit bietet.«

Hal nickte erneut. Zusammen mit Jason und Joralmon ging er etwa

dreihundert Meter von der geschätzten Marschroute der Miliz entfernt auf Beobachtungsposten, und sie wechselten sich dabei ab, in einen Baumwipfel emporzuklettern und die Annäherung des Gegners auszukundschaften. Währenddessen entfernte sich das

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Kommando rasch von ihnen. Die Soldaten waren nun nur noch wenige Kilometer hinter ihnen, und die Distanz verringerte sich weiter.

Es fiel Hal und seinen beiden Begleitern nicht schwer, die Milizionäre bereits von weitem zu hören, denn sie gaben sich keine Mühe, besonders leise zu sein. Hal hockte in dem Wipfel eines besonders hohen Baumes, von dem aus er einen guten Blick auf das umgebende Terrain hatte, und er dachte an eine bestimmte Vermutung, die er überprüfen wollte. Er nahm schon seit längerer Zeit an, daß die Miliz in der Hauptsache aus Garnisonssoldaten bestand, die in erster Linie daran gewöhnt waren, über das Pflaster eines Exerzierplatzes zu marschieren und nicht etwa über weichen Waldboden – es sei denn, es handelte sich um Spezialeinheiten, die extra für diese Art von Verfolgung ausgebildet worden waren.

Als er die näher kommenden Milizionäre nach und nach besser erkennen konnte, sah er diese Vermutung bestätigt. Die Soldaten, die er nun beobachtete, schwitzten stark, fühlten sich offenbar alles andere als wohl in ihrer Haut und erweckten ganz den Eindruck von Männern, die nicht daran gewöhnt waren, zu Fuß durch die Wildnis zu wandern. Größe und Art der Rucksäcke ließen darauf schließen, daß sie geringe Vorräte aufnehmen konnten und nicht für einen längeren Einsatz im Gelände geeignet waren. Die einfachen Soldaten hatten ganz offensichtlich den Befehl erhalten, keinen Laut von sich zu geben, aber die immer wieder ertönenden scharfen Befehle und die lauten Stimme der

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Offiziere, die sich ungeniert unterhielten, machten diese Anordnung zu einem Hohn.

Die Kolonne kam heran und hielt dann an, gut zweihundert Meter von ihrem Beobachtungsposten entfernt. Es schien sich um eine der regulären, stündlichen Pausen zu handeln. Die Soldaten ließen sich an Ort und Stelle zu Boden sinken, schnallten sich die Rucksäcke ab und sprachen leise miteinander; offenbar fand der Schweigebefehl während der Rastzeit keine Anwendung. Hal kletterte lautlos von dem Baum herunter.

»Ihr beide bleibt hier«, wandte er sich an Jason und Joralmon. »Wenn die Soldaten wieder aufbrechen, folgt ihr ihnen auf dieser Seite und haltet dabei die jetzige Sicherheitsentfernung ein. Wenn ich in einer halben Stunde nicht zurück bin oder ihr feststellt, daß die Milizionäre mich geschnappt haben, so kehrt sofort zu Rukh zurück und berichtet ihr das, was wir bisher in Erfahrung gebracht haben. Wenn ich nur aufgehalten worden bin, schließe ich unterwegs zu euch auf. Aber wenn mich die Soldaten entdecken, werden sie wahrscheinlich auch noch nach anderen Kundschaftern des Kommandos Ausschau halten, und in einem solchen Fall hättet ihr keine Möglichkeit mehr, euch ihnen zu nähern. Verstanden?«

»Ja, Howard«, sagte Jason, und Joralmon nickte. Hal schlich den Milizionären entgegen. Als er die

Stelle erreichte, an der die Truppe Rast machte, fiel es ihm nicht weiter schwer, sich so dicht an die Soldaten heranzuschieben, daß er ihre vergleichsweise leise

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geführten Gespräche mithören konnte. Offenbar war die Kolonne ohne Flankenwächter unterwegs, und auch nach vorne hin schien sie sich nicht abgesichert zu haben. Darüber hinaus hatten die Offiziere während der Ruhepause keine Posten Aufstellung beziehen lassen. Hal hielt das für einen geradezu verantwortungslosen Leichtsinn, und ein derartiges Verhalten ließ sich nur damit erklären, daß die Milizionäre einen Angriff ausgerechnet des Kommandos, das sie verfolgten, für völlig undenkbar hielten – ein Umstand, der auch den Kommandos selbst nicht gerade zur Ehre gereichte.

Er kroch an der Peripherie der Truppe entlang, nur einige wenige Meter von den Soldaten entfernt. Er hielt sich im Unterholz verborgen. Da er inzwischen sicher sein konnte, alle Gespräche belauschen zu können, die ihm wichtig erschienen, hockte sich Hal hinter einem Gebüsch nieder, vor dem knapp fünf Meter weiter eine Art Offiziersbesprechung stattfand.

Er erblickte fünf Männer, die die ein wenig ausgeschmückteren Uniformen der höheren Ränge trugen, doch den größten Teil der Unterhaltung schienen nur zwei von ihnen zu bestreiten. Nach den Abzeichen zu urteilen, standen beide im Rang eines Milizcaptains, und der eine von ihnen erschien Hal vertraut: Tatsächlich handelte es sich bei ihm um den Offizier, den er zum erstenmal im Gefängnis von Zuflucht gesehen hatte und dem er dann noch einmal begegnet war, als Befehlshaber des Hinterhalts im Paß. Nach den Informationen des Fahrers hieß dieser Mann Barbage.

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»… Und ich sage es noch einmal«, wandte sich Barbage gerade an den anderen Captain. Ersterer Offizier stand, während die anderen Männer auf einem umgestürzten Baumstamm Platz genommen hatten. »Mein Befehl stammt von einer weitaus höheren Autorität, als Ihr sie darstellt, vom Großen Lehrer höchstpersönlich. Und wenn ich Euch sage, wir marschieren weiter, dann marschieren wir weiter!«

Der andere Captain sah zu Barbage auf, und in seinen Wangen mahlten die Muskeln. Er mochte rund fünf Jahre jünger und damit gut dreißig Jahre alt sein. Doch aufgrund seiner Stiernackigkeit und des breiten kantigen Gesichts hätte man ihn für älter halten können.

»Ich habe Ihre Befehle gesehen«, erwiderte er. Seine Stimme klang nicht heiser, zeichnete sich aber durch jene Art von Rauheit aus, wie sie für Exerzierplätze typisch war. »Sie geben uns nicht die Anweisung, die Grenze des Distrikts zu überqueren.«

»Ach, Ihr armer Narr!« erwiderte Barbage verächtlich. »Was spielt es für mich für eine Rolle, wie Ihr die Befehle interpretiert? Ich kenne die Absicht derjenigen, die mich beauftragten. Und ich weise Euch an, die Verfolgung nach meinen Anordnungen fortzusetzen!«

Der zweite Captain erblaßte und kam halb in die Höhe. »Sie können meinetwegen Dutzende von Befehlen

haben!« sagte er, und seine Stimme klang nun noch ein wenig rauher und belegter. »Aber Sie stehen im gleichen Rang wie ich und können mir deshalb nicht sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Ich bin nicht bereit, weitere Beleidigungen einfach hinzunehmen. Entweder

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Sie überlegen sich genau, was Sie sagen – oder Sie nehmen eine Waffe zur Hand. Für welche dieser beiden Möglichkeiten Sie sich entscheiden, ist mir egal.«

Die dünne Oberlippe Barbages zuckte leicht. »Eine Waffe! Welcher falsche Stolz veranlaßt Euch

dazu zu glauben, Ihr seid es überhaupt wert, beleidigt zu werden? Im Gegensatz zu Euch habe ich keine Waffe. Nur die Werkzeuge, die Gott mir für mein Werk gab. Ihr wollt also mit einer Waffe gegen mich antreten? Nun, so benutzt Sie, wenn es Euch nicht gefällt, wie ich Euch nenne!«

Der andere Captain errötete. »Sie sind unbewaffnet«, erwiderte er knapp. Und tatsächlich sah Hal, daß Barbage, im Gegensatz zu

den anderen Offizieren, nichts weiter als seine Uniform trug.

»Oh, das soll kein Hindernis sein«, erwiderte Barbage mit beißendem Spott. »Für die wahren Diener des Herrn stehen immer Werkzeuge bereit.«

Während der andere Captain ihn noch groß anstarrte, trat Barbage mit einem langen Schritt auf den jüngsten der auf dem Baumstamm sitzenden Offiziere zu, griff nach der Handfeuerwaffe des Betreffenden, öffnete die Sicherheitsschlaufe des Holsters und umfaßte den Kolben der Energiepistole. Innerhalb eines Sekundenbruchteils konnte er die Waffe ziehen, damit auf den zweiten Captain zielen und feuern, während der andere erst noch sein eigenes Holster öffnen mußte und dadurch wertvolle Zeit verloren hätte.

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Der auf dem anderen Ende des Stammes sitzende Captain wurde plötzlich kalkweiß im Gesicht und riß die Augen auf.

»Ich meinte …«, brachte er unsicher hervor. »So nicht. Ein Duell mit Sekundanten …«

»Ach«, erwiderte Barbage, »von solchen Spielereien halte ich nichts. Wir werden so entscheiden, ob wir von hier aus den Weg fortsetzen oder umkehren, und da Ihr nicht dazu bereit seid, Euch meinen Befehlen zu beugen, werde ich Euch töten – es sei denn, Ihr erschießt mich, um anschließend Eure Entscheidungen durchzusetzen. Das war doch der Sinn des von Euch vorgeschlagenen Duells, nicht wahr?«

Barbage hielt kurz inne, aber der andere Mann gab keine Antwort.

»Na gut«, sagte Barbage daraufhin. Er zog die Energiepistole aus dem Holster des jüngeren Offiziers und richtete sie auf den Uniformierten, der den gleichen Rang wie er selbst einnahm.

»Im Namen des Herrn …«, platzte es heiser aus dem zweiten Captain heraus. »Geben Sie alle Befehle, die Sie wollen. Ja, wir setzen die Verfolgung über die Distriktgrenze hinaus fort!«

»Es freut mich, daß Ihr zu dieser Entscheidung gelangt seid«, sagte Barbage. Er schob die Waffe ins Holster zurück und trat von dem jungen Mann, dem sie gehörte, fort. »Wir marschieren weiter, bis wir Kontakt mit der Einsatzgruppe aufnehmen können, die vom vor uns liegenden Distrikt ausgeschickt wird. Ich schließe mich dann der anderen Einheit an, und Ihr könnt zusammen

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mit Euren Offizieren und Soldaten in die Stadt zurückkehren und Euch dort verkriechen. Das dürfte bald der Fall sein. Wie lange dauert es noch, bis wir auf die Truppen des nächsten Distrikts stoßen?«

Der andere Captain starrte ihn einige Sekunden lang schweigend an. »Einige Stunden«, antwortete er dann.

»Stunden?« Barbage trat auf ihn zu, und der zweite Captain stand rasch auf, so als befürchte er einen Schlag. »Warum denn einige Stunden? Wann habt Ihr sie benachrichtigt?«

»Wir … nun, für gewöhnlich geben wir eine entsprechende Nachricht erst dann weiter, wenn wir sicher sind, daß die Kinder des Zorns tatsächlich die Grenze zu überschreiten beabsichtigen …«

»Ihr seid ein armseliger Tor!« zischte Barbage. »War es nicht von Anfang an klar, daß ihre Flucht sie in den nächsten Distrikt führen würde?«

»Äh, ja. Aber wir hätten sie vorher stellen können, und …«

Der andere Captain unterbrach sich und senkte den Kopf.

»Benachrichtigt die Miliz jetzt.« Barbages Blick war durchdringend.

»Natürlich. Wie Sie wollen. Chaims …« – rasch wandte er sich dem jungen Truppenführer zu, dessen Handfeuerwaffe sich Barbage zuvor ausgeliehen hatte –, »… senden Sie eine Nachricht an das Hauptquartier des Hlaber-Distrikts und erklären Sie die Situation. Berichten Sie, daß der mit einem Sonderbefehl beauftrage Captain Barbage eine Einsatzgruppe

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anfordert, die ihn in einer Stunde aufnehmen soll. Bitten Sie um eine Nachfrage beim HQ von Südliche Verheißung, damit seine Autorität bestätigt wird. Alles klar? Dann los!«

Der junge Offizier sprang auf und eilte davon. Hal wich lautlos in das Grün zurück, bis er sich in

sicherer Entfernung befand, und anschließend drehte er sich um und lief rasch in Richtung des Beobachtungspostens. Jason saß an den Baumstamm gelehnt, in dessen Wipfel Joralmon Ausschau hielt, und er stand auf, als Hal herankam.

»Ich habe alles in Erfahrung gebracht, was wichtig ist«, sagte Hal, »und Rukh muß so schnell wie möglich davon informiert werden. Ihr beiden folgt mir möglichst rasch. Unsere Vermutung hat sich bestätigt: Wir haben es mit zwei Verfolgungseinheiten zu tun, die unter dem Befehl Barbages stehen, des Captains, dessen Streitmacht uns im Paß angegriffen hat. Sie haben gerade den nächsten Distrikt benachrichtigt und Hilfe angefordert. Und Barbage wird mit seinen Leuten die Verfolgung über die Grenze hinaus fortsetzen und sich dann den anderen Truppen anschließen. Unterrichte auch Joralmon davon und folgt mir dann so schnell wie möglich.«

»In Ordnung«, erwiderte Jason. Hal drehte sich um und lief in die Richtung davon, in die das Kommando verschwunden war.

Diesmal war die Entfernung nicht so groß wie am Vortag. Deshalb verlangte Hal seinem Körper alles ab, was er zu leisten vermochte. Als er Rukh und die

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Kameraden erreichte, klebte ihm das schweißnasse Hemd auf der Haut.

»Was ist mit Jason und Joralmon?« fragte Rukh, als er vor ihr verharrte.

»Sie folgen mir. Ich bin ihnen vorausgeeilt, um Ihnen so rasch wie möglich mitzuteilen, was wir herausgefunden haben. Barbage – der Befehlshaber der Streitmacht im Paß – führt die Verfolger an. Er hat einen Sonderbefehl …«

Hal mußte sich unterbrechen, um Luft zu schnappen. Rukh wartete geduldig.

»Er zwingt die anderen Offiziere dazu, die Verfolgung über die Distriktgrenze hinaus fortzusetzen, bis sie auf eine bereits benachrichtigte Truppe treffen, die in einer Stunde hier sein soll. Deshalb haben wir nicht die Möglichkeit, auf die Art und Weise, die Sie mir schilderten, einen zusätzlichen Vorsprung zu gewinnen.«

Rukh nickte langsam und hörte ihm aufmerksam zu. Und Hal berichtete ihr in allen Einzelheiten von dem Gespräch, das er belauscht hatte.

Als er fertig war, holte Rukh einmal tief Luft und wandte sich an Gotteskind, der während der Erzählung Hals an sie herangetreten war.

»Hast du gehört, James? Die Milizionäre setzen die Verfolgung fort.«

»Ja«, sagte er. »Du kennst diese Vorberge bereits. Wie weit sind wir

vom nächsten Distrikt entfernt?«

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»Rund anderthalb Tage – sechsunddreißig Stunden, wenn wir ununterbrochen weitermarschieren«, antwortete Gotteskind. »Legen wir normale Pausen ein, dauert die Reise drei volle Tage. Aber deine Leute sind schon jetzt übermüdet, Rukh.«

»Wenn die Esel nicht wären, könnten wir uns aufteilen, in den Bergen verschwinden und die Verfolger so abhängen.« Rukhs Blick war nachdenklich auf den Boden gerichtet, als betrachte sie eine dort liegende Karte, die sich nur ihr offenbarte. »Aber wenn wir die Esel zurücklassen, verzichten wir auch auf die erbeuteten Düngemittel und das bereits fertiggestellte Schießpulver, das wir als Zünder verwenden wollen. Und damit sind die Anstrengungen eines Jahres umsonst, und der Reaktor, dessen Sprengung wir beabsichtigten, wird weiterhin arbeiten.«

Sie hob den Kopf und sah Gotteskind an. »Ganz zu schweigen von denen, die bis zum heutigen

Tage ihr Leben dafür ließen.« »Es ist der Wille des Herrn«, erwiderte der ältere

Mann. »Es sei denn, du willst hierbleiben und dich zum Kampf stellen.«

»Dieser Barbage scheint eine solche Möglichkeit berücksichtigt zu haben«, meinte Rukh. »Wir können es nicht mit den Soldaten von zwei kompletten Einheiten aufnehmen und hoffen, eine solche Streitmacht ohne große eigene Verluste aufzureiben. Vermutlich zeichnet sich die gerade benachrichtigte Miliztruppe dieses Distrikts ebenfalls durch eine solche zahlenmäßige Stärke aus.«

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Sie drehte sich um, ging einige Schritte weit fort und kehrte dann zu Hal und Gotteskind zurück.

»Na gut«, sagte sie. »Wir legen eine falsche Spur und versuchen, auf diese Weise Zeit zu gewinnen. James, wir müssen uns zumindest von zwölf der Esel trennen. Jeweils drei von ihnen sollen zusammengebunden werden, so daß sie eine ganz deutliche Spur hinterlassen. Gib einigen Leuten die Anweisung, sie anschließend nach hinten zu bringen. Glücklicherweise haben wir die Verwundeten bereits fort gebracht. Das Kommando muß sich jetzt aufteilen: Einzeln oder zu zweit sollen sich die Leute in den Wald davonmachen und dabei so wenige Spuren wie möglich zurücklassen. Howard …«

»Ja?« fragte Hal. »Da Jason und Joralmon noch nicht zurück sind,

müssen Sie sich um die Esel kümmern, bis alle anderen fort sind. Anschließend führen Sie die Tiere mindestens eine halbe Stunde lang in dieser Richtung weiter. Dann binden Sie sie so fest, daß die Miliz sie findet, und bringen sich selbst in Sicherheit. Stoßen Sie am neuen Treffpunkt zu uns, den wir jetzt vereinbaren werden.«

»Es ist unmöglich«, gab Hal zu bedenken, »mit den beladenen Eseln, mit denen Sie sich zuvor absetzen, keine Spuren zu hinterlassen.«

»Ich weiß.« Rukh seufzte schwer. »Wir können nur hoffen, Barbage treibt seine Leute so sehr an, daß sie nicht die Zeit haben festzustellen, ob unterwegs einzelne Kämpfer unser Kommando verlassen haben – und daß er angesichts der von den aneinandergebundenen Eseln

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verursachten überdeutlichen Spuren keinen Verdacht schöpft.«

11 Hal hatte Wachdienst. Er war in einen Regenmantel gehüllt und saß etwa zwanzig Meter von den glühenden Kohlen des Lagerfeuers des Kommandos entfernt in einer kühlen und wolkenlosen Nacht. Irgendwo in der Dunkelheit vernahm er ein gedämpftes Husten. Aber er drehte sich nicht um. Er wußte, wer es war: Gotteskind. Der ältere Mann hatte das eigentliche Lager verlassen – nicht in erster Linie, um sein Leiden vor den anderen zu verbergen, sondern um damit zumindest eine Zeitlang allein zu sein.

Innerhalb des Kokons aus Benommenheit, die von der sich weiter in ihm verdichtenden Erschöpfung hervorgerufen wurde, arbeitete der Verstand Hals langsam, aber wirkungsvoll. Er nutzte eine exotische Technik, die Walter ihn gelehrt hatte. Es war, als lese man eine gedruckte Seite mit Hilfe eines Vergrößerungsglases, das jeweils nur einen Buchstaben zeigte. Hal wußte, daß er irgendeine Entscheidung treffen mußte. Barbage war bisher nicht dazu in der Lage gewesen, sie einzuholen und zu stellen, doch er klebte nach wie vor an ihren Fersen – und irgendwann mußten die Kämpfer des Kommandos so erschöpft sein, daß sie eine leichte Beute für ihn darstellten.

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Durch Rukhs Trick mit den Eseln hatten sie tatsächlich einen Vorsprung gegenüber Barbage und der Miliz des zweiten Distrikts gewonnen, so daß es dem Kommando gelungen war, die nächste Grenze zu passieren und in den dritten Distrikt zu gelangen. Dort war ihnen entweder das Glück oder, unfreiwillig, ein sturer und bürokratischer Milizoffizier zu Hilfe gekommen, wodurch sie es geschafft hatten, den Vorsprung weiter auszubauen und die Grenze des vierten Distrikts zu passieren. Inzwischen befanden sie sich in einem anders beschaffenen Gelände, und das gereichte eher ihnen und nicht so sehr den Soldaten zum Vorteil.

In dieser Region dehnten sich die Vorberge in die Breite und wurden zu einem offenen Hügelland, dessen sandiger und steiniger Boden die schwarze und fruchtbare Krume des Farmlandes ersetzte. Das Kommando war nun nicht länger gezwungen, in dem schmalen Bereich zwischen dem Tiefland und dem Gebirge zu marschieren. Die Berge zeigten sich nur noch als blauer Schatten am Horizont, und das eigentliche Tiefland war noch weiter entfernt.

In dieser Gegend, in einer Landschaft der Büsche, Sträucher und kleiner Flüsse, lag auch ihr endgültiges Ziel, die Stadt Ahruma mit dem Reaktor, den sie zu sprengen beabsichtigten. Es gab auch einige Gehöfte, aber sie waren in der Regel recht klein und nur mit wenigen und schmalen Straßen miteinander verbunden. Der Miliz mußte es recht schwerfallen, in einer solchen Region die Verfolgung fortzusetzen. Und für das Kommando ergab sich das Problem des unmittelbaren Überlebens. Wie Rukh schon gesagt hatte: Ohne die

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Eselladungen, aus denen sich ein starker Sprengstoff herstellen ließ, wäre es für die Männer und Frauen sicher nicht schwer gewesen, den Soldaten zu entkommen. Aber so lange sie sich nicht von den Nitraten und dem Schießpulver trennen wollten – und sich deshalb notwendigerweise auch mit den Eseln belasten mußten –, waren sie nicht dazu in der Lage, die Verfolger abzuschütteln.

Aus diesem Grund wagten sie es nicht, sich wie geplant direkt nach Ahruma zu begeben, dort Kontakt mit lokalen Sympathisanten aufzunehmen und mit ihrer Hilfe den Angriff auf den Reaktor durchzuführen. Als Konsequenz blieb ihnen keine andere Wahl, als weiterhin durch das trockene Hügelland zu marschieren und die Stadt in großer Entfernung zu umgehen, so daß die Miliz keinen Verdacht in Hinsicht auf ihr eigentliches Angriffsziel schöpfte.

Sie hatten sich von allen Dingen getrennt, die sie nicht unbedingt brauchten, und das Kommando bestand nur noch aus den Menschen und Tieren, die zur Durchführung ihrer Mission nötig waren. Doch die Tatsache, daß sie Tag und Nacht gehetzt wurden, ließ sich nicht einfach verdrängen und resultierte in immer weiter zunehmender Zermürbung. Wenn es so weiterging, dachte Hal, mußte es Barbage letztendlich gelingen, sie zu stellen und zum Kampf zu zwingen, und das würde ihm einen leichten Sieg einbringen.

Die militärische Lösung dieses Problems, so überlegte Hal, bestand darin, das Nachtlager der Miliz mit einer kleinen Gruppe des Kommandos anzugreifen. Die

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Betreffenden würden dabei mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ums Leben kommen, andererseits aber die gegnerische Truppe so schwächen, daß sie die Verfolgung nicht mehr fortsetzen konnte und auf Verstärkung warten mußte – was mindestens vierundzwanzig Stunden dauerte. In dieser Zeit konnten die anderen Männer und Frauen des Kommandos mit einem Gewaltmarsch den Stadtrand Ahrumas erreichen und sich mit der so wichtigen Last der Esel bei ihren Sympathisanten verstecken.

Aber mit einer solchen militärischen Lösung kalkulierte man kaltblütig einen gewissen Verlust an Menschenleben ein, der der Hauptstreitmacht einen taktischen Vorteil verlieh. Im Fall des Kommandos jedoch war das unmöglich, denn die einzelnen Kämpfer standen sich so nahe wie die Angehörigen einer Familie. Und der Befehlshaber einer derartigen Gruppe konnte niemals einen entsprechenden Befehl geben.

Im Anschluß an diese Erkenntnis konzentrierte sich Hal bei seinen Überlegungen auf die eigene Person. Sowohl Barbage als auch Rukh waren in einer Situation gefangen, die ihnen kaum die Möglichkeit ließ, sich frei zu entscheiden. Auf Hal allerdings traf das nicht zu. Und er sollte handeln, wenn er eine Chance dazu sah. Bis jetzt aber konnte er in den mentalen Nebelschwaden seiner Müdigkeit nicht das helle Licht einer Idee ausmachen.

Das gedämpfte Husten verklang. Und einige Augenblicke später hörte Hal, wie Gotteskind in sein Zelt zurückkehrte. Er stand auf. Als Unteroffizier brauchte er normalerweise keine einfachen Pflichten wie

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etwa Wach- oder Küchendienst zu übernehmen und hatte somit Zeit genug, sich um. die wichtigeren Verantwortlichkeiten zu kümmern. Aber wie die meisten anderen Unteroffiziere ihrer kleiner gewordenen Streitmacht sprang er bereitwillig für den einen oder anderen Kameraden ein. Derzeit wachte er an Stelle eines Mannes, der seiner Gruppe von der früheren Einheit Morellys zugewiesen worden und viel zu erschöpft war, um noch länger die Augen aufhalten zu können. Inzwischen jedoch hatte der Betreffende zwei zusätzliche Stunden schlafen können, und Hal hielt es an der Zeit, ihn zu wecken und an seine eigentliche Aufgabe zu erinnern. Er kehrte ins Lager zurück.

Dort angekommen, öffnete er die Eingangsplane eines bestimmten Zeltes und rüttelte einen schlafenden Mann an den Schultern.

»Moh«, sagte er so leise, um die anderen drei im Zelt ruhenden Kämpfer nicht zu wecken. »Gehen Sie jetzt wieder auf Wache.«

Der Mann brummte etwas, bewegte sich, schlug die Augen auf und kroch ungelenk aus dem Schlafsack heraus. Hal blieb bei ihm, bis er sich ausgerüstet und Posten bezogen hatte, und anschließend kontrollierte er die beiden anderen Wächter.

Sie berichteten keine besonderen Vorkommnisse. Das Lager der Miliz war nur rund zwölf Kilometer entfernt. Ein nächtlicher Angriff der in offenem Gelände unerfahrenen Soldaten konnte zwar nicht ganz ausgeschlossen werden, war jedoch recht unwahrscheinlich. Trotzdem hielt Hal es für besser,

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keine Risiken einzugehen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, kehrte Hal ins Lager zurück und trat in das Einzelzelt Gotteskinds.

Neben dem bereits wieder eingeschlafenen stellvertretenden Befehlshaber des Kommandos ging er in die Hocke. Einige Sekunden lang beobachtete er das Gesicht Gotteskinds, das durch die Anstrengungen der vergangenen Wochen um viele Jahre gealtert war, und die Entspannung des Schlafes verwandelte es in eine zerfurchte Landschaft aus Dutzenden von tiefen Falten.

»Gotteskind …«, sagte Hal leise. Er hatte dieses eine Wort nur gehaucht, aber der ältere

Mann erwachte sofort und sah zu ihm auf. Hal bemerkte, daß sich im Inneren des Schlafsackes eine knochige Hand um den Kolben einer Energiepistole geschlossen hatte, deren teilweise abgesägter Lauf sich auf ihn richtete.

»Howard?« sagte Gotteskind ebenso leise wie Hal, obgleich sich niemand in der Nähe befand, der sich hätte gestört fühlen können.

»Meine Wache ist fast zu Ende«, sagte Hal. »Ich würde dem Lager der Miliz gern einen kurzen Besuch abstatten, um festzustellen, in welcher Verfassung sich die Soldaten befinden. Mit etwas Glück finde ich vielleicht eine Karte, auf der die Orte markiert sind, wo sie Verstärkung und Nachschub erhalten.«

Gotteskind blieb einige Sekunden lang still liegen. »Gute Idee«, sagte er. »Wenn Eure Wache vorüber ist,

könnt Ihr Euch sofort auf den Weg machen.«

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»Da wäre noch etwas«, fügte Hal hinzu. »Ich würde gern sofort aufbrechen, um noch den Rest der Nacht auszunutzen. Falt hätte bestimmt nichts dagegen, seine Wache eine Stunde früher anzutreten, und auf diese Weise gewänne ich zusätzliche Zeit.«

Erneut gab Gotteskind zunächst keine Antwort. »In Ordnung«, erwiderte er. »Falls Falt einverstanden

ist. Wenn nicht, kommen Sie zu mir zurück.« »Das mache ich«, sagte Hal. Er stand auf, verließ das Zelt und schloß hinter sich die

Siegel der Einstiegsplane. Als er fortging, hörte er noch, wie Gotteskind erneut hustete.

Wie erwartet hatte Falt keine Einwände. Hal rüstete sich mit seinem Konusgewehr und einer Tasche aus, in der er ein Messer und Munition verstaute, und anschließend schwärzte er sich Hände und Gesicht und brach auf. Eine Stunde und achtzehn Minuten später duckte er sich in der Dunkelheit hinter einige junge Variformweiden, die am Ufer eines Flusses wuchsen. Fast auf Armeslänge war er an zwei Milizionäre herangekrochen, die sich am einen Ende des Lagers an einem Feuer wärmten und die offenbar Wachdienst hatten.

»… bald«, sagte einer der beiden, als Hal herankam. Nach den Maßstäben von Harmonie waren sie mittelgroß, und sie hatten schwarze Haare. Aufgrund der glatten Gesichter schloß Hal, daß sie noch keine zwanzig Jahre alt waren. »Und ich bin froh, wieder nach Hause zu kommen. Es hat mir ganz und gar nicht gefallen, die

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ganze Zeit über durch Wälder und dieses elende Hügelland zu wandern.«

»Ach, tatsächlich?« Der Spott in der Stimme seines Kameraden war nicht zu überhören. »Mit dieser Einstellung wirst du nie zu einem wahren Diener Gottes werden!«

»Du erst recht nicht. Denk daran: Ich bin immerhin ein Auserwählter. Und du nicht!«

»Wer behauptet das? Und wer sagt, du seist einer?« »Meine Gemeinde …«

»Haltet Ihr Wache?« Barbage stand plötzlich auf der anderen Seite des Feuers, die Schultern ein wenig nach vorn geneigt, die Augen im flackernden Schein der Flammen zwei Ovale aus Obsidian. »Oder vertreibt ihr euch die Zeit mit Spielen, weil ihr noch halbe Kinder seid?«

Die beiden Soldaten starrten ihn sprachlos an. »Antwortet mir!« »Mit Spielen«, gestanden die jungen Männer kleinlaut

ein. »Und warum solltet ihr euch nicht die Zeit mit Spielen

vertreiben, während ihr Wachdienst habt?« Hal wartete die Antwort der beiden Soldaten auf den

Hohn Barbages nicht ab. Er schlich zurück, stand auf und eilte an der Peripherie des Lagers entlang, bis er sich auf einer Höhe mit den Zelten der Offiziere befand, die unweit vom Feuer errichtet worden waren und die man aufgrund der Größe und der besseren Ausstattung unschwer identifizieren konnte.

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Es waren insgesamt sechs. Hal schob sich auf die Rückwand des ersten davon zu. Er nahm das Messer zur Hand, schlitzte die Plane lautlos auf und sah ins Innere. Es dauerte ein oder zwei Sekunden, bis sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, und dann erkannte er einen zusammenklappbaren Stuhl, einen Tisch und eine Matratze – leer. Daraufhin sah Hal seine Vermutung bestätigt, daß Barbage, als Befehlshaber der Miliz-Kolonne, das erste Offizierszelt belegt hatte.

Leise kroch Hal um die Unterkunft herum und blickte in Richtung Feuer. Barbage stand noch immer vor den Flammen und wandte seinem Zelt den Rücken zu. Und die beiden jungen Männer, die er verspottete und zurechtwies, mußten von dem hellen Schein so geblendet sein, daß sie selbst dann die Zeltreihe nicht hätten beobachten können, klebten ihre erschrockenen Blicke nicht an der Gestalt des Captains vor ihnen fest.

Rasch und lautlos begab sich Hal daraufhin ins Innere des Zeltes.

Es blieb ihm nicht die Zeit, es sorgfältig zu durchsuchen. Auf dem Tisch stand ein Kartenbetrachter mit einer Darstellungsscheibe, aber es wäre zu auffällig gewesen, die an sich zu nehmen. Hal sah sich um und fand kurz darauf das, was er gesucht hatte: eine Kartenmappe vor dem Fußende des Bettes. Er öffnete sie, trat rasch an den Tisch heran und holte die Scheiben hervor. Nacheinander schob er sie in den Betrachter und sah sie sich an.

Er identifizierte eine, die das Gelände zeigte, das sie in rund drei Tagen erreichen würden, und die nahm er an

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sich, setzte die ursprüngliche Scheibe in das Gerät ein und schloß die Mappe. Draußen verklang die Stimme Barbages. Hal eilte an die Eingangsplane des Zeltes, umfaßte den Griff des Messers und spähte hinaus.

Aber Barbage stand noch immer vor dem Feuer und musterte die beiden jungen Soldaten. Unmittelbar darauf erhob er seine Stimme erneut, und Hal verließ das Zelt und verschwand im Unterholz. Nach einer Minute befand er sich außerhalb der Hörreichweite Barbages und der beiden Milizionäre, und er machte sich sofort auf den Rückweg.

Als er das Lager des Kommandos erreichte, blieb ihm noch mehr als eine Stunde bis zum Sonnenaufgang. Er blickte in das Zelt Gotteskinds und stellte fest, daß der ältere Mann tief und fest schlief. Hal kehrte in sein eigenes Zelt zurück und holte dort den Betrachter hervor, der ihm persönlich zur Verfügung stand. Im Schneidersitz ließ er sich nieder, schob die gestohlene Kartenscheibe in das Gerät und verursachte so wenig Geräusche wie möglich, um Jason nicht zu wecken.

Das Licht der kleinen Lampe im Inneren des Gerätes verwandelte die Darstellungen der Kartenscheibe in ein helles Relief. Es zeigte ihm einige Anhöhen und Niederungen, ein Terrain, das wie die Region, in der sie sich derzeit aufhielten, mit Büschen und Sträuchern bewachsen war. Unten auf der Scheibe machte Hal einen Weg aus, der fast horizontal über die Karte verlief und dann auf eine Straße in der Nähe der unteren rechten Ecke stieß. Neben dem Weg entdeckte er drei Sternchen mit Codebezeichnungen.

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Die chiffrierten Erläuterungen blieben unverständlich, aber Hal hatte gewisse Vermutungen. Bestimmt, so überlegte er, gaben sie Einzelheiten über die Anzahl der Transporter und Soldaten an, die Nachschub an die mit den Sternchen markierten Orte beförderten. Diese ständige Versorgung mit Ausrüstungsgütern versetzte die Milizionäre in die Lage, nur mit leichtem Gepäck zu marschieren. Und durch diesen Vorteil kam der Gegner ebenso schnell voran wie die Kämpfer des Kommandos – obgleich er weit weniger an einen längeren Aufenthalt im Gelände und die damit einhergehenden Belastungen gewöhnt war. Darüberhinaus war es dem Feind dadurch möglich, sich rasch von Kranken oder Verletzten zu trennen, von Personen also, die die Verfolgung auf irgendeine Art und Weise verlangsamen mochten.

Hal prägte sich die Einzelheiten der Karte fest ins Gedächtnis ein, zog sie aus dem Betrachter und schob sie sich in die Tasche. Anschließend machte er sich auf den Weg zu Falt, um ihn seinerseits eine Stunde früher abzulösen.

»Sie sollten sich besser hinlegen und ein wenig ausruhen!« erwiderte Falt. »Es ist nicht unbedingt nötig, daß Sie dem schlechten Beispiel Gotteskinds und Rukhs folgen und versuchen, jeweils nur mit einer halben Stunde Schlaf auszukommen. Mit mir ist alles in Ordnung.«

»Na gut«, erwiderte Hal. Er wurde sich plötzlich in vollem Ausmaß seiner Erschöpfung bewußt. »Vielen Dank.«

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»Danken Sie mir, indem Sie neue Kraft schöpfen«, sagte Falt.

»Wecken Sie mich bitte, sobald Rukh auf den Beinen ist.«

Falt seufzte. »Meinetwegen.« Hal kehrte in sein Zelt zurück. Er zog sich nur Stiefel

und Jacke aus, kroch in den Schlafsack und starrte in die Dunkelheit, den einen Arm gehoben und auf die Stirn gestützt. Er stellte fest, daß sein Gesicht regelrecht glühte, und Verärgerung entstand in ihm. Abgesehen von Gotteskind zeigten angesichts der fortgesetzten starken Belastung auch einige andere Mitglieder des Kommandos Anzeichen nicht nur von Auszehrung, sondern auch leichten Infektionen. Doch Hal war bisher davon ausgegangen, daß ihn solche Dinge nicht betrafen. Er verdrängte den Zorn auf sich selbst, als er begriff, wie nutzlos ein derartiges Empfinden war. Es stimmte schon: Inzwischen war er bereits seit einigen Tagen praktisch ununterbrochen auf den Beinen und hatte sich nur dann und wann für kurze Zeit ausruhen können …

Plötzlich schreckte er hoch und machte sich klar, daß er geschlafen hatte und Falt vor ihm stand. Hal zwinkerte mehrmals und versuchte, durch die Nebel der Müdigkeit zu blicken.

»Habe ich schon wieder Anstalten gemacht, über denjenigen herzufallen, der mich weckt?« fragte er.

»Nicht direkt«, erwiderte Falt. »Aber wenn Sie aufwachen, könnte man meinen, Sie wollten zuerst zuschlagen und dann die Augen öffnen. Sie finden Rukh im Küchenbereich.«

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»In Ordnung«, sagte Hal, kroch aus dem Schlafsack und griff nach der Tasche, die er zuvor zur Seite gelegt hatte. Er zögerte jedoch, als er sich an etwas erinnerte, und er drehte sich um und sah Falt an. »Im Küchenbereich? Wie lange ist sie denn schon auf? Ich habe Sie doch darum gebeten …«

Falt schnaufte nur, wandte sich ab und verließ das Zelt. Hal stieg in die Stiefel und machte sich rasch auf den

Weg. Wie Falt gesagt hatte, hielt sich Rukh dort auf, wo am Abend zuvor das Küchenzelt errichtet worden war. Dort stand die Befehlshaberin und nahm eine Mahlzeit zu sich. Sie sah auf, als Hal herankam.

»Ich habe dem Lager der Miliz heute morgen einen kurzen Besuch abgestattet …«, begann er.

»Ich weiß«, sagte Rukh, leerte den Teller und gab ihn zusammen mit der Gabel an Tallah zurück. »James sagte mir, er gab Ihnen die Erlaubnis dazu. Ich möchte Sie jedoch darum bitten, in Zukunft genauer zu erläutern, was Sie zu solchen nächtlichen Unternehmen veranlaßt, und ich habe auch James darauf hingewiesen.«

»Ich war nicht ganz sicher, ob ich eine wichtige Entdeckung machen könnte«, erwiderte Hal. »Wie sich jedoch herausstellte, hatte ich Glück …«

Er berichtete ihr von Barbage und den beiden jungen Milizwächtern.

»Ich nahm die Chance wahr und schlich mich in sein Zelt«, fuhr er fort. »Und meine Vermutung bestätigte sich. Barbage ist nicht wie die anderen. Er nimmt seine militärischen Aufgaben sehr ernst; das bewies mir die

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Art seines Quartiers. Aber wie dem auch sei: Ich stahl ihm eine der Karten aus der Mappe.«

Er reichte ihr den Betrachter, in dem sich bereits die entsprechende Scheibe befand.

Rukh hielt sich das Gerät vor die Augen und betätigte die Taste, die die Lampe einschaltete. Einige Sekunden lang beobachtete sie Schweigend die Darstellungen. Dann ließ sie den Betrachter wieder sinken, nahm die Scheibe an sich und reichte Hal das Gerät zurück.

»Es scheint sich um das vor uns liegende Gelände zu handeln«, sagte sie.

Hal nickte. »Die Karten in der Mappe waren entsprechend geordnet, und ich nahm an, die Scheibe, die ich erbeutete, zeigt das Terrain, das wir in drei Tagen erreichen werden.«

»Und was nützt uns das Ihrer Meinung nach?« »Nun«, meinte Hal, »zunächst einmal können wir

dadurch unsere eigenen Karten prüfen. Nichts gegen Ihre hiesigen Sympathisanten, von denen Sie Ihre Unterlagen bekommen – aber unsere Karten sind doch weitaus ungenauer als die der Miliz, die mit Hilfe von Satellitenfotos angefertigt werden.«

»Zugegeben«, gestand Rukh ein. »Aber wir hätten Sie verlieren können. Und wir brauchen Sie sehr, Howard. Ich weiß nicht, ob die Erbeutung dieser Karte das Risiko wert war, das Sie eingingen.«

»Ich habe überlegt«, erwiderte er langsam, »ob wir nicht eine der Nachschubkolonnen überfallen könnten.«

Der Blick ihrer dunklen Augen musterte ihn eingehend.

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»Es wäre durchaus möglich, daß bei einer solchen Aktion sechs bis zehn unserer Kämpfer ums Leben kämen. Glauben Sie etwa, die Transporter seien nicht geschützt?«

»Ich wollte nicht vorschlagen, den Konvoi an einem der markierten Orte anzugreifen«, erwiderte Hal. »Aber ich halte es für möglich, einen einzelnen Wagen zu überfallen, entlang der Route. Immerhin wissen wir jetzt, wohin sie fahren.«

Rukh schwieg. »Es dürfte uns nicht sehr schwerfallen festzustellen,

welchen Weg sie nehmen. Und die Leute, die Ihrem Kommando schon recht lange angehören, haben mir gesagt, die Transporter seien in der Regel einzeln unterwegs.«

»Das stimmt«, bestätigte Rukh nachdenklich. »Normalerweise schätzen sie die Gefahr eines Angriffes durch ein verfolgtes Kommando als sehr gering ein. Und außerdem ist es auch einfacher für sie, die Transporter jeweils dann loszuschicken, wenn ein Wagen beladen ist, als extra einen großen Konvoi zusammenzustellen.«

»Wenn Sie möchten«, sagte Hal rasch und nutzte Rukhs erwachtes Interesse aus, »entwickle ich einen detaillierten Plan, auf dessen Grundlage Sie zusammen mit James entscheiden können. Praktisch alle Güter, die ein solcher Wagen transportiert, könnten wir gut brauchen.«

Rukh sah ihn ernst an. »Wie oft haben Sie sich in letzter Zeit ausruhen können?«

»Ebensooft wie auch alle anderen.«

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»Wie alle anderen? Sie meinen, so oft wie James?« »Oder auch Sie«, sagte Hal. »Ich bin die Befehlshaberin dieses Kommandos, und

James ist mein Stellvertreter«, entgegnete Rukh. »Ich entbinde Sie hiermit für die kommende Nacht von allen Pflichten. Sie werden schlafen. Und morgen können Sie mir einen Plan für den Überfall auf einen gegnerischen Nachschubtransporter vorlegen.«

»Morgen sind wir nur noch eine Tagesreise von dem entsprechenden Ort entfernt«, gab Hal zu bedenken.

»Die drei markierten Versorgungsstellen liegen jeweils mindestens einen Tagesmarsch auseinander«, sagte Rukh. »Sie haben also genug Zeit zur Entwicklung des Planes.«

Dagegen gab es nichts einzuwenden. Hal nickte und wollte sich gerade abwenden, als er plötzlich angesichts einer Erkenntnis erzitterte, an der sein Unterbewußtsein die ganz Zeit über gearbeitet hatte.

»Rukh!« Er wandte sich ihr wieder zu, und sie blickte ihn fragend an. »Ich wußte, daß irgend etwas nicht stimmt! Wir müssen sofort die Marschrichtung ändern!«

»Warum denn?« Sie runzelte die Stirn, als sie seine Anspannung bemerkte.

»Die Kartenscheibe. Seit ich sie zum erstenmal sah, bereiteten mir die Darstellungen ein unbestimmtes Unbehagen. Und Sie haben den Grund dafür gerade benannt! Sie zeigt die Versorgungsstellen für die nächsten drei bis sechs Tage. Aber was veranlaßt Barbage dazu, Nachschublager für sechs Tage entlang der Route einzurichten, die wir gegenwärtig verfolgen?

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Er weiß doch ganz genau, daß wir nie länger als zwei Tage in eine Richtung marschieren. In sechs Tagen befänden wir uns längst nicht einmal mehr in der Nähe der gekennzeichneten Orte, und seine Truppen folgen uns dichtauf und wären somit von der Versorgung abgeschnitten!«

Und auch Rukh begann zu verstehen. Abrupt drehte sie sich um.

»Tallah!« rief sie. »Suchen Sie James. Sagen Sie ihm, wir müssen sofort aufbrechen und haben keine Zeit, Vorbereitungen zu treffen. Die Miliz hat Einheiten in das vor uns liegende Gelände geschickt, und es besteht die Gefahr, daß wir zwischen zwei Fronten geraten.«

12 Nur einunddreißig Männer und Frauen eines Kommandos, dem beim Verlassen des Mohler-Beni-Gehöfts noch mehr als hundert Kämpfer angehört hatten, zogen mit Eseln – nur zwei von ihnen trugen keine Last – durch den feuchten Wald. Trotz des auf dem Nordkontinent Harmonies herrschenden späten Frühlings war es in diesem Gelände, das mehr als tausend Meter höher lag als das Farmland, für die Jahreszeit ungewöhnlich kalt geworden. Seit drei Tagen nun schon ergoß sich ein eisiger Regen auf sie, der all das völlig durchnäßte, was nicht von wasserdichter Kleidung geschützt war, und Menschen und Tiere froren.

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Sie hatten all das zurückgelassen, was sie nicht unbedingt brauchten. Sie führten nur noch zwölf Zelte bei sich, in denen nun nicht mehr zwei, sondern jeweils drei bis vier Kämpfer schliefen, und einige der Esel trugen Nahrungsmittel von der Art, die unterwegs gegessen werden konnten. Es gab kaum jemanden, der nicht vor Erschöpfung schwankte, und viele von ihnen hatten Fieber. Einige litten an Entzündungen der Atemwege, und entlang der Kolonne war immer wieder kratziges Husten zu vernehmen. Aus blutunterlaufenen Augen sahen sich die Mitglieder des Kommandos um, starrten durch den strömenden Regen und suchten nach etwas, das ihnen neue Hoffnung machen konnte.

Doch niemand von ihnen sah auch nur annähernd so abgezehrt und dem Tode nahe aus wie Gotteskind. Der ältere Mann setzte nach wie vor einen Fuß vor den anderen, hielt mit den Kameraden Schritt und nahm weiterhin seine Pflichten als stellvertretender Befehlshaber wahr. Seine vormals scharfe und laute Stimme war nunmehr zu einem heiseren Flüstern geworden. Aber in Inhalt und Bedeutung seiner Worte zeigte sich kein Unterschied; Gotteskind machte niemals Kompromisse, erst recht nicht sich selbst gegenüber.

Hal und Rukh schienen von allen in der besten Verfassung zu sein. Doch einerseits gehörten sie zu den jüngeren Kämpfern des Kommandos, und andererseits zeichneten sich beide durch eine besondere und ganz persönliche Kraft aus. Hal hatte Fieber und hustete wie die anderen, aber selbst ihn überraschte es, immer wieder festzustellen, daß noch Energiereserven in ihm verblieben waren. Er war wie ein Motor, der, nachdem

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der eigentliche Treibstoff aufgebraucht war, sich selbst zu verbrennen begonnen hatte und seine Funktion erst dann einstellen würde, wenn von seiner Substanz nichts mehr übriggeblieben war.

Und was Rukh anging: In ihr loderte eine Flamme, die sie offenbar nicht nach und nach verzehrte, sondern ihr den Eindruck verlieh, als könne sie so lange weitermarschieren, bis die gelbe Scheibe Epsilon Eridanis, die nun jenseits der beständig weinenden Wolken verborgen war, rot und kalt wurde. Wie alle anderen auch hatte sie an Gewicht verloren, bis sie so aussah, als sei sie die Urenkelin Obadiahs oder Gotteskinds. Doch andererseits schien ihr das nichts aus zumachen. Es war sogar, als durchleuchte der Schein der inneren Flamme ihre Haut, um wie eine Lampe vor ihnen zu strahlen. Und trotz ihrer Erschöpfung und des eingefallenen Gesichts hielt Hal sie für schöner als jemals zuvor.

Sie waren der Falle, die Barbage ihnen gestellt hatte, gerade noch entkommen: Er hatte einzelne Einheiten seiner Streitmacht vorausgeschickt, um das Kommando in die Zange zu nehmen, und wenn Hal nicht die Karte erbeutet und die Gefahr begriffen hätte, wäre es tun sie alle geschehen gewesen. Nur wenige Meter – und nicht Kilometer – hatten gefehlt, um ihnen den Garaus zu machen. Seitdem hatte Barbage sie mit unerschütterlicher Beharrlichkeit verfolgt und seine Streitmacht immer wieder mit Nachschub an Material und Soldaten versorgt, so daß Hal und seine Kameraden sich die ganze Zeit über mit ausgeruhten Milizionären konfrontiert sahen.

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Das Kommando hatte nicht die Gelegenheit erhalten, Rast zu machen oder sich zu reorganisieren. Nach und nach waren einige der Kämpfer der Erschöpfung erlegen und hatten fortgeschickt werden müssen, um die anderen nicht zu belasten – in der Hoffnung, daß es ihnen einzeln gelang, sich in Sicherheit zu bringen. Sie hatten auf ihre Flucht die Ausrüstungsteile und Esel mitgenommen, die die zusammengeschmolzene Streitmacht Rukhs entbehren konnte – bis auf die Lebensmittel, das Schießpulver und die Nitrate, die Rukh nach wie vor nicht zurückzulassen bereit war.

Sie wollte sich nicht eingestehen, daß es unmöglich war, der Verfolgung durch die Soldaten irgendwann zu entgehen. So lange ihr inneres Feuer brannte, schien sie dazu außerstande zu sein. Und ihre Sture Weigerung, daran zu zweifeln, daß sie ihre eigentliche Mission nach wie vor durchführen konnten, hielt die anderen Kämpfer fest, so als sei ihr Wille ein Seil, das sie alle aneinanderband. Selbst Hal, der die exotische Technik beherrschte, Abstand von sich selbst zu nehmen und in aller Objektivität die Wirkung zu beobachten, die Rukh auf ihn erzielte, kam nicht umhin, von ihrer eisenharten Entschlossenheit zutiefst beeindruckt zu sein, so daß er darüber fast sein eigenes Leben und Schicksal vergaß – jenes Schicksal, dem, wie er wußte, ein ganz bestimmter Zweck zukam, den er bisher jedoch nicht zu ergründen imstande gewesen war. Das führte so weit, daß auch er alle Gedankenkraft allein auf das fixierte, was Rukh wichtiger als alles andere war.

Als Hal sich trotz des Fiebers und der schmerzenden Muskeln die se Erkenntnis darbot, ergab sich ihm

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schließlich auch die Einsicht, daß die enorme charismatische Ausstrahlung von Anderen wie Bleys Ahrens nicht nur auf die Verschmelzung der Charakteristiken der Dorsai und Exoten zurückging, sondern auch und ganz besonders auf die Kultur der Quäker und die Absorption der für sie typischen Macht, zu überzeugen und zu konvertieren. Trotz der Lektionen Obadiahs war es nachgerade ein Schock zu begreifen, daß er nicht unbeeinflußt geblieben war von der weit verbreiteten Vorstellung, die Quäker seien die unwichtigste der drei großen Splitterkulturen und könnten ihm mit ihrer Lebensart und Denkweise keine so besonderen Fähigkeiten vermitteln. Hal hatte plötzlich das Gefühl, als rückten tief in seinem Innern einige Mosaiksteine an die Stellen, die er bisher vergeblich für sie gesucht hatte, und das einheitliche Bild, das sich daraufhin für ihn ergab, machte ihm klar, daß es in erster Linie diese Einstellung war, die es den Anderen ermöglicht hatte, praktisch von einem Augenblick zum anderen insgeheim die Macht an sich zu bringen, auf allen Planeten – abgesehen von Dorsai, den beiden Exotischen Welten und der Erde.

Was in Hinsicht auf diese jähe Veränderung der allgemeinen politischen Lage alle so sehr verwunderte, war die immer wieder bestätigte Tatsache, daß es nur sehr wenige Andere gab. Zugegeben: Was ihre Organisationsform anbelangte, hatten sie sich an den entsprechenden Strukturen großer Verbrechervereinigungen der vergangenen Jahrhunderte orientiert – sie besaßen somit keine direkte Macht, sondern übten Einfluß auf die betreffenden Leute aus.

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Doch angesichts der vielen Milliarden gewöhnlicher Menschen auf den verschiedenen Planeten erklärte auch das nicht, wie es den einigen tausend Anderen gelungen war, derart rasch so umfassende Kontrolle zu gewinnen. Die Anzahl derjenigen, die sie beherrschten, war soenorm groß, daß allein die Aufgabe, nicht die Übersicht darüber zu verlieren, welche wichtigen Persönlichkeiten ausgetauscht wurden, geradezu gigantisch war – ganz zu schweigen davon, die Betreffenden zu ihren Anhängern zu machen. Doch wenn sie andererseits Leute als Mittelsmänner einsetzen konnten, die keine Anderen waren, so überlegte Hal, vermochten sie die entsprechenden individuellen Fähigkeiten zu nutzen, und dann ließ sich das Bestreben, eine allgemeine und umfassende Kontrolle auszuüben, wesentlich leichter in die Tat umsetzen.

Wenn das die Erklärung für den Erfolg der Anderen war, so wurde auch ersichtlich, warum sie solchen Wert darauf legten, Harmonie und Eintracht zu beherrschen – und wieso diese beiden Welten in den letzten zwanzig Jahren eine derartige Aktivität in Hinblick auf den interplanetaren Handel entwickelt hatten. Eine Aktivität darüberhinaus, die die Quäker in den vorherigen Jahrhunderten zutiefst verachtet hatten – wenn sie nicht durch schlechte ökonomische Verhältnisse dazu gezwungen waren, die Dinge einzuführen, die nur mit interstellaren Krediten bezahlt werden konnten.

Irgend etwas innerhalb des formlosen Wogens in Hals Unterbewußtsein begriff die Wichtigkeit der Schlußfolgerung, zu der er gerade gelangt war. Aber derzeit sah er sich außerstande, sich weiterhin mit dieser

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Angelegenheit zu befassen. Wenn er überlebte, mochte sich ihm die Chance bieten, weitere gedankliche Analysen vorzunehmen und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Wenn nicht – dann spielte es ohnehin keine Rolle mehr. Andererseits aber: Aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht vorstellen, die gegenwärtige Krise nicht zu meistern. Entweder widersprach eine derartige Sorge seinem innersten Wesen – oder Malachis Lektionen hatten ihm den Aspekt der Dorsai-Kultur derart fest eingeprägt, daß er ganz einfach nicht dazu in der Lage war, so etwas wie Resignation zu empfinden. Wie Rukh, die nach wie vor an ihrer Absicht festhielt, den Reaktor von Ahruma zu zerstören, konnte sich Hal nicht von seinem persönlichen Ziel abwenden. Und in diesem Sinn erachtete er den eigenen Tod als eine Absurdität, die nicht einmal in Erwägung gezogen wurde.

Der Mann vor Hal schwankte und blieb plötzlich stehen. Und als er verharrte, sank er an Ort und Stelle zu Boden, als seien seine Muskeln von einem Augenblick zum anderen aller Kraft verlustig gegangen. Hal trat auf ihn zu.

»Was ist denn?« fragte er. Der Mann schüttelte nur den Kopf. Er hatte bereits die

Augen geschlossen, und sein Atem wurde gleichmäßiger; er begann einzuschlafen. Hal schritt weiter, vorbei an den Eseln und den anderen Kameraden, an Männern und Frauen, die sich dort niederließen, wo sie haltgemacht hatten, und einige von ihnen schliefen ebenfalls.

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An der Spitze der Kolonne fand er Rukh. Sie war noch immer auf den Beinen und half Tallah dabei, den Rucksack abzulegen.

»Warum geht es nicht weiter?« fragte Hal und räusperte sich, als er merkte, wie heiser und rauh seine Stimme klang.

»Wir brauchen eine Pause, zumindest eine kurze«, erwiderte Rukh, legte den Rucksack zu Boden und sah sich ein Loch an, das im Rücken der dicken grünen Bluse Tallahs entstanden war. »Wenn Sie das Hemd wechseln, können wir es stopfen«, sagte die Befehlshaberin. »Obgleich wir diese Art von Arbeit kaum mehr bewältigen können. Ihr Rücken ist ganz wundgescheuert, Tallah; Sie dürften eigentlich gar keine Rucksack tragen.«

»Ich weiß«, erwiderte die junge Köchin. »Ich lasse ihn einfach hier liegen und vertraue darauf, daß er mir von allein auf seinen kleinen Beinchen folgt.«

»Na schön.« Rukh seufzte. »Suchen Sie Falt auf und lassen Sie sich eine andere Bluse geben. Vielleicht kann er Ihnen auch dabei helfen, den Rucksack so zu präparieren, daß er den Stoff des Hemdes nicht noch einmal durchscheuert. Wir rasten hier kurz und setzen den Weg in zehn Minuten fort.«

Tallah griff nach den Riemen ihres Rucksacks, hob die Tasche ein wenig an und wankte an der Kolonne vorbei in die Richtung, in der sie Falt vermutete.

Rukhs Blick richtete sich auf Hal. Einige Sekunden lang sahen sie sich nur schweigend an.

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»Wir haben erst vor fünfunddreißig Minuten eine Pause gemacht«, sagte Hal.

»Ja«, erwiderte Rukh. »Aber wir hätten jetzt ohnehin anhalten müssen, und ich wollte das Kommando nicht mehr als unbedingt nötig in Unruhe versetzen. Kommen Sie.«

Sie führte ihn ins Unterholz. Sobald sie nicht mehr von den anderen Kämpfern gesehen werden konnten, wandte sich Rukh nach links und schlug einen Weg ein, der parallel an der Kolonne vorbeiführte. Obgleich sich Hal während der vergangenen Wochen innerlich auf diesen Augenblick hatte vorbereiten können, war es doch ein Schock für ihn, als er James Gotteskind sah, der nicht weit entfernt auf dem Boden hockte, den Rücken an den Stamm eines großen Variform-Ahorns gelehnt.

Das Gesicht des Mannes, das sich deutlich vor der gefurchten und vom Regen gedunkelten Borke des Baumes abzeichnete, war eine Grimasse tiefer Erschöpfung; es sah so verwittert aus wie altes Holz, das zu lange zu heftigem Regen ausgesetzt gewesen war. In den vergangenen Wochen hatte er stark abgenommen, und selbst die dicke und unförmige Kleidung konnte nicht länger verhehlen, daß er nur ein Schatten seiner selbst war. Die Unterarme ruhten auf den Oberschenkeln, und die Handflächen wiesen halb nach oben – als sei jede Kraft aus ihnen gewichen und als könnten sie sich nicht länger des Zerrens der Schwerkraft Harmonies erwehren. Er rührte sich überhaupt nicht. Nur die unter den buschigen grauen Brauen tief in den knöchernen Höhlen liegenden Augen offenbarten noch Anzeichen von

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Leben, und ihr Blick hatte nichts von seiner Intensität eingebüßt. Er sah Rukh und Hal ruhig an.

»Ich bleibe hier«, sagte er heiser. »Wir können es uns nicht leisten, dich zu verlieren«,

erwiderte Rukh bitter. »Du darfst wegen mir nicht das ganze Kommando in

Gefahr bringen und länger rasten«, sagte Gotteskind. »Wenn du nicht bald wieder aufbrichst, wird dich die Miliz innerhalb einer Stunde eingeholt haben.« Seine Stimme klang zwar gelassen, aber dann und wann unterbrach sich der ältere Mann und holte rasselnd Luft. »Außerdem wäre es eine Sünde, den Kriegern des Herrn mit mir eine weitere Belastung aufzubürden. Selbst wenn man mich trägt: Ich leide nicht an einer Krankheit, von der ich mich nach einer Weile erholen würde. Es ist das Alter – und ich würde auch dann nicht jünger, könnte ich einige Tage ruhen. Sicher, ich wäre dazu in der Lage, den Weg noch eine Weile fortzusetzen – aber welchen Sinn hätte das? Ich ziehe es vor, hier zu sterben und zu wissen, daß ich noch Kraft genug habe, mehr als nur einen Feind Gottes in die Hölle zu schicken.«

»Wir können nicht auf dich verzichten.« Rukhs Stimme klang noch kühler und härter als zuvor. »Was ist, wenn mir etwas zustößt? Es gibt niemanden, der an meine Stelle treten könnte.«

»Wie soll ich deinen Platz einnehmen, wenn ich weder marschieren noch kämpfen kann?« hielt ihr Gotteskind entgegen. »Du bist die Befehlshaberin dieses Kommandos, und du solltest deshalb rationaler denken. Für ihn sind wir alle nichts weiter als Blumen, die

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während des Frühlings für einen Tag erblühen und danach verwelken. Und wenn eine Blume stirbt, so mag sie von jeder beliebigen anderen ersetzt werden. Das hast du dein ganzes Leben lang gewußt, Rukh – wie auch alle anderen Kämpfer des Kommandos und diejenigen, die des Glaubens sind. Niemand ist unentbehrlich. Warum also solltest du meinen Tod beklagen? Deine Pflicht ist es statt dessen, das Kommando in Sicherheit zu bringen.«

Rukh stand vor ihm und gab keine Antwort. »Denk nach«, sagte Gotteskind. »Es dauert nicht mehr

lange bis zum Sonnenuntergang. Wenn ich unsere Verfolger auch nur eine Stunde lang aufhalten kann, wird es dunkel, und dann bleibt den Soldaten nichts anderes übrig, als hier zu lagern und zu übernachten. Du hingegen hast daraufhin die Möglichkeit, die Marschroute zu ändern. Und am nächsten Tag dürften die Milizionäre eine ganze Zeitlang in die falsche Richtung wandern. Auf diese Weise könnte es dir gelingen, einen Vorsprung von einem Tag zu gewinnen. Und damit wäre das Kommando vielleicht in der Lage, zu entkommen. Deine Aufgabe besteht darin, diese dir von Gott gegebene Chance wahrzunehmen.«

Rukh rührte sich noch immer nicht und schwieg. Als Gotteskind seinen kurzen Vortrag beendet hatte, senkte sich Stille über sie.

»Er hat recht«, sagte Hal schließlich, und es fiel ihm schwer, diese Worte zu formulieren. »Das Kommando wartet, Rukh. Ich sorge dafür, daß er es hier einigermaßen bequem hat, und danach schließe ich zu Ihnen auf.«

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Rukh drehte langsam den Kopf, und sie starrte ihn einige Sekunden lang groß an. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf Gotteskind.

»James …«, sagte sie und unterbrach sich. Sie trat einen Schritt auf ihn zu und sank vor ihm auf die Knie. Ungelenk schlang Gotteskind die Arme um sie und hielt sie eine Weile fest.

»Wir sind beide Diener Gottes«, sagte er und sah auf sie hinab. »Und für Leute wie uns sind die Dinge dieser Welt nichts weiter als Bilder, die von flüchtigem Rauch geformt werden und sich rasch wieder auflösen. Ich werde nur eine Zeitlang von dir getrennt sein – das weißt du. Meine Aufgabe hier ist erfüllt, während du die deine noch bewältigen mußt. Was also bedeutet es für dich, wenn du mich eine Weile nicht siehst? Es gibt ein Kommando, das du führen, einen Reaktor, den du sprengen, und Feinde Gottes, die du vernichten mußt. Denke daran.«

Rukh schauderte in seinen Armen. Sie hob den Kopf, küßte ihn kurz und stand dann wieder auf. Sie sah auf ihn hinab, und ihre Züge glätteten sich.

»In deinem Namen«, sagte sie sanft. Sie straffte die Gestalt. Und als sie erneut sprach, war

ihre Stimme laut und hallend, und ihre Worte klangen wie ein Gebet, wie eine Prophezeiung, wie ein apokalyptisches Versprechen.

»In deinem Namen, James. Wenn der Reaktor gesprengt ist und ich meine unmittelbare Aufgabe damit erfüllt habe, werde ich einen Sturm gegen unsere Feinde entfesseln, einen Tornado des Jüngsten Gerichts, einen

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Orkan der gerechten Wut, dem niemand von ihnen standhalten kann. Und in diesem Orkan wird ein Banner wehen, das deinen Namen trägt, James.«

Rukh drehte sich abrupt um und marschierte fast im Laufschritt davon. Die beiden Männer sahen ihr nach, bis sie hinter den niedrig hängenden Zweigen der Bäume verschwunden war. Anschließend blickten sie sich an.

»Ja …«, sagte Hal gedehnt, und dieses Wort schien sich von ganz allein von seinen Lippen zu lösen. Er sah sich um und ließ seinen Blick über das hügelige und von Büschen und Bäumen bewachsene Gelände schweifen. Unweit von ihnen zeigte sich zwischen den naß glänzenden Zweigen und Blättern eine Anhöhe, die wie eine kleine Felsenklippe wirkte.

»Dort oben?« fragte er. »Ja.« Es war mehr ein tonloses Keuchen, und als Hal

den älteren Mann musterte, stellte er fest, daß Gotteskind einen Großteil seiner Kraft verausgabt hatte, um Rukh zu überzeugen und fortzuschicken.

»Ich helfe Ihnen hoch«, sagte er. »Waffen …«, stöhnte Gotteskind. »Meine

Energiepistole mit dem abgesägten Lauf … kann sie mir unter die Jacke schieben. Mein Konusgewehr … und Munition.«

Hal nickte. Derzeit war der ältere Mann nur mit einer gewöhnlichen Energieschleuder und einem Messer bewaffnet.

»Ich hole sie«, sagte er.

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Er machte sich sofort auf den Weg. Das Kommando war gerade wieder aufgebrochen, und niemand der erschöpften Kämpfer fragte ihn, warum er den Esel losband, der die persönliche Ausrüstung Gotteskinds trug, und das Tier fortführte.

Hal wartete, bis seine Kameraden außer Sicht waren, und dann begab er sich erneut ins Unterholz. Er kehrte zu Gotteskind zurück, der noch immer am Ahornstamm lehnte. Er half ihm hoch und stemmte ihn auf die Taschen, die der Esel trug.

Das Tier grunzte, und angesichts der größeren Last rührte es sich nicht von der Stelle. Daraufhin ließ Hal den älteren Mann wieder zu Boden sinken und führte den Esel allein auf die kleine Anhöhe. Hinten neigte sie sich sanft nach unten, während die vordere Seite – die in die Richtung deutete, aus der die Milizionäre herankommen mußten – fast senkrecht abfiel. Ein guter Schütze konnte von hier aus einer viel größeren Streitmacht arg zusetzen. Hal entlud die Ausrüstung Gotteskinds, errichtete das Zelt und brachte in seinem trockenen Inneren sowohl Lebensmittel als auch die übrigen Sachen des älteren Mannes unter. Als sich die Last des Esels auf diese Weise erheblich verringert hatte, kehrte er zu dem Wartenden zurück.

Als er Gotteskind diesmal auf den Rücken des Tieres setzte, weigerte sich der Esel nicht, von Hal geführt zu werden. Zum zweitenmal begab er sich auf die Klippe. Vor dem Eingang des Zeltes breitete er eine Plane aus, direkt am Rand der vorderen Kante, und anschließend half er dem älteren Mann dabei, darauf Platz zu nehmen.

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»Ich wäre auch von selbst dazu imstande«, kommentierte Gotteskind mit rauher Stimme, als Hal ihn auf die Plane niederließ, »aber ich brauche all die Kraft, die noch in mir verblieben ist.«

Hal nickte nur. Er holte dicke Äste, Zweige und Steine herbei und errichtete daraus eine Deckung, durch die Gotteskind zwar schießen konnte, die ihn aber gleichzeitig zumindest zum Teil vor dem gegnerischen Feuer schützte.

»Sobald sie sich darüber klargeworden sind, es nur mit einem einzelnen Gegner zu tun zu haben, werden sie versuchen, Sie einzukreisen«, sagte Hal.

»Das stimmt«, erwiderte Gotteskind. »Doch zunächst einmal müssen sie haltmachen. Und bestimmt werden sie sich beraten, bevor sie sich zu irgendeiner Aktion entscheiden. Und wenn sie mich dann angreifen, gehen sie bestimmt mit aller Vorsicht vor. Bis dahin ist es sicher schon so spät, daß ich sie nur ein wenig aufhalten muß, bis es dunkel wird.«

Hal beendete die Vorbereitungen, stellte dem älteren Mann einen Behälter mit Trinkwasser und einige Rationen bereit und gab ihm die Waffen. Gotteskind spähte bereits durch die Schießscharte in der Deckung vor ihm und sah in die Richtung, aus der der Gegner herankommen mußte. Hal zögerte.

»Geht jetzt«, sagte Gotteskind, ohne zu ihm aufzusehen. »Es gibt nichts mehr für Euch zu tun. Eure Pflicht besteht darin, dem Kommando zu helfen.«

Hal musterte ihn noch einige Sekunden lang und wandte sich dann zum Gehen.

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»Wartet«, sagte der ältere Mann. Hal drehte sich um. Gotteskind starrte zu ihm hoch. »Wie lautet Euer richtiger Name, Howard?« fragte er. Hal zwinkerte und antwortete: »Hal Mayne.« »Seht mich an, Hal Mayne«, sagte Gotteskind. »Was

erkennt Ihr?« »Ich sehe …« Hal konnte nicht weitersprechen. »Ihr seht einen Mann«, sagte Gotteskind, und bei

diesen Worten klang seine Stimme wieder scharf, »der sein ganzes Leben lang dem Herrn mit großer Freude gedient hat und sich nun anschickt, die letzte heilige Pflicht Ihm gegenüber zu erfüllen. Das werdet Ihr dem Kommando und Rukh Tamani ausrichten, mit genau diesen Worten. Versprecht Ihr mir das?«

»Ja«, erwiderte Hal. Er wiederholte die Botschaft, die Gotteskind ihm aufgetragen hatte.

»Gut«, meinte der ältere Mann. Sein Blick verweilte auf den Zügen Hals. »Seid gesegnet im Namen des Herrn, Hal Mayne. Sagt den anderen, daß ich auch die Kämpfer des Kommandos und Rukh Tamani und all die anderen segne, die unter dem Banner Gottes den Krieg gegen die Unheiligen führen. Und nun geht. Kümmert Euch um diejenigen, deren Schicksal der Herr in Eure Hände gelegt hat.«

Daraufhin drehte er sich um, spähte erneut durch die Schießscharte in der Deckung und beobachtete den Wald unterhalb der Klippe. Hal wandte sich von Gotteskind ab und ließ den älteren Mann auf der Anhöhe zurück – einen

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Krieger Gottes, der nun die Erfüllung eines langen und entbehrungsreichen Lebens erwartete.

13 Hal brauchte mehr als eine Stunde, um zum Kommando aufzuschließen. Rukh war dem Rat Gotteskinds gefolgt und hatte die Marschroute geändert. Alle Kämpfer wanderten in unterschiedliche Richtungen davon und würden sich später an einem vereinbarten Treffpunkt wieder zu einer Kolonne vereinen. Hal verlor rund zwanzig Minuten damit, die entsprechenden Spuren zu finden und festzustellen, wohin sich Rukh gewandt hatte. Anschließend schritt er rasch aus. Dennoch vergingen weitere sechzig Minuten, bis er auf seine Kameraden stieß. In der letzten halben Stunde funktionierten seine Denkprozesse dabei zum erstenmal seit der Flucht von der Erde wieder in den alten Strukturen: Wie ein objektiver und unbeteiligter Beobachter nahm er Abstand von der gegenwärtigen Situation, um die einzelnen Aspekte und Faktoren mit aller Abgewogenheit zu analysieren. Die letzten Worte James Gotteskinds hatten ihm dabei geholfen, den Weg seiner eigenen Aufgabe klar und deutlich vor sich zu sehen. Und mit dieser Erkenntnis machte sich sein Bewußtsein konzentriert an die Lösung eines komplexen intellektuellen Problems. Bisher, so begriff Hal, war er zu sehr auf die Leute in seiner Umgebung fixiert gewesen, hatte sich zu sehr eingefügt in das Muster eines neuen Lebens. Jetzt jedoch, angesichts der Zermürbung

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durch Erschöpfung und Fieber und dem Eindruck der Selbstaufopferung Gotteskinds, verschwanden seine persönlichen Empfindungen plötzlich als Variable aus der zu lösenden mentalen Gleichung, und was übrigblieb, war ein klares Bild aller tatsächlichen Dimensionen.

Als er zum Kommando aufschloß, sah er seine Kameraden als Folge dieser Überlegungen mit anderen Augen. Diese Leute waren nicht nur einfach müde – sie hatten vielmehr nahezu die Kraftreserven erschöpft, die ihnen Wille und Entschlossenheit eröffneten. Es mochte durchaus sein, daß Rukh niemals aufgeben und resignieren würde. Aber die gewöhnlicheren Männer und Frauen, die ihrer Streitmacht angehörten, hatten inzwischen die Grenzen dessen erreicht, was ihnen physisch und psychisch möglich war.

Hal erreichte die Spitze der Kolonne und machte die Feststellung, daß Rukh bisher noch nicht zu dieser Erkenntnis gelangt war – es aufgrund ihres Wesens vielleicht auch gar nicht konnte. Wie Gotteskind zeichnete sie sich durch eine ganz besondere Wahrnehmung sowohl ihrer persönlichen Welt als auch des sie umgebenden Kosmos aus, eine Einstellung, die ihre Begleiter nicht unbedingt teilten. Und aufgrund dieser Betrachtungsweise war sie außerstande zu begreifen, daß ihre Begleiter von einem Augenblick zum anderen zusammenbrechen konnten.

Rukh wandte sich ihm zu, als Hal herankam. »Haben Sie ihm soweit geholfen, wie es Ihnen möglich

war?« fragte sie ihn in einem unbeteiligt klingenden Tonfall. Ihr Gesicht war ausdruckslos.

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»Er gab mir eine Botschaft mit auf den Weg«, antwortete Hal. »Er fragte mich, was ich sah. Und als ich ihm darauf keine Antwort geben konnte, sagte er mir, ich sähe einen Mann, der sein ganzes Leben lang dem Herrn mit großer Freude gedient hat und sich nun anschickt, die letzte heilige Pflicht Ihm gegenüber zu erfüllen. Er trug mir auf, dies Ihnen allen zu sagen.«

Rukh nickte, und nach wie vor offenbarten ihre Züge nichts von dem, was in ihr vorging.

»Er fragte mich auch nach meinem richtigen Namen«, fuhr Hal fort. »Und als ich ihm sagte, ich hieße Hal Mayne, segnete er mich im Namen des Herrn. Er bat mich außerdem, alle Kämpfer des Kommandos und Rukh Tamani und diejenigen zu segnen, die den Krieg gegen die Unheiligen führen.«

Rukh wandte den Blick von ihm ab, und eine Zeitlang setzten sie den Marsch schweigend fort. Als sie antwortete, klang ihre Stimme noch immer ruhig, doch sie sah ihn nicht dabei an.

»Das Kommando braucht nun einen neuen stellvertretenden Befehlshaber«, sagte sie. »Fürs erste berufe ich Sie gemeinsam mit Falt auf diesen Posten.«

Hal musterte sie einige Sekunden lang. »Sie wissen«, erwiderte er dann, »daß Barbage es in

erster Linie auf mich abgesehen hat. Wenn er feststellte, daß ich mich von Ihnen und den anderen Kämpfern getrennt habe, so wäre es möglich, daß er …«

»Darüber haben wir schon gesprochen. Und Sie kennen meine Antwort.«

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»Lassen Sie mich ausreden«, sagte Hal. »Bis morgen mittag reicht Ihr Vorsprung gegenüber der Miliz aus, um einige Dinge zu ermöglichen. Ich wollte Ihnen folgendes vorschlagen: Ernennen Sie Falt zum stellvertretenden Befehlshaber. Und während Sie morgen – und auch heute – den Weg fortsetzen, beginne ich damit, die beladenen Esel nach und nach fortzubringen. Die von dem Kommando zurückgelassenen Spuren dürften ausreichen, um die Aufmerksamkeit der Verfolger zu binden. Und Ihre Belastung verringert sich nach und nach, bis ich die Tiere schließlich alle von Ihnen weggebracht habe.«

»Wollen Sie sie zurücklassen, damit sie nacheinander von den Soldaten gefunden werden, sobald sie unsere Spur wiederentdeckt haben?«

»Nein«, erwiderte Hal geduldig. »Denn mit dem letzten Esel verschwinde ich ebenfalls, hole die anderen Tiere und begebe mich mit ihnen an einen noch zu vereinbarenden Treffpunkt. Inzwischen mar schieren Sie und die anderen einen 1kg oder auch länger weiter und trennen sich dann. Die Kämpfer sollten einzeln im Wald verschwinden, so daß sich die Spur des Kommandos einfach in Luft auflöst. Später stoßen Sie am Treffpunkt zu mir.«

Während sie Seite an Seite weitergingen, dachte Rukh über diese Möglichkeit nach.

»Nein«, antwortete sie schließlich. »Nach all den Mühen der zurückliegenden Wochen wird Barbage nicht so einfach aufgeben. Bestimmt veranlaßt er eine umfassende Suche im ganzen Gelände. Und selbst wenn

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er uns dabei nicht entdeckt: Die Esel findet er ganz sicher. Nein.«

»Er wird eine derartige Suche nicht befehlen, solange er davon überzeugt ist, daß ich mich nach wie vor bei Ihnen befinde«, sagte Hal. »Sobald ich mit den Eseln den Treffpunkt erreicht habe, werde ich mich bei einem der Versorgungsorte sehen lassen – ich überwältige einen Wachtposten und stehle Waffen oder Lebensmittel –, und sobald Barbage erfährt, daß ich mich von der Kolonne getrennt habe und allein bin, wird er mir folgen. Wie ich schon sagte: Eigentlich hat er es nur auf mich abgesehen.«

Rukh überlegte erneut und hielt den Kopf ein wenig gesenkt, als sie weiter durch den Wald marschierten. Ihr Blick war auf eine Stelle des Bodens gerichtet, die jeweils fünf oder sechs Schritte entfernt sein mochte. Das Schweigen hielt an. Nach einer Weile seufzte sie und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Hal.

»Wie stehen Ihre Chancen, gesehen zu werden und dennoch zu entkommen?« fragte sie.

»Gut«, erwiderte Hal schlicht. »Wenn ich allein bin und mich nicht um einen Kommandokämpfer kümmern muß.«

Ein weiteres Mal sah Rukh nach vorn, und wieder schloß sich Stille an. Hal beobachtete sie und wußte, daß er die Befürchtung in ihr hatte entstehen lassen, zwischen den Explosivstoffen und dem Leben ihrer Kämpfer wählen zu müssen.

»In Ordnung«, entgegnete sie dann. »Aber wie Sie sagten: Sie sollten besser gleich anfangen. Es dauert eine

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Weile, einundzwanzig Esel jeweils einzeln fortzubringen. Sagen Sie Falt Bescheid und holen Sie die Karten, so daß wir einen Treffpunkt vereinbaren können.«

Die ganze Nacht über und auch während der ersten Stunden des nächsten Tages war Hal damit beschäftigt, die Esel von der Kolonne zu trennen. Er kehrte mit ihnen in die Richtung zurück, aus der das Kommando gekommen war, wandte sich an verschiedenen Stellen vom Verlauf der deutlich sichtbaren Spur ab und legte dann eine Entfernung zurück, die so groß war, daß keiner der Soldaten die Laute eines Tieres hören konnte. Als das Kommando wieder zum Aufbruch bereit war, hatte er auf diese Weise zwanzig Esel von der Kolonne getrennt und schickte sich an, mit dem letzten zu verschwinden.

»In fünf Tagen sehen wir uns wieder«, sagte Rukh. »Geben Sie bis dahin gut auf sich acht.«

»So viel Zeit brauchst du mindestens, um mit allen Tieren den Treffpunkt zu erreichen«, warf Jason ein. »Es ist eine Aufgabe, die dir alles abverlangen wird. Ich sollte dir helfen.«

»Nein«, erwiderte Hal. »Wenn ich nicht mit den Eseln belastet bin, komme ich allein am schnellsten voran. Und wenn ich mit Schwierigkeiten konfrontiert werde, ziehe ich es vor, mich nur um mich selbst kümmern zu müssen.«

»Sie haben vermutlich recht«, sagte Falt. »Viel Glück …«

Er streckte die Hand aus. Hal ergriff und schüttelte sie, und er verabschiedete sich auch von Jason. Da die Esel

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fort waren, trugen sie alle, auch Rukh, Rucksäcke mit notwendigen Vorräten.

»Und du paßt wirklich auf dich auf, nicht wahr, Howard?« fragte Jason.

Hal lächelte. »Man hat mich dazu erzogen, immer vorsichtig zu sein«, antwortete er.

»Gut«, warf Rukh ein. »Veranstalten wir keine große Verabschiedungszeremonie. Ich begleite Sie noch ein Stück, Howard. Ich habe Ihnen noch einiges zu sagen.«

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Auf dem Rücken trug Hal eine prallgefüllte Tasche; am rechten Oberschenkel baumelte die Energieschleuder, die Rukh ihm gegeben hatte, und in der linken Hand hielt er ein Konusgewehr. Auf diese Weise war er gut ausbalanciert und spürte die Belastung kaum. Es hatte aufgehört zu regnen. Aber der Himmel war noch immer grau, und aus der Richtung, in die das Kommando marschierte, wehte ein steifer und kalter Wind, ein Wind, der die Feuchtigkeit von den Blättern und Zweigen aufnahm und die ungeschützten Gesichter und Hände frieren ließ. Als sie außer Hörweite der anderen Kämpfer des Kommandos waren, blieb Rukh stehen, und Hal sah sie fragend an.

Er wartete darauf, daß sie ihn ansprach. Doch hoch aufgerichtet und steif starrte sie ihn nur an – wie jemand, der auf einer Klippe steht und jemandem nachsieht, der an Bord eines Schiffes davonsegelt. Aus einem Reflex heraus schlang Hal die Arme um sie, und er fühlte, wie sich ihre Muskeln lockerten. Sie schmiegte sich an ihn, und sie zitterte, als sie ihn ihrerseits umarmte.

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»Ich wuchs bei ihm auf«, sagte sie so leise, daß Hal sie kaum verstehen konnte. »Ich wuchs bei ihm auf, und nun …«

»Es wird alles gut werden«, gab Hal zurück. Aber Rukh schien ihn gar nicht zu hören. Sie klammerte sich nur weiterhin an ihm fest – bis sie schließlich tief seufzte, ein wenig zurückwich und den Kopf hob.

Er küßte sie – und für einige weitere Sekunden schmiegte sie sich an ihn. Dann ließ sie ihn los und trat ganz von ihm zurück.

»Du mußt jetzt gehen«, sagte sie. Ihre Stimme klang fast wieder normal. Hal rührte sich

nicht und beobachtete sie. Er spürte, daß er jetzt besser nicht noch einmal versuchen sollte, sie in die Arme zu schließen, und gleichzeitig fühlte er ihren persönlichen Schmerz so intensiv, als sei es sein eigener.

»Sei vorsichtig«, sagte sie. Ganz plötzlich riß die dichte Wolkendecke über ihnen

auf, und das helle Licht Epsilon Eridanis glänzte zu ihnen herab. In dem warmen gelben Gleißen sah das Gesicht Rukhs jung und blaß und wunderschön aus.

»Es wird nichts schiefgehen«, versicherte er ihr. Rukh streckte die Hand aus. Ihre Fingerspitzen

berührten ihn ganz sanft. Und dann wandte sie sich um und eilte fort, durch den Wald zurück zu ihrem Kommando. Hal sah ihr nach, bis sie außer Sicht geriet, und er erinnerte sich dabei, wie er am Nachmittag des Vortags James Gotteskind zurückgelassen hatte.

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Er machte sich ebenfalls auf den Weg und dachte an die nächsten vierundzwanzig Stunden, die viele Aufgaben für ihn bereithielten. Er hatte gut gegessen und ausreichend geschlafen, und deshalb fiel es seinem Körper nicht sonderlich schwer, sein Blut mit genügend Adrenalin anzureichern. Die Erschöpfung, das Brennen in Hals und Brust, die Kopfschmerzen, die seit Beginn des Fiebers wie ein Preßlufthammer irgendwo in seinem Hinterkopf gepocht hatten, mal leiser, mal lauter – das alles war nun vergessen.

Er hatte die Esel nicht auf die Rukh gegenüber geschilderte Weise alle an verschiedenen Orten festgebunden. Es war zwar notwendig gewesen, sie an unterschiedlichen Stellen von der Spur der Kolonne fortzuführen, so daß die Miliz nicht feststellen konnte, daß man alle Tiere vom Kommando getrennt hatte. Das Auffinden von Spuren, die darauf hindeuteten, daß ein einzelner Esel die Hauptroute verließ, war nicht ungewöhnlich. Lahmen oder kranken Tieren hatte man in den zurückliegenden Wochen immer wieder die Last abgenommen und sie dann fortgeführt und freigelassen. Hals Plan war es vielmehr gewesen, die Tiere einzeln in sichere Entfernung zu bringen, sie dann aber an einem bestimmten Ort zu vereinen, und in diese Richtung marschierte er nun.

Er erreichte ihn kurz darauf, und die Esel grasten geduldig. Sie befanden sich in einer kleinen Niederung, die am Rand von Bäumen und Buschwerk abgeschirmt wurde. Epsilon Eridani hatte bereits die Hälfte der Strecke bis in den Zenit zurückgelegt; nur noch wenige

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Wolkenfetzen zeigten sich an dem ansonsten klaren und heiteren Himmel.

Hal machte sich sofort daran, die einzelnen Tiere aneinanderzubinden. Es erwies sich als ein Vorteil, daß die Männer und Frauen des Kommandos ihre Rucksäcke mit einem Teil der Vorräte hatten füllen müssen und sich dadurch die Last der Esel verringert hatte. Fünf der einundzwanzig Tiere brauchten nun gar nichts mehr zu tragen und konnten jeweils dann Taschen übernehmen, wenn einige der anderen Esel Anzeichen von zu großer Erschöpfung zeigten.

Doch trotz dieses Vorteils und des guten Wetters war es alles andere als leicht, ganz allein so viele Tiere durchs Gelände zu führen. Hal begann damit, die Esel mit den Lasten zu beladen, die er ihnen zuvor in der Niederung abgenommen hatte, und er spannte Seile zwischen ihnen. Es dauerte drei Stunden, bis er alle Vorbereitungen abgeschlossen hatte.

Als er schließlich aufbrach, schätzte er, daß ihm noch rund sechs Stunden Tageslicht verblieben. Er wandte sich nach Osten, in Richtung der nächsten Straße, die auf seiner Karte verzeichnet war – den Nachschubweg, den Barbage zur Versorgung seiner Truppe verwendete. In den sechs Stunden gelangte Hal bis auf einen halben Kilometer an diese Straße heran. Dort machte er an einem Ort halt, der dem ähnelte, an dem er die Esel zuvor versteckt hatte, entlud sie, band sie fest und nahm eine Mahlzeit zu sich. Dann kroch er in seinen Schlafsack und stellte seine innere Uhr auf eine vierstündige Ruhepause ein.

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Als er die Augen aufschlug, leuchtete der Mond Harmonies wie erwartet hoch am fast wolkenlosen Nachthimmel. Der Trabant – man nannte ihn Tochter des Herrn – zeigte sich als die Hälfte einer Scheibe, und das von ihm herabglänzende Licht reichte für das, was Hal plante, vollkommen aus.

Er packte eine Tasche mit getrockneten Nahrungsmitteln, einigen Arzneien, Munition und Regensachen zusammen, und er ließ die Esel allein zurück. Er schlich an die Straße heran und eilte parallel zu ihr durch die Nacht, auf der Suche nach einem der Versorgungslager der Miliz.

Nach zwanzig Minuten fand er eins. Die beiden Soldaten, die es bei Tage bewachten, hatten sich schlafen gelegt, und alle Lichter waren gelöscht. Doch Hal roch das Lager, bevor er es sehen konnte. Am Rand der Straße, auf einer freien Fläche, war ein Zelt aufgebaut worden, und Hal entdeckte nicht nur das rötliche Schimmern noch glühender Kohlen, sondern auch einige ungeöffnete Kisten und andere Behälter. Die Gerüche des Holzfeuers, von Abfällen, menschlichem Schweiß – und auch die Düfte, die auf Technik hinwiesen, auf die Schmiermittel geölter Waffen –, führten ihn direkt ans Ziel.

Hal streifte den Rucksack ab, ließ das Gewehr einige Meter entfernt zwischen den Bäumen zurück und schlich sich lautlos ins Lager.

Er sah sich die Kisten an, doch ohne sie zu öffnen konnte er nicht feststellen, was sie enthielten. Das Gewicht des Behälters, den er versuchsweise anhob,

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deutete auf Waffen oder andere Objekte aus Metall hin. Die versiegelten Rationen, die sich selbst erwärmten, wenn man die Verpackung aufriß, mußten in Kisten untergebracht sein, die weitaus leichter waren als diese – was ebenso auf Medikamente, Kleidung und die meisten anderen Dinge zutraf. Aufgrund des allgemeinen Erscheinungsbildes des Lagers und der Anzahl der bereits verzehrten Rationen schloß Hal, daß die beiden Soldaten sich bereits seit zwei Tagen hier aufhielten und sicher noch einmal vierundzwanzig Stunden an diesem Ort verweilen würden. Und sie wären sicher schon aufgebrochen, wenn nicht noch mindestens eine Nachschublieferung an die Streitmacht Barbages bevorgestanden hätte. Und darüberhinaus deuteten die Wagenspuren darauf hin, daß seit der letzten Versorgung der Truppe Wind und Wetter einen ganzen Tag lang Zeit gehabt hatten, die im Boden zurückgebliebenen Abdrücke zumindest teilweise zu verwischen.

Deshalb nahm Hal an, daß am nächsten Tag ein weiterer Transporter erwartet wurde.

Er sah sich erneut im Lager um, schätzte die Entfernungen zwischen dem Zelt und den Stapeln ab und prägte sich die allgemeine Struktur der Versorgungsstelle ein. Es fiel ihm nicht schwer sich vorzustellen, wo welche Aktivitäten stattfinden würden, wenn morgen der Wagen eintraf. Anschließend wandte sich Hal um und verschwand ebenso leise, wie er gekommen war. Eine Stunde später befand er sich wieder bei den Eseln, kroch in seinen Schlafsack und schöpfte Kraft.

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Er erwachte vor der Morgendämmerung, und sechzig Minuten darauf hockte er an einem Hügelhang, knapp ein Dutzend Meter über der Versorgungsstelle. Er hielt es für unwahrscheinlich, daß die nächste Basis der Miliz es für notwendig erachtete, noch in der Nacht einen Transporter zu beladen und hierher zu schicken. Als er das Lager beobachtete, stellte er fest, daß die beiden Soldaten nach wie vor in ihrem Zelt schliefen. Und er konnte anschließend die Routine ihres Aufstehens und Frühstückens beobachten.

Die Tageslieferung, so entnahm er dem Gespräch der beiden Milizionäre, wurde eine Stunde vor Mittag erwartet und von drei Wagen gebracht. Er preßte die Lippen zusammen. Drei Transporter, jeder mit einem Fahrer und einem Packer, und zwei bereits anwesende Soldaten – das waren fast zu viele Gegner für ihn. Zehn Minuten später, nachdem Hal weitere Informationen bekommen hatte, war er wieder auf dem Rückweg zu seinen Eseln. Später an diesem Tag würde noch ein weiterer und einzelner Wagen eintreffen. Aber dieser Transporter kam nicht, um Ausrüstungsgüter zu befördern, sondern um die beiden Milizionäre in die Kasernen Ahrumas zurückzubringen, worüber sie sich entsprechend freuten.

Die Ankunft dieses vierten Wagens bot Hal eine Chance, auf die er nicht zu hoffen gewagt hatte – ein Möglichkeit, die Bürde, die er nach seinem ursprünglichen Plan dem Kommando aufzuerlegen gezwungen gewesen wäre, ein wenig zu verringern. Als er die Tiere erreichte, machte er sich rasch daran, nur die

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zu beladen, die er für sein Unternehmen unbedingt brauchte.

Als er damit fertig war und die Esel erneut aneinandergebunden hatte, brach er sofort in Richtung des mit Rukh vereinbarten Treffpunkts auf.

Mit den neun beladenen Tieren machte er sich daran, die rund zwanzig Kilometer zu dem Ort zurückzulegen, wo er auf Rukh und ihre Kämpfer stoßen wollte, und angesichts der damit verbundenen körperlichen Anstrengungen und des Fiebers, das nach wie vor in ihm brannte, fixierte sich Hal fast freudig auf den Zustand der mentalen Eingrenzung, der nur noch Platz ließ für seinen eisernen Willen und alles andere für nebensächlich erklärte.

Ihm blieben, so schätzte er, bestenfalls sieben Stunden, um die Strecke zurückzulegen, die Esel von ihrer Last zu befreien und zurückzukehren, bevor der vierte Wagen kam, um die beiden Milizionäre abzuholen. Es war nur möglich, wenn er unterwegs mit keinen Schwierigkeiten konfrontiert wurde und er die zwar nur relativ leicht beladenen, aber müden Esel dazu bringen konnte, sich schneller zu bewegen als sonst.

Irgendwie gelang es ihm, die Tiere anzutreiben, so daß sie an Hängen und offenen Flächen sogar zu traben begannen. Bis zum Mittag schien ihm auf diese Weise das Glück als Verbündeter beizustehen, und es hatte ganz den Anschein, als solle es Hal nicht nur schaffen, sondern sogar noch rund eine Stunde gewinnen.

Dann jedoch veränderte sich das Terrain geradezu abrupt. Die Vegetation wurde dichter und machte das

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Vorankommen schwieriger; hier und dort stießen sie auf tiefe Gräben, und manchmal mußten sie steile Anhöhen überwinden, was immer wieder dazu führte, daß einzelne Esel den Halt verloren, wodurch auch andere stolperten und oftmals ein heilloses Durcheinander entstand.

Eine Stunde nach Mittag begriff Hal, daß er seinen Zeitplan unmöglich einhalten konnte, wenn es nicht bald zu einer erneuten Veränderung des Geländes kam.

Er zog die Konsequenzen daraus und konsultierte die Karte, eine Kopie der entsprechenden Unterlagen Rukhs. Er suchte darauf den nächsten Fluß, band die Esel zusammen und begab sich auf die Suche nach einem geeigneten Versteck für sie. Als er eins gefunden hatte, kehrte er zurück und brachte die Tiere an den entsprechenden Ort. Er nahm ihnen die Last ab, versteckte die Ausrüstung und band die Tiere dann jeweils so an, daß sie genügend Bewegungsfreiheit hatten, um zu grasen und vom Flußwasser zu trinken.

Anschließend schnitt er einem der Esel einen Haarbüschel vom Schwanz ab und machte sich auf den Weg zum Treffpunkt. Dort angekommen, befestigte er an einigen Baumstämmen etwas von dem Eselshaar und schnitzte unter die entsprechenden Stellen kleine Pfeile in die Borke, die in die Richtung zeigten, wo sich sowohl die anderen Tiere befanden als auch die Ausrüstung untergebracht war.

Mehr konnte er nicht tun. Rukh und die anderen Kämpfer wußten, daß unter den gegebenen Bedingungen mit Veränderungen der jeweiligen Pläne gerechnet werden mußte. Wenn sie die Esel nicht am vereinbarten

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Ort vorfanden, würden sie sicher nach ihnen oder Hinweisen danach suchen, wo sie sich befanden. Wenn die Verfolgungsstreitmacht der Miliz nicht unmittelbar an ihren Fersen klebte und sie somit Zeit genug hatten, sollten sie mit einer gründlichen Erkundung eigentlich die Esel mitsamt ihrer Ladung an dem Ort finden, wo Hal sie zurückgelassen hatte. Und zwar bevor die Tiere alles für sie erreichbare Gras gefressen hatten oder irgendwelchen Zwischenfällen zum Opfer fielen, zu denen es kommen konnte, wenn sie mehrere Tage lang im Wald allein blieben. Hal stellte sich vor, wie Rukh reagieren mochte, wenn sie feststellte, daß sich bei der versteckten Ausrüstung keine Explosivstoffe befanden, verdrängte diesen Gedanken dann aber.

Er hatte alles getan, was ihm möglich war. Hal verließ den Treffpunkt daraufhin wieder und lief im wahrsten Sinne des Wortes die zwanzig Kilometer zur Versorgungsstelle zurück.

Er erreichte sie nur rund eine Dreiviertelstunde später als geplant. Die beiden Soldaten befanden sich nach wie vor im Lager, hatten inzwischen aber ihre persönlichen Sachen zusammengepackt und warteten ganz offensichtlich auf den Transporter, der sie nach Ahruma bringen würde. Sonderbarerweise jedoch waren die Stapel aus Kisten und Behältern noch nicht abgeholt worden. Hal schwitzte und war erschöpft aufgrund der zurückliegenden achteinhalb Stunden, in denen er sich körperlich alles abverlangt hatte, und er befürchtete nun, daß jederzeit einige der Soldaten aus der von Barbage befehligten Verfolgertruppe auftauchen könnten, um die bereitstehende Ausrüstung abzuholen. Sollten fünf oder

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sechs weitere Milizionäre gerade dann eintreffen, wenn der Wagen da war, um die beiden Soldaten abzuholen, so waren alle Pläne Hals hinfällig.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu fassen. Und einer der Vorteile des Wartens bestand darin, daß er sich ausruhen konnte, bevor er sich der nächsten Notwendigkeit stellen mußte. Er ließ sich also am Hang nieder und machte sich nicht einmal mehr die Mühe, das Lager zu beobachten, weil er sicher war, sich allein mit seinem Hörsinn ein mentales Bild von den dortigen Geschehnis sen machen zu können. Sein einziges Bemühen bestand nun darin, den Hustenreiz zu unterdrücken, der infolge der unmittelbar zurückliegenden Anstrengungen übermächtig zu werden drohte.

Letztendlich mußte er eine der Techniken anwenden, die ihn Walter der Unterweiser für Situationen wie diese gelehrt hatte. Als Hal auf diese Weise alle Körperreflexe seiner bewußten Kontrolle unterwarf, begriff er, daß er damit weiterhin die noch in ihm verbliebenen Kräfte aufzehrte und er zumindest teilweise in den Zustand der Fixierung zurückkehrte. Aber es gelang ihm, den Hustenreiz zu beherrschen. Und kurz darauf vernahm er aus der Ferne das gedämpfte Heulen von Motoren: ein Wagen, der sich der Versorgungsstelle näherte.

Der Transporter kam mit einer Verspätung von rund anderthalb Stunden. Hätte Hal dies vorher gewußt, wäre er dazu in der Lage gewesen, die Strecke vom Versteck der Esel bis hierher in einem fast gemütlichen Wandertempo zurückzulegen. Doch die Vorsicht hatte

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ihn dazu ermahnt, keinen solchen zeitlichen Vorteil einzuplanen.

Der Transporter kam heran. Die beiden Soldaten des Lagers standen auf, warteten neben der Straße und sahen dem Wagen entgegen. Hinter ihnen lag ihre persönliche Ausrüstung bereit. Bei dem Fahrzeug handelte es sich um eine schwere Version der Erntetransporter, die dasKommando für den Überfall auf die Metallbank von Masenvale und die Düngemittelanlage verwendet hatte. Es näherte sich dem Nachschublager, hielt an, wendete und setzte in Richtung der Kisten zurück.

Ganz offensichtlich hatte der Fahrer den Auftrag, die noch an der Versorgungsstelle verbliebenen Güter in die Nachschubzentrale zurückzubringen. Die beiden wartenden Soldaten wandten sich um und schickten sich an, beim Aufladen zu helfen. Hal öffnete die Sicherheitsschlaufe des Holsters an seinem Oberschenkel, griff mit der rechten Hand nach dem Konusgewehr und schlich am Hang herab, bis er nur noch wenige Meter vom Lager entfernt war und ihn einige Büsche und Sträucher vor vorzeitiger Entdeckung schützten. Die rückwärtige Ladeluke des Transporters war geöffnet, und das gab Hal die Möglichkeit, in die Kabine zu sehen. Der Fahrer saß nach wie vor hinter dem Steuer. Ein dritter Milizionär war ausgestiegen und ging den beiden anderen Soldaten beim Beladen zur Hand.

Hal trat leise hinter den Büschen hervor und legte mit dem Konusgewehr an.

»He, Fahrer, raus mit Ihnen!« sagte er. »Und ihr anderen: Rührt euch nicht von der Stelle!«

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Sie hatten ihn nicht gesehen, und erst der scharfe Klang seiner Stimme machte sie auf ihn aufmerksam. Der Fahrer in der Kabine des Transporters drehte sich ruckartig um und blickte über die Rückenlehne seines Sessels. Er wurde blaß.

»Klettern Sie durch die Frachtkammer und treten Sie zu den anderen!« befahl Hal ihm. »Ich warne Sie. Versuchen Sie keine Tricks.«

»B-bestimmt nicht …«, erwiderte der Mann unsicher. Er hob die Arme und begann schwerfällig damit, sich

durch die schmale Lücke zwischen den beiden Sitzen zu schieben und durch den Ladebereich zu klettern. Anschließend sprang er aus dem Transporter und gesellte sich zu den drei Soldaten hin, die Hal nun musterte. Einer von ihnen war ein etwas älterer Mann, und die beiden Milizionäre, die an der Versorgungsstelle ihren Dienst versehen hatten, wirkten neben ihm fast noch wie Kinder. Ihre kalkweißen Gesichter starrten ihn groß und verblüfft an, und in den Augen schimmerte Furcht.

»Wollen Sie … wollen Sie uns erschießen?« fragte einer von ihnen schrill.

»Wenn Sie sich ruhig verhalten, haben Sie nichts zu befürchten«, erwiderte Hal und fügte hinzu: »Außerdem wartet zunächst noch schwere Arbeit auf Sie.«

14 »Lenken Sie den Transporter langsam zwischen die beiden großen Bäume dort«, sagte Hal.

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Der Fahrer saß vor den Kontrollen des Wagens, neben Hal, dessen Energieschleuder auf die Rippen des Mannes zielte. Hinter ihnen hockten die drei Soldaten im Laderaum des Wagens, an die eine Wand gelehnt, die Hände deutlich sichtbar im Schoß. Und sie starrten auf das Konusgewehr, das über die Rückenlehne des Sitzes auf sie gerichtet war. Abgesehen von der Tatsache, daß Hal seine Aufmerksamkeit zwischen der Route, die sie nahmen, dem Fahrer und den drei Milizionären aufteilen mußte, fühlte er sich recht wohl.

»Noch ein bißchen weiter …«, sagte Hal. »Dorthin!« Sie erreichten den Ort, an dem Hal die Esel

zurückgelassen hatte, die von ihm nicht in Richtung des mit Rukh vereinbarten Treffpunkts gebracht worden waren.

»Dort drüben hin«, wies er den Fahrer mit rauher Stimme an. »An den mit Planen bedeckten Stapel. Setzen Sie mit dem Transporter zurück. Wir nehmen noch weitere Ladung auf.«

Der Fahrer drehte den Lehnknauf und betätigte einige Tasten auf dem Kontrollpult. Das Motorengeräusch wurde leiser und erstarb dann ganz, und als sich das Luftkissen unter dem Transporter auflöste, setzte das Fahrzeug auf. Hal befahl sowohl dem Fahrer als auch den drei Soldaten, aus der hinteren Luke zu klettern und neben dem Stapel mit Explosivstoffen Aufstellung zu beziehen.

»In Ordnung«, sagte er. »Und jetzt werden Sie die Kisten und Taschen in den Frachtraum tragen.«

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Angesichts der drohend auf sie gerichteten Waffe brauchten die vier Männer nur zwanzig Minuten, um die Materialien in den Wagen zu laden, die Hal im Verlauf einiger Stunden von den Rücken der Packtiere genommen, bereitgestellt und mit Planen geschützt hatte. Als sich alle Kisten im Transporter befanden, trug er den Milizionären auf, die Tiere loszubinden und von der Lichtung fortzubringen. Nachdem der letzte Esel freigelassen worden war, ließ Hal die Männer an das Fahrzeug zurückkehren. Während sie vor der geöffneten Heckklappe stehen blieben, stieg Hal ein und hielt auf den Fahrersitz zu.

Dort nahm er Platz und zielte mit dem Konusgewehr auf die Wartenden.

»Und nun …«, sagte Hal. »Fahrer, ich möchte Ihre Uniform, einschließlich Mütze und Stiefel. Ziehen Sie sich aus.«

Der Fahrer starrte ihn an und kam der Aufforderung langsam nach.

»Gut«, sagte Hal, als der Mann nur noch in der Unterkleidung vor ihm stand. »Werfen Sie mir die Sachen zu. Schön. Und jetzt auch die anderen: Legen Sie Ihre Stiefel in den Frachtraum des Wagens!«

Die Soldaten blickten ihn groß an. »Die Stiefel«, wiederholte Hal und ließ den Lauf des

Konusgewehrs von links nach rechts wandern. »Her damit!«

Langsam befolgten die Milizionäre seine Anweisung. Als der letzte Stiefel mit einem dumpfen Pochen auf den

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Metallboden der Ladekammer gefallen war, hob Hal das Gewehr ein wenig an.

»Über die Lichtung zurück, bis ich Ihnen sage, Sie sollen stehenbleiben.«

Die Soldaten wichen von dem Wagen fort und stolperten und schwankten, wenn ihre Füße auf scharfkantige Steine oder dornige Zweige trafen.

»Das reicht!« rief Hal, als sich die Entfernung zu den vier Männern auf rund zwanzig Meter vergrößert hatte. »Sie bleiben dort, bis ich weggefahren bin. Anschließend können Sie zur Straße zurückkehren und dort entweder auf Hilfe warten oder losmarschieren.«

Hal schaltete die Motoren des Transporters ein, und unter dem Fahrzeug bildete sich erneut ein Luftkissen.

»Sie können uns doch nicht einfach hier zurücklassen, ohne Stiefel!« rief der Fahrer. »Sie müssen doch …«

Der Rest seiner Worte verlor sich im Heulen des Antriebs, als Hal den Wagen in Bewegung setzte und fortfuhr. Er beobachtete die vier Männer auf einem Bildschirm, bis sie schließlich hinter den Bäumen und Büschen verschwanden. Anschließend schloß er die Heckklappe und lenkte das Fahrzeug in Richtung Straße.

Hal schätzte, daß die Milizionäre mindestens einige Stunden brauchen würden, um zur Straße zurückzukehren: Einerseits kannte nur der Fahrer den Weg, der sie an das Versteck mit den Eseln herangeführt hatte, und andererseits waren die Männer ohne Kleidung und Stiefel dazu gezwungen, ganz vorsichtig zu gehen und ständig darauf zu achten, wohin sie die Füße setzten. Anschließend standen sie vor der Wahl, entweder

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weiterzumarschieren und barfuß die dreißig oder vierzig Kilometer zurückzulegen, bis die Straße auf eine der verkehrsreicheren Verbindungsrouten stieß – oder die Versorgungsstelle zu suchen, um dort auf Hilfe zu warten.

In zwei Stunden war es dunkel, und dann würden die nackten Füße der Soldaten so sehr schmerzen, daß sie kaum noch gehen konnten. Hal rechnete damit, daß sie sich dafür entschieden, im Nachschublager zu warten. In jedem Fall mußten auch nach Einbruch der Dunkelheit noch einige Stunden vergehen, bis man in der Kaserne, von der aus der Fahrer aufgebrochen war, auf die Überfälligkeit der Rückkehr des Transporters aufmerksam wurde. Die erste Reaktion bestand sicher darin zu vermuten, daß es zu einer Panne oder sonstigen Verzögerung gekommen war und der Wagen am nächsten Morgen eintreffen würde. Hal konnte also davon ausgehen, daß die Miliz erst am kommenden Tag eine entsprechende Überprüfung vorzunehmen bereit war. Und da Barbage davon ausgehen mußte, daß das Nachschublager abgebrochen war, würde wohl kaum jemand von seiner Streitmacht sich an der Versorgungsstelle blicken lassen.

Vor dem nächsten Tag sollte also niemand wissen, daß dieser Transporter von Hal gelenkt wurde. Das bedeutete, er hatte mindestens zehn Stunden Zeit, ihn zu fahren – und sah sich nur mit dem Problem konfrontiert, einer Routineüberprüfung zu entgehen.

Kurz bevor er die Straße erreichte, machte Hal halt und zog sich die Uniform des Fahrers an. Der Mann zeichnete

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sich sowohl durch eine große als auch kräftige Statur aus, und seine Jacke war in den Schultern nur ein wenig zu eng, während Hal in der Hose noch viel Platz hatte. Doch trotz der überdurchschnittlichen Größe des Fahrers waren die Hosenbeine und Ärmel für Hal geradezu lächerlich kurz. Er ging mit einem Achselzucken darüber hinweg, setzte sich auch die Mütze auf und wußte, daß er in der relativen Dunkelheit der Kabine und in dem Schwarz der Uniform bei einer oberflächlichen Kontrolle für einen Milizionär gehalten werden mußte.

Als er sich auf diese Weise verkleidet hatte, schaltete er den Orientierungsschirm ein und betrachtete die Karte der allgemeinen Region zwischen seinem gegenwärtigen Aufenthaltsort und Ahruma. Nach den Angaben zu urteilen, war die Stadt rund zweihundertzehn Kilometer entfernt und bildete das Zentrum eines Spinnennetzes aus größeren und kleineren Straßen.

Irgendwo an der südlichen Peripherie Ahrumas wohnte eine der Sympathisantinnen, mit der Rukh nach Erreichen der Stadt Verbindung hatte aufnehmen wollen, eine Frau namens Athalia McNaughton, die sich ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf gebrauchter Landwirtschaftsgeräte verdiente. Sie mochte Hal helfen können – wenn er sie erreichen konnte. Er mußte den Wagen loswerden und die Ladung verstecken. Und da er noch immer die Personalpapiere und Kreditbriefe bei sich trug, die er bei der Flucht von der Erde mitgenommen hatte, brauchte er Informationen darüber, wie er sie verwenden konnte, ohne sich dadurch zu verraten. In einem Punkt war er sich ganz sicher: Er

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konnte Bleys nur dann entkommen, wenn er Harmonie verließ.

Aufgrund des Reaktors und der Werften verfügte Ahruma über einen kommerziellen Raumhafen, der sogar noch größer war als der der Stadt Zuflucht. Aber es mochte sich für Hal als sehr gefährlich erweisen, den Versuch zu unternehmen, eine Passage zu buchen, ohne zu wissen, an wen er sich wenden konnte.

Wenn Athalia ihm in dieser Hinsicht zu helfen vermochte, waren seine Aussichten wesentlich besser. Ganz gewiß wußte sie nicht, daß er sich ohne den ausdrücklichen Befehl oder die Billigung Rukhs mit ihr in Verbindung setzte. Es würde noch rund eine Woche dauern, bevor die Partisanen Ahrumas die Nachricht von der Aufteilung des Kommandos erhielten. Und andererseits: Bestimmt kannte sie seinen Namen und vermochte ihn als einen der Kämpfer Rukhs zu identifizieren.

Hal schaltete den Orientierungsschirm aus, aktivierte die Fahrtzeituhr und lenkte den Transporter auf die Straße.

Er fuhr eine halbe Stunde lang, bevor er dem ersten anderen Fahrzeug begegnete, und in dieser Zeit legte er über vierzig Kilometer zurück und befand sich inzwischen auf einer zweispurigen Straße, die in die allgemeine Richtung Ahrumas führte. Die Ladung, die für die Esel so schwer gewesen war, stellte für den Transporter keine wesentliche Belastung dar. Mit der für militärische Fahrzeuge erlaubten Geschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern sauste er auf den Luftkissen

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dahin. Wenn es zu keinen Schwierigkeiten kam, so überlegte Hal, konnte er die Stadt in etwa drei Stunden erreichen.

Während er die Fahrt fortsetzte, wurde es allmählich dunkel. Und als sich rechts und links von der Straße immer mehr Häuser zeigten, sah er bald auch die ersten Lampen, die die Fahrbahnen in regelmäßigen Abständen beleuchteten. Hal lauschte dem in der Kabine aufgrund der akustischen Abschirmung nur gedämpft zu vernehmendem Summen der Motoren, und das matte Glühen der Kontrollen des Instrumentenpults vor ihm kontrastierte sanft mit der Dunkelheit der Windschutzscheibe. Allmählich ließ seine emotionale Anspannung nach, die ihm zuvor gewisse Kraftreserven eröffnet hatte. Und als die Wachsamkeit von Körper und Geist nachließ, wurde er sich immer intensiver seiner Erschöpfung bewußt, des Fiebers, der Kopfschmerzen und des Hustenreizes.

Zum erstenmal machte er sich klar, wie sehr ihn die zurückliegenden Anstrengungen belastet hatten, und die Anzeichen der inneren Zermürbung waren unübersehbar und alarmierten ihn. Er mußte sich konzentrieren und brauchte die ganze ihm verbliebene Kraft, um seinen Plan durchzuführen, und er durfte sich erst dann ausruhen, wenn er sich an Bord eines Raumschiffs befand, das von Harmonie gestartet war. Die Partisanen in Ahruma wußten nicht, daß er das Kommando verlassen hatte, aber die lokale Miliz würde in nicht mehr als zwölf Stunden darüber informiert sein: Er hatte sich den drei Soldaten und dem Fahrer gegenüber in voller

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Absicht so verhalten, daß sie zu dem Schluß kommen mußten, es mit einer Einzelaktion Hals zu tun zu haben.

Er hielt es für besser und klüger, nach der Kontaktaufnahme mit Athalia einige Stunden zu schlafen, bevor er sich in den Raumhafenbereich begab. Bis zum Morgengrauen sollte er davon ausgehen können, relativ sicher zu sein. Doch andererseits: Wenn er noch die Nachtstunden ausnutzte und im Terminal eine Passage buchte, ohne dabei befürchten zu müssen, auf Milizionäre zu stoßen, die dort bereits nach ihm Ausschau hielten, so war das Risiko, das er damit einging, noch etwas geringer. Sobald er sich an Bord eines interstellaren Liners befand, konnte er so lange schlafen, wie er wollte.

Hal fühlte sich wie benommen, und er hatte den Eindruck, als habe sich das Gewicht seines Körpers vervielfacht. Er mußte sich dazu zwingen, sich auf die Fahrbahn zu konzentrieren, die sich im Licht der Scheinwerfer des Transporters schier endlos in die Nacht hin zu erstrecken schien. Er dachte daran, sich erneut die Lektionen seiner Mentoren ins Gedächtnis zurückzurufen und den Adrenalinspiegel in seinem Blut zu erhöhen, nahm dann aber Abstand von dieser Idee. Die Vorstellung, auf diese Weise seine Kraftreserven erneut anzuzapfen, war recht verlockend, doch er wußte auch, daß er mit der ihm noch verbliebenen Energie sehr sparsam umgehen mußte, wenn er durchhalten wollte. Erneut schaltete er den Orientierungsbildschirm ein und betrachtete das sich darauf abzeichnende Straßennetz am Rand der Stadt. Die lange Verbindungsroute hatte es ihm ermöglicht, den Großteil der Strecke in recht kurzer Zeit

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zurückzulegen, aber der Verkehr wurde nach und nach dichter, und sicher kam er bald nicht mehr so schnell voran. Er mußte sich jetzt gewissermaßen vorsichtig in die Stadt hineintasten, nur mit Hilfe der Hinweisschilder und des Orientierungsschirms – bis er vor die Haustür Athalias gelangte. In der Nähe seines Zieles konnte er nicht einfach anhalten und jemandem nach dem Weg fragen, der ihn später vielleicht zu identifizieren vermochte.

Die Nacht wurde zu einer grauen Aufeinanderfolge von matt erhellten Kreuzungen und phosphoreszierenden Schildern. Hal gab sich alle Mühe, die Grenzen seines persönlichen Universums enger zu ziehen, so wie vor einigen Tagen, als er es für notwendig gehalten hatten, trotz der Erschöpfung und des Fiebers konzentriert nachzudenken und zu einer Entscheidung zu gelangen. Daraufhin klärte sich sein Blickfeld ein wenig. Seine Reflexe aber wurden langsamer, und dementsprechend reduzierte er die Geschwindigkeit des Wagens und fuhr so vorsichtig, wie er es wagte: Er wollte vermeiden, daß jemand auf ihn aufmerksam wurde und sich fragte, wieso der Milizionär, der den militärischen Transporter lenkte, das Fahrzeug mit auffallender Behutsamkeit steuerte. Er warf einen kurzen Blick auf die Fahrzeituhr und stellte fest, daß er nun schon sechs Stunden unterwegs war. Die schimmernden Ziffern des Chronometers hatten nur akademische Bedeutung für ihn. Subjektiv gesehen schien es sich bei der Zeit, die er in der Kabine verbracht hatte, einerseits um eine Ewigkeit und andererseits doch nur wenige Minuten zu handeln.

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Nach einer Weile steuerte er den Wagen über einen schmalen Weg, der in den architektonischen Irrgarten einer zur einen Hälfte aus kleinen Bauernhöfen und zur anderen aus heruntergekommen wirkenden Läden bestehenden Vorstadt führte. Hinter den Fenstern der Gebäude, an denen er entlangfuhr, brannten keine Lichter, bis er schließlich ein Bauwerk erreichte, das wie ein aufgegebenes Lager aussah, vor dem sich ein erstaunlich hoher und neu aussehender Zaun spannte, an den sich wiederum eine breite freie Fläche anschloß. Auf der einen Seite dieses Gebäudes fiel Licht durch ein Fenster.

Hal hielt den Transporter an und stieg ungelenk aus. Er trat an das verschlossene Tor des Zaunes heran und blickte durch die Drahtmaschen. Hinter dem erleuchteten Fenster hingen keine Gardinen. Aber die Entfernung war zu groß, um festzustellen, ob sich jemand in dem Raum aufhielt. Hal sah sich um und suchte an dem Tor nach einer Klingel oder einem Komgerät, fand aber nichts dergleichen.

Während er noch unschlüssig zögerte, vernahm er ein Knurren und gedämpftes Bellen, und zwei Hunde sprangen von der anderen Seite des Zaunes her an das Tor heran. Hal beobachtete sie erstaunt. Mit Hunden war es ähnlich wie mit Pferden: Normalerweise vermehrten sie sich nicht auf Harmonie, insbesondere keine so großen wie diese. Das bedeutete, daß sie aus einem von der Erde importierten Embryonenstamm hervorgegangen sein mußten – der einen sehr hohen Preis hatte, einen Preis, der in keinem Verhältnis zu dem recht bescheiden wirkenden Betrieb zu stehen schien, der

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in der alten Lagerhalle untergebracht sein mochte. Er wartete. Vielleicht erweckte das Bellen der Hunde die Aufmerksamkeit einer Person, die sich im Gebäude aufhielt.

Aber es kam niemand, und die Zeit verstrich – eine Zeit, die für Hal ausgesprochen kostbar war. Er erwog die Möglichkeit, in den Wagen zurückzukehren und mit dem Transporter einfach durch das geschlossene Tor zu fahren. Doch wenn dies tatsächlich das Heim Athalia McNaughtons war, so würde er dadurch kaum ihre Sympathie gewinnen. Hal überlegte es sich anders, ließ sich im Schneidersitz vor dem Tor nieder, starrte die Hunde an und begann in einem leisen und vibrierenden Falsett zu singen.

Die Hunde bellten weiterhin – zumindest noch eine Weile. Allmählich jedoch verwandelte sich ihr Kläffen in ein schrilles Jaulen. Und nach einigen Minuten waren sie still.

Hal sang einfach weiter. Die Hunde wimmerten leise und wandten sich nervös

hin und her. Schließlich ließ sich erst der eine auf die Hinterpfoten nieder, dann auch der andere. Nach einiger Zeit legte einer von ihnen den Kopf in den Nacken und kläffte leise. Das Jaulen wurde rasch lauter und verwandelte sich in Heulen. Kurz darauf fiel auch der zweite Hund mit ein.

Hal sang weiter. Und das Heulen und Jaulen wurde immer lauter. Es

dauerte nicht lange, und es klang wie eine Begleitung der Stimme Hals. Wieder verstrich eine geraume Weile. Und

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plötzlich knarrte es in der einen Wand des Gebäudes, direkt neben dem Fenster. Eine Tür öffnete sich, und helles Licht fiel auf die freie Fläche jenseits des Zaunes. Die Hunde wurden still.

Eine dunkle und in eine lange Hose gekleidete Gestalt verdeckte einen Teil des hellen Rechtecks, schritt über den Platz und kam auf den Zaun zu. In der einen Hand hielt sie eine Taschenlampe, in der anderen einen kurzen und dicken Gegenstand. Als sie nahe heran war und zur Seite wich, fiel das Licht auf das Gesicht Hals und blendete ihn. Die Gestalt trat auf ihn zu und blieb so dicht vor ihm stehen, daß er sie hätte berühren können, wären nicht das Tor und der Zaun gewesen.

»Wer sind Sie?« Die Stimme war zwar tief, doch eindeutig die einer Frau.

Hal stemmte sich langsam in die Höhe. Die Hunde sprangen auf und an das Tor heran und preßten die Schnauzen durch die Drahtmaschen. Dann und wann gab einer von ihnen ein gedämpftes Jaulen von sich.

»Howard Immanuelson«, erwiderte Hal und lauschte erstaunt dem Klang der eigenen Stimme: Sie hörte sich dunkel und kratzend und rauh an. »Ich gehöre dem Kommando Rukh Tamanis an.«

Das Licht der Taschenlampe erleuchtete nach wie vor sein Gesicht.

»Nennen Sie mir die Namen von fünf weiteren Kommandokämpfern«, verlangte die Frau. »Abgesehen von dem Rukhs.«

»Jason Rowe, Heidrik Falt, Tallah, Joralmon Troy und … Arnos Paja.«

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Das Licht blendete ihn noch immer. »Keiner von Ihnen ist der Offizier des Kommandos«,

lautete die Antwort. »Benennen Sie den stellvertretenden Befehlshaber.«

»Das bin ich, zusammen mit Heidrik Falt«, erwiderte Hal. »James Gotteskind ist tot.«

Für eine Sekunde klebte das Licht der Taschenlampe nach wie vor an seinen Zügen fest. Dann glitt der kleine Scheinwerferkegel über den Transporter hinter ihm, und Hal zwinkerte und wartete darauf, daß sich seine Augen an die jäh zurückgekehrte Dunkelheit gewöhnten.

»Und das da?« fragte die Frau in unverändertem Tonfall.

»Dabei brauche ich Ihre Hilfe«, sagte Hal. »Wir müssen den Wagen verschwinden lassen. Die Ladung allerdings brauchen wir noch.«

»Hm.« Die Gestalt vor Hal bewegte sich, und er hörte, wie das Schloß des Tores aufschnappte. »Fahren Sie ihn rein.«

Hal drehte sich um, und während sich seine Wahrnehmung langsam an die Finsternis anpaßte, schwankte er in Richtung des Luftkissenfahrzeugs zurück, kletterte ächzend hinein und nahm vor den Kontrollen Platz. Ohne die Scheinwerfer einzuschalten, fuhr er den Wagen durch das nun geöffnete Tor und hielt unmittelbar vor dem Gebäude. Als er wieder ausstieg, näherten sich ihm die beiden Hunde scheu und beschnupperten ihn.

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»Zurück!« befahl ihnen die Frau, und daraufhin wichen die Hunde ein wenig von Hal fort. »Kommen Sie rein, damit ich Sie mir im Licht besser ansehen kann.«

Der Raum, in den die Frau Hal führte, schien ihr gleichzeitig als Büro und Wohnzimmer zu dienen. Alles war sehr ordentlich, ohne jedoch zu aufgeräumt zu wirken. Sie blieben stehen und musterten sich gegenseitig. Die Frau mochte gut dreißig Jahre alt sein – vielleicht aber auch ein wenig älter –, hatte recht breite Schultern und ein nicht unattraktives, grobknochiges Gesicht. Ihr Haar war dicht und kurzgeschnitten, so dunkelbraun, daß es fast schwarz wirkte. Ihre cremefarbene Haut erinnerte Hal an die Darstellung auf einem Kameenring, die er in jungen Jahren sehr gemocht hatte. Ihre Augen waren ebenfalls braun und groß, der Mund breit und dünnlippig. Zwar zeigte sie sonst keine Ähnlichkeit mit Rukh, doch ihr Blick offenbarte, in einem etwas geringeren Ausmaß, die gleiche durchdringende Qualität wie auch der der Befehlshaberin des Kommandos.

»Es geht Ihnen schlecht«, stellte die Frau fest. »Setzen Sie sich.«

Hal sah sich um, entdeckte einen gepolsterten Sessel hinter sich und nahm Platz.

»Sie sagten, James ist tot?« Die Frau stand noch immer vor ihm.

Hal nickte. »Seit fast anderthalb Wochen klebt uns die Miliz an den Fersen«, erklärte er, »und wir alle leiden inzwischen an einer Art von Lungeninfektion. James war so erschöpft, daß er nicht weiterkonnte. Er bestand

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darauf, zurückzubleiben und die Streitmacht der Verfolger allein anzugreifen, um uns einen Vorsprung zu verschaffen. Ich half ihm dabei, in Stellung zu gehen …«

Er erinnerte sich erneut an die Botschaft, die Gotteskind ihm für Rukh und die anderen Kämpfer des Kommandos aufgetragen hatte, und er wiederholte sie für die Frau.

»Ich liebte ihn«, antwortete sie schließlich. »Rukh ebenfalls«, sagte Hal. »Rukh ist seine Enkelin«, meinte die Frau. »Ich liebte

ihn.« Allmählich konnte Hal wieder klar sehen. »Sind Sie

Athalia McNaughton?« fragte er. »Ja.« Sie sah aus dem Fenster. »Was befindet sich in

dem Wagen?« »Behälter mit Düngemittel – und andere Materialien

für den Sprengstoff, mit dem Rukh den Reaktor in die Luft jagen will. Können Sie die Sachen verstecken?«

»Hier nicht«, erwiderte Athalia. »Aber ich finde bestimmt einen geeigneten Ort.«

»Der Transporter muß verschwinden«, sagte Hal. »Können Sie …«

Athalia lachte trocken und mit tiefer Stimme. »Das ist wesentlich einfacher. Wir können ihn

demontieren, das Metall auseinanderschweißen und in einzelnen Teilen verkaufen. Der Rest wird einfach verbrannt.« Ihr Blick richtete sich wieder auf Hal. »Was ist mit Ihnen?«

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»Ich muß fort von diesem Planeten«, sagte er. »Ich habe Kreditbriefe und ID-Papiere – alles was nötig ist. Ich brauche nur jemanden, der mir sagt, wie ich im Terminal eine Passage buchen kann, ohne gleich aufzufallen.«

»Echte Kreditbriefe? Und echte ID-Ausweise?« »Ja. Die Papiere sind nicht gefälscht – sie gehörten nur

einmal jemand anderem.« »Zeigen Sie sie mir.« Hal griff in die Innentasche seiner Jacke und holte die

Brieftasche samt Inhalt hervor. Athalia riß sie ihm fast aus der Hand und sah die Unterlagen rasch durch.

»Gut«, sagte sie. »Die Papiere enthalten keine Einträge, die Sie in irgendeine Verbindung mit jemandem bringen könnten, der hier in Ahruma wohnt. Sind Ihre Unterlagen überprüft worden, seit Sie Zuflucht verließen?«

»Nein.« »Noch besser.« Sie reichte ihm die Papiere zurück.

»Ich kann Ihnen nicht direkt helfen. Aber ich bin dazu in der Lage, Sie zu jemandem zu schicken, von dem Sie vermutlich – ich betone: vermutlich – eine Passage kaufen können, ohne das Mißtrauen der Miliz zu erwecken. Er ist nicht so vertrauenswürdig, daß Sie ihm ganz offen von Rukh und dem Kommando erzählen sollten.«

»Ich verstehe.« Hal schob sich die Brieftasche wieder in die Jacke. »Kann ich jetzt gleich zu ihm?«

Athalia musterte ihn mit offensichtlicher Skepsis.

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»Das wäre durchaus möglich«, antwortete sie. »Aber Sie stehen kurz vor einem Zusammenbruch. Warten Sie bis morgen. Ich gebe Ihnen einige Medikamente, die sicherstellen, daß sich die Lungeninfektion nicht verschlimmert, und die es Ihnen ermöglichen, ruhig zu schlafen.«

»Keine Schlafmittel …«, erwiderte Hal aus einem Reflex heraus, den Walter der Unterweiser ihm vor vielen Jahren eingeprägt hatte. »Was sind das für Arzneien, mit denen Sie mein Lungenleiden behandeln wollen?«

»Nur einfache Immunsystem-Stimulanzien«, sagte Athalia. »Machen Sie sich keine Sorgen. Die Medikamente verstärken nur die Produktion körpereigener Abwehrstoffe.«

Sie wandte sich zum Gehen, zögerte dann und drehte sich noch einmal zu ihm um.

»Was haben Sie mit meinen Hunden gemacht?« fragte sie.

Hal runzelte die Stirn und war fast zu erschöpft, um noch konzentriert nachdenken zu können.

»Nichts …«, erwiderte er. »Ich meine, ich weiß es nicht genau. Ich habe nur einfach mit ihnen gesprochen. Das kann man mit jedem Tier, wenn man es nur will. Man braucht nur die Geräusche von sich zu geben, die für sie typisch sind – und man muß an das denken, was man ihnen mitteilen will. Ich habe nur versucht, ihnen zu sagen, ich sei kein Feind.«

»Schaffen Sie das auch mit Menschen?«

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»Nein, bei Menschen funktioniert das nicht.« Hal lächelte trotz seiner Müdigkeit. Und nach einigen Sekunden fügte er hinzu: »Das ist schade, nicht wahr?«

»Ja, das ist wirklich schade«, bestätigte Athalia. Sie wandte sich nun ganz um. »Bleiben Sie hier. Ich hole Ihnen die Medikamente.«

15 Hal erwachte ganz plötzlich, und er verspürte eine Alarmiertheit, deren Ursache er zunächst nicht zu ergründen vermochte. Dann explodierte eine jähe Erkenntnis in ihm, und er erinnerte sich daran, daß er sich dazu hatte überreden lassen zu schlafen, anstatt sich noch in der Nacht auf den Weg zu demjenigen zu machen, der ihm eine Passage fort von Harmonie verkaufen konnte.

Einige Augenblicke lang lag er ruhig auf der Unterlage, die man ihm zur Verfügung gestellt hatte, und er fühlte sich bloß und nackt, so einsam und allein wie vor viereinhalb Jahren, als er auf die Leichen von Walter, Malachi und Obadiah geblickt hatte. In diesen Sekunden, in denen seine Seele zwischen Schlaf und vollem Bewußtsein verweilte, war er erneut ein Kind, ein hilfloser kleiner Junge. Die noch in ihm verbliebene Erschöpfung und das nach wie vor in ihm brennende Fieber waren wie ein schweres Gewicht, das auf ihm lastete, und er war versucht, sich zusammenzurollen, die Decke über den Kopf zu ziehen und sich aus einem Universum der Kälte und Gefah ren in die Wärme und

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Geborgenheit zurückzuziehen, aus der er gerade erwacht war.

Aber irgendwo in weiter Ferne vernahm er den Klang einer warnenden Stimme, die ihn dazu ermahnte, nicht erneut die Augen zu schließen und sich dem Dunkel der Ruhe hinzugeben. Spät, sagte diese Stimme, es ist schon sehr spät … Und das Drängen in Hal war wie ein dichtmaschiges Netz, das einen schwergewichtigen Fisch – seinen Geist – aus dem Meer des Schlafes zerrte. Er setzte sich in der Finsternis auf, und einige Meter entfernt sah er unterhalb seines Augenniveaus einen dünnen Glanzstreifen, den er als das Licht identifizierte, das unter einer geschlossenen Tür hervorschimmerte.

Hal stand auf, tastete sich auf die Tür zu, fand den Knauf und öffnete sie. Er trat in einen schmalen Korridor, und der Lichtschein, der Wände, Decke und Boden des Ganges erhellte, hatte seinen Ursprung hinter einer Biegung vor ihm. Er hielt darauf zu und betrat kurz darauf den Raum, in den ihn Athalia McNaughton nach seiner Ankunft geführt hatte – ein Zimmer, durch dessen Fenster nun das erste Licht des neuen Tages fiel.

»Athalia?« Hals Stimme verhallte rauh, und es blieb alles still.

Er schritt auf die zweite Tür des Raumes zu und zog sie auf. Er sah in ein kleines Büro mit einem winzigen Schreibtisch, an dem Athalia saß und in das Mikrofon eines Holokoms sprach. Sie schaltete das Gerät ab und sah ihn an.

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»Sie sind also von allein aufgewacht«, stellte sie fest. »Na gut. Ich mache Ihnen rasch etwas zu essen, und anschließend brechen wir auf.«

Als Hal fünfundvierzig Minuten später zusammen mit Athalia in einem kleineren Wagen durch das Tor fuhr, war der Militärtransporter vom Vorplatz verschwunden. Er stellte keine entsprechenden Fragen, und Athalia schien nicht dazu bereit zu sein, ihm von sich aus Auskunft zu geben. Sie schwieg.

Auch Hal stand im Augenblick nicht gerade der Sinn nach einem Gespräch. Die wenigen Stunden Schlaf hatten ihm nur noch intensiver klargemacht, wie müde er war, wie sehr das Fieber in ihm wütete. Alle Zellen seines Körpers gellten mit einer gemeinsamen Stimme nach Ruhe und einer Möglichkeit zu genesen. Die ImmunsystemStimulanzien hatten ihm zwar geholfen und das Fieber ein wenig gesenkt – aber eben nur ein wenig. In Kehle und Brust schien ein Feuer zu lodern, und erneut war Hal dazu gezwungen, die Techniken einzu setzen, die Walter ihn gelehrt hatte, um mit dem Hustenreiz fertig zu werden. Hal durfte auf keinen Fall dadurch auffallen, indem er sein Leiden zu offen zeigte.

Athalia hatte ihm darüberhinaus schmerzstillende Mittel und gewöhnliche Weckamine angeboten. Solche Arzneien jedoch konnten Hals mentale Kontrolle beeinträchtigen, und dadurch mochten sie sich letztendlich als sehr nachteilig für ihn erweisen. Nach einer entsprechenden Ablehnung hatte sich Athalia daraufhin sofort dem Problem zugewandt, ihn zu der Person zu bringen, die ihm eine Außenweltpassage

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verkaufen konnte. Es handelte sich dabei um einen Mann namens Adion Corfua. Er war nicht auf Harmonie geboren, sondern stammte von Freiland – ein Frachtagent, der nicht selbst Passagen veräußerte, aber Makler kannte, von denen man stornierte Tickets oder solche Buchungen kaufen konnte, die nicht innerhalb der vorgesehenen Frist wahrgenommen worden waren.

»Ich fahre Sie bis in die Nähe des Terminals«, wandte sich Athalia an Hal. »Von dort aus können Sie dann einen Bus nehmen.«

Anschließend kam es nur noch darauf an, den Hinweisen nach dem Büro der Agentur zu folgen, für die Corfua arbeitete.

Es war ein kalter und trockener Morgen, und ein steifer Wind wehte; am Himmel zeigte sich eine graue und geschlossene Wolkendecke, aus der es jedoch nicht regnete. Kurz bevor Athalia ihn am Vorterminal absetzte, von wo aus er einen Bus nehmen konnte, lenkte sie Hals Aufmerksamkeit auf einen braunen Koffer hinter seinem Sitz – jene Art von Tasche, in der sich für gewöhnlich Außenweltkontrakte befanden.

»Die Verträge darin sind alle echt«, erklärte Athalia, »stammen allerdings von Arbeitern, die nach einem Aufenthalt auf den betreffenden Planeten wieder hierher zurückgekehrt sind. Sie halten demnach einer eingehenden Überprüfung – mit einer Rücksprache bei den Arbeitgebern – nicht stand. Bei einer normalen Routinekontrolle jedoch haben Sie nichts zu befürchten. Behaupten Sie in einem solchen Fall, Sie nähmen einen dringenden Kurierdienst wahr. Lassen Sie sich einen

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Grund dafür einfallen, warum ein Arbeitgeber auf Ihrem Zielplaneten unbedingt Kontraktkopien braucht.«

»Industriesabotage«, erwiderte Hal. »Dadurch wurden einige Computerdateien gelöscht, die Personaldaten beinhalteten.«

»Gut«, sagte Athalia, nickte und warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. »Wie fühlen Sie sich?«

»Ich werde es schon schaffen«, sagte Hal. Sie erreichten das Vorterminal, und als Hal ausstieg,

reichte Athalia ihm den Koffer. Er drehte sich um und sah die Frau noch ein letztes Mal an.

»Vielen Dank«, sagte er. »Richten Sie Rukh und den anderen Mitgliedern des Kommandos meine Grüße aus, wenn sie bei Ihnen eintreffen.«

»Mache ich«, erwiderte Athalia. Ihre Augen wirkten nun sehr dunkel. »Viel Glück.«

»Das wünsche ich all denjenigen, an die James seine letzte Botschaft richtete«, entgegnete Hal.

Angesichts des grauen Tageslichts und der funktioneilen Umgebung klangen diese Worte irgendwie unecht. Athalia gab keine Antwort, betätigte eine Taste und schloß damit die Einstiegsluke des Wagens. Hal wandte sich um, als sie fortfuhr, und er trat an die Stelle, wo der Bus halten würde.

Zwanzig Minuten später stand er vor dem Empfangstresen der Agentur, für die Adion Corfua tätig war.

»Corfua?« fragte der Mann hinter dem Schreibtisch. Er gab etwas in die Tastatur vor sich ein und blickte auf den

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Schirm, den Hal nicht einsehen konnte. Anschließend drehte er sich um und sah in das angrenzende Zimmer, in dem Hal einige weitere Schreibtische erkannte. »Er hat heute Dienst, ist derzeit aber nicht anwesend. Setzen Sie sich doch an seinen Tisch. Es ist der dritte von der Wand aus gesehen, in der zweiten Reihe.«

Hal kam der Aufforderung nach und ließ sich an dem entsprechenden Schreibtisch nieder. Er saß nicht auf einem Ergsessel, sondern einem ungepolsterten Stuhl aus einheimischem Holz, dessen Formgebung Besucher offenbar dazu veranlassen sollte, nicht allzu lange zu bleiben. Aufgrund seines gegenwärtigen Zustandes aber empfand es Hal als eine Wohltat, nicht mehr stehen zu müssen, und er döste halb ein. Einige Minuten später machte ihn das Geräusch sich nähernder Schritte wieder vollkommen wach. Er hob den Kopf und sah einen großen, ein wenig übergewichtigen und gut vierzigjährigen Mann mit schwarzem Schnurrbart und kahlem Schädel vor sich, der auf dem wesentlich weicheren Ergsessel hinter dem Schreibtisch Platz nahm.

»Was kann ich für Sie tun?« fragte der Mann, der Adion Corfua sein mußte. Sein Lächeln war nur angedeutet. Die Pupillen seiner kleinen blauen Augen waren ungewöhnlich groß, und er sah Hal seltsam durchdringend an.

»Ich brauche eine Passage zu den Exotischen Welten«, sagte Hal. »Vorzugsweise nach Mara. Und zwar sofort.«

Er hob kurz den braunen Koffer an, so daß Corfua ihn sehen konnte, und stellte ihn dann wieder ab.

»Ich muß dort einige Papiere abliefern.«

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»Auf welche Höhe beläuft sich Ihr Kredit?« fragte Corfua.

Hal griff nach seiner Reisetasche und holte eine allgemeine Bürgschaft hervor, deren Summe an interstellaren Krediten für die Passage mehr als ausreichte. Dieses Dokument reichte er Corfua.

»Es wird teuer werden«, sagte der Mann gedehnt und betrachtete den Kreditbrief.

»Ich kenne den Preis«, erwiderte Hal und machte sich die notwendige Mühe, ebenfalls zu lächeln, als Corfua kurz den Blick von dem Brief abwandte und ihn ansah. Athalia hatte ihm gesagt, was der Agenturmitarbeiter ungefähr für eine entsprechende Passage verlangen würde. Aber andererseits konnte er sich verdächtig machen, wenn er zu deutlich zeigte, daß der Preis keine Rolle für ihn spielte.

»Worin besteht denn das Problem?« fragte Corfua und ließ das Bürgschaftsdokument auf den Tisch sinken.

»Durch Industriesabotage gingen einige Unterlagen verloren«, antwortete Hal. »Ich bringe Kopien der Papiere.«

»Ach? Kopien von was für Papieren?« »Ihre Aufgabe«, sagte Hal kühl, »besteht nur darin, mir

eine Passage zu besorgen.« Corfua zuckte mit den Schultern. »Ich muß zuerst noch

mit einigen Leuten reden«, erwiderte er. Er stand auf und griff sowohl nach den ID-Papieren Hals als auch nach dem Kreditbrief. »Ich bin gleich zurück.«

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Hal erhob sich ebenfalls und nahm seinem Gegenüber die Dokumente aus der Hand.

»Diese Sachen brauchen Sie nicht«, sagte er, »und ich habe noch einige Dinge zu erledigen. Wir treffen uns in zwanzig Minuten am zentralen Informationsstand des Terminals.«

»Es wird länger dauern …«, setzte Corfua an. »Das sollte es aber nicht«, unterbrach ihn Hal. Durch

die nun entstandene verbale Konfrontation mit dem Agenturmitarbeiter erwachten wieder die durch die Ausbildung in Hal entstandenen phy sisch-psychischen Reflexe, und sein Kopf klärte sich. »Wenn es tatsächlich länger dauert, müßte ich mich an jemand anderen wenden. Nun, wir sehen uns in zwanzig Minuten.«

Damit wandte sich Hal um und verließ das Agenturbüro, ohne die Bestätigung Corfuas abzuwarten. Als er die Eingangstür hinter sich gelassen hatte und außer Sicht war, blieb er stehen und lehnte sich kurz an eine Wand. Der Adrenalinschub hatte ihm nur für kurze Zeit neue Kraft gegeben. Jetzt fühlte er sich wieder schwach und begann zu zittern. Das Hemd unter der Jacke des braunen Anzugs, den er von Athalia erhalten hatte, war schweißnaß. Nach einigen Sekunden straffte sich Hal, schob die Papiere in die Mappe zurück und ging weiter.

Athalia hatte ihn nicht extra darauf hinweisen müssen, daß er im Terminal nur dann sicher sein konnte, wenn er nirgends länger verweilte. Solange er sich bewegte, ging er in der Menge der anderen Passanten und Passagiere

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unter, die selbst für das Auge eines geübten Beobachters fast alle gleich aussahen.

Aus diesem Grund wanderte Hal durch einen Irrgarten aus Gängen und Korridoren, ziellos vorbei an Läden und Geschäften. Die Hälfte des Raumhafenterminals wurde von diesem Handelszentrum beansprucht, das aussah wie eine kleine Stadt unter einem einheitlichen Dach. Die andere Hälfte bestand aus einem industriellen Komplex, in dem die gelandeten Liner und diejenigen Schiffe gewartet wurden, die in der nur wenige Kilometer entfernten Werft gebaut wurden. Selbst nach dreihundert Jahren des interstellaren Raumflugs waren sogar die kleinsten Kurierschiffe eher klobige und schwerfällige Besucher auf der Oberfläche eines Planeten. Diejenigen Liner, die auf diesem Raumhafen gelandet waren, konnten natürlich nicht von der Menge gesehen werden, die nun durch die Ladenstraßen drängte. Aber alle, die sich hier aufhielten, waren sich nicht nur ihrer Nähe bewußt, sondern auch der gewaltigen Klüfte, die Harmonie von den anderen Welten trennten. Und diese enormen Distanzen reduzierten sowohl die Selbstwahrnehmung des Menschen als auch die Einrichtungen und architektonischen Strukturen des Handelszentrums auf etwas Zwergenhaftes.

Dieses Gefühl verschmolz nun mit Hals Müdigkeit, seinem Fieber und den vielen anderen Empfindungen einer profunden Auszehrung, und es war, als werde er auf diese Weise von einem Phantom gejagt. Er kam sich vollkommen schutzlos vor, nackt inmitten seiner Feinde, ein Verräter gegenüber all denjenigen, die ihm Vertrauen geschenkt hatten. Um das Leben der verbliebenen

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Kommandokämpfer zu retten, war er nicht nur zu der Entscheidung gelangt, sich selbst von Rukh zu trennen, sondern auch die Explosivstoffe fortzubringen. Tatsächlich handelte es sich dabei um eine gewisse Art von Verrat, denn er wußte, daß die Befehlshaberin niemals ihre Zustimmung dazu gegeben hätte. Das Kommando brauchte jetzt eine ganze Menge Glück, um an die Chemikalien zu gelangen, die Athalia an einem sicheren Ort untergebracht hatte, und es war unwahrscheinlich, daß es der Streitmacht Rukhs gelang, doch noch den Reaktor in die Luft zu sprengen.

Aber die Alternative wäre ihrer aller Tod gewesen. Und nach der Selbstaufopferung James Gotteskinds hatte sich alles in ihm gegen die Vorstellung gesträubt, es könnten noch weitere der Männer und Frauen sterben, denen er in den letzten Wochen so nahegekommen war.

Vielleicht hatte er einen Fehler gemacht, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, aber andererseits schien ihm keine andere Wahl geblieben zu sein. Als Konsequenz daraus ergab sich allerdings nun das Gefühl der tiefen Einsamkeit – einer Isolation, angesichts der sich ein Teil von ihm erstaunt fragte, woher er noch die Kraft nahm, vor seinen Feinden zu fliehen, sich einer Verhaftung zu widersetzen und sich gegen den eigenen Tod zu wehren. Und doch gab er nicht auf, kämpfte weiter, überlegte und plante. Trotz der seine Seele betäubenden Erschöpfung, trotz des Fiebers und der schwermütigen Trauer, die durch die Trennung von den Menschen entstanden war, bei denen er sich seit der Ermordung seiner drei Mentoren zum erstenmal wieder zu Hause gefühlt hatte, brannte in ihm ein von seinem

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Bewußtsein unabhängiger Instinkt des Widerstands mit der Heftigkeit entzündeten Phosphors.

Hal befreite sich aus dem Strudel seiner Gedanken und Gefühle, in dessen Zerren und Reißen er sich zu verlieren gedroht hatte. Es war fast an der Zeit, Adion Corfua am zentralen Informationsstand zu treffen.

Er trat an das Ende der Ladenstraße und betrachtete dort die Karte des Handelszentrums. Er war nur das Äquivalent einiger Häuserblocks von dem großen Platz mit seinen Cafes, Springbrunnen und Anpflanzungen und dem Informationsstand entfernt, und er wandte sich sofort in die entsprechende Richtung.

In der Nähe seines Zieles betrat er ein Geschäft und kaufte sich eine blaue Jacke und eine graue Mütze von der Art, wie er sie auf der Neuen Erde während seines Zwischenaufenthalts auf dem Weg nach Coby gesehen hatte. Nach dem Verlassen des Ladens schob er das Bündel mit der braunen Jacke, die er bei dem kurzen Gespräch mit Corfua getragen hatte, in einen Abfallvernichter. Er beugte sich ein wenig vor, um nicht mehr ganz so groß zu wirken, und er wanderte als ein Passant von vielen anderen über den Platz. Aus den Augenwinkeln beobachtete er den Informationsstand und die Leute, die sich in der Nähe befanden.

Corfua war bereits anwesend, lehnte an der einen Wand des Standes und hatte offenbar alle Aufmerksamkeit auf eine gedruckte Zeitung gerichtet, die er las. In seiner unmittelbaren Nähe hielten sich keine anderen Personen auf. Die ihm nächste war ein Mann, der einen grünen Freizeitanzug trug und eine ausgehängte Liste mit

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Buchpublikationen betrachtete. Hal hatte ursprünglich die Absicht gehabt, die Wanderung über den Platz fortzusetzen, wenn Corfua noch nicht am Informationsstand eingetroffen sein sollte. Jetzt aber wandte er sich an der nächsten Ecke zur Seite und schritt durch eine abzweigende Straße. Er ging um den ganzen Block herum, erreichte daraufhin den Platz an einer anderen Stelle und setzte von dort aus seinen Weg fort.

Adion lehnte noch immer an der Wand und schien die Zeitung zu lesen. Der Mann im grünen Freizeitanzug war nach wie vor auf die Buchliste konzentriert. Und in ihrer unmittelbaren Nähe hielt sich sonst niemand auf.

Hal blieb nicht stehen. Sein Mißtrauen war nun geweckt, und das erleichterte es ihm, fünf weitere verdächtige Gestalten zu erkennen, vier Männer und eine Frau, die in der Nähe des Kiosks standen und nicht dem allgemeinen Bewegungsmuster der Menge entsprachen.

Die Bewegungen und Verhaltensweisen größerer Menschenmengen, so hatte Malachi ihn gelehrt, bildeten ein Muster, das sich zwar ständig veränderte, aber dem doch eine einheitliche Struktur zugrunde lag. Der alte Dorsai hatte den jungen Hal mit einem Kaleidoskop üben lassen – einer Röhre mit beweglichem Ende und einer Lampe, die, wenn man sie einschaltete, ständig andere prismenartige Farbdreiecke projizierte. Und anschließend hatte er den Jungen auf einen Balkon geführt, von dem aus man auf einen Marktplatz in Denver blicken konnte, einen geschäftigen Ort, der diesem recht ähnlich war. Hals Wahrnehmung war schließlich so sensibilisiert worden, daß Hal all die

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Beobachter identifizieren konnte, die sich im Auftrag Malachis auf dem Platz befanden und Hals Fähigkeiten auf die Probe stellten. Es handelte sich nicht um ein ganz besonderes Verhalten – oder auffallende Inaktivität –, das Hal in die Lage versetzte, diejenigen auszumachen, die nicht dem normalen Bewegungsmuster entsprachen. Man hätte vielmehr meinen können, sie richteten seine Aufmerksamkeit selbst auf sich. Es ließ sich vielleicht damit vergleichen, eine Fälschung vom echten Gemälde zu unterscheiden: Der Fachmann kannte das Werk das betreffenden Meisters so genau, daß er praktisch instinktiv das unechte Bild als solches zu identifizieren vermochte.

Auf diese Weise machte Hal die Beobachter in der relativen Nähe des Informationsstands aus. Es mochte durchaus noch andere geben, die möglicherweise in den Cafes Platz genommen hatten, und Hal war sicher, sie ebenfalls erkennen zu können, hätte er die entsprechenden Örtlichkeiten kontrolliert. Aber er wußte bereits genug. Er gab sich weiterhin als ein Passant unter vielen und wanderte weiter, und an der gleichen Ecke wie zuvor bog er ab. Als er den Platz verlassen hatte, schritt er so rasch aus, wie es ihm möglich war, ohne die besondere Aufmerksamkeit der Personen in seiner Nähe zu erwecken.

Das Hemd unter seiner Jacke war erneut naß – vom Schweiß der Anspannung und Erschöpfung. Inzwischen war die Miliz von Ahruma sicher benachrichtigt worden, und vermutlich hatte man all denjenigen, die interstellare Passagen verkauften, sein Bild gezeigt – insbesondere Leuten wie Corfua, die so sehr am Rand der Legalität

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arbeiteten, daß sie der lokalen Polizei gut bekannt waren. Und wenn Corfua ihn erkannt hatte, so war ihm, um sich selbst zu schützen, gar nichts anderes übriggeblieben, als ihn zu denunzieren.

Hal mußte davon ausgehen, daß nun nicht nur im Handelszentrum nach ihm gesucht wurde, sondern vermutlich im ganzen Terminal. Das Problem war jetzt: Konnte er den Eingang des Terminals erreichen und nach draußen gelangen, bevor man ihn trotz seiner neuen Kleidung identifizierte und verhaftete?

Er ging weiter, schnell, aber nicht zu hastig. Er passierte nahezu ein Dutzend Männer und Frauen, deren Art er für Anomalien in der allgemeinen Verhaltensstruktur hielt, doch er konnte nicht bestimmen, ob sie es auf ihn abgesehen hatten oder nach jemand anderem suchten. Nach einigen Minuten schritt er um die letzte Ecke herum und sah vor sich einen der Ausgänge des Terminals. Draußen erblickte er eine Busstation, die eine Verbindung mit der Innenstadt Ahrumas darstellte.

Vier schwarzgekleidete Milizionäre überprüften die Papiere all derjenigen Personen, die das Tor passierten.

Hal wandte sich aus einem automatischen Reflex heraus ab und hielt nun nicht mehr direkt auf den Ausgang zu, sondern einem daneben gelegenen Ort. Er ging rasch weiter und vergrößerte den Winkel nach und nach, bis er schließlich in Richtung eines Korridors unterwegs war, der parallel zur Vorderfront des Terminals verlief.

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Hal war versucht, einen weiteren Adrenalinschub freizusetzen, nur um die Alarmsignale seines erschöpften Körpers zu verdrängen, die ihn immer wieder auf seine Auszehrung aufmerksam zu machen versuchten. Doch er wußte ganz genau, wie wenig Kraft ihm noch verblieben war. Dennoch kostete es ihn erhebliche Mühe, der Verlockung der Bewußtseinsfixierung zu widerstehen, und während er seinen Weg verbissen fortsetzte, zwang er sich dazu, trotz des Fiebers und der Erschöpfung die derzeitige Krisensituation zu analysieren.

Der Feind, mit dem er es zu tun hatte, so erinnerte er sich, war nicht die Miliz, sondern Bleys. Er mußte ihn inzwischen für außerordentlich gefährlich halten, wenn er sich derartige Mühe machte, um ihn, Hal, in seine Gewalt zu bekommen. Sein Ziel bestand ganz offensichtlich nicht unbedingt darin, ihn zu töten, sondern ihn gefangenzunehmen. Schließlich hätte ihn Bleys auf Coby töten können, indem er einfach all diejenigen umbringen ließ, die in dem Bergwerk arbeiteten, in dem auch Hal tätig war. Und soweit Hal wußte, waren die Anderen durchaus zu einer derart großangelegten Aktion fähig, um nur eine einzelne Person auszuschalten.

Also wollte Bleys ihn aus irgendeinem Grund lebend. Deshalb mußte Hals Ziel darin bestehen, entweder der Verhaftung zu entgehen oder sie so sinnlos wie möglich zu machen. Er war sich darüber klar, daß er aufgrund seiner Isolation und des zermürbten Zustands kaum Chancen hatte, diesen Terminal zu verlassen, ohne von der Miliz geschnappt zu werden. Er hatte nach wie vor einige Möglichkeiten, die er auch wahrnehmen wollte,

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doch er mußte die Tatsache akzeptieren, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach von den Soldaten erwischt wurde. Daraus ergab sich das Problem, wie er den eigentlichen Sinn der Verhaftung in Frage stellen konnte.

Es war sicher nützlich, so überlegte Hal, dafür zu sorgen, daß sowohl die Kreditbriefe als auch die ID-Papiere, die es ihm ermöglichten, von einem Planeten auf einen anderen zu gelangen, nicht von der Miliz sichergestellt wurden, wenn er ihnen in die Hände fiel. Wenn er es anschließend irgendwie schaffte, Bleys zu entkommen und ihm dann noch seine Dokumente zur Verfügung standen, konnte er seine Flucht mit einiger Aussicht auf Erfolg fortsetzen.

Hal dachte so konzentriert über die Lösung dieses Problems nach, daß er seiner unmittelbaren Umgebung nur noch geringe Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Er war einfach nur weitergegangen und hatte sich aufs Geratewohl für Nebenkorridore entschieden. Nur noch ein halber Block trennte ihn vom zentralen Platz, als er voraus plötzlich einige Uniformierte sah, die in seine Richtung schritten.

Die Miliz hatte inzwischen also mit der Durchsuchung des ganzen Terminals begonnen – beziehungsweise des Handelszentrums. Als Hal daran dachte, was für eine Mobilisierung von Truppen für ein derartiges Unternehmen erforderlich war, begriff er deutlicher als jemals zuvor die Art der Macht, die die Anderen auf Harmonie ausübten. Wie beiläufig blieb er stehen, betrachtete eine Weile die Auslagen eines Geschäfts und

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setzte sich dann wieder in Bewegung, diesmal in die entgegengesetzte Richtung.

Nach und nach schritt er schneller aus. Er erreichte das Ende des Korridors, wandte sich nach links und hielt nach einem Poststand Ausschau. In einer Entfernung von einigen Häuserblocks entdeckte er einen. Das Gerät buchte von einem der auf eine Bank Harmonies ausgestellten Kreditbriefe, die er als Kämpfer des Kommandos erhalten hatte, einen geringen Betrag ab und stellte ihm einen großen Umschlag zur Verfügung, der bereits mit den lokalen Postwertzeichen versehen war. Rasch holte Hal die ID-Papiere aus der Innentasche seiner Jacke, schob sie in den Umschlag, versiegelte ihn und beschriftete ihn mit folgender Adresse: Amid, Außenbürge der Fakultät für Geschichte, Universität von Ceta. Unten fügte er in Großbuchstaben hinzu: BIS ZUM EINTREFFEN HINTERLEGEN. Auf eine entsprechende Anfrage hin leuchtete auf einem der Monitoren vor ihm die Adresse des Mara-Konsulates in Ahruma auf. Er prägte sie sich ein und ließ sie von der Automatik auf den Brief drucken. Dann schob er den geschlossenen Umschlag in die Beförderungseinheit des Poststands, die ihn mit einem leisen Zischen verschluckte. Mit leeren Händen wandte sich Hal von dem Gerät ab; sein Kopf hatte sich ein wenig geklärt, und er empfand fast so etwas wie Triumph.

Jetzt ging es nur noch darum, die Chancen wahrzunehmen, die ihm noch für eine Flucht aus dem Terminal verblieben waren. Es gab eine Möglichkeit, die Milizionäre, die die Ausgänge des Handelszentrums bewachten, entweder zu bluffen oder ihren Kordon

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gewaltsam zu durchbrechen. Er mochte es schaffen, wenn er selbst wie ein Soldat gekleidet war – er vielleicht sogar die Uniform eines höheren Offiziers trug. Das Problem bestand darin, bei den Milizionären, die nun den Terminal durchsuchten, einen solchen Offizier zu finden, dessen Statur zudem auch noch der Hals entsprach, so daß er nicht gleich aufgrund einer schlecht sitzenden und viel zu kleinen Uniform auffiel. Eine Alternative, so fuhr es Hal plötzlich durch den Sinn, mochte darin bestehen, einem der zivilen Beobachter die Papiere zu stehlen und damit die Kontrollen zu passieren.

Er war nach wie vor nur einen Block vom zentralen Platz entfernt. Als er sich von dem Poststand abwandte, entstand zum erstenmal an diesem Tag so etwas wie Zuversicht in ihm.

»Das ist er – dort drüben!« Es war die Stimme Adion Corfuas. Hal drehte sich um

und erkannte den großen und blaßgesichtigen Mann, der von zwei Beamten in Zivil und fünf Milizionären begleitet wurde und sich ihm nun aus der Richtung näherte, in die Hal sich gerade hatte wenden wollen. Er wirbelte herum – und hinter ihm waren einige weitere Soldaten auf ihn aufmerksam geworden.

»Schnappt ihn euch!« rief Corfua. Hinter sich hörte Hal das Geräusch sich rasch

nähernder Schritte, und die Milizionäre vor ihm liefen ebenfalls los. Er sah nach rechts und links, aber sein Blick fiel nur auf das bruchfeste Glas einiger Ladenfenster. Hal traf eine rasche Entscheidung und hielt auf die Soldaten vor ihm zu.

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Er hätte es fast geschafft, ihre Linie zu durchbrechen und zu entkommen. Sie erwarteten keinen Angriff seinerseits, und sie zögerten einige Augenblicke, als sie ihn auf sich zustürmen sahen. Darüberhinaus hatten sie nicht die Ausbildung Hals genossen. Sie näherten sich ihm von rechts und links und schränkten damit ihre eigene Bewegungsfreiheit ein. Hal sprang ihnen entgegen, und er schlug vier von ihnen nieder. Der fünfte blieb zwar auf den Beinen, taumelte aber. Doch es war den Soldaten immerhin gelungen, ihn so lange aufzuhalten, daß die anderen Milizionäre herankommen konnten. Und die stürzten sich nun auf Hal und überwältigten ihn. Von einem Augenblick zum anderen verausgabte sich der Energieschub, der Hals Muskeln mit neuer Kraft erfüllt hatte. Es waren einfach zu viele Gegner. Hal verlor den Halt; eine Zeitlang spürte er noch die Hiebe, die ihn überall trafen – Schläge, die ihm bald darauf gar keine Schmerzen mehr verursachten. Dann schließlich wurde es dunkel um ihn.

16 Als Hal wieder zu sich kam, lag er auf einem harten, kalten und leicht vibrierenden Untergrund, und kurz darauf hörte er das leise und beständige Summen der Hovermotoren eines Transporters. Seine Arme und Beine schmerzten, und als er versuchte, sie zu bewegen, mußte er feststellen, daß man ihn gefesselt hatte: an den Fußknöcheln, Knien und Handgelenken. Einige Sekunden lang kämpfte er mit aller Kraft gegen das an,

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was ihn hilflos machte, aber die Fesseln lockerten sich nicht. Daraufhin schlief Hal wieder ein.

Als er zum zweitenmal erwachte, ruhte er noch immer auf dem Rücken. Aber die Unterlage war weicher und zitterte nicht mehr, und er hörte nicht mehr das Summen der Motoren. Ein helles Licht blendete ihn, doch der Glanz verblaßte nun allmählich.

»So ist es besser«, sagte eine eindrucksvolle und tönende Stimme, die er kannte. »Und jetzt nehmen Sie ihm die Schellen ab und helfen Sie ihm, sich aufzurichten.«

Mit geradezu erstaunlicher Behutsamkeit entfernten tastende Finger das, was ihn an den Fußknöcheln, dem Knie und den Handgelenken gefesselt hatte. Hände griffen vorsichtig nach ihm und zogen ihn sanft in die Höhe, und irgend jemand legte etwas hinter ihn, was seinen Rücken stützte. In Hals linkem Arm prickelte etwas, doch dieses Empfinden war nicht so stark, daß es ihn hätte verraten und den Personen in seiner Nähe offenbaren können, daß er das Bewußtsein wiedererlangt hatte. Kurze Zeit später jedoch verwandelte sich das Prickeln in angenehme Wärme, die ihn mit neuer Kraft durchströmte und ihm eine herrliche Freiheit gegenüber sowohl der Erschöpfung als auch den Schmerzen verschaffte.

Damit begriff er, wie sinnlos es war, sich weiterhin so zu verhalten, als schliefe er noch. Er schlug die Augen auf, und sein Blick fiel auf die nackten Wände eines kleinen Zimmers, das ganz in der Art einer Gefängniszelle eingerichtet war. Zwei Milizionäre

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standen einige Meter von der schmalen Schlafstelle entfernt. Und der hochgewachsenen Bleys Ahrens überragte sie.

»Tja, Hal«, sagte Bleys ruhig, »jetzt haben wir endlich die Möglichkeit, uns zu unterhalten. Wenn Sie sich damals in Zuflucht zu erkennen gegeben hätten, wären all die Umstände nicht nötig gewesen.«

Hal gab keine Antwort und musterte den Anderen. Das Gefühl der kühlen Entschlossenheit, das er vor Jahren nach der Entscheidung empfunden hatte, nicht in der Letzten Enzyklopädie zu bleiben, entstand erneut in ihm. Er lag ganz still und beobachtete Bleys auf die Art und Weise, die Malachi ihn gelehrt hatte und die es ihm ermöglichte, einen Gegner einzuschätzen.

Bleys ließ sich in dem Ergsessel neben dem Bett nieder, bei dem es sich, wie Hal nun feststellte, um eine Art Koje mit einer nur dünnen Matratze handelte. Er hatte zuvor keinen Ergsessel sehen können, und doch war einer materialisiert, als Bleys eine entsprechende Sitzgelegenheit brauchte.

»Ich sollte Ihnen vielleicht sagen, was ich angesichts des Todes Ihrer drei Mentoren verspürte«, sagte der hochgewachsene Mann. »Ich weiß: Im Augenblick mißtrauen Sie mir und sind vermutlich nicht dazu bereit, mir zu glauben. Doch ich möchte Ihnen trotzdem versichern, daß zu keinem Zeitpunkt die Absicht bestand, irgend jemandem, der sich bei Ihnen zu Hause aufhielt, etwas zuleide zu tun. Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, das zu verhindern, was geschehen ist, so lebten Ihre Lehrer noch.«

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Er hielt kurz inne, aber Hal gab noch immer keinen Laut von sich. Bleys lächelte traurig.

»Wissen Sie, in meinen Adern fließt auch Exotenblut«, fuhr er fort. »Gewaltanwendung widerstrebt mir, vom Töten ganz zu schweigen. Und glauben Sie mir bitte: Ich weiß, daß es für das, was vor viereinhalb Jahren passiert ist, keine gewöhnliche Entschuldigung gibt. Ich will ganz ehrlich sein: Von den drei Männern, denen ich an jenem Abend auf der Terrasse gegenüberstand, konnte mich nur einer derart überraschen, daß ich für eine Weile die Kontrolle über die Situation verlor, was zum Tod Ihrer Mentoren führte.«

Wieder machte er eine kurze Pause, und wieder blieb Hal still.

»Dieser eine Mann«, sagte Bleys, »verhielt sich auf genau die Art und Weise, die ich von ihm nie erwartet hätte. Es war Ihr Lehrer Walter, und er verblüffte mich, indem er mich angriff. Und dieser Angriff war es auch, der mich daran hinderte, meine Leibwächter zurückzuhalten.«

»Ihre Leibwächter?« fragte Hal. Seine Stimme klang so heiser und rauh, daß er sie kaum als die eigene identifizieren konnte.

»Es tut mir leid«, sagte Bleys. »Ich verstehe, daß Sie eine andere Bezeichnung für sie haben. Aber ganz gleich, was Sie jetzt auch glauben: Ihre vorrangige Pflicht an jenem Abend bestand darin, mich zu schützen.«

»Vor drei alten Männern«, warf Hal ein. »Gerade vor diesen drei alten Männern«, bestätigte

Bleys. »Sie waren nämlich alles andere als ungefährlich.

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Sie haben drei meiner vier Leibwächter erledigt, bevor sie selbst ausgeschaltet wurden.«

»Bevor man sie tötete«, berichtigte Hal. Bleys neigte andeutungsweise den Kopf. »Bevor man sie tötete«, bestätigte er. »Umbrachte,

wenn Sie diesen Ausdruck vorziehen. Ich bitte Sie nur zu begreifen, daß ich das, was geschah, nicht etwa plante. Ich hätte es sogar verhindert, wäre ich von Walter nicht so überrascht worden, daß ich die Kontrolle über die Leibwächter verlor.«

Hal wandte den Blick von ihm ab und starrte an die Decke. Kurze Stille schloß sich an.

»Von dem Zeitpunkt an, an dem Sie unser Anwesen betraten«, erwiderte er müde, »lag die Verantwortung für alles, was daraufhin geschah, allein bei Ihnen.«

Die Droge, die man ihm verabreicht hatte, verdrängte sowohl den Schmerz als auch die Benommenheit aus ihm, doch Hal war sich nach wie vor seiner tiefen Erschöpfung bewußt. Und selbst das gedämpfte Licht der Lampen blendete ihn und tat seinen Augen weh. Er schloß die Lider, und kurz darauf vernahm er die Stimme Bleys aus einer anderen Richtung.

»Verringern Sie die Leuchtkraft der Lampen noch ein wenig. Ja, so ist es gut. Und so lange sich Hal Mayne in diesem Zimmer befindet, wird die Beleuchtung weder ausgeschaltet noch verstärkt, es sei denn, er bittet ausdrücklich darum.«

Hal schlug die Augen wieder auf. In der Zelle herrschte nun ein angenehmes Zwielicht. Doch dieses Halbdunkel schien Bleys – selbst in dem Sessel – noch größer zu

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machen. Durch eine vom Fieber und der Droge hervorgerufene Illusion hatte es den Anschein, als rage der Andere weit in die Höhe, geradewegs bis in die Unendlichkeit hinein.

»Sie haben natürlich recht«, sagte Bleys. »Aber ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie trotzdem versuchen würden, meinen Standpunkt zu verstehen.«

»Ist das alles, was Sie von mir wollen?« fragte Hal. Das Gesicht Bleys' blickte aus großer Höhe auf ihn

herab. »Natürlich nicht«, erwiderte er leise. »Ich möchte

Ihnen helfen – nicht nur um Ihrer selbst willen, sondern gewissermaßen als Ausgleich für den Tod Ihrer drei Mentoren, für den ich mich nach wie vor verantwortlich fühle.«

»Und was für eine Art von Hilfe meinen Sie?« Hal lag ganz still und beobachtete ihn.

»Ich möchte Ihnen die Möglichkeit geben«, erklärte Bleys, »das Leben zu führen, das Ihnen von Geburt an bestimmt war.«

»Als ein Anderer?« »Als Hal Mayne, der seine Fähigkeiten ganz nach

Belieben einsetzen kann.« »Als ein Anderer«, sagte Hal. »Sie sind verbohrt, mein junger Freund«, erwiderte

Bleys. »Verbohrt und falsch informiert. Das Bild, das Sie sich aufgrund der falschen Informationen machten, ist vielleicht nicht Ihre Schuld, aber die Verbohrtheit schon. Sie sind viel zu intelligent, als daß Sie uns für nichts

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weiter als durchtriebene Halunken halten würden. Wenn wir das wirklich wären – meine Freunde und ich –, hätten die bewohnten Welten dann zugelassen, daß wir einfach die Macht übernehmen?«

»Wenn Sie dazu fähig genug sind …«, sagte Hal. »Nein.« Bleys schüttelte den Kopf. »Selbst wenn wir

Übermenschen wären, für die uns einige Leute zu halten scheinen, so könnten so wenige von uns doch nicht so viele andere Menschen beherrschen, solange sie das nicht selbst wollen. Und Sie sind so gut ausgebildetworden, daß Sie uns nicht als Übermenschen oder Mutanten sehen. Wir sind nur das, was wir sind – was Sie selbst darstellen: genetische Kombinationen der menschlichen Eigenschaften, die besonders gefördert wurden.«

»Ich bin nicht so wie Sie …« Angesichts der sanften und tiefen Stimme Bleys' hatte Hal für einige Sekunden seinen Haß vergessen. Jetzt wallte der Zorn verstärkt in ihm empor, und er verspürte Übelkeit bei der Vorstellung, zwischen ihm und Bleys könne es irgendeine Art von Gemeinsamkeit geben.

»Selbstverständlich sind Sie das«, sagte Bleys. Hal sah an ihm vorbei und beobachtete die beiden

Milizionäre hinter ihm. Da sich seine Augen inzwischen an das Zwielicht gewöhnt hatten, erkannte er einen der beiden Uniformierten als Offizier. Er konzentrierte sich auf das Gesicht des Mannes und identifizierte Barbage.

»Richtig, Hal«, sagte Bleys und warf einen kurzen Blick über die Schulter. »Sie kennen den Captain, nicht wahr? Das ist Amyth Barbage, der für sie verantwortlich

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ist, so lange Sie sich an diesem Ort befinden. Bitte denken Sie daran, Amyth: Ich habe ein besonderes Interesse an Hal. Sie und Ihre Männer müssen vergessen, daß er jemals etwas mit einem Kommando zu tun hatte. Sie werden ihm nichts zuleide tun – unter gar keinen Umständen. Haben Sie mich verstanden, Amyth?«

»Ja, Großer Lehrer«, erwiderte Barbage. Während er diese Worte aussprach, wandte er den Blick nicht von Hal ab.

»Gut«, sagte Bleys. »Und nun: Die Überwachung dieser Zelle wird so lange unterbrochen, bis ich Ihnen Bescheid gebe, die Tür zu öffnen. Gehen Sie jetzt und warten Sie auf dem Korridor. Ich möchte allein mit Hal sprechen.«

Der Milizionär neben Barbage trat einen Schritt vor und machte Anstalten zu widersprechen. Barbage sah auch weiterhin Hal an, als er mit der einen Hand nach dem schwarzen Ärmel des anderen Soldaten griff. Hal sah, wie sich die Finger des Offiziers tief in den Stoff gruben. Der Mann blieb stehen und schwieg.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Bleys. »Ich bin hier vollkommen sicher. Und jetzt gehen Sie.«

Die beiden Milizionäre verließen die Zelle, und nachdem die Tür hinter ihnen zugefallen war, verriegelte sich das Schloß mit einem leisen Klicken.

»Wissen Sie«, sagte Bleys und wandte sich wieder Hal zu, »Barbage und die anderen verstehen das alles nicht, und eigentlich kann man das auch nicht von ihnen erwarten. Von ihrem Standpunkt aus gesehen muß man einen anderen Menschen, der einem im Weg ist, schlicht

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und einfach erledigen. Die Vorstellung, daß Sie und ich zwar als Einzelpersonen betrachtet recht unwichtig sind, jedoch andererseits Fokuspunkte für große Kräfte darstellen, die für kommende Ereignisse von enormer Bedeutung sind – nun, so etwas begreifen sie einfach nicht. Sie und ich aber sollten wissen, um was es dabei geht. Und wir müssen nicht nur die Bedeutung verstehen, die uns zukommt, sondern uns auch selbst besser kennenlernen.«

»Nein«, sagte Hal. Es gab noch viele andere Dinge, die er Bleys sagen wollte. Aber plötzlich war er nicht zu der dazu notwendigen Anstrengung in der Lage, und somit wiederholte er nur: »Nein.«

»Doch«, sagte Bleys und sah auf ihn herab. »Es tut mir leid, aber ich muß auf diesem Punkt bestehen. Früher oder später müssen Sie sich ohnehin die wahre Essenz aller Dinge klarmachen, und es ist besser für Sie, wenn Sie dabei keine unnötige Zeit verlieren.«

Hal rührte sich noch immer nicht und blickte erneut an die Decke. Die Stimme des hochgewachsenen Mannes hörte sich an wie der sonore Klang eines Fagotts.

»Bei allen praktischen Handlungen handelt es sich angesichts der harten Realität um Notwendigkeiten«, sagte Bleys. »Unsere Aktionen – und mit ›uns‹ meine ich die Anderen – werden sowohl von dem diktiert, was wir sind, als auch von der jeweiligen Situation, in der wir uns befinden. Und in dieser Situation stehen wir Millionen und Abermillionen von gewöhnlichen Menschen gegenüber und haben die Möglichkeit, unser Leben entweder zu dem in einer Hölle oder einem Himmel zu

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machen. Entweder – oder. Dazwischen gibt es nichts. Und niemand von uns kann der Entscheidung ausweichen. Wenn man nicht den Himmel wählt, landet man unweigerlich in der Hölle.«

»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Hal. »Es gibt keinen Grund für eine derartige Entscheidung.«

»Und ob, mein Junge«, erwiderte Bleys sanft. »Den gibt es. Abgesehen von unseren individuellen Fähigkeiten, unserer Ausbildung und der gegenseitigen Unterstützung sind wir doch nur einige wenige Menschen unter vielen anderen. Ohne Freunde und finanzielle Mittel werden wir mit dem Elend konfrontiert. Man kann unsere Knochen brechen, und wir werden ebenso krank wie gewöhnliche Sterbliche. Wenn man auf uns schießt, werden wir verletzt und kommen möglicherweise ums Leben. Wenn wir auf uns achtgeben, leben wir vielleicht einige Jahre länger als der Durchschnittsmensch, aber wir sind keine Unsterblichen. Wir haben die gleichen normalen menschlichen Bedürfnisse; wir sehnen uns nach Liebe, nach Freundschaft. Aber wenn wir uns dazu entscheiden, mit der Masse zu verschmelzen, unsere Andersartigkeit einfach zu ignorieren, so ist es sehr unwahrscheinlich, daß wir jemanden finden, der so ist wie wir, und mit ziemlicher Sicherheit müßten wir in einem solchen Fall ein einsames und isoliertes und sehr armseliges Leben führen. Wir sind in das hineingeboren, was wir sind. Und wie alle anderen Menschen auch haben wir das legitime Recht zu versuchen, das Beste daraus zu machen.«

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»Auf Kosten all der Milliarden Menschen, die Sie gerade erwähnten«, warf Hal ein.

»Und was für einen Preis müssen sie zahlen?« Bleys' Stimme wurde noch etwas tiefer. »Der Preis eines Anderen auf jeweils eine Million gewöhnlicher Menschen dürfte nicht sehr hoch sein. Aber betrachten Sie diese Sache doch einmal von der entgegengesetzten Seite. Was ist mit dem Preis, den Sie von den Anderen verlangen? Wer ist schon dazu bereit, durch das Bemühen, sich in die Masse der Menschen um sich herum einzufügen, ein Leben der Isolation und Einsamkeit zu akzeptieren und tagtäglich die Vorurteile und das Mißtrauen der vielen anderen Männer und Frauen zu ertragen – während gleichzeitig die Menschen, die sich von ihm zurückziehen und nichts mit ihm zu tun haben wollen, von den besonderen Fähigkeiten profitieren und die Früchte seiner Arbeit ernten? Halten Sie das etwa für gerecht? Denken Sie nur an Ihren Geschichtsunterricht; denken Sie an all die intellektuellen Riesen, an die Männer und Frauen, die die Zivilisation weiterentwickelten und gleichzeitig einen Großteil ihrer Kraft darauf verwenden mußten, inmitten der einfacheren Leute, die sie aufgrund ihres Wesens fürchteten und ihnen mißtrauten, zu überleben. Titanen der Intelligenz, die sich Tag für Tag ducken und kleiner machen mußten, um ihre Andersartigkeit zu verbergen und nicht die Ängste ihrer Mitmenschen zu wecken. Vom Beginn der Menschheitsgeschichte an war es immer gefährlich, anders zu sein. Und immer war es eine Entscheidung zwischen den vielen, die einen leicht auf ihren Schultern tragen konnten, und demjenigen, der die

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vielen allein schleppen mußte, der zwar über eine ungleich größere Kraft verfügte, aber angesichts der enormen Last ins Taumeln geriet. Welche dieser beiden möglichen Entscheidungen halten Sie für fairer und angemessener?«

Infolge des Fiebers und der Wirkungen der Droge wirbelten Hals Gedanken dahin. Die Vorstellung eines sich duckenden Riesen erschien ihm irgendwie grotesk.

»Warum sich ducken?« erwiderte er. »Ja, warum sich ducken?« Das weit über ihm im

Halbdunkel schwebende Gesicht Bleys' lächelte. »Beantworten Sie sich diese Frage selbst. Wie alt sind Sie jetzt?«

»Zwanzig«, sagte Hal. »Zwanzig – und noch immer stellen Sie sich diese

Frage? Als Sie älter wurden, haben Sie da nicht das Gefühl einer zunehmenden Isolation verspürt und den Eindruck gehabt, sich immer weiter von Ihren Mitmenschen zu entfernen? Sahen Sie sich in der letzten Zeit nicht immer mehr mit der Notwendigkeit konfrontiert, bestimmte Dinge selbst in die Hand zu nehmen – Entscheidungen nicht nur für sich selbst zu treffen, sondern auch für die Personen in Ihrer Begleitung, die dazu nicht in der Lage waren? Haben Sie nicht nach und nach die Kontrolle übernommen, weil nur Sie begriffen, was getan werden mußte?«

Er zögerte kurz. »Ich glaube, Sie wissen ganz genau, wovon ich

spreche«, fügte Bleys nach einigen Sekunden des Schweigens hinzu. »Zunächst versucht man nur, den

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anderen Menschen zu sagen, was sie tun sollten – weil man nicht glauben kann, nicht glauben will, daß sie so hilflos sind. Doch nach und nach gelangt man zu der Erkenntnis, daß die anderen Männer und Frauen unter der eigenen Anleitung zwar keine Fehler mehr machen, sie aber nie von sich aus verstehen werden, welche Entscheidung getroffen werden muß, wenn es wieder einmal nötig wird, zu wählen. Schließlich hat man genug und übernimmt einfach die Kontrolle. Und die anderen Menschen begreifen nicht einmal, daß man sie wie Schafe führt. Sie glauben, das sei die natürlichste Sache der Welt.«

Bleys hielt erneut inne. Hal lag noch immer auf der Matratze und beobachtete ihn, und er fühlte sich zum Teil von sich selbst losgelöst.

»Ja«, sagte Bleys, »Sie wissen genau, wovon ich spreche. Sie haben bereits solche Erfahrungen gemacht und damit begonnen, die Kluft zu spüren, die Sie von den anderen Menschen trennt. Glauben Sie mir: Dieses Gefühl wird sich mit der Zeit immer mehr verstärken. Ihr Verstand wird noch besser funktionieren und innerhalb kürzester Zeit zu vielen Erkenntnissen gelangen, und das verbreitert und vertieft die Kluft zwischen Ihnen und dem Rest der Menschheit. Bis Sie schließlich einen Punkt erreichen, an dem Sie mit Ihren Mitbür gern kaum mehr verbindet als mit Hunden oder Katzen, die Sie zwar gern mögen, von denen Sie aber wissen, daß sie nicht intelligent sind. Sie werden diesen Umstand zutiefst bedauern, doch Sie können nichts daran ändern, denn die anderen Menschen wären nicht dazu in der Lage, das festzuhalten, was Sie ihnen vielleicht geben wollen; es ist

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ebenso unmöglich wie das Unterfangen, Affen Kunstverständnis beizubringen. Und letztendlich wollen Sie sich von dem Schmerz befreien, von dem die Menschheit nicht einmal weiß, daß Sie ihn verspüren, und deshalb lösen Sie die letzten emotionalen Verbindungen und entscheiden sich für die Stille, die Leere und den Frieden angesichts der Tatsache, das zu sein, was Sie sind – einzigartig und allein, für immer.«

Bleys schwieg. »Nein«, erwiderte Hal nach einigen Sekunden. Er

fühlte sich gleichzeitig schwer und leicht, wie jemand, der unter der Wirkung starker Sedativa steht. »Ich habe nicht die Absicht, einen solchen Weg zu beschreiten.«

»Dann werden Sie sterben«, sagte Bleys ruhig. »Wie die Männer und Frauen in den vergangenen Jahrhunderten, jene intellektuellen Riesen, die uns ähnelten, werden Sie sich umbringen lassen – nur weil Sie schließlich aufhören, nicht ständig darauf zu achten, sich vor der Furcht und dem Mißtrauen Ihrer Mitmenschen zu schützen. Und all das, was Sie waren und hätten sein können, ist dann vergeudet.«

»Wenn das die Konsequenz sein muß, so bin ich bereit, mich ihr zu fügen«, sagte Hal. »Ihre Einstellung kann ich unmöglich teilen.«

»Meinen Sie?« Bleys stand auf, und der Ergsessel schwebte zurück. »Warten Sie nur ab. Der Wille zum Überleben ist stärker, als Sie jetzt vielleicht glauben.«

Er musterte Hal. »Wie ich Ihnen schon sagte«, fügte er hinzu, »fließt in

meinen Adern auch Exotenblut. Glauben Sie etwa, ich

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hätte nicht versucht, dagegen anzukämpfen, als ich mir zum erstenmal klarmachte, was ich bin? Glauben Sie, ich hätte nicht versucht, mich dem Schicksal zu widersetzen, das mir allein aufgrund meines Wesens zukam? Glauben Sie, ich sei zuerst nicht dazu bereit gewesen, mich für ein Einsiedlerdasein zu entscheiden, anstatt meine Fähigkeiten auf die Art und Weise zu verwenden, die Sie für unmoralisch halten? Wie Sie war ich zunächst dazu entschlossen, jeden Preis zu zahlen, um der Verderblichkeit zu entgehen, mich den Menschen in meiner Nähe als eine Art Gott aufzuspielen. Diese Vorstellung erschien mir damals ebenso abstoßend wie jetzt Ihnen. Aber dann schließlich kam ich zu der Erkenntnis, daß ich der Menschheit als einer der Führer und Lehrmeister nicht etwa Schaden zufüge, sondern ihr helfen kann. Und mit der Zeit werden Sie das ebenfalls begreifen.«

Er drehte sich um und schritt auf die Zellentür zu. »Machen Sie auf!« wandte er sich mit lauter Stimme an

die draußen auf dem Korridor wartenden Milizionäre. Als das Geräusch sich nähernder Schritte zu hören war,

richtete Bleys seinen Blick noch einmal auf Hal. »Es spielt keine Rolle, welche Entscheidung Sie jetzt treffen. Eines Tages gelangen Sie ganz sicher an einen Punkt, an dem Sie verstehen, wie töricht es von Ihnen war, sich der Einsicht zu widersetzen und darauf zu bestehen, an diesem Ort zu bleiben, in einer derartigen Zelle, bewacht von Leuten, die im Vergleich mit Ihnen doch kaum mehr sind als kleine und dumme Kinder. Keine der

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Beschränkungen, die Sie sich derzeit selbst auferlegen, ist wirklich notwendig.«

Er zögerte kurz. »Aber die Wahl kommt allein Ihnen zu«, fuhr er fort.

»Ich zwinge Sie zu nichts. Wenn Sie über meine Worte nachgedacht und eingesehen haben, daß Sie sich irrten, so genügt ein Wort. Sagen Sie den Wächtern, Sie hätten es sich überlegt, und bitten Sie sie darum, Sie aus dem Gefängnis fortzubringen, an einen Ort der Bequemlichkeit und Freiheit und des hellen Tageslichts, wo Sie sich in aller Ruhe über Ihren weiteren Weg klarwerden können. Für Ihre Selbstmarterung sind allein Sie verantwortlich. Nun, wie ich sagte: Ich verlasse Sie nun und gebe Ihnen die Möglichkeit, in sich zu gehen.«

Barbage und der andere Milizionär erreichten die Tür und öffneten sie. Bleys trat auf den Korridor, und hinter ihm verriegelte sich wieder das Schloß. Hal beobachtete ihn durch die Gitterstäbe, aber der hochgewachsene Mann drehte sich nicht um und schritt fort. Die beiden Soldaten folgten ihm.

17 Erschöpft fiel Hal in einen tiefen und traumlosen Schlaf, und er hatte keine Möglichkeit festzustellen, wie lange er auf diese Weise ruhte. Aber als er jäh erwachte, zitterte und bebte er am ganzen Körper.

In der Zelle, in der er sich befand, hatte sich nichts verändert. Die Lampen an der Decke emittierten nach

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wie vor einen nur sehr gedämpften Schein. Jenseits der Gitterstäbe der Tür herrschte noch immer völlige Stille. Hal stemmte sich in die Höhe und setzte sich halb auf. Am Fußende des Bettes sah er eine dünne Decke, und er streckte unsicher den einen Arm aus und zog sie zu sich heran.

Einige Sekunden lang reagierte er mit tiefer Erleichterung darauf, sich nun in etwas Weiches hüllen zu können, und fast hätte er darauf die Augen geschlossen und sein Bewußtsein erneut der wohltuenden Schwärze des Schlafes überantwortet. Doch die Decke war kaum dicker als sein Hemd, und die Kälte klebte im Innern seines Leibes fest. Während er sie krampfhaft an das Kinn geklammert hielt, konzentrierte er sich auf seinen zuckenden Körper und versuchte, ihn zu kontrollieren. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf einen unmeßbar fernen Punkt innerhalb seines Geistes und bemühte sich, die ganze mentale Kraft auf diesen Ort zu fixieren.

Eine Zeitlang hatte es den Anschein, als sei er nicht dazu imstande. Infolge der Zermürbung und Ausgezehrtheit fiel ihm diese Aufgabe viel zu schwer, und das Zittern erwies sich als zu heftig. Dann aber zeichneten sich nach und nach erste Erfolge ab. Das Zucken verringerte sich allmählich, und die Muskeln lockerten und entspannten sich.

Noch immer spürte Hal, wie sehr sein Körper dazu bereit war, auf die ihm eigene Art und Weise auf die Kälte in der Zelle zu reagieren. Jetzt jedoch war dieser Drang von den entsprechenden Nervenbahnen getrennt,

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und das gab ihm die Möglichkeit nachzudenken. Er öffnete den Mund, brachte jedoch nur ein unartikuliertes Krächzen hervor. Er konzentrierte sich erneut, räusperte sich und rief: »Es ist eiskalt hier drin! Schalten Sie die Heizung ein!«

Niemand antwortete ihm. Hal rief ein zweites Mal, aber wieder blieb alles still.

Und die Temperatur in der Zelle erhöhte sich nicht. Er blieb ruhig liegen und erinnerte sich an den früheren

Befehl Bleys, wonach die Überwachung der Zelle unterbrochen werden sollte, bis der Andere sie verließ. Inzwischen war Bleys nicht mehr zugegen, und das bedeutete, daß der Raum bestimmt wieder kontrolliert wurde und es deshalb nicht notwendig war, laut zu schreien, um sich bemerkbar zu machen. Gewiß hörte ihn nicht nur jemand, sondern beobachtete ihn auch.

Er ruhte still unter der Decke und hielt nach wie vor die reflexiven Reaktionen seines Körpers auf die Kälte unter Kontrolle, und nach einer Weile richtete er den Blick an die Decke.

»Ich weiß, daß Sie mich hören«, sagte er und zwang sich dazu, ganz ruhig zu sprechen. »Und Sie erinnern sich bestimmt ebensogut Wie ich daran, daß Bleys Ahrens Ihnen die Anweisung gab, mir nichts zuleide zu tun. Er wird gar nicht erfreut sein, wenn er erfährt, daß Sie mich haben erfrieren lassen. Schalten Sie die Heizung ein. Sonst berichte ich ihm von diesem Vorfall, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.«

Er wartete.

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Noch immer antwortete ihm niemand. Er wollte gerade Anstalten machen, seine Worte zu wiederholen, als er begriff, wie wenig Sinn das hatte, da er ganz sicher verstanden worden war. Seine Drohung wäre nur abgeschwächt worden, hätte er sie noch einmal betont.

Nach ungefähr zehn Minuten hörte er vom Korridor her das Getäusch von Schritten, und kurz darauf sah er hinter den Gitterstäben der Zellentür einen hageren Mann, der eine schwarze Uniform trug. Der Milizionär entriegelte das Schloß und trat ein. Das matte Licht fiel auf die Züge Amyth Barbages.

»Es ist nur angemessen, Euch Bescheid zu sagen«, meinte der Mann. Seine Stimme klang seltsam leise und monoton, und man hätte fast meinen können, er spreche im Schlaf.

Hal starrte zu ihm hoch. »Ja«, bekräftige Barbage. »Ich werde es Euch sagen.« Seine Augen glitzerten wie geschliffener und polierter

Obsidian. »Ich weiß, wer Ihr seid«, sagte er gedehnt und sah auf

Hal hinab. Jedes Wort war wie ein Tropfen eiskalten Wassers, das die fiebrige Peripherie von Hals Seele frösteln ließ. »Ihr gehört zu der Dämonenbrut, die uns vor Harmagedon heimsucht – vor der letzten Schlacht, die uns nun kurz bevorsteht. Ja, auch wenn sich alle anderen täuschen mögen: Ich erkenne Euch; ich sehe Euch in Eurer wirklichen Gestalt, mit einem Rachen aus Stahl und einem Kopf, der wie der Schädel eines abscheulichen Ungeheuers ist. Schlau seid Ihr, verschlagen wie eine Schlange. Ihr gebt vor, mir das

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Leben gerettet, mich davor bewahrt zu haben, von dem Abtrünnigen des Herrn getötet zu werden, jenem Kind des Zorns, das im Paß die Waffe auf mich richtete. Und sicher war es Eure Absicht, mir damit zu suggerieren, ich stände in Eurer Schuld – um von Euch als ein Werkzeug gebraucht zu werden, wenn Ihr Euch letztendlich in der Gewalt der wahren Jünger Gottes befindet.«

Barbages Stimme wurde ein wenig schärfer, schien aber noch immer aus weiter Ferne zu kommen.

»Aber ich bin ein Auserwählter und durchschaue somit Euren Plan. Der Große Lehrer hat mir befohlen, Euch nichts anzutun – und ich halte mich an diese Anweisung. Aber er trug mir nicht auf, etwas für Euch zu tun. Ihr seid unsterblich in Eurer Blasphemie und Durchtriebenheit, und deshalb können Euch gewöhnliche Dinge nichts anhaben. Ruft also so laut Ihr wollt – niemand wird Euch Antwort geben. Die Temperatur in dieser Zelle ist nicht verändert worden, seit man Euch hier unterbrachte. Und niemand wird sie erhöhen oder verringern. Wenn Ihr wollt, so wird das Licht der Lampen verstärkt oder noch weiter gedämpft. Aber das ist auch schon alles. Ansonsten werdet Ihr ignoriert; man kümmert sich nicht um Euch, und man bringt Euch nichts und erfüllt Euch auch keine anderen Wünsche. Friert nur und hungert, Ihr verabscheuungswürdiger Abgesandter des Satans.«

Damit drehte sich Barbage um. Hinter ihm verriegelte sich die Zellentür, und Hal war wieder allein.

Hal blieb still liegen und war noch immer damit beschäftigt, das Zittern seines Körpers zu kontrollieren. Nach und nach bereitete ihm das immer weniger Mühe.

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Der Grund dafür war nicht etwa eine Intensivierung seiner mentalen Kraft, sondern vielmehr das Fieber, das nun wieder heftiger in seinem Leib zu wüten begann und die Körpertemperatur steigen ließ. Daraufhin wurde es immer weniger notwendig, die Reflexe im Zaum zu halten. Und Hal schlief erneut ein.

Doch es war ein nur leichter und unruhiger Schlaf, aus dem er ganz plötzlich wieder erwachte, weil sich sein Hals völlig ausgedörrt anfühlte. Der Durst war so enorm, daß Hal die Kraft aufbrachte, das Bett zu verlassen und aufzustehen. Er taumelte durch den Raum an das Waschbecken heran, das man in der gegenüberliegenden Wand verankert hatte. Er drehte den Hahn auf, beugte sich und schluckte etwas von dem eiskalten Wasser, das daraus hervorgurgelte.

Schon nach wenigen Sekunden stellte er fest, daß er nicht mehr trinken konnte. Das Wasser, das seine Kehle durchflossen hatte, schien ihn ganz auszufüllen und drohte, Übelkeit in ihm entstehen zu lassen. Hal wankte an die Koje zurück, ließ sich auf die dünne Matratze sinken und war einen Augenblick später wieder eingeschlafen – nur um kurz darauf ein weiteres Mal hochzuschrecken. Und der brennende Durst, den er zuvor empfunden hatte, zwang ihn zum zweitenmal an das Waschbecken.

Wieder schwankte er darauf zu, und wieder konnte er nur einige wenige Schlucke trinken, bevor Übelkeit in ihm entstand. Alarmiert von seinen nachlassenden Kräften, trat er an die Koje zurück und zog sie an das Waschbecken heran.

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Bei dem Bett handelte es sich zwar nur um ein leichtes Gestell, aber die Anstrengung, es zu bewegen, verausgabte Hal. Sein Kopf dröhnte, und die Muskeln begannen erneut zu zittern. Er zerrte die Koje erst in die eine und dann die andere Richtung, wie eine Ameise, die versucht, einen toten Käfer zu bewegen, der viel schwerer ist als sie selbst, und schließlich gelang es ihm, das Bett ans Becken heranzubringen. Er sank auf die Matratze und schlief augenblicklich ein.

In unregelmäßigen Abständen – es schienen jeweils nur wenige Sekunden vergangen zu sein, aber Hal war sich ziemlich sicher, daß mehr Zeit verstrich – erwachte er, trank und tauchte erneut in die empfindungslose Schwärze.

Auf diese Weise begann eine fiebrige und traumintensive Periode, die einerseits keine meßbare Zeit anzudauern schien, andererseits jedoch eine ganze Ewigkeit umfaßte. Hal erwachte und trank, trank und schlief, erwachte erneut und schluckte Wasser, schlief wieder … Die ganze Zeit über herrschte um ihn herum Stille. Weder der Korridor noch die matt beleuchtete Zelle offenbarten irgendeinen Hinweis darauf, daß man ihn beobachtete.

Hal wußte, daß er noch nie in seinem Leben so krank gewesen war, und ganz tief in seinem Innern regte sich eine Furcht, die er bisher noch nicht kennengelernt hatte. Mal war das Fieber so heftig, daß er schwitzte. Dann wieder fröstelte und zitterte er in der Kälte. Nach und nach wurde er völlig von den Reaktionen und Bedürfnissen seines Körpers vereinnahmt, zuerst von

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den Schüttelfrostanfällen, dann dem brennenden Durst, der es ihm trotzdem unmöglich machte, jeweils mehr als nur einige Schluck Wasser zu sich zu nehmen, den hinter seiner Stirn hämmernden Kopfschmerzen, den wenigen Augenblicken, in denen er völlig wach war, den längeren Perioden der Dunkelheit, die dann und wann von Alptraumbildern erhellt wurden.

Er konnte fühlen, wie die Infektion von der Kraft seines Lebens zehrte. Schließlich ließ das Frösteln nach und wich einem sonderbaren Gefühl des Schwebens und der Behaglichkeit, das Hal fast als angenehm empfunden hätte, wenn es nicht so gespenstisch gewesen wäre. Er vermutete, daß sein Fieber weiter gestiegen war, hatte aber keine Möglichkeit festzustellen, wie hoch es war. Die Kopfschmerzen verringerten sich zeitweise, doch das Atmen fiel ihm immer schwerer, so als füllten sich die unteren Bereiche seines Brustkastens mit irgendeiner Masse auf und als könne er dadurch nur noch in die oberen Lungensektoren Luft saugen. Er stemmte sich in die Höhe und setzte sich auf, und dadurch wurde das Atmen ein wenig leichter. Mit dem Rücken lehnte er an der Wand, in der das Waschbecken integriert war, das Becken auf der einen und der Stuhl daneben auf der anderen Seite.

Irgendwann in dieser Phase vermochte er auch nicht mehr zu schlafen. In seinem Kopf pochten tausend Hämmer der Pein; das Atmen war eine Qual, und die fiebrige Aktivität machte es ihm unmöglich, sich in die Schwärze zurückzuziehen. Die Minuten verstrichen mit marternder Langsamkeit, und wie zögernd wurden sie zu Stunden, die jeweils eine Ewigkeit lang zu sein schienen.

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Die Zeit selbst dehnte sich, und noch immer war Hal völlig allein.

Zum erstenmal seit langem erinnerte sich Hal wieder an die auf Coby gefertigte Bergmannsuhr, die er an dem einen Handgelenk getragen und die man ihm zusammen mit den anderen Sachen zurückgegeben hatte, als Jason Rowe und er nach der Ansprache Bleys Ahrens' aus dem in Zuflucht gelegenen Hauptquartier der Miliz entlassen worden waren. Er hatte sie die ganze Zeit über bei sich gehabt, auch während der Tage und Wochen beim Kommando. Hal hob den linken Arm und stellte überrascht fest, daß ihm das Chronometer nicht abgenommen worden war. Die Zahlenanzeigen des Außenrings glühten wie kleine und farbige Phantome auf dem Metall und teilten ihm mit, daß es irgendwo außerhalb der Zelle elf Uhr dreiundzwanzig abends war.

Hal wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war, seit man ihn in die Zelle gebracht hatte. Doch vielleicht war er dazu in der Lage, eine entsprechende Schätzung vorzunehmen. Er strengte seinen fiebrigen Geist an, überlegte und erinnerte sich, daß es bei seiner Gefangennahme im Raumhafenterminal noch nicht ganz Mittag gewesen war. Er hielt es für ausgeschlossen, daß er sich weniger als einen vollen aus dreiundzwanzig Komma eins sechs Interstellaren Standardstunden bestehenden Harmonietag in der Zelle befand. Wenn er vom Mittag seiner Gefangennahme ausging, einen Tag hinzuzählte und auch die Zeit berücksichtigte, die bis fast Mitternacht dieses Tages verstrichen war, so kam er auf insgesamt anderthalb Tage. Hal suchte in seinen Taschen umher und holte all die Dinge hervor, die er bei Sich

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getragen hatte, als er von den Soldaten überwältigt worden war, doch es befand sich kein Gegenstand darunter, mit dem er Zeichen in die glatte Wand zu ritzen vermochte. Mit der Metalleinfassung der Uhr schließlich gelang es ihm, einen vertikalen Strich in den Verputz zu kratzen, unterhalb des Waschbeckens – so daß das Zeichen nicht von den Überwachungssensoren registriert werden konnte.

Man hatte ihm bisher noch nicht ein einziges Mal etwas zu essen gebracht. Aber Hal war auch nicht hungrig. In der Hitze seines Fiebers schien der Magen geschrumpft zu sein. Er brauchte nur Wasser. Und seinen Durst konnte er mit ein oder zwei Schlucken stillen. Sein größter Wunsch bestand derzeit darin, frei atmen zu können, mit der vollen Kapazität seiner Lungen. Doch diese Erleichterung versagte ihm sein Körper.

Die Tatsache, daß er nur mit großer Mühe Luft holen konnte, sensibilisierte alle seine Instinkte und konzentrierte sie auf das unmittelbare Problem des Überlebens. Die Schwingen des in ihm brennenden Fiebers halfen ihm dabei, neue Kräfte zu mobilisieren. Das Herz klopfte immer schneller, und Hals Verstand arbeitete intensiver und suchte nach einem Ausweg – einer Möglichkeit, sich erneut das ganze Potential seiner Lungen zu eröffnen und auf diese Weise seine Existenz sicherzustellen. Doch der Mangel an notwendigem Sauerstoff stellte ihm immer neue Hindernisse in den Weg. Hal saß ganz aufrecht, den Rücken nach wie vor an die Zellenwand gelehnt, und während er keuchend nach Luft schnappte, war er einerseits körperlich zu Bewegungslosigkeit verdammt, während sich

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andererseits die mentalen Antriebswellen in seinem Bewußtsein auf Hochtouren drehten. Und noch schneller pochte das Herz, reicherte das Blut mit noch mehr Adrenalin an, um gegen den drohenden Erstickungstod anzukämpfen.

Hal wußte zu wenig von der medizinischen Wissenschaft, um sich in allen Details über die Art seiner Krankheit klarzuwerden. Aber das Bemühen, sich der Lähmung der Lungen zu widersetzen und trotzdem zu atmen, weckte seine Überlebensinstinkte. Hal war inzwischen kaum mehr dazu in der Lage, die zusätzliche Kraft aufzuwenden, die dazu erforderlich war, um Wasser aus dem Hahn zu trinken, doch in seinem Geist brannten die großen Feuer des Alarms. Reglos hockte er an der Wand, und langsam verstrich die Zeit, während seine Denkprozesse mit höchster Geschwindigkeit abliefen.

Es gab niemanden, der ihm hätte helfen können. Barbage hatte ihm versichert, er bliebe allein. Und Hal begriff allmählich, daß er tatsächlich nicht mit einem Besucher rechnen konnte – abgesehen vielleicht von Bleys. Zum erstenmal wurde ihm klar, daß Barbage in seinem religiösen Fanatismus seinen, Hals, Tod herbeisehnte und innerhalb der ihm von den Anweisungen des Anderen gesetzten Grenzen alles unternahm, um sich diesen Wunsch zu erfüllen. Wenn sich Hals Zustand noch weiter verschlechterte und ihm niemand half, mußte er sterben.

Es fiel ihm nicht leicht, den drohenden Tod als eine tatsächliche Möglichkeit zu erachten. Bis zu diesen

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Augenblick war es ihm während seines ganzen Lebens leichtergefallen, das Ende des Universums für wahrscheinlicher zu halten als das der eigenen Existenz. Jetzt aber wurde die persönliche Sterblichkeit ebenso real wie die Wände der Zelle um ihn herum. Es mochte nur noch einige Sekunden dauern, bis er starb – wenn nicht ein Wunder geschah.

Hals dahinwirbelnde Gedanken wehrten sich gegen diese Erkenntnis und bemühten sich weiterhin, einen Ausweg zu finden, eine Lösung des Problems. In irgendeinem entfernten Winkel seines Bewußtseins verspürte Hal zum erstenmal in seinem Leben den zugleich kalten und heißen Hauch beginnender Panik. Er unternahm den Versuch, sich auf die semi-autohypnotische Technik zu konzentrieren, die er während seines Aufenthalts in der Letzten Enzyklopädie benutzt hatte, um mit den Phantombildern seiner drei Mentoren zu sprechen. Doch er vermochte sein Bewußtsein nicht ausreichend von der durch das Adrenalin hervorgerufenen Aufpeitschung zu trennen, die seinem Körper zwar half, sich gegen den drohenden Tod zu wehren, der Arbeit des Verstandes jedoch eher zum Nachteil gereichte.

Als er dies begriff, verdoppelte sich seine Panik für einige Sekunden. Dann machte er sich kühl und konzentriert klar, daß er keine Unterstützung zu erwarten hatte und die einzige Hilfe von ihm selbst kommen mußte. Die seit dem Tod der Mentoren verstrichenen Jahre hatten ihn reifer werden und Erfahrungen verinnerlichen lassen, die über die Lektionen durch Malachi, Obadiah und Walter hinausgingen, und all diese

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Informationswerte und Erkenntnisse mußte er nun nutzen.

Die kurze Rückkehr zu rationaler Logik kräftigte den Geist Hals und machte ihn ruhiger. Während der vergangenen Stunden war er ein wenig an der Wand heruntergerutscht. Nun richtete er sich wieder auf und machte sich an eine bewußte und objektive Analyse seiner Situation. Aber das Fieber wütete noch immer wie ein Gift in ihm, und obgleich er sich sehr anstrengte, verflüchtigte sich immer wieder ein Teil seiner Konzentration, und die Gedanken glitten dahin, in eine Zone das Halbdunkels zwischen bewußter Wahrnehmung und den Traumvisionen des Schlafes.

Von einem Augenblick zum anderen sah er sich mit einer verblüffend deutlichen Halluzination konfrontiert, die ihm einsuggerierte, er befände sich wieder in jenen Bergen, in die sich seine Seele kurz nach der Ankunft auf Harmonie und der Ansprache Bleys' zurückgezogen hatte.

Diesmal jedoch träumte er, er läge auf dem Rücken, die Arme und Beine fest an den harten Granit gebunden; und eiskalter Regen ergoß sich mit quälender Beständigkeit auf ihn, ließ ihn zittern und langsam erstarren …

Als Hal erwachte, bebte er tatsächlich am ganzen Körper und hatte erneut einen der Schüttelfrostanfälle. Die dünne Decke war von ihm gerutscht. Er zog sie rasch an sich, kauerte sich auf der Matratze zusammen und blieb vor Anstrengung keuchend liegen. Eine halbe Ewigkeit lang schnappte er nach Luft und kämpfte gegen das Zittern an – bis es aufgrund des sich wieder

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verstärkenden Fiebers langsam nachließ. Und ganz plötzlich entstanden vor seinem inneren Auge ein weiteres Mal visionäre Bilder. Diesmal erblickte er Bleys so, wie er vor vielen Stunden in der Zelle vor ihm gestanden hatte.

»… Sie haben natürlich recht«, hörte Hal den Anderen sagen. »Aber ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie trotzdem versuchen würden, meinen Standpunkt zu verstehen …«

Wie zuvor ragte Bleys weit in die Höhe. Doch jetzt erklang noch eine andere Stimme, die aus der Vergangenheit kam und Walter dem Unterweiser gehörte, und er las Hal die Zeilen eines Gedichts vor, das Verlorenes Paradies hieß:

»… Der Geist ist ein eigener Ort, und in sich Selbst Kann er den Himmel zur Hölle und die Hölle zum Himmel machen. Was spielt es für eine Rolle, wo, wenn noch immer Ich selbst ich sein werde oder was das Schicksal Für mich vorgesehen haben mag? Nichts kann es sein Im Vergleich zu Ihm, der durch Donner wächst …«

Dann verstummte die Stimme Walters und war nicht mehr zu vernehmen, während Bleys weitersprach. Der tiefe Klang der Worte des Anderen hallte in dem fiebrigen Gewölbe des Traumes Hals wider.

»Wir sind in das hineingeboren, was wir sind«, wiederholte Bleys. »Und wie alle anderen Menschen auch haben wir das legitime Recht, das Beste daraus zu machen.«

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»Auf Kosten all der Milliarden Menschen, die Sie gerade erwähnten«, hörte Hal seine Antwort, so als werde sie in weiter Ferne von jemand anderem formuliert.

»Und was für einen Preis müssen sie zahlen?« Bleys' Stimme wurde noch etwas tiefer. »Der Preis eines Anderen auf jeweils eine Million gewöhnlicher Menschen dürfte nicht sehr hoch sein. Aber betrachten Sie diese Sache doch einmal von der entgegengesetzten Seite. Was ist mit dem Preis, den Sie von den Anderen verlangen? Wer ist schon dazu bereit, durch das Bemühen, sich in die Masse der Menschen um sich herum einzufügen, ein Leben der Isolation und Einsamkeit zu akzeptieren und tagtäglich die Vorurteile und das Mißtrauen der vielen anderen Männer und Frauen zu ertragen – während gleichzeitig die Menschen, die sich von ihm zurückziehen und nichts mit ihm zu tun haben wollen, von den besonderen Fähigkeiten profitieren und die Früchte seiner Arbeit ernten? Halten Sie das etwa für gerecht?«

Die tiefe und volltönende Stimme erklang auch weiterhin und hallte in Hal wider, bis sie sich anhörte wie ferner Donner in den Bergen, bis sich in den rumorenden Echos der Sinn der einzelnen Worte verlor. Plötzlich veränderte sich die visionäre Szenerie, und Hal sah wieder die Berge, die er in seiner Jugend so sehr geliebt hatte. Er stand am Ufer des künstlich angelegten Sees des Mayne-Anwesens, spähte ein weiteres Mal durch die Zweige des Gebüschs in Richtung Terrasse, beobachtete, wie sich die drei Männer, die er so gut kannte, ganz plötzlich bewegten – und wie sie starben.

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Und Hal wandte sich ab und floh nach Coby. Erneut befand er sich in dem kleinen Zimmer der Baracke, in der Bergleute unterkamen, in jener ersten Nacht in der Yow Dee Mine, empfand das Gefühl, von dem Bleys gesprochen hatte, verspürte eine seltsame Andersartigkeit, kam sich getrennt und isoliert vor von den in der Nähe Schlafenden. Die Isolation, die Einsamkeit – er glaubte nun, sich an sie zu erinnern, sie schon in jungen Jahren empfunden zu haben, lange, bevor Bleys …

Von einem Augenblick zum anderen versetzte ihn der Fiebertraum wieder nach Harmonie, in die öde Ebene mit dem Turm, dem er entgegenschritt. Dieses Land – er kannte es; es war ihm schon vor dem ersten Traum bekannt gewesen. Er wanderte nun rasch auf den Turm zu, schien ihm jedoch nicht näher zu kommen. Nur eine feste Entschlossenheit ließ ihn weitermarschieren, die unerschütterliche Überzeugung, daß der Turm sein Ziel war, daß er ihn unbedingt erreichen mußte, ganz gleich, wie groß die Entfernung war und wie schwer ihm das Gehen fallen mochte.

Auch diese Vision veränderte sich kurz darauf und wich einer neuen. Er befand sich unter dem tropfenden Blätterdach eines Waldes auf Harmonie, und er sah die vor Erschöpfung taumelnden Kämpfer des Kommandos, die vor der Streitmacht Barbages flohen. Er verließ die Kameraden und half James Gotteskind auf eine kleine Anhöhe, baute ihm dort eine Barrikade, legte ihm die Waffen bereit und überließ ihn dem sicheren Tod.

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»Wie lautet Euer richtiger Name?« fragte James erneut und sah zu ihm auf.

Hal zwinkerte und antwortete: »Hal Mayne.« »… Seid gesegnet im Namen des Herrn, Hal Mayne«,

wandte sich Gotteskind an ihn. »Sagt den anderen, daß ich auch die Kämpfer des Kommandos und Rukh Tamani und all die anderen segne, die unter dem Banner Gottes den Krieg gegen die Unheiligen führen. Und nun geht. Kümmert Euch um diejenigen, deren Schicksal der Herr in Eure Hände gelegt hat.«

Daraufhin drehte sich James um, spähte erneut durch die Schießscharte in der Deckung und beobachtete den Wald unterhalb der Klippe. Hal wandte sich von ihm ab und ließ den älteren Mann auf der Anhöhe zurück …

… Und erwachte schließlich wieder in seiner stillen Zelle, die um ihn herum zur Realität wurde.

18 Hier war es zu keinen Veränderungen gekommen. Doch irgend etwas in ihm ließ Hal zu der Erkenntnis gelangen, daß er gerade einen Schritt in Richtung eines fernen und noch unbestimmten Zieles unternommen hatte. Die Traumvisionen waren hilfreich gewesen, hatten ihm etwas Neues gegeben. Als er erneut die Zellenwände um sich herum sah, fühlte er zum erstenmal, wie er auf fast perfekte Weise zweigeteilt war. Der eine Teil, zu dem er nun Abstand gewann, war der schmerzende Körper, der, wie er nun in vollem Ausmaße begriff, nach und nach

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den Kampf ums Leben verlor, während das Fieber weiter stieg und sich die Lungen immer mehr füllten. Der andere Teil, dem er sich näherte, war das Bewußtsein, dessen Freiheit sich nun zu vergrößern begann, als die ersten Fasern des Stranges rissen, der es normalerweise mit den Erfordernissen des Fleischlichen verband. Hals Seele stand in Flammen, und der Schein des Feuers hellte alle Winkel des Geistes aus.

Auf diese Weise vermochte Hal Dinge zu erkennen, die ihm zuvor verborgen geblieben waren. Er war sich in aller Deutlichkeit der beiden Aspekte der Struktur bewußt, die ihm das Denken ermöglichte. Sie ähnelte einem Gebäude mit zwei Zimmern. Vorne befand sich die lange und schmale und nun strahlend hell erleuchtete Kammer seiner bewußten Gedanken, der Ort, in dem die Logik Ordnung hielt, Fragen systematisch bearbeitete und Antworten entwickelte. Begrenzt wurde dieser Raum von einer türlosen Wand, die ihn von der zweiten Kammer trennte – dem Raum, der sein Unterbewußtsein beherbergte und gewissermaßen die Abstellkammer für all das darstellte, was sich in den Jahren an Erlebnissen und Erfahrungen angesammelt hatte. In den letzten Stunden hatte sich diese Wand verdünnt, entsprechend der Verringerung der Verbindungen zwischen Körper und Geist, hervorgerufen von dem Fieber und dem andauernden Überlebenskampf. Jetzt war die Wand kaum mehr als eine halbdurchsichtige Membran. Darüberhinaus hatte sich der normalerweise grelle Schein der Lampe seiner Überlebensinstinkte abgeschwächt, so daß er, nachdem sich seine mentalen Augen an das nun in ihm herrschende Zwielicht gewöhnt

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hatten, durch die Membran in zuvor nicht erkennbare Ecken blicken konnte.

Im sanften Schein der Erkenntnis, der beide Zimmer erleuchtete und die Trennmembran durchglänzte, erblickte Hal inmitten der rückwärtigen Kammer, inmitten all des mentalen Gerümpels, neue Muster und Identitäten.

Angesichts dieser Erfahrungen konnte er nicht länger leugnen, was er als wahr erachtete. Es war tatsächlich – wie Bleys ihm gegenüber behauptet hatte – notwendig gewesen, früher oder später die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Er hatte Rukh deshalb nicht alles gesagt, weil er wußte, sie wäre gegen seinen Vorschlag gewesen, sich von den Eseln und den Explosivstoffen zu trennen, umden restlichen Kommandokämpfern das Überleben zu ermöglichen. Hal hatte diese Entscheidung getroffen, ohne jemanden um Rat zu fragen – eine Entscheidung zum Wohl aller, die aber nichtsdestotrotz dem von Bleys erwähnten Muster entsprach. Andererseits jedoch lag diesem Verhalten seinerseits ein ganz bestimmter Zweck zugrunde. Ein Zweck außerhalb seiner eigenen Person.

Und in diesem Punkt unterschied er sich grundlegend von Bleys. Nach der Behauptung des Anderen übernahm ein mächtigeres Individuum in erster Linie deshalbVerantwortung und Macht, um das eigene Überleben – das eigene Wohlergehen – zu gewährleisten. Und er hatte angedeutet, daß es abgesehen davon kein anderes erstrebenswertes Ziel gebe. Doch er irrte sich. Tatsächlich gab es ein sogar weitaus bedeutsameres Ziel – nämlich sicherzustellen, daß die ganze Menschheit

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überlebte und so Gelegenheit hatte, zu lernen und reifer zu werden. Diese Zweckbestimmung galt dem Leben selbst, während die, die Bleys vertrat, nur auf eine vergleichsweise kurze Zeit der persönlichen Befriedigung zielte, der unweigerlich der individuelle Tod folgen mußte, woraufhin keine positive Veränderung im Gefüge des Universums verblieb. Die wichtigere Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern, fand ihren Niederschlag in dem Gedicht von dem farbigen Mann, das Hal in den Bergen ersonnen hatte, und die Verse halfen ihm dabei, zu einer Einsicht zu gelangen, die nach und nach in ihm Form annahm.

Es kam bei dem entsprechenden Gedicht vor allen Dingen auf die Struktur der Wortgebilde an – schon in jungen Jahren war Hal dazu imstande gewesen, Zeilen zu Symbolen werden zu lassen, die das zum Ausdruck brachten, was in seinem Unterbewußtsein vor sich ging, was er empfand. Bleys jedoch besaß kein solches Werkzeug, hatte kein über sein eigenes Leben hinausgehendes Ziel, keinen ehernen Wert an sich – nur die Absicht, sich zeitweise ein wenig Bequemlichkeit zu verschaffen, bevor sich das ewige Dunkel über ihn senkte.

Diejenigen Personen, in deren Nähe Hal aufgewachsen war, hatten sich immer durch eine weitaus größere Zweckbestimmung ausgezeichnet. Malachi, Walter und Obadiah waren gestorben, um sicherzustellen, daß Hal weiterleben und zu den jetzigen Erkenntnissen gelangen konnte. Die gefallenen Männer und Frauen des Kommandos Rukhs hatten ihr Leben für ein größeres Ziel gegeben – auch wenn wohl kaum jemand von ihnen

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eine exakte Vorstellung davon besaß. Tam Olyn hatte die langen Jahre seines Lebens darauf verwendet, die Letzte Enzyklopädie zu schützen, die sich eines Tages als das wichtigste Werkzeug der Menschheit erweisen würde. Und auch er selbst hatte von Anfang an gespürt, daß er ein Ziel anstreben mußte, obwohl er sich – wie die Kommandokämpfer – nicht genau über die Beschaffenheit dieses Zieles klar war.

Hal empfand plötzlich eine gewisse Aufregung, als er spürte, nun ganz dicht vor der Entdeckung der Struktur dieses Zieles zu stehen. Angesichts dieses Gefühls wurden die seinen Körper peinigenden Schmerzen zu Belanglosigkeiten. Die Mauern der Zelle um ihn herum schienen von ihm fortzuweichen. Hal drängte alles andere in den Hintergrund und konzentrierte sich allein auf die Tatsache, daß hinter der nun fast ganz transparenten Membran, die die beiden Zimmer seines Bewußtseins unterteilte, sich eine wichtige Einsicht zu formen begann, die ihm eine mögliche Lösung aller seiner Probleme anbot, einen letztendlichen Sieg, den er zuvor nicht für möglich gehalten hatte.

Selbst jetzt konnte Hal diese Lösung nicht deutlich genug erkennen. Aber er spürte ihre Nähe. Und da er nun wieder Mut faßte und neue Hoffnung in ihm emporwogte, arbeitete er sich langsam darauf zu, wobei er die beiden Werkzeuge des Träumens und der Dichtkunst benutzte. Er verband sie miteinander und machte sich zum erstenmal daran, im Schein des Erkenntnislichts den Stapel aus menschlichen Erfahrungen und unbewußtem Verstehen zu erforschen, der sich in einer Ecke hinter der Membran auftürmte.

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Es war fast, als hebe ihn etwas an und ließe ihn fortschweben. Er begriff nun, daß es diese beiden Werkzeuge waren, die ihn schließlich zum fernen Turm seines Traumes bringen würden, der von Anfang an nicht nur sein Ziel gewesen war, sondern das der ganzen Menschheit. Sie warteten nur darauf, von ihm in bewußte Realität geformt zu werden, aus dem Basismaterial der Erinnerungen und Visionen, die die Menschheit von Anfang an – wenn auch unbewußt – zu diesem Zweck eingesetzt hatte. Seit dem Tag, als zum erstenmal Männer und Frauen den Blick über die Kerkerwände der Gegenwart hinaus erhoben und in Richtung einer besseren Zukunft sahen.

All das, was Hal brauchte, befand sich im Erfahrungsgerümpel der Kammer, die sein Unterbewußtsein beherbergte. Um die notwendigen Elemente voneinander zu trennen, brauchte er sich nur von dem Lichtschein der beiden Lampen leiten zu lassen, die für alle Menschen leuchteten: Die eine hieß Notwendigkeit, die andere Traum.

Aus diesem Grund förderte Hal den Prozeß, der sein Bewußtsein zunehmend vom Körper trennte, der sich nach wie vor dem drohenden Tod widersetzte und versuchte, die teilweise gelähmten Lungen mit Luft zu füllen. Er richtete die Aufmerksamkeit seiner Sinne statt dessen auf etwas ganz anderes.

Erneut träumte er, doch diesmal ließ er sich dabei von den Schwingen der Zweckbestimmung tragen.

Das Gesicht eines jungen Mannes sah auf ihn herab, und dahinter konnte er den blauen Sommerhimmel von

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Alterde sehen. Es waren die Züge eines Exoten, wesentlich glatter als die Walters, das Gesicht eines Besuchers. Der junge Mann war ein früherer Schüler Walters, der bei ihm in die Lehre gegangen war, als der Unterweiser noch auf Mara unterrichtet hatte. Sein schlanker Körper war mit einer dunkelbraunen Robe bedeckt, und er stand neben Hal im Wald, unweit des Seeufers. Sie beobachteten eine kleine freie Fläche vor ihnen und die winzigen Leiber der Insekten, die in der Nähe des Ameisenhügels hin und her eilten.

»Man könnte sich solche Geschöpfe als ein einheitliches Wesen vorstellen«, wandte sich der junge Exote an Hal, »und die ganze Gemeinschaft des Ameisenhügels – oder auch eines Bienenstocks – für ein einzelnes Geschöpf halten. In einem solchen Fall wird die individuelle Ameise oder Biene nur zu einem Teil des größeren Ganzen. So wie ein menschlicher Fingernagel: Er ist ein Teil des Körpers und erfüllt eine gewisse Funktion, aber man könnte auch ohne ihn auskommen und sich einen entsprechenden Ersatz wachsen lassen.«

»Ameisen und Bienen«, wiederholte Hal fasziniert. Als er sich ihre Gemeinschaften wie einzelne Geschöpfe vorstellte, fühlte er sich an etwas erinnert. »Was ist mit Menschen?«

Der Exotenlehrer sah mit einem Lächeln auf ihn herab. »Menschen sind Individuen«, antwortete er. »Auch du.

Du brauchst dich nicht unbedingt so zu verhalten wie alle anderen. Ameisen und Bienen haben im Gegensatz zu Menschen nicht die Freiheit, sich selbst zu entscheiden.

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Du kannst zum Beispiel wählen und dein zukünftiges Leben aufgrund der getroffenen Wahl gestalten.«

»Ja, aber …« Hal war hin und her gerissen. Das Bild, das er vor seinem inneren Auge sah, war zu komplex, als daß er alle Einzelheiten hätte erkennen können, und als Achtjähriger reichte seine Ausdruckskraft nicht aus, um es angemessen zu beschreiben. »Ein Mensch braucht nicht unbedingt das zu tun, was ein anderer von der betreffenden Person will. Das weiß ich. Aber was wäre, wenn alle Leute etwas Bestimmtes wüßten und daraufhin entscheiden könnten? Dann würden sie doch vermutlich alle die gleiche Wahl treffen und somit als Einheit handeln, nicht wahr?«

Der Exote lächelte erneut. »Ich glaube, du denkst dabei insbesondere an geistige

Kommunikation«, sagte er. »Darüber spekuliert man schon seit Hunderten von Jahren, und man hat dieser Erscheinung verschiedene Namen gegeben – Telepathie ist einer davon. Aber bei all den Tests, die wir in dieser Hinsicht durchführen konnten, hat sich immer wieder herausgestellt, daß es sich bei der Telepathie nur um ein seltenes Phänomen des Unterbewußtseins handelt. Man kann niemals sicher sein, die Technik der Gedankenübertragung dann anzuwenden, wenn man sie braucht. Die meisten Menschen haben noch nie entsprechende Erfahrungen gemacht.«

»Aber es könnte doch sein«, sage Hal. »Oder?« »Wenn es wirklich möglich wäre, hättest du vielleicht

recht.« In der glatten Stirn über den Augenbrauen des Exoten bildete sich für kurze Zeit eine nachdenkliche

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Falte. Sie verschwand jedoch rasch wieder, und der junge Mann sah Hal lächelnd an. »Vielleicht«, wiederholte er.

Sie wandten sich vom Ameisenhügel ab und richteten ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge des Anwesens. Später hörte Hal, wie der junge Exote allein mit Walter sprach.

»Er ist sehr intelligent, nicht wahr?« fragte der Besucher.

Als Walter antwortete, war seine Stimme zu leise, als daß Hal einzelne Worte hätte verstehen können. Aber er freute sich sehr über das Kompliment des jüngeren Mannes – ein Lob, das seine drei Mentoren ihm in dieser Form nie gegeben hatten. Später offenbarte sich ihm erneut das seltsame Gefühl, noch stärker als zuvor, und er begriff, daß ihm die Frage, die den jungen Exoten so sehr beeindruckt hatte, nicht ganz plötzlich eingefallen war, sondern immer in ihm auf eine Formulierung gewartet hatte, in einem Teil seines Ichs, den er noch nicht kannte. Nach all den inzwischen vergangenen Jahren war Hal nun erneut davon fasziniert, wandte sich innerlich von dem Traum ab und kehrte in die Realität der Zelle zurück.

Jene eine Vorstellung stellte nur einen Teil einer größeren Struktur dar, die ihn bis hierher geführt hatte. Darüber hinaus bildete sie – so schloß der auf Hochtouren arbeitende Verstand des Kranken – einen Teil der Werkzeuge des Verstehens, die er, wie er zuvor festgestellt hatte, durch eine Verbindung der beiden Kammern seines Bewußtseins zu fertigen vermochte. Hal konzentrierte sich, machte sich an eine Erforschung

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dieser Struktur und versuchte dabei, andere Erkenntnisse und Einsichten zu berühren, von denen er zwar einerseits wußte, daß sie sich auf der anderen Seite der Membran befanden, die er aber nach wie vor nicht deutlich sehen konnte. Und noch immer verbargen sich diese Dinge vor ihm. Hal mußte plötzlich daran denken, daß diese versteckten Elemente vielleicht aus einer ferneren Vergangenheit als der seiner bewußten Erinnerungen stammten; möglicherweise wurden sie gerade von dem Geheimnis verhüllt, das er sich immer zu lüften bemüht hatte – dem Rätsel seiner Identität und seiner Herkunft.

Bei dieser Überlegung fiel ihm ein, daß das Unbewußte Dinge verinnerlicht haben mochte, die sich dem Bewußten entzogen. In der rückwärtigen Kammer des Geistesgebäudes mußten sich Erinnerungen befinden, die aus einer Zeit stammten, in der Hal aufgrund zu junger Jahre noch nicht zu bewußten Beobachtungen in der Lage gewesen war. Zum Beispiel Erinnerungen daran, was es mit dem Aufenthalt an Bord eines kleinen Kurierschiffs auf sich hatte, in dem man ihn gefunden hatte. Er schloß die Augen und lehnte sich erneut an die kalte Wand der Zelle in seinem Rücken, und er löste ein weiteres Mal die Verbindung von Körper und Geist, rief eine infantile Vision herbei.

Doch das Bild, das sich schließlich vor seinem inneren Auge formte, war irgendwie enttäuschend. Er konnte etwas sehen, bei dem es sich offenbar um ein Zimmer handelte, aber die Einzelheiten waren verschwommen. Einige Dinge – ein Pilotensessel und einige beständig glühende Lichter auf einem sonderbar hohen Kontrollpult – hingegen zeichneten sich durch eine

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optische Schärfe aus, wie sie für die Wahrnehmung sehr kleiner Kinder typisch sein mochte. Beim Rest jedoch handelte es sich um nichts weiter als konturlosen Nebel. Offenbar, so überlegte Hal, hatte er damals jene Räumlichkeit beobachtet, von der in dem kleinen Raumschiff sowohl die Funktion einer Kontrollkanzel als auch die einer Aufenthaltskabine erfüllt worden war. Nichts von dem jedoch, was er um sich herum zu erkennen vermochte, half ihm dabei, Antworten auf seine Frage zu finden< Es gab weder Anhaltspunkte, aufgrund derer er auf den Zeitpunkt dieser Erinnerung schließen konnte, noch Hinweise auf die Nähe anderer Personen.

Das Gefühl der Enttäuschung verstärkte sich und verwandelte sich in fast so etwas wie Zorn. Sein ganzes Leben lang hatte er immer den sehnlichen Wunsch verspürt zu erfahren, woher er stammte, und er verband das Geheimnis seiner Herkunft mit tausend phantasievollen Vorstellungen. Jetzt gewann er den Eindruck, als hindere ihn irgend etwas daran, sich endlich darüber klarzuwerden und Antworten auf alle seine Fragen zu finden – Antworten, die sich unmittelbar vor ihm befanden und die er dennoch nicht berühren konnte. Wütend konzentrierte er sich auf die innersten Bereiche seines Unbewußten, und seine Gedanken eilten durch finstere Korridore und hämmerten gegen geschlossene Türen. Schließlich riß er eines dieser Tore auf und sah sich mit einer Barriere konfrontiert, deren Existenz er nicht erwartet hatte.

Hals Vorstellungskraft machte sie zu einer Art massivem Schott, einer dicken Tür aus Stahl, die der eines Safes ähnelte. Es war eine unnatürliche Barriere,

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von jemandem errichtet, der weitaus stärker war als Hals gegenwärtiges Selbst – und es war aussichtslos zu versuchen, sie zu überwinden. Schweigend erhob sie sich vor ihm, und ihre Existenz allein stellte eine warnende Botschaft dar, die sich an ihn richtete.

Ich werde mich öffnen, wenn du das, was ich verberge, nicht länger brauchst.

Die Stahltür stellte sich Hal nicht nur als eine Barriere gegenüber, sondern symbolisierte auch eine Niederlage. Gleichzeitig jedoch bestätigte sie etwas, das er oftmals geargwöhnt hatte – und in dieser Hinsicht verwandelte sich die Niederlage in einen Sieg. Allein die Existenz des metallenen Tores war Beweis dafür, daß er mehr war, als sein bewußtes Selbst bisher zu erkennen vermochte. Und sie bedeutete darüber hinaus, daß sie einen Weg versperrte, der bereits von einem anderen Bewußtsein beschritten und als Sackgasse erkannt worden war. Die Barriere stellte demnach eine Art Symbol dar, das ihn dazu aufforderte, einen anderen Pfad zu dem Ziel zu finden, das auch das andere Selbst zu erreichen versucht hatte. Und die Art des neuen Verstehens, die sich Hal in der Zelle offenbarte, ermöglichte es ihm, nun einen entsprechenden Weg zu finden.

Aus diesem Grund kehrte Hal in die Realität der Zelle und seines schmerzenden und leidenden und gegen den drohenden Tod ankämpfenden Körpers zurück. Mit Hilfe einer neuen Freiheit des Willens und des Geistes begann er mit der bewußten Verschmelzung der beiden seelischen Werkzeuge, deren Zweck er erkannt hatte, als es ihm zuvor gelungen war, das Bewußtsein nicht nur

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nach innen zu wenden und damit die Urerinnerungen des Unbewußten zu berühren, sondern auch dessen Fähigkeiten zu nutzen. Während sein Körper sich noch weiterhin bemühte, die Lungen mit Luft zu füllen, begann er mit der Entwicklung eines Gedichts und übermittelte seine entsprechenden Wünsche durch die Membran. Zwischen den Beziehungen derjenigen Dinge, die noch keine klaren Konturen gewonnen hatten, und den Bedeutungen bereits fertig ausgeformter Erkenntnisse suchte er nach dem, was er brauchte.

Und diese Suche hatte schließlich Erfolg und manifestierte sich unmittelbar in den Zeilen eines Gedichts:

HARMAGEDON

Ja, es sind nur Tiere, Wilde ohne Verstand. Nervöse Instinkte, ausgestattet mit Hörnern und Hufen; Stumpf trotten sie zwischen den Tannen umher, Die aussehen wie kleine Auswüchse in der weißen Narrenkappe des Winters. Und unkundig starren sie auf das Band des schneegepflügten Asphalts, Das geschaffen wurde von wissenden Händen an den Hängen der Hügel, Bereit dazu, von den Jägern empfangen zu werden.

Harmagedon. Natürlich. Der Titel und die Worte des Gedichts

loderten so hell vor Hals innerem Auge wie die Zeilen des Werkes über den Ritter, das von ihm in einer der Lesenischen der Letzten Enzyklopädie entwickelt worden war, zwischen den Sternen gebrannt hatten. Damals hatten ihm die Worte eine symbolische Botschaft

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übermittelt und dazu aufgefordert, die Enzyklopädie zu verlassen. Er war nach Coby geflogen, von dort aus weiter nach Harmonie – bis er sich schließlich dem gegenwärtigen Erkenntnisprozeß gegenübersah. Und mit dem neuesten Gedicht hatte er ein Bild von dem selbst erzeugten Kataklysmus gemalt, dem die ganze Menschheit nun entgegentaumelte – so wie ein Betrunkener, der sich nicht über die Konsequenzen seines Verhaltens klarwerden kann.

Natürlich. Harmagedon – oder Ragnarök; der Name spielte keine Rolle – stand ihnen nun allen bevor. Die letzte Schlacht: Sie war wie eine Lawine, die über den langen Hang eines Berges donnerte und dabei alles mit sich riß. Und niemand vermochte länger die Augen vor der drohenden Katastrophe zu verschließen.

Tam Olyn hatte ihm ganz offen und ehrlich davon erzählt. Doch Hal erinnerte sich nun auch an Sost, der in den Felstunneln Cobys davon gesprochen hatte. Und auch Hilary war sich der Gefahr bewußt gewesen, wie Hal nun der Erinnerung an das Gespräch zwischen Jason und ihrem Helfer während der Fahrt nach dem Lager Rukhs entnahm … Und es war noch nicht lange her, daß Barbage hier in dieser Zelle ebenfalls das Wort »Harmagedon« benutzt hatte.

Harmagedon – die letzte und entscheidende Schlacht. Ihr Schatten war wie ein Gewicht, das alle Menschen spüren konnten, selbst diejenigen, die weder jenes Wort kannten noch über das Bedeutungskonzept Bescheid wußten. Hal begriff nun, daß es jeder lebende Mensch spüren konnte – ebenso instinktiv vielleicht, wie Vögel

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und andere Tiere in der Lage waren, trotz eines klaren und blauen Himmels das Heranziehen eines Gewitters zu fühlen. Es war nicht in erster Linie nur eine Frage des bewußten Verstandes: Die Menschheit erahnte zum größten Teil die gewaltigen Kräfte, die sich bereits zu konzentrieren begonnen hatten, bis schließlich das Stadium erreicht war, in dem es zur Entladung der angesammelten Energien kommen mußte.

Es handelte sich dabei um einen Konflikt, dessen Wurzeln bis in prähistorische Zeiten zurückgingen. Als Hal gegenüber dieser Tatsache nun nicht mehr länger die Augen verschloß, sah er auch, daß die Entwicklung während der letzten Jahrhunderte die Zusammenballung dieser historischen Kräfte nur zeitweise hatte verzögern können, während von ihr gleichzeitig die letzte Auseinandersetzung vorbereitet worden war.

All dies kam in allegorischer Form in seinem letzten Gedicht zum Ausdruck. Als er jetzt danach Ausschau hielt, bemerkte er, daß jede Gruppierung vertreten war. Bei den Jägern konnte es sich nur um die Anderen handeln, denen es in erster Linie um individuelle und damit eher profane Bequemlichkeit ging. Die »Tiere«, die »Wilden ohne Verstand« – damit war sicher die große Masse gemeint, gewöhnliche Leute wie Sost und Hilary, die sich nun einem Druck ausgesetzt sahen, den sie nicht verstanden, der sie jedoch in die Hände der Jäger trieb. Und schließlich gab es noch diejenigen, die abseits standen und die Situation so betrachteten, wie sie beschaffen war, mit dem Vorteil, alle Aspekte beobachten zu können, so wie der Leser des Gedichts. Personen also, die wußten, was bevorstand und bereits

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damit begonnen hatten, gegen die drohende Katastrophe anzukämpfen. Leute wie Walter, Malachi und Obadiah, wie Tam, Rukh und Gotteskind. Wie …

Von einem Augenblick zum anderen wurde es sowohl im Korridor jenseits der Gitterstäbe der Tür als auch in der Zelle selbst vollkommen dunkel. Alles um Hal erzitterte einige Sekunden lang. Gleichzeitig ertönte von irgendwoher ein dumpfes Grollen, das dann langsam wieder erstarb – als sei die Lawine, als die er sich Harma gedon vorgestellt hatte, direkt hinter den Wänden der Zelle entlanggerollt.

Tief unten in den Gewölben des Gefängnisses im Hauptquartier der Miliz Ahrumas war das ein sehr sonderbares Geräusch. Kurz darauf wurde es wieder hell.

Hal wartete auf irgendeine Art von Erklärung – darauf, im Korridor das Klacken von Stiefeln zu vernehmen, die Stimmen von Soldaten. Aber nichts dergleichen geschah. Er blieb allein.

19 Nach und nach gab er das Warten auf. Die Hoffnung darauf, daß jemand kam oder er festzustellen vermochte, was das Grollen zu bedeuten hatte, verflüchtigte sich. Und sein Bewußtsein war wie eine Kompaßnadel, die wieder in Richtung der magnetischen Elemente seiner vorherigen Überlegungen zurückzitterte. Er hatte in Gedanken die Namen derjenigen aufgelistet, die sich dazu entschlossen hatten, den Jüngern Harmagedons

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entgegenzutreten, und er war bereit gewesen, einen weiteren Namen hinzuzufügen – seinen eigenen.

Denn Hal begriff nun, daß ihm gar keine andere Wahl blieb, als ebenfalls den Kampf gegen die Katastrophe aufzunehmen. Doch andererseits unterschied er sich auch von den anderen. Im Gegensatz zu ihnen war er bereits in ganz jungen Jahren auf diese Aufgabe vorbereitet worden, zu einer Zeit, an die er sich nicht einmal bewußt zu erinnern vermochte. Schon bevor er in das kleine Raumschiff gebracht worden war, mußte ein entsprechender Plan entwickelt worden sein, der ihn zu einem Krieger für die Schlacht machte, von der er damals noch nicht einmal etwas geahnt hatte.

Erneut sah sich Hal mit der Tatsache konfrontiert, daß sich auf der anderen Seite der Trennmembran, im dunklen Lager seines Unterbewußtseins, Dinge befanden, die aus einem Leben stammten, das über seine gegenwärtige Erinnerung hinausging. In der rückwärtigen Kammer seines Geistes konnte er Antworten spüren, die sich noch vor ihm verbargen. Er empfand plötzlich die Gewißheit, daß der Grund, aus dem er zu einem Krieger gemacht worden war, sich die ganze Zeit über in ihm verborgen hatte.

Die Werkzeuge, mit deren Hilfe er bereits einige Antworten hatte finden können, sollten ihm auch jetzt weiterhelfen. Hal schloß die Augen und ließ seinen Geist erneut von den Wänden der Zelle fortdriften; er tastete sich nach dem Wortmaterial für ein weiteres Gedicht, das ihm zusätzliche Einsichten darbieten mochte.

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Aber es bildeten sich keine Zeilen. Statt dessen entstand eine Vision in ihm, die auf seltsame Weise realer war als die wirkliche Realität – eine Erinnerung an ein Geräusch, das er irgendwann gehört hatte. Dieser Laut hallte nun mit einer Intensität in ihm, daß er glaubte, ihn tatsächlich zu hören. Es war der Klang eines Dudelsacks. Und Hal schluchzte.

Er weinte nicht in erster Linie wegen der Musik, sondern eher wegen ihrer Bedeutung, wegen des Schmerzes und des Kummers, den sie zum Ausdruck brachte. Und er folgte den Weisen der Qual, als pflasterten sie einen Weg für ihn, der ihn zunächst in die Finsternis führte und dann erneut in einen grauen und kalten Herbsttag. In seiner Begleitung, so erkannte er nun, befanden sich verschiedene Personen, die sich gerade an einem frisch ausgehobenen Grab versammelt hatten. In der Nähe wuchsen einige Weiden, die bereits ihre Blätter verloren hatten, und in der Ferne erhoben sich nackte Berggipfel.

Die anderen Leute schienen unnatürlich groß zu sein – bis Hal begriff, daß sich ihm diese Perspektive deshalb darbot, weil er selbst sehr klein war, ein Kind. Die Männer und Frauen, sie waren seine Familie, und obgleich man das Grab nun wieder geschlossen hatte, lag niemand in dem darin untergebrachten Sarg. Auf irgendeine Art und Weise schien die Musik den Platz des Toten einzunehmen. Der Mann, der auf dem Dudelsack spielte und am oberen Ende des Grabes stand, war Hals Onkel. Seine Eltern warteten hinter dem Grabstein, während der Großonkel sich auf der anderen Seite des Grabes befand, gegenüber dem Onkel. Der zweite Bruder

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von Hals Vater war nicht anwesend. Er hatte nicht zurückkehren können, nicht einmal für diese Zeremonie. Unter den anderen Familienangehörigen erkannte Hal seinen sechs Jahre älteren und somit nun sechzehnjährigen Bruder, der ihr gemeinsames Zuhause in zwei Jahren ebenfalls verlassen würde.

Am unteren Ende des Grabes standen einige Nachbarn und Freunde. Wie die Mitglieder der Familie trugen sie schwarze Kleidung – bis auf fünf Personen mit asiatischen Gesichtszügen, deren weiße Klagegewänder einen auffallenden Kontrast zu den dunklen Anzügen der anderen bildeten.

Kurz darauf verklang die Dudelsackmusik, und Hals Vater trat hinkend einen Schritt vor, so daß er mit der einen großen Hand den gewölbten Grabstein berühren konnte. Und er formulierte die Worte, die immer dann ausgesprochen wurden, wenn ein Angehöriger der Familie beerdigt wurde.

»Er ist heimgekehrt.« Die Stimme von Hals Vater war heiser. »Schlaf mit denjenigen, die dich liebten … James, mein Bruder.«

Hals Vater wandte sich von dem Grab ab. Die Zeremonie war zu Ende. Die Familie, die Nachbarn und Freunde – sie alle kehrten nun in das große Haus zurück. Hal blieb hinter ihnen zurück und begab sich, unbemerkt von den anderen, in den Stall.

In dem ihm vertrauten Halbdunkel, das erwärmt wurde von den großen Körpern der Pferde, wanderte er langsam durch den Mittelgang zwischen den Gehegen. Die Pferde hoben die Köpfe über die Türen ihrer Nischen und

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schnaubten ihn an, aber Hal ignorierte sie einfach. Am Ende des Stalles angelangt, hockte er sich auf einen Ballen Heu, der aus dem vergangenen Sommer stammte, und mit dem Rücken lehnte er sich an die harten und runden Balken der Wand. Dort saß er stumm, starrte ins Leere und dachte an James, den er nun nie wiedersehen würde.

Nach einer Weile entstand eine seltsame Kälte in ihm. Sie stammte nicht etwa von dem kühlen und grauen Herbsttag außerhalb des Stalles, sondern hatte ihren Ursprung in ihm selbst. Sie entsprang irgendwo ganz tief in ihm und breitete sich allmählich in seinem ganzen Leib aus. Und während er reglos auf dem Heu hockte, erinnerte er sich an die am Vortage stattgefundene Familienzusammenkunft im Wohnzimmer, an den Bericht des Mannes, der der vorgesetzte Offizier seines toten Onkels gewesen war.

Nach einer Weile hatte sich der Offizier – ein hochgewachsener und hagerer Mann namens Brodsky, der etwa so alt wie Hals Vater war – unterbrochen und ihn angesehen.

»Was ist mit dem Jungen?« fragte Brodsky. Und Hal fühlte sich noch kleiner und empfand eine gewisse Anspannung.

»Nein«, erwiderte sein Vater rauh. »Er hätte ohnehin bald erfahren müssen, wie schnell so etwas geschehen kann. Er soll hier bei uns bleiben.«

Daraufhin entspannte sich Hal wieder. Auch wenn sein Vater eine andere Entscheidung getroffen hätte, wäre er dazu bereit gewesen, sich ihm gegenüber verbal zur

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Wehr zu setzen, um das zu hören, was der Offizier zu sagen hatte.

Brodsky nickte und setzte seinen Bericht fort. »Zwei Ursachen haben zu seinem Tod geführt«, sagte

er gedehnt, »und beide waren nicht unvermeidlich. Erstens: Der Direktor des Rates von Donneswort plante insgeheim, uns mit einem ziemlich hohen Zuschuß zu bezahlen, den William von Ceta ihm versprach.«

Donneswort war eins der Fürstentümer auf Freiland. Und zu dem lokal begrenzten Krieg, in dem James das Leben verloren hatte, war es infolge eines Konflikts zwischen zwei Gemeinschaften des dichtbesiedelten Planeten gekommen – eines Konflikts, der schließlich zu einer militärischen Auseinandersetzung eskaliert war.

»Davon setzte er uns natürlich nicht in Kenntnis«, fuhr der Offizier fort, »denn in einem solchen Fall hätten wir im voraus eine Sicherheitshinterlegung verlangt. Offenbar wußten auch die anderen Ratsmitglieder nicht darüber Bescheid. Williams Interesse galt natürlich in erster Linie der Absicht, entweder Donneswort oder den Gegner zu kontrollieren – oder vielleicht sogar beide. Wie dem auch sei: Der Vertrag wurde unterzeichnet, und von Anfang an hatten unsere Truppen großen Erfolg und stießen in feindliches Territorium vor. Es sah ganz danach aus, als sollten wir keine Schwierigkeiten dabei haben, den Gegner rasch zu besiegen – bis William, und dies geschah erneut ohne unser Wissen, sich von seinem Versprechen gegenüber dem Ratsdirektor lossagte, was vermutlich von vornherein Teil seines Planes war.«

Brodsky hielt inne und sah Hals Vater an.

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»Und damit verfügte Donneswort nicht über die finanziellen Mittel, um Sie zu bezahlen«, sagte er. Der Blick seiner dunklen Augen richtete sich kurz auf Hals Onkel, dann auf seinen Bruder. »Das ist ein Problem, mit dem wir schon in der Vergangenheit zu tun hatten.«

»Ja«, bestätigte Brodsky ruhig. »Nun, der Ratsdirektor versuchte, diese Informationen vor uns geheimzuhalten, bis wir den Gegner zur Kapitulation zwangen – bis dahin schien es damals nur noch einige wenige Tage dauern zu können. Es gelang ihm tatsächlich, nichts davon zu uns durchsickern zu lassen, aber die Spione des Feindes erfuhren davon. Und daraufhin reagierte unser Gegner sofort und entlieh sich von den anderen Staaten Streitkräfte, die er nur im Fall eines Sieges bezahlen konnte – und plötzlich hatten wir es mit einer Ar mee zu tun, die dreimal so groß war wie die in unserem Kontrakt beschriebene.«

Brodsky machte erneut eine kurze Pause, und Hal bemerkte, wie der Offizier ihn kurz ansah.

»Fahren Sie fort«, sagte Hals Vater rauh. »Erklären Sie uns, wie all das zum Tode meines Bruders führte.«

»Ja«, erwiderte der Offizier. »James stand bei uns im Rang eines Truppenführers und befehligte eine kleine Einheit der Miliz von Donneswort. Da er noch recht unerfahren war und wir die Kampfkraft seiner Milizionäre als nicht sonderlich groß einstuften, hielten wir die Einheit in Reserve. Als der Ratsdirektor von der Verstärkung der gegnerischen Streitkräfte erfuhr, geriet er in Panik und versuchte, unsere Truppen einschließlich aller Reservegruppen mit einemmal an die Front zu

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werfen – ein Angriff, der angesichts unserer damaligen Lage natürlich selbstmörderisch gewesen wäre.«

»Und deshalb lehnten Sie ab«, sagte Hals Onkel, der damit zum erstenmal das Wort ergriff.

»In der Tat«, bestätigte Brodsky und warf dem anderen Mann einen kurzen Blick zu. »Unser Oberbefehlshaber wies die Anordnung des Direktors zurück; der Vertrag machte es ihm möglich, und auch sonst hätte er sich kaum anders verhalten. Die Milizeinheiten aber, die nicht von unseren Offizieren geleitet wurden, erhielten einen entsprechenden Befehl und rückten aus.«

»Aber der Junge kann doch keine solche Anordnung bekommen haben«, warf Hals Mutter ein.

»Unglücklicherweise doch.« Brodsky seufzte gedämpft. »Das ist die zweite Sache, die nicht hätte geschehen dürfen. James' Einheit gehörte zu einer Truppe, die an der linken Flanke unserer Stellung positioniert war, und sie stand mit dem Hauptquartier des Kommandos in Verbindung, mit Hilfe eines Kommunikationsnetzes, das fast ausschließlich von Milizionären unterhalten wurde. Einer dieser einheimischen Soldaten empfing die Nachricht, die sich an die Truppen in dem Stellungsgebiet James' richtete. Und in der betreffenden Region wurden alle Milizeinheiten – außer der, der James angehörte – von Milizionären befehligt. Einer der Soldaten des Komnetzes gab sofort die Anweisung zum Ausrücken an alle entsprechenden Truppenteile weiter, bis ihn schließlich jemand darauf hinwies, daß James nur Befehle von einem unserer Kommandeure auszuführen

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verpflichtet war. Da der Milizionär aber nicht die allgemeine Lage kannte und sich offenbar nicht die Mühe machen wollte, eine Überprüfung vorzunehmen, versah er die Anweisung mit dem Namen des Kommandeurs James' und gab sie anschließend an Ihren Bruder weiter.«

Erneut seufzte Brodsky. »James rückte mit seiner Einheit ebenso aus wie alle

anderen Truppen der Miliz«, fuhr er fort. »Es gab da eine Straße, die sie halten sollten – und unmittelbar darauf wurden sie in Kämpfe verwickelt. James muß damals sofort begriffen haben, daß er mit seinen Männern unmöglich auf Dauer einer derartigen Übermacht standhalten konnte. Die Einheiten rechts und links von ihm, die von Milizionären befehligt wurden, verließen ihre Stellungen und flohen. James setzte sich mit dem Kommunikationsnetz in Verbindung, aber der gleiche Soldat wie zuvor geriet ebenso in Panik wie der Ratsdirektor und gab ihm einfach nur die Auskunft, vom DorsaiKommando sei kein Rückzugsbefehl für James eingetroffen.«

Der Offizier unterbrach sich kurz, und es wurde still. »Das war der letzte Kontakt mit seiner Truppe«, fuhr

Brodsky schließlich fort. »Wir glauben, er muß davon ausgegangen sein, daß wir irgendeinen guten Grund dafür hatten, ihn nicht aus seiner aussichtslosen Lage zurückzurufen. Natürlich hätte er sich auf den Söldnerkodex berufen und seine Stellung aus eigener Initiative verlassen können, aber diese Entscheidung traf er nicht. Er gab sich statt dessen alle Mühe auszuharren –

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bis der Gegner schließlich seine Position stürmte und ihn und seine Männer tötete.«

Die Blicke aller Anwesenden im Raum waren auf Brodsky gerichtet.

»Der Komsoldat, von dem ich eben sprach«, sagte der Offizier, »kam rund eine Stunde später ums Leben, als die entsprechenden Stellungen vom Feind überrannt wurden. Wir hätten ihn sonst zur Verantwortung gezogen, und vielleicht wäre es möglich gewesen, Ihnen zumindest eine Entschädigungssumme zukommen zu lassen. Aber Donneswort war pleite, und somit konnten wir nicht einmal das für Sie tun. Wir Überlebenden bekamen vom Gegner gerade die Mittel, die wir brauchten, um nach Hause zurückzukehren. Wir drohten damit, die Hauptstadt von Donneswort ganz allein zu halten, wenn Sie uns nicht die entsprechenden Gelder zur Verfügung stellten. Es war weitaus billiger für den Feind, unsere Verschiffungskosten zu tragen, anstatt uns aus der Stadt zu verdrängen. Und wenn es ihm nicht gelungen wäre, uns innerhalb einer Woche zu schlagen, hätte auch der Gegner Konkurs anmelden müssen und sich außerstande gesehen, die Söldner der anderen Staaten zu bezahlen, die er brauchte, um Donneswort zu kontrollieren.«

Brodsky unterbrach sich ein weiteres Mal, und diesmal schloß sich längeres Schweigen an.

»Mehr als das ist nicht nötig«, sagte Hals Vater heiser. »Wir danken Ihnen dafür, uns die Nachricht gebracht zu haben.«

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»Hm«, machte Hals Onkel, und sein sonst so offenes und freundliches Gesicht war nun starr und völlig ausdruckslos. In diesen Augenblicken sah er aus wie ein Spiegelbild seines düsteren Zwillingsbruders. »William von Ceta, der Ratsdirektor und der tote Komsoldat. Sie tragen die Verantwortung dafür, daß James nun nicht mehr bei uns weilt.«

»Der Direktor wurde von den Donneswortern selbst vor Gericht gestellt und exekutiert«, erklärte Brodsky. »Sein Wahn brachte auch viele Bewohner des Fürstentums um.«

»Damit bleibt noch …«, setzte Hals Onkel an, wurde aber von seinem Vater unterbrochen.

»Es hat jetzt keinen Sinn mehr, irgend jemandem Schuld zuzuweisen«, sagte er. »Dies ist unser Leben, und solche Dinge geschehen nun einmal.«

Diese Worte waren wie ein Schock für Hal, aber er blieb still und beobachtete seinen Onkel, der nun schwieg, während sich die anderen Angehörigen der Familie erhoben. Sein Vater reichte dem Offizier zum Abschied die Hand. Einige Sekunden lang sahen sich die beiden Männer an.

»Vielen Dank«, wiederholte sein Vater. »Bleiben Sie noch zum Begräbnis?«

»Ich wünschte, das könnte ich«, erwiderte Brodsky. »Aber das geht leider nicht. Es treffen noch immer Verwundete ein, um die wir uns kümmern müssen.«

»Ich verstehe …«, sagte sein Vater. Die Stalltür öffnete sich, und die Erinnerungsbilder des

vergangenen Tages verflüchtigten sich, hinterließen nur 337

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jene Kühle, die ihn erstarren ließ und völlig reglos machte. Nur am Rande nahm er zur Kenntnis, daß sein Onkel mit langen Schritten durch den Mittelgang zwischen den Pferdeboxen auf ihn zukam.

»Was machst du hier, Junge?« fragte er, und seine Stimme klang besorgt. »Deine Mutter sorgt sich um dich. Komm zurück ins Haus.«

Hal gab keine Antwort. Sein Onkel erreichte ihn, runzelte die Stirn und ging in die Hocke, so daß sich sein Gesicht mit dem Hals auf einer Höhe befand. Die Augen des Mannes musterten ihn eingehend – und plötzlich veränderten sich seine Züge und drückten schockierte Überraschung aus.

»Oh, Junge, Junge«, flüsterte sein Onkel. Hal spürte, wie sich die großen Arme um ihn schlangen und ihn festhielten. »Du bist zu jung dafür. Es ist viel zu früh für dich, auf diese Weise zu empfinden. Nicht, Junge! Komm zurück!«

Aber die Worte schienen aus weiter Ferne an die Ohren Hals zu hallen, und es war, als richteten sie sich an jemand anders. Noch immer hielt ihn die innere Kälte in einem Kokon der Erstarrung gefangen, und er sah seinen Onkel ruhig an.

»Nie wieder«, sagte jemand, und es überraschte Hal, den Klang der eigenen Stimme zu hören. »Niemals wieder. Ich werde einen Schlußpunkt setzen. Ich werde sie finden und sie aufhalten. Sie alle.«

»Junge …« Sein Onkel preßte ihn so fest an sich, als wolle er das Eis in ihm mit seiner Körperwärme schmelzen. »Komm zurück. Komm zurück …«

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Für einige lange Sekunden hatte es noch immer den Anschein, als spreche sein Onkel zu jemand anderem. Doch dann löste sich die Kälte ganz plötzlich in ihm auf. Halb ohnmächtig aufgrund der Reaktion auf das, was er gerade gefühlt hatte, sank er nach vorn und an die Schulter seines Onkels, und es war wie in einem Traum, als er von den starken Armen des Mannes hochgehoben und aus dem Stall getragen wurde …

Erneut erwachte er in der Zelle. Einen Augenblick lang, noch immer halbbetäubt von den Nachwirkungen der Trance, glaubte er, er habe die Krankheit überwunden. Aber dann begann sein Leib angesichts eines Hustenanfalls konvulsivisch zu zucken, und für einige Sekunden vermochte er überhaupt nicht mehr zu atmen. Die Panik war wie der Schatten eines Geiers, der sich über ihn senkte und immer näher herankam, und eine halbe Ewigkeit lang rang Hal vergeblich nach Luft. Dann gelang es ihm, den freigehusteten Schleim auszuspucken, und daran schloß sich die kurzzeitige Illusion an, nun wesentlich freier atmen zu können – bis er sich erneut des in ihm brennenden Fiebers bewußt wurde, der heftigen Kopfschmerzen und der Pein in seinen Lungen.

Sein Leiden hatte sich nicht abgeschwächt. Dennoch aber verspür te er nun einen Unterschied. Der zurückliegende Schlaf schien ihm zumindest einen Teil seiner Kraft zurückgegeben zu haben. Und trotz der Schmerzen und des fortgesetzten Bemühens, sich die Lungen mit Luft zu füllen, empfand er eine geradezu einzigartige innere Ruhe. Bisher hatte er angenommen, mit einer in erster Linie vom Fieber initiierten rasenden

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Geschwindigkeit zu denken und nach Lösungen für sein Problem zu suchen, gewissermaßen mit einer ganz besonderen mentalen Hast, die es ihm ermöglichte, völlig neue Erkenntnisse über sich selbst und seine Situation zu gewinnen. Jetzt war es, als erhole er sich von den Nachwirkungen einer überaus starken und sein Bewußtsein stimulierenden Droge, und er entdeckte eine andere und intensivere Art der Wahrnehmung. Er war sich in verstärktem Maß all der Dinge bewußt, die Bestandteile seiner bisherigen Erfahrungen darstellten – und er sah auch die Verbindungen zwischen ihnen, die er zuvor nicht hatte betrachten können.

Darüberhinaus entstand mit dieser neuen Art von Bewußtheit auch eine gewaltige Aufregung in ihm, die er in diesem Ausmaß bisher nicht kennengelernt hatte – die Aufregung eines Entdeckers, der den Gipfel eines hohen Berges erklimmt, der sich ihm bis dahin als Barriere entgegenstellte, und jenseits der Grate das Ziel sieht, das er immer anstrebte. Hal gewann den Eindruck, als befände er sich nun unmittelbar vor einer Entdeckung, die ihm all die Antworten zeigte, die er sein Leben lang gesucht hatte – tatsächlich sogar noch länger, eine Zeitspanne, die sich nicht messen ließ.

Er setzte sich erneut auf, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und machte sich an eine Analyse dieses besonderen Gefühls. Es war, als sei das ganze Universum jenseits des von den Zellenwänden und dem Korridor begrenzten Horizonts einen riesigen Schritt auf ihn zugekommen. Er rätselte nicht länger angesichts der undeutlichen Schemen des potentiellen Verstehens, das jenseits seiner Reichweite auf ihn wartete. Er wußte jetzt,

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in welche Richtung er sich wenden mußte, und er war sicher, daß sich ihm auf dem entsprechenden Weg keine Barriere entgegenstellen würde.

Mit diesen Überlegungen ließ er sich gehen und folgte der inneren Kompaßnadel seines Willens. Und fast ohne jede Mühe sank sein Bewußtsein in einen Zustand, den er noch nie zuvor erfahren hatte. Er war wach und träumte dennoch. Und er war sich bewußt, zu träumen. Nach wie vor konnte er die Zellenwände um sich herum sehen. Gleichzeitig jedoch, mit noch größerer Klarheit, offenbarte sich ihm die Landschaft seines Traumes.

Die Vision führte ihn zurück auf die öde Ebene mit dem Turm, in dessen Richtung er in seinen vorherigen Träumen marschiert war, ganz langsam und zu Fuß – während sich die Entfernung zu seinem Ziel niemals zu verringern schien.

Jetzt war alles anders. Hal hatte einen großen Schritt unternommen und befand sich damit in unmittelbarer Nähe des Turmes. Er betrachtete ihn nun. Nur eine recht geringe Entfernung trennte ihn noch von dem Gebäude. Gleichzeitig jedoch stellte Hal fest, daß er nichts weiter als den leichten Teil der Reise hinter sich gebracht hatte. Die Entfernung war zwar sehr zusammengeschrumpft, doch der vor ihm liegende Bereich war weitaus schwieriger zu überqueren. Nur die Ausbildung durch seine drei Mentoren und die bewältigten Mühen der bisherigen Reise an diesen Ort ließen ihn hoffen, daß er dazu in der Lage war, auch noch die letzten Hindernisse zu überwinden.

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Als Hal einen Blick über die Schulter warf, sah er, daß er bis an diesen Ort den ganz sanft geneigten Hang eines Hügels erstiegen hatte und erst jetzt das vor ihm liegende Terrain voll zu überblicken vermochte. Nach und nach erkannte er ein bestimmtes Muster in den Steinen des Gerölls. Er stand inmitten der zerfallenen Ruinen der äußeren Wehranlagen einer Verteidigungseinrichtung, die so gewaltig war, daß im Vergleich dazu das historische Krak des Chevaliers auf Alterde geradezu winzig und fragil gewirkt hätte. Das Schloß vor ihm schien so alt wie die Zeit selbst zu sein, und die Ewigkeit hatte schließlich den Sieg über die Festung davongetragen. Nur der Turm, das Zentrum der Anlage, ragte noch gen Himmel und wartete auf ihn.

Und Hal mußte diesen Irrgarten aus eingestürzten Mauern, unter Gesteinsschutt begrabenen Vor- und Innenhöfen, Kammern, Tunneln und Gängen durchqueren, um schließlich an den Eingang des Turmes zu gelangen. Es handelte sich um ein Unterfangen, das ihm selbst jetzt noch unmöglich gewesen wäre, hätte er sich nicht in den vergangenen Jahren physisch und psychisch verändert – gewissermaßen das reale Äquivalent der Abhärtung infolge des langen und einsamen Fußmarsches durch die weite Ebene. Jetzt war Hal älter, erfahrener und standfester, und während dieser Zeit war eine Unerschütterlichkeit in ihm gewachsen, die er sich erst jetzt in ihrem vollen Ausmaß klarmachte und die nicht einmal von dem beeinträchtigt werden konnte, was nun vor ihm lag. Er war wie jemand, der sich mit fester Entschlossenheit und zu einem ganz bestimmten Zweck in die Hölle selbst begab, und er setzte sich

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wieder in Bewegung, kletterte über die erste Mauerruine und trat in das Labyrinth hinein. Mit diesem ersten Schritt akzeptierte Hals Bewußtsein die ihm zukommende Bestimmung und gewann dadurch eine neue Art von Freiheit. Und als er sich daranmachte, den Irrgarten zu durchqueren, ließ er jenen Teil von sich zurück, den er nun nicht mehr brauchte und der ihm geholfen hatte, die Hindernisse zu Beginn seiner Reise zu überwinden. Reifer geworden und verändert kehrte Hal zu seinem Selbst zurück, das sich nach wie vor in der Gefängniszelle befand, und jetzt konnte er in aller Deutlichkeit die Aufgabe sehen, die auf ihn wartete – und den Weg, den er beschreiten mußte, um sie zu bewältigen.

20 Hal erwachte.

Es war kein plötzliches Erwachen. Nach und nach kam er wieder zu sich und begriff, eine Zeitlang geruht zu haben. Und mit dieser Erkenntnis vereinte sich das Wissen vom Fieber, der Schwäche, der Anstrengung, sich die Lungen mit Luft zu füllen. Jetzt jedoch verspürte Hal auch einen Unterschied.

Erneut erlitt er einen Hustenanfall, der ihn fast ersticken ließ – so wie schon mehrmals zuvor, als der Schleim die Luftröhre ganz zu verschließen gedroht hatte. Diesmal aber manifestierte sich nicht wieder die Panik, die wie mit dunklen Schwingen über ihm

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geschwebt hatte. Die Flammen einer ganz besonderen Entschlossenheit loderten in ihm empor, heißer noch als das Fieber, mit einer Heftigkeit, die sich nicht einmal mehr mit dem organischen Angriff der Bakterien vergleichen ließ, die darauf aus waren, sein Innerstes zu zerstören, und dieses spezielle Feuer verdrängte alle Verzweiflung.

Hal schnappte nach Luft und lehnte sich an die Wand zurück. Sonderbar: Auf den ersten Blick betrachtet hatte sich nichts geändert; sein körperlicher Zustand war nicht besser geworden – und doch bot sich ihm der Eindruck, als habe das ganze Universum um ihn herum eine halbe Wendung vollführt und eine neue Struktur ge wonnen, die ihm Kraft gab und Hoffnung machte. Tief in sich verspürte er so etwas wie Triumph. Der finstere Schatten des Todes war von ihm gewichen, und aus irgendeinem Grund war er sicher, nicht weiterhin von ihm bedroht zu werden.

Warum? Oder anders formuliert: Warum hatte er sich in dieser Hinsicht überhaupt Angst einjagen lassen? Hal richtete sich ein wenig auf und zog die dünne Decke hoch. Und langsam begriff er, daß die Veränderung, die er empfand, in erster Linie das Bewußtsein betraf und nicht so sehr den Körper.

Als Barbage von Harmagedon gesprochen und ihn anschließend allein zurückgelassen hatte, um ihn dem Tod zu überantworten, hatte ein kleiner Teil der Seele Hals eine gewisse Aufrichtigkeit im Gebaren des Milizionärs zu erkennen geglaubt. Barbage war das, was er war. Und er hielt an einem Glauben fest – auch wenn

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sich diese Überzeugung durch einen gewissen subjektiven Fanatismus auszeichnete. Er hörte auf Bleys und ließ sich von dem Anderen als Werkzeug benutzen, doch nur weil er zu wissen vermeinte, daß Bleys die Worte seines eigenen und ganz persönlichen Gottes benutzte. In diesem Punkt unterschied er sich von den anderen Anhängern Ahrens', die den Mann entweder fürchteten oder ihn in erster Linie um seiner selbst willen verehrten.

Diese Überzeugung Barbages hatte die Kraft gehabt, Hal zu erreichen und ihn zu schwächen. Die Intensität dieses Glaubens war es gewesen, die ihn zum erstenmal in seinem Leben mit der Möglichkeit des eigenen Todes konfrontiert und ihn dazu gebracht hatte, sich mit seinem potentiellen Ende abzufinden. Jetzt aber war Hal nicht mehr dazu bereit, eine derartige Konsequenz zu akzeptieren. In den vergangenen Stunden seiner Fiebervisionen und Traumerinnerungen hatte er einen Grund erkannt, der ihm erklärte, warum er sich den eigenen Tod nicht leisten konnte. Vorher mußte er noch einige gewisse Dinge erledigen, und an erster Stelle auf dieser Liste stand die Notwendigkeit, jene unbewußten Überlegungen, die zu seiner geistigen Veränderung geführt und ihm das Überleben ermöglicht hatten, in bewußte Assoziationsketten zu transkribieren. Hal konzentrierte die Gedankenkraft seines Verstandes wieder auf sich selbst.

Nach der Begegnung mit Barbage war das Ziel seiner geistigen Reise zunächst nicht das eigene Überleben gewesen. Er erinnerte sich an seinen ersten Traum: gefesselt an den Berghang, ausgesetzt dem beständigen

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und erbarmungslosen Regen der Logik Bleys'. Die von dem Anderen formulierten Worte übermittelten die Botschaft, die Milton dem Teufel seines Gedichts Das Verlorene Paradies in den Mund gelegt hatte: Kann er den Himmel zur Hölle und die Hölle zum Himmel machen.

Und das stimmte. Allerdings nicht absolut im Sinne Bleys' oder der Anderen: Tatsächlich traf es auf jedes menschliche Wesen zu, das sich nicht davor fürchtete, sich selbst zu erforschen. Gerade der Umstand, daß Bleys dem allgemeinen Aspekt dieser Möglichkeit keine Beachtung schenkte, hatte seine eigentliche Schwäche verraten. Die Isolation, von der Bleys gesprochen hatte und von der Hal durch die Erinnerung an seinen Aufenthalt auf Coby ein emotionales Echo fühlte, war tatsächlich vorhanden, zeichnete sich aber vor allen Dingen durch eine subjektive Qualität aus. Es war auch nicht notwendig, diesen Aspekt logisch zu begründen, um ein derartiges Empfinden zu überwinden. Jeder Mensch mit ausreichender Glaubenskraft war dazu in der Lage, darüber hinauszuwachsen – so wie James Gotteskind sich kurz vor seinem Tod bereitwillig in die Konsequenzen seiner Entscheidung gefügt hatte.

Sowohl die Argumente Bleys' als auch der Lebensweg, den er für sich gewählt hatte, waren in erster Linie ganz persönlich und eigennützig. Er verschloß die Augen vor der viel größeren Bestimmung, die sich zwar ebenfalls durch individuelle Faktoren auszeichnete, aber in sich selbst darüber hinausging und sich auf die Menschheit als Ganzes konzentrierte. Und genau das, die Spezies als eine Einheit, stellte ein Werkzeug dar, mit dem sich alle

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Rätsel lösen ließen. Nein, nicht nur die Vorstellung von der Rasse als einer in sich geschlossenen Entität, sondern die Vorstellung von ihr als einem einzelnen Geschöpf,dem es um das eigene Überleben ging und sich zu diesem Zweck in einzelne Teile aufgesplittert hatte, Teile, die gegeneinander rangen und dabei Stärken offenbarten, die Wege aufzeigen mochten, die der Menschheit als Ganzes in Zukunft Möglichkeiten anbieten konnten, weiter zu wachsen und zu reifen. Ein Spezies-Wesen, das seine einzelnen Bestandteile als austauschbar und unwichtig erachtete, das ein Netz aus historischen Kräften wob, die immer nach vorn gerichtet waren und die große Masse der Menschheit kontrollierten – jene gewaltige Masse, die seit dem Anbeginn ihrer Geschichte angetrieben worden war, ohne die Natur jener Kräfte zu begreifen. Sost, John Heikkila, Hilary, Godlun Amjak, der Bauer, der vergeblich gehofft hatte, James Gotteskind würde ihm neuen Mut machen – sie alle waren den widerstreitenden Kräften unterworfen, die sich nun auf zwei Pole reduziert hatten: die Anderen und ihre Gegner.

Und Hal gehörte zur letzteren Gruppe. Er wurde sich plötzlich darüber klar, daß es gerade dieses neue Verstehen war, aus dem er seine Stärke bezog. Er kannte sich nun. Vor langer Zeit hatte er nach einer Totenfeier eine Art Schwur geleistet. Und das, was jetzt in ihm vor sich ging, stellte nichts weiter dar als eine Erweiterung dieses Versprechens. Bis zu diesem Zeitpunkt war er aus irgendeinem Grund, den er noch nicht ganz verstand, daran gehindert worden, sich an seine Vergangenheit zu erinnern. Das jedoch hatte sich nun geändert.

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Bis jetzt war Hal, der einst den Eid abgelegt hatte, nicht dazu in der Lage gewesen, das Ziel zu erkennen, auf das er zusteuern mußte. All die langen Jahre, die seitdem verstrichen waren und ihn schließlich in diese Gefängniszelle geführt hatten, waren notwendig gewesen, um ihm diese Erkenntnis zu ermöglichen. Beim Traum von der weiten Ebene und der Festung handelte es sich um eine Versinnbildlichung dieses Weges – bei jenem Turm, den er noch immer nicht erreicht hatte und der vielleicht gar keine Vision in dem Sinne darstellte, sondern vielmehr eine Art von besonderer Realität, eine Wirklichkeit, die sich nur in ihrer Struktur von der unterschied, mit der Hal sich gegenwärtig konfrontiert sah.

Andererseits jedoch existierte er vor allen Dingen im Hier und Jetzt. Und aus diesem Grund mußte er das unbewußte und allegorische Begreifen in Hinsicht auf den vor ihm liegenden Weg in ein eindeutiges Verstehen der realen Kräfte übersetzen, auf die es einzuwirken galt, um das letztendliche Ziel zu erreichen. Hal konzentrierte sich sofort auf dieses Unterfangen, und die Aufregung angesichts seiner neuen Fähigkeit des geistigen Analysierens durchwogte ihn wie ein Medium, das die Übertragung von Erkenntnisbotschaften erleichterte. Die Vorstellung der Menschheit als eine Gruppenentität, als eine Art amorphes Gemeinschaftsgeschöpf mit einer einheitlichen Identität und einer Zweckbestimmung, die über die der individuellen Komponenten hinausging, nahm vor Hals innerem Auge immer deutlichere Konturen an. Die Betrachtungsweise der Spezies als ein einzelnes Wesen, ein primitives Individuum mit

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ureigensten Instinkten und Bestrebungen – wobei an erster Stelle der Instinkt zu nennen war, als Einheit zu überleben (was wiederum die Bereitschaft begründete, einzelne Bestandteile in immer neuen Experimenten zu opfern, um eben diesem Instinkt zu genügen) – erklärte alles andere.

Dieses Experimentieren, so begriff Hal nun, stellte von dem Zeitpunkt an einen beständigen Prozeß dar, an dem das Gemeinschaftsgeschöpf sich seiner eigenen Existenz bewußt geworden war. Bei dem Drang, sich durch die individuellen Komponenten zu entwickeln, zuerst Intelligenz zu bilden und mit Hilfe der Intelligenz anschließend die Werkzeuge der Technologie zu schaffen, handelte es sich um die Auswirkungen des bedeutendsten Instinkts. Was auch auf die während des zwanzigsten Jahrhunderts unternommenen ersten Versuche zutraf, den Mutterplaneten zu verlassen und in den Raum vorzustoßen, infolge einer unbewußten Suche nach mehr Lebensraum. Auf dieser Grundlage waren dann die Splitterkulturen entstanden – gewissermaßen als ein Experiment in Hinblick auf die Lebensfähigkeit menschlicher Seinsaspekte in extraterrestrischen Umgebungen – und anschließend die Anderen.

Die Anderen, so schlußfolgerte Hal, wurden dadurch zu einem Entwicklungsexperiment der Spezies, weil sie den Drang verspürten, die Kontrolle zu übernehmen und die restlichen Komponenten zu beherrschen. In diesem Bedürfnis lag die Antwort auf die Frage, warum sie überhaupt entstanden waren. Bleys hatte es Hal erklärt. Was auch immer man über die Anderen behaupten mochte, zwei Dinge konnten nicht in Zweifel gezogen

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werden. Erstens: Sie waren Menschen, mit allen üblichen Wünschen und Hoffnungen, einschließlich dem Verlangen nach mehr, als ihnen zur Verfügung stand. Und zweitens: Sie wußten sehr wohl um die Tatsache, daß sie viel zu wenige waren, um die Einsicht des Restes der Menschheit riskieren zu können, daß gerade ihre geringe Anzahl sie verwundbar machte. Das Problem dieser Verletzlichkeit ließ sich nur lösen, wenn die Anderen die ganze Menschheit vollkommen beherrschten. Darüberhinaus war eine derartig umfassende Kontrolle nur möglich, indem die Anderen eine einheitliche, eherne und unveränderliche Kultur schufen. Nur in einem zivilisatorischen Gefüge, in dem alle Dinge ihren festen und unverrückbaren Platz hatten, brauchten die Anderen nicht mehr ständig auf der Hut zu sein und konnten endlich ihren Vorteil genießen, dem Großteil der Menschheit aufgrund ihres natürlichen Entwicklungsvorsprungs überlegen zu sein.

Hal verstand jetzt auch, daß die Anderen, um beide Ziele zu erreichen, zuerst einen Zustand absoluter Stasis herbeiführen mußten, ein Ende des langen und in die Zukunft gerichteten Entitätsbestrebens einer allgemeinen Evolution. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Geschichte selbst anzuhalten. Dazu wiederum war es nötig, jene Individuen zu beseitigen oder gefahrlos zu machen, die infolge ihres Wesens sich niemals mit einer solchen Stasis abfinden und sich als Gegner der Anderen erweisen würden.

Die Anderen hatten dabei zwei große Stärken. Erstens: ihre charismatischen Fähigkeiten. Und zweitens: Jeder einzelne von ihnen stellte sowohl psychisch als auch

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physisch das Beste dar, das sich in den Reihen ihrer Gegner zeigen mochte. Schließlich versetzte sie das dazu in die Lage, den Großteil der Bevölkerungen von zehn Planeten dazu zu bringen, ihre Anweisungen zu befolgen. Zum Nachteil gereichte ihnen die Tatsache, daß sie unfähig waren, die Zukunft aus der richtigen Perspektive zu betrachten.

Weitere Schwächen schienen sie nicht aufzuweisen. In gewisser Weise konnte man hier ihre geringe Zahl anführen, wohingegen es sich bei ihren Gegnern um die Gesamtbevölkerungen von Dorsai, der beiden Exotischen Welten und – auf Harmonie und Eintracht – der Minderheit jener Gläubigen wie etwa Gotteskind und Rukh handelte. Schließlich mußte auch ein nicht geringer Teil der Einwohner der Erde zu den möglichen Feinden der Anderen gezählt werden. Andererseits jedoch war es nur ein Wunschgedanke, daß sich die Bürger des Mutterplaneten trotz all ihrer Unterschiede zusammenschlossen, um wirksam gegen die Bedrohung vorzugehen, die die Anderen darstellten.

Und die potentielle Anzahl der Gegner – sah man einmal von der Bevölkerung der Alterde ab – stellte nur einen Bruchteil der Kräfte dar, über die die Anderen aufgrund ihrer Kontrolle über die anderen Planeten bereits jetzt verfügten. Vielleicht gipfelte die Auseinandersetzung letztlich sogar in einem Krieg zwischen den Welten, so wie zur Zeit Donal Graemes. Aus diesem Grund mußte es das Ziel der Anderen sein, ein Harmagedon herbeizuführen, eine letzte Schlacht, während der all diejenigen, die sie nicht auf ihre Seite

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ziehen konnten, entweder getötet oder auf andere Weise neutralisiert wurden.

Es fiel Hal nun ganz leicht zu erkennen, wie der Gegner auf dieses Ziel zusteuerte. Wesentlich schwieriger war es, die Frage zu beantworten, wie man sie aufhalten oder schlagen konnte. Aber wie dem auch sei: In dem Krieg, der schon begonnen hatte, ging es nicht eigentlich darum, mit Soldaten fremde Länder zu erobern; er wurde vielmehr von gegnerischen Bewußtseinen ausgetragen, und man kämpfte um die große Masse jener Gesamtentität, die die menschliche Rasse verkörperte. Bei einem solchen Kampf mochten die Anderen aufgrund ihrer charismatischen Ausstrahlungen im großen Vorteil sein.

Hal setzte sich auf und schnappte in der kalten Stille der Zelle nach Luft. Sein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen, und sein Bewußtsein war wie das Skalpell eines Chirurgen, ein Werkzeug, mit dem er Ideen und Vorstellungsbilder zerteilte und sie zu neuen Mustern anordnete.

Diejenigen, die den Hybriden als Gegner gegenüberstanden, brauchten unbedingt einen langfristigen Plan, der ihnen zumindest Hoffnung auf den letztendlichen Sieg machte. Und eine Waffe, die es mit den charismatischen Fähigkeiten der Anderen aufzunehmen vermochte. Es mußte eine Waffe sein, die die Anderen weder besaßen noch nutzen konnten. Denn keiner ihrer Gegner war dazu in der Lage, es in Hinsicht auf das Charisma mit Leuten wie Bleys aufzunehmen.

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Da die Anderen ein Überlebensexperiment der Rassenentität darstellten, war Hal davon überzeugt, daß eine derartige Waffe existieren mußte. Er erachtete es als notwendig, sich das Spezies-Wesen genauer anzusehen und zu einem echten Verständnis der historischen Kräfte zu gelangen, von denen sowohl die Anderen selbst als auch die Dorsai, die Exoten und die Gläubigen von Harmonie und Eintracht nur Manifestationen verkörperten.

Als Hal darüber nachdachte, gewann er den Eindruck, als sei sich die Rassenentität im zwanzigsten Jahrhundert darüber bewußt geworden, daß das All physisch erschließbar war; und einher mit dieser Erkenntnis ging sowohl eine gewisse Verlockung als auch eine eher unbestimmte Furcht vor dem, was außerhalb des Heimatplaneten wartete. Die Geschichte bewies, daß zu jener Zeit die Menschheit in zwei Lager aufgespalten gewesen war. Das eine wandte sich vom Kosmos ab und sprach von »Dingen, die nicht für den Menschen bestimmt seien.« Das andere hingegen war vom Universum fasziniert, träumte davon, es zu entdecken, so wie vierhundert Jahre zuvor die Forscher, die einen Seeweg nach Indien gesucht und dabei Amerika entdeckt hatten, während von anderen düster prophezeit worden war, die Segelschiffe würden schließlich den Rand der Erdscheibe erreichen und in die Tiefe stürzen. Als es schließlich nicht nur möglich geworden war, in den Raum zu fliegen, sondern die Grenzen des heimatlichen Sonnensystems hinter sich zurückzulassen, waren viele kleinere Gruppen von jenen Ängsten und Träumen beeinflußt worden und suchten nach Orten, wo sie eine

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den eigenen Wünschen entsprechende Gesellschaft entwickeln konnten.

Die Absicht der Rassenentität, so fuhr es Hal durch den Sinn, war es gewesen, Überlebenstypen hervorzubringen, sowohl in Form individueller Komponenten als auch einzelner Gesellschaften. Und aus der Verschiedenartigkeit dieser Diaspora hatten sich die erfolgreichsten jener Überlebenstypen gebildet; die größten und bedeutendsten Splitterkulturen: Dorsai, die Quäker und die Exoten. Zweihundert Jahre lang hatten sich diese Kulturen entwickeln können und dabei besondere Funktionen übernommen, von denen die interplanetare Zivilisation stabilisiert worden war, indem Handel, lokale Konflikte und selbst Kriege im Gefüge der Gesamtgesellschaft kontrollierbar wurden.

Als anschließend Donal Graeme die einzelnen Bestandteile dieser komplexen Metakultur unter eine Kontrolle brachte, wurden die Elemente der Splitterkulturen überflüssig, und es begann ihr Niedergang. Gleichzeitig damit führte die Rassenentität vorsichtig und behutsam die ersten Kreuzungen zwischen den neuen Fähigkeiten durch, die auf der Grundlage der Splitterkulturen entstanden waren, damit das Erreichte nicht verlorenging; sie produzierte schließlich jene Art von überlegenen und dominanten Individuen, nach denen sich einige ihrer Komponenten immer gesehnt hatten. Das war das vorläufige letzte Glied einer langen Entwicklungskette, die von der Intelligenz über Technologie und Überbevölkerung und Kosmos bis zu den Splitterkulturen reichte, die Raum-Experimente mit Überlebenstypen darstellten –

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bis hin schließlich zu den Dominanten, die sich selbst als die »Anderen« bezeichneten.

Allerdings schien diesen Dominanten nun die Rolle zuzukommen, den ganzen Rest der Rassenentität zu beherrschen. Und damit drohte die Gefahr, daß der seit vielen Jahrtausenden andauernde historische Prozeß, der mit jeder neuen Generation, die die vorhergehende ablöste, weitere Fähigkeiten entwickelte und die Menschheit als Ganzes reifen ließ, an ein unwiderrufliches Ende gelangte – es sei denn, es stellte sich heraus, daß die Anderen doch irgendeine Art von Schwäche aufwiesen.

Das, dachte Hal, beschrieb mit ausreichender Genauigkeit die Lage der Anderen. Und was die Situation ihrer Gegner anging: Sie konnten sich nicht damit abfinden, daß von den Anderen möglicherweise ein Ende der allgemeinen Entwicklung herbeigeführt wurde. Für den Teil des Spezies-Wesens, den die Gegner repräsentierten, bedeutete ein Ende des Wachstums den Tod aller Hoffnungen auf eine Zukunft. Und um diesen generellen Exitus zu vermeiden, war der individuelle Tod kein zu hoher Preis.

Irgend etwas klickte im Bewußtsein Hals. Natürlich. Der Grund, warum die Erde sich dem

Einfluß der Anderen gegenüber als so widerstandsfähig erwiesen hatte, war die Tatsache, daß ihre Bewohner noch immer das ursprüngliche genetische Reservoir repräsentierten. Die Menschen auf dem Mutterplaneten vereinten das volle Spektrum aller Eigenschaften in sich. Sie waren nicht in einer der vielen Arten spezialisiert, die

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die Rassenentität während der immer wieder erfolgenden Veränderung und Anpassung an die Verhältnisse auf anderen Welten hervorgebracht hatte. Im Gegensatz zu den Einzelkomponenten auf den Jüngeren Planeten verfügte jeder auf der Erde geborene Mensch über die volle Bandbreite aller Fähigkeiten des Geistes, sowohl der guten als auch der schlechten. Und zu diesen Potentialen gehörte auch die Glaubenskraft der Quäker, die Unabhängigkeit der Dorsai und die visionäre Einstellung der Exoten, in der es keinen Platz gab für ein Ende von Wachstum und Veränderung.

Plötzlich regte sich Hoffnung in Hal. Die Erde war zumindest ein Teil der Waffe, die die Anderen nicht nutzen konnten.

Wenigstens ein Teil davon … Hals Verstand arbeitete noch schneller und konzentrierte sich auf einen bestimmten Punkt. Das, was die aus eigenschaftskompletten Individuen bestehende Bevölkerung der Erde nicht nur für die Anderen, sondern auch den Rest der Spezies darstellte, war genetische Unsicherheit – für den Fall einer Herausbildung einer Spezialisierungsstruktur, die sich schließlich als wenig überlebensfähig herausstellen mochte. Einige der Flora- und FaunaVariformen konnten auf den Jüngeren Welten nicht gedeihen. Niemand konnte vorhersagen, welche Art von menschlichen Adaptionen nach einigen hundert Generationen auf den neueren Planeten sich als dominant herausstellen würde. Die Erde war somit die einzige Welt, deren Genreservoir auch nach der Einschätzung der Anderen große Bedeutung zukam – und gleichzeitig der Planet, den sie unbedingt unter ihre Kontrolle

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bringen mußten, wenn sie ihr eigenes Überleben und den Bestand ihres Imperiums – nachdem sie es gegründet hatten – gewährleisten wollten.

Die Anderen bedeuteten Stasis. Und ihre Gegner repräsentierten demzufolge … Evolution?

Evolution … Das Echo dieses Wortes hallte dröhnend in Hals Seele wider. Die Evolution stellte einen großen Traum der Exoten dar – ihren großen und noch unerfüllten Traum, nach dem der Reifeprozeß der Menschheit noch nicht zu Ende war. Sie hofften, daß es ihnen eines Tages gelang, die Richtung der Evolution zu identifizieren und dazu in der Lage zu sein, lenkenden Einfluß auf die Entwicklung selbst zu nehmen und so den Grundstein für eine bessere Menschheit zu legen.

Aber auch die Kultur der Exoten starb, und mit ihr der Traum – wenn sie überhaupt noch an dieser Zweckbestimmung festhielten, so wie die Dorsai und die Quäker. Einher mit diesem Prozeß ging eine weitere Verstärkung der Bastion der Anderen. Die Exoten konnten, wie auch die restlichen Gegner der Anderen, keine eigene Lösung des Problems anbieten. Und wenn sie dazu in der Lage gewesen wären, mit Hilfe ihrer Ressourcen eine Möglichkeit zu finden, die Anderen aufzuhalten, so hätten sie gewiß Gebrauch davon gemacht.

Aber obgleich die Exoten derzeit einen rapiden Niedergang erlebten, existierte nach wie vor das Konzept der Evolution. Es stellte nicht etwa eine private Errungenschaft der Exoten dar, sondern war ein Besitz der ganzen Menschheit. Mit anderen Worten: All die

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vielen Jahre lang, während denen die Exoten eine Erfüllung ihres Traumes angestrebt hatten, war das, nach dem sie Ausschau hielten, direkt vor ihren Blicken in Funktion gewesen, ohne daß sie davon etwas geahnt hatten. Möglicherweise konnte sich die Menschheit auch in Zukunft weiterentwickeln, ohne daß die Rassenentität den Prozeß der Evolution verstand, so wie es Tausende von Jahren lang der Fall gewesen war …

Hal schauderte plötzlich. Der Schock angesichts der Entdeckung war so heftig, daß er trotz des Fiebers, trotz der Mühe des Atmens und des flackernden und matter werdenden Lichts der Lebensflamme die Zelle und alles andere vergaß.

Die Letzte Enzyklopädie. Das war die Waffe, die die Anderen nicht besaßen und

nicht benutzen können, selbst dann nicht, wenn sie über sie hätten verfügen können.

Denn sie war als ein Werkzeug konstruiert, um das in Erfahrung zu bringen, was die Menschheit bisher noch nicht wußte. Und angesichts der Stasis, auf die die Anderen hinarbeiteten, mußte ein Instrument, mit dessen Hilfe sich der Rassenentität neues Wissen zu erschließen versprach, für die Anderen eine große Gefahr darstellen – für sie und eine Kultur, in der es nach ihren Wünschen weder zu Veränderungen noch Wachstum kommen sollte.

Und das erklärte natürlich die Aufspaltung in zwei Lager und den Grund für die bevorstehende Auseinandersetzung.

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Da es dem Spezies-Wesen im Grunde genommen nur ums Überleben ging, tendierte es weder zur einen noch zur anderen Seite. Es gestattete seinen Komponenten nur deshalb den Kampf, um festzustellen, welcher Teil stärker war und siegte. Somit mußten beide Seiten über entsprechende Waffen verfügen, nicht nur die Anderen. Die Letzte Enzyklopädie mochte das Werkzeug darstellen, mit dem die Befürworter der Evolution das Charisma der Gegner ausgleichen konnten.

Hal wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Auf einmal stellte er fest, daß sich infolge des Erkenntnisschocks in ihm an seinem körperlichen Zustand etwas verändert hatte. Sonderbarerweise verspürte er noch immer die Kühle, die mit seiner Entdeckung einhergegangen war. Das Feuer in ihm schien nicht mehr annähernd so heiß zu brennen, und selbst das Atmen fiel ihm leichter. Er hustete, und diesmal hatte er dabei nicht das Gefühl, zu ersticken. Tatsächlich wirkte diese Art von Husten eher befreiend und schuf mehr Platz in den Lungen. Die Kopfschmerzen hatten inzwischen fast vollständig nachgelassen. Ein weiteres Mal strich er sich mit der Hand über die Stirn und machte dabei die erstaunte Feststellung, daß sie erneut schweißnaß war.

Er hatte das Fieber überstanden. Doch aufgrund der Entdeckung herrschte nach wie vor ein solcher Aufruhr in ihm, daß er sich nicht darüber freuen konnte.

Er spürte jetzt, wie sich vor seinem inneren Auge neue Verständnismuster formten, und die bekannten Fakten bildeten zusammen mit Schlußfolgerungen plötzlich

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offensichtliche Strukturen. Das alles geschah so schnell, daß sein Bewußtsein nicht dazu in der Lage war, alle neuen Erkenntnisse unmittelbar in ihrer ganzen Bedeutungstragweite in sich aufzunehmen. Es war, als habe er einen Mosaikstein bewegt, woraufhin sich die vielen anderen Facetten des Bildes binnen weniger Sekunden zu einem vollständig neuen Muster anordneten. Das Labyrinth aus Ruinen, das er im Traum gesehen hatte, die Myriaden Überbleibsel der alten Festung – mit einemmal standen sie alle in einer ganz bestimmten Beziehung zueinander und waren komplett bis ins kleinste Detail. Und Hal stand davor, den einen Stein – den einen Aspekt des Mosaiks – noch immer in der Hand, und betrachtete das, was sich seinen Blicken darbot. Selbst das Charisma mußte sich auf ein Element des vollständigen Fähigkeitsspektrums der Menschheit beziehen. Vielleicht konnten die Gegner der Anderen es irgendwo lokalisieren und für den Kampf verwenden.

Jetzt, da er alles verstand – da er wußte, daß die Letzte Enzyklopädie tatsächlich die Waffe war, die man während vieler Jahre, auf unbewußte Weise, als Instrument gegen die Anderen geschaffen hatte –, konnte Hal es kaum fassen. Er hielt das neue Verstehen inmitten seiner Seele fest, ganz benommen, so wie vielleicht auch der junge Arthur, als er das Schwert Excalibur aus dem Felsen zog und erst nach und nach begriff, was das bedeutete.

Und Hal begriff auch, daß sein Begreifen kostbarer war als alles andere, das sich im Besitz der Menschheit befand. Angesichts dieser Erkenntnis wußte er, daß er

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unbedingt überleben, aus dem Kerker entkommen und sich und sein Verstehen in Sicherheit bringen mußte.

Diese Problematik, davon war er überzeugt, ließ sich ebenso lösen wie die gedankliche Aufgabe, die er gerade bewältigt hatte.

21 Hal hatte sich die ganze Zeit über nicht von der Stelle gerührt, und er verspürte jetzt einen Triumph von der Art, wie ihn ein Marathonläufer empfinden mag, der nach harter Anstrengung als erster das Ziel erreicht. Nach wie vor dachte Hal daran, wie wichtig es war, mit seinem neugewonnenen Wissen zu entkommen, und er überlegte auch, was nach der Flucht geschehen mußte. Doch das überstandene Fieber und die Tatsache, daß er nun wesentlich leichter atmen konnte, ließen ihn nach und nach eindösen, und aufgrund der Erschöpfung wurde daraus rasch ein tiefer Schlaf.

Als er erwachte, stellte er fest, daß er, ohne es zu merken, an der Wand heruntergerutscht war und nun flach auf dem Bett lag, die dünne Decke bis zum Kinn hochgezogen. Er stemmte sich in die Höhe und setzte sich erneut auf. Infolge der Anstrengung mußte er wieder husten, und das löste weiteren gelblichgrünen Schleim aus seiner Luftröhre. Anschließend hatte er das Gefühl, wesentlich freier atmen zu können als noch einige Stunden zuvor.

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Sein dringendstes Bedürfnis war es jetzt, die Blase zu entleeren. Hal strich die Decke beiseite und stellte fest, daß er kaum kräftig genug war, um aufzustehen und die Toilettenecke aufzusuchen. Anschließend sank er aufs Bett zurück und blieb einige Minuten lang liegen, bis er genug Kraft gesammelt hatte, um auf die andere Seite zu kriechen und sich neben das Waschbecken zu knien. Diesmal trank er mehr als nur einige wenige Schlucke. Er hielt inne, holte Luft und trank erneut, und dankbar spürte er, wie das Wasser seinen Magen füllte. Nach einer Weile lehnte er sich an die Wand und unterzog sich dem unangenehmen Prozeß, ganz zu erwachen.

Während des Schlafes hatte er vergessen, wie schwer ihm noch immer das Atmen fiel. Eine Zeitlang fixierte er seine Aufmerksamkeit jetzt allein darauf und seine allgemeine Schwäche. Nach und nach aber, als er immer mehr zu sich kam, erlangte er einen Teil der ursprünglichen Kontrolle über seinen Körper zurück. Und er entsann sich an den Erkenntnisprozeß, dem er sich vor einigen Stunden unterzogen hatte. Erneut erfaßte ihn eine gewisse Aufregung. Und noch bevor er sich an alles erinnerte, spürte er, wie wichtig es war, aus dem Gefängnis zu fliehen.

Die Aufregung war wie ein Stimulans, das Hal in den Zustand allgemeiner Wachsamkeit zurückversetzte. Das Atmen fiel ihm bald noch etwas leichter, so daß er sich nicht mehr ausschließlich darauf konzentrieren mußte. Er hustete und setzte damit weiteren Schleim frei, aber diese Anstrengung reduzierte seinen geringen Kräftevorrat. Daraufhin gab er den Versuch auf, seine Lungen vollständig freizumachen, und wieder lehnte er sich an

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die Zellenwand zurück. Er dachte an sein Chronometer und blickte auf die Anzeige: 10.32.

Jetzt, da er vollständig wach war, machte er sich zunächst daran, die Verstehensstruktur zu überprüfen, die er vor der Entführung durch den Schlaf geschaffen hatte. Sie befand sich nach wie vor in ihm und wartete nur darauf, daß er ihre Einzelheiten untersuchte. Damit ergab sich ihm die Möglichkeit, sich mit dem Problem zu befassen, wie er in die Freiheit zurückkehren konnte.

Ganz offensichtlich bot ihm seine Lage keine Möglichkeit, aus eigener Kraft zu entkommen. Seine einzige Chance bestand darin, die Miliz dazu zu veranlassen, ihn aus der Zelle zu bringen. Als letzte Möglichkeit blieb ihm noch, darum zu bitten, mit Bleys sprechen zu können. Anschließend konnte er Ahrens gegenüber behaupten, er habe eingehend nachgedacht und sei dabei zu dem Schluß gekommen, tatsächlich ebenfalls ein Anderer zu sein.

Aber das war wirklich nur die letzte Möglichkeit – nicht etwa deshalb, weil er sich damit in irgendeine Art von physischer Gefahr begab, sondern weil sich ein direktes Gespräch mit Bleys in jedem Fall als riskant erweisen mochte. Bleys war nicht nur ein Anderer, sondern auch – wenn sich die Rangordnung nicht geändert hatte – der stellvertretende Vorsitzende ihrer Organisation. Damit war er nicht der Typ, der sich von einem zehn Jahre jüngeren Mann ohne weiteres etwas vormachen ließ.

Hal schloß die Augen und konzentrierte sich auf das Problem der Flucht – bis er alles andere verdrängt hatte,

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abgesehen von den Schmerzen, die er nach wie vor verspürte und die nun am Rand seines fixierten Bewußtseins rumorten, und dem gewaltigen Schatten der Erkenntnisstruktur, die sich wie ein riesiger Berg inmitten seiner Seele erhob.

Seine körperliche Ausgelaugtheit, die Situation und das neue Verstehen – das alles bildete schließlich die mentale Basis eines Plans. Nach einer Weile schlug Hal die Augen auf, erhob sich und trat mit einigen unsicheren Schritten in die Mitte des Raumes. Eine Zeitlang blieb er dort einfach nur schweigend stehen und spürte den Blick des Beobachters auf sich ruhen, der die Zelle überwachte.

Dann öffnete er den Mund und schrie – schrie trotz seiner teilweise noch immer mit Schleim gefüllten Lungen und der Schmerzen und der allgemeinen Schwäche so laut er konnte. Und fiel zu Boden.

Hal ließ sich einfach fallen, lockerte aber die Muskeln, so daß der Aufprall auf den nackten Betonboden nicht allzu hart war. Völlig reglos blieb er liegen und machte sich sofort an die Durchführung der Übungen, die Walter und Malachi ihn gelehrt hatten.

Keine von ihnen war besonders schwierig, und sie neigten dazu, sich in der von Hal angestrebten Art und Weise gegenseitig zu verstärken. Die Verlangsamung des Atemrhythmus gehörte zu den Techniken, die dazu dienten, den Pulsschlag zu reduzieren und dadurch den Blutdruck zu senken. Letztere beiden Punkte halfen Hal bei der Bewältigung der etwas schwierigeren Aufgabe, die Körpertemperatur zu senken. Alles zusammen

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verringerte seinen Bedarf an Sauerstoff, und dadurch brauchte er seine Lungen nicht mehr in dem Maß anzustrengen wie zuvor. Darüberhinaus wirkte er in diesem Zustand so, als sei er bewußtlos und dem Tode nahe. Außerdem war er auf diese Weise in der Lage, eine lange Wartezeit zu ertragen, mit der er rechnete, bevor diejenigen, die ihn beobachteten, davon überzeugt waren, daß mit ihm tatsächlich etwas nicht stimmte, und daraufhin einen Wächter schickten.

Tatsächlich lag er über drei Stunden reglos am Boden. Ein kleiner Teil von Hals Bewußtsein bewahrte sich ein Gefühl für die verstreichende Zeit, doch der weitaus größere hatte sich in den Zustand einer Halbtrance zurückgezogen – der also nicht weit entfernt war von dem, den er vorgab. Als schließlich die Milizionäre eintrafen, um nach ihm zu sehen, war er sich nur noch vage dessen bewußt, was um ihn herum geschah. Er lag am Boden, und als der erste Wächter in die Zelle kam, war es, als vernähme er das Geräusch der Schritte aus einem anderen Raum. Der Uniformierte untersuchte ihn kurz und erstattete mit Hilfe der Überwachungsmikrofone Meldung. Und nach einer kurzen Pause wurde die Entscheidung getroffen, Hal in ein Krankenhaus zu bringen.

Der immer noch aufmerksame Teil von Hals Bewußtsein stellte fest, daß es zu einer gewissen Verzögerung kam. Der Grund dafür war die Tatsache, daß Barbage nicht sofort zu erreichen war und seine Untergebenen einerseits den Tadel des Captains für den Fall fürchteten, daß sie dem Gefangenen zu große Aufmerksamkeit schenkten, und andererseits annehmen

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mußten, Bleys würde ihre Bestrafung fordern, wenn Hal etwas zustieß. Letztendlich erwies sich die Einschätzung Hals als richtig: Selbst wenn Barbage direkt in der Überwachungszentrale anwesend gewesen wäre – aufgrund auch seines Respekts gegenüber den Anweisungen Bleys' blieb ihm nichts anderes übrig, als den Gefangenen so rasch wie möglich der Obhut von Ärzten zu überantworten.

Das Zögern der Milizionäre schien auch noch einen anderen Grund zu haben, der mit der außerhalb des Gebäudes herrschenden Lage zu tun hatte. Doch Hal vermochte nicht herauszufinden, um was es sich dabei handelte. Wie dem auch sei: Nach einer Weile spür te er, wie man ihn auf eine Bahre hob, aus der Zelle trug und durch verschiedene Korridore zu einem motorisierten Karren brachte. Dort hüllte man ihn in warme Decken und fuhr ihn einige Minuten lang durch weite Räumlichkeiten – bis sie schließlich eine große Doppeltür passierten und Hal feuchte und kühle Luft roch. Man legte ihn auf eine andere Bahre und brachte die kurz darauf in einem bereitstehenden Fahrzug unter, in einem Haltegestell an der einen Innenwand des Wagens.

Ein Servomotor summte, und eine Tür schloß sich mit metallenem Klicken. Für einige wenige Sekunden schloß sich Stille an. Dann vernahm Hal das Geräusch anlaufender Luftkissengeneratoren, und der Wagen fuhr los.

Aufgrund der Trance, in der sich Hal befand, widersetzte sein Körper sich dem Bemühen, wieder

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vollständig aktiv zu werden. Es handelte sich dabei nicht um einen aktiven Widerstand, sondern eher ein enormes Trägheitsmoment. Die Trance, in die sich Hal selbst hineingesteuert hatte, befreite ihn von all den Schmerzen der vergangenen Tage. Und die angenehme Mattigkeit wirkte wie ein Droge, die seine Betäubung verstärkte.

Erst als er sich an die Verstehensstruktur und ihre Bedeutung erinnerte, war er dazu fähig, die selbstgeschaffene Starre zu überwinden. Kaum hatte er die erste Hülle des Trancekokons durchstoßen, fiel ihm das Erwachen leichter, und Hal verspürte eine gewisse Erleichterung. Er wollte seinen Leib nicht ganz in den normalen Zustand zurückbringen – für den Fall, daß ihn ein Mediziner untersuchte, bevor er den Vorteil nutzen konnte, nicht mehr in der Zelle gefangen zu sein. Das Risiko, daß man ihn einfach zurückschickte, war zu groß.

Andererseits jedoch mußte er wachsam genug sein, um eine Fluchtmöglichkeit als solche zu erkennen und wahrzunehmen. Aus diesem Grund forcierte er das körperliche und geistige Erwachen weiter, bis er einen Punkt erreichte, von dem er glaubte, daß er ihn in die Lage versetzte aufzustehen, sollte sich das als notwendig erweisen. Er fühlte aber, daß seine Pulsfrequenz nach wie vor nicht über vierzig Schläge in der Minute hinausging, und auch der systolische Blutdruck war nach wie vor recht niedrig. Dadurch wurde seine ursprüngliche Besorgnis neu angeregt: Der Körper reagierte nicht im notwendigen Maß auf sein Bemühen, ihn zu wecken.

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Als Hal seine gesamte Willenskraft aufbot, konnte er jedoch er neut wahrnehmen, was um ihn herum vor sich ging, wobei seine emotionalen Reaktionen auf das, was er sah und hörte, allerdings eher rudimentär blieben. Er befand sich allein im Transportabteil eines Fahrzeugs, bei dem es sich offenbar um eine Militärambulanz handelte, die zwölf Kranke gleichzeitig befördern konnte. Zwei Soldaten saßen in den Sesseln vor den Kontrollen.

In die Wände des heckwärtigen Beförderungsabteils waren zwischen den Bahrengestellen einige Fenster integriert. Hals Koje befand sich ganz oben, und eines der Fenster endete dicht unterhalb seines Schulterniveaus. Als er den Kopf ein wenig zur Seite drehte, konnte er nach draußen sehen und die Straße beobachten, über die sie fuhren. Es mochte nicht später als etwa zwei oder drei Uhr nachmittags sein, aber trotzdem waren die Gehsteige leer und die Geschäfte geschlossen.

Es war ein grauer und naßkalter Nachmittag. Zwar regnete es derzeit nicht, aber sowohl der Straßenbelag als auch die Passantenbereiche und die Vorderfronten der Gebäude glänzten feucht. Im Verlauf der Fahrt bot sich Hal nur einige wenige Male die Möglichkeit, zwischen ferneren Bauten einen Fleck des Himmels zu sehen, und sein Blick fiel auf eine niedrige und dichte Wolkendecke. Nach einer Weile schließlich sah er draußen einen Mann, der ruckartig den Kopf wandte, als er die Ambulanz herankommen hörte, und dann rasch durch eine schmale Gasse zwischen zwei Läden verschwand.

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In der Fahrerkabine herrschte eine gewisse Anspannung. Als zumindest die Wahrnehmung Hals wieder auf normale Weise funktionierte, roch er in der ein wenig abgestandenen Luft des Wagens den säuerlichen Geruch von Männern, die angesichts eines emotionalen Stresses schwitzten. Außerdem steuerten die Soldaten das Fahrzeug eher eigenartig. Nur einige Häuserblocks weit lenkten sie den Wagen geradeaus, hielten ohne ersichtlichen Grund an Kreuzungen an und wandten sich dann nach rechts oder links, bevor sie erneut den ursprünglichen Kurs einschlugen.

Kurze Zeit später reduzierte der Fahrer die Geschwindigkeit, und es hatte fast den Anschein, als habe er sich verirrt. Jetzt waren draußen mehr Passanten zu sehen, und sie alle hatten es auffallend eilig und waren in die Richtung unterwegs, in die auch die Ambulanz fuhr. Nach und nach spürte Hal, wie sein Körper wieder aktiver wurde – obgleich er noch immer ein Mehrfaches seines ursprünglichen Gewichts zu wiegen schien. Er stellte fest, daß er zwar nicht in der Gefahr schwebte, sich aufgrund des Erwachens zu rasch zu verraten, er andererseits aber seine Erschöpfung und die Mühe unterschätzt hatte, die notwendig war, um sich endgültig aus dem Trancekokon zu befreien. Die ureigensten Instinkte des Leibes verlangten nach einer Ruhepause,die er fürs Überleben brauchte; und deshalb widersetzte sich der Körper den Bestrebungen Hals, ihn auf eine höhere Stufe des Energieumsatzes zu bringen.

In seiner Anstrengung, sich selbst in einen Zustand zu versetzen, der es ihm nötigenfalls erlaubte, sich zu bewegen und aufzustehen, verdrängte Hal alles andere

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aus dem Kosmos seiner Aufmerksamkeit, bis auf den Wagen und die Straßen, die er durchs Fenster beobachtete. Er registrierte kaum, daß der Fahrer der Ambulanz immer langsamer und vorsichtiger lenkte und sie in immer kürzeren Abständen anhielt. Nach und nach gewann Hal die Kontrolle über seinen Körper zurück, und schließlich glaubte er, aufstehen und gehen zu können, sollte das erforderlich werden – zumindest eine kurze Strecke. Er lag unter der dicken Decke, ballte die Hände zu Fäusten, spannte die Muskeln in Armen und Beinen an und lockerte sie dann wieder, hob die Schultern und übte sich in weiteren Bewegungen, die das Risiko, die Aufmerksamkeit der beiden Milizionäre zu erwecken, möglichst klein hielt.

Er war vollständig darauf konzentriert, als der Wagen so plötzlich anhielt, daß er auf der Bahre ein wenig nach vorn rutschte. Unmittelbar darauf heulte der Motor auf und erstarb dann. Das Fahrzeug rührte sich nicht mehr von der Stelle.

Hal stellte seine Übungen ein und sah aus dem Fenster. Die Ambulanz war von Leuten umringt, einer rasch

dichter werdenden Menge, in der sich nur noch wenige Lücken zeigten und die dem Wagen den Weg versperrte. Hal blickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und auch dort sah er Männer und Frauen, die auf das Fahrzeug zueilten. Ein Wendemanöver war jetzt nicht mehr möglich.

Sie befanden sich auf einem großen Platz, der sich nun rasch mit Leuten füllte. Die Gesichter derjenigen Männer und Frauen, die die Ambulanz umringten und die beiden

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Soldaten darin anstarrten, waren nicht sehr freundlich. Und der Schweißgeruch im Innern des Wagens verstärkte sich. Hal legte den Kopf in den Nacken und sah so weit nach vorn, wie es ihm möglich war. Knapp dreißig Meter vor ihnen mündete eine weitere Straße auf den Platz, versperrt nun von einer dicken Mauer aus menschlichen Leibern. Offenbar hatte der Fahrer gehofft, jene Straße erreichen zu können, bevor ihn die Menge dazu zwang, den Wagen anzuhalten. Vergeblich.

Jetzt saß der Wagen fest – es sei denn, der Fahrer rammte die Ambulanz wie einen Stoßkeil in die Menge hinein. Aber nach den finsteren Gesichtern derjenigen zu urteilen, die jetzt die Soldaten musterten, kam ein solches Unterfangen Selbstmord gleich. Der Mann hinter der Steuereinheit gab ein Geräusch von sich, das zwischen einem Seufzen und einem wütenden Knurren angesiedelt war, und er schaltete den Motor des Fahrzeugs ganz aus, woraufhin der Wagen aufs Pflaster sank. Der Milizionär neben ihm sprach ins Mikrofon eines Kommunikators.

»Bleiben Sie an Ort und Stelle!« ertönte die Antwort aus dem Innenlautsprecher der Ambulanz. »Verhalten Sie sich ruhig. Unternehmen Sie nichts, was besondere Aufmerksamkeit wecken könnte. Bleiben Sie sitzen und zeigen Sie keine Unsicherheit.«

Daraufhin wurde es im Inneren des Wagens still. Die beiden Milizionäre hockten in ihren Sitzen und gaben vor, sich angeregt zu unterhalten, wobei sie sich bemühten, nicht den Blicken der Männer und Frauen draußen zu begegnen. Hal sah erneut aus dem Seitenfenster und kam zu dem Schluß, daß der Fahrer

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den Wagen quer über eine Ecke des Platzes hatte steuern wollen. Aufgrund ihrer derzeitigen Position bot sich ihm ein allgemeiner Blick auf das, was sich auf dem Platz zutrug.

Die Menge drängte sich um einen Sockel zusammen, der ein massives Granitkreuz trug, das mindestens drei Stockwerke in die Höhe ragte. Neugierig spähte Hal durch die Fensterscheibe, auf der die Feuchtigkeit inzwischen eine milchige Patina bildete, und der obere Teil des Kreuzes erschien ihm geradezu gewaltig und erweckte den Eindruck, als schwebe er unmittelbar unterhalb der dicken Masse der Regenwolken. Ein in einen Straßenanzug gekleideter Mann hatte gerade eine Rede beendet und machte Anstalten, vom Sockel herunterzuklettern.

Die Menge klatschte, während der Mann den Sockel verließ. Nach einigen Augenblicken kletterte eine andere Gestalt in die Höhe, jemand, der die Art von Kleidung trug, die Hal selbst während der vergangenen Wochen im Gelände benutzt hatte. Dieser zweite Mann kletterte am Sockel in die Höhe und griff nach dem nach oben ragenden Schaft des Kreuzes, um auf dem schmalen Sims nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und anschließend begann er zu sprechen. Seine Stimme klang klar und deutlich an die Ohren Hals. Ganz offensichtlich benutzte er einen Verstärker. Und die kleinen schwarzen Lautsprecher, die die Zuhörer in unmittelbarer Nähe der Ambulanz ganz offen an den Hemdkragen trugen oder sie hoch über die Köpfe hoben, verkündeten donnernd die Botschaft. Die Worte waren wie Geister, die die Metallwände des blockierten Wagens durchdrangen.

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»Brüder und Schwestern im Glauben Gottes …« Hals Aufmerksamkeit verwandelte sich in eine neue

Art von Wachsamkeit. Die Stimme, der er nun lauschte, gehörte Jason Rowe. Und jetzt, da er den Mann identifiziert hatte, erkannte er die breitschultrige Gestalt auf dem Sockel als den Kameraden, mit dem er zusammen gekämpft hatte.

»Gleich wird Captain Rukh Tamani zu euch sprechen, die nicht nur die Sabotage des Reaktors plante, die von ihrem Kommando gestern durchgeführt wurde, sondern zusammen mit ihren Kriegern des Herrn auch die dafür notwendigen Explosivstoffe sammelte und sie durch den halben Kontinent transportierte, während ihre Gruppe von der Miliz verfolgt und immer wieder in Kämpfe verwickelt wurde. Brüder und Schwestern im Glauben Gottes: Gerade gestern haben wir einmal mehr bewiesen, daß unser Glauben nach wie vor stark und unerschütterlich ist und wir dazu in der Lage sind, die Teufelsbrut genau dort zu schlagen, wo sie sich am stärksten wähnt. Und unser Streiten, das gestern einen neuen Höhepunkt erreichte, wird auch in Zukunft weitergeführt werden – bis die Anderen und ihre Speichellecker nicht mehr unsere Welten heimsuchen und uns unterjochen. Brüder und Schwestern, hier ist sie nun, Rukh Tamani, die Befehlshaberin des Kommandos, das den Reaktor sprengte und damit die Raumschiffswerft stillegte – die Kriegerin des Herrn, die wir alle verehren!«

Die Männer und Frauen klatschten begeistert, als Jason Rowe wieder von dem Sockel herunterkletterte.

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Anschließend ragte das Kreuz wie ein Mahnmal in die Höhe, und der Applaus verebbte allmählich. Er wurde jedoch rasch wieder lauter, als eine schlanke Gestalt in einer Kampfkombination sich an dem Gerüst emporhangelte.

Es war Rukh – es konnte niemand anders sein. Auf dem Sockel blieb sie stehen, und mit dem einen Arm umschlang sie den Schaft des Kreuzes, das sie weit überragte und infolge der Feuchtigkeit glänzte.

Einige Augenblicke lang verharrte sie reglos in dieser Position. Und nach und nach wurde es still auf dem Platz; die Menge beobachtete Rukh erwartungsvoll.

Sie begann zu sprechen, und die kleinen Lautsprecher, die viele der Anwesenden bei sich trugen, verstärkten ihre Stimme, so daß auch die Männer und Frauen sie verstehen konnten, die weiter entfernt standen.

»Wacht auf, ihr Trunkenen, und weinet und heult …« Hal stellte fest, daß es sich um ein Zitat aus dem Alten

Testament handelte, dem ersten Kapitel Joels. Rukhs klare Stimme drang klar durch die Wände der Ambulanz an seine Ohren, wie eine scharfe Nadel, die sich ihm in die Haut bohrte und bei seinem Bemühen unterstützte, die bewußte Kontrolle über seinen Körper zurückzugewinnen.

»… und weinet und heult, alle Weinsäufer, um den süßen Wein.« Und sie fuhr fort:

»Denn er ist euch von eurem Munde weggenommen!

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Denn es zieht heraus in meinem Land ein Volk, mächtig und ohne Zahl; das hat Zähne wie die Löwen und Backenzähne wie die Löwinnen. Es verwüstet meinen Weinstock und frißt meinen Feigenbaum kahl, schält ihn ganz und gar ab, daß seine Zweige weiß dastehen.

Heule wie eine Jungfrau, die Trauer anlegt um ihres Bräutigams willen! Denn Speisopfer und Trankopfer gibt es nicht mehr im Hause des Herrn, und die Priester, des Herrn Diener, trauern. Das Feld ist verwüstet und der Acker ausgedörrt. Das Getreide ist verdorben, der Wein steht jämmerlich und das Öl kläglich.«

Rukh hielt inne, und nach dem hallenden Rhythmus ihrer Stimme erschien die jähe Stille wie eine besondere Last. Als sie fortfuhr, sprach sie langsam und eindringlich.

»Seit wann fürchten wir den Tod?« Sie drehte den Kopf, und ihr Blick glitt über die Menge hinweg. »Denn ich sehe deutlich, wie sehr er euch erschreckt.«

Die Anwesenden schwiegen weiterhin. Es war, als hätten sie nicht die Kraft, Geräusche von sich zu geben. Rukh hielt sie in ihrem Bann, und Hal kämpfte weiterhin gegen den Widerstand seines Körpers an, der im Zustand der zuvor erzwungenen Apathie verbleiben wollte.

»Heute …«, erklang erneut die Stimme Rukh Tamanis, und Hal vernahm sie so deutlich, als stände die Frau direkt neben ihm, »… versammelt ihr euch auf den Straßen. Heute macht die Miliz keine Anstalten, gegen euch vorzugehen und euch in eure Häuser zurückzutreiben. Jetzt seid ihr alle dazu bereit, zu den

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Waffen zu greifen und gegen die Teufelsbrut und den Antichristen in die Schlacht zu ziehen.«

Ein weiteres Mal unterbrach sich Rukh und betrachtete die Menge.

»Morgen aber«, fuhr sie fort, »werdet ihr eure Meinung ändern. Ihr werdet nicht sagen, daß ihr euch weigert, den Kampf gegen die Feinde Gottes aufzunehmen. Aber ihr werdet tausend Gründe finden, um den richtigen Zeitpunkt und die Art des Kampfes in Frage zu stellen – und Ahruma somit nie verlassen.

Seit wann fürchtet ihr den Tod? Der Tod stellt nichts dar, vor dem man Angst haben muß. Unsere Vorfahren wußten dies, als sie von der Erde hierher kamen. Warum habt ihr es vergessen?«

Die Menge rührte sich nicht, und niemand verursachte auch nur das geringste Geräusch.

»Unsere Vorfahren«, sagte Rukh, »waren sich über das klar, was auch wir wissen sollten: Es spielt keine Rolle, was mit unseren Körpern geschieht, so lange das Volk der Kinder Gottes eine Zukunft hat. Denn dann erwartet uns alle ein ewiges Leben.«

Es gelang Hal, die Kontrolle über die Beine zurückzugewinnen, und er bewegte sie auf der Bahre vorsichtig hin und her, um die Blutzirkulation zu stimulieren. Auf diese Weise verursachte er leise kratzende Geräusche. Aber die beiden Milizionäre in der Kontrollkanzel achteten nicht darauf. Die Worte Rukhs hatten sie ebenso in den Bann geschlagen wie die Menge auf dem Platz.

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»Es gibt da einen Mann«, sagte Rukh, und die vielen kleinen Lautsprecher schleuderten ihre Worte auf allen Seiten des Platzes an die Betonwände der Gebäude, »der sich schon einmal in dieser Stadt aufhielt und bald hierher zurückkommen wird. Einige nennen ihn den Großen Lehrer.«

Sie zögerte. »Aber er verbreitet eine Lügenlehre. Er ist die

Inkarnation des Antichristen. Doch er beneidet uns auch: um unsere Unsterblichkeit, meine Brüder und Schwestern. Denn er selbst ist verwundbar und vergänglich. Man kann ihn töten.

Nur Gott allein währt ewig. Er wird selbst dann noch existieren, wenn es die Menschheit nicht mehr gibt. Und da wir alle Teil Gottes sind, bietet sich auch uns das Geschenk der Unsterblichkeit dar. Die Antichristen jedoch, die nun unter uns weilen und sich auf die letzte Schlacht vorbereiten, können nur mit der Menschheit zusammen zu überleben hoffen. Nur dann, wenn wir nicht gegen sie vorgehen, wenn wir sie in unsere Reihen aufnehmen, werden sie nicht der Verdammnis anheimfallen.

Da aber die Menschheit ein Kind Gottes ist, kann der Feind zwar unsere Körper zerstören, nicht aber unsere Seelen, so lange wir sie ihm verweigern. Geben wir jedoch auf, sind wir tatsächlich verloren.

Denn wir büßen nur dann unsere Unsterblichkeit ein, wenn wir uns von Ihm abwenden. Wenn wir uns nicht den Antichristen unterwerfen, so leben wir in den

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Kindern unserer Kinder weiter. So lange unser Volk frei ist, kann uns niemand das ewige Leben nehmen.«

Rukh unterbrach sich erneut, und zum erstenmal vernahm Hal nun ein gedämpftes Seufzen, so leise wie ein Windhauch, der über die Menge hinwegstrich.

»Es gibt Leute«, sagte Rukh, »die fragen: ›Aber was ist, wenn wir alle von den Jüngern der Antichristen getötet werden?‹ Und die Antwort auf diese Frage lautet: ›Das ist unmöglich.‹ Denn dann gäbe es nicht mehr genügend Diener für die Teufelsbrut. Doch selbst wenn es unseren Feinden gelänge, all diejenigen umzubringen, die am Glauben festhalten, so brächte ihnen das doch nichts ein. Denn selbst in ihren Sklaven schliefe der Glaube und wartete nur auf die richtige Stunde, auf die Stimme des Herrn, um dann erneut aufzublühen und stärker zu werden als jemals zuvor.«

Rukh hielt inne und ließ den Blick über die Menge schweifen.

»Und deshalb faßt Mut«, sagte sie. »Unsere Gegner können nur Körper zerstören, nicht aber Seelen. Kommt, auf daß ich euch helfe, eure Furcht vor dem Tod zu überwinden – bei der es sich doch um nichts anderes handelt als die Angst eines Kindes vor dem Dunklen. Legt Zeugnis ab vor dem Herrn. Preiset Seinen Namen und dankt Ihm, daß Er bei uns ist, daß wir diesen glorreichen Augenblick erleben dürfen. Denn diejenigen, die für Ihn kämpfen, wissen, daß sie nicht verlieren können, weil Er der Allmächtige ist.«

Rukh machte eine kurze Pause.

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»Und nun, meine Brüder und Schwestern«, fuhr sie fort, »legt zusammen mit mir Zeugnis ab vor dem Herrn. Laßt uns gemeinsam singen, auf das Gott unsere Stimmen hört.«

Sie ließ den Schaft des Kreuzes los, stand mit hoch erhobenen Armen auf dem schmalen Sims und begann zu singen. Ihre Stimme wurde einmal mehr von den vielen kleinen Lautsprechern verstärkt, und Hal vernahm die Hymne, die James Gotteskind im Hause Amjaks zu einem Lied des Triumphs gemacht hatte.

»Frag nicht, Soldat – nicht jetzt noch irgendwann, In welchen Krieg dein Banner dich führen mag. Die Legionen des Teufels umzingeln uns. Kämpfe! Und spüre nicht den Schlag …«

Und die Menge sang ebenfalls. Die beiden Milizionäre in der Kontrollkanzel des Wagens schwiegen, aber sie duckten sich in ihre Sitze, als sei das Lied eine Waffe, deren Lauf direkt auf sie zielte. Die Ansprache Rukhs hatte auch auf Hal nicht ihre Wirkung verfehlt, und plötzlich wurde er sich bewußt, daß er die Chance, aus der Ambulanz zu entkommen, ungenutzt verstreichen ließ.

So leise wie möglich strich er die Decke an die Fensterseite der Bahre, schwang die Beine über den Rand und ließ sich langsam zu Boden sinken.

Weiter vorn starrten die beiden Soldaten durch das Fenster links vom Fahrer, und ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich allein auf das, was außerhalb des Wagens geschah.

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Hal schwankte ein wenig. Er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu wahren, und es kostete ihn nicht unbeträchtliche Mühe, sich aufrechtzuhalten. Er schlich in Richtung der Hecktür der Ambulanz. Ein Schritt, zwei, drei … Und er erreichte die Luke.

Er tastete mit der einen Hand nach dem Sperriegel des Schlosses, bereit dazu, ihn herunterzudrücken. Als er einen kurzen Blick über die Schulter warf, sah er die beiden Milizionäre, die nach wie vor nicht bemerkten, was sich hinter ihnen zutrug.

Daraufhin wandte sich Hal erneut der Tür zu und machte Anstalten, den Riegel aus der Arretierung zu lösen. Er widersetzte sich diesem Bemühen, so als sei er mit dem Metall der Luke fest verschweißt. Hal glaubte, der Grund sei seine Schwäche, und mit seinem ganzen Körpergewicht stemmte er sich auf den Hebel. Doch er rührte sich noch immer nicht.

Dann rief sich Hal selbst zur Ordnung. Er betrachtete das Schloß genauer und stellte fest, daß der Riegel von einem horizontalen Sperrbolzen festgehalten wurde, den es zunächst beiseite zu schieben galt. Er griff danach und zog, doch zuerst ließ der Bolzen sich ebenfalls nicht bewegen. Hal zog stärker, und plötzlich ruckte der kleinere Riegel zur Seite und schlug mit einem metallenen Klacken gegen die Luke. Für die Ohren Hals klang dieses Geräusch wie ein Alarm, der auf dem ganzen Platz zu hören sein mußte. Rasch griff er nachdem Öffner der Tür.

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»Halt!« ertönte von der Kontrollkanzel her eine heisere Stimme. »Wenn Sie den Griff herunterdrücken, schieße ich!«

Hal ließ den Riegel nicht los und sah über die Schulter. Die beiden Milizionäre blickten ihn über die Rückenlehnen ihrer Sitze hinweg an. Und zwischen den beiden Sesseln sah Hal den in Konduktionsspulen gehüllten Lauf einer kleinen Vakuumpistole. Die Waffe zielte auf ihn, und der Soldat hielt sie so tief, daß die Männer und Frauen draußen sie nicht sehen konnten.

»Wenn ich abdrücke, ertönt nicht das geringste Geräusch«, sagte der Fahrer. »Wenden Sie sich von der Tür ab und legen Sie sich wieder auf die Bahre.«

Hal musterte die beiden Männer, und der Schatten der Verstehensstruktur in seiner Seele schien sich zwischen ihn und die Milizionäre zu senken.

»Nein«, erwiderte er. »Wenn ich tot aus dem Wagen falle, werden Sie beide keine Minute überleben.«

Er drückte den Riegel herab und lehnte sich gegen die Tür. Das Schloß öffnete sich, und Hals Körpergewicht schob die Luke halb auf, bevor sie gegen jemanden stieß, der draußen stand. Hal rutschte in die Öffnung, die noch immer zu schmal war, um ihm ganz Durchlaß zu gewähren, ihm andererseits jedoch genug Platz für den Kopf bot.

»Helft mir, Brüder!« krächzte er. »Helft mir! Die Miliz hat mich gefangengenommen!«

Instinktiv erwartete er einen heftigen Schlag gegen den Rücken – durch die Entladung der Vakuumpistole des Fahrers. Aber nichts geschah. Er bemerkte, wie sich ihm

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erstaunte Gesichter zuwandten. Dann plötzlich öffnete sich die Tür ganz, und er fiel nach vorn.

Er wäre zu Boden gestürzt, wenn ihn nicht rechtzeitig einige der draußen stehenden Männer und Frauen gestützt hätten.

»Hilfe …«, brachte er erneut hervor. Er hatte Mühe, seine eigene Stimme zu verstehen, und er spürte, wie die Kraft aus ihm herausströmte, die er hatte sammeln können, um von der Bahre zu rutschen. »Sie haben mich in eine ihrer Gefängniszellen eingesperrt …«

Für einige Sekunden lichteten sich die grauen Schwaden vor seinen Augen, und er sah und fühlte, wie man ihn einige Meter weitertrug. Anschließend hob man ihn in Kopfhöhe der Menge, und Dutzende von Händen griffen nach ihm, stützten ihn und schoben ihn vorsichtig weiter. Er bemerkte auch, eher unbewußt, daß er nicht der einzige war, den man auf diese Weise transportierte: Hier und dort auf dem Platz kümmerten sich die Anwesenden um weitere Verletzte und Verwundete, auf die gleiche Weise, in der man sich seiner annahm – Männer, Frauen und sogar einige Kinder, die rasch in Richtung der Peripherie des Platzes getragen wurden.

Angesichts der Erschöpfung Hals und seiner Schwierigkeit, das, was um ihn herum geschah, in aller Deutlichkeit wahrzunehmen, hatte er das Gefühl, über einen seltsam unebenen Grund zu schweben, während man ihm immer wieder auf den Rücken klopfte. Und sonderbarerweise ließ dieses Empfinden erneut die Traumvision in ihm Konturen gewinnen: Es war, als marschiere er ein weiteres Mal über eine weite Ebene,

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auf einen hohen Turm zu, der in der Ferne emporragte. Er spürte die feuchte Kälte, die ihm durch das dünne Hemd und die Hose drang. Nach einer Weile verringerte sich die Anzahl der Hände, die ihn stützten, und einige Sekunden später ließ man ihn herab, in eine aufrechte Position, so daß seine Füße das Pflaster einer der Straßen berührten, die auf den Platz führten.

»Stützen Sie sich auf mich«, ertönte in unmittelbarer Nähe eine männliche Stimme.

Hal fühlte zwei Gestalten neben sich, eine rechts, die andere links. Er stützte sich auf sie beide, und die Männer schlangen ihm die Arme um die Taille. Auf diese Weise schleppten sie ihn durch die hier weniger dicht gedrängte Menge, und kurz darauf wurde es um Hal herum wieder angenehm warm.

Die beiden Männer hatten ihn über eine Rampe ins Innere eines großen Transporters geführt, der offenbar als eine Art Notlazarett diente.

»Legt ihn dorthin«, sagte eine Frau, von deren Hals ein Stethoskop herabbaumelte und die gerade jemanden untersuchte, der auf einer Liege ruhte. Sie deutete auf eine andere und leere Koje hinter ihr.

Vorsichtig ließen die beiden Männer Hal auf die Bahre hinab.

»Stellt fest, ob ihn jemand von den Leuten draußen kennt«, sagte die Frau. »Und macht die Tür hinter euch zu.«

Daraufhin verließen die beiden Männer den Wagen. Hal genoß die Wärme und die Erleichterung darüber, der

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Gefangenschaft entkommen zu sein. Nach einer Weile trat die Ärztin mit dem Stethoskop auf ihn zu.

»Wie geht es Ihnen?« fragte sie, griff nach seiner Hand und prüfte den Puls.

»Ich fühle mich ziemlich schwach«, erwiderte Hal. »Ich bin aus einer Ambulanz der Miliz geflohen. Sie wollten mich ins Hospital bringen.«

»Warum?« fragte die Frau und holte ein Fieberthermometer hervor.

»Ich hatte eine Lungenentzündung oder etwas in der Art.«

»Leiden Sie an Asthma?« »Nein.« Hal hustete heftig und sah sich nach einem

Spucknapf um. Die Ärztin reichte ihm eine weiße Schale. Hal spuckte. Die Frau schob ihm für einige Sekunden das Sensorende des Fieberthermometers unter die Zunge und blickte dann auf die Anzeige.

»Derzeit ist Ihre Körpertemperatur normal«, sagte sie. »Aber Sie schnaufen und keuchen: Offenbar fällt Ihnen das Atmen immer noch schwer.«

»Ja«, bestätigte Hal. »Während der letzten Tage war es noch viel schlimmer. Ich glaube, ich hatte ziemlich hohes Fieber. Aber heute morgen ließ es endlich nach.«

»Rollen Sie den Ärmel hoch«, wies ihn die Ärztin an, griff nach einem Hochdruckinjektor und schob eine Ampulle in das Gerät. Hal hatte Mühe, den Haftverschluß der Ärmelmanschette zu lösen, und die Ärztin legte den Injektor kurz beiseite, um ihm zu helfen. Anschließend beobachtete Hal, wie sich ihm das Gerät

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auf die Haut preßte, und er spürte die Kühle des Metalls und fühlte, wie das Medikament den Muskel durchdrang.Er zog den Ärmel wieder herunter und schloß die Manschette.

»Trinken Sie das«, sagte die Frau und reichte ihm einen Becher. »Trinken Sie alles aus.«

Hal schluckte eine Flüssigkeit, die wie abgestandener Zitronensaft schmeckte. Kaum eine halbe Minute später erlebte er etwas, das ihm wie ein Wunder erschien: Seine Lungen öffneten sich ganz, und kurz darauf war er damit beschäftigt, große Schleimbrocken auszuhusten, die ihm bis dahin einen Teil der Atemwege blockiert hatten.

Die Tür des Wagens schwang auf und schloß sich dann wieder.

»Und ob ich ihn kenne«, erklang eine Stimme. »Das ist Howard Immanuelson, einer der Kämpfer aus dem Kommando Rukhs.«

Hal drehte den Kopf und sah das rundliche und verkniffene Gesicht des Enkels von Gustav Mohler vom Mohler-Beni-Anwesen. Er trat in Begleitung eines anderen Mannes auf Hal zu.

»Geht es Ihnen jetzt besser?« fragte der Enkel, dessen Namen Hal nicht kannte. »Soll ich Sie irgendwohin bringen? Ich bin vor einigen Tagen mit einem der Transporter in die Stadt gekommen, und ich kann den Wagen sofort holen. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir sind hier alle des Glaubens!«

Bei den letzten Worten errötete er leicht. Hal mußte an den Fahrer mit dem Akkordeon denken, der an jenem Abend auf dem MohlerBeni-Bauernhof gefordert hatte,

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das Kommando solle sich von ihm, Hal, trennen; offenbar empfanden ihr Gastgeber und seine Familie deswegen ein gewisses Schuldbewußtsein.

»Das bezweifle ich nicht«, erwiderte Hal. »So ist er nicht transportfähig«, warf die Ärztin mit

scharfer Stimme ein, und sie sah von einem weiteren Kranken oder Verletzten auf, der auf einer anderen Liege ruhte. »Er würde sofort einen Rückfall erleiden. Er braucht dickere und wärmere Kleidung. Irgend jemand der Leute draußen hat sicher eine Jacke oder einen Mantel für einen Krieger des Herrn übrig.«

Der Mann, der zusammen mit dem Enkel Mohlers den Wagen betreten hatte, verließ das Fahrzeug rasch wieder.

»Ich bin sicher«, sagte Mohlers Enkel, »es gibt tatsächlich viele Leute, die Ihnen sehr gern einen Mantel überlassen würden. Ich soll te jetzt vielleicht besser den Wagen holen, damit Sie nicht zu weit zu Fuß gehen müssen.«

Er ging ebenfalls, und Hal fragte sich, ob es unter den Anwesenden draußen wirklich jemanden geben mochte, der dazu bereit war, sich von Mantel oder Jacke zu trennen und das warme Kleidungsstück jemandem zu überlassen, der ein Fremder war.

Kurz darauf aber kehrte der Begleiter von Mohlers Enkel zurück, und er brachte gleich ein halbes Dutzend Jacken und Mäntel mit. Hal hätte sich mit irgendeinem etwas wärmeren Kleidungsstück begnügt und wärehöchst dankbar dafür gewesen. Die Ärztin jedoch wählte eine Jacke aus, die dick gefüttert war und sich damit besser für ihn eignete als alle anderen.

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»Danken Sie demjenigen, der sie Ihnen gegeben hat«, wandte sich Hal an den Mann.

»Das ist nicht nötig«, erwiderte der. »Der Betreffende ist sehr stolz darauf, daß einer der Kämpfer Rukhs eins seiner Kleidungsstücke trägt.«

Mit den anderen Sachen ging er fort, und kurz darauf kam Mohlers Enkel zurück und half Hal in einen kleineren Wagen, der nun dicht neben dem Transporter mit dem Notlazarett geparkt war und vor dem sich eine große Menge versammelt hatte. Die Männer und Frauen klatschten begeistert, als sie Hal sahen, der von dem jüngeren Mann an seiner Seite gestützt wurde.

Hal winkte und lächelte, ließ sich in den Wagen helfen und lehnte sich erschöpft in dem Sitz zurück, als Mohlers Enkel den Motor startete und das Fahrzeug durch die Passage lenkte, die die Menge für sie freigab.

»Wohin möchten Sie?« fragte er. »Ich … es tut mir leid, aber ich erinnere mich nicht an

Ihren Namen«, sagte Hal. »Mercy Mohler«, stellte sich der Mann neben ihm vor. »Nun, ich danke Ihnen sehr, Mercy«, sagte Hal. »Ich

freue mich, daß Sie mich wiedererkannten. Und ich versichere Ihnen, daß ich die Fahrt genieße.«

»Nichts zu danken«, antwortete Mercy und errötete erneut. »Wohin?«

Hal versuchte sich an die Adresse zu erinnern, die er auf den Umschlag geschrieben hatte, in dem sich seine Papiere befanden. Er vergaß nichts von dem, was er sich einmal ins Gedächtnis einprägte. Aber manchmal

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dauerte es eine Weile, bis er in seinem mentalen Archiv eine gewisse Ablage fand. Im letzten Augenblick veränderte er einige der Daten, auf die er bei seiner gedanklichen Suche gestoßen war. Es war nicht nötig, den jungen Mann wissen zu lassen, daß er das Exotische Konsulat aufsuchen wollte.

»French Galley Nummer dreiundvierzig«, sagte er. »Wissen Sie, wo das ist? Ich habe nur diese Adresse.«

»Am besten, ich erkundige mich«, erwiderte Mercy. Er hielt den Wagen an, öffnete das Fenster und sprach

jemanden aus der Menge an. Nach einer Weile schloß er das Fenster wieder und fuhr an.

»Die French Galley schließt direkt an die John-Knox-Straße an und befindet sich südlich der Ersten Kirche«, sagte er. »Den Ort kenne ich. Wir sind in zehn Minuten da.«

Aber schließlich brauchten sie fast zwanzig Minuten, um die angegebene Adresse zu erreichen: einen Platz, an dessen Peripherie sich einige recht vornehm aussehende und jeweils drei Stockwerke hohe Gebäude erhoben. Hal beobachtete die Flaggen über den breiten Eingängen, und er kam zu dem Schluß, daß an diesem Ort einige der Außenweltkonsulate Ahrumas untergebracht waren. Es hatte also keinen Sinn, seine Absicht zu verheimlichen, mit Diplomaten Verbindung aufzunehmen. Der nun ein wenig verwirrt wirkende Mercy hielt den Wagen vor einem etwas kleineren und bräunlichen Haus an, das zwischen den Konsulaten der Venus und von Neuerde stand.

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»Vielen Dank«, sagte Hal und stieg aus. »Im Ernst: Ich bin Ihnen wirklich sehr zu Dank verpflichtet. Ich wünsche Ihnen alles Gute, und grüßen Sie Ihren Großvater und den Rest Ihrer Familie von mir, wenn Sie nach Hause zurückkehren.«

»Es war mir ein Vergnügen – und eine Ehre«, erwiderte Mercy. Er schloß das Fenster, winkte und fuhr davon.

Hal hob ebenfalls die Hand und sah dem Wagen nach, bis er in einer der Seitenstraßen verschwunden war. Er holte Luft und ließ den Atem seufzend entweichen. Mercy war zwar sehr freundlich gewesen, hatte jedoch den Hal verbliebenen kleinen Vorrat an Kraft weiter verringert.

Er wandte sich um und hielt mit unsicheren Schritten auf sein eigentliches Ziel zu: French Galley Nummer sechsundsiebzig. Der Weg bis zum Tor fiel ihm nicht sonderlich schwer, aber die sechs Stu fen der Treppe zur Tür empor erschienen ihm wie ein unüberwindliches Hindernis. Schließlich blieb er keuchend auf der obersten Stufe stehen und betätigte den Melder. Eine Wartezeit von einigen Sekunden schloß sich an. Hal wollte den Melder schon ein weiteres Mal summen lassen, als es plötzlich in dem kleinen und in die Tür integrierten Lautsprecher knackte.

»Ja?« fragte eine Stimme. »Ich bin Howard Immanuelson«, sagte Hal und lehnte

sich erschöpft an die Tür. »Vor ein paar Tagen schickte ich Ihnen einige Papiere …«

Die Tür öffnete sich. Und vor der relativen Dunkelheit im Innern des Gebäudes zeichnete sich eine Gestalt ab,

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die fast ebenso groß war wie Hal und eine safrangelbe Robe trug. Das Gesicht des Mannes war rund und voll und irgendwie alterslos.

»Wir haben Sie bereits erwartet, Hal Mayne«, sagte eine sanfte Baritonstimme. »Amid trug uns auf, Ihnen in jeder Beziehung behilflich zu sein. Und er meinte, Sie würden bald eintreffen. Kommen Sie herein.«

22 Hal ruhte in einer Vertiefung, die wie eine Gesprächsmulde wirkte. Gekleidet war er in eine moosgrüne Exotenrobe, und er lauschte dem melodischen Zwitschern der Vögel und dem Gluckern eines Springbrunnens hinter der Abschirmung aus etwa drei Meter hohen und weidenartigen Bäumen. Diese Harmonie herrschte in allen von Exoten kreierten Aufenthaltsbereichen, und sie dämpfte den Rest der Anspannung, der noch in Hal verblieben war. Über ihm spannte sich jenseits eines transparenten Wetterschildes ein blauer Himmel, und der grünliche Glanz der Sonne Prokyon A umflutete ihn – ein Licht, das nicht nur auf diese Welt, Mara, fiel, sondern auch den Zwillingsplaneten Kultis und auf die beiden anderen und etwas kleineren bewohnten Planeten, die anderthalbmal so weit wie Mara vom Zentralgestirn dieses Sonnensystems entfernt waren: Santa Maria und Coby.

Hal hatte gelesen, aber die Kapsel war seinen Händen entglitten und ihm in den Schoß gefallen, und daraufhin

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verblaßten die vor ihm in die Luft projizierten Worte. Er fühlte sich vollkommen durchdrungen von jener Art von angenehmer Lethargie, die typisch ist für Leute, die sich entweder von einer ernsten Krankheit oder großen physischen Anstrengungen erholen. Hals gegenwärtige Umgebung – er befand sich in einem der exotischen Anwesen, in dem man sich oftmals nicht sicher sein konnte, ob man ein Dach über dem Kopf hatte oder nicht – vermittelte ihm den Eindruck, für all die Dinge, die er erledigen mußte, stände ihm eine ganze Ewigkeit zur Verfügung. Gleichzeitig jedoch, mit der Wiederherstellung seiner Kräfte, verstärkte sich auch das Drängen in ihm, das sich im Milizgefängnis in ihm entwickelt hatte.

Irgend etwas in Hal hatte sich verändert. Während der vergangenen Woche war er geradezu rapide älter und reifer geworden. Es fiel ihm jetzt nicht mehr so leicht sich vorzustellen, daß ihn die Exoten allein aus purer Freundlichkeit heimlich von Harmonie nach Mara gebracht hatten, und seiner Ansicht nach spielten in dieser Hinsicht auch die persönlichen Motive Amids keine dominierende Rolle. Tatsächlich zeichneten sich die Exoten durch eine prinzipielle Freundlichkeit aus. Aber sie waren vor allen Dingen Praktiker. Bestimmt, so überlegte Hal, kam es aufgrund der Hilfe und Fürsorge für ihn zu weiteren interessanten Entwicklungen – und das begrüßte er, denn er verspürte den Wunsch, ein längeres Gespräch mit seinen Gastgebern zu führen.

Seit er im Heim Amids eingetroffen war, hatte er den Exoten nur einige wenige Male und ganz kurz zu Gesicht bekommen. Zuvor – vor dem Verlassen von Harmonie –

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hatte er praktisch nur mit einer Frau namens Nerallee zu tun gehabt, der Außenbürgin des Konsulates von Ahruma. Während der Reise nach Mara war sie sowohl seine Gesellschafterin als auch Krankenschwester gewesen. Später dann, während er sich rascher erholte und wieder zu Kräften kam, hatte sie sich immer weniger um ihn gekümmert. In Hal war das Gefühl eines Verlusts entstanden, aber er wußte natürlich auch, daß Nerallee wieder ihren Pflichten auf Harmonie nachkommen mußte. Und es war eher unwahrscheinlich, daß sie sich noch einmal begegnen würden.

Hal lag ruhig und entspannt und dachte über das nach, was ihn bis an diesen Ort geführt hatte. Nach dem Betreten des Exotischen Konsulates in Ahruma war er in einen Raum geführt worden und hatte erst einmal ausgiebig geschlafen. Er erinnerte sich nicht an Drogen, die ihm verabreicht worden waren. Aber obgleich die Exoten pharmazeutische Stimulanzien nicht direkt ablehnten, setzten sie sie doch nur recht selten sein. Darüberhinaus entsann sich Hal auch nicht an eine besondere Behandlung von Körper und Geist. Er wußte nur noch, daß die Matratze unter ihm von genau der richtigen Beschaffenheit gewesen war, und er glaubte, nach wie vor die warme Luft zu fühlen, die ihn wie eine zusätzliche Decke sanft umschmiegte.

Als er erwachte, fühlte er sich etwas kräftiger als zuvor. Bedienstete des Konsulats reichten ihm verschiedenartige Getränke, die sehr angenehm schmeckten, und sie kleideten ihn so, daß er dem hochgewachsenen Exoten ähnelte, der ihn an der Tür empfangen hatte.

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Nerallee kümmerte sich vom ersten Augenblick an um ihn. Und nach einigen Tagen begleitete sie ihn aus dem Konsulatsgebäude und in einen geschlossenen Diplomatenwagen. Damit fiel es ihnen nicht schwer, die gewöhnlichen Kontrollen und ID-Überprüfungen zu passieren, und sie gelangten schließlich zu einem den Exoten gehörenden Raumschiff. Nerallee brachte den angeblich kranken Konsulatsbeamten an Bord dieses Kreuzers.

Hal konnte sich nicht an den Start des Schiffes erinnern. Er entsann sich an die ersten Tage an Bord, und er wußte, daß er oft und lange geschlafen hatte. Jedesmal, wenn er erwachte, war Nerallee bei ihm, pflegte ihn und gab ihm zu essen und zu trinken. Schließlich erholte sich Hal soweit, daß er begriff, daß Nerallee die ganze Zeit über nicht ein einziges Mal von seiner Seite gewichen war. Dieser Umstand, die instinktive Dankbarkeit, die er ihr gegenüber empfand, führte dazu, daß er sich halb in sie verliebte.

Es war eine kurzzeitige und melancholische Liebe, von der sie beide wußten, daß sie nicht von langer Dauer sein konnte. Ganz offensichtlich war Nerallee eine Heilerin in der exotischen Tradition, und es gehörte zu ihrer Arbeit, sich ihm ganz zur Verfügung zu stellen. Ebenso eindeutig hatte sie auf seine Gefühle reagiert und erwiderte Hals Liebe, weil sie etwas in ihm entdeckte, das über das hinausging, was sie in den anderen Männern gefunden hatte, deren Körper und Seelen von ihrer besonderen Fähigkeit geheilt worden waren. Er spürte das, noch bevor sie sich ihm offenbarte.

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Doch trotz ihrer Ausbildung und Erfahrung sah sich Nerallee außerstande, ihm genau zu erklären, was ihn von den anderen Menschen unterschied – obgleich sie sich sehr ausführlich darüber unterhielten. Für ihre Arbeit war es notwendig, daß sie sich denjeni gen, die ihre Hilfe brauchten, einerseits völlig öffnete und sie die Betreffenden andererseits dazu veranlassen mußte, ihrem Beispiel zu folgen. Einmal erklärte sie Hal, daß sie, wie alle anderen exotischen Heiler, durch jeden weiteren Menschen, dem sie helfe, innerlich wüchse. Und wenn sie dazu nicht mehr in der Lage sei, bliebe ihr nichts anderes übrig, als diese Tätigkeit aufzugeben.

Während Hal weiterhin still und ruhig lag und dem Gurgeln des Springbrunnenwassers und dem Zwitschern der Vögel lauschte, versuchte er, sich das Gesicht Nerallees in Erinnerung zurückzurufen, und mußte feststellen, daß ihm das nicht gelang. Fast dreihundert Jahre lang hatte man sich auf Mara und Kultis mit Fragen der Genetik befaßt, und es gab daher keinen Exoten, der nicht physisch attraktiv gewesen wäre – im Sinn eines gesunden und regelmäßig geformten Körpers. Doch das, was Nerallee besonders auszeichnete, war inzwischen unter den mentalen Gewichten seiner anderen Erkenntnisse über sie verschwunden. Zuerst hatte sie auf ihn einen eher unscheinbaren und geradezu gewöhnlichen Eindruck gemacht, aber nach den ersten Tagen an Bord war ihm aufgefallen, daß ihr Gesicht jedesmal dann, wenn er es betrachtete, anders wirkte und immer neue Aspekte offenbarte, über die er schließlichdie Übersicht verloren hatte. Ihre Züge schienen sowohl eine engelhafte Schönheit als auch etwas Sanftes und

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Vertrautes zum Ausdruck bringen zu können – jene Art von Vertrautheit, die dazu führt, daß kleine Kinder intensiv auf den Anblick ihrer Eltern reagieren; oder daß man sich in Hinsicht auf einen Ehepartner, mit dem man schon viele Jahre zusammenlebt, nicht an einzelne Erscheinungsformen, sondern nur an die Gesamtperson in allen ihren Aspekten entsinnen kann.

Aber Nerallee hatte ihm auf diese Weise geholfen, die von ihm zuvor als gar nicht so notwendig erachtet worden war: Sie hatte seine Aufmerksamkeit vollständig auf sich fixiert und ihm damit die Möglichkeit gegeben, Abstand von den zurückliegenden Ereignissen zu gewinnen und sich wirklich zu erholen. Jetzt jedoch, da seine Kräfte so gut wie wiederhergestellt waren, brauchte er einen solchen Beistand nicht mehr, und aus diesem Grund hatte Nerallee ihn verlassen, um sich um andere Menschen zu kümmern, die auf ihre Hilfe angewiesen waren.

Auch weiterhin lauschte Hal dem unentwegten Singen der Vögel und dem beständigen Rauschen des Wassers.

Nach einer Weile hörte er hinter sich, oberhalb der Gesprächs mulde, das Geräusch sich nähernder Schritte. Er drehte den Kopf und sah Amid, der sich zu ihm in die Bodenvertiefung gesellte und sich im Sessel ihm gegenüber niederließ – einem Sessel, der aussah wie ein aus dem Fels gemeißelter Lehnstuhl. Hal richtete sich auf der Couch auf.

»Jetzt bietet sich uns also endlich eine Möglichkeit, miteinander zu sprechen?« fragte er.

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Amid lächelte und zupfte an den Falten seiner rostroten Tunika. Sie waren sich schon des öfteren begegnet, aber jedesmal hatte der frühere Außenbürge für Hal nur einige wenige Minuten Zeit erübrigen können, bevor er mit der Entschuldigung, er habe eine Menge zu tun, gegangen war.

»Die Dinge, die mich beschäftigen«, sagte der recht kleine Mann mit dem faltigen Gesicht, »sind nun größtenteils erledigt. Ja, wir können uns so lange unterhalten, wie Sie möchten.«

»Es handelt sich dabei doch nicht zufällig um Dinge, die mit meinem Aufenthalt hier zusammenhängen?« fragte Hal und erwiderte das Lächeln des Exoten.

Amid lachte laut. Seinem Alter entsprechend hörte es sich nicht direkt wie ein Lachen an, sondern eher wie ein rauhes Kichern. Aber es klang sehr freundlich.

»Sie können kaum erwarten, nach Mara zu kommen, ohne uns dadurch Probleme mit den Anderen zu bescheren, wenn auch nur indirekt«, erwiderte Amid.

»Indirekt?« fragte Hal skeptisch. »Nun, zumindest zu Anfang«, sagte der Exote. »Ihre

Ahnungen haben sich inzwischen bestätigt. Seit einigen Tagen kann man von einer direkten und unmittelbaren Problematik sprechen. Bleys weiß, daß Sie hier sind.«

»Hier? Ich meine: Er ist darüber informiert, daß ich mich in Ihrem Heim befinde?«

»Nein. Er weiß nur von Ihrer Anwesenheit auf Mara – vermutlich auch von Ihrem Aufenthalt in dieser Hemisphäre. Er ist nicht dazu in der Lage festzustellen, wo genau Sie sich befinden.«

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»Aber ich nehme an, er übt Druck auf Sie aus, um Sie dazu zu bewegen, mich ihm auszuliefern?« fragte Hal.

»Ja.« Amid nickte. »Er setzt uns tatsächlich unter Druck. Und ich fürchte, irgendwann müssen wir ihm nachgeben. Doch noch ist es nicht soweit. Außerdem wäre es auch unter der Würde der Exo ten, einem derartigen Verlangen der Anderen sofort nachzukommen.«

»Es freut mich, das zu hören«, sagte Hal. »Aber vermutlich sind Sie nicht sonderlich

überrascht«, erwiderte Amid ernst. »Sie dürften sicher wissen, daß wir ein besonderes Interesse an Ihnen haben und darum über einige gewisse Dinge sprechen sollten?«

Hal nickte. »Bestimmt konnten Sie sich in der Zwischenzeit mit den Berechnungen beschäftigen, die Walter der Unterweiser erarbeitete, nachdem er zu einem meiner Mentoren geworden war.«

»In der Tat. Damals versahen wir die entsprechenden Unterlagen mit dem Hinweis, Sie könnten sich zum Fokuspunkt historischer Kräfte entwickeln. Als Konsequenz daraus hielten wir die betreffenden Aufzeichnungen immer auf dem neuesten Stand – bis zum Tod Ihrer Lehrer und Ihrem Aufenthalt in der Letzten Enzyklopädie …«

»Mit der Hilfe Walters?« warf Hal ein. Amid musterte ihn einige Sekunden lang schweigend. »Ja, mit Walters Hilfe«, bestätigte er ruhig. »Nach

seinem Tod begaben Sie sich in die Letzte Enzyklopädie, und dadurch verloren wir Sie aus den Augen. Erst durch das spezielle Interesse Bleys' wurden wir darauf

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aufmerksam, daß Sie nach Coby geflogen sind. Die Tatsache, daß Sie die Anderen jahrelang täuschen konnten, ist, gelinde gesagt, erstaunlich. Und gleichzeitig der Hauptgrund für unsere Ihnen geltende Neugier. Darum haben wir in der letzten Zeit nach Ihnen Ausschau gehalten. Als wir bemerkten, daß Bleys ganz offensichtlich großen Wert darauf legte, Sie auf Coby zu lokalisieren und dingfest zu machen, trafen wir Vorbereitungen dafür, daß sich an Bord der beiden Raumschiffe, die sich Ihnen für eine Flucht anboten, jeweils einer von uns befand. Ich hatte das Glück, mit Ihnen zusammenzutreffen.«

»Ich verstehe«, sagte Hal. »Sie sind an mir interessiert, weil das auch auf Bleys zutrifft.«

»Aber natürlich nicht aus den gleichen Gründen«, erklärte Amid. »Wir nehmen an, Bleys möchte Sie entweder neutralisieren oder auf seine Seite ziehen. Unsere Absicht hingegen besteht darin, Ihnen die Möglichkeit zu geben, wirksam gegen die Anderen vorgehen zu können. Der Grund dafür ist nicht allein das Interesse, das Bleys Ihnen entgegenbringt. Wir halten Sie in erster Linie deshalb für wichtig, weil die entsprechenden ontogenetischen Berechnungen eine derartige Vermutung nahelegen.«

»Steckt wirklich nicht mehr dahinter?« fragte Hal skeptisch.

Amid neigte den Kopf ein wenig zur Seite und musterte ihn. »Ich glaube, ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, sagte er.

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Hal holte tief Luft, bevor er zu einer Erwiderung ansetzte. Die Lethargie war nun völlig von ihm gewichen, und ersetzt worden war sie von einer gewissen Melancholie.

»Bleys stellt eine große Gefahr für den Fortbestand Ihrer Kultur dar«, antwortete er. »Bleys und alle Anderen. Und unter diesen Umständen kann man wohl kaum nur von ›Vermutungen‹ und einem eher üblichen ontogenetischen Interesse sprechen. Lassen Sie mich das, was ich meine, etwas anders formulieren: Gibt es außer mir noch jemanden, dem Sie eine ähnliche Bedeutung zuschreiben?«

Amid saß im hellen Sonnenlicht und ließ ihn nicht aus den Augen. »Nein«, gestand er schließlich ein.

»Wie ich es mir dachte«, sagte Hal. »Nun …«, begann Amid, der den jüngeren Mann nach

wie vor beobachtete. »Offenbar verstehen Sie die Situation besser, als wir glaubten. Sie sind gerade erst zwanzig Jahre alt, nicht wahr?«

»Stimmt«, bestätigte Hal. »Sie hören sich weitaus älter und erfahrener an.« »Und ich fühle mich auch so«, sagte Hal. »Es ist ein

Empfinden, das gerade in jüngster Zeit in mir entstand.« »Während Sie sich auf Harmonie aufhielten?« »Nein. Seit ich Zeit zum Nachdenken hatte. Sie

sprachen eben davon, es sei mir gelungen, Bleys in die Irre zu führen. Aber dazu war ich nicht in der Lage, wußten Sie das nicht? Er ließ mich in einer Zelle im Hauptquartier der Miliz von Ahruma einsperren.«

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»Ja«, erwiderte Amid. »Aber Sie flohen. Ich nehme an, nach dem Tod Ihrer Mentoren haben Sie mit Bleys gesprochen, oder?«

»Nein, das ist nicht richtig«, sagte Hal. »Doch er besuchte mich ein oder zwei Tage vor meiner Flucht in der Zelle, und bei dieser Gelegenheit unterhielten wir uns.«

»Darf ich Sie fragen, über was Sie sprachen?« »Er glaubt, ich sei ein Anderer«, erläuterte Hal. »Und

er nannte mir einige der Gründe, die mich seiner Ansicht nach dazu veranlassen sollten, mich auf seine Seite zu gesellen. Seine Argumentation lief in der Hauptsache auf die Behauptung hinaus, es gäbe keinen anderen Platz für mich, der mir ein erträgliches Leben gewährleisten könnte.«

»Und vermutlich waren Sie anderer Meinung als er.« »Bisher jedenfalls.« Amid musterte ihn mit neuem Interesse. »Aber Sie sind nicht ganz sicher, ob er nicht doch in

einigen Punkten recht haben könnte?« »Ich kann es mir nicht leisten, mir in irgend etwas

sicher zu sein - ist das nicht das Prinzip, daß ihr Exoten immer

vertreten habt?« Amid nickte. »Ja«, sagte er. »Nun, in gewisser Weise sind Sie älter,

als wir annahmen. Andererseits jedoch schickten Sie Ihre Papiere an mich. Sie erwarten also Hilfe von uns.«

»Soweit ich weiß«, erwiderte Hal, »bin ich ein Gegner Bleys' und der Anderen. Und daher ist es nur vernünftig,

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mich an diejenigen zu wenden, die ebenfalls nicht auf seiner Seite stehen. In der Zelle hatte ich viel Zeit, ausführlich nachzudenken, und mein besonderer Zustand machte mir dabei eine außergewöhnliche Konzentration möglich.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Amid. »Nach der Einschätzung Nerallees haben Sie dabei eine Art von Übergang erlebt.«

»Wieviel hat sie Ihnen erzählt?« fragte Hal. »Das ist im Grunde genommen schon alles«,

antwortete Amid. »Nerallee hat ihre persönlichen Verantwortungen als Heilerin. Und außerdem ziehen wir es vor, wenn Sie uns das, was Sie uns mitteilen möchten, mit Ihren eigenen Worten schildern.«

»Zu Anfang zumindest, wie?« entgegnete Hal. »Nein, ich habe nichts dagegen, daß Sie Bescheid wissen. Als ich mich mit ihr unterhielt, ging ich davon aus, daß Sie von dem unterrichtet würden, was sich für Sie als wichtig herausstellen könnte. Tatsächlich kommt es nicht in erster Linie auf das an, was ich erlebte und durchmachte. Bedeutungsvoll ist nur eins: Ich vermochte dadurch ein klareres und umfassenderes Bild der Situation zu gewinnen als – möglicherweise

- selbst Sie hier auf Mara und Kultis.« Amid deutete kurz ein Lächeln an, wurde aber rasch

wieder ernst. »Möglich ist alles«, sagte er gedehnt. »Ja«, bestätigte Hal. »Gut.« Der Blick der tief in den Höhlen liegenden

Augen Amids klebte am Gesicht Hals. »Was wird Ihrer Meinung nach geschehen?«

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»Harmagedon. Die letzte und entscheidende Schlacht. Ein heimlicher Krieg gewissermaßen, mit dem die Anderen die vollständige Kontrolle über die ganze Menschheit an sich reißen wollen. Die Zerstörung der Kulturen der Exoten, der Dorsai und der Quäker. Ein allgemeiner Status quo, der in Zukunft jeden Fortschritt verhindert. Und ich sehe die Vierzehn Welten als ein riesenhaftes Anwesen, auf dem die Anderen als patriarchalische Gutsherren agieren und keinen Platz mehr für neue Entwicklungen lassen.«

Amid nickte langsam. »Möglich«, sagte er. »Wenn die Anderen tatsächlich

Erfolg haben.« »Kennen Sie die Möglichkeit, sie daran zu hindern?«

fragte Hal. »Und wenn das der Fall ist: Warum haben Sie dann an mir solches Interesse?«

»Sie könnten diese Möglichkeit darstellen – oder einen Teil davon«, erwiderte der Exote. »Die Geschichte hält keine einfachen Problemlösungen bereit. Die Waffen, die wir hier auf Mara und Kultis entwickelt haben, lassen sich gegen die Anderen nicht einsetzen. Es gibt jedoch eine Splitterkultur, die dem Gegner wirkungsvoll entgegentreten könnte.«

»Die Dorsai«, sagte Hal. »Ja.« Amids Züge erstarrten für einen

Sekundenbruchteil, wirkten völlig leblos und gaben dem Gesicht dadurch das Erscheinungsbild einer Maske. »Die Dorsai werden gegen die Anderen kämpfen müssen.«

»Physisch?«

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Amids Blick hielt den Hals fest. »Physisch«, bestätigte er.

»Und Sie glauben«, warf Hal ein, »daß ich aufgrund der besonderen Umstände meines Aufwachsens – in gewisser Weise bin ich dadurch teilweise ein Exote, ein Dorsai und auch ein Quäker – dazu in der Lage bin, diese Botschaft zu überbringen.«

»Ja«, gestand Amid ein. »Aber das ist noch nicht alles. Unsere ontogenetischen Berechnungen zeigen Sie als ein höchst ungewöhnliches Individuum – es könnte sein, daß Ihnen im Hier und Jetzt eine Führungsrolle zukommt. Dann wären Sie mehr als nur ein Botschafter. Sie sollten wissen, daß einige von uns Ihr Potential ausgesprochen hoch einschätzen …«

»Vielen Dank«, sagte Hal. »Ich habe das Gefühl, Sie denken nach wie vor in zu beschränkten Bahnen. Offenbar suchen Sie jemanden, der eine Führungsrolle übernehmen kann – aber anschließend von Ihnen kontrolliert und angeleitet wird. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, daß ausgerechnet die Exoten kein besseres Bild von der allgemeinen Situation entwickelt haben.«

»Was meinen Sie damit?« Die Stimme Amids klang plötzlich scharf.

»Ich will damit sagen«, fuhr Hal fort, »daß ich davon überzeugt bin, ihr Exoten macht euch keine Illusionen. Es ist völlig ausgeschlossen, daß das, was Sie hier auf Mara und Kultis entwickelt haben, in der bisherigen Form zu überleben vermag. Und das trifft auch auf die Kulturen der Dorsai und der Quäker zu – ob die Anderen nun aufgehalten werden oder nicht. Unsere einzige

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Hoffnung besteht darin, das Überleben der menschlichen Spezies als Ganzes zu gewährleisten, und es spielt dabei keine Rolle, welchen Preis wir dafür zahlen müssen. Die Alternative ist der Untergang der Menschheit. Und unser Volk wird als eine Einheit sterben, wenn die Anderen sich durchsetzen. Vielleicht dauert es einige Generationen, aber wenn sie siegen, ist das der Anfang vom Ende unserer Rasse.«

»Und?« Dieses eine Wort Amids kam fast einer Herausforderung gleich.

»Und deshalb müssen wir uns darauf vorbereiten, alle möglichen Opfer darzubringen«, sagte Hal. »Wenn es dazu kommt: Was wollten Sie und die anderen Exoten vor allen Dingen zu bewahren versuchen?«

Amid sah ihn offen an. »Das Konzept der menschlichen Evolution«, erwiderte

der ältere Mann. »Gerade das darf nicht verlorengehen. Selbst wenn wir und all das, was wir in den vergangenen Jahrhunderten geleistet haben, aus dem Gefüge der Geschichte verschwinden müßten.«

»Nun, ich glaube, jenes Konzept ließe sich tatsächlich erhalten«, erwiderte Hal. »Wenn es gelingt, die Spezies als eine Einheit zu retten. Nun gut. Ich glaube, Sie wollen mich sicher einigen Leuten vorstellen.«

Er stand auf, und Amid erhob sich ebenfalls. »Ich weiß jetzt«, sagte der Exote, »wie sehr wir Sie

unterschätzt haben.« »Vielleicht irren Sie sich.« Hal lächelte. »Ich würde

mich zunächst gern umziehen. Bitte warten Sie auf mich.«

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»Selbstverständlich.« Hal kehrte in sein Quartier zurück. Unter den

Kleidungsstücken, die in seinem Zimmer gereinigt für ihn bereitlagen, befanden sich auch die Sachen, der er beim Betreten des Exotischen Konsulates in Ahruma getragen hatte. Er tauschte sie gegen die grüne Robe aus und kehrte anschließend zu Amid in die Gesprächsmulde zurück.

»Ja, wir haben Sie wirklich unterschätzt«, sagte der alte Mann, als er Hal in der neuen Bekleidung musterte. »Sie sind sehr viel älter als damals, als wir uns an Bord des Schifffes nach Harmonie begegneten.«

23 »Zufälligerweise«, sagte Amid und führte Hal durch die Behaglichkeit eines Irrgartens aus kleineren Plätzen und Zimmern und anderen Räumlichkeiten, aus denen sein Heim bestand, »befinden sich diejenigen, die Sie gern kennenlernen würden, alle in der Nähe. Als Sie sich umzogen, setzte ich mich mit ihnen in Verbindung, und sie alle haben Zeit.«

»Das freut mich«, erwiderte Hal. Er schritt neben dem kleineren Mann und ging in einem

Tempo, das den Einschränkungen, die das Alter dem Exoten auferlegte, gerecht wurde. Das machte es ihm plötzlich bewußt, wie gebrechlich Amid wirklich war. Angesichts des Entwicklungsstandes der Medizin der Exoten mußte er wirklich sehr alt sein – obgleich

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natürlich sicher nicht annähernd so alt wie etwa Tam Olyn.

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Amid, »wie gut Sie unsere Kultur verstehen. Aber vermutlich sind Sie darüber informiert, daß es auf Mara und Kultis, wie auch auf Dorsai, keine eigentliche Regierungskörperschaft gibt. Entscheidungen, die uns alle angehen, werden von denjenigen getroffen, in deren Kompetenzbereich sie fallen. Und wir anderen akzeptieren in der Regel die von den in der betreffenden Hinsicht besonders erfahrenen Leuten getroffenen Entscheidungen – obgleich man natürlich jederzeit Einspruch erheben kann.«

»Was aber für gewöhnlich nicht der Fall ist, oder?« fragte Hal.

»Nein.« Amid lächelte. »Wie dem auch sei: Die vier Personen, mit denen Sie gleich zusammentreffen werden, sind keine politischen Führer von bestimmten Organisationen oder Gruppen – nur Leute, deren Studiengebiete sie dazu in die Lage versetzen, Ihr Potential einer angemessenen Einschätzung zu unterziehen. So macht es meine spezielle Beschäftigung mit der Entwicklung der Quäkerwelten mir zum Beispiel möglich, Ihre Verhaltensweise auf Harmonie zu verste hen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu erkennen. Meine Kollegen sind Experten auf anderen Gebieten.«

»Die alle mit der Ontogenetik im Zusammenhang stehen?«

»Die Ontogenetik hat mit fast allem zu tun …« Amid unterbrach sich. Sie hatten inzwischen den Eingang einer

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Räumlichkeit erreicht, die nicht so sehr wie ein Zimmer wirkte, sondern eher wie eine Veranda oder ein Balkon, der aus der Wand des Hauptgebäudes herausragte. Jenseits der zart und graziös aussehenden Säulen einer Balustrade waren nur der Himmel und die Wipfel einiger Laubbäume zu erkennen. Einige Ergsessel schwebten auf dem Balkon. Amid wandte sich Hal zu.

»Wir sind früh dran«, sagte er, »und das gibt uns noch etwas Zeit. Kommen Sie mit mir.«

Er drehte sich um und führte seinen jüngeren Begleiter in einen Raum, dessen Eingang sich auf der anderen Seite des Balkons befand. Hal folgte dem Exoten und runzelte die Stirn. Die Gelegenheit, ihm noch etwas mitzuteilen, war schon fast verdächtig gut. Es mochte sich nur um einen Zufall handeln, wie Amid auch behauptet hatte. Es war aber auch möglich, daß ihm die anderen Exoten vor dem Gespräch mit ihnen noch einige bestimmte Informationen zukommen lassen wollten, über die er nicht zu lange und intensiv nachdenken konnte.

»Ich sollte Ihnen noch etwas erklären, so daß der Umstand, daß einige der Leute, mit denen Sie gleich zusammentreffen werden, Ihnen eine ungewöhnliche Skepsis entgegenbringen, Sie nicht zu sehr erstaunt.« Amid schloß die Tür und sah Hal offen an. »Walter der Unterweiser dürfte Sie sicher zumindest mit den Grundlagen der Ontogenetik vertraut gemacht haben, oder?«

Hal zögerte. Im Alter von fünfzehn Jahren hätte er ohne Zögern zugegeben, mehr als nur die Grundlagen der

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Ontogenetik zu verstehen. Jetzt aber – nach einer nur fünfjährigen Zeit der inneren Reifung, nach den vielen Erlebnissen mit den Menschen zweier fremder Welten – mahnte ihn irgend etwas zur Vorsicht.

»Die Grundlagen schon«, erwiderte er deshalb. »Dann wissen Sie, daß sich die Ontogenetik in der

Hauptsache mit Individuen befaßt, mit ihrem Einfluß auf die historischen Kräfte, wobei das Ziel darin besteht, Verhaltensmuster zu identifizieren, die uns dabei behilflich sein können, eine bessere Form des Menschen zu entwickeln.«

Hal nickte. »Und Sie sind sich bestimmt auch darüber klar«, fuhr

Amid fort und trat an einen kleinen quadratischen Tisch heran, der offenbar aus Stein bestand, »daß unsere Arbeit, abgesehen von der statistischen Basis und dem biologischen Verstehen, vor allen Dingen theoretischer Natur ist. Wir beobachten und versuchen, die Ergebnisse dieser Beobachtungen so zu verarbeiten, daß wir mit der verbesserten Einsicht irgendwann dazu in der Lage sein werden, das Muster zu erkennen, das schließlich zu der angestrebten besseren Form der Menschheit führt.«

Er hielt kurz inne, blieb neben dem Tisch stehen und sah Hal an.

»Vermutlich wissen Sie darüberhinaus auch, daß wir aufgrund unseres vergrößerten Wissens die Mittel zusammenbringen konnten, die letztendlich den Bau der Letzten Enzyklopädie ermöglichten. Zunächst war sie nur eine Einrichtung in St. Louis auf der Erde, und dann wurde sie in eine Umlaufbahn um den Mutterplaneten

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der Menschheit gebracht. Heute gehört die Letzte Enzyklopädie niemandem, weder den Exoten noch einer anderen Splitterkultur.«

»In der Tat«, erwiderte Hal. »Nun, was ich sagen wollte, ist folgendes: Es gibt viele

Möglichkeiten, individuelle Potentiale darzustellen.« Amid strich mit der Kuppe des Zeigefingers über die

Oberfläche des Tisches neben ihm, und daraufhin zeichnete sich in dem Steinmaterial eine schwarze Linie ab. Diese Linie durchkreuzte der Exote im rechten Winkel mit einer zweiten.

»Durch eine der einfachsten Möglichkeiten, ein noch rezessives genetisches Potential der Spezies als Ganzes grafisch zu erfassen«, sagte Amid und fügte eine dritte und horizontale Linie hinzu, die nicht ganz parallel zur Basis verlief, »erhalten wir eine leicht ansteigende Kurve. Tatsächlich jedoch handelt es sich dabei nur um eine Versinnbildlichung des Durchschnitts – eine Darstellung der Werte also, die oberhalb und unterhalb der Linie in das Diagramm eingetragen werden müßten, wobei die erstgenannten Punkte sich auf die historischen Entwicklungen beziehen, die eindeutig mit den Handlungen einzelner Personen in Zusammenhang gebracht werden können …«

»Zum Beispiel Donal Graeme und der Umstand, daß er aus den vierzehn Welten eine körperschaftliche und ökonomische Einheit machte«, warf Hal ein.

»Ja.« Amid musterte den jüngeren Mann einige Sekunden lang und fuhr dann fort: »Aber es ist auch denkbar, daß sich die Punkte auf wesentlich

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bedeutungsschwächere historische Entwicklungen beziehen – sogar auf die Einflußnahme von Personen, deren Identifizierung jahrhundertelange Arbeit erfordert. Doch wie dem auch sei: Die unterhalb der Linie eingetragenen Werte sind Hinweise auf individuelle Handlungen, die nur mittelbar eine Rolle spielen in der allgemeinen Struktur aus Ursache und Wirkung und den historischen Kräften, mit denen wir uns befassen …«

Er hielt inne und sah Hal an. »Können Sie mir folgen?« Hal nickte. Daraufhin wandte sich Amid wieder der Grafik zu.

»Wenn wir solche Darstellungen erarbeiten, so stoßen wir dabei unweigerlich auf Personen, die durch Punkte sowohl oberhalb als auch unterhalb der Linie repräsentiert werden. Individuen mit einem noch in der Entwicklung begriffenen historischen Potential lassen sich dabei sehr häufig unterhalb der Linie lokalisieren, bevor sich die Konsequenzen ihrer Handlungen oberhalb der Kurve bemerkbar machen, wo die Punkte eine deutliche Beziehung zwischen den jeweiligen Handlungen und den sich daraus ergebenden historischen Folgen erkennen lassen. Allerdings sollte ich hinzufügen, daß das Vorhandensein von Punkten unterhalb der Linie nicht notwendigerweise zu einem Erscheinen von entsprechenden Werten oberhalb der Kurve führt. Tatsächlich beziehen sich die erstgenannten Werte häufig auf Personen, die sich oberhalb der Linie niemals bemerkbar machen.«

Erneut zögerte er und richtete den Blick auf Hal.

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»Das, was ich Ihnen gerade zu erklären versucht habe, kann alles oder auch nichts bedeuten«, sagte er schließlich. »Arbeiten dieser Art sind, wie ich bereits bemerkte, theoretischer Natur. Die Ergebnisse, die wir auf diese Weise bekommen, stehen möglicherweise in keinem Zusammenhang mit dem tatsächlichen Vorgang der rassischen Evolution. Ich bin jedoch trotzdem der Ansicht, daß Sie über diese Art grafischer Ermittlungsversuche informiert sein sollten. Wir setzen sie als eine der Optionen ein, von denen wir uns eine klare Einschätzung des ontogenetischen Wertes eines bestimmten Individuums und der entsprechenden Wahrscheinlichkeit in Hinsicht auf eine mögliche Beeinflussung des historischen Gefüges erhoffen.«

»Ich verstehe«, erwiderte Hal. »Und ich vermute, ich gehöre der zeit zu denjenigen Personen, die sich zwar unterhalb der Linie bemerkbar machen, nicht aber darüber.«

»Richtig«, bestätigte Amid. »Natürlich sind Sie noch sehr jung. Sie haben viel Zeit, um einen direkten Einfluß auf die gegenwärtige historische Struktur zu offenbaren. Und die von Ihnen verursachten Einwirkungen, die wir bisher unterhalb der Linie registrieren konnten, sind allesamt sehr eindrucksvoll. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, daß Ihr Potential so lange auf dieses Maß beschränkt bleibt, wie sich keine individuellen Konsequenzen oberhalb der Kurve zeigen – und deshalb derzeitige Vermutungen in Hinsicht auf die Ihnen in der Zukunft zukommende Bedeutung nichts weiter als persönliche Meinungen bleiben müssen.«

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Er zögerte. »Ich kann Ihnen durchaus folgen«, sagte Hal. »Das hatte ich nicht anders erwartet«, erwiderte Amid,

und es klang fast düster. »Nun, was mich angeht: Aufgrund meines besonderen Fachgebiets und der Beobachtung dessen, was Sie in kurzer Zeit auf Harmonie fertigbrachten, halte ich Sie für jemanden, dem ich für die Zukunft ein enormes historisches Potential zuschreibe. Mit anderen Worten: für jemanden, der nur mit der geschichtlichen Wichtigkeit eines Donal Graeme verglichen werden kann. Aber das ist, wie gesagt, nur meine persönliche Meinung. Und Sie werden vermutlich bald feststellen, daß einige derjenigen, mit denen Sie bald sprechen werden, Ihr diesbezügliches Potential nur als eine Möglichkeit unter vielen erachten, selbst auf der Grundlage der Berechnungen, die mich einen anderen Standpunkt vertreten lassen.«

Er brach ab. Einige Sekunden lang schenkte Hal ihm keine Beachtung und war ganz auf sich und seine Überlegungen konzentriert.

»Vielen Dank«, sagte er schließlich und straffte die Gestalt. »Dafür, daß Sie mich vorbereitet haben.«

»Das ist noch nicht alles«, erwiderte der Exote. »Ich erwähnte bereits, daß Sie jetzt weitaus älter und reifer wirken als noch an Bord des nach Harmonie fliegenden Schiffes. Das ist eine Tatsache und geht damit über das hinaus, was ich derzeit noch als persönliche Einschätzung betrachte. Unsere letzten Berechnungen hinsichtlich Ihrer Person zeigen geradezu einzigartige Ergebnisse, auf die wir bisher nur bei sehr erfahrenen

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und alten Individuen gestoßen sind. Bisher bildete dieser Umstand nur einen Teil meines Vermutungsmusters. Doch wenn Sie sich tatsächlich durch eine ungewöhnliche Reife aus zeichnen, so handelt es sich dabei vielleicht um etwas, das dazu beitragen könnte, daß einige der Leute, die das Ausmaß Ihres Potentials noch bezweifeln, zu meiner Art von Einschätzung Ihrer historischen Bedeutung tendieren. Vorausgesetzt, wir finden eine Erklärung für den Grund Ihres inneren Reifens. Haben Sie eine?«

»Wann wurden jene letzten Berechnungen durchgeführt?«

Hal sah in die kleinen Augen des Exoten. »In jüngster Zeit«, erwiderte Amid. Er wich dem Blick

Hals nicht aus. »In den vergangenen Wochen.« »Mit Hilfe Nerallees?« »Das ist Teil ihrer Arbeit«, sagte Amid. »Ohne der Person, um die sie sich kümmert, etwas

davon zu sagen?« »Bitte versuchen Sie zu verstehen«, warf der Exote ein.

»Es könnte sehr viel auf dem Spiel stehen. Außerdem könnten die Resultate beeinflußt werden, wenn die betreffende Person von den Tests und Berechnungen weiß.«

»Was fand sie sonst noch über mich heraus?« »Nichts, was Ihnen nicht bereits bewußt wäre«, sagte

Amid. »Um auf den eigentlichen Punkt zurückzukommen: Haben Sie eine Erklärung für Ihre außergewöhnliche Reifung?«

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»Leider nicht«, antwortete Hal. »Vielleicht hat die Tatsache etwas damit zu tun, daß ich von drei sehr klugen Männern aufgezogen wurde, die alle über achtzig Jahre alt waren.«

»Nach meiner gegenwärtigen Einschätzung halte ich das eher für unwahrscheinlich.« Amid dachte einige Sekunden lang nach. Dann strich er abrupt mit der Hand über die Tischfläche und ließ auf diese Weise die dargestellten Linien verschwinden. »Wenn Ihnen jedoch auch während des Gesprächs mit den anderen Exoten keine Erklärung einfällt, sollten Sie diesen Umstand erwähnen. Ich glaube, es könnte Ihnen zum Vorteil gereichen.«

»In welcher Weise?« fragte Hal. Amid wandte sich von dem Tisch ab und schritt auf die

Tür des Zimmers zu. Hal folgte ihm. »Wir wären dann sehr viel eher dazu bereit, Ihnen und

Ihrem Potential zu vertrauen und Ihnen zu helfen«, erwiderte der kleine alte Mann. »Ich habe es Ihnen gegenüber schon angedeutet: Diejenigen von uns, die in Hinblick auf Sie eine Entscheidung treffen müssen, sind nicht alle einer Meinung. Wenn Sie sich uns als jemanden prä sentieren könnten, der es verdient, daß wir unsere Hoffnungen für die Zukunft auf ihn fixieren, so wäre das sicher außerordentlich nützlich für Sie. Und andererseits: So lange die aktuellen ontogenetischen Berechnungen die Ansicht einiger Exoten zu belegen scheinen, wonach Sie bestenfalls ein uneinschätzbarer Faktor im gegenwärtigen historischen Gefüge sind, so werden es sich Mara und Kultis eher zweimal überlegen,

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bevor sich unsere beiden Welten in eine Abhängigkeit von Ihren zukünftigen Handlungen begeben.«

Er führte Hal durch die Tür und blieb stehen. »Denken Sie darüber nach«, fügte Amid hinzu und

wandte sich dem Balkon zu. »Die anderen dürften inzwischen eingetroffen sein. Kommen Sie.«

Hal folgte ihm. Sie verließen das Zimmer, in dem sie sich unterhalten hatten, und sie schritten durch einen kurzen Korridor und gelangten anschließend auf den Balkon. Zwei Männer und zwei Frauen hatten dort Platz genommen und bildeten einen Halbkreis, der zum Eingang hin geöffnet war. Einer der Männer – er trug eine azurne Robe – war ganz offensichtlich sehr alt, während sein Begleiter in eine graue Tunika gekleidet war und einen reservierten Eindruck erweckte. Von den beiden Frauen war die eine klein und schwarzhaarig und trug ein grünes Gewand. Die andere zeichnete sich insbesondere durch eine hochgewachsene Statur, ein geradezu altersloses Gesicht, eine bronzefarbene Haut, lockiges braunes Haar und eine bernsteinfarbene Robe aus. Zwei Ergsessel schwebten leer in der Nähe der Tür und vervollständigten den Kreis. In Richtung dieser beiden Sitzgelegenheiten ließ sich Hal von Amid führen.

»Darf ich Sie vorstellen?« sagte Amid, als sie Platz nahmen. »Von links nach rechts: Nonne, Archivarin von Mara …«

Nonne war die kleine und schwarzhaarige und in Grün gekleidete Frau. Sie sah aus, als sei sie gut dreißig Jahre alt, und sie hatte ein etwas grobknochiges Gesicht. Ihr Blick ruhte ruhig auf Hal.

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»Freut mich«, sagte Hal und nickte ihr zu. »Alhonan von Kultis. Alhonan ist Experte für Fragen

kultureller Wechselwirkungen.« »Es ist mir eine Ehre.« »Ich bin froh, daß wir uns bei einer solchen

Gelegenheit kennenlernen können«, sagte Alhonan: ein schlanker, fast hagerer Mann, dessen trockene und reservierte Stimme eine verbale Entsprechung seines Erscheinungsbildes darstellte.

»Padma, der Innenbürge.« »Freut mich«, sagte Hal. Er hatte bisher noch nicht

bemerkt, wie alt Padma wirklich war. Das Gesicht des Exoten, den er nun musterte, wies nach wie vor nicht allzu viele Falten auf, und die Hände, die sich um die Enden der Armlehnen des Ergsessels schlossen, wirkten nicht etwa grau und kraftlos. Aber die Ruhe seines Körpers, der nachgerade unveränderliche Blick der Augen und andere Hinweise – die meisten von ihnen waren so subtil, daß sie sich einer bewußten Bestandsaufnahme entzogen – deuteten auf ein Alter hin, das fast dem Tam Olyns gleichkommen mußte. Sein Titel entzog sich dem Verständnis Hals. Er hatte noch nie zuvor von einem exotischen Innenbürgen gehört. Es gab, wie er wußte, Außenbürgen, die einem bestimmten Ort oder einer besonderen Pflicht zugewiesen waren, aber Innenbürgen …

»Ich heiße Sie willkommen«, sagte Padma. Seine Stimme klang weder besonders heiser oder rauh oder schwach, aber sie schien aus größerer Entfernung zu kommen.

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»Und Chavis, deren Fachgebiet sich nicht so leicht beschreiben läßt«, sagte Amid neben Hal. »Man könnte sie in gewisser Weise als eine Spezialistin für historische Krisen bezeichnen.«

Hal mußte sich dazu zwingen, den Blick von Padma abzuwenden, um die Frau in der bernsteinfarbenen Robe zu mustern.

»Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen«, sagte er an die Adresse Chavis' gerichtet.

»Was ich als ein Kompliment betrachte«, antwortete die Exotin und lächelte. Ihr Alter war schwer einzuschätzen – irgendwo zwischen den spaten Zwanzigern und frühen Sechzigern, aber ihre Stimme klang jung. »Vielleicht stellt sich mit der Zeit heraus, daß Sie uns eine Ehre erweisen.«

»Dann müßte noch eine Menge geschehen«, antwortete Hal. »Nun, ich glaube, wenn vier Exoten wie Sie aufgrund meiner Person zusammenkommen, so ist das schon als ungewöhnlich zu bezeichnen.«

»Wir haben es schließlich auch mit einer ungewöhnlichen Situation zu tun, meinen Sie nicht?« ließ sich die Stimme Amids von dem Ergsessel links neben Hal vernehmen. Sie saßen den anderen gegenüber. Doch trotzdem hatte Hal das Gefühl, als müsse er es allein mit den Exoten aufnehmen.

Es war ein Empfinden, das erneut eine gewisse Melancholie in ihm erweckte. Angesichts der Erinnerung an Walter, die unverrückbar fest in ihmverweilte, angesichts seiner Überzeugung, aufgrund der besonderen Umstände seines Aufwachsens eine spezielle

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Affinität in Hinsicht auf die drei Splitterkulturen aufzuweisen, war er bisher davon ausgegangen, gerade von den Exoten ein außergewöhnliches Verständnis ihm gegenüber erwarten zu können. Jetzt aber wußte er, daß ihm eine harte intellektuelle Auseinandersetzung bevorstand. Er spürte die Besorgnis der Exoten, die in erster Linie dem Fortbestand ihrer eigenen Kultur galt – und sich erst dann mit seinem Interesse am Überleben der Menschheit als Rassenentität vergleichen ließ. Plötzlich gewann er den Eindruck, daß sich die Exoten eine ganze spezielle Form des Egoismus zu eigen gemacht hatten – einen Egoismus, der sich nicht auf sie selbst bezog, sondern die philosophischen Prinzipien, nach denen sie ihr bisheriges Leben gestaltet hatten. Hal begriff, daß es ihm irgendwie gelingen mußte, die Männer und Frauen ihm gegenüber dazu zu bewegen, über die Horizonte dieses Egoismus hinwegzusehen,wenn die Menschheit als Ganzes eine Überlebenschance haben wollte.

Als er die Gesichter der Exoten beobachtete, fühlte er, wie die ihm innewohnende Selbstsicherheit in Hinsicht auf seine Sache ins Wanken geriet. Vielleicht hatte Amid recht: Es mochte durchaus stimmen, daß die jüngsten Tests und Berechnungen eine ungewöhnliche Reife seinerseits bestätigt hatten. Aber jetzt sah er sich Personen gegenüber, die einige Jahrhunderte der Beobachtung und Analyse verkörperten. Und dagegen konnte er nur zwanzig Jahre Lebenserfahrung in die Waagschale werfen – und nicht mehr als etwa sechzig Stunden des intensiven Nachdenkens unter Bedingungen tiefer Erschöpfung und hohen Fiebers.

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»Was wissen Sie im allgemeinen über die Geschichte der Hybriden?« Nonnes Stimme brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. »Ich meine dabei natürlich in erster Linie die Menschen, die in sich Eigenschaften der Kulturen von Dorsai, Harmonie und Eintracht und der beiden Exotischen Welten vereinen.«

Hal sah sie an. »Ich weiß, daß man vor rund sechzig bis siebzig Jahren

zum erstenmal auf sie aufmerksam wurde«, antwortete er. »Als eine einheitliche Gruppe beachtete man sie bis vor rund zwanzig Jahren überhaupt nicht. Damals gaben sie sich die Bezeichnung ›Andere‹, offen barten ihre besonderen charismatischen Fähigkeiten und schlossen sich in einer Organisation zusammen.«

»Tatsächlich«, sagte Nonne, »begann diese Organisation als eine Übereinkunft der gegenseitigen Hilfeleistung, die zwischen zwei Personen getroffen wurde, die beide Dorsai-Hybriden waren – einem Mann namens Daniel Spence und einer Frau, die nur Deborah genannt wurde, nach der bei uns gebräuchlichen Art. Sie lebten vor zweiundvierzig Jahren auf Ceta.«

»Es waren die ersten Menschen, die sich ›Andere‹ nannten«, warf Alhonan ein.

Nonne warf ihm einen kurzen Blick zu. »Wie viele der Partnerschaften bei den Hybriden«, fuhr sie fort, »dauerte die physische Beziehung nicht lange an, im Gegensatz zu der geschlossenen Übereinkunft. Während der nächsten fünf Jahre wuchs die Organisation rasch, bis ihr mehr als dreitausend Personen angehörten – geschätzte neunundsiebzig Prozent aller Hybriden der

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drei großen Splitterkulturen, die zu der damaligen Zeit lebten. Spence und Deborah sind inzwischen tot. Während der letzten zwölf Jahre war der Vorsitzende der Vereinigung ein gewisser Danno, der auch das Treffen der weiteren hochrangigen Anderen leitete, das nach der Ermordung Ihrer drei Mentoren bei Ihnen zu Hause stattfand.«

»Ich habe ihn damals durchs Fenster gesehen«, sagte Hal. »Er ist ein großer und stämmiger Mann mit krausem schwarzem Haar.«

»Das ist Danno«, bestätigte Alhonan in einem Tonfall, der jeden Zweifel ausschloß.

»Er ist der Sohn Spences und Deborahs«, erklärte Nonne. »Des weiteren nahmen sie später noch einen anderen Jungen auf, der ungefähr elf Jahre alt war und somit sechs Jahre jünger als Danno. Soweit wir wissen, handelt es sich bei ihm um einen Neffen, der von Harmonie stammt und dort zuvor bei Verwandten Spences zurückgelassen wurde. Vielleicht ist das noch nicht alles. Aber Bleys hält an dieser Version seines persönlichen Hintergrundes fest. Es muß jedoch bezweifelt werden, ob ihm selbst die Wahrheit bekannt ist. Nun, wie dem auch sei: In jedem Fall ist er eine ausgezeichnete Führerpersönlichkeit und in dieser Beziehung sicher begabter als Danno – obgleich es ihm lieber zu sein scheint, daß Danno an der Spitze der Organisation steht. Sie kennen Bleys, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Hal. »Inzwischen habe ich ihn dreimal gesehen. Und beim letztenmal, als er mich in der Gefängniszelle besuchte, unter hielten wir uns. Danno

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bekam ich nur einmal zu Gesicht, damals, unmittelbar nach dem Tod meiner Mentoren. Aber meine Intuition bestätigt Ihre Vermutung. Bleys ist fähiger als er – und auch intelligenter.«

»Ja«, bekräftigte Chavis sanft. »Aus diesem Grund fragen wir uns auch, warum er sich mit dem zweiten Rang zufriedengibt. Ich halte es für möglich, daß ihm ganz einfach nicht der Sinn danach steht, die volle Verantwortung zu übernehmen.«

»Vielleicht haben Sie recht«, erwiderte Hal. »Es könnte aber auch sein, daß er nur den richtigen Zeitpunkt abwartet.« Das fiebrige Erinnerungsbild Bleys' war wie eine dunkle Wolke, die sich kurz über die Seele Hals stülpte, und vor seinem inneren Auge sah er den Anderen erneut: als einen Riesen, der vor seiner Matratze geradezu endlos in die Höhe zu ragen schien. »Wenn er fähiger ist als Danno, wird ihm die Führung zukommen. Etwas anderes ist gar nicht denkbar.«

An seine letzten Worte schloß sich kurze Stille an. Schließlich sagte Nonne: »Sie glauben also, daß wir uns auf lange Sicht gesehen mit Bleys werden auseinandersetzen müssen?«

»Ja«, bestätigte Hal. Ein Teil der dunklen Wolken verdüsterte nach wie vor seinen Geist. »Er wird der Führer der Anderen – selbst wenn er Danno eigenhändig aus dem Weg räumen muß.«

»Hm«, machte Nonne. Ihre Stimme klang ein wenig belegt, irgendwie eigenartig, und Hal zwang sich dazu, die dunkle Erinnerung zu verdrängen und seine ganze Aufmerksamkeit auf die Exotin zu konzentrieren. »In

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jedem Fall haben wir es inzwischen mit etwas zu tun, mit dem wir nicht ohne weiteres fertig werden können. Es gab einmal eine Zeit, zu der jeder von uns hier davon überzeugt war, es könne zu keiner soziologischen Entwicklung kommen, die sich nicht von uns kontrollieren ließe. Jetzt wissen wir es besser. Wenn wir vor zwei Jahrzehnten gegen die Anderen vorgegangen wären, hätten wir uns ihnen gegenüber vielleicht durchsetzen können. Aber einige von uns erwiesen sich als blind angesichts der verlockenden Hoffnung, bei den Hybriden könnte es sich um die ersten Vertreter einer neuen evolutionären Qualität der Menschheit handeln – um die Form des besseren Menschen, nach der wir jahrhundertelang Ausschau hielten.«

Sie musterte Hal und verzog das Gesicht. »Ich war ebenfalls blind«, sagte sie. »Das waren wir alle«, warf die ferne Stimme Padmas

ein. Erneut schloß sich ein Schweigen an, das nach dem

Empfinden Hals einen Sekundenbruchteil länger als normal währte.

»Unsere Berechnungen zeigen, daß wir es in Gestalt der Anderen mit einer historischen Kraft zu tun haben, der unsere gegenwärtige interstellare Zivilisation nichts entgegenzusetzen vermag«, fuhr Nonne fort. »Das organisierte interplanetare Verbrechen erschien aufgrund der rein physikalischen Probleme und der mit den entsprechenden Raumflügen verbundenen hohen Kosten immer recht unwirtschaftlich. Das träfe auch auf die

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Anderen zu, verfügten sie nicht über ihr charismatisches Geschick …«

»Wenn es sich dabei um etwas handelt, das sich nur von einem begrenzten Personenkreis einsetzen läßt, so muß man es wohl als eine Eigenschaft oder Fähigkeit bezeichnen und nicht als Geschick«, sagte Hal, und erneut sah er vor seinem inneren Auge, wie Bleys in der Gefängniszelle wie ein Riese in die Höhe ragte.

»Möglicherweise«, gestand Nonne ein. »Doch ob Geschick oder Fähigkeit: Es ist in erster Linie das besondere Charisma, dem die Anderen ihre Erfolge verdanken. Es versetzte sie trotz ihrer geringen Zahl dazu in die Lage, Einfluß auf wichtige Personen in den Regierungskörperschaften der verschiedenen Planeten auszuüben. Und dadurch verfügen sie über eine politische Macht und finanzielle Ressourcen, denen wir nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen haben. Es ist nicht einmal notwendig, daß alle Anderen das Charisma einzusetzen vermögen – obgleich sie ganz offensichtlich dazu fähig sind, es sich gegenseitig zu lehren und auch einigen ihrer Anhänger beizubringen. Was übrigens Ihre Frage beantwortet, warum wir es als ein Geschick und nicht als eine Eigenschaft bezeichnen …«

»Ich nehme an, Sie konnten hier auf Mara und Kultis Ihre exotischen Kollegen nicht mit Äquivalenten eines entsprechenden Geschicks ausstatten, oder?« unterbrach Hal sie.

Nonne starrte ihn einige Sekunden lang wortlos an und preßte die Lippen zusammen.

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»Die dazu notwendigen Techniken sind ausnahmslos exotischer Natur«, antwortete sie. »Es scheint einfach so zu sein, daß die Anderen sie weitaus wirkungsvoller einsetzen können als wir.«

»Ich wollte auf folgendes hinaus«, sagte Hal. »Die Anderen sind zu etwas imstande, was Sie hier auf den Exotischen Welten nicht nachvollziehen können. Weist das nicht darauf hin, daß es sich um eine spezielle Fähigkeit handelt?«

»Vielleicht.« Nonne sah ihn weiterhin an. »Ich sage das, weil ich vielleicht dazu in der Lage bin,

Ihnen die Grundlage des Charismas der Anderen zu erklären«, fügte Hal hinzu. »Ich bin nach und nach zu der Überzeugung gelangt, daß hinter der Verwendung der Techniken, die Sie eben erwähnten, eine Antriebskraft steht, die man nur auf den Quäkerwelten antrifft – das Bestreben zu predigen, zu bekehren. Sehen Sie sich einmal die Gefolgsleute an, die sich einen Teil des Charismas der Anderen zu eigen machen konnten. Ich bin absolut sicher, Sie werden feststellen, daß jeder von ihnen entweder direkt aus der Kultur der Quäker stammt, oder zumindest ein Elternteil von Harmonie oder Eintracht kommt.«

Ein weiteres Mal schloß sich eine Stille an, die ein wenig zu lange dauerte.

»Ein interessanter Hinweis«, sagte Nonne. »Wir werden uns damit befassen. Aber wie dem auch sei …«

»Wenn ich jemanden, der von Harmonie oder Eintracht stammt, hierher bringen könnte«, sagte Hal, »wären Sie dann dazu bereit zu versuchen, in dem Betreffenden die

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Art von Charisma heranzubilden, die für die Anderen charakteristisch ist?«

Nonne und die anderen Exoten wechselten kurze Blicke.

»Natürlich«, sagte Padma. »Selbstverständlich.« »Wir würden uns sehr über eine solche Gelegenheit

freuen«, fügte Nonne hinzu. »Bitte glauben Sie nicht, wir seien gleichgültig gegenüber dem, was Sie uns verständlich zu machen trachten, Hal. Es ist nur einfach so, daß der Zeitfaktor eine große Rolle spielt. Bleys übt enormen Druck auf uns aus, um uns zu Ihrer Auslieferung zu veranlassen. Und uns wird schließlich keine andere Wahl bleiben, als ihm nachzugeben, oder Sie rasch von Mara fortzubringen. In der knapp bemessenen Zeit, die uns noch bleibt, müssen wir über die wichtigsten Dinge sprechen, und es ist daher angeraten, daß wir uns eine entsprechende thematische Disziplin auferlegen.«

»Ich glaube, das, auf was ich Sie eben hinwies, hat mit dem eigentlichen Thema durchaus etwas zu tun«, erwiderte Hal. »Aber sprechen Sie nur weiter.«

»Ich habe eben versucht«, fuhr Nonne fort, »die gegenwärtige Situation und das zu schildern, was zu ihr führte. Um Sie dazu zu bringen, daß Sie sowohl die Grundlage unserer Besorgnis als auch das verstehen, was wir als notwendige Reaktion erachten.«

Hal nickte. »Woher auch immer das charismatische Geschick –

beziehungsweise die Fähigkeit dazu – stammt: Es ist der Schlüssel für den Erfolg der Anderen. Natürlich können

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sie es nicht verwenden, um uns Exoten zu kontrollieren. Ebensowenig reagieren die Dorsai und einige der Quäker darauf. Darüberhinaus scheint überhaupt ein gewisser Prozentsatz an Personen sich als resistent gegenüber einer derartigen Indoktrination zu erweisen, insbesondere viele Menschen auf der Erde – aus Gründen, die wir noch nicht kennen. Aber es genügt den Anderen völlig, wenn sie mit ihrem Charisma die Mehrheit der Menschheit zu beeinflussen in der Lage sind. Wie ich vorhin schon einmal erwähnte: Unsere derzeitige Zivilisation auf den vierzehn Welten weist nichts auf, um es mit diesem Geschick aufnehmen zu können. Daraus ergab sich die Konsequenz, daß die politische und ökonomische Macht der Anderen so weit wachsen konnte, um nun auch für uns eine ernste Gefahr darzustellen, zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht. Sie verfügen über zu viele Raumschiffe. Unsere beiden Welten allein können sich den Anderen gegenüber auf dem interplanetaren Markt nicht behaupten. Daraus folgt, daß Mara und Kultis nach und nach in eine ökonomische Abhängigkeit den Anderen gegenüber geraten, obgleich sie noch nicht direkt den Versuch gemacht haben, uns unter ihre Kontrolle zu bringen.«

Nonne hielt inne, und Hal nickte. »Ja«, sagte er. »Fahren Sie fort.« »Ich möchte vor allen Dingen die Tatsache

verdeutlichen, daß wir nicht die Möglichkeit haben, ihnen irgendwie Einhalt zu gebieten«, betonte Nonne. »Die Bewohner der Welten, die bereits von den Anderen beherrscht werden, sind dazu ebensowenig in der Lage.

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Die Menschen auf Alterde haben sich zu keinem Zeitpunkt ihrer Geschichte zusammenraufen können. Da sie größtenteils von dem Charisma der Anderen nicht beeinflußt werden, dürften sie auch in Zukunft damit fortfahren, den Gegner einfach zu ignorieren – bis sie eines Tages aufwachen und feststellen, einer geschlossenen Front von dreizehn Planeten gegenüberzustehen, die von den Anderen kontrolliert werden und ihnen keine andere Chance lassen, als sich zu fügen. Die Quäker haben ihren Kampf schon fast verloren; es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis diejenigen Bewohner von Harmonie und Eintracht, die sich den Anderen untergeordnet haben, die vollständige Kontrolle über ihre Heimatwelten übernehmen. Damit bleibt nur noch Dorsai übrig.«

Ein weiteres Mal hielt Nonne inne. »Nur noch Dorsai, da haben Sie ganz recht«,

bekräftigte Hal. »Und die Bewohner jenes Planeten werden dem Hungertod ausgeliefert, da es in Außenwelt keine Möglichkeit mehr für sie gibt, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.«

»In der Tat«, sagte Alhonon. »Bitte verzeihen Sie mir, Nonne, aber dies fällt in meinen Fachbereich. Ein solches Aushungern, wie Sie es nannten, Hal, geschieht nicht von heute auf morgen. Außerdem ist Dorsai ein Planet, den die Anderen keinesfalls mit Gewalt zu kontrollieren versuchen werden. Vielleicht gelingt es ihnen langfristig, jene Welt zu beherrschen, aber selbst ein derart positives Ergebnis stände in keinem Verhältnis zu dem notwendigen Aufwand. Wenn sich Dorsai tatsächlich

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isoliert und damit auf die technologischen und anderen Vorteile verzichtet, die der Handel mit den restlichen besiedelten Welten mit sich bringt, wäre es durchaus möglich, daß die Bewohner für die Dauer eines Jahrhunderts oder auch länger sich auf einen niedrigen Lebensstandard beschränken und eine eigenständige und unabhängige Kultur bewahren; sie könnten sich von dem ernähren, was die Meere und die beschränkten Landflächen ihnen anzubieten haben.«

»Mit anderen Worten: Dorsai hätte nach wie vor die Möglichkeit, zu agieren und zu reagieren, und das ist sehr wichtig«, warf Nonne rasch ein. »Denn von allen Splitterkulturen hat nur Dorsai die Möglichkeit, die Anderen aufzuhalten. Tatsächlich könnte jener Planet sogar dazu in der Lage sein, die entsprechende Bedrohung ganz aus der Welt zu schaffen.«

Sie unterbrach sich. Hal sah sie an, und diesmal schien die Stille kein Ende finden zu wollen.

»Das, was Sie vorschlagen«, sagte Hal schließlich, »ist ebenso ungeheuerlich wie absurd.«

Nonne musterte ihn, ohne eine Antwort zu geben. Hal sah nacheinander die anderen Exoten an und stellte fest, daß sie alle warteten. »Sie befürworten ein Mordunternehmen der Dorsai«, fuhr er fort. »Darauf wollten Sie doch hinaus, nicht wahr? Sie hoffen, die Dorsai erledigen die Anderen, indem sie einzelne Kämpfer schicken, die sie nacheinander umbringen. Doch das würden sie niemals tun. Die Dorsai sind Soldaten, keine Meuchelmörder.«

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24 Schließlich ergriff Chavis das Wort.

»Wir sind dazu bereit«, sagte sie sanft, »sie mit allem zu unterstützen, was in unserer Macht liegt – ihnen alles zu geben, was sie brauchen und was wir ihnen geben können, ohne jede Einschränkung. Damit ist auch unser Leben gemeint. Wenn wir solche Opfer darzubringen gewillt sind, um den Anderen Einhalt zu gebieten, so werden die Dorsai doch sicher einsehen, wie wichtig es ist, für dieses große Ziel ein kulturelles Prinzip beiseite zu schieben, oder meinen Sie nicht?«

Hal richtete den Blick auf sie und schüttelte langsam den Kopf.

»Sie verstehen nicht«, erwiderte er. »Gerade das, was Sie vorschlagen, kommt für die Dorsai auf keinen Fall in Frage. Genausogut könnte ich verlangen, daß Sie von dem Konzept der menschlichen Evolution Abstand nehmen.«

»Vielleicht ließen sich die Dorsai trotzdem dazu bewegen«, sagte Padma, und seine ruhige Stimme überbrückte eine Kluft, die aus vielen Jahrzehnten Lebenserfahrung bestand. »Wenn Sie sie überzeugen.«

»Wenn ich sie …« Hal sah die Exoten groß an. »Fällt Ihnen irgendeine andere Möglichkeit ein, die

Anderen aufzuhalten?« fragte Nonne. »Nein!« erwiderte Hal heftig. »Aber es muß eine

geben. Außerdem: Aus welchem Grund glauben Sie, ich könnte es schaffen, die Dorsai zu so etwas zu bewegen?«

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»Sie sind einzigartig«, antwortete Nonne. »Aufgrund Ihrer Art des Aufwachsens. Tatsächlich sind Sie dazu imstande, die emotionalen Sprachen aller drei großen Splitterkulturen zu benutzen …«

Hal schüttelte den Kopf. »Doch«, sagte Nonne. »Sie können es. Sie haben es auf

Harmonie bewiesen, als Sie sich einer der dortigen Widerstandsgruppen anschlossen. Glauben Sie denn im Ernst, die Quäker des Kommandos Rukh Tamanis hätten Ihre Gegenwart für mehr als zwei oder drei Tageakzeptiert, wenn sie nicht instinktiv zu der Überzeugung gelangt wären, daß Sie zu ihnen gehörten?«

»Sie akzeptierten mich nicht so einfach«, wandte Hal ein.

»Wirklich nicht?« warf Amid ein. »Als wir uns an Bord des nach Harmonie fliegenden Schiffes unterhielten, hätten Sie mich davon überzeugen können, es mit einem Quäker zu tun zu haben – obgleich ich über den kulturellen Hintergrund von Harmonie und Eintracht weitaus mehr weiß als Sie. Von Quäkern geht eine besondere Ausstrahlung aus. Sie besitzen eine besondere Aura, ebenso wie wir Exoten und die Dorsai. Ich habe mich ein Leben lang damit beschäftigt, einen Quäker sofort als Quäker zu erkennen und in dieser Hinsicht keine Fehler zu machen. Und an Bord des Schiffes machten Sie ganz den Eindruck eines Quäkers auf mich.«

»Darüberhinaus«, sagte Alhonan, »wirken Sie jetzt wie ein Exote auf uns. Und Sie haben auch die Aura eines

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Dorsai – wie ich in Anbetracht meines Fachgebiets behaupten darf.«

Erneut schüttelte Hal den Kopf. »Nein«, widersprach er. »Ich gehöre keiner der drei

von Ihnen genannten Kulturen an. Tatsächlich habe ich überhaupt keinen Platz.«

»Vor einigen Augenblicken«, sagte Amid dicht neben ihm, »als Sie den Vorschlag Nonnes verstanden, lehnten Sie sofort ab und meinten, auf so etwas ließen sich die Dorsai niemals ein. Woher nahmen Sie dabei die Sicherheit, mit der Sie das behaupteten? Ist es nicht so, daß Sie dabei wie ein Dorsai empfanden?«

Die Worte hallten mit einem seltsam lauten Echo hinter der Stirn Hals wider. Außerdem erweckten sie jäh eine unerklärliche, tiefe Schwermut in seinem Innern. Es dauerte einige Sekunden, bis er seine aufgewühlten Empfindungen wieder zu beherrschen vermochte, und er versuchte, ruhig und konzentriert zu überlegen.

»Die Antwort auf diese Frage ist nicht weiter wichtig«, erwiderte er schließlich. »Die Vorstellung von Dorsai-Einzelkämpfern, die die Anderen nacheinander und in aller Heimlichkeit ermorden, erscheint mir – abgesehen von den damit zusammenhängenden ernsten moralischen und ethischen Bedenken – als eine mögliche Lösung des Problems viel zu einfach und trivial. Es wundert mich sehr, daß ausgerechnet Exoten ein solches Vorgehen befürworten …«

»Tatsächlich?« fragte Amid skeptisch. »Prüfen Sie doch einmal den exotischen Teil Ihres Wesens.«

Hal fuhr fort, ohne den kleineren Mann anzusehen.

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»Um was es sich bei den Anderen auch immer konkret handeln mag: Sie sind als eine Konsequenz von natürlichen Kräften inner halb der menschlichen Rasse entstanden. Sie bilden heute ein Volk von vielen, und seit den Anfängen der menschlichen Geschichte konnte Völkermord noch nie ein derartiges Problem lösen. Außerdem wird damit dem eigentlichen Entwicklungsprogramm überhaupt keine Beachtung geschenkt. Die Kräfte, die zur Entstehung der Anderen führten, streben seit vielen hundert Jahren direkt auf die gegenwärtige Krise zu.«

Er unterbrach sich, musterte die Exoten und fragte sich, wieviel von dem, was er wußte, fühlte und begriff, er ihnen zu übermitteln vermochte.

»Als ich mich auf Harmonie in jener Gefängniszelle befand«, fuhr er fort, »hatte ich die Möglichkeit, unter sehr ungewöhnlichen Umständen besonders konzentriert nachzudenken. Ich bin davon überzeugt, daß sich mir dabei ein klares Bild von dem gegenwärtigenhistorischen Gefüge offenbarte – ein besserer Überblick, als ihn viele andere Leute haben. Die Anderen repräsentieren eine Frage, auf die wir eine Antwort finden müssen. Es hat keinen Sinn, die Frage einfach auszuradieren und so zu tun, als sei sie nie gestellt worden. Es war unsere eigene Spezies, die die Hybriden hervorbrachte – und als Konsequenz daraus auch die Organisation der Anderen. Warum? Wir sollten uns darauf konzentrieren, eine entsprechende Erklärung zu suchen …«

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»Aber wir haben keine Zeit mehr für eine derart allgemeine Untersuchung«, sagte Nonne. »Das sollten gerade Sie wissen.«

»Ich weiß nur«, erwiderte Hal, »daß die Zeit ausreichen muß. Zumindest dann, wenn wir sie richtig nutzen. Wenn wir herausfinden können, warum die Anderen zu dem geworden sind, was sie heute darstellen, dann wird sich auch die Antwort auf die vorhin gestellte Frage ergeben. Und es gibt eine solche Antwort, denn die Anderen sind ebenso menschlich wie wir, und die Instinkte einer Rassenentität führen nicht zum Entstehen einer Unterspezies, die die Gesamtheit zerstören könnte – wenigstens nicht ohne einen triftigen Grund. Ich bin davon überzeugt, die Anderen entstanden, um etwas zu testen, um ein Problem zu lösen. Und das bedeutet auch, daß sie nicht unbesiegbar sind, daß es möglich ist, die gegenwärtige Krise zu überwinden – ohne das zu vernichten, was uns bedroht, und anschließend einfach zur Tagesordnung überzugehen. Wenn wir die angesprochene Antwort gefunden haben, so stellt sich bestimmt heraus, daß ihr eine weitaus größere Bedeutung zukommt, als wir uns derzeit vorstellen können.«

Hal spürte, wie sich im nachfolgenden Schweigen die Wirkung seiner Worte verlor, daß sie so sinnlos blieben wie ein Hilferuf, der an einer dicken Mauer verhallte.

»Amid hat eben schon darauf hingewiesen«, meldete sich schließlich wieder Nonne zu Wort. »Sie reagieren teilweise wie ein Exote. Fragen Sie also den exotischen Teil Ihres Ichs, welche der beiden möglichen Lösungen für das Problem die erfolgversprechendere ist –

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diejenige, die Sie aufgrund Ihrer eigenen Schlußfolgerungen vortragen, oder diejenige, die die besten und erfahrensten und intelligentesten Hirne zweier Welten entwickelten, auf denen seit fast vierhundert Jahren Männer und Frauen gerade für diese Art von Aufgabe ausgebildet werden.«

Hal schwieg. »Wir sollten Hal noch fragen, welche Alternativen er

sieht«, erinnerte Padma. Zum erstenmal wandte sich Nonne direkt dem alten

Mann zu. »Hat das Ihrer Meinung nach einen Sinn?« erwiderte

sie. »Ich glaube schon«, bekräftigte Padma, und die

nachfolgende Stille schien sich an diesen drei Worten zu kondensieren und zu verdichten, woraufhin das Schweigen eine neue und geradezu schmerzhafte Intensität gewann. »Sie haben vorhin zugegeben, daß Sie zu denen gehörten, die blind waren infolge der verlockenden Hoffnung, die Hybriden stellten das dar, wonach wir seit Jahrhunderten Ausschau hielten. Ihr Fehler in dieser Hinsicht war weitaus geringer als der meine: Ich beobachtete die Anderen bereits seit vielen Jahren und hätte die von ihnen ausgehende Gefahr rechtzeitig erkennen müssen. Daraus habe ich für mich persönlich die Konsequenzen gezogen: Ich werde mich davor hüten, mich ein zweitesmal in Versuchung führen und von dem Wunsch nach einer raschen und sicheren Lösung blenden zu lassen – einer Lösung, die Hal zu Recht zu einfach und trivial nannte.«

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»Ich glaube …«, setzte Nonne an, unterbrach sich aber wieder, als Padma kurz die eine Hand aus dem Schoß hob.

»Ich beging nicht nur den Fehler, in den Hybriden etwas anderes zu sehen, als sie wirklich waren«, sagte der alte Exote. »Darüberhinaus unterlief mir, im Gegensatz zu Ihnen, noch ein zweiter – einer, der mich heute noch verfolgt. Von allen Exoten bot sich mir die Chance dar, in Donal Graeme ein Individuum zu erkennen, das einen evolutionären Fortschritt verkörperte. Heute bin ich davon überzeugt – aber jetzt ist es zu spät. Doch er wurde nie überprüft, und es wäre mir leichtgefallen, während seiner letzten fünf Lebensjahre eine entsprechende Berechnung durchführen zu lassen. Hätte ich mich dazu entschlossen, wären wir problemlos dazu in der Lage gewesen, sein Potential zu erkennen. Aber ich versagte. Und das Ergebnis bestand darin, daß die Chance, die er uns vor achtzig Jahren anbot, mit ihm zusammen für immer verschwand. Ich möchte unbedingt vermeiden, daß ich noch einmal einen solchen Fehler mache.«

Die Exoten sahen sich betreten an. »Padma«, sagte Chavis sanft, »wie schätzen Sie

persönlich das Potential Hals ein?« Die seltsame Intensität, die bei den ersten Worten

Padmas entstanden war, hatte sich noch nicht verflüchtigt.

»Ich glaube, er könnte ein zweiter Donal Graeme sein«, sagte der alte Mann. »Wenn das stimmt, dürften wir es

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auf keinen Fall riskieren, ihn zu verlieren. Und zumindest sollten wir ihn anhören.«

Ein weiteres Mal berieten sich die Exoten mit stummen Blicken.

»Da haben Sie gewiß recht«, gestand Nonne ein. »Nun?« Chavis musterte ihre Kollegen kurz, die

daraufhin nickten. »Fahren Sie fort, Hal. Für den Fall, daß Sie eine Alternative kennen und uns einen entsprechenden Vorschlag machen können.«

Hal schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Antworten parat«, erwiderte er. »Ich

bin nur davon überzeugt, daß man sie finden kann.« »Bisher haben wir keine entdeckt«, sagte Alhonan.

»Aber Sie halten es trotzdem für möglich?« »Ja.« »Dann läuft Ihr Vorschlag doch auf folgendes hinaus«,

fügte Alhonan hinzu. »Sie verlangen von unseren beiden Welten blindes Vertrauen Ihnen gegenüber – und das Akzeptieren aller damit einhergehenden Risiken. Stimmt das?«

Hal holte tief Luft. »Wenn Sie es unbedingt so ausdrücken wollen …«,

erwiderte er. »Die Bedeutung dürfte sich durch die Wortwahl allein

wohl nicht ändern«, sagte Alhonan. »Glauben Sie wirklich, Sie allein könnten die gegenwärtige Krise bewältigen – und wir sollten Ihnen dorthin folgen, wohin Sie uns führen?«

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»Ja«, bestätigte Hal. »Eine andere Alternative kann ich Ihnen nicht anbieten.«

»Na schön«, sagte Chavis. »Dann erklären Sie uns bitte: Was gedenken Sie zu tun?«

»In der Gefängniszelle auf Harmonie habe ich einen Entschluß gefaßt«, antwortete Hal. »Ich will versuchen, all das in Erfahrung zu bringen, was für die Gesamtspezies in dieser Situation wichtig ist, und auf der Grundlage dieser Erkenntnisse werde ich entscheiden und handeln.«

»Wobei Sie gegebenenfalls unsere Hilfe anfordern«, sagte Alhonan.

»Falls notwendig – was vermutlich der Fall sein wird«, erwiderte Hal. »Ja, ich werde Sie und all die anderen um Hilfe bitten, denen ebenfalls etwas an einer Lösung gelegen ist.«

Die vier Exoten wechselten rasche Blicke. »Sie sollten uns einen besonderen Grund nennen«,

sagte Chavis leise. »Bestimmt hat Ihre Überzeugung doch bereits eine gewisse Erkenntnisbasis. Warum glauben Sie, Sie könnten das finden – wenn es tatsächlich etwas zu finden gibt –, was wir bisher übersahen?«

Hal musterte erst sie eingehend, dann Padma und schließlich auch Nonne und Alhonan.

»Tatsache ist folgendes«, begann er, und zuerst sprach er langsam und zögernd; nach und nach aber wurde seine Stimme fester. »Ich begreife nicht, warum Sie trotz Ihrer ontogenetischen Berechnungen das Offensichtliche übersehen. Wie kommt es, daß Sie nicht das erkennen, was sich direkt vor Ihrer Nase befindet? Sie brauchen

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doch nur richtig hinzusehen. Versuchen Sie, Abstand von sich selbst zu gewinnen und rund fünfhundert Jahre zurückzublicken, vielleicht auch tausend. Betrachten Sie die ganze menschliche Geschichte. Es sind Menschen, die den historischen Prozeß vorantreiben – jenen Prozeß, der immer in die Zukunft gerichtet ist. Menschen und die Interaktionen ihrer individuellen Handlungen: ihre Konflikte und Auseinandersetzungen, ihr Bemühen, Kompromißvektoren für ihre übergreifenden Kräfte zu finden. Man könnte diesen Umstand mit einem Orchester vergleichen, das aus Millionen von Instrumenten besteht: Jedes einzelne versucht, seinen Teil der Melodie zu spielen und gleichzeitig nicht überhört zu werden. Und wenn die Abteilung, die sich aus Blasinstrumenten zusammensetzt, sich plötzlich als dominant herausstellt und alle anderen übertönt, besteht dann die Lösung des Problems vielleicht darin, diese Sektion einfach aus dem Gesamtorchester zu entfernen?«

Hal hielt kurz inne, aber keiner der Exoten gab ihm Antwort.

»Und doch beabsichtigen Sie genau das mit dem Vorschlag, die Dorsai dazu zu bewegen, gegen die Anderen vorzugehen«, fuhr er fort. »Das ist völlig verkehrt! Das Orchester als Ganzes erfüllt einen bestimmten Zweck. Es geht in erster Linie darum herauszufinden, warum die Blasinstrumente so laut geworden sind. Und auf der Grundlage dieses Wissens muß man anschließend lernen, das Gesamtorchester besser zu nutzen. Denn bei der ganzen Problematik handelt es sich nicht einfach um einen Zufall – was Sie zu glauben scheinen. Sie ist eine Konsequenz, das

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Ergebnis von früheren Entwicklungsprozessen, von zielgerichteten Vorgängen, die Sie noch nicht verstehen, über die sich nicht einmal die Musikanten klar sind, die die Blasinstrumente spielen. Dieser Prozeß basiert auf einer Ursache, die es zu identifizieren gilt. Und niemand wird diesen Grund entdecken, der nicht an seine Existenz glaubt. Deshalb nehme ich an, daß mir die Aufgabe zukommt, danach Ausschau zu halten – und nicht Sie. Und deshalb müssen Sie mir vertrauen, bis ich ihn gefunden habe und Ihnen erkläre, welche Reaktionen darauf erforderlich sind.«

Damit hatte er seinen kurzen Vortrag beendet. Die Exoten vor ihm wandten sich Padma zu. Doch der alte Mann gab keinen Ton von sich, und sein ruhiges Gesicht war ausdruckslos und gab keinen Hinweis auf das, was nun in ihm vor sich ging.

»Ich glaube«, sagte Chavis sanft, »wir sollten uns eingehend über das eben Gehörte unterhalten – und zwar allein, wenn Hal nichts dagegen einzuwenden hat.«

Amid stand auf, und Hal folgte seinem Beispiel. Der Exote führte ihn fort von dem Balkon. Sie schritten durch den Korridor und gelangten an eine nach unten geneigte Rampe, die Zugang gestattete in einen Garten, der offenbar unterhalb des Balkons lag, auf dem die anderen Exoten saßen. Eine hohe Hecke umgab einen kleinen Teich mit einem Springbrunnen, und die Wasserfläche war umgeben von ausgehöhlten und speziell bearbeiteten Steinen, die als Sitzgelegenheiten dienten.

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»Bitte warten Sie hier auf mich«, sagte Amid. »Ich gehöre zu ihnen, und deshalb sollte ich an der Diskussion teilnehmen. Es dauert nicht lange.«

»Gern«, sagte Hal und nahm in einem der Steinsessel Platz, den Rücken dem Balkon zugewandt. Amid ging.

Das sanft klingende Plätschern des Wassers und die anderen, eher leisen Geräusche der Umgebung ließen nach der intellektuellen Auseinandersetzung mit den Exoten eine gewisse Ruhe in Hal entstehen. Er hob den Kopf, und als er über die Schulter zurückblickte, konnte er die Balustrade des Balkons erkennen. In seiner gegenwärtigen Position war er jedoch nicht dazu in der Lage, auch nur die Köpfe der versammelten ontogenetischen Experten zu sehen. Darüberhinaus verhinderte ein besonderer Aspekt der lokalen Akustik, daß er ihre Stimmen hörte.

Daraufhin wandte er seine Aufmerksamkeit davon ab und beobachtete den Teich. Aus der Mitte der Wasserfläche vor ihm schoß eine Fontäne etwa drei Meter in die Höhe und bildete eine Art Sprühnebel. Während er noch den Springbrunnen betrachtete, entstand in ihm ein sonderbar düsteres Gefühl der Niederlage und dumpfen Hoffnungslosigkeit.

Gedanklich kehrte er in die Gefängniszelle auf Harmonie zurück und erinnerte sich an den Augenblick, als es ihm endlich gelungen war, zu einem allgemeinen und umfassenden Verständnis der Rassenentität zu gelangen. Damals war das vollständige Bild zu komplex für ihn gewesen, um es unmittelbar in allen seinen Aspekten in sich aufzunehmen, und nach wie vor gab es

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einige Stellen, deren Konturen sich noch nicht ganz herausgebildet hatten. Während der vergangenen Wochen hatte er sich damit beschäftigt, die Einheit dieses besonderen Verstehens Faktor um Faktor zu erforschen – so wie ein gewaltiges Mosaik, das sich vor ihm in der Horizontalen erstreckte und schlichtweg zu groß war, um von einem gegebenen Standpunkt aus als Ganzes betrachtet werden zu können. Im Verlauf dieser mentalen Entdeckungsreise hatte sich sein Wissen vergrößert, so daß er allmählich immer mehr Sektoren zu analysieren vermochte. Doch selbst jetzt noch konnte er das Bild nicht als eine geschlossene Einheit überblicken.

Doch er fühlte es. Er war sich der Gesamtheit des Mosaiks bewußt, des lebendigen Aspekts des enormen menschlichen Entwicklungspotentials, mit dessen Erkundung er sich beschäftigte.

Er empfand es bereits als unfaßbar, daß die Existenz einer so umfassenden und bedeutenden Präsenz sich nicht auf ähnlich überwältigende Weise anderen Personen offenbarte. Und insbesondere wunderte es ihn, daß gerade Wissenschaftler, die aufgrund ihrer Herkunft und Ausbildung zu einem entsprechenden Begreifen beson ders prädestiniert waren – so wie Amid und die anderen vier Exoten auf dem Balkon –, die Augen vor dem kolossalen Bild verschlossen. Wie kam es, daß ausgerechnet die Exoten nach einer dreihundertjährigen Existenz ihrer Kultur sich nie mit der Untersuchung der gewaltigen Kraft beschäftigt hatten, die den Fortschritt der Rassenentität antrieb – einer Kraft, die sich auf die Interaktionen aller Menschen gründete und den Motor der Evolution mit Energie versorgte?

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Und doch, so überlegte Hal, war das die Absicht der Exoten gewesen. Ihre Wissenschaft der Ontogenetik hatte sich genau durch diese Zweckbestimmung ausgezeichnet. Aus irgendeinem Grund aber war dieses Ziel bisher nicht erreicht worden. Warum nicht?

Ganz langsam entwickelte sich die Antwort auf diese Frage in Hal, auf der Basis des neuen Wissens über das, nach dem er suchte und zu verstehen trachtete: Die Objektivität der auf Mara und Kultis gebräuchlichen Ontogenetik war von Anfang an durch die Annahme beeinträchtigt worden, daß die letztendliche Antwort dem entsprach, was die Exoten als ultimates Ziel der menschlichen Entwicklung erhofften.

Hal empfand eine gewisse Niedergeschlagenheit, ein Gefühl, das ihm nicht unbekannt war und sich nach und nach in ihm verstärkte, wenn auch nicht auf eine Art und Weise, die ihn alarmierte. Während seines Aufenthaltes auf Harmonie hatte er seine Hoffnungen in erster Linie auf die Exoten gesetzt, auf die Männer und Frauen, die sich durch Verständnis und eine besondere Einsicht auszeichneten, so wie Walter der Unterweiser. Doch jetzt sah er sich aufgrund der Umstände mit der Notwendigkeit konfrontiert, gerade diese Qualitäten in Zweifel zu ziehen – wodurch er gezwungen wurde, auch in Hinblick auf sich selbst eine gewisse Skepsis zu entwickeln. War er denn wirklich so wichtig, daß er sicher sein konnte, die besiedelten Welten sollten ihn anhören? Die Aufgabe, die er nach dem Erkenntnisprozeß im Gefängnis der Miliz mit solchem Enthusiasmus in Angriff genommen hatte, erschien ihm nun für einen einzelnen Menschen als viel zu enorm –

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selbst dann, wenn es keine zusätzlichen Hindernisse zu überwinden galt. Bei allen seinen Handlungen konnte er sich doch nur auf eine Lebenserfahrung berufen, die nicht über zwanzig Jahre hinausging. Er war allein. Selbst Amid stand auf der anderen Seite der Barriere, die ihn vom Rest der Menschheit trennte.

Die in ihm wachsende Niedergeschlagenheit breitete sich weiter aus und beanspruchte den Platz, der zuvor von Zuversicht ausgefüllt gewesen war. Sie wuchs aus dem Fundament, das die düstere Logik Bleys' in ihm geformt hatte – und verstärkt worden war durch das Unverständnis der Exoten. Während der Springbrunnen weiterhin vor ihm sprudelte, konzentrierte sich Hal darauf, den neuen Feind zu bekämpfen. Die Zeit verstrich. Und es war fast wie ein Schock, als er plötzlich Amid neben sich stehen sah.

Hal stand auf. »Nein«, sagte der Exote. »Es ist nicht nötig, auf den

Balkon zurückzukehren. Ich möchte Ihnen mitteilen, was beschlossen wurde.«

Einige Sekunden lang musterte Hal ihn eingehend. »Nun?« fragte er. »Ich fürchte, die Exoten sind nicht dazu bereit, Ihnen

blindlings zu vertrauen«, sagte Amid. »Ich glaube, es gibt keinen Grund, warum ich Ihnen nicht versichern sollte, daß Padma, Chavis und ich für Sie eingetreten sind.«

»Also drei von fünf«, stellte Hal fest. »Eine Mehrheit zu meinen Gunsten.«

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»In einer derartigen Situation ist mehr notwendig als nur eine einfache Mehrheit«, erwiderte Amid. »Es existiert nach wie vor ein Faktor der Unsicherheit und des Zweifels, und dieser Tatsache mußten wir uns schließlich alle stellen.«

»Mit anderen Worten: Letztendlich entschieden Sie sich alle gegen mich?«

»Padma sah von einer endgültigen Einschätzung ab.« Amid sah ihn an, und es zeigte sich ein Hauch von Bedauern in dem Gesicht des alten Mannes. »Es tut mir leid, Sie auf diese Weise enttäuschen zu müssen.«

»Macht nichts«, sagte Hal müde. »Ich glaube, ich mußte damit rechnen.«

»Es steht Ihnen noch immer die Möglichkeit offen, als unser Abgesandter nach Dorsai zu fliegen«, warf Amid ein. »Ihnen gemäß unseres Vorschlags eine Botschaft von uns zu überbringen. Vielleicht sollten Sie diese Gelegenheit wahrnehmen, auch wenn Sie nicht unserer Meinung sind. Zumindest setzen Sie auf diese Weise den Kampf gegen die Anderen fort.«

»Oh, ich bin einverstanden«, sagte Hal. »Ich mache mich auf den Weg.«

Amid wirkte ein wenig verwundert. »Es überrascht mich, daß Sie bereits diesen Entschluß gefaßt haben«, sagte er.

Hal zuckte mit den Schultern. »Wie Sie eben meinten: Auf diese Weise befasse ich mich wenigstens mit dem Problem, wie man die von den Anderen ausgehende Gefahr ausschalten kann – wenn auch nicht auf die von mir geplante Art.«

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Hal wurde sich plötzlich bewußt, daß sein Lächeln fast zu einem Grinsen geworden war. Es fiel ihm nicht ganz leicht, die Gesichtsmuskeln wieder zu entspannen.

»Erstaunlich«, murmelte Amid. Er hatte den Blick nicht von Hal abgewandt. »Und das ist alles?«

»Nun, ich habe noch eine Bitte«, fügte Hal hinzu. »Wenn ich abgeflogen bin, würden Sie Nonne und die anderen dann an folgendes erinnern: Es war ihre eigene Einschätzung, nach der ich die gegenwärtigen starken historischen Kräfte nicht kontrollieren kann und uns nicht mehr viel Zeit zur Verfügung steht.«

»Wie Sie wünschen«, erwiderte Amid. Er schien noch etwas anderes sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber und drehte sich um.

»Kommen Sie«, sagte er. »Ich helfe Ihnen bei den Vorbereitungen für die Abreise.«

25 Ein lautes Läuten lenkte die Aufmerksamkeit Hals auf den in die eine Wand integrierten Kommunikationsschirm. Die Bildfläche blieb grau, aber aus dem Lautsprecher drang eine lebhaft klingende Frauenstimme.

»Achtung, Achtung! Bitte nehmen Sie in dem stationären Sicherheitssessel neben dem Bett Platz und aktivieren Sie das Schutzfeld. Die entsprechende Kontrolle ist eine rote und in die rechte Armlehne eingelassene Taste.«

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Ein wenig überrascht kam Hal der Aufforderung nach, und er wußte, daß das Einschalten des Schutzfeldes von einer entsprechenden Anzeige im bugwärtigen Kontrollraum des Raumschiffes bestätigt wurde. Die Anweisung hatte ihn deshalb erstaunt, weil er tief in Gedanken versunken gewesen war, und aus einem inneren Reflex heraus richtete er seine Aufmerksamkeit erneut auf das, was ihn beschäftigt hatte.

Zumindest einen Teil des dunklen Schattens der Niederlage und Hoffnungslosigkeit, jenes Empfindens, das auf Mara in ihm entstanden war, hatte er auch während des fünftägigen Aufenthalts an Bord des Schiffes nicht aus sich verdrängen können. Bisher war er noch nicht mit der Frau zusammengetroffen, die offenbar als Pilotin des kleinen Kurierkreuzers fungierte, dessen einziger Passagier er zu sein schien. Und die Namenlose hatte während des Fluges auch nicht den Kontrollraum verlassen, um seine Bekanntschaft zu machen. Dadurch war Hal in der Lage gewesen, ungestört nachzudenken – und es gab eine Menge, über das er sich Gedanken machen mußte.

Jetzt allerdings, da sie ihr Ziel, Dorsai, fast erreicht hatten … Hal sah sich der Notwendigkeit gegenüber,diese Überlegung vorzeitig abzubrechen, da er seinen Körper den Beschränkungen des Schutzfelds überantworten mußte. Für gewöhnlich erwies sich das für Passagiere nur dann als nötig, wenn das betreffende Raumschiff im All ein Andockmanöver durchführte, so wie der Orbitalbus, der – vor einer Ewigkeit – an die Letzte Enzyklopädie angelegt hatte.

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Aber bei diesem Dorsai-Kreuzer handelte es sich nicht um einen gewöhnlichen Liner, und die Kommandanten solcher Schiffe hatten ihre eigenen Angewohnheiten, was man auf allen vierzehn Welten sehr wohl wußte. Hal streckte die Hand aus und schaltete den Monitor ein, um festzustellen, ob seine Vermutung zutraf und das Einschwenken in einen Parkorbit tatsächlich unmittelbar bevorstand.

Der sich ihm darbietende Anblick veranlaßte ihn dazu, sich ruckartig aufzusetzen. Die Nähe zu dem Planeten ließ ihn wirklich annehmen, daß sie die Umlaufbahn nahezu erreicht hatten. Dorsai war eine marmorierte Scheibe aus blauen und weißen Streifenmustern, und der Planet füllte fast den ganzen Schirm aus. Scharf und deutlich zeichnete sich der Terminator ab, die Grenze zwischen Tag und Nacht. Doch ganz offensichtlich machte die Pilotin keine Anstalten, die Geschwindigkeit zu reduzieren. Die Phasenverschiebung schleuderte den Kreuzer weiterhin in Richtung des Planeten. Vor noch rund fünfzig Jahren wäre es angesichts einer so raschen Aufeinanderfolge einzelner Verschiebungen und der damit einhergehenden psychischen Schocks notwendig gewesen, entsprechende Medikamente einzunehmen. Doch infolge der Forschungsarbeiten in der Letzten Enzyklopädie hatte man eine Abschirmmöglichkeit gefunden, und deshalb wurden solche Phasenverschiebungen nicht mehr angekündigt.

Es dauerte einige Sekunden, bis sich Hal daran erinnerte, daß die Dorsai – im Gegensatz zu anderen Piloten – es sich zur Angewohnheit gemacht hatten, ihre Raumschiffe mit einer Phasenverschiebung direkt in die

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Atmosphäre einer Welt hineinzulenken, die sie schon des öfteren angeflogen hatten und dementsprechend gut kannten – bis in eine Höhe von nur noch einigen tausend Metern über dem Boden. Es handelte sich dabei um ein Geschick, das während ihrer normalen Ausbildung trainiert wurde und in erster Linie dazu diente, Orbitalbus- und Fährkosten für ihre alles andere als reiche Heimatwelt einzusparen. Das Schutzfeld in den Kabinen stellte nur eine routinemäßige Vorsichtsmaßnahme dar, mit der verhindert werden sollte, daß einige Passagiere angesichts eines derart ungewöhnlichen Anflugs in Panik gerieten und sich daraufhin Verletzungen zuzogen. Tatsächlich kam es kurz darauf, als eine Abfolge sehr rascher Phasenverschiebungen zu Ende ging, zu einem jähen Ruck, der Hal aus dem Sessel geschleudert hätte, wäre nicht das Schutzfeld gewesen.

Die Entfernung zur Oberfläche des Planeten betrug nun nicht mehr als höchstens tausend Meter, und die Pilotin schaltete den normalen Antrieb ein und lenkte den Kreuzer in Richtung eines Raumhafens, der grau wirkte infolge des Regens, der aus dichten Wolken fiel – eines Raumhafens, dessen Fläche größer war als die der daran angrenzenden Stadt. Ganz offensichtlich wollte die Pilotin das Schiff dort landen – Amid hatte Hal den Zielort des Kreuzers genannt –, und bei der Ansiedlung mußte es sich um so etwas wie die Hauptstadt Dorsais handeln. Sie hieß Omalu, und dort befanden sich die zentralen Verwaltungsbüros der Vereinten Bezirke – der Distrikte, in die Dorsai aufgeteilt war, um eine

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weitgehende Autonomie der einzelnen Regionen zu ermöglichen.

In erster Linie aber repräsentierten diese Büros eine Bibliothek und ein Archiv für Außenwelt-Kontrakte und ähnliche Unterlagen. Und sie boten eine Möglichkeit, Konflikte in oder zwischen einzelnen Distrikten zu lösen. Was eine zentrale Regierung anging, so war Dorsai in gewisser Weise noch anarchischer organisiert als Mara und Kultis.

Theoretisch kam den jeweiligen Bezirksbeamten Autorität über die in dem entsprechenden Distrikt lebenden Familien zu. Doch in Wirklichkeit handelte es sich bei dieser Autorität um nichts weiter als die Möglichkeit, gewissermaßen eine öffentliche Meinung zum Ausdruck zu bringen.

Nachbarschaftliche Harmonie – diesem Begriff kam auf Dorsai eine besondere Bedeutung zu. Er bezeichnete eine soziale Einheit des kulturellen Gefüges dieser Welt. Selbst in theoretischer Hinsicht unterhielten die Bezirke nur sehr lockere Beziehungen zu den zentralen Verwaltungsbüros auf jeder Insel des Planeten, dessen Landmasse sich aus vielen kleineren und größeren Eilanden zusammensetzte. Und die Inselbüros wiederum erhielten nicht etwa Anweisungen von der Verwaltung der Vereinten Bezirke in Omalu, sondern berieten sich mit ihr. Nur auf diese Weise ließ sich ein Zusammenleben auf einer Welt gewährleisten, deren Familien beständig, direkt und unabhängig voneinander mit Außenweltregierungen verhandelten und Verträge abschlossen.

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Seine Mission, dachte Hal, war nicht ohne eine gewisse Ironie: Die Exoten hatten ihn auf ihre Kosten zu den Repräsentanten einer Welt geschickt, die keine Repräsentanten in dem Sinn hatte, zumindest keine offiziellen. Es war ironisch deswegen, weil die Exoten, die normalerweise zu nichts Vertrauen hatten, das sie nicht testen und berechnen und rational erfassen konnten, sich in diesem Fäll ganz darauf verließen, daß man Hal auf Dorsai zu den Leuten brachte, die Entscheidungen treffen konnten.

Der Kurierkreuzer setzte nun zur Landung an, und es ging alles so schnell, daß man hätte meinen können, das Schiff sei unmittelbar über dem Boden aus der Phasenverschiebung gekommen. Als es aufsetzte und das Brummen des Antriebs erstarb, verblaßte der Leuchthinweis über der Tür. Hal schaltete das Schutzfeld ab, stand auf und griff nach dem Rucksack, den Amid ihm zur Verfügung gestellt hatte und der einige notwendige persönliche Dinge und Ausrüstungsgegenstände enthielt. Hal war von Amid unnötigerweise daran erinnert worden, daß man auf Dorsai nicht immer die Möglichkeit hatte, sich das, was man brauchte, in einem nahen Geschäft zu kaufen.

Anschließend verließ er seine Kabine und mußte sich an verschieden großen Kisten mit von den Exoten hergestellten medizinischen Apparaten vorbeizwängen, die sich selbst im Hauptkorridor des Schiffes stapelten. Die meisten Geräte würden diejenigen ersetzen, die in den Krankenhäusern Dorsais bereits seit vielen Jahren benutzt wurden. Bei einigen jedoch handelte es sich um ältere Modelle, die zu den Konstrukteuren auf Mara

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gebracht worden waren, um dort entweder repariert oder gewartet zu werden. Hal empfand es als erstaunlich, daß ein so kleines Raumschiff angesichts einer derart umfangreichen und schweren Fracht überhaupt noch vom Boden eines Planeten aufsteigen konnte.

Schließlich erreichte Hal die Außenluke und trat in einen grauen Morgen hinaus. Aus den niedrighängenden Wolken regnete es in Strömen. Er trat die Rampe hinunter, und unten sah er eine hochgewachsene und rund vierzig Jahre alte Frau, die einen grauen Coverall trug und sich angeregt mit einem schmalgesichtigen und älteren Mann unterhielt, dem Fahrer eines kleinen Hovertransporters.

»Sie brauchen Hilfe!« beharrte die Frau. »Das ganze Schiff ist voller Kisten, und die meisten von ihnen sind so schwer, daß Sie sie nicht allein bewegen können, nicht einmal mit kleinen Hebemotoren. Selbst wir beide schaffen es nicht. Man muß erst die Hälfte beiseite räumen, bevor man die ersten Container nach draußen bringen kann.«

»Na schön«, erwiderte der Mann. »Bin in fünf Minuten zurück.«

Er wendete den Wagen und lenkte ihn über den Beton der Landefläche davon, in Richtung einiger Gebäude, deren Konturen in der Ferne sich angesichts der trüben Gräue nur verschwommen zeigten. Die Frau drehte sich um und sah Hal. Einige Sekunden lang musterte sie ihn schweigend.

»Sind Sie ein Dorsai?« fragte sie schließlich. »Nein«, erwiderte Hal.

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»Als Sie an Bord gingen, stand ich nur etwa zwanzig Meter entfernt und half beim Entladen«, sagte sie. »Sie bewegten sich wie ein Dorsai. Ich hielt Sie für einen von uns.«

Hal schüttelte den Kopf. »Einer derjenigen, bei denen ich aufwuchs, stammte

von dieser Welt.« »Aha.« Erneut beobachtete sie ihn. »Also sind Sie nicht

als Pilot ausgebildet worden. Bei einem solchen Flug sollten eigentlich zwei an Bord sein, und ich wunderte mich schon, warum Sie nicht in den Kontrollraum kamen und mir halfen. Andererseits aber hatte ich alle Hände voll zu tun, und als Sie Ihre Kabine nicht verließen, dachte ich, Sie hätten einen guten Grund, um allein zu bleiben.«

»Was in gewisser Weise auch zutrifft«, antwortete Hal. »Nun gut. Wenn Sie mir ohnehin nicht helfen konnten,

war es auch besser, daß Sie mich nicht störten. Wie dem auch sei: Jetzt sind wir am Ziel. Ich habe den Flug allein bewältigt und Sie sicher dorthin gebracht, wohin Sie wollten.«

»Das stimmt nicht ganz«, wandte Hal ein. »Mein eigentliches Ziel ist Foralie.«

»Foralie? Auf der Caerlon-Insel?« Die Pilotin runzelte die Stirn. »Die Exoten sprachen von Omalu.«

»Sie gingen dabei von einer bestimmten Annahme aus«, erwiderte Hal. »Ich kehre später hierher zurück. Zunächst aber möchte ich nach Foralie.«

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»Hm.« Die Frau blickte in Richtung der Gebäude. »Babrak dürfte bald wieder hier sein. Er ist sicher bereit, Sie in den Terminal zu bringen, und dort sagt man Ihnen dann, wie Sie nach Foralie gelangen können. Vermutlich müssen Sie während der Reise einige Male das Schiff wechseln …«

»Ich hatte gehofft, direkt nach Foralie fliegen zu können«, sagte Hal. »Und ich bin bereit, mit interstellaren Krediten dafür zu bezahlen.«

»Oh.« Die Pilotin deutete ein kurzes Lächeln an. »Interstellare Kredite werden hier heutzutage sehr gebraucht. Ich hätte wissen müssen, daß Sie welche besitzen, denn schließlich gingen Sie auf einer der beiden Exotischen Welten an Bord. Nun, wie ich schon sagte: Babrak wird gleich wieder hier sein. Lassen Sie uns an Bord des Schiffes zurückkehren; dieser Regen ist einfach schrecklich. Und wie wäre es, wenn Sie mir dabei helfen würden, in der Schleuse soweit Platz zu machen, daß die Entladearbeiter nicht zu lange aufgehalten werden?«

Knapp zwei Stunden später befand sich Hal an Bord des kleinsten Air- und Orbitalbusses, den er jemals benutzt hatte. Er saß neben dem Piloten vor dem Instrumentenpult. Hinter ihnen waren zwei weitere und jetzt leere Sessel im Boden verankert, und dahinter wiederum befand sich ein winziger Frachtraum.

»Die Strecke mißt fast ein Drittel des Planetenumfangs«, sagte der Pilot, ein dünner, lebhafter und schwarzhaariger Mann, der etwa dreißig Jahre als sein mochte und eine Jacke mit Pelzkragen und eine

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weite Hose trug. »Der Flug dauert eine gute Stunde. Sie sind kein Dorsai, oder?«

»Nein«, bestätigte Hal. »Ich dachte einige Augenblicke lang, Sie stammten

von hier. Hal ten Sie sich fest.« Der Airbus stieg rasch in die Höhe und erreichte bald darauf die obersten Ausläufer der Atmosphäre. Der Pilot überprüfte die Kontrollen und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf Hal.

»Foralie-Stadt, nicht wahr?« fragte er. »Kennen Sie dort jemanden?«

»Nein«, erwiderte Hal. »Ich habe nur immer den Wunsch gehabt, Foralie einmal zu sehen. Ich meine damit nicht in erster Linie die Stadt selbst, sondern das Heim der Graemes.«

»Foralie ist die Bezeichnung für das gesamte Anwesen, und das Heim der Graemes ist das entsprechende Haus. Was möchten Sie sich ansehen – das Anwesen oder das Haus?«

»Alles«, sagte Hal. »Aha.« Der schwarzhaarige Mann musterte ihn noch einen

Sekundenbruchteil länger, bevor er den Kopf drehte und den Blick auf die Sterne richtete, die über dem fernen und gewölbten Horizont der Tageshemisphäre unter ihnen schimmerten. Der helle und gleißende Fleck des Zentralgestirns dieses Sonnensystems, Fomalhaut, hatte beim Start im Heckbereich geglänzt, schob sich nun aber rasch nach vorn. »Sie haben nicht zufällig einen Verwandten, der Graeme heißt?«

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»Nein, ich glaube nicht«, erwiderte Hal. Der etwas barsche Tonfall, in dem er geantwortet hatte,

ohne es bewußt zu bemerken, verfehlte seine Wirkung nicht. Der Pilot stellte keine weiteren Fragen mehr, und in dem Halbdunkel des Kontrollraums im Innern des Airbusses war Hal einmal mehr seinen Gedanken überlassen. Er lehnte sich in dem Sessel zurück und schloß die Augen. Während seiner Kindheit hatte er des öfteren den Wunschtraum gehabt, daß seine Eltern mit den Graemes von Foralie verwandt waren. Doch dieses Stadium kindlicher Sehnsucht hatte er inzwischen hinter sich gelassen. Trotzdem war von der Frage des Piloten eine gewisse Sensibilität in ihm berührt worden.

Dennoch empfand er jetzt, da er nach Foralie unterwegs war, ein gewisses Unbehagen, ausgerechnet dieses Ziel als erste Etappe seiner Mission gewählt zu haben. Eigentlich gab es keinen Grund für diese Reise – abgesehen von seiner Faszination in Hinblick auf die Graemes und die Geschichten, die Malachi ihm über Ian und Kensie und Donal und die anderen erzählt hatte.

Nein: Es ging einfach nur um die Tatsache, daß er aufgrund des mentalen Schattens, der sich in einem Garten Maras auf seine Seele gesenkt hatte, sich nur widerstrebend dazu bereitfinden konnte, seine Aufgabe auf Dorsai in Angriff zu nehmen – die Durchführung des Auftrags, den er von Nonne und den anderen Exoten erhalten hatte. Und das damit einhergehende Unbehagen hatte ihn dazu veranlaßt, eine Entscheidung zu treffen, die einem kindlichen Wunsch entsprach – und auf diese

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Weise das mit eigenen Augen zu sehen, was Malachi ihm so oft geschildert hatte.

Der tiefere Beweggrund Hals war nicht ganz so klar ersichtlich, aber weitaus stärker: Von all den Träumen und Fiebervisionen während seines Aufenthaltes in der Gefängniszelle der Miliz auf Harmonie hatte sich ihm insbesondere das Bild der Totenfeier am Grab eingeprägt. Er entsann sich selbst jetzt noch so deutlich an die einzelnen Szenen, als seien sie tatsächlich ein Teil seiner realen Erfahrung – ebenso wie die entsprechenden Empfindungen, der tief in ihm nagende Kummer, das Versprechen, das fast einem Schwur gleichkam. Hal brauchte keine besondere Analyse vorzunehmen, um zu dem Schluß zu gelangen, daß sich jenes Geschehen an einem Ort auf Dorsai zugetragen hatte. Für jemanden, der auf die besondere Weise wie er aufgewachsen war, konnte es daran keinen Zweifel geben – das Gefühlsmuster des Traumes entsprach eindeutig der Welt Dorsai. Und die Vision hatte einen derart starken Eindruck auf ihn hinterlassen, als käme sie einem Omen gleich – einem Omen, aus dem erhebliche Gefahr resultieren mochte, wenn er ihm nicht angemessene Beachtung schenkte. Malachi war ein Teil seiner eigenen Familie gewesen, und deshalb fühlte sich Hal insbesondere zu den legendären Graemes hingezogen, über die er während seiner Kindheit so viel gehört hatte.

Es stimmte schon: Er hatte immer den Wunsch gehabt, einmal den Geburtsort Donal Graemes zu sehen. Aber jetzt verband sich mit diesem Motiv auch noch etwas anderes – etwas, das über sein gegenwärtiges Verstehen der Vision des Todes und des Versprechens hinausging.

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Ein Faktor, der sich dem Forschen seines bewußten Verstandes nach wie vor entzog, gleichzeitig jedoch das Drängen in ihm entstehen ließ, einen Ort aufzusuchen, der ihm das letztendliche Begreifen ermöglichte.

Außerdem erschien es Hal bei genauerem Überlegen als gar nicht so abwegig, ausgerechnet jenen Ort aufzusuchen. Malachi – oder der Schatten Malachis, den er zusammen mit den Phantomen Wal ters und Obadiahs vor vier Jahren in der Letzten Enzyklopädie beschworen hatte – war der Ansicht gewesen, daß es keinen Grund für ihn, Hal, gab, Dorsai aufzusuchen, solange er nicht dazu bereit war, gegen die Anderen zu kämpfen. Nun, jetzt war er dazu bereit. Und er erinnerte sich auch daran, daß Donal Graeme damals von Foralie aufgebrochen war, um die vierzehn Welten zu einer Einheit zusammenzufügen. Eine fast als mystisch zu bezeichnende Zweckbestimmung schien Hal an den gleichen Ausgangspunkt zu führen.

Darüberhinaus war er in einer Stimmung, die ihm eine gewisse Aufmunterung – selbst eine mystische – als verlockend erscheinen ließ. Er hatte in dem Bemühen versagt, die Exoten dazu zu bringen, ihn zu verstehen und zu unterstützen. Es gab keinen Grund, von den Dorsai in dieser Hinsicht mehr zu erwarten. Tatsächlich mußte er angesichts der Unabhängigkeit der Bewohner dieses eher ärmlichen Planeten von einer gegenteiligen Annahme ausgehen. Das, was sich in ihm während der Wartezeit im Garten auf Mara zugetragen hatte, war ihm bis zu diesem Augenblick rätselhaft geblieben. Die Blindheit, die von den Exoten durch ihre Uneinsichtigkeit bewiesen worden war, hatte den

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Glauben an sich selbst erschüttert, der während des Aufenthalts im Gefängnis der Miliz in Hal entstanden war und den er bis dahin für unerschütterlich gehalten hatte.

Es ging nicht nur darum, daß sie ihm nicht zugehört hatten. Sie waren in gewisser Weise nur die letzte Angriffswelle gewesen, die die Mauer seiner inneren Festung durchbrochen hatte. Dieser Durchbruch jedoch war nur deshalb möglich gewesen, weil in der Zeit davor einige andere Attacken seine Verteidigungsstellung bereits geschwächt hatten. Vor noch nicht allzu langer Zeit war er von der Unmöglichkeit der Eroberung dessen überzeugt gewesen, was er verteidigte – und nun mußte er eine Niederlage zumindest in Erwägung ziehen.

Sicher, es fiel ihm nicht schwer, Entschuldigungen und Erklärungen zu finden. Die emotionale Qual angesichts der Notwendigkeit, seine Kameraden im Kommando zu hintergehen und zu verlassen, die Erschöpfung und das Fieber, die Tatsache, daß er seinem Körper mehr abverlangt hatte, als er eigentlich zu leisten vermochte, all das konnte nicht ohne Auswirkungen geblieben sein. Selbst die Argumente Bleys', die von ihm wenigstens zum Teil widerlegt worden waren, hatten seine innere Festigkeit geschwächt und ihn somit auf den letzten Hieb durch die Exoten vorbereitet. Gerade von den Bewoh nern von Mara und Kultis hatte er weitaus mehr Verständnis und Einsicht erwartet als von allen anderen.

Aber es half auch nichts, sich über alle diese Punkte klar zu sein. Es änderte nichts an dem Gefühl der Niederlage. Er hielt mentale Rückschau, betrachtete sein

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Leben und stellte fest, daß er bisher nichts erreicht hatte. Seine früheren Träume waren wie Seifenblasen zerplatzt, nachdem er sie auf den anderen Welten getestet hatte.

Glaubte er denn tatsächlich, für die Anderen mehr zu sein als nur ein vergleichsweise unwichtiger Störfaktor – mehr als nur eine Maus, die vor den Füßen eines Riesen umherlief und jederzeit einfach zertreten werden konnte? Er war nichts: weder Quäker noch Exote noch Dorsai. Und er hatte nicht einmal Grund zu der Annahme, zur Erde zu gehören. Das Schiff, in dem man ihn als Kleinkind gefunden hatte, mochte von einer ganz anderen Welt stammen. Und wer konnte sagen, wohin es unterwegs gewesen war? Und die gegenwärtige Reise nach Foralie? War sie denn mehr als nur der Griff nach einem Rettungsring, der ihn in dem aufgewühlten Ozean seiner Seele über Wasser halten konnte? Es gab nicht den geringsten Beweis dafür, daß er nicht ebenfalls ein Hybride war, ein Anderer, wie Bleys offenbar glaubte. Er besaß weder eine eindeutige Identität noch ein Zuhause oder eine Familie. Überall war er ein Fremder – und die einzigen Personen, die ihm nahegestanden hatten, waren drei alte Männer gewesen, keine eigentlichen Verwandten. Drei Männer, die schließlich umgebracht worden waren, zu einem Zeitpunkt, als Hal ihre Hilfe dringend gebraucht hatte.

Er erinnerte sich an die vier Jahre zurückliegenden Ereignisse, an seinen Wunsch, in der Letzten Enzyklopädie zu verweilen – und auch daran, daß seine Intuition in Hinsicht auf den notwendigen Kampf gegen die Anderen ihn in die Ferne getrieben hatte. Es war ihm gelungen, zu einem Bergmann zu werden – doch um sein

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Leben zu retten, hatte er fliehen und alle neugewonnenen Freunde verlassen müssen. Anschließend, als Angehöriger des Kommandos Rukhs, hatte er neue Freunde gefunden, fast so etwas wie eine Familie – und sich später auch von ihnen getrennt. Die Exoten waren nicht dazu bereit, ihn zu unterstützen, setzten ihn nur als einen Botschafter ein. Und auch hier auf Dorsai wartete kein Heim auf ihn; es gab hier nicht einmal Verwandte Malachis, denen er vom Tode seines Lehrers erzählen konnte. Wäre er dazu in der Lage gewesen, auch nur eine Person zu finden, die seinen tiefen Kummer über das tragi sche Ende seiner Mentoren nachzuvollziehen vermochte, so hätte er es vermutlich wesentlich besser geschafft, mit der seelischen Leere fertig zu werden.

Hal holte tief Luft. Walter der Unterweiser hatte ihn vor langer Zeit gelehrt, wie man einen psychischen Schmerz dieser Art überwand. Und er erinnerte sich nun daran, daß er damals der Meinung gewesen war, er würde nie in eine Lage geraten, die ein Einsetzen der entsprechenden Techniken erforderte. Das Ziel der Instruktionen Walters war es nicht etwa gewesen, gegen Niedergeschlagenheit und Selbstvorwürfe anzukämpfen, sondern sie zu akzeptieren und zu versuchen, sie besser zu verstehen. Wenn man sich über ihre Ursachen klarwurde, so Walter, so vermochte man derart destruktive Emotionen in jeder Situation zu kontrollieren.

Hal konzentrierte sich nun auf dieses Bemühen. Seine Gedanken glitten in eine sonderbare Welt, in der es keine Symbole gab, in der er sich hin und her gerissen fühlte von verschiedenartigen Kräften, die er nicht

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identifizieren konnte – wie jemand, der während eines Orkans von Bord eines Schiffes ins Meer gerissen wird. Es widersprach seinen Instinkten, sich nicht zur Wehr zu setzen, doch Walter hatte immer wieder betont, wie wichtig es war, einfach auszuharren. Still und reglos saß Hal in der Pilotenkanzel des Airbusses, der an der Grenze zwischen Atmosphäre und Weltraum dahinsauste, und er zwang sich zu Passivität und suchte und fühlte nach einem Muster innerhalb der Situation, die ihn so sehr belastete …

»Jetzt geht's runter«, erklang die Stimme des Piloten, und Hal schlug die Augen auf.

Sie befanden sich inzwischen schon wieder in den dichteren Bereichen der Atmosphäre, und sie flogen rasch tiefer und über eine weite Fläche hinweg, bei der es sich offenbar um einen großen Ozean handelte. Kurz darauf wurde in der Nähe des Horizonts ein dunkler Fleck sichtbar, der rasch größer wurde, während der Bus sich ihm in einer langen Anflugspirale näherte: Land. Nach einer Weile schwebten sie über Hügel und Wiesen und nackten Felsen hinweg, und es vergingen nur wenige Minuten, bis sie schließlich auf einem kleinen Landefeld aus Beton niedergingen, am Rand einer Ortschaft, die an einem Fluß lag.

»Da wären wir«, sagte der Pilot. Er beugte sich vor und betätigte eine Taste des Instrumentenpults. Daraufhin schwang die Luke auf, und eine Treppe glitt hervor, bis die unterste Stufe den Boden berühr te. »Gehen Sie einfach die Straße dort drüben hoch. Das Zentrum von

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Foralie-Stadt befindet sich jenseits der Bäume und der Dächer dort.«

»Vielen Dank«, sagte Hal. Er griff nach der Tasche mit den Kreditbriefen, erinnerte sich dann aber daran, daß er den Flug schon im voraus bezahlt hatte. Er stand auf und zog den Rucksack heran. »Gibt es hier ein zentrales Büro oder …«

»Das Rathaus«, sagte der Pilot. »Im Stadtzentrum. Nehmen Sie nur die Straße dort. Sie werden es nicht verfehlen: An der Vorderfront hängt ein entsprechendes Schild. Sollten Sie sich wider Erwarten aber doch verirren, dann fragen Sie einfach jemanden.«

»Nochmals vielen Dank«, erwiderte Hal und verließ den Airbus, der bereits wieder startete, noch bevor er das Ende des kleinen Landefelds erreicht hatte. Er hielt auf die Straße zu, auf die der Pilot ihn hingewiesen hatte.

In dieser Region Dorsais war es später Nachmittag, und es wehte kein Wind. Bei den Bäumen handelte es sich um Variform-Ahorn, und die Färbung der Blätter kündigte den Herbst an. Doch Hal benötigte keine derartigen Hinweise, um zu einer solchen Erkenntnis zu gelangen, denn das klare und helle Licht des Herbstes war auch auf Dorsai charakteristisch. Über ihm wölbte sich ein nahezu wolkenloser Himmel, und die Luft war unbewegt, kühl in den Schattenzonen, warm in der Sonne. Hal schritt über die Straße und befand sich kurz darauf in der Stadt selbst. Im Licht der Sonne schienen die Farben der Häuser zu glänzen, und es hatte fast den Anschein, als seien alle Wände für den kommenden Winter gerade frisch gestrichen worden.

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Es war still und ruhig in der Ortschaft, und die Atmosphäre der Gelassenheit hinterließ einen tiefen Eindruck auf Hal. Er fühlte eine seltsame Vertrautheit mit den Häusern und Straßen – sonderbar in erster Linie deswegen, weil er diese Stadt jetzt zum erstenmal besuchte. Er traf auf keine anderen Passanten, hörte aber dann und wann Stimmen durch die Fenster. Nach einer Weile erreichte er einen Platz in der Stadtmitte, und auf der gegenüberliegenden Seite sah er ein zweistöckiges Gebäude, dessen untere Etage halb in den Boden eingesunken wirkte. Zwei Türen sah er: eine am Ende einer sechsstufigen Treppe, die in den oberen Stock führte, und eine zweite, die den Zugang in das Erdgeschoß darstellte.

Das weiße Gebäude unterschied sich in der architektonischen Struktur von den anderen Häusern, die an den Platz grenzten. Hal trat darauf zu, und als er näher kam, las er auf dem Schild über der unteren Tür das Wort Bibliothek. Daraufhin wählte er die Treppe, blieb vor der zweiten Tür stehen und betätigte den Öffner. Die Tür schwang auf, und er trat ein.

Das Zimmer, in dem er sich nun befand, war etwa zehn Quadratmeter groß und wurde unterteilt von einem von Wand zu Wand reichenden Tresen mit einem Durchgang. Auf der anderen Seite standen drei Schreibtische und einige Bürogeräte. Ein hagerer und etwa zwölfjähriger Junge stand hinter einem der Schreibtische auf und kam auf den Tresen zu, als Hal davor verharrte. Er musterte den Besucher einige Sekunden lang und rief sich dann offenbar selbst zur Ordnung.

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»Es tut mir leid«, sagte er. »Meine Tante, die Bürgermeisterin, hält sich derzeit in den Hügeln außerhalb der Stadt auf. Ich bin Alaef Tormai …«

Er unterbrach sich, und erneut war sein Blick forschend.

»Sie sind kein Dorsai«, stellte er fest. »Nein«, bestätigte Hal. »Mein Name ist Hal Mayne.« »Freut mich«, erwiderte der Junge. »Bitte

entschuldigen Sie. Ich dachte … ich dachte zuerst, Sie stammten von hier.«

»Ist schon in Ordnung«, sagte Hal. Plötzlich rührte sich in ihm so etwas wie bittere Neugier. »Was veranlaßte dich denn zu dieser Vermutung?«

»Ich …« Der Junge zögerte. »Ich weiß nicht. Einerseits wirken Sie wie ein Dorsai. Doch irgend etwas an Ihnen ist anders.«

Er machte einen verlegenen Eindruck. »Ich fürchte, ich bin kein allzu guter Beobachter. Wenn

ich erst ausgebildet worden bin …« »Du brauchst dir deswegen keine Vorwürfe zu

machen«, sagte Hal. »Selbst einige erwachsene Dorsai waren sich nicht ganz sicher, was sie von mir halten sollten. Nun, ich würde gern ebenfalls auf einen der Hügel außerhalb der Stadt steigen und mir von dort aus Foralie ansehen. Aus keinem bestimmten Grund. Es entspricht nur einem alten Wunsch von mir.«

»Es ist niemand da«, sagte Alaef Tormai. »Wie?«

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»Ich meine, alle Graemes befinden sich in Außenwelt. Und soweit ich weiß, wird keiner von ihnen vor Ablauf eines Standardjahrs zurückerwartet.«

»Gibt es denn einen Grund, warum ich nicht auf einen Hügel klettern und mir von dort aus Foralie ansehen kann?«

»Oh, nein«, erwiderte Alaef und fühlte sich offenbar nicht ganz wohl in der Haut. »Aber es ist niemand zu Hause …«

»Ich verstehe.« Hal dachte konzentriert nach, bevor er seine nächste Frage formulierte; er wollte nicht die Gefühle des Jungen verletzen. »Gibt es vielleicht jemanden, der den Graemes nahesteht und mit dem ich sprechen könnte? Jemand, der mir alles zeigt?«

»Oh, natürlich!« Alaef lächelte. »Sie können sich mit Amanda unterhalten. Ich meine: Amanda Morgan. Sie ist die unmittelbare Nachbarin der Graemes. Ihre Heimstatt heißt Fal Morgan. Soll ich Ihnen zeigen, wie Sie dorthin kommen?«

»Das wäre sehr nett«, erwiderte Hal. »Ich glaube, ich werde irgendein Fahrzeug mieten müssen.«

»Ich fürchte, eine solche Gelegenheit bietet sich Ihnen hier nicht«, erwiderte Alaef und runzelte die Stirn. »Aber das macht nichts. Ich kann Sie mit dem Schweber hinbringen. Warten Sie einen Augenblick. Ich sage nur Amanda Bescheid, daß wir kommen.«

Der Junge wandte sich einem der Schreibtischmonitoren zu und tippte mit Hilfe der Tastatur eine Rufnummer ein. Auf dem Schirm leuchtete

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eine in Großbuchstaben gehaltene Mitteilung auf, die Hal lesen konnte:

BIN FORT, UM DIE MUSTANGS ZU HOLEN. »Will sie wilde Pferde einfangen?« fragte Hal. »Eigentlich wild sind sie nicht.« Alaef drehte sich

wieder zu ihm um und wirkte ein weiteres Mal verlegen. »Es handelt sich dabei nur um die Tiere, die sie während des Sommers auf den Hochweiden gelassen hat. Solche Pferde meinen wir, wenn wir hier von Mustangs sprechen. Es ist jetzt an der Zeit, sie für den Winter zurückzuholen und in den Ställen unterzubringen. In Ordnung. Wir können uns auf den Weg machen. Amanda dürfte vor dem Einbruch der Dunkelheit zurück sein. Und vermutlich ist sie schon zu Hause, wenn wir dort eintreffen.«

Der Junge schritt auf den Durchlaß im Tresen zu. »Was ist mit dem Büro?« fragte Hal. »Ach, nichts weiter«, erwiderte Alaef. »Um diese Zeit

wird ohnehin niemand mehr kommen. Aber sicherheitshalber sage ich meiner Tante Bescheid, wenn wir die Stadt verlassen.«

Hal folgte ihm nach draußen, und fünf Minuten später saß Hal auf einem fast schon als antiquiert zu bezeichnenden Schweber, den Alaef über einen der Hänge in die Höhe steuerte, die das Tal von Foralie-Stadt säumten. Der Junge lenkte das Fahrzeug in Richtung des Hochlands.

Die Sonne sank bereits den Berggipfeln entgegen, als sie schließlich eine kleinere Anhöhe erreichten. Voraus sah Hal eine etwas größere freie Fläche, die vorn und

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rechts und links von einem hölzernen Zaun begrenzt wurde. Auf der anderen Seite schloß sich eine Wiese an, die nach einigen Dutzend Metern an den Rand eines bewaldeten Hanges stieß. Die allgegenwärtigen Berge waren wie stumme Wächter. In der Mitte der freien Fläche standen ein großes und zweistöckiges Haus mit Wänden aus grauem Stein, ein Stall und einige Nebengebäude sowie ein Pferch. Letztere Konstruktionen bestanden aus Holz.

»Ich glaube, sie ist doch noch nicht zurück«, sagte Alaef, als er den Schweber in Richtung des großen Hauses gleiten ließ. »Aber sie hat die Küchentür offengelassen. Und das bedeutet, es wird nicht mehr lange dauern, bis sie hier eintrifft.«

Das Summen des Hovermotors des Schwebers erstarb, und das Fahrzeug sank sanft und mit einem leisen Seufzen auf das Gras vor der einen Spaltbreit geöffneten Tür.

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie jetzt allein lasse?« fragte Alaef und musterte Hal ein wenig unsicher. »Ich weiß, es ist nicht sehr höflich, aber ich habe meiner Tante versprochen, rechtzeitig zum Abendessen zurück zu sein. Amanda muß die Mustangs noch vor Sonnenuntergang im Pferch unterbringen; Sie brauchen also nicht mehr allzu lange auf sie warten. Wenn ich noch länger hierbleibe, komme ich ganz sicher zu spät. Gehen Sie ruhig ins Haus und machen Sie es sich gemütlich.«

»Vielen Dank«, erwiderte Hal, erhob sich aus seinem Sitz auf dem offenen Schweber und kletterte von dem

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Fahrzeug herunter. »Ich möchte lieber hier draußen den Sonnenuntergang beobachten. Mach dich nur auf den Rückweg. Ich bin dir sehr dankbar dafür, daß du mich hierher gebracht hast.«

»Ach, das ist nur unsere Art von Nachbarschaftshilfe. Es freut mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Hal Mayne.«

Alaef startete den Motor, wendete den Schweber, winkte und fuhr fort. Hal sah der Plattform nach, bis sie zwischen den Bäumen außer Sicht geriet. Dann drehte er sich um und betrachtete die Sonne.

Ihr unterer Rand berührte jetzt bereits die Berggipfel, und ihr Licht war rubinrot. Einen Augenblick lang erweckte dieser kirschfarbene Glanz die Erinnerung an einen anderen Sonnenuntergang in Hal, an ein rotes Schimmern, das sich auf dem Wasser eines künstlich angelegten Sees spiegelte – auf den Fluten des Sees, der zu dem Anwesen gehörte, auf dem er aufgewachsen war. Er sah sich selbst, wie er in einem Boot vor dem Rand des in die Länge wachsenden Schattens der Berge dahinruderte, während Malachi und Walter auf der Terrasse des Hauses standen …

Hal schauderte leicht. Der Dorsai-Landschaft um ihn herum haftete etwas Visionäres und gleichzeitig Reales an, und diese besondere Qualität seiner Umgebung führte dazu, daß seine Gefühle sich in die mentale Richtung wandten, die seinen alten Wünschen und Sehnsüchten entsprach. Erneut sah sich Hal auf der freien Fläche um, beobachtete die Heimstatt Fal Morgan und die Nebengebäude. Wenn Amanda tatsächlich noch vor dem

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Einbruch der Dunkelheit zurück sein wollte, so mußte sie jeden Moment hier auftauchen.

Nur einige wenige Sekunden später vernahm er in der Ferne ein noch leises Wiehern, und kurz darauf hörte er auch das Pochen von Hufen auf Fels und weichem Boden. Er sah in die entsprechende Richtung: Pferde galoppierten aus dem Wald hervor und auf die freie Fläche zu, und begleitet wurden sie von einem Reiter, der eine blaue Mütze trug, sein Roß antrieb und die Lichtung vor ihnen erreichte.

Es mochten insgesamt rund fünfzehn Mustangs sein, und zwei andere Reiter – sie schienen nicht viel älter zu sein als Alaef – hetzten sie auf die freie Fläche, die das Haus, den Stall und die Nebengebäude umgab. Die dritte Person gelangte inzwischen an den Pferch, öffnete das Gatter und warf Hal einen kurzen Blick zu, als sie an ihm vorbeikam.

Diese Frau, dachte er, mußte Amanda Morgan sein – obgleich sie nicht viel älter wirkte als ihre beiden Helfer. Sie war hochgewachsen und hatte die, wenn auch sehr schlanke, Gestalt einer erwachsenen Frau. Doch angesichts ihrer Lebhaftigkeit und des allgemeinen Eindrucks sprühender Lebenskraft, der für gewöhnlich sehr junge Menschen auszeichnete, fiel es Hal schwer zu glauben, daß sie älter war als sechzehn oder siebzehn Jahre.

Sie schwang das Tor weit auf, und die beiden anderen Reiter hatten bereits damit begonnen, die Pferde in den Pferch zu treiben. Die Rösser galoppierten in einer Entfernung von nur knapp zehn Metern an Hal vorbei.

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Ein grauer Schimmel mit einem weißen Fleck auf der Stirn scheute am Gatter, schnaubte und wandte sich zur Seite. Er hielt auf Hal, das Haus und die Freiheit des Waldes dahinter zu. Hal lief los, winkte mit beiden Armen und rief. Der Schimmel wieherte, senkte den Schädel und wich zur einen Seite aus, nur um festzustellen, daß der dortige Weg von einem der jungen Reiter versperrt wurde, der das Roß schließlich dazu bringen konnte, in den Pferch zu traben.

Als alle Pferde sich im Innern der Umzäunung befanden, verschwand die Sonne ganz hinter den Berggipfeln, und das Gatter wurde wieder geschlossen. Plötzlich senkten sich Schatten über die Lichtung, und Kühle sickerte heran. Amanda wandte sich mit einigen Worten, die Hal nicht verstehen konnte, an die jungen Reiter. Sie winkten, zwangen ihre Pferde herum und ließen sie in die Richtung fortgaloppieren, aus der sie gekommen waren.

Hal sah ihnen fasziniert nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwanden. Dann drehte er sich um. Amanda schwang sich vor ihm aus dem Sattel und stieg ab. Zum erstenmal bot sich ihm nun eine Gelegenheit, sie genauer zu mustern. Sie war ebenso breitschultrig wie schlank, und sie trug eine lohfarbene Reithose, ein dickes und schwarzweiß kariertes Hemd und eine Lederjacke. Auf dem Kopf zeigte sich ein breitkrempiger und blauer Hut, den sie tief in die Stirn gezogen hatte, um nicht von dem Glanz der tiefstehenden Sonne geblendet zu werden. Jetzt jedoch sank Zwielicht von den nahen Berghängen herab.

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Sie nahm die Mütze ab, und Hal sah ihr knapp schulterlanges und weißblondes Haar, das sie im Nacken zusammengebunden hatte. Ihr Gesicht war schmal und gleichmäßig geformt, und es überraschte ihn mit einer besonderen Schönheit.

»Ich bin Amanda Morgan«, sagte sie und lächelte. »Wer sind Sie? Und wann trafen Sie hier ein?«

»Vor einigen Minuten«, beantwortete Hal ihre letzte Frage zuerst. »Ein Junge namens Alaef Tormai brachte mich vom Rathaus von Foralie-Stadt mit einem Schweber hierher. Oh, mein Name ist Hal Mayne.«

»Freut mich«, erwiderte Amanda. »Ich nehme an, Sie möchten mich sprechen.«

»Ja, das ist richtig.« »Gut«, sagte sie. »Bitte gedulden Sie sich noch einige

Minuten. Ich muß Barney hier noch in den Stall bringen. Gehen Sie ruhig schon ins Haus und machen Sie es sich im Wohnzimmer bequem. Ich komme gleich zu Ihnen.«

»Nun … vielen Dank«, erwiderte Hal. Er drehte sich um und betrat das Haus, als Amanda

nach den Zügeln ihres Pferdes griff und es in Richtung des rasch dunkler werdenden Schattens des Stalles führte.

Im Innern des Hauses war es still und wärmer als draußen. Die Beleuchtung des ersten Zimmers, das er betrat, schaltete sich automatisch ein, und Hal sah, daß es sich um eine große Küche handelte. Er schritt in einen kurzen Korridor, der rechts davon abzweigte und an dessen einer Wand ein großes Bild hing, das offenbar die Frau darstellte, die gerade mit den Pferden zurückgekehrt

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war. Nein, verbesserte er sich dann, als er das Gemälde eingehender betrachtete. Die abgebildete Frau war gut dreißig Jahre alt, der Frau draußen andererseits aber so ähnlich, daß es sich um Schwestern, wenn nicht sogar Zwillinge handeln konnte. Kurz darauf gelangte Hal in ein zweites Zimmer, dessen Einrichtung aus großen Polstersesseln, einigen größeren und kleineren Tischen und mehreren Liegen bestand. Alle Möbelstücke bestanden aus festem und solidem Material und nicht etwa aus stabilisierten Ergfeldern.

Links neben der Tür befand sich ein großer Kamin, und auf dem Sims standen einige offenbar in Heimarbeit entstandene Kunstgegenstände. Eins der Objekte mochte von einem Kind hergestellt worden sein und zeigte eine Frau, die ein langes Kleid trug; es bestand aus getrockneten Grashalmen, die von geschickten Händen zusammengebunden und auf dem Rücken einer Pferdedarstellung befestigt worden waren – einem Bildnis, das man aus einem rötlichen Steinmaterial geformt hatte und sich durch eine geradezu atemberaubende Realitätstreue auszeichnete. Hal erinnerte sich an einige alte Schnitzwerke der Eskimos, die er in einem Museum von Denver auf der Erde bewundert hatte: Der jeweilige Künstler hatte die bereits vom Meerwasser vorgeformten Steine in gewisser Weise nur berühren müssen, um ihnen die endgültige Form eines Seehundes oder schlafenden Mannes zu verleihen. Hier stieß er auf die gleiche Art jener kreativen Magie, der es gelungen war, aus der roten Grobkörnigkeit eines Felssplitters eine erstaunlich wirklichkeitsgetreue und detailechte Darstellung eines Falben zu schaffen.

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In vielerlei Hinsicht, so überlegte Hal, als er in einem der bequemen Sessel Platz nahm, befand er sich nun in einer Art von Zimmer, das sich mit seinem alten Heim auf der Erde vergleichen ließ. Dieser emotionale Eindruck gründete sich nicht nur auf den bemerkenswerten Mangel an moderner Technologie. Auch in den Bauernhäusern auf Harmonie, in denen er zusammen mit den anderen Kämpfern des Kommandos Rukhs übernachtet hatte, war das der Fall gewesen. Hier jedoch kam noch etwas anderes hinzu. Eine bewußt herbeigeführte, fast archaische Qualität in den Dingen, die ihn umgaben – so als hätten die Erbauer dieses Hauses das Gebäude mit genau dieser Absicht konstruiert. Auch in Foralie-Stadt hatte sich Hal ein ähnlicher Eindruck dargeboten, und vielleicht war das für ganz Dorsai typisch. In diesem Haus jedoch lief dieser Aspekt in seiner Intensität praktisch auf etwas Erhabenes hinaus, auf ein Kunstwerk von ganz besonderer Art, das man hegen und pflegen mußte und gleichzeitig bewundern und genießen konnte.

Was auch immer der Ursprung dieses Eindrucks sein mochte: Hal fühlte sich davon auf sehr angenehme Weise berührt, so als sei er nach langer Zeit der Abwesenheit endlich wieder nach Hause zurückgekehrt. Das damit einhergehende Gefühl verdrängte einen Teil der Niedergeschlagenheit, die seit dem Aufenthalt in jenem Garten auf Mara nicht aus ihm gewichen war. Er lehnte sich in dem Sessel zurück und ließ seine Gedanken ziellos dahintreiben. Und aus einem inneren Reflex heraus glitten sie zurück in das Labyrinth aus Erinnerungen an seine Kindheit, an die Jahre vor dem

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Auftauchen Bleys' – ausnahmsweise einmal sehr glückliche Erinnerungen.

Er war so in Gedanken versunken, daß er überrascht aufsah, als Amanda das Zimmer betrat. Sie hatte Mütze und Jacke abgelegt, und sie trug ein Tablett mit Tassen, Gläsern, einer Kaffeekanne und einer Karaffe. Dieses Tablett setzte sie auf einem kleinen Tisch ab und nahm dann in dem Sessel Hal gegenüber Platz.

»Kaffee oder Whisky?« fragte sie und sah ihn an. Hal mußte daran denken, wie schwer es ihm

möglicherweise fiel, sich an eine neue Kaffeevariante zu gewöhnen.

»Whisky«, erwiderte er. »Es ist Dorsai-Whisky«, sagte Amanda. »Den kenne ich«, erklärte Hal. »Malachi – einer meiner

Mentoren – hat ihn mich zu Weihnachten einmal probieren lassen, als ich elf Jahre alt war.«

Amanda hob die Augenbrauen. »Sein vollständiger Name lautete Malachi Nasuno«,

fügte Hal hinzu. »Ein Dorsai-Name also«, sagte Amanda und schenkte

ein wenig von der dunklen Flüssigkeit in ein kleines und dickes Glas, das sie Hal reichte. Sie musterte ihn mit einer Intensität, bei der sich einige Nackenmuskeln Hals zusammenzogen. Ihr Blick erinnerte ihn daran, wie der junge Alaef Tormai ihn im Rathaus angestarrt hatte. Dann aber senkte Amanda den Kopf und füllte ihre Tasse mit Kaffee. Das Unbehagen, das in Hal entstanden war, verflüchtigte sich nur langsam.

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»Ich hatte drei Mentoren«, sagte Hal, und es war, als spräche er in erster Linie mit sich selbst. Er probierte den Whisky, und der scharfe Geschmack erweckte weitere Erinnerungen in ihm. »Sie waren nicht nur meine Lehrer, sondern auch so etwas wie Eltern. Ich wuchs als Waise bei ihnen auf. Auf der Erde.«

»Auf der Erde – deshalb konnten Sie also Erfahrungen im Umgang mit Pferden sammeln. Und weil einer Ihrer Lehrer ein Dorsai war.« Amanda sah wieder auf, und ihre Blicke begegneten sich. Hal bemerkte die blaugrüne Färbung ihrer Pupillen, die ihre Augen wie große Edelsteine aussehen ließ. »Ich habe Sie zuerst für einen von uns gehalten.«

»Das ist seit meinem Eintreffen in Omalu schon des öfteren geschehen«, sagte Hal. Er sah die stumme Frage in ihren Zügen. »Ich kam von Mara hierher, und das Kurierschiff, mit dem ich nach Dorsai flog, landete vor einigen Stunden.«

»Ich verstehe.« Sie lehnte sich mit ihrer Kaffeetasse im Sessel zurück, und während das durch die Fenster hereinfallende letzte Licht des Tages verblaßte, schienen ihre Pupillen dunkler zu werden. »Was kann ich für Sie tun, Hal Mayne?«

»Ich möchte gern einmal Foralie sehen«, erwiderte er. »Alaef sagte mir, von den Graemes sei derzeit niemand zu Hause, und er nannte Sie mir als unmittelbare Nachbarin und meinte, Sie könnten mir die Heimstatt der Graemes zeigen.«

»Es ist zwar tatsächlich niemand da, aber ich kann Sie natürlich ins Haus lassen«, erwiderte Amanda. »Doch

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heute abend wollen Sie sich doch gewiß nicht noch auf den Weg machen. Außerdem ist es bei hellem Tageslicht viel interessanter.«

»Also morgen?« »Ja, morgen«, bestätigte sie. »Ich muß zwar noch

etwas erledigen, aber ich bringe Sie hin und hole Sie wieder ab, wenn ich zurückkehre.«

»Das ist sehr nett von Ihnen.« Er trank den restlichen Whisky und spürte, wie die Flüssigkeit in seiner Kehle brannte. Er holte tief Luft und stand auf. »Alaef brachte mich hierher, aber er versprach, sich zum Abendessen bei ihm zu Hause einzufinden. Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen. Kennen Sie vielleicht jemanden, der mich nach Foralie-Stadt bringen könnte?«

Amanda lächelte ihn an. »Warum denn? Haben Sie dort etwas Besonderes vor?« »Nein«, erwiderte er ein wenig unsicher. »Ich brauche

nur eine Unterkunft.« »Setzen Sie sich«, sagte Amanda. »In Omalu gibt es ein

oder zwei Hotels, hier aber nicht. In der Stadt wären Sie darauf angewiesen, bei den Tormais oder einer anderen Familie unterzukommen. Da Sie aber bei mir sind, bin ich gern bereit, Sie als meinen Gast aufzunehmen. Hat Ihnen Malachi Nasuno nicht gesagt, wie so etwas bei uns auf Dorsai üblich ist?«

Er sah sie an. Amanda lächelte noch immer. Und plötzlich stellte Hal fest, daß sich während ihres Gesprächs seine Vorstellung von ihr als ein recht junges Mädchen vollständig gewandelt hatte. Er begann nun

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zum erstenmal die Möglichkeit zu erwägen, daß Amanda vielleicht älter sein mochte als er.

26 Hal saß am Tisch in der großen Küche, und Amanda bereitete das Abendessen vor. Es war ein quadratischer Raum mit recht hoher Decke, vertäfelt mit einem hellen Holz, das im Lauf der Zeit eine honigfarbene Tönung angenommen hatte, die nun das Licht der Lampen widerspiegelte – einen Glanz, der sich intensiviert zu haben schien, während es draußen dunkler geworden war. Das Zimmer wies zwei Türen auf: Die eine führte in den Korridor, durch den man das Wohnzimmer erreichen konnte, die andere ins Eßzimmer, in dem die Beleuchtung noch nicht eingeschaltet worden war und Hal die Konturen einer ziemlich dunklen Vertäfelung, hochlehniger Stühle und eines langen Tisches erkennen konnte. Die Kochgeräte in der Küche, die Kühlaggregate für die Aufbewahrung der Lebensmittel, der Komschirm – das alles war moderne Technologie. Die anderen Einrichtungsgegenstände bildeten mit ihrer Schlichtheit einen auffallenden Kontrast dazu. Amanda bewegte sich sehr routiniert und sicher in der ihr vertrauten Umgebung. Sie hatte es abgelehnt, dass Hal ihr zur Hand ging.

»Ich könnte Ihr Angebot annehmen und Ihnen somit zumindest das Gefühl geben, daß Sie mir helfen«, sagte sie. »Aber das wäre doch eigentlich sinnlos. Es gibt hier

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nichts, das ich nicht schneller und besser zu erledigen in der Lage wäre als Sie. Bleiben Sie also ruhig sitzen. Möchten Sie noch etwas Whisky?«

»Danke«, sagte er. Als er das Glas in der Hand hielt, hatte er wenigstens das Empfinden, einen Grund dafür zu haben, tatenlos am Tisch zu verharren, während Amanda arbeitete.

Trotzdem rechnete er eigentlich damit, daß er sich ein wenig befangen fühlte. Aber die besondere Magie des Hauses, die Gegenwart Amandas – angesichts dieser Faktoren war es, als sei er zu Hause. Während er seine Gastgeberin beobachtete, verspürte er für einen Sekundenbruchteil erneut das Stechen in sich, das sich ihm geradezu schmerzhaft darbietende Bewußtsein seiner Einsamkeit, die ihm in den vergangenen vier Jahren ein ständiger Begleiter gewesen war. Dann jedoch verdrängte er alle Gedanken daran, trank den dunklen und scharfen Whisky und genoß den Frieden dieses Heimes.

»Was möchten Sie lieber: Hammelfleisch oder Fisch?« fragte Amanda. »Was anderes kann ich Ihnen leider nicht anbieten.«

»Mir ist beides recht«, erwiderte er. »Ich esse nicht viel.«

Sonderbarerweise hatte sein Appetit nach dem Aufenthalt im Gefängnis der Miliz tatsächlich nachgelassen – aus welchen Gründen auch immer. Und während des Fluges von Harmonie nach Mara hatte er nur dann gegessen, wenn ihm Mahlzeiten angeboten worden waren. Auf Mara selbst dauerte seine

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Gleichgültigkeit in dieser Hinsicht an. Es war nicht etwa so, daß er keinen Gefallen mehr an einem guten Essen fand, aber der Hunger, den er noch auf Coby dauernd verspürt hatte, war von ihm gewichen. Er dachte nicht mehr ständig daran, sich den Magen zu füllen – es sei denn, er hatte eine ganze Zeitlang nichts mehr zu sich genommen. Und selbst dann aß er nur gerade so viel wie nötig.

Er bemerkte, daß Amanda bei seiner Antwort stehengeblieben war und ihn neugierig ansah.

»Ich verstehe«, sagte sie nach einer Weile. Sie wandte sich wieder dem Schrank zu und holte Geschirr daraus hervor. »Nun, vielleicht sollten wir beides probieren. Und anschließend sagen Sie mir, was Ihnen am besten schmeckt.«

Hal beobachtete sie bei der Arbeit. Er gewann den Eindruck, daß die Kochkunst der Dorsai sich in gewisser Weise mit der der Quäker auf Harmonie vergleichen ließ. Hier wie dort waren die Fleischportionen eher bescheiden, wurden aber begleitet von viel Gemüse. Fisch hingegen stand in einem reichlicheren Maß zur Verfügung. Für alle Speisen, die Amanda zubereitete, schien sie große Sorgfalt zu verwenden, und doch gelangten die entsprechenden Töpfe recht schnell auf den Herd.

»Nun«, sagte Amanda nach einigen Minuten, »erzählen Sie mir doch, warum Sie sich Foralie ansehen möchten.«

Von einem Augenblick zum anderen stieg in Hal erneut die Vision von der Totenfeier hoch. Er gab sich alle

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Mühe, dieses eindringliche Bild an den Rand seines Bewußtseins zu drängen.

»Malachi, der Mentor, den ich vorhin schon einmal erwähnte«, erläuterte er, »hat mir viel davon erzählt – von Donal und den anderen Graemes.«

»Und jetzt haben Sie den Wunsch, sich die Heimstatt der Graemes mit eigenen Augen anzusehen?«

Es war eine mehrdeutige Frage, wie Hal sehr wohl wußte.

»Ich wäre ohnehin nach Dorsai gekommen«, erwiderte er. Kurz regte sich das Verlangen in ihm, ihr gegenüber ganz offen zu sein, ehrlicher, als er es für klug hielt, und er unterdrückte dieses Empfinden. »Doch als ich hier ankam, stellte ich fest, daß ich noch nicht dazu bereit war, mich um meine eigentliche Aufgabe zu kümmern. Deshalb entschied ich mich dazu, einige Tage freizunehmen und zuerst hierher zu fliegen.«

»Und nur aufgrund der Geschichten, die Malachi Nasuno Ihnen erzählte?«

»Solche Geschichten haben eine große Bedeutung, wenn man jung ist«, antwortete er.

Mit einem Schneidbrett nahm sie Hal gegenüber am Tisch Platz und begann damit, Gemüse zu zerteilen, bei dem es sich offenbar um Variformen von Sellerie, Paprika und Zwiebeln handelte. Ab und zu hob sie den Kopf und sah ihn über den Tisch hinweg an. In dem weichen gelben Licht der Lampen, das sich goldfarben auf der Holzvertäfelung widerspiegelte, blitzte es in ihren Augen – als falle heller Sonnenschein auf türkisfarbenes Wasser.

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»Ich weiß«, sagte sie. Eine Zeitlang schwiegen sie, und Amandas Messer

tanzte auf und nieder und zerschnitt das Gemüse. »Was möchten Sie sich in erster Linie ansehen?« fragte

sie nach einer Weile, strich das gehackte Gemüse zu einem Haufen zusammen und stand auf, um das, was sich auf dem Brett befand, in einen der Töpfe auf dem Herd zu geben.

»Nun, ich glaube, vor allen Dingen das Haus.« Er lächelte, als Amanda ihm den Rücken zuwandte. »Ich habe so viel darüber gehört, daß ich fast das Gefühl habe, mich mit geschlossenen Augen darin zurechtzufinden.«

»Vielleicht war Ihr Malachi einer der Offiziere, die die Zwillingsbrüder Donals für viele ihrer Vertragsverpflichtungen in ihre Dienste nahmen«, sagte Amanda wie zu sich selbst. Sie drehte sich wieder zu ihm um. »Ich werde morgen eine meiner Schwestern besuchen. Ich stelle Ihnen ein Pferd zur Verfügung. Ich nehme an, Sie können reiten, oder?«

Hal nickte. »Ich bringe Sie nach Graemeheim, lasse Sie ein,

erledige anschließend den Besuch und komme nachher zu Ihnen zurück. Wenn ich dann wieder bei Ihnen bin, zeige ich Ihnen das Anwesen.«

»Vielen Dank«, sagte Hal. »Das ist sehr nett von Ihnen.«

Plötzlich lächelte sie. »Offenbar sind Sie doch nicht so vertraut mit den

Verhältnissen auf Dorsai. Nachbarschaftliche Harmonie

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– das bedeutet auch, daß man sich nicht dauernd für einen Gefallen bedanken muß.«

Er erwiderte das Lächeln. »Malachi hat mir auch davon erzählt«, entgegnete er.

»Doch seit meiner Landung auf Dorsai hatte noch niemand Gelegenheit, mir alles genau zu erklären.«

»Unser Leben auf dieser Welt«, sagte Amanda und wurde wieder ernst, »bringt gewisse Erfordernisse mit sich, und dazu gehört auch, daß wir großen Wert auf gute nachbarschaftliche Beziehungen legen. Die erste Amanda gründete die Heimstatt Fal Morgan – viele Jahre, bevor Graemeheim gebaut wurde.«

»Die erste Amanda?« wiederholte Hal. »Die erste Amanda Morgan. Sie erschloß dieses

Anwesen und brachte vor rund zweihundertfünfzig Jahren den Namen Morgan hierher. Das Bild im Flur zeigt sie.«

»Ach.« Er musterte sie fasziniert. »Wie viele Amandas hat es denn gegeben?«

»Drei«, lautete die Antwort. »Nur drei?« Amanda lachte. »Die erste Amanda war ziemlich

empfindlich, was ihren Namen betraf; sie wollte unbedingt verhindern, daß jemand so genannt wurde, der nicht dazu fähig war, in ihre Fußstapfen zu treten. Niemand in der Familie nannte ein neugeborenes Mädchen Amanda – bis ich auf die Welt kam.«

»Aber Sie sagten doch eben, es habe drei gegeben. Wenn Sie die zweite sind …«

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»Ich bin die dritte. Die zweite Amanda hieß in Wirklichkeit Elaine. Aber als sie aufwuchs und das Laufen lernte, wurde sie von allen nur noch Amanda genannt, weil sie der ersten so sehr ähnelte. Elaine-Amanda war meine Urgroßtante. Ihr Tod liegt inzwischen vier Jahre zurück. Sie wuchs mit Kensie und Ian auf, den Onkeln Donals.

Und tatsächlich waren beide in sie verliebt.« »Und wer bekam sie?« Amanda schüttelte den Kopf. »Keiner von beiden. Kensie starb auf Santa Maria. Ian

heiratete Leah. Und da Kensie kinderlos den Tod fand und weder Donal noch sein Bruder Mor Nachkommen hatten, waren es die Kinder Ians, die den Fortbestand der Familie Graeme sicherten. Nachdem seine Söhne erwachsen waren und man Leah beerdigt hatte – im Alter von gut sechzig Jahren –, verbrachte Ian den größten Teil seiner Zeit hier in Fal Morgan. Ich erinnere mich noch: Als ich ganz klein war, hielt ich ihn für einen weiteren Morgan. Er starb vor vierzehn Jahren.«

»Vor vierzehn Jahren?« wiederholte Hal. Ganz automatisch rief er sich das ins Gedächtnis zurück, was er über die Chronologie der Familie Graeme wußte. »Er muß ein ziemlich hohes Alter erreicht haben. Wie alt wurde Ihre Urgroßtante?«

»Hundertsechs.« Amanda schob den letzten Topf auf die Herdplatte, schenkte sich dann eine Tasse Tee ein und setzte sich wieder an den Tisch. »Wir Morgans werden ziemlich alt. Meine Urgroßtante war bis zu

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ihrem Todestag die höchste Autorität Dorsais in Hinblick auf Kontrakte.«

»Kontrakte?« fragte Hal. »Verträge mit Außenwelten, die Dorsai als Soldaten in

ihre Dienste nehmen wollen«, erklärte Amanda. »Die Familien – und auch einzelne Angehörige der Familien – haben immer ganz unabhängig voneinander Kontrakte mit Regierungen und Einzelpersonen von Außenwelt abgeschlossen. Doch als sich diese Unterlagen nach und nach zu einem großen Berg ansammelten, wurde es nötig, daß sich jemand um die Dokumente kümmerte und sie prüfte.«

»Ich bin bisher davon ausgegangen, daß sich die entsprechenden Fachleute vor allen Dingen in Omalu aufhalten«, sagte Hal. Er erinnerte sich an den Auftrag, der ihn nach Dorsai geführt hatte. »Wer hat denn nach dem Tod Ihrer Urgroßtante diese Aufgabe übernommen?«

»Ich«, sagte Amanda. Er sah sie groß an. »Oh«, machte er. »Ich kann Ihre Überraschung verstehen«, meinte

Amanda. »Wir Morgans werden nicht nur sehr alt, sondern wirken auch viele Jahre lang sehr jung. Ich bin sicher, daß Sie mein Alter falsch einschätzen. Außerdem hat mich die zweite Amanda schon sehr früh auf diese Arbeit vorbereitet. Ich las bereits die ersten Verträge, als ich vier Jahre alt war – verstand ihren Inhalt allerdings erst einige Jahre später, wie ich zugeben muß. Die zweite Amanda war es auch, die dafür sorgte, daß meine Eltern

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ihre erstgeborene Tochter Amanda nannten. Und sie kümmerte sich praktisch von dem Tage an um mich, an dem ich zur Welt kam. In gewisser Weise habe ich sie in erster Linie als meine Mutter betrachtet.«

»Und wenn sie nicht gewesen wäre, hießen Sie heute nicht Amanda?«

Sie lächelte erneut. »Andernfalls würde es niemand in meiner Familie

riskieren, einem neugeborenen Mädchen diesen Namen zu geben.«

Die in den Herd integrierte Kontrolluhr summte, und Amanda stand auf und sah in die Töpfe.

»Alles fertig«, sagte sie. Hal erhob sich ebenfalls und wandte sich dem langen

Tisch im nach wie vor dunklen Eßzimmer zu. »Nein«, sagte Amanda und sah ihn über die Schulter

hinweg an. »Da wir beide allein sind, können wir auch hier essen. Setzen Sie sich. Ich hole die Teller.«

Zufrieden ließ sich Hal wieder nieder. Der Aufenthalt in der Küche erschien ihm derzeit als angenehmer als der im dunklen Eßzimmer mit dem langen Tisch.

»Ein ziemlich großer Tisch«, sagte er. »Warten Sie, bis Sie den in Graemeheim gesehen

haben«, erwiderte Amanda und trug das Geschirr auf. Anschließend holte sie das Essen, füllte damit ein Tablett und setzte sich ebenfalls. »Da Sie keine dieser Spezialitäten kennen, sollten Sie es mir überlassen, Ihnen die Mahlzeit zusammenzustellen. Essen Sie das, was Ihnen schmeckt, und sagen Sie mir, was Sie davon

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halten. Nun, was die Größe des Tisches drüben angeht: Wenn ein neuer Kontrakt besprochen und eingeschätzt wird, so können sich selbst solche Tische als zu klein erweisen.«

Sie reichte ihm den gefüllten Teller und wählte dann für sich selbst aus den Speisen auf dem Tablett aus.

»Verstehen Sie, was ich meine?« fragte sie. »Erfordert die Prüfung eines Vertrages denn Platz?«

fragte Hal. »Man braucht Platz, um mit den betreffenden Personen

zu verhandeln«, erläuterte Amanda. »Die Zusammenstellung eines bedeutenden Militärkontrakts dauert mitunter eine Woche. Und während dieser Zeit leben die Leute, die ein ureigenes Interesse daran haben, unter diesem Dach. Hier: Versuchen Sie einmal die rote Fischsoße.«

Hal kam der Aufforderung nach. »Angenommen«, fuhr Amanda fort und stützte die

Ellenbogen auf den Tisch, »jemand wie Donal Graeme würde von einer lokalen Regierung Cetas gefragt, ob er eine Streitmacht zusammenstellen könnte, die dazu in der Lage sei, die militärische Kontrolle über ein derzeit umkämpftes Territorium zu erringen – und es abzusichern, während zwischen der Regierung und den an der Auseinandersetzung beteiligten Interessengruppen Verhandlungen geführt werden. In einem solchen Fall würde sich der Betreffende erst einmal hinsetzen und einen allgemeinen Plan darüber erstellen, wie eine derartige Aufgabe zu bewältigen und was dafür notwendig ist: Truppen,

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Transportmöglichkeiten, Unterkünfte, Waffen, Medikamente, Nachschub und so weiter.«

Hal nickte. »Ich verstehe«, sagte er. »Wirklich? Nun, nach der Durchführung dieser

Vorbereitungen und der ersten allgemeinen Einschätzung setzt sich der Betreffende mit anderen Personen auf Dorsai, vielleicht sogar mit ganzen Familien in Verbindung. Mit Leuten, mit denen er in der Vergangenheit schon zusammenarbeitete oder deren Professionalität ihm zusagt. Er fragt sie, ob sie dazu bereit seien, unter seinem Befehl die Verpflichtungen des Vertrages wahrzunehmen, mit dem er sich befaßt. Diejenigen, die damit einverstanden sind, kommen dann nach Foralie, und hier setzen sich alle zusammen, nehmen sich den allgemeinen Plan vor und erarbeiten die Einzelheiten. Auf Dorsai ist jeder Offizier ein Spezialist. Und Morgan zum Beispiel ist eine besondere Erfahrung in Hinsicht auf den Infanterieeinsatz zu eigen. So könnten sich etwa einige von uns insbesondere um den Teil des Planes kümmern, in dem es um die Infanterie im Gelände geht, und sie versuchen festzustellen, welche Rolle ihnen in der Struktur des Gesamtplans zukommt. Anschließend teilen sie den anderen mit, was ihnen unter den gegebenen Umständen möglich ist und was nicht, welche Ausrüstung sie brauchen und welche Kosten damit verbunden sind, um einen Erfolg der Teilmission zu gewährleisten. Unterdessen befassen sich die anderen Spezialisten mit den übrigen Einzelpunkten des Planentwurfs. Auf diese Weise entsteht nach und nach ein klares Bild. Und derjenige, dem der entsprechende Vertrag angeboten wurde, kann schließlich ganz genau

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sagen, was es kostet, um die sich aus dem Kontrakt ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen.«

»Das hört sich sehr kompliziert an«, sagte Hal. Die Mahlzeit – all die verschiedenen Speisen, die er

probiert hatte – schmeckte ausgezeichnet. Und während er Amanda zuhörte, aß er mit – für ihn selbst überraschendem – großem Appetit.

»Es ist sogar noch komplizierter, als ich es Ihnen schilderte«, sagte sie. »Tatsächlich muß der Prozeß, den ich Ihnen gerade zu erklären versuchte, mindestens einmal wiederholt werden. Denn die Daten, die sich nachAbschluß der ersten Überprüfung ergeben, gründen sich auf eine eher als orthodox zu bezeichnende Militärlehre. Es handelt sich dabei also um ein Ergebnis, das jeder verantwortungsbewußte Söldnerkommandeur nur als eine Grundlage betrachten wird. Aber nach der Ermittlung dieses Wettbewerbspreises setzen wir uns erneut zusammen und denken über unorthodoxe Methoden nach, mit denen sich die Kosten weiter senken lassen – oder über Möglichkeiten, das Vertragsziel schneller zu erreichen. Daraus ergibt sich schließlich eine Gesamtsumme, die sowohl jeden Konkurrenten unterbietet als auch einen Profit für unsere Soldaten sichert. In der Regel dauert das alles rund eine Woche, und jeder Spezialist ist während einer solchen Konferenz aufgefordert, über seinen eigenen Schatten zu springen und geradezu Wunder zu bewirken. Und jede neue Idee, die dabei besprochen wird, könnte die anderen Fachleute dazu veranlassen, ihre gesamten Berechnungen über den

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Haufen zu werfen und noch einmal von vorn zu beginnen.«

»Ich verstehe«, sagte Hal. »Und das alles findet drüben am Tisch im Eßzimmer statt?«

»Neunzig Prozent davon«, bestätigte Amanda. »Halb bis zur Decke empor stapeln sich während der Besprechung Karten, Dokumente, Listen, Modelle, Notizen und andere Unterlagen. Manchmal auch Teller – wenn wir eine Pause machen, die lang genug ist, um etwas kochen zu können. Und das ist nur der geschäftliche Teil der Nutzung jenes Tisches. Darüberhinaus versammelt sich an ihm auch die ganze Familie, und bei solchen Gelegenheiten werden oft andere wichtige Entscheidungen getroffen. Nun, aber damit genug von Tischen. Was mögen Sie lieber: den Fisch oder das Hammelfleisch?«

»Es fällt mir schwer, Ihnen darauf eine Antwort zu geben: beides.« Das Essen schmeckte Hal wirklich ausgezeichnet.

»Freut mich«, erwiderte Amanda. »Bedienen Sie sich nur.«

»Danke. Sie sind eine erstaunlich gute Köchin.« »Wenn man in einem Haus aufwächst, in dem man

jeden Tag viele Leute beköstigen muß, bleibt einem gar nichts anderes übrig, als gut kochen zu lernen.«

»Da haben Sie vermutlich recht …« Hal dachte einen Augenblick über seine in dieser Hinsicht eher bescheidene Kindheit nach. »Sie sagten vorhin, die Morgans seien schon vor den Graemes hier ansässig gewesen. Wie kam Ihre Familie überhaupt nach Dorsai?«

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»Die erste Amanda«, erklärte die Frau ihm gegenüber. »Sie ist die Antwort auf die meisten Fragen, die die Familie betreffen. Als die Auswanderung zu anderen Welten gerade erst möglich geworden war, entschloß sie sich, die Erde zu verlassen und hier ein neues Leben zu beginnen. Damals, als viele Leute davon träumten, ganz von vorn zu beginnen und auf einem anderen Planeten eine neue Gesellschaft zu entwickeln.«

»Und warum entschied sie sich ausgerechnet für Dorsai?«

»Das war zuerst gar nicht der Fall. Ihr Mann starb kurz nach der Heirat. Seine Eltern waren sehr einflußreich und vermögend. Und sie setzten alle legalen Hebel in Bewegung und nahmen ihr auf diese Weise ihren kleinen Sohn. Sie entführte ihn und floh von der Erde. Sie emigrierte nach Newton und heiratete dort ein zweitesmal. Als ihr zweiter Ehemann den Tod fand, war Jimmy, der Sohn aus erster Ehe, halberwachsen. Sie begab sich mit ihm zusammen nach Dorsai. Sie gehörte zu den ersten Siedlern, die sich für immer auf diesem Planeten niederließen – die erste überhaupt in dieser Region. Als sie eintraf, war Foralie-Stadt nichts weiter als ein provisorisches Zeltlager für die arbeitslosen Söldner, die in den Hügeln kampierten …«

Hal aß, hörte zu und stellte nur wenige Zwischenfragen. Die Zeit, die Amanda ihm beschrieb, erschien ihm dunkel und düster. Die Mühsal und das harte Leben auf einem unerschlossenen Planeten führten nach und nach zu der Bildung eines Volkes, für das Ehre und Mut ebenso wichtige Werkzeuge für die Gestaltung

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des Lebens waren wie Hammer und Pflug für die Siedler auf anderen Welten – eines Volkes, das sich auf der Grundlage der eigenen und besonderen Geschichte entwickelte. Bis vor rund hundert Jahren plötzlich die Rede von ihm ging, es könne selbst dann nicht besiegt werden, wenn alle anderen Welten ihre militärische Kraft gegen es vereinen würden.

Das war natürlich übertrieben, dachte Hal, während er weiterhin der Stimme Amandas lauschte. Tatsächlich mußte sich eine derartige Übermacht irgendwann durchsetzen. Gegen die vereinte militärische Macht aller bewohnten Welten hatten die Dorsai keine Aussichten, den Sieg zu erringen – oder auch nur längere Zeit auszuharren. Trotzdem beinhaltete diese Bemerkung einen wahren Kern. Wenn man davon ausging, daß die Dorsai bei einer derartigen Konfrontation unterlegen sein mußten, so mochte dennoch die Behauptung zutreffen, daß die anderen Planeten ihren Sieg teuer würden bezahlen müssen. Denn obgleich sich die Dorsai über ihre letztendliche Niederlage klar sein mußten, würden sie dennoch ohne jeden Zweifel den Kampf aufnehmen, selbst gegen einen weit überlegenen Feind.

Allmählich gewann Hal einen Überblick über die Geschichte der Morgans, die in gewisser Weise auch die Geschichte Dorsais war. Die Morgans und Graemes hatten viele Generationen lang Seite an Seite gelebt, waren gemeinsam geboren worden, gemeinsam aufgewachsen und gemeinsam in den Kampf gezogen – mit der speziellen Effektivität, die durch eine solche Nähe ermöglicht wurde. Sie gehörten zwar unterschiedlichen Familien an, andererseits aber

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demselben Volk. Die Schilderungen Amandas ermöglichten es ihm, das Leben der Morgans von Anfang an zu verfolgen, daran geradezu teilzunehmen, und auf diese Weise fühlte er sich ebenfalls wie ein Dorsai, wie jemand, der zu den anderen gehörte, zu Donal, zu dessen beiden Onkeln Kensie und Ian Graeme, zu Eachan Khan Graeme – Donals Vater –, sogar zu Cletus Graeme, dem Vorfahren aller Graemes, jenem Mann, der das vielbändige militärische Werk über Strategie und Taktik geschrieben und dadurch die besondere Leistungsfähigkeit der Dorsai-Soldaten ermöglicht hatte.

»Nun, kann ich Ihnen sonst noch etwas anbieten?« Diese Frage Amandas unterbrach den Gedankengang Hals und brachte ihn in die Wirklichkeit zurück, zeigte ihm einen Ausweg aus dem Irrgarten der Überlegungen und Erinnerungen, in dem er sich fast verirrt hätte.

»Bitte?« erwiderte er und verstand erst dann, daß sie eine weitere Portion meinte. »Nein, danke. Mein Bauch platzt gleich.«

»Das«, sagte Amanda, »kann ich mir vorstellen.« Er blickte sie groß an und sah erst dann das dünne

Lächeln, das ihre Mundwinkel umspielte. Er zwinkerte einige Male und stellte überrascht fest, daß das Tablett und die Töpfe vollkommen leer waren.

»Habe ich das etwa alles gegessen?« fragte er. »In der Tat«, bestätigte Amanda. »Wie wär's mit einem

Kaffee und einem Verdauungstrunk im Wohnzimmer?« »Ich … vielen Dank.« Hal stand auf und sah verlegen

auf die leeren Teller.

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»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken«, sagte Amanda. »Ich räume später ab.«

Sie erhob sich ebenfalls, füllte das Tablett, das sie zuvor ins Wohnzimmer getragen hatte, erneut mit Kaffeekanne, Tassen, Gläsern und der Whisky-Karaffe und trat damit in den Flur.

Das Licht in der Küche erlosch, und automatisch schalteten sich die Lampen im Wohnzimmer ein, als die Sensoren auf die Bewegungen Amandas und Hals reagierten. Die Frau setzte das Tablett auf einem kleinen Tisch vor dem Kamin ab und griff nach dem stabförmigen Entzünder, der an der steinernen Einfassung lehnte. Sie hielt ihn an die schon bereitliegenden Holzscheite. Eine Flamme wuchs aus der Spitze des Entzünders und leckte über die Späne unter den Scheiten, die daraufhin sofort zu brennen begannen. Das Feuer fand reichliche Nahrung und erfaßte rasch auch die dicken Holzstücke. Amanda legte den Entzünder beiseite und richtete sich wieder auf.

Im flackernden Licht des Feuers fiel der Blick Hals auf vier Zeilen, die in die abgeschliffene Platte der Kamineinfassung gemeißelt waren. Er beugte sich vor, um sie zu lesen. Die einzelnen Buchstaben waren so tief in den Stein hineingehauen, daß die Darstellung wie eine besondere Schattenschrift aussah.

»Das Lied des Hauses Fal Morgan«, sagte Amanda und warf ihm über die Schulter hinweg einen Blick zu. »Der erste Vers. Damit wird der ersten Amanda gedacht. Jimmy, ihr Sohn, schrieb den Text des Liedes, als er bereits ein Mann in mittleren Jahren war.«

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»Nur der erste Vers?« fragte Hal. »So ist es«, bestätigte sie. Und ganz plötzlich sang sie die in den Stein

gemeißelten Worte. Ihre Stimme klang dabei für Hal überraschend leise und sanft. Es war eine Stimme, die es liebte zu singen und die über die Melodie einen Eindruck von Kraft erweckte.

»Aus Stein sind meine Wände und aus Balken das Dach, Doch viel stärker sind die Hände des Schöpfers mein. Das Dach mag brennen und meine Steine brechen. Kein Krieg kann verdunkeln ihren Schein.«

Diese gesungenen Worte riefen ein Empfinden in Hal hervor, das in seiner Intensität fast Schmerz gleichkam. Um seine Reaktion Amanda gegenüber zu verbergen, drehte er sich abrupt um, wandte sich dem Tablett auf dem kleinen Tisch zu und nahm sich Zeit, eines der Gläser mit Whisky zu füllen. Anschließend ließ er sich in einem der bequemen Sessel neben dem Kamin nieder. Amanda schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und nahm in einem Sessel auf der anderen Seite Platz.

»War das das ganze Lied?« fragte Hal. »Nein«, erwiderte Amanda. Er bemerkte, daß sie ihn

erneut auf merksam musterte, und er hielt ihren forschenden Blick für ein wenig gewaltsam. »Es gibt noch weitere Verse.«

»Irgendwann möchte ich die ebenfalls einmal hören«, warf Hal rasch ein, weil er befürchtete, Amanda könnte sich dazu entschließen, ihn hier und jetzt mit dem Rest

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des Liedes vertraut zu machen und dadurch ein weiteres Mal das in ihm zu erwecken, was ihn so sehr berührt hatte. »Aber sagen Sie mir doch bitte, wo sich derzeit all die Morgans und Graemes aufhalten. Niemand hält sich in Graemeheim auf, und Sie …«

»Und ich bin hier allein«, beendete Amanda den Satz. »Die Zeiten haben sich geändert. Für uns Dorsai ist das Leben heute alles andere als einfach.«

»Ich weiß«, antwortete Hal. »Die Anderen üben Druck auf die restlichen bewohnten Welten aus, mit dem Ziel, daß niemand mehr Kontrakte mit Ihnen abschließt.«

»Natürlich können sie nicht alle Verträge unmöglich machen«, sage Amanda. »Es gibt nicht genügend von ihnen, um jedes einzelne Kontraktangebot zu verhindern. Doch sie sind dazu in der Lage, uns die lukrativsten vorzuenthalten, die zehn Prozent, die rund sechzig Prozent unseres Einkommens an interstellaren Krediten gewährleisten. Aus diesem Grund haben wir es derzeit so schwer, und die meisten von uns betätigen sich entweder in der Fischerei oder arbeiten woanders hier auf Dorsai – in Wirtschaftszweigen, die unser Überleben auf der Grundlage eigener Ressourcen sicherstellen. Einige jedoch haben diesen Planeten auch verlassen und sind nach Außenwelt emigriert.«

»Sie meinen, es gibt Dorsai, die ihrer Heimat für immer den Rücken kehrten?«

»Einige waren der Ansicht, es bliebe ihnen keine andere Wahl. Für andere hingegen käme so etwas unter keinen Umständen in Frage. Andererseits jedoch war es auf dieser Welt immer Tradition, daß sich jeder

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Erwachsene frei entscheiden kann, ohne deswegen von der Familie oder den Nachbarn verurteilt zu werden.«

»Sicher …«, erwiderte Hal, weil ihm keine bessere Antwort einfiel.

Das gerade Gehörte erschütterte ihn zutiefst. Seit seinem Aufenthalt in der Gefängniszelle auf Harmonie wußte er, daß die große Zeit der Splitterkulturen vorüber war. Aber angesichts der Worte Amandas wurde dieses Verstehen zum erstenmal Realität. Eine Welt Dorsai ohne die Kultur dieses Volkes … das erschien ihm aus irgendeinem Grund unfaßbarer als der gleiche Umstand auf den anderen Planeten. Vor seinem inneren Auge sah er die verschiedenen Heimstätten bereits aufgegeben und verlassen: stille Häuser, die Ebenen, Ozeane und Berge erneut sich selbst überlassen. Mit der ganzen Kraft seines Ichs versuchte Hal, diese Vision zu verdrängen, doch in seinem Unterbewußtsein verharrte sie als eine Gewißheit, als etwas, das dem Ende des Universums gleichkommen mußte. Er begann innerlich zu zittern, als er daran dachte, daß all das, was hier mit harter Arbeit aufgebaut worden war, schließlich dem Untergang anheimfallen mußte.

Er streifte diese Empfindungen, die einen tiefen Schock in ihm erzeugt hatten, von sich ab, und die Stille, der er sich plötzlich bewußt wurde, war wie ein schweres Gewicht, das sich auf ihn senkte. Auf der anderen Seite des kleinen Tisches mit dem Tablett saß Amanda, und nach wie vor beobachtete sie ihn mit jenem sonderbaren Blick.

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Hal bemerkte eine eigentümliche emotionale Wechselwirkung zwischen ihnen beiden, eine gefühlsintensive Interaktion, deren Struktur sowohl ihm als auch der Frau unbekannt war.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« hörte er die ruhige Stimme Amandas.

»Ich würde die Zeit anhalten, wenn ich könnte!« platzte es plötzlich laut aus ihm heraus. »Ich würde den Tod töten. Ich würde alles töten, was tötet!«

»Aber dazu sind Sie nicht in der Lage«, erwiderte Amanda sanft.

»Nein.« Er rief sich zur Ordnung und versuchte, zu seiner normalen Selbstbeherrschung zurückzufinden. Der Whisky, sagte er sich. Aber andererseits hatte er nur sehr wenig getrunken, und Alkohol war nie ein starkes Stimulans für ihn gewesen. Es gab einen anderen Grund für seine heftige Reaktion – einen Auslöser, der ihn dazu veranlaßte weiterzusprechen. »Sie haben recht. Jeder hat die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen. Und daraus wird Geschichte – aus einzelnen Entscheidungen. Sie verändern sich, und mit ihnen das Leben selbst. Wir alle sind nichts weiter als Werkzeuge, die beiseite gelegt werden, wenn man sie nicht mehr braucht. Und wir selbst haben diesen Prozeß beschleunigt. Etwas Neues beginnt sich nun zu formen und unseren Platz einzunehmen. Ich habe versucht, das den Exoten klarzumachen, bevor ich hierher kam. Und ich dachte, gerade sie würden mich anhören und verstehen.«

»Aber Sie wurden enttäuscht?«

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»Ja«, erwiderte er scharf. »Es handelt sich dabei um ein Konzept, das sie nicht zu akzeptieren bereit sind: die Vorstellung, daß die Zeit knapp wird. Dadurch wäre eine Fortsetzung ihrer Forschungsarbeiten unmöglich. Es würde bedeuten, daß sie nie das finden können, nach dem sie immer gesucht haben, seit damals, als sie noch auf der Erde lebten und sich als Stiftungsgilde bezeichneten. Seltsam …«

»Was ist seltsam?« hörte er Amanda fragen, als er sich unterbrach.

Er starrte in den dunklen Whisky in seinem Glas, das er langsam hin und her drehte. Nach einer Weile sah er auf und blickte die Frau an.

»Die Leute, die eigentlich erkennen müßten, was geschieht – die etwas unternehmen könnten –, verschließen die Augen. Während all die anderen, denen die Hände gebunden sind, Bescheid zu wissen scheinen. Oder den Beginn des Untergangs zumindest fühlen, instinktiv erfassen, so wie Tiere ein heranziehendes Gewitter spüren.«

»Und Sie fühlen das ebenfalls?« fragte Amanda. Ihre Augen, die infolge des flackernden Scheins des Kaminfeuers dunkler wirkten als zuvor, musterten ihn noch immer. Er sprach weiter.

»Selbstverständlich«, bestätigte er. »Aber ich bin auch jemand, der bereits direkt davon betroffen wurde. Ich mußte das akzeptieren, was geschieht und noch geschehen wird.«

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»Erklären Sie mir das bitte«, erklang erneut die sanfte Stimme Amandas. »Was geschieht denn? Und was wird noch geschehen?«

Hals Finger schlossen sich fest um das Whiskyglas, und er richtete seinen Blick in die Flammen des Kaminfeuers.

»Es steht die letzte und entscheidende Schlacht bevor«, sagte er. »Nur darum geht es. Nein, ich verbessere mich: Nennen wir es die letzte Auseinandersetzung, denn eine Schlacht in dem Sinn wird es wohl kaum sein. Aber von dem Ausgang dieses Konflikts hängt es ab, ob die Menschheit stirbt oder wächst und reifer wird. Ich weiß, das klingt zu bedeutungsvoll, in gewisser Weise zu pathetisch. Doch das liegt nur an uns selbst: Wir Menschen selbst waren es, die diese Auseinandersetzung im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte mit einer derartigen Wichtigkeit versahen. Und heute sind diejenigen, die aufgrund ihrer Position dazu prädestiniert sind, die Lage zu verstehen, nicht dazu bereit, sich den Konsequenzen zu stellen. Ich selbst mußte ebenfalls erst mit der Nase darauf gestoßen werden. Aber wenn man heute zurückblickt und über das nachdenkt, was sich während der letzten zwanzig bis dreißig Jahre zugetragen hat, so kann man überall eindeutige Hinweise finden. Zum Beispiel das Auftauchen der Anderen …«

Fast gegen seinen Willen setzte er seinen Vortrag fort. Die Worte kamen ihm mit einer Leichtigkeit von den Lippen, die ihn selbst erstaunte, und er berichtete Amanda von dem, was er im Gefängnis der Miliz begriffen hatte.

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Sie blieb die ganze Zeit über ruhig sitzen, stellte nur dann und wann eine Zwischenfrage und wandte nicht ein einziges Mal den Blick von ihm ab. Hal empfand eine tiefe Erleichterung dabei, sich endlich jemandem mitteilen zu können und den enormen Bedeutungsdruck der sich ihm schlagartig dargebotenen Einsichten zu reduzieren. Es war ein Druck, der in der letzten Zeit beständig in ihm zugenommen hatte, während das erste Verstehen von seinem Bewußtsein weiterentwickelt worden war. Zuerst hatte er nur die Absicht gehabt, Amanda die Situation in groben Zügen zu schildern und ihr keine Einzelheiten anzuvertrauen. Aber die Art ihres Zuhörens gab ihm in dieser Hinsicht eine neue Art von Freiheit. Ihre Aufmerksamkeit fesselte ihn geradezu, und seine Stimme erklang immer und immer wieder, so als habe sie sich in ein eigenständiges Wesen verwandelt, das nicht mehr seiner Kontrolle unterlag.

Erneut fragte er sich kurz, ob der Dorsai-Whisky etwas damit zu tun hatte. Aber wiederum hielt er das für wenig wahrscheinlich. Während seines ersten Jahres auf Coby hatte er die Erfahrung gemacht, daß Alkohol nicht die gleiche Wirkung auf ihn hatte wie auf seine Kollegen. Wenn sie so betrunken waren, daß sie still wurden und schließlich einschliefen, war Hal nach wie vor wach und von einer unruhigen Nervosität erfüllt gewesen, die ihn zu langen Wanderungen durch die weiten Felsentunnel des Bergbauplaneten veranlaßt hatte. Es war fast so, als zöge sich ein Teil seines Bewußtseins um so mehr zurück, je mehr der Vergiftungszustand seines Körpers zunahm – bis er den Eindruck hatte, von sich selbst getrennt zu sein, bis er in einen Kokon von Schwermut

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und Isolation gehüllt war, der ihn letztendlich von den anderen Menschen trennte.

Aber bei dem, was er nun empfand, handelte es sich eher um das genaue Gegenteil dieses Gefühls. Und außerdem war der Prozentsatz an Alkohol bei solchen Getränken naturgemäß beschränkt. Wenn er ein gewisses Maß überschritt, schmeckte der Drink nicht mehr und begann am Gaumen und im Hals zu brennen. Der Dorsai Whisky war zwar recht stark, so stark aber nun auch wieder nicht. Und nach dem Maßstab seiner bisherigen Erfahrungen hatte er nicht allzu viel getrunken …

Er erzählte Amanda von James Gotteskind und den Auswirkungen, die der Tod dieses Mannes auf sein Verstehen gehabt hatte.

»Als ich ihm zum erstenmal begegnete«, sagte Hal, »hielt ich ihn zuerst für einen zweiten Obadiah. Ich habe Ihnen doch von meinen beiden anderen Mentoren berichtet, nicht wahr? Als ich ihn dann näher kennenlernte, schätzte ich ihn zunächst nicht sonderlich. Er schien mir nur ein Fanatiker zu sein – jemand, der nicht dazu in der Lage ist, über seinen begrenzten Horizont hinauszublicken, etwas zu empfinden, jemand, der ganz auf die Prinzipien seiner Religion fixiert ist. Aber andererseits war er es, der sich zu Wort meldete, als jemand verlangte, das Kommando solle sich von mir trennen. Und zu jenem Zeitpunkt begann ich zum erstenmal die wahre charakterliche Beschaffenheit dieses Mannes zu erkennen und zu verstehen, daß er mehr war als nur ein Fanatiker – viel mehr als nur das.«

»Sie waren noch sehr jung«, warf Amanda ein.

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»Das stimmt schon«, sagte Hal. »Aber das trifft auf uns alle zu – ganz gleich, wie alt wir sind. Nun, und dann bestand er darauf, allein zurückzubleiben und die Miliz aufzuhalten. Ich konnte nicht bei ihm bleiben. Ich wußte, daß ich eine andere Aufgabe hatte, als mit ihm zusammen in den Tod zu gehen, und er war sich ganz offensichtlich ebenfalls darüber klar. Und plötzlich begriff ich. Plötzlich wußte ich, welchen Unterschied es zwischen Leuten wie ihm und zum Beispiel Barbage gibt, dem Mann, dem ich im Paß das Leben rettete und der im Gefängnis der Miliz meinen Tod herbeiführen wollte …«

Das Licht der Lampen im Wohnzimmer flackerte kurz. »Sperrstunde«, sagte Amanda. »Wir sparen Energie für

diejenigen, die sie am dringendsten brauchen.« Sie stand auf. Der dicke Stoff ihrer Reithose raschelte

und knisterte leise, als sie an den Kamin herantrat. Das Licht der Flammen, das sich auf dem glattpolierten schwarzen Stein der Einfassung widerspiegelte, ließ das weißblonde Haar Amandas dort aufblitzen, wo sie es im Nacken zusammengebunden hatte. Sie entzündete zwei Kerzen, die rechts und links auf dem Sims standen. Sie waren außergewöhnlich dick und schienen mindestens so lang wie ein Unterarm gewesen zu sein. Und die Halter, in denen Amanda sie befestigt hatte, waren sehr groß, so daß die kleinen Flammen, während Hal in dem Sessel saß, oberhalb seiner Blickhöhe flackerten. Die Kerzen selbst schienen aus graugrünen, wächsern aussehenden Knollen gefertigt zu sein, die zu stabförmigen Gebilden zusammengepreßt waren. Als die Frau die Dochte

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entzündet hatte, trübte sich nach und nach der Schein der Wohnzimmerlampen, bis sie schließlich ganz erloschen. Von den Ecken des Raumes her glitten Schatten heran, und kurz darauf befanden sich Hal und Amanda in einem kleinen Bereich, der nur noch vom unsteten Glanz des Kaminfeuers und der beiden Kerzenflammen erhellt wurde. Hal bemerkte einen schwachen Kiefernnadelduft.

Amanda nahm wieder Platz. Sie war ihm zwar recht nahe, doch die dunkle Tönung ihrer Reitkleidung verlor sich im Schatten ihres Sessels, so daß ihr heller Haarschopf mitten in der Luft zu schweben schien.

»Sie sprachen eben von jemandem, dessen Leben Sie in einem Paß retteten«, sagte sie.

»Ja«, erwiderte Hal. »Barbage. Ich wußte damals noch nicht, was die Miliz mit den Kommandokämpfern macht, die in ihre Gewalt geraten – und wie Barbage höchstpersönlich sie behandelte, während er die Rangleiter hochkletterte und zum Captain wurde. Trotzdem: Der Mann zeichnet sich keineswegs durch eine gewisse Durchtriebenheit aus. Er glaubt an sich undseine Überzeugung. Aber er irrt sich. Ich weiß jetzt, aus welchem Grund. Aber er kann nun einmal nicht über seinen eigenen Schatten springen. Und deshalb wird er auch von den anderen Offizieren der Miliz gefürchtet. Einmal schlich ich mich an ihr Lager heran und konnte dort beobachten, auf welche Weise er sich bei einer Konfrontation mit einem anderen Captain der Miliz durchsetzte …«

Er sprach weiter. Die Kerzen brannten herunter, und irgendwann stellte Hal überrascht fest, daß er Amanda

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nicht mehr von den Leuten erzählte, die er kennengelernt hatte, sondern von sich selbst. Amanda brauchte jetzt praktisch keine Fragen mehr zu stellen. Und schließlich berichtete Hal ihr auch, was seine Kindheit für ihn bedeutet hatte.

»Aber was veranlaßte Sie denn gerade dazu«, fragte die Frau ihm gegenüber nach einer Weile, »sich so sehr mit den Graemes zu identifizieren?«

»Nun«, erwiderte Hal, und während er ins Feuer starrte, schienen die Flammen seine Gedanken festhalten zu wollen, »berücksichtigen Sie bitte, daß ich eine Waise bin. Ich war immer … einsam und isoliert. Ich nehme an, aus diesem Grund identifiziere ich mich mit der Isolation Donals. Sie wissen sicher darüber Bescheid: Als er die Akademie besuchte, hielt man ihn für sonderbar, für anders als die anderen Jungen …«

Irgend etwas im Zimmer veränderte sich, und Hal sah abrupt auf.

»Es … es tut mir leid …« Er richtete den Blick auf Amanda, aber sie saß noch immer ruhig in ihrem Sessel. Eine Alarmsirene in Hal schrillte. Er mußte sich dazu zwingen, nicht darauf zu achten. »Haben Sie etwas gesagt?«

»Nein«, antwortete die Frau. Ihr Blick klebte nach wie vor an seinem Gesicht fest. »Nichts.«

Hal versuchte, sich an das zu erinnern, wovon er gerade gesprochen hatte.

»Wissen Sie, tief in seinem Innern war er immer sehr einsam …« Seine Stimme wurde leiser und verklang. Mit der einen Hand strich er sich über die Stirn, spürte

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feuchte Kühle und ließ den Arm wieder sinken. »Was sagte ich gerade?«

»Sie sind vermutlich müde.« Amanda beugte sich in ihrem Sessel vor. »Sie meinten eben, Donal sei einsam gewesen. Aber das stimmt nicht. Er heiratete Anea von Kultis.«

»Ja, aber das war ein Fehler. Wissen Sie, trotz allem hoffte er, er könne ein normales Leben führen. Aber in diesem Punkt irrte er sich. Sein Weg war längst vorausbestimmt … In gewisser Weise wiederholte er einen Fehler, den auch Cletus beging, mit Melissa Khan. Auch wenn dessen Situation ein wenig anders war, weil Cletus nur sein Werk zu Ende schreiben mußte …«

Erneut brach er ab, weil er sich nicht mehr auf seine Gedanken konzentrieren konnte. Er wischte sich ein zweitesmal über die Stirn und fühlte kalten Schweiß.

»Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte er. »Es ist sicher die Müdigkeit. Es war ein langer Tag …«

Plötzlich wurde er sich des ganzen Ausmaßes seiner Erschöpfung bewußt.

»In der Tat«, bestätigte Amanda sanft. »Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«

Sie stand auf, nahm eine der Kerzen und zeigte auf eine Tür links vom Kamin, die auf einen weiteren Flur führte. Hal erhob sich steif und folgte ihr.

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Hal schlief tief und traumlos, und in seiner Intensität kam dieser Schlaf fast einer Bewußtlosigkeit gleich. Einmal erwachte er mitten in der Nacht für einige Sekunden, starrte in die Dunkelheit, spürte, daß er in einem fremden Bett lag, und fragte sich, wo er war. Dann erinnerte er sich, und die Schwärze schloß sich erneut um ihn.

Als er zum zweitenmal erwachte, war das Zimmer hell: Das Sonnenlicht des neuen Tages filterte durch den dünnen weißen Vorhang am Fenster. Nur vage entsann er sich, wie Amanda sich mit der Kerze in der Hand umgedreht hatte und in den Flur zurückgekehrt war. Er erinnerte sich nun auch an ihren Hinweis darauf, es gäbe zwei verschiedene Vorhänge, einen dünnen und einen dicken. Ganz offensichtlich hatte er vergessen, letzteren zuzuziehen.

Aber das spielte keine Rolle. Hal richtete sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Ein neuer Tag war angebrochen, und er fühlte sich gut – abgesehen von einer gewissen Benommenheit, einem mentalen Dunst, der die Konturen seiner Umgebung leicht zu verwischen schien. Das Zimmer wies keine Waschgelegenheit auf. Wenn er sich nicht irrte, hatte Amanda am Vorabend ihm auch etwas von einer Toilette gesagt. Hal zog sich die Hose an, trat in den Flur und fand kurz darauf das Bad.

Fünfzehn Minuten später hatte er sich gewaschen, rasiert und angekleidet, und er begab sich in die Küche des Hauses Fal Morgan. Amanda war bereits anwesend, saß an dem runden Tisch und sprach via Komschirm mit ihrer Schwester. Hal zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und wartete das Ende der Unterhaltung ab. Die

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Schwester Amandas, deren Abbild sich auf dem Wandschirm abzeichnete, hatte gelblicheres Haar als die Gastgeberin Hals, und ihr Gesicht wirkte rundlicher. Die Verwandtschaft der beiden Frauen war jedoch offensichtlich. Sie war ebenfalls eine auffallende Schönheit, aber sie konnte sich andererseits nicht mit der Lebenskraft, mit der charakterlichen Intensität Amandas messen. Vielleicht aber, so überlegte Hal, ließen sich solche persönliche Aspekte bei einer Komverbindung nur sehr schwer identifizieren.

Sein Instinkt jedoch lehnte die letztere Erklärung ab. Die Intensität Amandas stellte eine einzigartige Qualität dar, etwas, das er bisher bei keinem anderen Menschen entdeckt hatte. Es war daher unwahrscheinlich, daß sich diese Eigenschaft auf die ganze Familie erstreckte.

Amanda erklärte ihrer Schwester, sie müsse zuerst Hal nach Graemeheim bringen, bevor sie bei ihr eintreffe. Sie beendete nun das Gespräch, unterbrach die Verbindung und sah ihn an.

»Ich wollte Sie gerade wecken«, sagte sie. »Wir sollten uns sofort auf den Weg machen, nachdem Sie etwas gegessen haben. Was halten Sie von einem guten Frühstück?«

Hal lächelte. »Eine ganze Menge, wenn es so köstlich ist wie das gestrige Abendessen«, antwortete er. Sein Appetit war wieder normal.

»Gut«, sagte Amanda und stand auf. »Bleiben Sie ruhig sitzen. Sie bekommen sofort etwas.«

Nach dem Frühstück holten sie zwei Pferde aus der Koppel, stiegen auf und ritten los. Die Sonne Fomalhaut

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war ein heller Fleck über dem östlichen Horizont, und in ihrem Schein wirkten die Schneeflächen an den hohen Hängen der Berge wie glitzernde Spiegel. Es war ein kühler, klarer und stiller Morgen, und am Himmel zeigten sich nur einige wenige Wolken. Die Pferde zerrten an den Zügeln und scheuten immer wieder – bis die beiden Reiter sie schließlich freigaben und am Rand des Plateaus entlanggaloppieren ließen, auf dem Fal Morgan errichtet worden war. Nach einer Weile jedoch zwang Amanda ihren Schimmel dazu, nicht mehr ganz so schnell zu laufen, und Hal folgte ihrem Beispiel.

Kurz darauf erreichten sie einen steilen Hang, an dem VariformKoniferen und heimische Büsche und Sträucher wuchsen. Der Boden zwischen den Gewächsen war steinig und nur an wenigen Stellen mit einigen Moosen und Flechten bedeckt. Rund zehn Minuten lang ritten sie durch den Wald und überquerten gelegentliche Hanglichtungen, bis sie schließlich offenes Hügelland erreichten. Das Gras hier hatte die braungelbe Tönung des späten Herbstes. Oberhalb dieser Hügel und etwas abseits davon, so daß Hal es erst sehen konnte, als sie die Kuppe einer Anhöhe erreichten, stand das Heim der Graemes, erbaut auf einem langen und schmalen Sims.

Das Haus bestand aus dunklem Holz und war zwei Stockwerke hoch. Doch es wirkte niedriger aufgrund der Länge, die, zusammen mit den Nebengebäuden, fast den ganzen Sims beanspruchte. Knapp ein Dutzend Meter dahinter erstreckte sich jäh ein steiler Hang in die Höhe, um sich mit den Felsen des Berges weiter oben zu vereinen. Hal und Amanda ritten auf den Sims und näherten sich der Heimstatt der Graemes von der einen

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Seite her. Die Morgensonne leuchtete vor ihnen am Himmel, und die Stirnseite des langen Hauses war nach Süden gewandt, in die Richtung des Tieflands, aus dem sie gerade gekommen waren.

»Dieses Heim ist nicht so geschützt wie Fal Morgan«, sagte Hal fast geistesabwesend und betrachtete das Gebäude. Amanda warf ihm einen kurzen Blick zu.

»Es hat andere Vorteile«, erwiderte sie. »Sehen Sie dort …«

Sie zog an den Zügeln und zwang ihren Schimmel nach rechts, auf den Rand des Vorsprungs zu. Hal folgte ihr und blickte in die Tiefe. Von der Kante des Simses konnte man auf den Fluß im Tal und Foraliestadt sehen.

»Mit einem Ortungssensor auf dem Dach des Hauses«, sagte Amanda, »kann man die Hälfte der gesamten Region überwachen. Und der steile Hang hinter dem Gebäude hält sowohl den Wind ab als auch den größten Teil des Schnees fern, unter dem eine Heimstatt in dieser Höhe während des Winters normalerweise regelrecht begraben würde. Cletus Graeme wußte sehr wohl, warum er das Haus gerade hier erbaute. Und schließlich sah er sich selbst in erster Linie als einen Gelehrten und nicht so sehr als Soldat.«

Sie wandte sich vom Rand des Vorsprungs ab und führte ihr Pferd auf das Hauptgebäude zu. Hal folgte ihr, und vor dem Eingang stieg er ab und ließ die Zügel los. Die Pferde senkten den Kopf und fraßen das Gras des Rasens.

Amanda trat auf die Tür zu und preßte den Daumen auf den Schloßsensor. Die große und schwere und dunkle

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Tür schwang auf. Sie gelangten in einen großen Flur, an dessen Wänden einige Haken befestigt waren, an denen hier und dort sogar noch Jacken und Pullover hingen. Voraus befand sich ein Durchgang, der in eine Art Aufenthaltsraum führte – oder Wohnzimmer, wie Amanda die entsprechende Räumlichkeit Fal Morgans nannte.

Es war ruhig und still in dem Haus, und es schien ohne Leben zu sein. Amanda wandte sich an Hal.

»Ich lasse Sie jetzt allein«, sagte sie. »Ich bin um die Mittagszeit zurück. Sollte ich mich aber aus irgendeinem Grund verspäten und Ihnen der Sinn nach einer Mahlzeit stehen: Küche und Speisekammern befinden sich im Westflügel des Hauses, links von uns. Bedienen Sie sich ruhig – bei uns ist das so üblich. Ich glaube, ich muß Sie nicht extra darum bitten, anschließend wieder Ordnung zu schaffen.«

»Nein«, sagte Hal. »Aber sehr wahrscheinlich warte ich, um mit Ihnen zusammen zu essen.«

»Sie brauchen sich von Ihrer Höflichkeit keine Beschränkungen auferlegen zu lassen«, erwiderte Amanda. »Die Lebensmittel und Getränke sind für diejenigen gedacht, die sich in diesem Haus befinden. Darüberhinaus sind die meisten Zimmer mit Komgeräten ausgerüstet. Der Ehename meiner Schwester lautet Debigne. Wenn Sie mit mir sprechen wollen: Sehen Sie einfach im Nummernverzeichnis nach und rufen Sie mich an.«

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»Nochmals vielen Dank«, sagte Hal. Er empfand eine gewisse Verlegenheit. »Es freut mich, daß Sie Vertrauen genug zu mir haben, mich hier allein zurückzulassen.«

Und ein weiteres Mal musterte ihn Amanda mit jenem sonderbaren Blick. Wieder hatte Hal das Gefühl einer sehr eigentümlichen emotionalen Interaktion zwischen ihnen beiden.

»Ich glaube, Sie werden es nicht mißbrauchen«, sagte sie und drehte sich zur Tür um. »Ich bin in einigen Stunden zurück.«

»Gut«, meinte Hal. Amanda ging hinaus. Und damit war Hal allein in der leblosen Stille des

unbewohnten Hauses. Er zögerte einige Sekunden lang und suchte dann das Wohnzimmer auf.

Es war ein großer, mit dunklem Holz vertäfelter Raum, ein ganzes Stück größer als das Äquivalent in der Heimstatt Fal Morgan. Aufgrund der architektonischen Struktur des Hauses war er rechteckig und nicht quadratisch, und er mochte mehr als dreißig Personen Platz bieten. Falls nötig, konnten sich hier bestimmt auch fünfzig versammeln. Die nördliche Wand bestand aus einer großen Fensterfläche, und die schweren Vorhänge waren nun zurückgezogen, um das helle Tageslicht einzulassen. Hals Blick fiel auf den steilen Hang hinter dem Haus. Es gab sicher Sensoren, so überlegte er, die jeden Morgen die Vorhänge einholten – Sensoren, die Teil einer Automa tik waren, die sich während der Abwesenheit der Bewohner dieser Heimstatt um die rein physischen Erfordernisse des Hauses kümmerten.

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In der östlichen und rechts von ihm gelegenen Wand befand sich eine Tür, die in einen langen Korridor führte. Daneben zeigte sich nur ein Objekt auf der dunklen Holzvertäfelung: das lebensgroße Bild eines stehenden Mannes, der eine alte Militäruniform trug, die nur auf der Erde eine Bedeutung gehabt haben konnte, vor zweihundert oder noch mehr Standardjahren. Der Mann hielt sich sehr gerade und war hochgewachsen und schlank und in mittleren Jahren. Er hatte einen grauen Schnurrbart, der so gepflegt war, daß er in Spitzen zulief, und das schloß die Möglichkeit aus, es mit einem Bildnis Cletus Graemes zu tun zu haben. Natürlich, dachte Hal. Es war das Bild Eachan Khans, des Vaters Melissa Khans, die zur Frau Cletus' geworden war. Und wenn er sich richtig entsann, hatte Cletus selbst das Bild geschaffen. Die archaisch wirkende Uniform mußte die sein, die Eachan Khan als Offizier in den afghanischen Streitkräften auf der Erde getragen hatte, damals, bevor er mit Melissa nach Außenwelt emigriert war.

An der südlichen Wand vor Hal zeigten sich nur das dunkle Holz und die Tür, durch die man in den Eingangsflur des Hauses gelangen konnte. Die westliche Wand hingegen wies gleich zwei Türen auf. Die ihm nächste stellte den Zugang zu einer Treppe dar, die in das obere Stockwerk führte, und dahinter erstreckte sich ein weiterer Flur, durch den man in die von Amanda erwähnte Küche gelangen mochte. Durch den zweiten Eingang hingegen, der an die nördliche Fensterfront grenzte, konnte man das Eßzimmer betreten. Von seiner gegenwärtigen Position aus erkannte Hal auch eine Ecke

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des großen Tisches, von dem Amanda noch in Fal Morgan gesprochen hatte.

Der von diesen beiden Türen begrenzte Wandbereich wurde fast vollständig von einem großen Kamin beansprucht, der aus grauschwarzem Granit bestand und eine weitflächige und ebenso massive Einfassung aufwies. An der Stelle, an der in den Kamin Amandas der erste Vers des Liedes eingemeißelt war, zeigte sich hier die steinerne Darstellung eines Wappens mit drei Muscheldarstellungen. Über der Einfassung hing ein Schwert in einer aus silbrig glänzendem Metall bestehenden Scheide, das ebenso antik wirkte wie die Uniform, die Eachan Khan auf dem Bild trug, und sicher zu dem ehemaligen Besitz des Vaters Melissas gehörte.

Hal nahm in einem der üppig gepolsteren Sessel Platz. Die in dem Haus herrschende Stille bedrückte ihn. Er war hierher gekommen, so überlegte er, weil er sich noch nicht dazu bereit gefühlt hatte, mit den Repräsentanten Dorsais zu sprechen. Es ging nicht in erster Linie darum, daß er noch zögerte, die Botschaft der Exoten zu überbringen; statt dessen empfand er noch ein gewisses Unbehagen angesichts der Vorstellung, seine eigenen Worte an die Dorsai zu richten, seine Mitteilung an sie so zu formulieren, daß sie ihm zuhörten und verstanden.

Er wußte nicht, ob die Ursache dafür der Mangel an Zuversicht infolge seines Versagens auf Mara war. Als er sich mit Nonne, Padma und den anderen getroffen hatte, war er sicher gewesen, daß sie ihn verstehen würden. Was die Dorsai anging, hatte er in dieser Hinsicht immer Zweifel gehabt. Foralie war wie ein gewaltiger Magnet

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gewesen und hatte ihn von seinem eigentlichen Ziel fortgelockt – als sei er eine Kompaßnadel, der nichts anderes übrigblieb, als auf den magnetischen Norden zu zeigen. Er erinnerte sich an das Abbild dieses Planeten, das er auf dem Bildschirm in der Kabine an Bord des Kurierschiffs beobachtet hatte: Das Muster aus weißen Wolken und blauen Meeren war der Auslöser für die Entscheidung gewesen, zunächst diesen Ort aufzusuchen.

Während Hal nun im Wohnzimmer saß, gewann er fast den Eindruck, als flüstere ihm das Haus etwas zu. Es gab hier irgend etwas, das ihn auf eine fast gespenstische Art und Weise fesselte. Er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufrichteten und es ihm kalt über Schultern und Rücken lief. Die schweigende Präsenz des Hauses zog an etwas, das tief in ihm verankert war. Eine stumme Stimme rief ihn an, und als Reaktion darauf erhob er sich langsam aus dem Sessel und wandte sich dem Korridor zu, der in Richtung Küche führte.

Er betrat den Flur. Er brauchte fünfzehn Schritte, um ihn zu durchqueren, und er begriff plötzlich, daß er das schon vorher gewußt hatte. Der Korridor war rund zwölf Meter lang, und in den Wänden zeigten sich keine Türen. Die Küche, in die er schließlich gelangte, sah aus wie die Amandas, wenn sie auch etwas größer sein mochte. Wie in Fal Morgan führte eine Tür ins Eßzimmer, und von hier aus konnte Hal das andere Ende des Raumes sehen.

Der Flur, den er gerade durchschritten hatte, verlief parallel zu der Länge des Eßzimmers.

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Auch die Küche war mit einer dunklen Holzvertäfelung ausgestat tet, und der Tisch war nicht rund, sondern achteckig. Darüberhinaus war er größer als der, an dem er an diesem Morgen gefrühstückt hatte. Ansonsten aber wirkte dieser Raum wie ein Gegenstück des Zimmers, in dem Amanda kochte.

Hal blieb einige Sekunden lang stehen. Alles war in perfekter Ordnung, und das in dieser Höhe recht grelle Sonnenlicht fiel durch die Fenster links von ihm; das dunkle Holz schien den Glanz irgendwie zu absorbieren. Hal hörte nicht das geringste Geräusch. Doch seine Phantasie gaukelte ihm vor, er vernähme das Murmeln von Stimmen aus der Vergangenheit – Stimmen, die von dem Holz wie Erinnerungen aufgesaugt worden waren und nun unmittelbar unterhalb der Hörschwelle Hals raunten und wisperten. Dieser Eindruck vermittelte ihm ein Gefühl derjenigen Personen, die längst tot waren – Menschen, die in diesem Gebäude gelebt, gelacht und getrauert hatten.

Reglos stand er in der Tür und spürte, wie die Zeit verstrich, wie die Minuten zu stummen Wächtern wurden, die an ihre Posten zurückkehrten. Es kostete Hal nicht unerhebliche Mühe, sich wieder in Bewegung zu setzen und sich der Tür zu nähern, die in die nördliche Wand der Küche eingelassen war. Sie öffnete sich, als er sie berührte, und er trat in den hellen und kühlen Morgen und sah sich auf dem Hinterhof Graemesheims um. Links von ihm erhoben sich die Nebengebäude des Anwesens, auf die von der anderen Seite her durch das größere Haus der Blick verwehrt blieb: der Stall, die Lager, der Schuppen und ihm am nächsten die

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Konstruktion, die, wie Hal wußte, auf Dorsai allgemein als »Unterstand« bezeichnet wurde.

Er legte die kurze Distanz mit einigen langen Schritten zurück. Der Unterstand war unverschlossen, und er trat ein. Es handelte sich um ein Gebäude, das ebenso breit wie Graemeheim und fast genauso lang war, im Innern aber keine Aufteilung in einzelne Räume aufwies. Die Decke spannte sich in einer Höhe von zwei Stockwerken über dem Kopf Hals. In die Wände waren keine Fenster eingelassen, aber das Sonnenlicht filterte durch Luken im Dach. An diesem Ort, so wußte Hal, fanden während des Winters Übungen statt, und er glaubte sich auch daran zu erinnern, daß man das Haus beheizen konnte – wobei die Temperatur allerdings nur gerade über den Gefrierpunkt stieg.

Noch war es nicht nötig, die Öfen zu befeuern. Das durch die Dachluken hereinfallende Sonnenlicht ließ die Temperatur im In nern des Unterstands auf sommerliche Werte ansteigen. Und erneut fühlte sich Hal heimgesucht von Stimmenphantomen. Bestimmt hatte sich Donal Graeme schon als kleines Kind in dieses Gebäude begeben, um den erwachsenen Familienmitgliedern zu folgen. Vielleicht war er im Winter durch die Kälte gelaufen, vorbei an den zwischen dem Haupthaus und dem Unterstand errichteten Schilden, die eine Art wettergeschützten Tunnel formten. Und der Unterstand mußte für ihn als kleines Kind gewaltig und riesenhaft ausgesehen haben. Möglicherweise hatte er an den hier stattfindenden Aktivitäten der Männer ein gleichzeitig fasziniertes und frustriertes Interesse gefunden und die Übungen beobachtet, bei denen es um Probleme des

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Gleichgewichts, der Körperkraft und Schnelligkeit ging– Übungen, die er mit seinem jungen und noch empfindlichen Leib nicht nachvollziehen konnte.

Aber sicher hatte er trotzdem versucht, die Großen nachzuahmen. Bestimmt hatte er sich alle Mühe gegeben, ebenso schnell zu sein wie die erwachsenen Graemes, so zu laufen wie sie, auf die Art und Weise mit stumpfen Waffen zu kämpfen wie seine Vorbilder. Und möglicherweise hatte er sie dazu aufgefordert, ihn in ihre Runde aufzunehmen, ihn mit ihnen zusammen üben und trainieren zu lassen. Als Donal fünf Jahre alt gewesen war, mußten seine Bewegungen bereits denen der Männer zumindest geähnelt haben, wenn sie sich auch nach wie vor durch eine gewisse Unbeholfenheit auszeichneten.

Und als Donal selbst erwachsen geworden war, hatte er sicher des öfteren an jene Zeiten zurückgedacht, an seine kindlich-instinktive Verbundenheit mit der Familie … Abrupt drehte sich Hal um, wanderte durch den Unterstand und verließ ihn durch eine andere Tür.

Draußen zögerte er kurz und besichtigte dann auch die anderen Nebengebäude, die ebenfalls nicht verschlossen waren. In ihrem Innern war alles aufgeräumt und ordentlich, und einige der Lager erwiesen sich noch als gut ausgestattet mit den Dingen, für deren Aufbewahrung man sie erbaut hatte. Zwar empfand Hal auch hier ein mentales Echo der Menschen, die auf diesem Anwesen aufgewachsen waren, aber es stellte sich als nicht so stark heraus wie das im Unterstand und im Haupthaus. Er wollte schon zurückkehren, als er das

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letzte Nebengebäude sah: einen Stall, hinter dem einige Weiden wuchsen, von denen nur die Wipfel zu sehen waren. Daraufhin schritt Hal weiter und trat durch die Tür ins kühle Halbdunkel. Und der Eindruck, der sich ihm zuvor dargeboten hatte, intensivierte sich schlagartig.

Erneut glaubte er zu spüren, wie sich ein schweres Gewicht auf ihn legte, und seine Nackenhaare richteten sich auf. Die Boxen zu beiden Seiten im Innern des Stalles waren leer. Er betrachtete die Heuballen, die sich an der gegenüberliegenden Wand stapelten – und plötzlich begriff er, was ihn dazu veranlaßt hatte, diesen Ort aufzusuchen.

Für einige lange Sekunden stand er wie erstarrt und atmete die trockene und staubige Luft des Stalles. Dann drehte er sich um und verließ das Gebäude. Er wandte sich nach rechts, wanderte an der langen Außenwand des Stalles entlang und sah unter den sich nach unten neigenden Zweigen der Weiden den weißgestrichenen Pfahlzaun, der den Bereich abgrenzte, in dem diejenigen, die in Graemeheim gelebt hatten und gestorben waren, begraben lagen.

Erneut blieb Hal kurz stehen und betrachtete den kleinen Friedhof nur. Und dann trat er darauf zu.

Der Zaun wies ein schmales Tor auf. Er öffnete es, schritt hindurch und schloß es leise hinter sich. Jede Ruhestätte wies einen aufrechtstehenden Grabstein aus grauem Granit auf, der Farbe der Bergfelsen, deren Grate um ihn herum in die Höhe ragten. Das Gras auf und zwischen den Gräbern war sorgfältig gemäht. Es gab

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kleine Wege, und die Grabsteine waren alle nach links ausgerichtet, insgesamt sechs nebeneinander. Er wandte sich nach rechts und lenkte seine Schritte in Richtung des Teils des Friedhofs, in dem sich die älteren Gräber befanden.

Dort verharrte er und las die in die Gedenksteine gemeißelten Namen. Eachan Murad Khan … Melissa Gray Khan Graeme … Cletus James Graeme … Langsam trat Hal an den Reihen entlang. Kamal Simon Graeme … Anna Graeme. Rechts befanden sich die Gräber von Mary Kenwick Graeme und Eachan Khan Graeme. Ihre Gebeine ruhten unter einer gemeinsamen Grabplatte, und zwischen den beiden Gedenksteinen gab es keine Lücke.

Hal ging weiter und sah sich um. Wieder rechts las er die Namen Ian Ten Graeme … Leah Sary Graeme und Kensie Alan Graeme. Das Grab Kensies war von Hal am weitesten entfernt und befand sich direkt neben dem Zaun, den Weiden so nahe, daß ihre herabhängenden Zweige die Granitplatte berührten – wie zärtliche Finger, die sich in der leichten Brise, die Hal auf Wangen und Stirn spürte, sanft bewegten. Unterhalb der Ruhestätten Ians, Leahs und Kensies ragten drei weitere Grabsteine in die Höhe. Hal trat wie zögernd auf sie zu.

Und er las den Namen Donal Evan Graeme. Daneben befand sich das Grab Mor Kamal Graemes, und Hal so nahe, daß seine Stiefelspitzen fast die Platte berührten, ruhte jemand namens James Williams Graeme …

Er konnte keine Tränen vergießen. In der Zelle, geschwächt vom Fieber, der Erschöpfung und dem

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unmittelbaren Überlebenskampf, hatte er geweint. Hier aber, fast ein Jahrhundert später und erwachsen, war er dazu nicht imstande. Er hatte nur das Gefühl, als schnüre ihm etwas den Hals zusammen, und tief in seinem Innern breitete sich Kälte aus – nicht jene Art von Eishauch, der ihn zuvor hatte schaudern lassen, sondern eine andere Art von Kälte, eine, die an seiner Seele haftete und bald den ganzen Leib erfaßte. Vor seinem inneren Auge sah er, wie er von seinem Onkel in die Arme geschlossen wurde, und er vernahm die Stimme Kensies, der ihn zurückrief, zurück …

Und er kehrte zurück. Die Kälte verflüchtigte sich, und Hal wandte sich von den Gräbern ab. Er verließ den Friedhof durch das kleine Tor im Zaun und machte sich wieder auf den Weg zum Haupthaus.

Er betrat die Küche und blickte auf sein Chronometer. Die Zeit war nicht stehengeblieben. Nach der schimmernden Anzeige blieb ihm nur noch eine Stunde bis Mittag – bis zur Rückkehr Amandas.

Er schritt in den Flur und begab sich erneut ins Wohnzimmer. Jetzt, da er sich zum zweitenmal im Haus befand, fühlte er eine Veränderung in der Art seiner Reaktion darauf. Es stellte keinen Ort mehr dar, an dem er ein Fremder war; und jeder einzelne Aspekt dieses Heimes schien die Eigenschaft zu besitzen, neue Emotionen in ihm entstehen zu lassen. Die Atmosphäre hatte jetzt etwas Vertrautes für Hal, und als er das Wohnzimmer betrat, war es, als habe er sich schon viele Male dort aufgehalten.

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Er sah sich auch die übrigen Räumlichkeiten des Hauses an. Die Treppe führte zu den im oberen Stockwerk gelegenen Schlafzimmern, doch das entsprechende Zimmer, zu dem er sich nun hingezogen fühlte, befand sich im Erdgeschoß. Er schritt durch den Flur, der sich auf der anderen Seite des Korridors erstreckte, durch den man in die Küche gelangen konnte. Der Gang stellte eine Verbindung mit den Räumen im Ostflügel des Hauses dar, und nach einigen Metern wies er eine Wendung um fünfundvierzig Grad nach links auf. Nach einigen weiteren Metern schloß sich ein zweiter Knick an, so daß die letzten Bereiche des Flures wieder eine Linie mit den ersten bildeten. Hal kam zu dem Schluß, daß der Korridor sich etwa in der Mitte des Gebäudes befand.

In der einen linken Wand befand sich der Zugang in einen Raum, der an das Wohnzimmer grenzte, das Hal gerade verlassen hatte. Er öffnete die Tür und betrat eine Bibliothek, die fast ebenso groß war wie das Zimmer mit dem Kamin. In der einen Ecke nahe den Fenstern stand ein wuchtiger Schreibtisch aus sehr dunklem und poliertem Holz. Wie im Wohnzimmer bestand auch hier die Wand mit den Fenstern fast ausschließlich aus Glas, und das Tageslicht erhellte die langen Regale mit den Datenwürfeln und alten Büchern. Auf einem der unteren Regale entdeckte Hal eine Reihe großer Bücher, die in dunkelbraunes Leder eingebunden waren. Hal schritt darauf zu und stellte fest, daß es sich bei ihnen um Manuskriptkopien des Werkes Cletus Graemes über Strategie und Taktik handelte. Mit der Kuppe des

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Zeigefingers strich er über die Buchrücken, holte sie jedoch nicht aus dem Regal hervor.

Er wandte sich ab und verließ die Bibliothek wieder. Als er weiter durch den Korridor im Erdgeschoß

wanderte, reagierten die Sensoren auf ihn und sorgten für eine ausreichende Beleuchtung in dem Teil des Gebäudes, den er nun erreichte. Es war fast die Hälfte des Hauses, und die ersten Zimmer, an denen er vorbeikam, dienten als Schlaf- oder Arbeitsräume. Nach einer Weile schließlich waren es nur noch Schlafzimmer. Er zählte insgesamt sechs davon – und vier Arbeitsräume –, bevor der Flur schließlich an einer Räumlichkeit endete, die offenbar sowohl als Schlaf- als auch als Arbeitszimmer diente und fast das ganze östliche Ende des Hauptgebäudes beanspruchte.

Und als er sich von dort aus wieder auf den Rückweg machte, fand er auch das Zimmer, das Donals gewesen sein mußte. In den nach seinem Tod über ihn geschriebenen Biographien wurde es als der dritte Raum vom letzten und sehr großen Zimmer aus genannt. Natürlich, dachte Hal: Es war eigentlich nicht weiter verwunderlich, daß es so abgelegen und klein war. Die jüngsten Angehörigen der Familie – und diejenigen, die erkrankt waren –, kamen in der Regel in unmittelbarer Nähe des großen Schlafzimmers unter. Und sie wechselten ihre Unterkünfte und entfernten sich somit vom Quartier der Familienoberhäupter, wenn die älteren Graemeheim verließen, um Vertragsverpflichtungen wahrzunehmen – oder wenn sie starben. Damals, als Donal sein Zuhause im Zuge seines ersten Kontraktes

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verlassen hatte, war er der jüngste aller Graeme gewesen – und nie zurückgekehrt.

Hal betrachtete ein recht kleines Zimmer, das gerade Platz genug für eine einzelne Person bot – im Gegensatz zu den anderen Schlafräumen, in denen zumindest die verheirateten Familienangehörigen mit ihren jeweiligen Ehepartnern unterkamen. Seit der Zeit Donals hatten viele andere junge Graemes in diesem winzigen Zimmer geschlafen. Hal konnte nicht davon ausgehen, daß die Einrichtung oder einige der persönlichen Objekte aus dem ureigensten Besitz Donals stammten.

Trotzdem stand Hal wie erstarrt und blickte sich geradezu ehrfürchtig um, und die Kälte, die er vor einer Weile in sich verspürt hatte, breitete sich erneut in seinem Innern aus. Die Wände, die er nun betrachtete: Es waren die Wände, an die er sich erinnerte. Und der Blick aus den Fenstern, die Ansicht des steilen Hanges, der hinter dem Haus in die Höhe ragte – sie erschien ihm sehr vertraut.

Er streckte die eine Hand aus, um die Holzvertäfelung der Wand zu berühren, die durch wiederholtes Reinigen abgeschmirgelt wirkte. Und er rührte sich nicht von der Stelle, als er die Glätte unter den Fingerspitzen fühlte, starrte auf den Hang, den Donal während seiner Kindheit und Jugend so oft beobachtet hatte – und er erinnerte sich. Eine ganze Weile blieb er so stehen, und von einem Augenblick zum anderen entsann er sich an einen Teil des Gedichts, das er in der Letzten Enzyklopädie verfaßt hatte …

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In der Ruine der Kapelle erwachte der brave Ritter In dem Sarg seiner letzten Nachtruhe. Und seine Kettenstiefel rasselten über die Steine, Als er zum eingebrochenen Sarg ging und hinaussah …

Es war plötzlich, als wehe ein seelischer Wind durch das Zimmer, und Hal empfand sich als Teil eines größeren Ganzen – als Teil des Hauses, der Wände um ihn herum, des Hanges, den er durch das Fenster sah. Es war eine Entfernung, die sich nicht von der unterschied, die derjenige des öfteren gemacht hatte, den er nun zu erreichen versuchte.

Ich bin hier, dachte er. Die Kälte wurde intensiver und erfaßte seinen ganzen

Leib. Ein weiteres Mal richteten sich ihm die Nackenhaare auf, und ein stummes Schrillen durchhallte ihn, so als habe die temporale Struktur dieses Moments zu vibrieren begonnen. Das Heulen ließ ihn innerlich erzittern – und endlich offenbarte sich ihm schlagartig die Identität mit dem Mann, der hier gelebt hatte. Als Donal stand er im Zimmer. Und als Donal blickte er aus den Fenstern und betrachtete den Berghang.

28 So rasch, wie dieses Gefühl in ihm entstanden war, verflüchtigte es sich auch wieder, und plötzlich war sich Hal gar nicht mehr sicher, ob nicht alles nur eine Halluzination gewesen war. Er ließ den Arm sinken. Und

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einen Augenblick später hob er die Hand, tastete nach der Stirn und berührte eine feuchte und kalte Haut. Es war fast so, als sei durch eine enorme Anstrengung ein Großteil der Kraft aus ihm gewichen.

Einige Sekunden lang verharrte er noch. Dann drehte er sich um, kehrte in den Flur zurück und schritt in Richtung des Wohnzimmers. Während er ein weiteres Mal durch den Korridor wanderte, wurde die neue Erschöpfung zu einem intensiven Eindruck, und erbemerkte die Ähnlichkeit dieser Empfindung mit der Art von Leere und Müdigkeit, die immer dann in ihm entstanden, wenn sich seine Kreativität entlud und er jäh ein Dichtwerk schuf – eine Reaktion auf eine umfassende innere Mühe, die ihn jedesmal neu veränderte.

Aber was die Gedichte anging, so überlegte er, so war das Ergebnis einer derartigen Anstrengung immer etwas Konkretes, etwas, das sich zuvor nicht in seinem Besitz befunden hatte. In diesem Fall jedoch … Doch noch während ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, stellte er fest, daß er auch diesmal etwas fast Greifbares geleistet hatte. Die Veränderung in ihm versetzte ihn dazu in die Lage, das Haus mit anderen Augen zu sehen.

Als er sich nun umblickte, gewann Hal den Eindruck, als sei alles um ihn herum mit einer Patina aus Vertrautheit überzogen. Er betrat das Wohnzimmer, und das auf dem Wandbild dargestellte Gesicht Eachan Khans sah aus wie das eines Mannes, den er sehr gut kannte. Das Schwert über dem Kamin: Hal hatte das Gefühl, seine Finger erinnerten sich an die Kühle des Heftes, und vor seinem inneren Auge betrachtete er das

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Glänzen der Schneide, nachdem die Waffe aus der Scheide gezogen worden war. Und in diesem besonderen Maß entsann er sich nun auch an all die anderen Dinge im großen Raum.

Er ließ sich in den Sessel sinken, in dem er schon zuvor Platz genommen hatte. Und er lehnte sich zurück und spürte, wie die Kraft langsam in seinen erschöpften Körper zurückkehrte und die Leere aufzufüllen begann, die sich nach dem intensiven Empfinden der Kälte auf dem Friedhof in ihm gebildet hatte. Um ihn herum vibrierte das ganze Haus mit den stummen Geräuschen der Vergangenheit. Hal lauschte ihnen, und nach einiger Zeit veranlaßte ihn irgend etwas dazu, wieder aufzustehen. Er näherte sich der Ecke des Zimmers, in der das letzte Brett der vertäfelten Ostwand an die nördliche Fensterfront grenzte. Das Holz glänzte glatt vor ihm, und ohne sich über die Ursache seiner Motivation klar zu sein, preßte Hal die rechte Hand darauf. Die Wandfläche bewegte sich plötzlich und gab einen hohen und schmalen Durchgang frei, der direkt vom Wohnzimmer aus in die Bibliothek führte.

Hal verharrte und starrte in den Zugang. Und dann erinnerte er sich daran, infolge der Geschichten, die Malachi ihm über Graemeheim erzählt hatte. Dieser Durchgang war mehrmals von dem alten Mann erwähnt worden – und er stellte irgend etwas Besonderes dar. Einige Sekunden lang runzelte Hal die Stirn, und dann fiel es ihm ein. Dies war der Ort, an dem die jungen Graemes während des Aufwachsens ihre Größe maßen.

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Daraufhin betrachtete Hal den rechten Pfosten der schmalen Tür. Und als er seine bewußte Aufmerksamkeit darauf richtete, konnte er auch die dünnen schwarzen Linien sehen, neben denen sich Initialen und Datumsangaben zeigten. Er senkte den Kopf und entdeckte auch die Abkürzungen des Namens Donals. Ihre geringe Höhe über dem Boden deutete darauf hin, daß er damals nicht älter als fünf Jahre gewesen sein konnte.

Donal war damals der kleinste Graeme gewesen. Und als er sich dieser Tatsache bewußt geworden war, hatte er auf weitere Messungen seiner Größe verzichtet. Hals Blick klebte an der Tür fest. Auch ihr Holz wurde von einer Patina des Erkennens und der Vertrautheit bedeckt, und er entsann sich nun auch noch an etwas anderes: Malachi hatte ihm erzählt, daß von all den Graemes, die über viele Generationen hinweg in diesem Haus aufgewachsen waren, nur die beiden Onkel Donals, Kensie und Ian, die ganze Tür ausgefüllt hatten. Hal starrte auf die Maßlinien, und es regte sich etwas in ihm, eine Art Furcht, vermischt mit seltsamer Sehnsucht. Ian und Kensie waren selbst für Dorsai ausgesprochen groß gewesen – und Hal stellte sich nun vor, wie der düstere und massige Ian in der Tür stand und völlig den Platz beanspruchte, den sie ihm darbot.

Hal kam sich ein wenig töricht vor bei dem Gedanken, seine Größe mit den Maßlinien zu vergleichen – obgleich er ganz allein war und niemand ihn beobachtete. Doch dieses Verlangen wurde nun rasch stärker in ihm.

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Der rationale Teil seines Bewußtseins gab sich alle Mühe, diesen Wunsch beiseite zu drängen, da er keinen echten Sinn darin erkennen konnte. Größe allein bedeutete überhaupt nichts. Auf den vierzehn Welten gab es sicher viele Menschen, die nicht nur so groß wie Ian und Kensie waren, sondern nicht einmal in diesen Durchgang paßten. Aber diese logischen Überlegungen vermochten die Intensität des Verlangens nicht zu reduzieren. Es ging Hal dabei nicht in erster Linie darum, seine Größe mit denen der Graemes zu vergleichen; vielmehr stellte dieser Wunsch einen Teil der Suche nach seiner Identität mit denjenigen dar, die hier gelebt hatten. Und das war auch der Grund gewesen, der ihn dazu veranlaßt hatte, das Zimmer Donals zu betreten.

Er streifte die letzten Reste des Zweifels von sich ab. Seine gegenwärtigen Motivationen waren Teil dessen, was ihn nach Foralie geführt hatte. Er gab sich einen Ruck, trat in die Tür und richtete sich auf.

Es kam fast einem Schock gleich, als er mit dem Kopf an die Unterseite des oberen Querbalkens stieß. Er blieb stehen und rührte sich nicht. Einige Sekunden lang schreckte er geradezu davor zurück, die Bedeutung der Tatsache zu akzeptieren, daß er die Tür ganz ausfüllte. Schon vor einigen Jahren hatte er gewußt, daß er als Erwachsener größer sein würde als die meisten anderen Menschen, und er hatte sich in der letzten Zeit sogar daran gewöhnt, auf andere Personen hinabzusehen. Doch tief in seinem Innern überraschte es ihn, daß seine Größe der Ian Graemes entsprach. Der Ian in seiner Vorstellung hatte lange Zeit alle anderen weit überragt – und einige

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Sekunden lang glaubte er beinah, die Tür spiele ihm einen Streich.

Nach und nach jedoch begriff er, es mit der Realität zu tun zu haben. Und kurz darauf fiel ihm auf, daß er zwar mit dem Kopf an den oberen Querbalken der Tür gestoßen war, nicht aber die beiden Pfosten berührt hatte. Er blickte nach rechts und links und stellte fest, daß sich zwischen seinen Schultern und den Pfosten noch etwa fünf Zentimeter Platz zeigte. Wenn er davon ausging, daß er nach wie vor wuchs und schwerer wurde, so erschien es ihm wahrscheinlich, im Verlauf der Zeit auch diesen letzten Zwischenraum ausfüllen zu können. Sonderbarerweise empfand er eine gewisse Erleichterung: Er war – noch – nicht dazu bereit, ein zweiter Ian zu sein.

Hal trat zurück, und es war, als hätten die Sensoren die ganze Zeit nur darauf gewartet: Die Tür schloß sich, und die Wand vor ihm war wieder glatt und dunkel. Hal wandte sich um und machte Anstalten, das Wohnzimmer zu verlassen. Nach der in dem kleinen Raum im Ostflügel erfolgten Identifikation mit Donal war sein Bewußtsein auf irgendeine Weise klarer geworden. Jetzt, nach der Größenmessung in der Tür, gewann diese Art von Intensivierung eine nachgerade schmerzhafte Qualität.

Der Geruch des Hauses, die Farben und Formen, das dumpf widerhallende Geräusch seiner eigenen Schritte, das durch die Fenster filternde Tageslicht, die Beleuchtung im Korridor, der an den Arbeits- und Ruheräumen vorbeiführte – das alles schuf eine

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Verbindung zwischen ihm und den Personen, die hier gelebt hatten. Und wie sie hatte er das Gefühl, in dieses Haus zu gehören.

Dieser Eindruck verwunderte ihn nun nicht mehr. Er wußte, daß all die Erkenntnisprozesse, die sich ihm hier dargeboten hatten, nicht außergewöhnlich waren. Seine Identifikation mit Donal und den anderen Graemes – in einem Ausmaß, das ihm das Gefühl vermittelte, ihre unmittelbare Gegenwart zu spüren –, entsprach durchaus dem Potential des menschlichen Geistes und der ihm innewohnenden Vorstellungskraft. Trotzdem war es, als schwanke er am Rand einer Erkenntnis, die weitaus bedeutender war als alle seine bisherigen Erfahrungen.

Hal schauderte. Mit der intensivierten Sensibilität ging eine Bewußtseinschärfe einher, die ebenfalls fast schmerzhaft war. Und dieses umfassende Verstehen ließ ihn begreifen, daß er die ganze Zeit über einen Raum des Hauses gemieden hatte: das Eßzimmer. Dort, so erinnerte er sich an die Schilderung Amandas, fanden Familienzusammenkünfte statt und wurden Entscheidungen aller Art getroffen. Als er sich das ins Gedächtnis zurückrief, lenkte Hal seine Schritte schließlich in die entsprechende Richtung, und er wußte, daß dort die Präsenz Donals am stärksten sein mußte.

Aber schon nach wenigen Metern blieb er stehen, da sich eine vage Furcht in ihm regte. Er runzelte die Stirn und ließ sich erneut in einem der Wohnzimmersessel nieder. Er betrachtete die Tür weiter vorn und versuchte, die Ursache für den dunklen Schrecken zu verstehen, der

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ihn unmittelbar nach der Entscheidung, das Eßzimmer aufzusuchen, hatte verharren lassen.

Er konzentrierte sich auf die Weise auf sich selbst, die Walter ihn gelehrt hatte. Ganz bewußt unterzog er sich der beinahe physischen Anstrengung, die nötig war, um sich von einer Empfindung zu lösen. Er versuchte, vor seinem inneren Auge ein Bild dessen zu formen, vor dem er sich fürchtete, ein Bild, dem er gleichzeitig nicht zu nahe kam. Als ihm das gelungen war, machte er sich an eine erste Analyse. Für sich selbst betrachtet, war es nicht weiter wichtig. Es kam in erster Linie auf die Auswirkungen an. Aber um die zu verstehen, mußte er die innere Natur des Bildes begreifen.

Es ging dabei nicht um das Eßzimmer selbst, auch nicht um das, was er dort vorfinden mochte. Statt dessen hatte er Angst vor der unwiderruflichen Konsequenz, die ein Aufenthalt in dem Raum für ihn haben mußte. Wenn er das Eßzimmer in seinem gegenwärtigen Zustand ausgeprägter Sensibilität betrat, so konnte er letztendlich herausfinden, welcher Teil von ihm er selbst und welcher Donal war. Und wenn sich dabei das bestätigte, was er befürchtete …

Vielleicht stellte er fest, daß ihm ein Weg vorherbestimmt war, dem er folgen mußte, in die Richtung, die ihm das Schicksal auferlegte. Vielleicht sah er sich nun jener Grenze gegenüber, vor der alle Menschen instinktiv zurückschreckten – der Grenze zwischen dem Möglichen und Unmöglichen. Und wenn er sie überwand, so mochte er für immer und ewig ein Teil des Unmöglichen werden.

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Es war eine sehr alte Furcht, so begriff Hal plötzlich – nicht nur für ihn persönlich, sondern die ganze Menschheit. Es war die Furcht, sich von der Sicherheit des Bekannten abzuwenden, sich in das Dunkel des Unbekannten zu begeben und sich all den Gefahren zu stellen, die in der dortigen Finsternis lauern mochten. Hal verstand nun auch, daß es für dieses Empfinden nur eine und ebenso alte Entsprechung gab: den Drang, weiterzumachen, ungeachtet aller möglichen Folgen, zu wachsen und zu lernen, zu entdecken und reifer zu werden.

Und als er sich darüber klarwurde, verstand er auch in vollem Umfang, daß er der Schicksalsbestimmung, vor der er sich so sehr fürch tete, längst unterworfen war. Wenn er vor der Wahl stand, es mit dem Unbekannten aufzunehmen oder sich mit dem Vertrauten zu begnügen, so würde er sich immer für die erstere Möglichkeit entscheiden. Bei dieser Überlegung entsann sich Hal an die Zeilen eines Gedichts von Robert Browning, an einen Vers, dem die Rolle eines Botschafters zukam:

… stehen sie, entlang der Hügel, um mich ein Letztes Mal zu sehen, eine lebende Erinnerung, ein Wahn Für das Abschlußbild! Ich sehe sie durch des Flammenschleiers Scham, Sehe sie und kenne sie alle. Und doch allein Setze ich furchtlos das Horn an die Lippen mein Und blase: Der Jüngling Roland, zum Dunkeln Turm er kam.

Eine der Zwischenstationen des Weges, für den er sich entschieden hatte, war die Gefängniszelle auf Harmonie gewesen. Und der Aufenthalt in diesem Haus, in diesem

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Zimmer, stellte nur eine sich daraus ergebende Konsequenz dar. Hal stand auf, schritt durch den Wohnraum und betrat das Eßzimmer.

In dem langen und stillen Raum herrschte ein düsteres Halbdunkel. Im Gegensatz zu den anderen Zimmern, die Hal aufgesucht hatte, waren hier die schweren Vorhänge nicht von der Sensorautomatik beiseite gezogen worden, und daran änderte sich auch nichts, als Hal nun eintrat. Sie bestanden aus einem dicken und weichen und hellbraunen Stoff, und das weiße Licht Fomalhauts filterte nicht direkt hindurch, sondern ließ sie in gewisser Weise erglühen, was zu einem düsteren, bernsteinfarbenen Zwielicht führte.

Vor Hal erstreckte sich die lange und leere Platte des Tisches, und zu beiden Seiten standen aus Holz gefertigte Stühle. Ihre Tönung war so dunkel, daß sie praktisch schwarz wirkten. Die Decke war niedriger als die im Wohnzimmer, und Hal konnte einzelne Balken erkennen. Der Eindruck, den dieser stille und finstere Raum auf ihn vermittelte, war noch tiefer als der der anderen Räumlichkeiten Graemeheims, und es schien, als stände hier die Zeit still.

An der langen Wand der Fensterfront gegenüber zeigten sich die einzigen Farben in diesem Zimmer. In regelmäßigen Abständen hin gen dort sechs kleine und altmodische, zweidimensionale Bilder mit schmalen Rahmen: Landschaftsdarstellungen. Und hinter dem einzelnen Stuhl am oberen Ende des Tisches, nun links von Hal, befand sich die Tür, die von der Küche her ins Eßzimmer führte.

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Die erhabene Ruhe dieses Ortes schien Hal zu umwallen und vom Rest des Hauses zu trennen. Es war, als flüstere ihm das Eßzimmer etwas zu: Alles andere mag sich verändern. Ich aber ruhe seit zweihundert Jahren in der Stasis. Er setzte sich wieder in Bewegung, schritt langsam am Tisch entlang und blieb stehen, um sich die Bilder anzusehen.

Sie zeigten Berge, Seen, Täler und Meeresküsten, und offenbar handelte es sich bei ihnen um Reproduktionen, die ebenso alt sein mußten wie die entsprechenden Erinnerungen Eachan Khans. Und es waren irdische Landschaften. Die Farben von Land und Himmel, die Beziehungen zwischen Hängen und ebenem Boden – all dies fand man nur auf Terra. Tausend winzige Details bewiesen, welcher Planet dargestellt wurde. Für einige Sekunden erweckten sie Erinnerungen in Hal, an die er lange Zeit nicht mehr gedacht hatte. Und dabei empfand er plötzlich ein tiefes Heimweh nach den Rocky Mountains, in die er während seiner Kindheit des öfteren Ausflüge unternommen hatte.

Dann jedoch verschwand dieses Empfinden wieder, wurde regelrecht fortgefegt von den Gefühlen, die seine gegenwärtige Umgebung in ihm hervorrief. Es waren Emotionen, die sich ihm als Teil der Wände offenbarten, als Teil des Tisches, der Stühle und vor allen Dingen der sechs Bilder. Die Emotionen einer Familie, deren Angehörige mehr als zweihundert Jahre lang entsprechend eines eigenen Ehrenkodex gelebt hatten und gestorben waren. Es gab ein geflügeltes Wort, von dem Malachi Hal einmal berichtet hatte: Man sagte, die Dorsai seien – mehr als alle anderen Kulturen – mit ihrer

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Welt identisch und verwachsen. Hier in diesem langen und dunklen und stillen Raum wurde jene Behauptung zu einer Gewißheit.

Hal schritt langsam an das obere Ende des Tisches heran, blieb dort stehen und sah über die vielen Stühle hinweg. All die Graemes hatten hier zu ihren jeweiligen Lebzeiten gesessen, seit dem Bau des Hauses. Die Männer und Frauen, deren Namen er auf den Grabsteinen gelesen hatte: Eachan Khan, Melissa und Cletus Graeme, Kamal Graeme; Eachan, der Vater Donals, Mor, Donals Bruder; James, Kensie und Ian – seine Onkel; Leah, Ians Frau; Simon, Kamal und James, Ians Söhne – und andere.

Auch Donal selbst. Vor der akademischen Abschlußprüfung hatte Donal

sicher oft hier gesessen, vor jenem Abend, bevor er im Zuge seines ersten Kontrakts Dorsai verließ. Aber an dem betreffenden Abend, nach dem Essen, hatte er sich zum erstenmal zusammen mit den anderen Erwachsenen seiner Familie beraten können, die bereits Vertragserfahrungen gesammelt hatten – jenen Männern, die schon ein- oder mehrmals von ihrem Heimatplaneten fortgezogen waren, um gemäß ihren Kontrakten den Kampf mit Gegnern aufzunehmen, die sie nicht kannten. Zu jenem Zeitpunkt mußte sich Donal zum erstenmal in seinem Leben wirklich eins mit den Verwandten gefühlt haben, die bereits das geleistet hatten, wozu er nicht imstande zu sein glaubte. An jenem lange zurückliegenden Abend hatte er sicher das Gefühl gehabt, daß ihm endlich die Tür zu den vierzehn Welten

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offenstand; und erwartungsvoll betrachtete er sie und fieberte seiner Zukunft entgegen.

Langsam trat Hal an den Bildern vorbei und blieb hinter dem einen Stuhl am oberen Ende des Tisches stehen. An dem letzten Abend, den Donal in seinem Heim verbrachte: Wer mochte von den anderen Kämpfern der Graemes an diesem Tisch gesessen haben?

Kamal Khan Graeme – aber er hatte sicher nicht die Kraft gehabt, sich den anderen hinzuzugesellen. Zu der Zeit des ersten Kontrakts Donals war er bereits bettlägerig gewesen. Eachan natürlich, der für immer nach Hause zurückgekehrt war, infolge einer Verletzung seines rechten Beins, die ihm den aktiven Dienst unmöglich machte. Hal versuchte sich daran zu entsinnen, wer sonst noch in Frage kam. Und langsam, fast wie von selbst, glitten die Namen in den Fokus der Aufmerksamkeit seines Bewußtseins. Ian und Kensie waren damals ebenfalls zu Hause gewesen. Und Mor, der ältere Bruder Donals, der sich zuvor bei den Quäkern aufgehalten hatte. James hingegen war vor sieben Jahren auf Donneswort gefallen.

Also insgesamt fünf Personen. Das bis dahin unveränderliche Zwielicht in dem Zimmer schien sich plötzlich weiter um Hal herum zu verfinstern. Eachan hatte sicher auf diesem Stuhl Platz genommen, am Ende des Tisches. Ian und Kensie sollten normalerweise rechts und links von ihm gesessen haben. Doch die Zwillinge hatten es immer vorgezogen, direkt nebeneinander Platz zu nehmen, und an jenem Abend hatten sie sich aus reiner Angewohnheit links von Eachan niedergelassen,

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den Rücken der Wand zugekehrt und beide Eingänge im Blick. Rechts von Eachan mußte sich also Mor befunden haben, und neben Mor wiederum …

Hal trat von dem oberen Ende des Tisches fort und blieb hinter dem zweiten Stuhl rechts von Eachans Platz stehen, dem Stuhl, auf dem Donal gesessen hatte.

Er konzentrierte sich darauf, die damalige Szene vor seinem inneren Auge erneut Gestalt annehmen zu lassen. Er starrte auf die leeren Stühle und stellte sich die Männer vor, deren Bilder er in den Büchern über Donal gesehen hatte. Eachan: groß und hager, jemand, der nicht mehr so physisch aktiv wie früher sein konnte und dessen Schultern über dem ausgemergelt wirkenden Körper deshalb ungewöhnlich breit aussahen, das Gesicht dunkel und schmal, auf der Stirn und an den Mundwinkeln Sorgenfalten, die von einer namenlosen Pein kündeten.

Ian und Kensie: wie Spiegelbilder – und aufgrund ihrer Charaktere doch völlig unterschiedlich. Kensie schien von innen heraus zu strahlen, und Ian war düster. Beide waren sogar noch größer als Eachan und Mor, und ihre athletische Gestalt ließ Eachan wie einen Schatten seiner selbst wirken. Mor: schlanker als seine beiden Onkel, das Gesicht glatter und jünger; in seinen dunklen Augen ein seltsames Glitzern, wie von Einsamkeit, einer tiefempfundenen Sehnsucht.

Und Donal … einen halben Kopf kleiner als Mor, und noch schlanker, mit dem doppelt starken Unterschied, daß er gleichzeitig jünger und zarter gebaut war, was ihn

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im Vergleich zu den Männern am Tisch wie einen kleinen Jungen aussehen ließ.

Eachan stützte die Unterarme auf den Tisch. Ian saß aufrecht, das Gesicht eine starre Maske. Kensie lachte, so heiter und gutmütig wie immer. Mor beugte sich vor, ganz versessen darauf, ebenfalls etwas zu der Diskussion beizutragen. Und Donal … Er hörte ihnen allen zu.

Bestimmt hatten sie über geschäftliche Dinge gesprochen, über die Arbeitsbedingungen, die sich Söldnern von ihrer Art auf den anderen Welten darboten. Also in keinster Weise eine außergewöhnliche Unterhaltung – die allerdings in erster Linie Donal galt, so daß er sich ein Bild machen konnte, ohne daß es für Eachan und die anderen nötig war, ihm direkt einen Rat zu geben.

Hal hatte das Gefühl, als sickere nun der Klang ihrer Stimmen aus dem Holz der Wandvertäfelung und der Deckenbalken hervor.

»Begierden sind wie Vampire, die einem die Kraft rauben«, sagte Eachan. »Und das Soldatenleben ist eine ätherische Tugend …«

»Wärst du zu Hause geblieben, Eachan«, fragte Mor seinen Vater, »als du jung und tatendurstig und gesund warst?«

»Eachan hat recht«, sagte Ian. »Sie träumen noch immer davon, unser freies Volk unter Druck setzen zu können, es zu einem Haufen willfähriger Untertanen zu machen – um diese Untertanen dann dazu einzusetzen, die Kontrolle über alle anderen Welten zu erringen. Das ist die Bedrohung …«

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»So lange die Bezirke eine unabhängige Vertretung im Rat besitzen …«, sagte Eachan.

»Nichts steht still«, meinte Kensie. Und bei jenen letzten drei Worten breitete sich in Donal

schlagartig die Wirkung des Whiskys aus, den er getrunken hatte. Für ihn sah es plötzlich so aus, als schwebten sowohl der lange Tisch als auch die Gesichter der daran sitzenden Männer im Zwielicht des Eßzimmers, und Kensies Stimme donnerte aus weiter Ferne an seine Ohren.

Um Hal herum fanden sich nun auch andere Graemes ein und nahmen ebenfalls an dem Tisch Platz. Auch sie unterhielten sich, und nach und nach entstand ein auf- und abschwellendes Stimmengewirr … Und dann schließlich ging die Versammlung nach dem Abendessen jäh zu Ende. Alle standen auf, um sich zur Bettruhe zurückzuziehen. Der Raum war voller hochgewachsener Männer und Frauen, und Hal schwindelte.

Er mußte hinaus. Er stand dicht vor einer Erkenntnis, die ihn bereits zu erfassen begann und forttrug, schneller und immer schneller – so rasch, daß er bald nicht mehr die Kraft haben würde, sich aus dem festen Griff zu befreien. Er wandte sich in die Richtung, in der er die Tür zum Wohnzimmer vermutete, die er aber aufgrund der vielen ihn umringenden Gestalten nicht mehr sehen konnte. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge, stolperte und spürte, wie seine Kraft dahinschwand. Nach wie vor vermochte er die Tür nicht zu erkennen, und er fühlte sich nicht mehr kräftig genug, um

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kehrtzumachen und zu versuchen, die Küche zu erreichen …

Starke Arme stützten ihn, und während er noch taumelte, geleiteten sie ihn durch einen Dunst aus Phantomen. Kurz darauf spürte er plötzlich die Kühle frischer Luft auf Wangen und Stirn, eine leichte Brise, die ihm ins Gesicht wehte. Er stolperte auf einer Treppe, und er sank zu Boden, auf etwas Weiches.

»Atmen Sie tief durch«, riet ihm eine Stimme. »Und noch einmal.«

Er kam der Aufforderung nach, und langsam lichtete sich der Nebel vor seinen Augen, und er sah Berge und den Himmel. Es war Amanda, die ihn festhielt und nun wieder in die Höhe zog, und er stand auf dem Rasen vor dem Haupteingang Graemeheims.

29 »Ich sollte Sie jetzt besser heimbringen«, hatte Amanda gesagt.

Hal war noch immer benommen und verwirrt und machte keinen Einwand. Und seine Schwäche hielt während des Rittes zurück nach Fal Morgan an, so daß er sich später kaum daran zu erinnern vermochte. Sein Kopf klärte sich erst, als sie fast das Heim Amandas erreicht hatten, und dadurch wurde ihm bewußt, wie ausgehöhlt und kraftlos er war – als habe er sich einer ausgesprochen kräfteverzehrenden physischen Anstrengung unterzogen.

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»Es tut mir leid«, wandte er sich an Amanda, als er schließlich ins Wohnzimmer Fal Morgans wankte. »Ich wollte Ihnen nicht zur Last fallen. Ich … offenbar hatte ich einen Schwächeanfall.«

»Ja«, erwiderte die Frau. Sie sah ihn an, und ihr Blick war einerseits scharf und andererseits unergründlich und rätselhaft. »Jetzt ruhen Sie sich erst einmal aus.«

Sie drehte ihn wie ein kleines Kind herum und lenkte ihn in den Flur, in das Zimmer, in dem er in der vergangenen Nacht geschlafen hatte, und dort ließ er sich auf die Bettkante sinken. Er bemerkte nicht, daß Amanda die Automatik neu justierte, aber kurz darauf zogen sich die schweren Vorhänge zu, und es wurde dunkler im Zimmer.

»Schlafen Sie«, erklang aus dem Zwielicht die Stimme Amandas.

Hal hörte, wie sich die Tür schloß. Er hockte noch immer auf der Bettkante, sank nun aber zurück. Er schauderte, drehte sich auf die Seite und wollte noch Anstalten machen, sich die warme Decke zum Kinn hochzuziehen. Doch dazu kam er nicht mehr: Er schlief sofort ein.

Er erwachte erst am folgenden Morgen, und er stand auf, kleidete sich an und machte sich auf die Suche nach Amanda. Er fand sie in einem Büro in der Nähe des Wohnzimmers, und dort saß sie an einem Schreibtisch und befaßte sich mit Unterlagen, bei denen es sich offenbar um Vertragskopien handelte. Sie blickte auf einen in die Schreibtischfläche integrierten Schirm, und mit einem Lichtgriffel führte sie einige Korrekturen

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durch. Sie hob den Kopf, als er an den Türpfosten klopfte.

»Treten Sie nur ein«, sagte sie. »Wie fühlen Sie sich?« »Noch immer ein wenig benommen«, erwiderte er.

Tatsächlich kam es ihm so vor, als habe er seit der Rückkehr nach Foralie kaum eine Stunde geschlafen.

»Setzen Sie sich«, sagte sie und legte den Lichtgriffel beiseite.

Hal nahm dankbar in einem Polstersessel Platz und bemerkte, daß nach wie vor der aufmerksame Blick Amandas auf ihm ruhte.

»Sie müssen sich einige Tage schonen«, sagte sie. »Was kann ich für Sie tun?«

»Bitte sagen Sie mir, wie ich nach Omalu zurückkomme«, entgegnete er. »Ich habe Ihre Gastfreundschaft lange genug in Anspruch genommen.«

»Ich sage es Ihnen schon, wenn Sie mir wirklich zur Last fallen«, meinte Amanda. »Und was Omalu angeht: Sie sind nicht in der Verfassung, irgendwohin zu reisen.«

»Ich muß mich aber auf den Weg machen«, sagte Hal. »Ich habe einen Auftrag zu erfüllen. Ich muß mit den Leuten sprechen, die die Repräsentanten Dorsais sind.«

»Sie meinen sicher die Graucaptains.« Hal blickte sie groß an. »Wen?« Amanda lächelte. »Das ist die traditionelle Bezeichnung für sie«, erklärte

sie. »Ich glaube, heute weiß niemand mehr, auf welchen Ursprung dieser Name zurückgeht. Zu Lebzeiten Cletus' machten wir es uns zur Angewohnheit, den Rang eines

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Captains nur noch auf entsprechende Leute an Bord von Raumschiffen zu beziehen. Hier auf Dorsai bezeichnet man damit jemanden, der Verantwortung trägt, eine Person, die unser aller Vertrauen genießt – und die wir autorisieren, Entscheidungen von allgemeiner Natur zu treffen. Die erste und zweite Amanda waren Graucaptains.«

»Und die dritte?« Er sah ihr in die türkisfarbenen Augen.

»Ja, die dritte ebenfalls«, erwiderte Amanda ernst. »Nun, wenn Sie mit Repräsentanten Dorsais sprechen wollen, sollten Sie sich an die Graucaptains wenden. Und für gewöhnlich halten sie sich nicht alle in Omalu auf, sondern in ihren jeweiligen Heimstätten auf Dorsai.«

»Dann muß ich mit jedem von ihnen sprechen und sie dazu bewegen, sich an einem Ort zu versammeln, so daß eine Entscheidung getroffen werden kann.«

Amanda musterte ihn einige Sekunden lang schweigend.

»Selbst wenn Sie in guter Verfassung wären«, erwiderte sie schließlich, »was nicht der Fall ist: Diese Vorgehensweise ist verkehrt. Nun, derzeit sind Sie nicht dazu imstande, mit irgend jemandem zu sprechen. Es kommt erst einmal darauf an, daß Sie sich wieder richtig erholen – und das dürfte etwa eine Woche dauern.«

Hal schüttelte den Kopf. »So lange nicht.« »O doch.« »Wie dem auch sei …« Hal griff nach den Armlehnen

des Sessels, bereit dazu, sich in die Höhe zu stemmen. »Mir bleibt nicht so viel Zeit …«

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»Sie müssen sie sich nehmen.« »Sie verstehen nicht.« Er ließ die Hände wieder in den

Schoß sinken. »Zuerst einmal: Die Exoten gaben mir eine wichtige Botschaft mit auf den Weg, die ich den Dorsai überbringen soll. Und was noch bedeutender ist: Ich muß aus ganz persönlichen Gründen mit den Graucaptains sprechen. Es gibt da etwas, das ich ihnen unbedingt klarmachen muß. Ich muß ihnen mitteilen, daß die Krise, auf die wir zusteuern, nicht nur das zerstören könnte, was die Kultur der Dorsai ausmacht, sondern auch alles andere … Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das verständlich machen soll …«

»Das haben Sie bereits«, erwiderte Amanda. Hal blickte sie groß an und hatte das unbehagliche

Gefühl, daß die allgemeine Situation mehr und mehr seiner Kontrolle entglitt.

»An Ihrem ersten Abend in meinem Haus.« Amanda sah ihn weiterhin an, und ihre türkisfarbenen Augen wirkten wie zwei unauslotbar tiefe Brunnen. »Sie erzählten mir alles darüber.«

»Alles?« fragte Hal. »Wirklich alles?« »Ich glaube schon«, bestätigte Amanda. Es schloß sich

ein einige Sekunden währendes Schweigen an, und sie wandte den Blick nicht von ihm ab. »Ich weiß, worum es Ihnen geht. Und im Gegensatz zu Ihnen weiß ich auch, wie Sie das bewerkstelligen können, was Sie tun müssen. Bevor ein Gespräch mit den Graucaptains einen Sinn hat, müssen sie sich alle an einem Ort versammeln. Und dieser Ort könnte durchaus Foralie sein.«

»Foralie?« Hal starrte sie überrascht an.

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»Warum nicht?« entgegnete sie. »Dort gibt es Platz genug, um so viele Leute unterzubringen, und derzeit steht das Haus leer.«

Sie unterbrach sich und beobachtete ihn, und Hal gab zunächst keine Antwort. Eine gewisse Kälte breitete sich bei der Vorstellung in ihm aus, ausgerechnet in Graemeheim mit den Graucaptains zu sprechen, und für einige Augenblicke vergaß er fast die Gegenwart Amandas. Dann kehrten seine Gedanken in die Realität zurück, und er stellte fest, daß ihn die Frau mit dem weißblonden Haar noch immer musterte.

»Ich kann den Captains an Ihrer Stelle Bescheid geben und auch Hilfe vom Distrikt anfordern«, erklärte sie. »Wenn das nötig ist, um mit der Situation fertig zu werden. Es sollte nicht mehr als einen Tag dauern – es sei denn, es bleibt einigen keine andere Wahl, als hier zu übernachten, bevor sie sich auf den Heimweg machen.«

Hal zögerte. »Sie könnten sie hierher bestellen?« vergewisserte er

sich. »Und Sie glauben, sie kämen auch?« »Ja«, bestätigte Amanda. »Sie kommen bestimmt.« »Ich kann doch nicht …« Es fehlten Hal die richtigen

Worte. »Was können Sie nicht? Mir zur Last fallen?« Sie

deutete ein Lächeln an. »Diesen Gefallen erweise ich Ihnen gern. Schließlich geht es um unsere Zukunft, nicht wahr?«

»Nun …«, setzte er an. »Das stimmt schon.«

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»Dann dürfte ja alles klar sein«, sagte Amanda. »Ich lasse denjenigen eine Nachricht zukommen, die hierher kommen sollten. Und Sie ruhen sich aus. Wie ich schon sagte: Sie brauchen bestimmt eine Woche, um sich ganz zu erholen.«

»Wie lange dauert es, sie alle hier zu versammeln?« fragte Hal, und er hatte noch immer das unangenehme Gefühl, das plötzlich alles viel zu schnell ging.

»Bei einem Notfall rund sechs Stunden.« Amanda sah ihn fast berechnend an. »Da wir es aber mit keiner unmittelbaren Notsituation zu tun haben, dürfte ungefähr eine Woche vergehen, bis wir einen Zeitpunkt vereinbart haben, für den das Treffen anberaumt wird. Und dann sollten Sie zu zwei Dritteln aller Graucaptains sprechen können.«

»Nur zu zwei Dritteln?« erwiderte Hal. »Reicht das denn?«

»Wenn Sie die Mehrheit dieser zwei Drittel von Ihrem Standpunkt überzeugen können«, antwortete Amanda, »dürfte es Ihnen nicht schwerfallen, langfristig auch die anderen für sich einzunehmen. Jeder Graucaptain wird sich seine eigene Meinung bilden. Es sind sehr vernünftige und kluge Leute. Wenn sie in dem, was Sie ihnen sagen, einen Sinn erkennen, so werden die meisten von ihnen die Botschaft weitertragen.«

»Hm«, machte Hal. Er war sich immer noch nicht ganz sicher, spürte nun aber, wie sehr ihn selbst diese kurze Unterhaltung erschöpft hatte.

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»Also kümmere ich mich darum.« Sie sah ihn fragend an. »Können Sie selbst etwas zu essen machen? Ich habe derzeit alle Hände voll zu tun.«

»Natürlich«, erwiderte er. Amanda lächelte, und ihr Gesicht veränderte sich für

einige Sekunden. Dann war sie wieder ernst und geschäftsmäßig.

»In Ordnung«, sagte sie, griff nach dem Lichtgriffel und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den in die Schreibtischfläche integrierten Schirm. »Kommen Sie ruhig zu mir, wenn Sie Hilfe brauchen.«

Hal stand auf und musterte sie noch einige Sekunden lang. Sie erschien ihm jetzt auf eine unbestimmte Art und Weise als recht seltsam. Als er Fal Morgan erreicht hatte, war sie zwar eine Fremde für ihn gewesen, hatte sich aber andererseits als sehr höflich und zuvorkommend und offen ihm gegenüber erwiesen. Nun standen sie sich ein wenig näher, doch sie wirkte plötzlich unnahbar – so als habe sie zwischen ihnen beiden eine Barriere errichtet. Er drehte sich um und ging in die Küche, und er spürte, wie schwach er noch immer war, wie schwer es ihm selbst hier fiel, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Er nahm eine kleine Mahlzeit ein, und anschließend senkte sich die Müdigkeit wie eine schwere Last auf ihn. Er begab sich in sein Zimmer und ließ sich aufs Bett sinken. Einige Zeit später erwachte er, aß noch einmal eine Kleinigkeit und schlief erneut.

Amanda hatte recht. Es dauerte fast drei Tage, bis sich Hal wieder einigermaßen wie er selbst fühlte. Und er gelangte allmählich zu der Überzeugung, daß er

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tatsächlich die Woche brauchte, die ihm bis zur Versammlung der Graucaptains blieb.

Diesmal war es eine andere Art von Schwäche, die ihm so sehr zusetzte. Ganz sicher hatte er noch nicht alle Folgen der auf Harmonie erlittenen physischen Auszehrung überwunden. Andererseits jedoch schien sich die Art dieser Erschöpfung nicht nur auf die Physis zu beschränken, sondern ging darüber hinaus. Hal brachte sie mit einer psychischen Ermattung in Zusammenhang, nahm dann aber wieder Abstand von dieser Erklärung.

Eine Tatsache ließ sich nicht verleugnen: Seine Schwäche gründete sich auf die nichtphysische Erfahrung in Graemeheim. Und sein Bewußtsein – jenes Instrument, das niemals ruhte und immer bestrebt war, die einzelnen Wahrnehmungsfaktoren voneinander zu trennen und sie zu analysieren – ließ nicht ab von dem Bemühen, das zu untersuchen, was er im Eßzimmer des leerstehenden Hauses erlebt hatte.

Es gäbe viele mögliche Erklärungen. Eine davon, mit der sich Hal beschäftigte, lief darauf

hinaus, daß er genau das gefunden hatte, wonach er auf der Suche gewesen war: ein Verstehen der Graemes im allgemeinen und Donals im besonderen – ein so intensives Begreifen, daß er sich eine Zeitlang mit Donal selbst identifiziert und den Eindruck gehabt hatte, eine Sequenz seines Lebens unmittelbar nachzuvollziehen. Aber es gab auch noch eine andere Erklärung, eine, die ihm wieder die innere Kühle bescherte und ihm erneut

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die Nackenhaare aufrichtete. Er schreckte davor zurück, nahm in gewisser Weise Zuflucht zu der ersten Antwort.

Angesichts seiner besonderen Fähigkeit zur Konzentration und seines kreativen Instinkts, der ihm das fast unbewußte Schaffen von Dichtwerken ermöglichte, erschien ihm das, was zuerst im Schlafraum und dann im Eßzimmer geschehen war – die profunde Identifikation mit Donal – nicht unbedingt als absonderlich. Und doch … Hal stellte zwar einerseits fest, daß diese Art der Erklärung zumindest zu Anfang durchaus vernünftig und logisch erschien – er brachte dabei alles in einen Zusammenhang: seine mentalen Techniken, den bereits in jungen Jahren in ihm erweckten Wunsch, sich mit Donal zu vergleichen, die Folgen der physischen Auszehrung auf Harmonie, die emotionalen Auswirkungen der Enttäuschung auf Mara –, aber nach einer Weile gelangte er an eine Lücke, an eine breite Kluft, in der sich jener zusätzliche Faktor verbarg, der nötig gewesen war, um zu jener besonderen Erfahrung zu führen.

Ein Faktor, der über Hals gegenwärtiges Wissen und Verstehen hinausging – etwas, das beinah wie Magie war. Als er jedoch eingehender darüber nachdachte: Spielte nicht jene Art von Magie eine wichtige Rolle bei allen künstlerischen Kreationen? Man mochte zwar eine gewisse Begabung aufweisen und sich darüber klar ein, wie man die zur Verfügung stehenden Werkzeuge einsetzen mußte; doch nur wenigen Menschen bot sich an einem ganz bestimmten Punkt die Art von kreativem Wunder dar, das schließlich in Kunst resultierte – und

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von niemandem erklärt werden konnte, nicht einmal vom Künstler selbst.

Und das war auch mit Hal geschehen. Es hatten sich ihm gleich mehrere jähe Erkenntnissprünge dargeboten – zuerst durch seine Vision, noch auf Harmonie, von der Beerdigung James', dann in Donals Unterkunft und schließlich im Eßzimmer, mit einer weitaus größeren Wirkung auf ihn. Es war leicht, sich selbst einzureden, daß es sich nur um eine Art Selbsthypnose handelte, eine selbstgeschaffene Illusion. Aber tief in seinem Innern vermochte sich Hal nicht davon zu überzeugen.

Im Gegenteil: Tief in seinem Innern wußte er es besser. Er wußte es mit ebensolcher Sicherheit, wie er manchmal davon überzeugt war, daß die Zeilen eines gerade von ihm entwickelten Gedichts eine Botschaft übermittelten, die über die Summe der einzelnen Worte hinausging. Ein solches Gedicht war wie ein Schlüssel, der eine Tür aufschließen konnte, die in ein ganz neues Universum führte, dessen Aspekte sich ihm in Form von Empfindungsassoziationen offenbarten – so wie er sich in Graemeheim als Donal gefühlt hatte.

Gleichzeitig jedoch hatte sich ihm im leeren Haus weitaus mehr dargeboten, als mit den unbewußten Erinnerungen an das erklärt werden konnte, was er über die Graemes gehört hatte. Ganz tief in seinem Innern wußte er, daß sein Erlebnis im Eßzimmer Graemeheims nicht dem entsprechen konnte, was sich an dem Abend vor der Abreise Donals zugetragen hatte, sondern es vielmehr die Wahrheit war.

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Während der folgenden Tage, als sich Hals inneres Reservoir an physischer und psychischer Energie nach und nach wieder aufzufüllen begann und er das Gefühl der Schwäche überwand, richtete er seine Aufmerksamkeit immer mehr auf Amanda. Sie stand schon vor dem Morgengrauen auf und kümmerte sich um das Haus, den Stall und all die anderen Dinge ihres Anwesens. Um zehn Uhr saß sie in ihrem Büro und prüfte Kontrakte. Und sie arbeitete bis spät abends und unterbrach ihre Tätigkeit nur, wenn sie Komanrufe beantworten, einen Besuch machen oder häusliche Pflichten wie etwa das Zubereiten von Mahlzeiten wahrnehmen mußte.

Ihre Kraft und Ausdauer beeindruckten Hal sehr. Sicher, für alle ihre Arbeiten hatte sie besondere ökonomische Techniken entwickelt, und sie machte sich entschlossen und ohne Zögern an die Erledigung der verschiedensten Dinge. Andererseits jedoch ging sie dabei nicht mit der maschinenhaften Routine zu Werke, die andere Menschen an ihrer Stelle offenbaren mochten. Tatsächlich sah es ganz so aus, als fühle sie sich von den vielen Pflichten nicht im geringsten belastet.

Am Morgen des zweiten Tages entschloß sich Hal aufgrund eines in ihm gewachsenen schlechten Gewissens dazu, auf Amanda zuzutreten, als sie sich gerade auf den Weg zum Stall machen wollte.

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte er. »Ich sage Ihnen schon Bescheid, wenn ich Ihre Hilfe

brauche«, erwiderte sie. Und als sie ihn ansah und weitersprach, klang ihre Stimme ein wenig sanfter, und

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ihre Züge glätteten sich. »Die Verantwortung für Fal Morgan kommt allein mir zu, verstehen Sie?«

»Ja«, sagte er und wich zur Seite, um sie gehen zu lassen.

Am dritten Tag fühlte er sich fast wieder so kräftig wie sonst. Die meiste Zeit verbrachte er damit, im Sessel zu sitzen und zu lesen oder nachzudenken. An jenem Abend jedoch wurde er von einer physischen Unruhe heimgesucht, deren Intensität rasch wuchs. Nach dem Essen, als Amanda wie üblich erneut ihr Büro aufgesucht hatte, versuchte Hal zu lesen. Doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Unbeantwortete Fragen nagten an seiner Seele. Während der vergangenen Tage hatte er sich immer mehr zu ihr hingezogen gefühlt, und wenn ihn seine instinktive Einschätzung aufgrund der Beobachtungen Amandas nicht täuschte, reagierte die Frau auf ihn. Gleichzeitig jedoch zog sie sich seit jenem Tag in Foralie mehr und mehr hinter die imaginäre Barriere zurück. Und das war Hal rätselhaft.

Außerdem: Er hatte Foralie in erster Linie deshalb aufgesucht, um die Wahrheit über seine Traumvision herauszufinden. Und er begriff nun, daß diese Wahrheit mit Donal Graeme in einem ursächlichen Zusammenhang stand – und daß Donal, wie zuvor Cletus, ein atypischer Dorsai gewesen war. Das Erlebnis in Graemeheim war ihm nicht dabei behilflich gewesen, zu der Überzeugung zu gelangen, daß er sich den Graucaptains verständlich machen konnte.

Nachdem er fast drei Tage lang immer und immer wieder über diese Probleme nachgedacht hatte, reagierte

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sein Körper schließlich auf die lange Zeit der Untätigkeit, und das war der Grund für seine Unruhe. Hal legte den Datenwürfel, den er nach dem Essen gelesen hatte, abrupt beiseite, trat auf die halb offenstehende Tür des Büros zu und stellte fest, daß Amanda noch immer arbeitete.

Daraufhin wandte er sich um und öffnete den Schrank an der Hintertür des Hauses. Er enthielt Arbeitskleidung, Pullover und Jacken. Von letzteren war keine groß genug für ihn, aber Hal fand einen dicken Pullover, der seinen körperlichen Erfordernissen einigermaßen gerecht wurde, und der streifte ihn sich über und trat in die Nacht hinaus.

Seine Absicht bestand nur darin, in unmittelbarer Nähe Fal Morgans einen kurzen Spaziergang zu machen. Der Mond Dorsais hing als eine helle Scheibe am Himmel, und in dem perlmuttenen Licht war die Landschaft um Hal herum in allen Einzelheiten zu erkennen. Er schritt auf den Rand der freien Fläche zu, auf der das Haupthaus und die Nebengebäude errichtet waren, und er sah über den sich vor ihm erstreckenden Hang. Das besondere Muster aus Licht und Schatten und die Felsen jenseits davon erweckten sein Interesse, und Hal setzte sich wieder in Bewegung.

Er befürchtete nicht, sich zu verirren. Von weiter unten waren die Berggipfel ganz deutlich zu sehen, und die stellten gewissermaßen unveränderliche Markierungen dar, die eine einfache Orientierung ermöglichten, insbesondere für diejenigen, die in dieser Region

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aufgewachsen waren. Hal durchquerte die Niederung und erkletterte dann den Felsenhang.

Oben verharrte er und genoß den sich im darbietenden Anblick. Seit einigen Tagen schon hatte er nun immer wieder die gleichen Zimmer durchwandert, und der Aufenthalt im Freien war eine Erleichterung. Selbst in den Bergen auf Harmonie hatte er vergessen, wie es gewesen war, als Junge Ausflüge in die Rocky Mountains zu unternehmen. Jetzt jedoch kehrte dieses Gefühl in ihn zurück. Die Gipfel und Grate stellten keine drohenden und unbekannten Schatten dar, die am vom Mondschein erhellten Horizont in die Höhe ragten. Vielmehr waren sie wie auf der Erde Riesen, in deren Nähe Hal eine Freiheit verspürte, die sich ihm nirgends sonst offenbarte. Er neut setzte er sich in Bewegung, ging mit langen Schritten und atmete tief durch. Tief in seinem Innern bildete sich das Verlangen, sich von allen größeren Pflichten loszusagen und einfach nur zu arbeiten, um an einem Ort wie diesem leben zu können.

Nach einer ganzen Weile schließlich stellte er fest, daß er schon seit Stunden unterwegs war, und erst jetzt bemerkte er, wie stark es sich abgekühlt hatte. Trotz der ständigen Bewegung und des dicken Pullovers, den er trug, war ihm kalt geworden. Darüber hinaus verflüchtigte sich nun das Gefühl, das beim Anblick der Berge in ihm entstanden war, und einmal mehr wurde er sich der Erschöpfung seines Körpers bewußt, dessen Kräfte noch nicht vollständig wiederhergestellt worden waren. Er machte sich auf den Rückweg nach Fal Morgan.

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Als er sich dem Haus näherte, nahm er die Berge in seinem Herzen mit sich. Er trat durch die hintere Tür ein, und er bedauerte es sehr, daß Amanda aufgrund der von ihr selbst errichteten Barriere ihm gegenüber zu einer Person geworden war, der er weder von seiner Wanderung noch den Empfindungen erzählen konnte, die sich ihm dabei offenbart hatten. Hal lachte leise und trocken angesichts dieser Enttäuschung.

Im Haus war es dunkel, und es rührte sich nichts. Hal warf einen kurzen Blick auf sein Chronometer, und er erschrak beinahe bei der Feststellung, rund drei Stunden draußen gewesen zu sein. Amanda hatte ihre Arbeit sicher längst beendet und sich schlafen gelegt.

Zwar konnte er davon ausgehen, daß sie ihn von ihrem Zimmer aus nicht zu hören vermochte, aber Hal setzte trotzdem ganz leise einen Fuß vor den anderen, trat in den Flur und ging in Richtung Wohnzimmer. Überraschenderweise war der große Raum noch immer beleuchtet, und er zögerte. Dann begriff er jedoch, daß das Licht vom Feuer im Kamin stammen mußte – obgleich es eigentlich nicht für Amanda typisch war, sich zur Nachtruhe zurückzuziehen, ohne die Glut gelöscht zu haben.

Vielleicht hatte sie das Feuer für ihn weiterbrennen lassen. Oder sie war noch auf. Leise schritt Hal weiter und ging zunächst von der zweiten Möglichkeit aus. Bevor er noch die Tür des Wohnzimmers erreichte, vernahm er die leise und sanft singende Stimme Amandas.

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Hal wurde plötzlich unsicher und blieb stehen. Dann traf er eine rasche Entscheidung, zog die Stiefel aus und ging weiter – so lautlos, wie es ihm aufgrund seiner besonderen Ausbildung möglich war. Neben der Tür verharrte er erneut und blickte vorsichtig ins Wohnzimmer.

Das Feuer war fast ganz heruntergebrannt, und nur noch einige wenige Flammen leckten über kleinere Holzscheite und warfen einen karmesinroten Schein auf den Boden. Amanda hockte im Schneidersitz auf dem Teppich direkt vor dem Kamin, neben sich eine halbleere Tasse, die offenbar Tee enthielt – die Flüssigkeit darin war milchfarben, und ihren Kaffee trank sie für gewöhnlich schwarz. Sie hatte die Hände auf die Knie gestützt und blickte in die Glut.

Vor dem düsterroten Glanz des Feuers wirkte sie wie ein schlanker und aufrechter Schatten. Hal beobachtete sie von der Seite her. Bekleidet war sie mit ihrer dunkelbraunen Arbeitshose und einem gelben Hemd, das sie auch während des Abendessens getragen hatte. Jetzt jedoch hatte sie den Kragen der Bluse geöffnet und das Haar losgebunden, das ihr nun weich auf die Schultern fiel. Amanda wandte das Gesicht dem Feuer zu und wirkte in Gedanken versunken. In der allgemeinen Stille des Hauses klang ihre Stimme lauter, als es für gewöhnlich der Fall war, gleichzeitig aber sehr sanft und melancholisch, als sie sang:

»… grün fließt das Wasser an meines geliebten Heimes Pracht. Grün sind die Teiche an des Hanges Fuße,

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Dunkel unter Weiden – und vorbei ist die Nacht. Im ersten Licht ein Vogel besingt des Morgens Muße …«

Fast hastig zog sich Hal in die Dunkelheit zurück und bemühte sich, den Rest des Liedes einfach zu ignorieren. Es war, als habe er sie nackt und schlafend überrascht. Lautlos begab er sich in die Küche und blieb dort unschlüssig stehen.

Die im Wohnzimmer singende Stimme Amandas verstummte. Hal atmete tief durch, zog sich wieder die Stiefel an und wandte sich der Tür zu, durch die er zuvor eingetreten war. Er öffnete sie leise, schloß sie betont geräuschvoll und ging dann durch den Flur ins Wohnzimmer.

Amanda stand neben dem Kamin und sah in seine Richtung. Sie betrachtete den Pullover, den er trug, und ihre Pupillen weiteten sich ein wenig. Hal blieb einige Meter vor ihr stehen.

»Ich habe einen Spaziergang gemacht«, sagte er. »Und ich habe mir diesen Pullover aus dem Schrank genommen. Ich hoffe, das war in Ordnung.«

»Selbstverständlich«, erwiderte Amanda. Sie zögerte kurz. »Er gehörte Ian Graeme.«

»Ach, tatsächlich?« »Ja. Während eines Winters hat er ihn für sich selbst

gestrickt.« Sie deutete ein Lächeln an. »Wenn der Winter beginnt und der Schnee kommt, suchen wir nach irgendwelchen nützlichen Beschäftigungen.«

Erneut schloß sich kurzes Schweigen an.

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»Es geht Ihnen also etwas besser?« In dem verblassenden Schein wirkten ihre Augen dunkler, als sie ihn musterte.

»Ja. Doch jetzt bin ich ziemlich müde.« Hal erwiderte das Lächeln Amandas. Ihre Blicke begegneten sich kurz, und dann sah die Frau mit dem weißblonden Haar zur Seite.

»Gute Nacht«, sagte Hal, und als er in den Flur trat und in Richtung seines Zimmers fortging, hörte er im Wohnzimmer die Antwort Amandas: »Gute Nacht.«

Er gelangte in seinen Schlafraum und schloß die Tür hinter sich. Und ihm fiel auf, daß er noch immer den dicken Wollpullover trug. Er zog ihn aus, entledigte sich auch der anderen Kleidung und ließ sich aufs Bett sinken. Er strich mit der einen Hand über den kleinen Nachttisch, und das veranlaßte den Sensor dazu, die Beleuchtung auszuschalten. Von einem Augenblick zum anderen hüllte Dunkelheit ihn ein.

Hal blieb ruhig liegen. Nach einer Weile vernahm er im Flur das Geräusch von Schritten, als Amanda ihr eigenes Zimmer aufsuchte. Anschließend war die Stille im Haus vollkommen. Hal starrte in die Finsternis, und tief in sich spürte er ein kummervolles Verlangen, das er nicht eingehender zu analysieren wagte.

30 Nach dem auf Dorsai gebräuchlichen Kalender war der folgende Tag ein Sonntag. Gemeinsam mit Hal besuchte

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Amanda verschiedene andere in der Nachbarschaft gelegene Heimstätten, deren Bewohner sich bereit erklärt hatten, in Foralie während der bevorstehenden Zusammenkunft der Graucaptains zu helfen.

Eine davon war das Debigne-Anwesen, und Hal sah seine Vermutung bestätigt, daß die besondere Intensität des Wesens Amandas nicht auch von ihrer Schwester geteilt wurde. Es war nötig, daß bereits einen Tag vor dem geplanten Treffen sich jemand in Foralie aufhielt und auch einen Tag länger dort blieb. Darüber hinaus brauchte Amanda Hilfe bei der Zubereitung der Mahlzeiten und anderen Dingen.

Als sie nach dem Mittagessen nach Fal Morgan zurückkehrten, machte Amanda einen Umweg und brachte Hal an einen Aussichtspunkt, der höher gelegen war als ihre Heimstatt. Es handelte sich dabei um eine kleine Wiese auf einem Vorsprung, der kaum groß genug war, um Fal Morgan aufzunehmen. Dort stiegen sie von den Pferden ab, und Amanda holte ein Fernglas aus der Satteltasche.

»Setzen Sie sich«, sagte sie und ließ sich selbst im Schneidersitz im Gras nieder. Hal nahm neben ihr Platz, und sie reichte ihm das Fernglas.

»Sehen Sie dort«, sagte sie und deutete in die entsprechende Richtung. Sie lenkte die Aufmerksamkeit Hals auf einen Bereich, der jenseits und ein wenig unterhalb von Graemeheim gelegen war. Die Dächer des betreffenden Anwesens waren rund einen Kilometer unter und links von ihnen deutlich zu erkennen.

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Hal hob den Feldstecher und hielt damit Ausschau. Er sah eine von Bäumen gesäumte Lichtung, die sich rund achthundert Meter unterhalb des großen Hauses erstreckte.

»Was hat es damit auf sich?« fragte er. »Ursprünglich befand sich Foralie dort – ich meine das

Haupthaus«, erklärte Amanda. »Foralie wurde von Eachan Khan erbaut. Als Cletus seine Tochter Melissa heiratete, errichtete er Graemeheim dort, wo es heute noch steht. Nachdem Cletus Dow de Castries schlug und dessen Pläne zunichte machte, mit der Macht von Alterde alle Jüngeren Welten zu beherrschen, begab sich Melissa zusammen mit ihm nach Graemeheim. Zu jener Zeit war Eachan Khan bereits recht alt, und Melissa überredete ihn dazu, zusammen mit ihr und Cletus in Graemeheim zu wohnen. Daraufhin blieb Foralie leer zurück – mit der kompletten Einrichtung. Eachan schien sich nicht darüber klarwerden zu können, was er damit machen sollte. Eines Nachts dann brannte das Haus auf der Lichtung ab – und seitdem ist Graemeheim das Zuhause der Graemes.«

»Ich verstehe«, sagte Hal. Die Lichtung weiter unten war sicherlich ein geeigneter Ort für ein Haus. Infolge der Bäume war ein Gebäude dort weitaus geschützter als Graemeheim auf dem Felsvorsprung. Er ließ das Fernglas wieder sinken und sah Amanda an.

»Wir hätten dorthin reiten können«, sagte die Frau mit dem weißblonden Haar. »Aber auf der Lichtung selbst gibt es nicht viel zu sehen, und von hier oben aus hat man einen weitaus besseren Überblick.«

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»Ja«, meinte Hal und gab ihr den Feldstecher zurück. »Nein, behalten Sie ihn noch eine Weile«, sagte

Amanda. »Sie können von hier aus auch Fal Morgan sehen – zumindest einen Teil davon. Die Bäume verbergen einige der Nebengebäude. Aber von Graemeheim aus kann man mein Anwesen aufgrund des Waldes überhaupt nicht beobachten.«

»Das stimmt.« Ein weiteres Mal hob Hal das Fernglas und sah in die Tiefe. Anschließend ließ er den Feldstecher einmal mehr sinken und musterte Amanda. Ihre Erklärungen in Hinblick auf die erste Heimstatt der Graemes und die anderen Dinge: Sicherlich ging sie davon aus, daß ihn all das interessierte. Andererseits jedoch hatte Hal das Gefühl, daß sie auch noch einen ganz anderen Grund hatte, ihm davon zu erzählen und ihm von diesem Aussichtspunkt die Lichtung zu zeigen, auf der das ursprüngliche Graemeheim errichtet worden war.

»Nachdem Dow de Castries mit seinen Truppen auf Dorsai gelandet war, um unsere Heimat unter seine Kontrolle zu bringen, kehrte Cletus in das erste Graemeheim zurück, damals, als alle anderen Graemes sich in Außenwelt aufhielten«, fügte Amanda hinzu. »Wußten Sie das?«

Hal nickte. »Das ist schon ziemlich lange her, nicht wahr?«

erwiderte er. »Rund zweihundert Jahre. Damals gab es auf der Erde zwei feindliche Lager: die Allianz und die Koalition. Dow gehörte der Koalition an, und es gelang ihm, die beiden Regierungen unter seiner Kontrolle zu

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vereinen, und anschließend versuchte er mit dieser Macht, die anderen Welten zu unterjochen. Ich habe davon gelesen. Cletus Graeme stellte sich Dow entgegen. Dow sorgte dafür, daß den Dorsai besonders viele Verträge angeboten wurden, so daß die erfahrenen Kämpfer dieses Planeten nach Außenwelt zogen und Dorsai fast schutzlos zurückblieb. Dann landete er mit seiner Streitmacht. Und diejenigen, die hier allein zurückgeblieben waren – die alten Leute, Kinder und Mütter –, vereitelten seine Pläne.«

Er lächelte. »Es gibt nach wie vor Historiker, die der Überzeugung

sind, Dow habe sich selbst erledigt, da Zivilisten keine Elitetruppen schlagen könnten.«

»Glauben Sie das ebenfalls?« fragte Amanda. »Nein.« Hal wurde wieder ernst. »Malachi erzählte mir

davon, als ich noch ein kleiner Junge war. Und bereits damals erschien es mir wie die natürlichste Sache der Welt, daß sich die Dorsai selbst verteidigen können.«

»Die Reputation allein bringt noch nichts zustande«, sagte Amanda. »Jeder Distrikt – Kantone gab es damals noch nicht – mußte für sich allein entscheiden, welche Verteidigungsmaßnahmen ergriffen werden sollten. Cletus ließ nur Arvid Johnson und Bill Athyer zusammen mit sechs anderen erfahrenen Soldaten zurück, um die Bürgerwehr zu organisieren …«

Amanda unterbrach sich, und ihr Blick ging in die Tiefe. Hal beobachtete sie und versuchte herauszufinden, auf was sie hinauswollte. Selbst in ihrer jetzigen sitzenden Position zeichnete sich ihr Leib durch eine

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aufrechte Haltung aus, die sich kein Mann hätte zu eigen machen können, ohne dabei steif zu wirken, und ihr Gesicht hatte die erhabene Qualität eines auf eine Silbermünze geprägten Profils.

»Amanda …«, sagte er ganz sanft. Sie schien ihn nicht zu hören. Und Hal verspürte eine

gewisse Unsicherheit, die ihm riet, ebenfalls zu schweigen. Still saß er neben ihr, überragte sie und kam sich vor wie jemand, der es in keinster Weise mit ihr aufzunehmen vermochte. Er wartete, und nach einer Weile kehrte der Blick Amandas in die Gegenwart zurück, und sie sah ihn an.

»Was sagten Sie gerade?« fragte sie. Hal dachte daran, daß es vielleicht klüger war, sie nicht

erneut auf das anzusprechen, was die Geschichtsbücher als »Verteidigung Dorsais« bezeichneten.

»Mir fiel gerade auf, wie sehr Sie der Frau in dem Gemälde ähneln, das in Ihrem Haus im Flur hängt. War das nicht die erste Amanda? Es könnte ebensogut ein Porträt von Ihnen sein.«

»Auch die zweite Amanda war ihr so ähnlich«, entgegnete die Frau mit dem weißblonden Haar.

»War es nur ein Zufall, daß sie das Gemälde anfertigen ließ, als sie ebenso alt war wie Sie jetzt?«

»Nein.« Amanda schüttelte den Kopf und lächelte fast schelmisch. »Das war gar nicht der Fall.«

»Wie?« Er musterte sie neugierig. Amanda lachte. »Die erste Amanda war wesentlich

älter als ich jetzt, als sie gemalt wurde.«

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Hal runzelte die Stirn. »Das stimmt wirklich«, betonte die Frau neben ihm.

»Wir Morgans altern sehr langsam. Und die erste Amanda war eine ganz besondere Frau.«

»Nicht so besonders wie Sie«, warf Hal ein. »Das ist ausgeschlossen. Sie sind eine vollwertige Dorsai. Und die erste Amanda lebte zu einer Zeit, als dieser Planet gerade erst besiedelt wurde und sich noch keine spezielle Kultur herausentwickelt haben konnte.«

»Da irren Sie sich«, widersprach Amanda rasch. »Sie war bereits eine Dorsai, noch bevor diese Welt so genannt wurde. In gewisser Weise stellte sie schon damals das dar, was die Essenz unserer Kultur ausmacht.«

»Wie können Sie nach zwei Jahrhunderten in dieser Hinsicht so sicher sein?«

Sie drehte den Kopf und bedachte ihn mit einem sonderbaren Blick. »Weil ich so bin wie sie damals.«

Sie versah diese Worte mit keiner besonderen Betonung. Aber dennoch schienen sie mit einer eigentümlichen Intensität in den Ohren Hals widerzuhallen. Er blieb ganz ruhig sitzen, sorgfältig darauf bedacht, in seinem Gesicht nichts von dem zu zeigen, was nun in ihm vor sich ging: Seine innere Wachsamkeit war geweckt.

»Reinkarnation?« fragte er nach einigen Augenblicken. »Nun, das eigentlich nicht«, antwortete Amanda. »Es

ist eher so, als … als spiele die Zeit keine Rolle. Als wenn alles ehern sei … Sie damals, als alles begann, und ich heute …«

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Und plötzlich begriff Hal, was die Frau an seiner Seite beabsichtigte, welche Bedeutung ihren Worten zukam.

»Und Sie heute – am Ende?« fragte er. »Nein.« In ihren türkisfarbenen Augen zeigte sich ein

grauer Schatten. »Das Ende ist erst mit dem Tode des letzten Dorsai er reicht. Und noch nicht einmal dann. Das Ende ist erst dann gekommen, wenn der letzte Mensch stirbt. Denn das, was uns zu Dorsai macht, ist Teil aller Menschen – jener Teil, der in der ersten Amanda erwachte, als sie damals auf der Erde geboren wurde.«

Irgend etwas – vielleicht eine kleine Wolke, die sich kurz vor den hellen Fleck der Sonne schob – beschattete für einen Sekundenbruchteil die Augen Hals. Es gab einen bestimmten Zusammenhang zwischen all den Dingen, von denen sie ihm berichtet hatte, zwischen dem ersten Haus von Foralie, der Verteidigung Dorsais und ihr selbst – einen Zusammenhang, der sich nach wie vor seinem Verständnis entzog.

»Sie respektieren sie sehr«, stellte er fest. »Aber die meisten anderen Menschen denken in erster Linie an Cletus und Donal und die anderen Graemes, wenn sie von dieser Welt sprechen.«

»Seit den Lebzeiten Cletus' hatten wir immer Graemes als erste Nachbarn«, erwiderte sie. »Sie haben ihre Reputation verdient. Doch die erste Amanda war lange vor ihnen hier. Sie gründete unsere Familie. Sie vertrieb die arbeitslosen Söldner aus diesen Bergen, bevor Cletus kam. Und im Alter von dreiundneunzig Jahren verteidigte sie den Foralie-Distrikt gegen die Truppen de Castries, die hier landeten und meinten, sie würden auf

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keine besonderen Schwierigkeiten stoßen, mit den Kindern und Frauen und den Alten und Schwachen fertig zu werden, die hier allein zurückgeblieben waren.«

»Sie hatte also die Leitung über den Foralie-Bezirk?« vergewisserte sich Hal. »Warum denn ausgerechnet sie? War sie einmal Soldat?«

»Nein«, antwortete die dritte Amanda. »Aber wie ich vorhin schon erwähnte: Während der Wirren ganz zu Anfang unserer Geschichte schuf sie Ordnung, indem sie die gesetzlosen Söldner vertrieb. Nachdem sie dieses Problem – und auch andere – löste, wobei sie allein von Zivilisten unterstützt wurde, folgten die restlichen Distrikte ihrem Beispiel, und auf diese Weise wurden die Grundlagen unserer Kultur geschaffen. Als Dow kam, hatte sie deshalb das Kommando, weil sie trotz ihres hohen Alters aufgrund ihrer zurückliegenden Erfahrungen dazu prädestiniert war.«

»Wie schaffte sie es?« »Was meinen Sie: die Vertreibung der Desperados oder

den Sieg über de Castries?« »Nein, ich wollte Sie nicht in erster Linie auf die

Gesetzlosen ansprechen, obwohl mich auch das interessiert«, erwiderte Hal. »Wie gelang es ihr, de Castries zu schlagen, obwohl sich alle Experten darüber einig sind, daß es für Hausfrauen, Kinder und alte Männer unmöglich ist, einen derartigen Sieg zu erringen?«

Amandas Blick reichte an ihm vorbei.

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»Man könnte in gewisser Weise sagen, daß sich die Truppen de Castries selbst schlugen. Kennen Sie Cletus' Werk Die Taktik des Irrtums?«

»Ja«, bestätigte Hal. »Aber als ich mich damit befaßte, war ich noch zu jung, um alles zu verstehen.«

»Nun, wir hielten uns an die darin dargelegten Prämissen: Es ging darum, den Feind zu Fehlern zu veranlassen und unsere Stärke gegen die Schwäche des Gegners in die Waagschale zu werfen.«

»Schwäche? Bei Elitetruppen …?« Erneut sah sie ihn einige Sekunden lang schweigend

an, und der graue Schemen in ihren Pupillen verdichtete sich kurz.

»Sie waren nicht in dem Maß wie wir bereit, zu sterben.«

»Das bereitwillige Akzeptieren des Todes?« Hal furchte verwirrt die Stirn. »Bei alten Leuten? Bei Müttern und …«

»Und Kindern. Ja.« Auf irgendeine Weise brachten ihre Worte eine

Wahrheit zum Ausdruck, deren innere Intensität ihn geradezu verblüffte.

»Die Kultur Dorsais«, fuhr Amanda fort, »wurde von Menschen begründet, die dazu bereit waren, für andere zu kämpfen und zu sterben, um auf diese Weise die Freiheit ihrer Heimat zu gewährleisten. Über diese Eigenschaft verfügen nicht nur die Soldaten, die nach Außenwelt ziehen. Diejenigen, die zu Hause zurückbleiben, haben die gleichen Freiheitsvorstellungen

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– und waren und sind ebenfalls bereit dazu, dafür zu sterben.«

»Aber allein die Akzeptanz des Todes …« »Sie sind nicht hier geboren, und deshalb fällt es Ihnen

schwer zu verstehen«, sagte Amanda. »Unser Sieg wurde in erster Linie dadurch möglich, weil wir dazu in der Lage waren, folgenschwerere Entscheidungen zu treffen als die Soldaten, die gekommen waren, um Dorsai zu besetzen. Vor der Invasion setzten sich die erste Amanda und die anderen Leute des Distrikts, die aufgrund ihrer Erfahrungen zu wichtigen Entscheidungen in der Lage waren, zusammen und berieten einige alternative Pläne. Jeder einzelne Plan ging dabei von nicht unerheblichen Verlusten aus. Und solche Verluste mochten auch den Tod derjenigen bedeuten, die diese Pläne erörterten. Schließlich entschieden sie sich für den, der angesichts einer möglichst geringen Verlustrate die effektivste Verteidigung dem Feind gegenüber versprach. Und nach diesem Beschluß waren diejenigen, die ihn gefaßt hatten, dazu bereit, ihr Leben zu geben, um ein erfolgreiches Durchführen des Planes zu gewährleisten. Die Angreifer hatten keine solche Taktik entwickelt – und auch den eigenen Tod nicht einkalkuliert.«

Hal schüttelte den Kopf. »Ich begreife es nicht«, sagte er. »Vermutlich haben

Sie recht: Ich verstehe deshalb nicht, weil ich kein Dorsai bin.«

Amanda sah ihn einige Sekunden lang nachdenklich an, so wie jemand, der zu einer ganz bestimmten Antwort ansetzen wollte, es sich dann aber anders überlegte.

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»Dann fällt es Ihnen offenbar auch schwer, die erste Amanda zu verstehen«, antwortete sie. »Und ich glaube, das müssen Sie, wenn Sie die Graucaptains überzeugen wollen.«

Hal nickte ernst. »Was geschah damals?« fragte er. »Wie schaffte es die

erste Amanda? Wie schaffen sie es alle?« »In Ordnung«, erwiderte die dritte Amanda. »Ich

erzähle es Ihnen.« Und sie begann ihre Schilderung. Während Hal im

hellen Sonnenschein saß und Amanda ihm so von der Vergangenheit erzählte, als sei sie Teil ihres eigenen Lebens, mußte er erneut an das denken, was sie ihm über die erste Amanda gesagt hatte: daß sie sich in gewisser Weise mit ihr identifizierte. Die Geschichte war nicht sehr lang und kompliziert. Nach der Landung hatten die Truppen Dows ihr Lager am Stadtrand von Foralie aufgeschlagen. Die erste Amanda holte sich von dem Kommandeur die Genehmigung, eine bestimmte Fabrik in der Ortschaft weiterzubetreiben, die für die Wirtschaft des Distrikts von großer Bedeutung war. Der Plan jedoch schrieb diesem Betrieb nun eine ganz neue Rolle zu: Amanda und die anderen sorgten dafür, daß die Atmosphäre in der Stadt selbst und der in der Nähe befindlichen Bereiche mit vaporisiertem Nickelkarbonyl angereichert wurde. Selbst ein nur ganz geringer Anteil reichte aus, um nicht nur zu allergischen Hautausschlägen zu führen, sondern auch unheilbaren Lungenödemen, die nach kurzer Zeit den Tod der Betroffenen zur Folge hatten.

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Die Invasoren waren deshalb zunächst nicht mißtrauisch geworden, weil ganz offensichtlich auch die Bewohner von Foralie-Stadt selbst erkrankten und starben, ebenso wie die Soldaten. Und als sie zum Schluß verstanden, was wirklich vor sich ging, war es für die Streitmacht Dows unfaßbar, daß die alten Männer und Frauen in der Stadt verharrten und den Tod in Kauf nahmen – nur um sicherzustellen, daß ihre Gegner starben.

All dies führte schließlich zu folgender Lage: Dow hielt Cletus als eine Geisel in Foralie fest, als einen Gefangenen, der von gesunden Soldaten bewacht wurde. Einer Kampfgruppe, die aus schon halbwüchsigen und bewaffneten Kindern, den acht professionellen Kämpfern, die von Cletus zurückgelassen worden waren, um die lokale Verteidigung zu organisieren, und Amanda selbst bestand, war es letztendlich gelungen, den endgültigen Sieg zu erringen. Die dreiundneunzigjährige erste Amanda hatte die Soldaten Dows mit der Drohung überwältigt, sie und sich selbst in die Luft zu sprengen, wenn sie sich nicht ergaben.

Die Geschichte war zwar sehr eindrucksvoll, doch Hal wurde insbesondere von der Art und Weise fasziniert, in der Amanda sie ihm erzählte. Es verstärkte sich dabei das Gefühl in ihm, daß sie mit ihren Worten auch noch eine ganz andere Botschaft an ihn zu übermitteln versuchte, etwas, das er noch nicht verstand. Er empfand einen gewissen Zorn auf sich selbst, weil er sich ihr gegenüber als so unsensibel erwies. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als nur zu warten und zu hoffen, daß ihm

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ein Schlüsselwort von einem Augenblick zum anderen das Verständnis jener Botschaft ermöglichte.

So blieb er weiterhin ruhig im hellen Sonnenschein sitzen, und er hörte nicht nur die Geschichte von der Verteidigung des Foralie-Distrikts, sondern auch die von Kensies Tod auf Santa Maria. Er erfuhr darüberhinaus, wie die zweite Amanda, die sowohl Kensie als auch Ian geliebt hatte (letzteren allerdings mit größerer innerer Hingabe), zu dem Entschluß gelangt war, keinen von beiden zu heiraten. Doch selbst als sie sich nach einer Weile wieder auf die Rücken der Pferde schwangen, begriff Hal nach wie vor nicht, was die dritte Amanda ihm die ganze Zeit über hatte verständlich machen wollen. Während der Schilderungen der Frau war die Zeit nicht stehengeblieben. Und als sie den Vorhof Fal Morgans erreichten, hing der helle Fleck Fomalhauts bereits tief über dem Horizont.

»Und in mir«, betonte Hals Begleiterin zum Abschluß, »leben sowohl die erste als auch die zweite Amanda weiter.«

Bis zu der Zusammenkunft der Graucaptains ergab sich ihnen nicht noch einmal die Möglichkeit, ein längeres Gespräch zu führen. Am nächsten Tag – Montag – mußte Amanda einen geschäftlichen Besuch machen. Am Dienstag hatte sie erneut außerhalb von Fal Morgan zu tun und half dabei, Graemeheim für die bevorstehende Konferenz vorzubereiten. Hal blieb in ihrer Heimstatt zurück, und er dachte ebensooft über Amanda nach wie darüber, wie er die Graucaptains überzeugen sollte. Tief in ihm klebte eine Art Düsternis – die Amanda

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seltsamerweise gut zu verstehen schien –, etwas, das ihn davor zurückschrecken ließ, Foralie schon vor der wichtigen Zusammenkunft aufzusuchen.

Die Graucaptains, die einen besonders langen Reiseweg hatten, trafen Dienstagabend ein und wurden von Amanda und den Nachbarn in Empfang genommen, die ihr bei den häuslichen Pflichten zur Hand gingen. Erst am späten Abend kehrte sie nach Fal Morgan zurück. Und nach einer raschen Mahlzeit setzte sie sich mit Hal ins Wohnzimmer, um vor der Nachtruhe noch ein Gläschen zu trinken.

»Sie sagten doch, ich müßte die meisten derjenigen überzeugen, die an dem Treffen teilnehmen«, überlegte Hal laut, als sie vor dem Kamin Platz genommen hatten. »Was für einen Prozentsatz meinten Sie?«

Sie wandte den Blick von den Flammen ab und deutete ein Lächeln an. »Wenn es Ihnen gelingt, siebzig Prozent der anwesenden Graucaptains auf Ihre Seite zu ziehen, so können Sie von einem Erfolg ausgehen«, erwiderte sie. »Diejenigen, die nicht zugegen sind, werden verhältnismäßig ebenso reagieren, nachdem sie mit den anderen gesprochen haben.«

»Siebzig Prozent«, wiederholte er, drehte das kleine Glas nachdenklich hin und her und starrte im unsteten Schein des Feuers auf die braune Flüssigkeit, an der er kaum genippt hatte.

»Erwarten Sie keine Wunder«, erklang erneut die Stimme Amandas, und als Hal aufsah, bemerkte er, daß sie ihn unentwegt beobachtete. »Niemand – abgesehen von Cletus und vielleicht auch Donal – hat jemals alle

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Graucaptains überzeugen können. Siebzig Prozent genügen für Ihre Zwecke völlig. Damit können Sie sehr zufrieden sein. Ich sagte es Ihnen ja schon: Wir Dorsai bilden uns alle selbst eine Meinung, und auf die Graucaptains trifft das in einem ganz besonderen Maß zu.«

Hal nickte. »Wissen Sie schon, was Sie ihnen sagen wollen?«

fragte Amanda nach einer kurzen Pause. »Zum Teil«, erwiderte er, und sein Blick klebte

weiterhin an dem Whiskyglas fest. »Ich meine damit den Teil, bei dem es um die Botschaft der Exoten geht. Was den Rest anbelangt, muß ich mir noch etwas einfallen lassen.«

»Wenn Sie es so schildern, wie an Ihrem ersten Abend mir, haben Sie sicher keine Schwierigkeiten«, sagte Amanda.

Er musterte sie überrascht. »Glauben Sie?« »Ich bin sogar ganz sicher«, sagte sie. Er sah sie weiterhin forschend an und versuchte, sich

an das zu erinnern, was er ihr an jenem Abend erzählt hatte.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir das alles ins Gedächtnis zurückrufen kann«, antwortete er gedehnt.

»Dazu sind Sie bestimmt imstande – wenn es nötig ist.« Diesen Worten, so fühlte Hal, kam eine spezielle Bedeutung zu. Amanda griff nach ihrem immer noch halbvollen Glas und stand auf.

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»Ich bin ziemlich müde«, sagte sie und musterte ihn erneut eine Sekunde lang. »Und Sie wahrscheinlich auch.«

»Ja«, bestätigte Hal. »Aber ich würde hier gern noch eine Weile sitzen bleiben. Um das Feuer kümmere ich mich.«

»Denken Sie bitte an den Kaminschirm …« Amanda verließ das Wohnzimmer. Nach rund zwanzig

Minuten seufzte er, streckte die Hand über den Schirmsensor aus und erhob sich. Der Schirm schloß sich vor dem Kamin, und der Glanz der letzten Flammen verblaßte fast augenblicklich, als ihnen die Sauerstoffzufuhr abgeschnitten wurde. Hal leerte sein Glas, brachte es in die Küche zurück und legte sich schlafen.

Der Beginn der Konferenz in Graemeheim war für eine Stunde nach Mittag angesetzt. Eine halbe Stunde vorher sattelten Amanda und Hal ihre Pferde und ritten los.

Hal war nicht besonders auf ein Gespräch versessen, und Amanda schien das zu spüren und blieb ebenfalls still. Er hatte eigentlich damit gerechnet, daß er sich zu diesem Zeitpunkt in Gedanken bereits all die Argumente zurechtlegte, die er während der Besprechung verwenden konnte. Statt dessen war er sonderbar ruhig und hatte das Gefühl, als bliebe ihm noch viel Zeit bis zum Treffen.

Hal war klug genug, mental nichts herbeizwingen zu wollen. Er konzentrierte sich auf nichts und nahm nur einfach das in sich auf, was ihm seine Sinne während des Rittes vermittelten.

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Als sie den großen Felsvorsprung erreichten, auf dem Graemeheim errichtet worden war, sahen sie einige Dutzend Air-Raumwagen, die vor dem Hauptgebäude geparkt waren. Sie stiegen an der Koppel vor dem Stall ab, und durch das offene Küchenfenster vernahmen sie viele Stimmen. Sie nahmen den Pferden Sättel und Zaumzeug ab, führten sie in die Koppel und betraten anschließend das Haus.

Im Wohnzimmer hielten sich nur zwei Personen auf, die in den Polstersesseln Platz genommen hatten und sich unterhielten. Die eine war eine stämmige, schwarzhaarige Frau mit einem verkniffenen Gesicht, in dem die Nase wie ein großer Haken aussah, und bei ihrem Begleiter handelte es sich um einen Mann, der ebenfalls gut sechzig Jahre alt sein mochte und recht klein war und gerötete Wangen hatte.

»Miriam Songhai, Rourke di Facino«, sagte Amanda, »dies ist Hal Mayne.«

»Erfreut, Sie kennenzulernen«, lautete die gemurmelte Antwort.

»Ich sage den anderen Bescheid«, fügte di Facino hinzu, stand auf und hielt auf die eine Tür des Wohnzimmers zu. Amanda blieb bei Hal.

»Sie sind also der junge Mann«, sagte Miriam, und ihre Stimme klang ungewöhnlich laut.

»Ja«, bestätigte Hal. »Setzen Sie sich«, sagte Miriam. »Es wird eine Weile

dauern, bis sich die anderen alle eingefunden haben. Woher stammen Sie?«

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»Von der Erde … von Alterde«, erwiderte Hal und nahm in dem Sessel Platz, in dem zuvor di Facino gesessen hatte.

»Erzählen Sie mir etwas über sich«, bat Miriam. »Wann haben Sie Ihre Heimat verlassen?« Und Hal begann damit, ihr einen Teil seines persönlichen Hintergrunds zu schildern.

Aber schon nach kurzer Zeit wurden sie von anderen unterbrochen, die einzeln oder zu zweit das Wohnzimmer betraten, und Amanda nahm die jeweiligen Vorstellungen vor. Bald wurde die Fortführung des Gesprächs mit Miriam ganz unmöglich, und Hal bemerkte, daß der große Raum voller Menschen war.

»Sind jetzt alle anwesend?« fragte ein großer und leichenblasser und mindestens achtzig Jahre alter Mann. Sein lauter Baß schien gar nicht zu ihm zu passen. »Dann sollten wir Platz nehmen und beginnen.«

Daraufhin drängte die Menge in Richtung der Tür, die ins Eßzimmer führte, und Hal folgte den Graucaptains. Unmittelbar vor dem Eingang des Eßzimmers zögerte er, gab sich dann aber einen Ruck und ging weiter. In dem langen Raum herrschte nun nicht länger ein halbdunkles Zwielicht, in dem sich Phantome manifestieren mochten. Jetzt waren die schweren Vorhänge beiseite gezogen, und das fast grelle und weiße Licht Fomalhauts spiegelte sich an dem grauen und steilen Hang hinter Graemeheim wider, und in dem hellen Schein wirkte alles, Lebendiges als auch Unbelebtes, auf besondere Weise real und wirklich. Als Hal weiterging, sah er Amanda, die neben

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dem einzelnen Stuhl am oberen Ende des Tisches stand und ihm zuwinkte.

Er nahm an der entsprechenden Position Platz, und Amanda wählte einen Stuhl rechts von ihm, in einer Entfernung von einigen Metern. Der Raum füllte sich rasch, und bald saßen alle Graucaptains an dem langen Tisch. Hal ließ seinen Blick über die Gesichter der mehr als dreißig Personen gleiten: Sie alle warteten nun darauf, daß er das Wort ergriff.

31 Während sie ihn noch alle ansahen und warteten, erwachte in Hal eine Bewußtheit, die er in dieser Intensität noch nie zuvor empfunden hatte.

Später wurde er nach und nach vertrauter mit diesem Gefühl, aber bei dieser Gelegenheit war es seine erste entsprechende Erfahrung. Mit einer Art Schock begriff er, daß es Augenblicke geben konnte, während denen das Universum stillzustehen schien, Sekunden, in denen alles erstarrte – bis auf das eigene Denken und Empfinden. Hal spürte, wie sich ihm eine sonderbare und doppelte Wahrnehmung offenbarte. Er betrachtete seine Umgebung gleichzeitig aus zwei verschiedenen Perspektiven: einerseits direkt und unmittelbar und andererseits aus einer gewissen Entfernung. Es war, als sei er gleichzeitig Beobachter und Beobachteter. Plötzlich sah er sich selbst als Teil einer Struktur, die eine imaginäre Trennlinie aufwies. In diesem einen

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Augenblick, in diesem Bruchteil einer Sekunde, war die Trennung von sich selbst perfekt. Und der getrennte und beobachtende Teil seines Geistes nahm kühle und leidenschaftslose Analysen vor, zu denen auch eine Untersuchung seines eigenen Erkenntnisstands gehörte.

Dies versetzte ihn dazu in die Lage, zum erstenmal vollständig zu verstehen, was die Bewohner von Foralie-Stadt dazu veranlaßt haben mochte, trotz des drohenden Todes in ihren Häusern zu verweilen. Denn wenn eine derartige Entscheidung anstand, so ging damit eine enorm sensibilisierte Art der Selbstwahrnehmung einher, des Erkennens der eigenen Wertigkeit, der eigenen Wünsche und Hoffnungen im Vergleich mit dem, was darüber hinausging, und daß ließ keinen Platz für Furcht oder Egoismus.

Angesichts dieser neuen Art von Bewußtheit war Hal so sehr erstaunt, daß er zunächst nicht auf das Warten der versammelten Graucaptains reagierte. Rourke de Facino, der links von Hal saß, fast ganz am anderen Ende des Tisches, ergriff anstelle Amandas das Wort.

»Nun, Amanda? Sie deuteten an, es gäbe einen sehr wichtigen Grund für diese Zusammenkunft. Jetzt sind wir hier.«

Bisher hatte Hal noch keinen Eindruck von der Akustik im Eßzimmer gewinnen können. Di Facino hatte in einem ganz normalen Tonfall gesprochen, aber trotz der Distanz von mehr als einem Dutzend Metern konnte ihn Hal deutlich verstehen.

»Ich sagte, es gäbe gute Gründe, Hal Mayne zuzuhören, Rourke«, erwiderte Amanda. »Und diese

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Meinung vertrete ich nach wie vor. Einer davon ist der, den ich bereits erwähnte: Hal Mayne wurde von den Exoten Maras geschickt, um uns eine Botschaft zu übermitteln. Aber darum allein geht es bei diesem Treffen nicht.«

»Na schön«, sagte di Facino. »Ich habe das nur erwähnt, weil die Morgans immerhin dafür bekannt sind, dann und wann Dinge zu sehen, die es überhaupt nicht gibt.«

»Wahrscheinlich ist es eher so«, hielt ihm Amanda entgegen, »daß wir Dinge sehen, vor denen andere die Augen verschließen, Rourke.«

Sie lächelten sich höflich und wie alte Konkurrenten an. Hals Ichteilung dauerte noch immer an, und während er die Graucaptains beobachtete, fiel ihm auf, daß Amanda wie eine hell glänzende Leuchtboje inmitten einer Masse aus wesentlich dunkleren Baken war. Das durchschnittliche Alter der Graucaptains betrug gut fünf zig Jahre, und in ihrer Jugend sah Amanda fast wie ein kleines Mädchen aus, dem es gelungen war, den älteren der Familie abzuringen, an einer wichtigen Besprechung teilzunehmen.

»Wie dem auch sei …«, erklang die volle und laute Stimme Miriam Songhais. »Wir hier auf Dorsai haben keine Vorurteile gegen Leute, die eine spezielle Sensibilität aufweisen und aufgrund ihrer Empfindsamkeit Dinge wahrnehmen, die nicht unbedingt auf die eine oder andere Weise gemessen werden können. Das hoffe ich doch jedenfalls.«

Sie wandte sich Hal zu.

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»Wie lautet die Botschaft der Exoten?« fragte sie. Hal musterte die Gesichter der Wartenden. Im

Vergleich mit denen der fünf Exoten auf Mara zeigten sie einen großen Unterschied – einen Unterschied, der sich insbesondere in einer gewissen Ruhe und Stille manifestierte. Die Exoten hatten sich physisch ebenfalls nicht bewegt, und doch war sich Hal der inneren Konflikte in jedem einzelnen von ihnen bewußt gewesen. Diejenigen aber, die nun am langen Tisch saßen, offenbarten keine derartigen internen Auseinandersetzungen. Sie waren hier zu Hause, und er, Hal, weilte als Fremder unter ihnen; ihre Aufgabe bestand darin, die Entscheidung zu treffen, die sie als notwendig erachteten. In dem durch die Fenster hereinfallenden hellen Sonnenlicht gab es keinen Platz für Phantome und die Erinnerungen, mit denen Hal während seines ersten Aufenthalts in Graemeheim konfrontiert worden war. Er fühlte sich isoliert und hilflos, und er befürchtete, die Männer und Frauen nicht von seinem Standpunkt überzeugen zu können.

»Ich war ohnehin auf dem Weg nach Dorsai«, sagte er. »Aber zufälligerweise machte ich vorher Zwischenstation auf Mara. Und die Exoten, mit denen ich dort sprach …«

»Einen Augenblick bitte«, unterbrach ihn ein untersetzter und gut fünfzigjähriger Mann mit dichtem, grauem Haar. Hal versuchte, sich an den Namen zu erinnern, den Amanda ihm bei der entsprechenden Vorstellung genannt hatte: Ke Gok oder K'Gok. »Warum

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haben sie sich dazu entschieden, nicht persönlich hierher zu kommen, sondern Sie zu schicken?«

»Ich kann Ihnen das sagen, was sie mir auftrugen«, erwiderte Hal. »Ich nehme an, Amanda hat Ihnen erzählt, daß ich bei drei Mentoren aufgewachsen bin, von denen einer ein Dorsai war …«

»Da wir gerade dabei sind«, warf Amanda ein. »Kennt jemand von Ihnen eine Familie namens Nasuno? Ihre Heimstatt müßte sich auf Skalland befinden.«

Es schloß sich kurzes Schweigen an, und dann sagte der alte und leichenblasse Mann, dessen Namen Hal trotz seines geschulten Gedächtnisses vergessen hatte:

»Skalland ist eine der Inseln in meinem Distrikt, und nachdem Sie mich anriefen, Amanda, dachte ich mir schon, daß Sie eine solche Frage stellen würden. Leider jedoch konnte ich in der knappen mir noch zur Verfügung stehenden Zeit keine Familie solchen Namens finden. Was natürlich nicht bedeutet, daß es sie nicht gibt – oder vor einer Generation gab.«

»Ich halte es für unmöglich, daß sich selbst auf der Erde jemand mehr als zehn Jahre lang glaubhaft als ein Dorsai ausgeben kann, wenn er es in Wirklichkeit nicht ist«, erwiderte Ke Gok. »Aber ich würde nach wie vor gern wissen, warum die Exoten annehmen, jemand, der von einem Dorsai unterrichtet wurde, sei besonders dafür geeignet, als ihr Botschafter zu fungieren.«

»Meine beiden anderen Mentoren waren ein Exote von Mara und ein Quäker von Harmonie«, sagte Hal. »Und offenbar waren die Exoten der Meinung, daß jemand, der gewissermaßen aus mehreren Kulturen stammt, sich hier

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besser verständlich machen kann als jemand, der auf Mara oder Kultis aufwuchs.«

»Kommt mir noch immer seltsam vor«, sagte Ke Gok. »Zwei Welten mit Tausenden von Experten – und sie entschieden sich für jemanden von der Erde …«

»Darüberhinaus führten sie einige ontogenetische Berechnungen durch«, fügte Hal hinzu, »deren Resultate darauf hinwiesen, daß mir für diese Aufgabe eine gewisse historische Bedeutung zukommt.«

Hal hatte sich die ganze Zeit davor gefürchtet, eine solche Bemerkung machen zu müssen, und er hatte eine besonders allgemeine Formulierung gewählt, um keine Vorurteile bei Leuten hervorzurufen, die aufgrund ihrer sehr praktisch orientierten Einstellung die theoretischen und recht langfristig angelegten Beschäftigungen der Exoten mit der Ontogenese zumindest mit einer gewissen Skepsis betrachteten. Es erleichterte ihn, als er feststellte, daß keiner der Graucaptains Zweifel von dieser Art zeigte, und Ke Gok gab sich ebenfalls mit der Antwort zufrieden.

Eine schlanke und attraktive Frau namens Lee – sie hatte große braune Augen und grauschwarzes Haar – hob den Kopf. »In wel cher Hinsicht hielt man Sie auf Mara für historisch wichtig?« fragte sie.

»Wichtig im Zusammenhang mit der gegenwärtigen historischen Situation – insbesondere der von den Anderen geschaffenen Lage«, erklärte Hal. »Und das ist gleichzeitig die Lage, um die es mir persönlich geht und über die ich mit Ihnen sprechen möchte, nachdem ich Ihnen die Botschaft der Exoten übermittelt habe …«

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»Ich glaube, wir interessieren uns für alles, was Sie uns zu sagen haben – sowohl für die Nachricht der Exoten als auch die anderen Dinge«, sagte Lee. »Doch zuerst möchten Ihnen einige von uns Fragen stellen.«

»Gern«, erwiderte Hal. »Ich verstehe Sie also richtig?« fragte Lee. »Die

Exoten machen sich Sorgen über die Anderen. Und sie schicken Sie als ihren Botschafter, weil sie der Ansicht sind, Sie seien eher dazu in der Lage, uns zu überzeugen, als jemand, der auf Mara oder Kultis aufwuchs?«

Hal atmete tief durch. »Das stimmt in der Tat«, bestätigte er. Lee lehnte sich zurück und wirkte sehr nachdenklich. »Was ist mit Ihnen, Amanda?« fragte di Facino. »Sind

Sie Teil des Planes, uns eine exotische Denkweise nahezulegen?«

»Rourke«, sagte Amanda, »Sie wissen ganz genau, daß das Unsinn ist.«

Er lächelte. »War nur eine Frage.« »Halten Sie uns in Zukunft bitte nicht mit solchen

Fragen auf.« Sie musterte die anderen Anwesenden, und als sich

niemand zu Wort meldete, blickte sie Hal an. »Fahren Sie fort«, sagte sie.

Hal sah sich ebenfalls im Kreis der Versammelten um. Die Mienen der Graucaptains waren ausdruckslos.

»Ich glaube, ich sollte nicht Ihre Zeit verschwenden, indem ich Ihnen von Dingen berichte, über die Sie bereits Bescheid wissen«, sagte er. »Die interstellare Situation

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wird derzeit fast ausschließlich von den Anderen kontrolliert, und ihr langfristiges Ziel ist kein Geheimnis. Sie wollen die vollständige Macht erringen. Und um das zu erreichen, müssen sie all diejenigen ausschalten, die niemals gemeinsame Sache mit ihnen machen würden – einige Quäker von Harmonie und Eintracht und praktisch alle Exoten und Dorsai. Die Exoten sind der Ansicht, daß die Anderen aufgehalten werden müssen, und zwar solange das noch möglich ist. Sie glauben, daß von allen Gegnern der Anderen nur die Dorsai dazu in der Lage sind. Und sie schicken mich, um Ihnen folgendes mitzuteilen: Wenn Sie dazu bereit sind, den Kampf gegen die Anderen aufzunehmen, so erhalten Sie von den Exoten alles, was sie Ihnen geben können, jede Art von Unterstützung.«

Er schwieg. Die Graucaptains sahen ihn so an, als rechneten sie mit

einer Fortsetzung seines kurzen Vortrags. »Das ist alles?« frage Ke Gok. »Wie sollen wir denn

die Anderen aufhalten? Glauben die Exoten etwa, wir hätten das nicht schon längst getan, wenn wir eine entsprechende Möglichkeit sähen?«

Kurze Stille schloß sich an. Hal dachte daran, seine vorherigen Worte zu erläutern, überlegte es sich dann aber anders.

»Warten Sie …«, sagte der alte und leichenblasse Mann. »Sie verlangen doch nicht … Machen uns die Exoten etwa den alten Vorschlag, wir sollten alle unsere Prinzipien vergessen und zu Mördern werden?«

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Hal hatte das Gefühl, als sei es plötzlich eiskalt in dem großen Raum geworden. Betroffen beobachtete er die sich nun verhärtenden Züge der Graucaptains.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich war dazu verpflichtet, Ihnen diese Botschaft zu übermitteln. Ich habe den Exoten bereits klarzumachen versucht, daß Sie einen derartigen Vorschlag niemals akzeptieren würden.«

Erneut folgte kurzes Schweigen. »Und warum waren Sie dazu verpflichtet?« fragte

Miriam Songhai. »Weil ich auf diese Weise die Chance erhielt«,

antwortete Hal ruhig und geduldig, »zu Ihnen allen zu sprechen und Ihnen das darzulegen, was ich persönlich für die einzige Möglichkeit halte, mit den Anderen fertig zu werden.«

Miriam runzelte nachdenklich die Stirn. »Vielleicht«, sagte di Facino, und obgleich seine

Stimme ganz leise war, konnten ihn die anderen aufgrund der guten Akustik des Eßzimmers deutlich verstehen, »begreifen sie gar nicht, wie sehr sie uns damit beleidigen.«

»Vermutlich nicht – zumindest nicht in einem emotionalen Sinn«, meinte Hal. »Aber selbst, wenn es den Exoten klar wäre: Sie hätten Ihnen trotzdem einen solchen Vorschlag machen müssen, weil sie keinen anderen Ausweg sehen.«

»Was er Ihnen verdeutlichen will«, warf Amanda ein, »ist folgendes: Die Exoten fühlen sich hilflos. Und Leute, die sich hilflos fühlen, versuchen alles.«

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»Ich glaube«, sagte der totenbleiche Greis, »Sie sollten den Exoten diese Antwort geben: An dem Tag, an dem sie ihre Prinzipien aufgeben, nach denen sie dreihundert Jahre lang gelebt haben, können sie erneut eine derartige Bitte an uns richten. Und selbst dann lautet unsere Antwort: nein.«

Er sah sich in dem langen Zimmer um. »Was würde denn aus uns, nähmen wir eine solche

Möglichkeit wahr, um uns zu retten? Was hätte es dann für einen Sinn, daß wir all die vielen Jahre lang ein ehrbares Leben geführt haben? Wenn wir jetzt die Arbeit von Mördern machten, wären wir nicht nur keine Dorsai mehr, sondern gäben all das auf, was wir in den vergangenen Jahrhunderten erreicht haben!«

Keiner der anderen Graucaptains nickte und bestätigte dies mit einer eigenen Wortmeldung, aber ihre Gesichter machten deutlich, daß sie ebenfalls dieser Meinung waren.

»Na schön«, sagte Hal. »Ich werde es den Exoten ausrichten. Aber da Sie jetzt alle hier versammelt sind: Darf ich Sie fragen, was Sie in Hinsicht auf die Anderen zu unternehmen gedenken, bevor Sie von ihnen ausgehungert werden?«

Hal sah Amanda an, aber die junge Frau beobachtete nur ihn und ihre Kollegen und gab keinen Ton von sich. Es war Miriam Songhai, die auf seine Frage antwortete.

»Wir haben keine entsprechenden Pläne«, sagte sie. »Ganz im Gegensatz zu Ihnen, wenn ich mich nicht irre. Erzählen Sie uns davon.«

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Hal atmete tief durch und ließ seinen Blick über die Gesichter der Anwesenden schweifen.

»Auch ich habe keinen konkreten Plan«, erwiderte er. »Doch ich glaube, ich kann die Basis zur Verfügung stellen, die das Entwickeln eines solchen Planes ermöglicht. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist ein Verständnis der historischen Situation, die aufgrund des bisherigen Erfolgs der Anderen entstand. Im Grunde genommen haben wir es derzeit mit der letzten Phase eines bestimmten Prozesses der menschlichen Evolution zu tun. Die Bedrohung durch die Anderen verkörpert im Prinzip nichts weiter als eine Einstellung, die als ein Aspekt unter vielen anderen in der ganzen Spezies existiert. Und wir – Sie Dorsai, die Exoten, diejenigen Quäker, die nach wie vor an ihrem Glauben festhalten, und einige andere Menschen auf verschiedenen Welten – personifizieren die entgegengesetzte Haltung. Bei den Faktoren, die diesen Konflikt einem entscheidenden Höhepunkt entgegentreiben, handelt es sich um natürliche historische Kräfte in der allgemeinen Menschheitsentwicklung. Wir haben es also nicht nur allein mit dem ehrgeizigen Streben nach Macht der Anderen zu tun, sondern mit einer darüber hinausgehenden Krise. Der Tag der letzten Schlacht, Harmagedon, steht unmittelbar bevor …«

Hal sprach weiter, und die Graucaptains hörten ihm aufmerksam zu. Das durch die Fenster fallende Licht ließ die lange und glatte Oberfläche des Tisches wie vom Wind poliertes Eis glänzen. Die versammelten Männer und Frauen rührten sich nicht und schwiegen, und in ihrer Reglosigkeit sahen sie aus wie für die Ewigkeit

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geschaffene Statuen. Hal lauschte dem Klang der eigenen Stimme, und er sprach die Worte aus, die er auch schon an die Exoten gerichtet hatte. Er schilderte die Lage, wie er sie auch Amanda an seinem ersten Abend in Fal Morgan beschrieben hatte. Doch seine Zuhörer gaben durch nichts zu verstehen, ob er mit seinen Darstellungen etwas in ihnen berührte, ob er sie überhaupt erreichte. Tief in seinem Innern nahm die Furcht zu, er könne auch diesmal versagen. Die Worte, die er formulierte, schienen einfach nur in der Stille zu verhallen und keinen Eingang zu finden in jene rationalen Bewußtseinssphären, die sich bereits eine feste Meinung gebildet hatten.

Er warf Amanda einen kurzen Blick zu, und er hoffte darauf, daß sie ihm mit irgendeinem Zeichen Mut machte. Aber das war nicht der Fall. Sie sah ihn nur einfach ruhig an, und in ihren türkisfarbenen Augen glaubte er die gleiche Botschaft zu erkennen wie in den starren Mienen der anderen Anwesenden. Hal seufzte innerlich. Es hatte keinen Sinn, die Graucaptains auch weiterhin mit Worten in Schach zu halten, über die sie nicht nachzudenken bereit waren. Also beendete er seine Schilderung.

Einige Sekunden lang war es vollkommen still. Einige der Männer und Frauen bewegten sich – so wie Leute, die zu lange in einer bestimmten Position gesessen hatten. Hier und dort räusperte sich jemand.

»Hal Mayne«, sagte Miriam Songhai schließlich, »was für einen Plan haben Sie persönlich? Was beabsichtigen Sie zu tun?«

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»Ich werde mich von Dorsai aus auf den Weg zur Letzten Enzyklopädie machen«, erwiderte er. »Dort befinden sich die meisten Informationen, die ich noch brauche, um die Situation in ihrer ganzen Komplexität zu verstehen. Und sobald ich auf dieser Grundlage eine umfassende Einschätzung der Lage vorgenommen habe, werde ich den Plan entwickeln, nach dem Sie mich gerade fragten.«

»Und in der Zwischenzeit?« warf Ke Gok ironisch ein. »Wollen Sie uns etwa darum bitten, daß wir uns einfach nur bereithalten und Ihre Anweisungen abwarten?«

Verzweiflung stieg in Hal empor. Er hatte erneut versagt. Und es gab keine Magie, keine Phantome, die ihm dabei helfen konnten, die Graucaptains doch noch zu überzeugen. Dies war die nackte Wahrheit – das Unverständnis, über den Horizont der eigenen kulturellen Begrenztheit hinauszusehen. Ganz plötzlich entstand eine tiefe Verbitterung in ihm, und es war, als lege sich eine schwere Hand auf seine Schulter.

»Ich schlage Ihnen tatsächlich vor, sich bereitzuhalten und Anweisungen abzuwarten – von irgend jemandem«, hörte er sich mit ein wenig heiserer Stimme antworten.

Es kam einem Schock gleich, dem Echo dieser Worte zu lauschen. Die Stimme gehörte ihm, und es waren auch seine eigenen Worte. Aber die Entscheidung, ausgerechnet diese Antwort zu geben, hatte ein Aspekt seines Ichs getroffen, der sich seiner bewußten Kontrolle entzog, der so weit von seinem eigentlichen Bewußtsein entfernt war wie die Phantome, die er an diesem Tisch

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hatte sprechen hören. Er spürte eine jähe Kraft, die sich in ihm zusammenballte.

»Wenn ich das Glück habe, die Gesamtsituation als erster in allen ihren Einzelheiten zu verstehen«, fuhr er in dem gleichen schonungslosen Tonfall fort, »so könnten die Anweisungen tatsächlich von mir stammen.«

»Ich will Ihnen nicht zu nahetreten, Hal Mayne«, warf di Facino ein, »aber darf ich mich nach Ihrem Alter erkundigen?«

»Ich bin einundzwanzig Standardjahre alt«, sagte Hal. »Haben nicht auch Sie selbst den Eindruck«, fuhr di

Facino fort, »daß Sie eine ganze Menge von Leuten wie uns verlangen – die für eine Zeitspanne, die das Zwei- oder Dreifache Ihres gesamten Lebens beträgt, große Verantwortung getragen haben –, indem Sie uns auffordern, Ihnen einfach zu vertrauen? Und nicht nur das: Sie fordern uns sogar dazu auf, auf der Basis dieses Vertrauens die Bevölkerung eines ganzen Planeten zu mobilisieren. Sie kommen zu uns, ohne irgendwelche Beglaubigungen oder Empfehlungen vorweisen zu können – abgesehen von einer hohen Bewertungsrate aufgrund irgendwelcher exotischer Theorien. Und dies ist keine Welt der Exoten.«

»Empfehlungen«, erwiderte Hal trocken, »werden in dieser Angelegenheit niemals auch nur die geringste Bedeutung haben. Wenn ich die Antworten finde, nach denen ich suche, brauche ich keine Empfehlungen mehr, um Ihnen oder irgendwelchen anderen Leuten etwas zu beweisen. Wenn ich aber versage, wird entweder jemand anders die betreffenden Antworten finden – oder

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niemand. Was auch immer geschehen mag: Auf Beglaubigungs- oder Empfehlungsschreiben kommt es nicht an. Die Exoten wissen das.«

»Tatsächlich?« fragte di Facino. »Haben sie Ihnen das gesagt?«

»Sie haben es mir gezeigt«, sagte Hal. Die sonderbare Kraft, deren Brodeln er tief in sich verspürte, trieb ihn weiter an. Es war, als benutze jemand anders seine Sprechwerkzeuge, und die Verbitterung war einer messerscharfen Logik gewichen. »Indem sie mich mit ihrer Botschaft hierher schickten – obwohl sie wußten, daß Sie ihren Vorschlag mit ziemlicher Sicherheit ablehnen würden –, gaben sie mir die Möglichkeit, Ihnen meinen Standpunkt zu beschreiben, ohne daß ihn die Exoten in irgendeiner Weise billigten. Wenn Sie mich akzeptieren, so bleibt den Exoten keine andere Wahl, als langfristig Ihrem Beispiel zu folgen. Wenn Sie mich aber ablehnen, so kommt ihnen keine Verantwortung für das zu, was ich Ihnen berichtete.«

»Wir haben Sie noch nicht akzeptiert«, stellte Ke Gok klar.

»Aber Sie werden irgend jemanden akzeptieren müssen, wenn Sie mit der gegenwärtigen Situation fertig werden wollen«, erwiderte Hal. »Sie selbst waren es, der vor einigen Augenblicken sagte, Sie hätten die Anderen schon längst aufgehalten, wenn Sie eine entsprechende Möglichkeit dazu sähen. Doch das ist nicht der Fall. Ich hingegen repräsentiere eine derartige Chance – vielleicht. Und wir haben nicht die Zeit, auf andere mögliche Lösungen zu warten. Vielleicht haben die

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Anderen ihre Position inzwischen schon so festigen können, daß wir nicht einmal mehr dann dazu in der Lage sind, erfolgreich gegen sie vorzugehen, wenn wir alle unsere Kräfte vereinen. Sie und die Exoten sind Verbündete – ob Ihnen das nun gefällt oder nicht. Wenn Sie sich nicht mit dieser Tatsache abfinden und die Konsequenzen daraus ziehen, werden Sie und die Exoten für sich allein dem Untergang anheimfallen – was sich bereits ankündigt. Im Ge gensatz zu den Exoten sind Dorsai allerdings Menschen der Tat. Sie dürfen Ihre Augen nicht vor einer allgemeinen Notwendigkeit verschließen, wenn sich eine derartige Lage ergibt. Die einzige Hoffnung für Sie und die Exoten besteht darin, daß jemand kommt, der Sie beide zusammenführt. Und bisher bin ich der einzige, der Ihnen einen solchen Vorschlag macht.«

»Noch ist es nicht erwiesen, daß eine solche Notwendigkeit besteht«, warf der leichenblasse Mann ein.

»Da irren Sie sich.« Hal blickte dem Graucaptain direkt in die fast schwarzen Pupillen. »Mit Dorsai geht es bereits bergab. Ihre Welt wird allmählich isoliert und vom Nachschub an interstellaren Krediten abgeschnitten. Wie Sie alle wissen, geht das auf die Manipulationen der Anderen zurück, die in Hinsicht auf andere Welten ähnliche Maßnahmen ergriffen haben. Ganz offensichtlich handelt es sich dabei nicht um ein Problem, das allein auf Sie und die Anderen beschränkt ist. Wir haben es hingegen mit folgender Situation zu tun: Ein Teil der Menschheit, der auf verschiedenen Planeten lebt, steht dem anderen gegenüber. Aber das

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brauche ich Ihnen gegenüber sicher nicht extra zu betonen, denn Sie sollten fähig sein, es selbst zu erkennen.«

»Aber es gibt keine Garantie dafür«, sagte Lee sanft, »daß die Lage in einem Harmagedon resultieren muß – mit all den Folgen, die so etwas für uns hätte, die wir die Kämpfer der Menschheit sind.«

»Sehen Sie sich die Situation einmal genauer an, wenn Sie wirklich glauben, ich hätte übertrieben«, antwortete Hal. »Die entsprechende Entwicklung dauert nun schon seit dreißig Jahren an. Während sie voranschreitet, wächst sie exponential – sowohl was die Anzahl der beteiligten Personen angeht, als auch in Hinblick auf die Komplexität. In was sollte sie sonst gipfeln, wenn nicht in der letzten Schlacht? Es sei denn natürlich, Sie und die Exoten und die restlichen Menschen, die auf unserer Seite stehen, sind dazu bereit, all das aufzugeben, woran Sie bisher glaubten. Denn genau das ist es, worauf die Anderen letztlich aus sind.«

»Wie können Sie sich in diesem Punkt so sicher sein?« fragte Lee. »Warum sollten die Anderen die Entwicklung bis zu diesem Punkt vorantreiben?«

»Wenn sie es nicht tun, sind sie es, die innerhalb einer Generation von der Bühne der menschlichen Evolution verschwinden werden, und das wissen sie ganz genau«, erklärte Hal. »Es ist, als ritten sie auf einem Tiger – sie können es nicht wagen, von ihm herunterzuspringen, weil sie sonst gefressen werden könnten. Noch sind sie zu wenige. Ihre einzige Möglichkeit, als Einzelperson Sicherheit zu erlangen, besteht darin, auf den Welten –

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und damit meine ich alle von Menschen bewohnten Welten – alle Gefahren für sie zu beseitigen. Das wiederum bedeutet eine komplette Neuorientierung der Gesellschaft. Es bedeutet, daß die Anderen zu Herren werden und der Rest der Menschheit zu Dienern. Das haben die Anderen längst begriffen. Und um all der Dinge willen, an denen Ihnen etwas liegt: Sie müssen es ebenfalls verstehen.«

An seine Worte schloß sich ein langanhaltendes Schweigen an. Während Hal auf eine Reaktion wartete, arbeitete sein Verstand noch immer mit der seltsamen Erkenntnisschärfe, die in ihm entstanden war.

»Es ist trotzdem eine Theorie von Ihnen – diese Vorstellung einer historischen Konfrontation zwischen zwei feindlichen Lagern der Menschheit«, sagte Miriam Songhai dumpf. »Wie können Sie von uns verlangen, einen Vorschlag zu erwägen, mit dessen Grundlagen wir nicht vertraut sind?«

»Prüfen Sie die Situation mit den Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln«, riet Hal. »Es sind keine exotischen Berechnungen notwendig, um zu erkennen, wann und wie die Anderen begannen, welche Fortschritte sie machten und welches Ziel sie anstreben. Sie wissen besser als ich, wie schwer es Ihnen inzwischen fällt, lukrative Außenweltverträge abzuschließen und sich interstellare Kredite zu verdienen. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem die Anderen all diejenigen kontrollieren, die Ihnen Kontrakte anbieten könnten. Was wird dann aus Dorsai?«

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»Aber ihre Einschätzung als eine historische Kraft, die zudem noch alle Vorteile auf ihrer Seite hat und sich gegen die Evolution selbst richtet …«, sagte der leichenblasse Mann und schüttelte den Kopf. »Das ersetzt den gesunden Menschenverstand mit Phantastereien.«

»Würden Sie auch das, was bereits auf allen Welten – abgesehen von Alterde – geschieht, ebenfalls als Phantasterei bezeichnen?« hielt ihm Hal entgegen. »Und es hat sich auf den betreffenden Planeten nicht allein deswegen zugetragen, weil die Anderen es insbesondere auf sie abgesehen hatten. Ihre Spezialität ist es vielmehr, zuerst dort zuzuschlagen, wo sie auf keine Gegenwehr stoßen. Derzeit gibt es keine wirkungsvolle Verteidigungsmöglichkeit gegen sie. Wie sonst soll es ihnen möglich gewesen sein, innerhalb von nur dreißig Jahren zu einem interstellaren Machtfaktor heranzuwachsen?«

Hal hielt inne und musterte die Anwesenden. In den Augen Amandas schimmerte ein sonderbarer Glanz, fast ein Glitzern des Triumphs.

»Die gegenwärtigen Kulturen haben derzeit nichts«, fuhr Hal fort, »um es mit ihrem Charisma und der besonderen Struktur ihrer Organisation aufnehmen zu können. Wenn es gelänge, alle Anderen vor ein interplanetares Gericht zu stellen, so würde ich mein Leben darauf verwetten, daß es nicht möglich wäre, auch nur einen von ihnen zu verurteilen. Die meiste Zeit über brauchen sie andere Menschen nicht einmal dazu zu zwingen, sich auf die von ihnen gewünschte Weise zu

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verhalten. Sie binden Männer und Frauen mit den Charakteren an sich, die sie für nützlich halten, und anschließend konfrontieren sie die Betreffenden mit jener Situation, für die sie sich aufgrund ihres individuellen Wesens am besten eignen; aus eigener Initiative reagieren sie dann genau auf die von den Anderen angestrebte Art und Weise.«

Hal drehte langsam den Kopf und ließ seinen Blick über die Gesichter der Graucaptains schweifen.

»Um Ihrer selbst willen: Betrachten Sie die allgemeine Lage«, fuhr er fort. »Überlegen Sie. Die Exoten hätten zu Beginn jeden einfachen Versuch vereiteln können, alle Welten ökonomisch unter Druck zu setzen. Sie auf Dorsai wären dazu fähig gewesen, militärische Gefahren aus der Welt zu schaffen. Aber gegen die Anderen waren sowohl Sie als auch die Exoten hilflos – denn sie griffen nicht auf die traditionelle Art an. Ihre Attacke zeichnet sich durch eine ganz neue Qualität aus, eine, mit der niemand rechnete. Und sie gewinnen. Denn die Struktur der menschlichen Gesellschaft verändert sich. Und wie immer muß das Alte dem Neuen weichen.«

Er unterbrach sich kurz. »Finden Sie sich mit dieser Tatsache ab«, sagte Hal.

»Sie, die Exoten, die Quäker und all die anderen, die an dem alten Leben festhalten wollen: Sie können den Anderen nicht so widerstehen, wie sie in der Vergangenheit Feinden widerstanden. Wenn Sie das versuchen, werden Sie verlieren und den Anderen einen leichten Sieg ermöglichen. Aber es gibt die Möglichkeit, es erfolgreich mit ihnen aufzunehmen und sich ihnen

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gegenüber durchzusetzen – wenn Sie Teil des neuen historischen Gefüges werden, dessen Formen sich derzeit abzuzeichnen beginnen.«

Erneut machte Hal eine kurze Pause, und diesmal wartete er auf Bemerkungen oder Zwischenfragen. Doch die Versammelten blieben stumm und beobachteten ihn nur.

»Die Anderen sind keine Aliens«, fuhr Hal fort. »Sie sind Menschen wie wir, mit einem Wesensunterschied, der ausreichen könnte, alle Welten unter ihre Kontrolle zu bringen. Und wie ich schon sagte: All dies ist nur ein weiteres Beispiel für die immerwährende Ablösung des Alten durch das Neue. Das Problem diesmal besteht nur darin, daß das Neue, das die Anderen zu entwickeln beabsichtigen, für die ganze Spezies eine Sackgasse darstellt. Die Menschheit als Ganzes kann nicht in der Stasis überleben, mit einem Herrn für jeweils Millionen von Sklaven. Wenn das geschieht, ist der Tag des Untergangs gekommen.«

Niemand von den am Tisch sitzenden Männern und Frauen rührte sich. Sie hörten Hal weiterhin zu.

»Das dürfen wir nicht zulassen«, fügte er hinzu. »Aber wenn wir die Anderen aufhalten wollen, können wir nicht alles so lassen, wie wir es gewöhnt sind. Auch das würde Stasis bedeuten – und das Ende der Rassenentität. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als uns mit den Fakten abzufinden. Erneut ist die Struktur der menschlichen Gesellschaft im Wandel begriffen. Und wie immer müssen wir uns diesem Wandel entweder anpassen, oder aber zu Außenseitern werden, die

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schließlich dem Untergang geweiht sind. Hier auf Dorsai müssen Sie sich darauf vorbereiten, von vielen Dingen Abschied zu nehmen, denn Sie sind eine Splitterkultur, der es insbesondere darauf ankam, gemäß Ihrer Tradition zu leben. Doch es führt kein Weg an der notwendigen Anpassung vorbei – für die Zukunft Ihrer Kinder und der Kinder Ihrer Kinder. Lassen Sie mich es noch einmal betonen: Es geht in der gegenwärtigen Lage nicht darum, das zu erhalten, was die Dorsai, Quäker und Exoten in mehreren Jahrhunderten harter Arbeit schufen, sondern um das Überleben der ganzen Menschheit.«

32 Schließlich hielt Hal inne und wartete auf eine Reaktion. Diesmal dauerte das Schweigen seiner Zuhörer an. Ihre Blicke waren nun auf die Tischoberfläche gerichtet, auf die Wand oder das Fenster, und jedes Gesicht wirkte nachdenklich und betroffen.

»Mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen«, beendete Hal seinen Vortrag.

Daraufhin richteten sich die Blicke der Graucaptains wieder auf ihn, und Miriam Songhai seufzte.

»Es fällt mir nicht leicht, all die Dinge zu verarbeiten, die Sie uns gerade geschildert haben«, sagte sie. »Ich glaube, ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken.«

Andere Stimmen murmelten zustimmend. Der leichenblasse Mann stand auf.

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»Für mich ist das nicht nötig«, sagte er und sah Hal direkt an. »Ihre Worte beantworteten alle Fragen, die ich Ihnen hätte stellen können. Sie haben mich überzeugt. Aber ich kann mich nicht mit der von Ihnen dargestellten Konsequenz abfinden.«

Er sah seine am Tisch sitzenden Kollegen an. »Sie kennen mich«, fuhr er fort. »Ich bin bereit, alle

Entscheidungen zu unterstützen, die ich für unser Volk als notwendig erachte. Aber ich habe ein Leben lang für die Art von Heimat gekämpft, wie wir sie heute haben. Ich kann mich jetzt nicht verändern. Und ich bin nicht dazu bereit, tatkräftig bei der erwähnten Anpassung mitzuwirken. Wenn Sie den neuen Weg beschreiten wollen, den Hal Mayne uns gerade aufzeigte, so werde ich Sie nicht begleiten.«

Damit wandte er sich zur Tür um. Zwei weitere Männer und eine Frau erhoben sich ebenfalls und folgten ihm. Auch Ke Gok machte Anstalten aufzustehen, ließ sich dann aber wieder auf den Stuhl sinken. In der Tür blieb der totenbleiche Greis stehen und drehte sich noch einmal um.

»Es tut mir leid«, sagte er an die Adresse Hals gerichtet.

Dann verließ er das Eßzimmer, zusammen mit den drei anderen Graucaptains.

»Ich nehme an«, brach Hal die folgende Stille, »die meisten von Ihnen möchten wie Miriam Songhai über meine Worte nachdenken. Für den Fall, daß mich noch jemand von Ihnen sprechen möchte: Ich kann eine weitere Woche auf Dorsai bleiben. Dann jedoch werde

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ich mich, wie bereits gesagt, auf den Weg zur Letzten Enzyklopädie machen.«

»Sie treffen ihn in Fal Morgan an«, warf Amanda ein. Damit war die Zusammenkunft beendet. Hal hatte angenommen, daß er zusammen mit Amanda

sofort nach Fal Morgan zurückritt. Statt dessen jedoch verblieben rund fünfzehn der Graucaptains im Eßzimmer und stellten ihm weitere Fragen nach seiner Einschätzung der Situation. Erstaunlicherweise gehörte auch Ke Gok zu ihnen.

Wie Hal kurz darauf erfuhr, handelte es sich um diejenigen Männer und Frauen, die die historische Situation bereits vor der Konferenz auf ähnliche Weise eingeschätzt hatten wie Hal – was allerdings nicht bedeutete, daß sie auch seine Schlüsse daraus zogen. Nach der bei den Exoten erlebten Enttäuschung empfand es Hal geradezu als ein Vergnügen, die Einzelheiten mit ihnen zu diskutieren. Die Leute waren es gewöhnt, Probleme zu analysieren, und ganz offensichtlich akzeptierten sie ihn als jemanden, der die gleiche Haltung wie sie vertrat.

Gleichzeitig jedoch empfand Hal auch ein gewisses Unbehagen und wurde sich einer Veränderung bewußt, während er sich im großen Wohnzimmer mit den Graucaptains unterhielt. Eine Zeitlang hatte er im Eßzimmer einen Mantel der Gewißheit getragen, einer so absoluten und unerschütterlichen Überzeugung, daß er nicht einmal über die Worte nachdenken mußte, die er an die Versammlung richtete. Sie hatten sich von ganz allein zu Sätzen aneinandergereiht, auf der Grundlage

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der Notwendigkeit, sich den Graucaptains verständlich zu machen. Jetzt aber, da er sein Publikum bereits halb überzeugt hatte, schmolz dieser Gletscher aus innerer Standfestigkeit. Seine normalen Ausdrucksfähigkeiten reichten völlig aus, doch trotzdem empfand er den Unterschied zu der messerscharfen Rationalität im Eßzimmer als verblüffend. Er versprach sich selbst, herauszufinden zu versuchen, was während des Vortrags zu der beeindruckenden Veränderung in ihm geführt hatte – sobald sich ihm eine Gelegenheit dazu bot.

Erst fünf Stunden später ritten Amanda und Hal nach Fal Morgan zurück.

»Was meinten Sie mit den ›guten Gründen‹, die Sie Rourke gegenüber erwähnten?« fragte Hal seine Begleiterin, als sie schon ein ganzes Stück von Graemeheim entfernt waren.

»Ich habe den Graucaptains vor dem Treffen mitgeteilt, Sie wiesen stärkere Bindungen an Dorsai auf, als man auf den ersten Blick meinen könnte.«

Hal dachte einige Sekunden lang über diese Antwort nach.

»Und was antworteten Sie denjenigen, die Sie fragten, um was für Bindungen es sich dabei handele?«

»Ich sagte ihnen, es sei meine besondere Sensibilität, die sie mich wahrnehmen ließen.« Während sie ritten, wandte Amanda kurz den Kopf zur Seite und sah ihn offen an. »Ich sagte ihnen, sie sollten mir vertrauen und kommen – oder zweifeln und zu Hause bleiben.«

»Und die meisten kamen …« Hal nickte langsam. »Ich verdanke Ihnen eine Menge. Aber ich würde auch gern

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mehr von Ihrer ›besonderen Sensibilität‹ erfahren, da es offenbar einen Zusammenhang zwischen ihr und mir gibt. Würden Sie mir mehr davon erzählen?«

Sie blickte in die Ferne. »Das könnte ich schon«, antwortete sie. »Doch ich

glaube, in diesem Fall sollte ich das besser nicht.« Eine Weile sagte niemand von ihnen etwas. »Wie Sie meinen«, erwiderte Hal dann.

»Entschuldigen Sie bitte.« Ganz plötzlich zog sie an den Zügeln und zwang ihr

Pferd dazu, stehenzubleiben. Hal folgte ihrem Beispiel, und er zuckte innerlich zusammen, als er sah, mit welcher Intensität sie ihn anstarrte.

»Warum haben Sie mich das gefragt?« platzte es aus Amanda heraus. »Sie wissen doch, was in Graemeheim mit Ihnen geschah!«

Er musterte sie kurz. »Ja«, erwiderte er schließlich. »Aber woher wissen Sie

davon?« »Ich fand Sie dort«, erinnerte sie ihn. »Und ich ahnte,

daß sich so etwas zutragen würde.« »Warum?« fragte Hal. »Was veranlaßte Sie zu einer

solchen Annahme?« »Weil ich etwas in Ihnen sah, an Ihrem ersten Abend

hier.« Ihr Tonfall war scharf und herausfordernd. »Sie erinnern sich nicht, oder? Wissen Sie wenigstens noch, daß Sie mir sagten, wie sehr Sie sich mit Donal identifizieren – weil er von seiner Familie und den

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Ausbildern an der Akademie immer für recht sonderbar gehalten wurde?«

In Hals Gedächtnis hallte das Echo seiner eigenen Worte wider.

»Ich glaube schon«, gestand er ein. »Woher wußten Sie das von ihm?« »Vermutlich hat mir Malachi davon erzählt«,

entgegnete Hal. »Malachi Nasuno«, hielt Amanda ihm entgegen, »kann

darüber unmöglich informiert gewesen sein. Die Graemes erzählten Außenstehenden nichts von sich selbst, nicht einmal den Morgans. Und die Ausbilder an der Akademie hätten davon ebenfalls nichts verlauten lassen.«

Hal blieb ruhig im Sattel sitzen und gab keinen Ton von sich. Ihm fiel keine passende Antwort ein.

»Nun«, fügte Amanda nach einer Weile hinzu. »Aus welchem Grund nahmen Sie an, Donal sei isoliert gewesen? Wie kamen Sie darauf, daß seine Ausbilder ihn für sonderbar hielten? Haben Sie das vielleicht alles nur erfunden?«

Noch immer schwieg Hal. Amanda trieb ihr Pferd wieder an, und aus einem Reflex heraus folgte Hal ihrem Beispiel. Erneut ritten sie Seite an Seite.

Nach einer Weile schließlich räusperte sich Hal. Er starrte nach vorn, und die Worte, die ihm über die Lippen kamen, waren nicht in erster Linie an die Adresse Amandas gerichtet, sondern galten dem Universum im allgemeinen.

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»Nein«, sagte er. »Was auch immer der Fall sein mag: Erfunden habe ich das gewiß nicht.«

Sie ritten weiter. Hinter der Stirn Hals herrschte plötzlich ein einziges Chaos, und Amanda unterbrach seine Gedankengänge nicht. Als sie vor dem Stall Fal Morgans abstiegen, nahm sie ihm die Zügel aus der Hand.

»Ich kümmere mich um die Pferde«, sagte sie. »Gehen Sie ruhig ins Haus und denken Sie gründlich nach.«

Hal kam ihrer Aufforderung nach, doch anstatt sich in sein Zimmer zu begeben, suchte er den Wohnraum auf. Die Beleuchtung schaltete sich bei seinem Eintreten automatisch ein, und die jähe Helligkeit schmerzte ihm in den Augen. Er strich mit der Hand über den nächsten Sensor, und daraufhin wurde es wieder dunkel. Das einzige Licht stammte nun von der Küche und dem Flur. Hal nahm in seinem Sessel vor dem Kamin Platz und starrte blicklos auf die Holzscheite in der kalten Feuerstelle.

Es herrschte ein sonderbares Durcheinander aus Empfindungen in ihm. Zum einen fühlte er sowohl eine tiefe Erleichterung als auch einen gewissen Triumph. Der andere Teil seines Bewußtseins jedoch war in Schwermut getaucht, in eine tiefe Trauer darüber, allein und von allen anderen isoliert zu sein. Das Erinnerungsbild des leichenblassen Mannes, der sich in der Tür umdrehte, um ihm zu sagen, daß es ihm leid tat, wollte nicht von ihm weichen. Hal war sich sehr intensiv all der Dinge bewußt, die der Greis zu verlieren hatte. Er wußte, daß all diejenigen, die sich ihm anschlossen, den

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Großteil dessen einbüßen würden, wofür sie ihr Leben lang gearbeitet und gekämpft hatten. Aber ihre Verluste mochten noch größer sein, wenn sie nicht mit ihm gegen die Anderen antraten. Dennoch konnte Hal nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, daß der Anpassungsprozeß an das sich bereits ankündigende Neue notwendigerweise schmerzhaft sein mußte.

Nur unbewußt hörte er, wie sich die Küchentür öffnete und schloß, und anschließend vernahm er das Geräusch der Schritte Amandas. Sie ging durch den Flur, betrat das Wohnzimmer – und blieb ganz abrupt stehen.

»Hal?« Der nun völlig veränderte und unsichere Klang ihrer Stimme richtete ihm die Nackenhaare auf. »Sind Sie das … Hal?«

Er reagierte aus einem Reflex heraus, stand auf und drehte sich zu ihr um, noch bevor er bemerkte, daß sich sein Körper bewegte.

Er überragte Amanda. Zuvor war er sich nicht in diesem Maß seiner Größe im Vergleich mit der so jung wirkenden Frau bewußt gewesen. Es schien fast so, als sei sie kleiner geworden, als habe sie an der Wand, an der sie lehnte, ein jäher Schrumpfungsprozeß erfaßt. Trotzdem: Die Ursache ihres Erschreckens war ihm ein Rätsel. Sie waren allein. Und als sie sich ganz nahe gegenüberstanden und anblickten, krampfte sich etwas in Hal dabei zusammen, sie so ängstlich zu sehen.

Vorsichtig griff er nach Amandas Schultern, und es kam einem Schock gleich festzustellen, wie fragil sie sich in seinen großen Händen anfühlte. Er hielt sie sanft

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fest und trat langsam hinter sie, schob sie von der Wand fort und auf einen der Sessel vor dem Kamin zu.

»Nein«, sagte sie und schloß die Augen, als sie den Sessel erreichten. Sie wich von ihm fort und nahm Platz. Hal ließ sich in den Sessel ihr schräg gegenüber sinken und musterte sie. Seine Augen hatten sich inzwischen an das in dem großen Zimmer herrschende Zwielicht gewöhnt, und er bemerkte, wie blaß das Gesicht Amandas war.

»Es ist alles in Ordnung …«, sagte sie nach einigen langen Sekunden, und ihre Stimme war dabei kaum mehr als ein Flüstern. Sie schlug die Augen wieder auf und fügte wie benommen hinzu: »Es war nur einen Augenblick lang so, als … Nun, ich bin davon ausgegangen, daß Sie sich in Ihrem Zimmer befinden. In seinen letzten Lebensjahren wurde er sehr schlank, aber sein Haar blieb schwarz – so wie das Ihre. Er … Manchmal vergaß er, das Feuer anzuzünden. Und er saß so in dem Sessel wie Sie: ein wenig nach vorn gebeugt. Es war … ein Schock.«

Hal starrte sie groß an. »Ian«, erwiderte er. »Sie meinen … Ian.« Seine Empfindungen für sie ermöglichten ihm ein

plötzliches Verstehen. »Sie liebten ihn.« Selbst mit seiner ganzen Willenskraft

wäre es ihm nicht möglich gewesen, den Blick von ihrem Gesicht abzuwenden. »In seinem damaligen Alter?«

»Das Alter spielt keine Rolle«, sagte Amanda. »Alle Frauen liebten ihn.«

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Hal hatte das Gefühl, als zersplittere etwas in ihm. Amandas Reaktion auf das, was er für sie verspürte, all das, was er zu verstehen geglaubt hatte – nichts weiter als ein Irrtum. In gewisser Weise war er für sie nur ein emotionaler Ersatz für einen schon seit Jahren toten Mann gewesen – einen Mann, der alt genug gewesen war, daß er ihr Großvater hätte sein können.

»Ich war sechzehn, als er starb«, erklärte Amanda. Und dann begriff Hal. Es mußte schon schlimm genug

für sie gewesen sein, zu lieben und zu wissen, daß der betreffende Mann diese Art von Liebe unmöglich erwidern konnte. Aber gewiß war es nahezu unerträglich für sie gewesen, ihn alt werden und sterben zu sehen. Die Leere, die seine vorherige Erkenntnis in ihm hatte entstehen lassen, wurde von dem Verlangen ausgefüllt, ihr Trost zu spenden. Er beugte sich nach vorn und streckte die Arme aus.

»Nein«, sagte Amanda rasch. »Nein.« Er lehnte sich wieder zurück, und erneut empfand er

den Schmerz. Natürlich wollte sie nicht von ihm berührt werden – gerade jetzt nicht. Das hätte er wissen sollen.

Einige Minuten lang saßen sie schweigend vor dem Kamin, und Hal sah Amanda nicht an. Dann stand er mit fast steif wirkenden Bewegungen auf und entzündete das Feuer. In der rasch entstehen den Wärme und dem sich verstärkenden Glanz der kleinen Flammen, die rasch über das Holz leckten und größer wurden, wagte es Hal schließlich wieder, den Blick auf Amanda zu richten. Die Farbe war in ihr Gesicht zurückgekehrt, aber ihre Züge wirkten noch immer geradezu leblos und erstarrt. Sie

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stützte die Arme auf die Lehnen des Sessels und saß kerzengerade.

»Ihr Vortrag heute war sehr gut«, sagte sie. »Besser, als ich hoffte«, erwiderte Hal. »Nicht nur das«, fügte Amanda hinzu. »Ich meine, er

war wirklich sehr, sehr gut. Ich sagte es Ihnen ja: DasÜberzeugen von siebzig Prozent der anwesenden Graucaptains kommt einem Sieg gleich. Nur vier von insgesamt einunddreißig Personen wandten sich von Ihnen ab – und gerade diesen vier Leuten konnten Sie Ihren Standpunkt so deutlich machen, daß ihnen aufgrund ihres Wesens gar keine andere Wahl blieb, als zu gehen.«

»Vermutlich haben Sie recht«, sagte Hal. Für einige Sekunden verspürte er erneut einen Hauch der Erleichterung und des Triumphs. »Aber zu Anfang sah es ganz so aus, als sollten meine Bemühungen erfolglos bleiben. Dann stellte Rourke di Facino eine ganz bestimmte Frage, die etwas in mir auslöste und es mir ermöglichte, den Graucaptains meine eigentliche Botschaft zu vermitteln. Haben Sie das bemerkt?«

»Ja«, bestätigte Amanda. Ihre sehr knappe Antwort ermutigte ihn nicht, weiter

über die mentale Explosion an Überzeugungskraft zu sprechen, zu der es während der Versammlung auf so überraschende Weise in ihm gekommen war. Er wandte sich um und schürte das Feuer. Als er sich umdrehte, war Amanda aufgestanden.

»Ich sollte uns jetzt besser etwas zu essen machen«, sagte sie, und sie schüttelte den Kopf, als Hal aufstehen

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wollte. »Nein. Bleiben Sie nur hier sitzen. Ich bringe Ihnen etwas.«

Sie trat mit einigen raschen Schritten an den Tisch mit den Gläsern heran, schenkte eins mit Whisky voll und reichte es ihm.

»Entspannen Sie sich«, sagte Amanda. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich rufe in Omalu an und kläre die Frage Ihrer Passage zur Letzten Enzyklopädie.«

Hal nahm das Glas entgegen, lächelte und nippte daran. Amanda erwiderte das Lächeln und verließ das Wohnzimmer. Hal stellte das Glas auf den kleinen Tisch neben sich.

Derzeit stand ihm nicht der Sinn nach Dorsai-Whisky. Aber Amanda würde es sicher auffallen, wenn er nicht mindestens ein wenig davon trank. Deshalb nahm Hal nach und nach einige Schlucke, und er hatte das Glas fast geleert, als Amanda mit einem Tablett zurückkehrte, auf dem zwei Teller mit warmen Mahlzeiten standen. Als sie das Tablett auf dem kleinen Tisch zwischen den beiden Sesseln abstellte, teilte es sich in zwei Hälften, und die eine davon reichte sie Hal.

»Danke«, sagte er. »Es riecht sehr gut.« »Es gibt da ein Problem, über das Sie nachdenken

sollten«, meinte Amanda und griff nach ihrem eigenen Teller. »Ich habe mich mit dem Raumhafen in Omalu in Verbindung gesetzt. Es gibt ein Schiff, das nach Freiland fliegt, und von dort aus können Sie zur Erde Weiterreisen. Es startet morgen um die Mittagszeit. Wenn Sie diesen Liner nicht nehmen wollen, müssen Sie drei Wochen oder noch länger warten. Wann das nächste

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Schiff geht, läßt sich nicht genau sagen. Aber drei Wochen dauert es bis dahin bestimmt. Wollen Sie den Graucaptains so viel Zeit zum Nachdenken geben?«

»Ich verstehe, was Sie meinen«, erwiderte Hal und ließ die Gabel sinken. Amanda sah ihn mit dem besorgten Interesse eines Gastgebers an. »Sie haben recht. Vielleicht sollte ich wirklich mit dem Liner fliegen, der morgen startet.«

»Es ist wirklich schade«, meinte die Frau mit dem weißblonden Haar. »Wenn Sie noch eine Woche bleiben könnten, hätten einige Ihrer gestrigen Zuhörer die Möglichkeit, sich eingehender mit Ihnen zu unterhalten. Früher einmal war es überhaupt nicht schwierig, praktisch jederzeit von Omalu aus eine Passage nach irgendeinem bewohnten Planeten zu bekommen. Doch diese Zeiten sind vorüber.«

»Ja, wirklich schade«, erwiderte Hal. »Aber ich sollte doch besser das morgige Schiff nehmen.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht.« Sie senkte den Blick und aß weiter. »Ich nehme an, Sie verfügen über ausreichend interstellare Kredite?«

»Oh, ja«, antwortete er. »Das ist kein Problem.« Die neu entstandene Leere in Hal tat seinem Appetit

keinen Abbruch. Und der ermüdende Effekt der guten Mahlzeit betäubte seine Empfindungen und ließ ihn gewahr werden, wie müde er war. Sie sprachen noch ein wenig über die Pläne für den nächsten Tag.

»Ich glaube, einige von denen, die sich heute in Graemeheim ver sammelten, könnten den Wunsch haben, Ihnen noch die eine oder andere Frage zu stellen«,

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sagte Amanda. »Ich rufe sie an und sage ihnen Bescheid. Wir könnten den Raumhafen schon recht früh aufsuchen und uns im dortigen Restaurant unterhalten, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Oh, natürlich nicht«, erwiderte Hal. »Aber vielleicht sollte ich es sein, der sich an die Graucaptains wendet …«

»Nein«, meinte Amanda. »Ruhen Sie sich aus und schlafen Sie, Ich habe noch so viel zu tun, daß ich ohnehin noch einige Stunden aufbleiben muß.«

»Gut«, sagte Hal. »Danke.« »Nichts zu danken.« Kurz darauf ging er zu Bett, und die Dunkelheit in

seinem Zimmer verdichtete sich schließlich zu einem erholsamen Schlaf.

Hal schlief tief und fest. Er erwachte, als Amanda ihn über die interne Komverbindung anrief, und als er den Kopf vom Kissen hob, sah er ihr Abbild auf dem Schirm.

»In zwanzig Minuten wird gefrühstückt«, sagte sie. »Sie sollten sich beeilen.«

»In Ordnung«, erwiderte Hal noch halb benommen. Als er die Küche betrat, fiel das helle Licht des neuen Tages durch die Fenster. Er nahm am Tisch Platz. Ein Teller mit dickflüssiger Suppe und ein Tablett mit Brot standen schon für ihn bereit. Amanda setzte sich zu ihm.

»Wie möchten Sie nach Omalu reisen?« fragte sie. Hal kaute Brot. »Gibt es denn mehrere

Möglichkeiten?«

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»Zwei«, erklärte ihm Amanda. »Wir könnten nachfragen, ob einer der Nachbarn heute nach Omalu fliegt. Oder wir rufen in Omalu an und beordern ein Beförderungsmittel hierher. Ganz egal, wofür Sie sich entscheiden: Sie müssen bezahlen. Natürlich könnte ich Sie zum Raumhafen bringen. Aufgrund meiner Arbeit steht mir ein eigener Air-Raumwagen zur Verfügung.«

Hal runzelte die Stirn. Den Worten Amandas schien eine ganz spezielle Bedeutung zuzukommen.

»Und in einem solchen Fall brauchte ich nicht zu bezahlen«, erwiderte er langsam. »Aber Dorsai kann meine interstellaren Kredite doch gut brauchen, oder?«

»Das stimmt«, bestätigte Amanda. »Wenn Sie es sich leisten können, sie auszugeben …«

»Kein Problem«, erwiderte er. »Sagen Sie mir nur, was Sie für den Flug verlangen.«

»Es genügt mir völlig, wenn Sie die Kosten für den Treibstoff begleichen.« Sie stand auf. »Ich hole den Wagen aus der Garage. Essen Sie ruhig zu Ende und packen Sie dann ihre Sachen zusammen. Sie finden mich beim Stall.«

Hals Gepäck war nicht sonderlich umfangreich und bestand nur aus den wenigen Dingen, mit denen er sich nach Fal Morgan begeben hatte. Das Wichtige aber, das er nun zusätzlich mit sich nahm, von der Welt Dorsai und insbesondere von Fal Morgan und Foralie, war immaterieller und mentaler Natur.

Als sie starteten, war der Himmel ebenso klar und unbewölkt wie an den anderen Tagen, die Hal an diesem Ort verbracht hatte.

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Und eine gute Stunde später durchstieß der Air-Raumwagen die dichte Wolkendecke über Omalu.

Unterhalb der Wolken regnete es. Sie gingen auf dem Landefeld nieder, das für den planetaren Verkehr reserviert war und sich auf der anderen Seite des Terminals erstreckte, der Betonfläche gegenüber, auf der die interstellaren Raumschiffe aufsetzten.

Kurz darauf betraten sie das im zweiten Stock des Gebäudes gelegene Restaurant, und beim Informationsstand war die Nachricht hinterlassen worden, daß sich die Graucaptains in Kubus vier aufhielten. Amanda führte Hal durch den offenen Speisebereich in den sich daran anschließenden privaten Sektor. Kubus vier erwies sich als eine angemessene Räumlichkeit für ein Treffen von rund vierzig Personen, die dort bereits an grünen und quadratischen Tischen Platz genommen hatten. Drei Wände des Saales bestanden aus Beton und waren weiß getüncht. Bei der vierten hingegen handelte es sich um eine Fensterfront, durch die man auf die weite Landefläche hinaussehen konnte. Auf einigen der Tische standen weiße Kaffeebecher.

»Wir haben noch rund zwei Stunden Zeit«, sagte Amanda. »Kommen Sie. Es sind mehr als zehn Graucaptains anwesend, die Sie noch nicht kennen.«

Sie stellte ihn den entsprechenden Männern und Frauen vor. Es überraschte Hal ein wenig, daß zwei derjenigen, die am Vortag das Eßzimmer verlassen hatten – ein Mann und eine Frau – zurückgekehrt waren, und in ihrer Begleitung befanden sich weitere Graucaptains, die nicht

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am ersten Treffen hatten teilnehmen können. Nach der Vorstellung nahm Hal auf einem Stuhl vor dem Halbkreis Platz, der sich vor ihm gebildet hatte, und er beantwortete Fragen. Nach rund einer Stunde allerdings unterbrach er das Interview.

»Ich glaube, auf diese Weise machen wir keine allzu großen Fortschritte«, sagte er. »Im Grunde genommen erwarten Sie alle ganz konkrete Antworten von mir. Aber genau darin muß ich Sie enttäuschen, denn ich kenne sie selbst noch nicht. Wie ich gestern schon sagte: Ich habe noch keinen detaillierten Plan. Aus diesem Grund fliege ich zur Letzten Enzyklopädie. Ich vermag Ihnen nur die allgemeine Situation zu schildern und Sie dazu aufzufordern, sie zu verinnerlichen. Wenn ich neue Informationen habe, setze ich mich wieder mit Ihnen in Verbindung.«

»Ich will Ihnen nicht zu nahetreten, Hal Mayne …«, meinte Rourke de Facino. Er saß in der Mitte des Halbkreises, und in seiner Reisejacke, die er aufgrund der im Kubus vier herrschenden Wärme weit geöffnet hatte, sah er klein und fast geckenhaft aus. »Aber Sie haben einen Dämon zum Leben erweckt. Und nun weigern Sie sich, uns dabei zu helfen, ihn zu bändigen.«

Für einen Sekundenbruchteil gewann Hal den Eindruck, als rühre sich in ihm erneut jene besondere Art von innerer Sicherheit, die während des Vortrags im Eßzimmer in ihm entstanden war. Dann jedoch verflüchtigte sich dieses Gefühl rasch wieder, und Hal gab sich alle Mühe, sich in Geduld zu fassen.

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»Ich muß noch einmal das wiederholen, was ich schon zuvor sagte«, erwiderte er. »Ich habe Ihnen nur die Lage geschildert, die bereits entstanden ist. Und darüber wußten Sie ohnehin Bescheid. Sie alle versprachen mir nicht mehr, als gründlich über meine Worte nachzudenken. Und ich kann Ihnen meinerseits auch nicht mehr versprechen als gestern.«

»Geben Sie uns doch wenigstens einen Hinweis auf das, was wir zu erwarten haben, was Sie zu unternehmen gedenken«, warf Ke Gok ein. »Irgend etwas, mit dem wir uns beschäftigen, an dem wir uns festhalten können.«

»Na schön«, sagte Hal. »Dann lassen Sie es mich folgendermaßen ausdrücken: Wären Sie bereit, gegen die Anderen vorzugehen, wenn sich Ihnen eine solche Möglichkeit böte – ich meine in Hinsicht auf ein gewöhnliches militärisches Unternehmen?«

Die Graucaptains murmelten zustimmend. »Gut.« Hal nickte zufrieden. »Aufgrund meines

bisherigen Er kenntnisstandes werde ich versuchen, Ihnen eine derartige Chance zu geben. In dieser Beziehung sind Sie besonders stark. Und es ist nur vernünftig, diesen Vorteil auszunutzen.«

»Und damit«, sagte Amanda und stand auf, »muß ich Ihnen Hal Mayne entführen. Er begibt sich jetzt direkt ins Raumschiff. Diejenigen von Ihnen, die sich von ihm verabschieden wollen, haben nun die letzte Gelegenheit dazu.«

Zu Hals Überraschung erhoben sich alle Graucaptains und umringten ihn. Amanda mußte ihn geradezu aus der Menge befreien, und als sie eine altertümlich wirkende

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Treppenflucht hinter sich gebracht und das Erdgeschoß erreicht hatten, sah Hal auf sein Chronometer.

»Es bleiben uns noch rund zehn Minuten, bis ich gehen muß«, sagte er.

»Ich wollte mit Ihnen allein sprechen«, erwiderte Amanda. »Hier entlang.«

Sie führte ihn in ein kleines Wartezimmer und auf die Tür in der gegenüberliegenden Wand zu. Sie öffnete sie, und sie betraten das Landefeld.

Hinter ihnen schloß sich die Tür mit einem saugenden Geräusch, das von dem Luftdruckunterschied draußen und im Innern des Terminals hervorgerufen wurde. Infolge des nun bevorstehenden Startes war im Bereich des Raumhafens die Wetterkontrolle aktiviert worden. Durch die entsprechenden Manipulationen stiegen die Wolken rasch in die Höhe, und es sah so aus, als bilde sich ein imaginäres Dach unter ihnen, das das Grau verdrängte. Der erhöhte Druck und die Stille erweckten in Hal den Eindruck, als befände er sich zusammen mit Amanda in einer Art Blase innerhalb der gewöhnlichen Raumzeit. In einer Entfernung von achtzig Metern lag das Schiff, das bald nach Freiland starten würde, in der Waagerechten, groß und glänzend. Auf der schimmernden Außenhülle spiegelten sich die Konturen des Terminals und das Grau der hohen Wolken wider. Aus kleinen Ventilen zischten die letzten Reste des Dekontaminierungsgases, mit dem die großen Frachtkammern des Liners gereinigt worden waren.

Amanda wandte sich um und schritt nach Osten, an der unteren Front des Terminals entlang. Hal folgte ihr.

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»Wissen Sie«, sagte sie, »alles in allem waren Sie nur acht Tage hier.« Ihr Blick war auf den Regenvorhang am Rand des Landefelds gerichtet, zweihundert Meter vor ihnen.

»Ja«, bestätigte Hal. »Nur acht Tage.« »Es ist nicht leicht, jemanden, den man vorher nicht

kannte, in so kurzer Zeit verstehen zu lernen – nicht einmal in acht Wochen oder acht Monaten«, sagte Amanda. Sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. »Wenn zwei Menschen aus unterschiedlichen Kulturen stammen, so können sie zwar die gleichen Worte benutzen, damit aber ganz unterschiedliche Dinge meinen. Und wenn die eine Person das Verhalten der anderen nicht versteht, so mag es rasch zu Mißverständnissen kommen.«

»Ja. Ich weiß.« »Sie sind bei einem Dorsai aufgewachsen«, fuhr

Amanda fort. »Aber das läßt sich nicht damit vergleichen, hier geboren und groß geworden zu sein. Selbst in einem solchen Fall wäre es möglich, daß es einem schwerfällt, einen Angehörigen der benachbarten Heimstatt zu verstehen. Und Sie … In acht Tagen können Sie unmöglich die Morgans verstehen. Oder die Amandas. Oder … mich.«

»Sie haben recht«, erwiderte Hal. »Ich glaube, ich weiß jetzt, was Sie meinen. Ich verstehe. Ich sehe nur so aus wie Ian.«

Sie blieb stehen, drehte sich um und sah ihn an. Hal verharrte ebenfalls, und ihre Blicke begegneten sich.

»Ian?« wiederholte sie.

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»Das haben wir doch gestern abend herausgefunden, nicht wahr?« entgegnete er. »Daß er als schon älterer Mann mir sehr ähnelte. Und Sie … Sie mochten ihn.«

»Ach!« Amanda wandte den Blick von ihm ab und beobachtete einmal mehr den Regen. »Nicht auch noch das!«

»Auch das?« Hal runzelte verwirrt die Stirn. »Natürlich liebte ich Ian«, sagte Amanda. »Es blieb mir

gar keine andere Wahl. Aber nach seinem Tod wurde ich erwachsen.«

Sie unterbrach sich, schwieg einige Sekunden lang und fuhr dann fort:

»Ich habe versucht, es Ihnen begreiflich zu machen. Haben Sie mir nicht zugehört, als ich von der ersten und zweiten Amanda sprach? Waren Sie vielleicht taub?«

»Nein«, erwiderte Hal. »Ich glaube, ich habe wirklich nicht verstanden, was Sie mir mitteilen wollten.«

Sie gab ein zischendes Geräusch von sich und trat einige weitere Schritte auf den Rand des Landefelds zu. Hal folgte ihr schweigend.

»Es tut mir leid«, sagte Amanda nach einer Weile, und diesmal klang es sanfter. »Es ist mein Fehler. Ich war diejenige, die es Ihnen zu erklären versuchte. Und wenn Sie mich nicht verstanden haben, so habe ich die falschen Worte gewählt. Ich erzählte Ihnen von den beiden anderen Amandas, weil ich hoffte, Sie würden sich dadurch über mich klar.«

»Über was hätte ich mir denn klarwerden sollen?«

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»Darüber, was und wer ich bin – was auch die beiden Amandas vor mir waren. Die erste heiratete dreimal. Aber eigentlich lebte sie in erster Linie für ihre Familie, für ihr Volk – nicht einmal vor allen Dingen für ihren Sohn Jimmy. Sie war von Natur aus eine Beschützerin.« Amanda holte tief Luft und setzte sich wieder in Bewegung, während ihr Blick nach wie vor auf den Regenvorhang gerichtet war. »Die zweite Amanda verstand sich. Und das ist auch der Grund, warum sie schließlich entschied, weder Kensie noch Ian zu heiraten – gerade Ian nicht, zu dem sie sich besonders hingezogen fühlte. Sie gab sie beide auf, weil sie wußte, daß sie andernfalls früher oder später eine schwierige Entscheidung hätte treffen müssen – zwischen entweder Kensie oder Ian und der Pflicht allen anderen Dorsai gegenüber. Und sie wußte, daß sie in einem solchen Fall nicht den Mann, sondern ihr Volk gewählt hätte.«

Sie gingen einige Schritte weiter. »Ich bin die dritte Amanda«, sagte sie. »Und ich sollte

mich ebenso klug verhalten wie die zweite – und mir selbst und meinem Volk eine solche Entscheidung ersparen.«

»Ich verstehe«, erwiderte Hal nach einer Weile. »Das freut mich«, sagte Amanda, ohne ihn dabei

anzusehen. »Nun«, meinte Hal nach einigen Sekunden. Er fühlte

sich wie betäubt, und in dem Bereich, in dem sich die Wetterkontrolle auswirkte, erschien ihm alles künstlich und unwirklich. Er beobachtete das Raumschiff. »Vielleicht sollte ich jetzt besser an Bord gehen.«

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Amanda blieb stehen, und Hal ebenfalls. Sie wandte sich ihm zu und streckte die Hand aus. Er zögerte einen Sekundenbruchteil und ergriff sie dann.

»Ich kehre zurück«, versprach er. »Seien Sie vorsichtig«, erwiderte Amanda. »Das, was

Sie zu unternehmen gedenken, wird den Anderen gar nicht gefallen. Und die einfachste Möglichkeit für sie, Ihr Vorhaben zu vereiteln, besteht darin, Sie zu eliminieren.«

»Das weiß ich.« Er sah ihr in die Augen. »Schließlich bin ich schon seit mehr als fünf Jahren vor ihnen auf der Flucht.«

Er lächelte, und Amanda erwiderte sein Lächeln. Dann wurde sie wieder ernst.

»Ich kehre zurück«, versicherte Hal erneut. »Bitte!« sagte Amanda. »Bitte, kommen Sie zurück.

Heil und gesund.« »Das werde ich.« Daraufhin drehte er sich um und lief auf das

Raumschiff zu. Als er die oberste Sprosse der Landeleiter erreichte und dem Zahlmeister sowohl seine Papiere zeigte als auch das Ticket, sah er noch einmal zurück. Die Entfernung machte Amanda ganz klein; sie blickte in seine Richtung, und hinter ihr, am Rand des Landefelds, erstreckte sich nach wie vor der graue Regenvorhang.

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