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Der Götterwagen

Date post: 06-Jan-2017
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1.

Als der Mond des Raben halb vorbei war, wurde es selbst im Königspalast von Myra nachts empfindlich kühl. Aber das war nicht der Grund für Amees Unruhe, die nachts keinen Schlaf mehr fand und mit steigender Sorge auf die Rückkehr ihres Gatten Dragon wartete. Denn nur er war es, der den entführten Atlantor zurückbringen konnte.

Die Wochen der schrecklichen Ungewißheit hatten Amee stiller und reifer werden lassen. Manchmal verließ sie viele Tage nicht ihr Gemach, und vergeblich versuchten die Zwillinge Kim und Kano, die junge Königin aufzuheitern.

Sie konnte jedoch immer nur an ihr entführtes Kind und dessen Ungewisses Schicksal denken. Hatte Dragon den verräterischen Cnossos stellen können? War es ihm gelungen, ihm das Kind wieder abzunehmen und den Verbrecher zu strafen?

Fragen über Fragen, aber keine Antwort. Die Zwillinge bekamen keinen gedanklichen

Kontakt zu Yina, und so war es ihnen nicht möglich, Amee zu informieren.

Die Ungewißheit ließ aber immer noch Raum für die Hoffnung. Amee spürte, daß Dragon noch lebte, und

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sie spürte, daß auch ihr Sohn noch lebte. Das gab ihr den Mut, diese furchtbare Zeit des Nichtwissens durchzustehen.

An diesem Abend hatte sie einen warmen Umhang übergeworfen und durchstreifte den Palast, um sich ein wenig Bewegung zu verschaffen.

Sie nickte grüßend, wenn sie an einem der Wächter vorbeikam, die jeden Eindringling sofort gestellt hätten. Ihr Vorhandensein garantierte ihre eigene Sicherheit, und Dragon hatte alle Vorsichtsmaßnahmen verstärken lassen, ehe er den Entführer seines Sohnes verfolgte. Was Atlantor passiert war, hätte genausogut auch ihr passieren können – und könnte es immer noch.

Im großen Saal brannte ein Kaminfeuer, in diesen sonst immer so warmen Gebieten eine wahre Seltenheit. Amee schob einen Sessel in die gewünschte Entfernung und ließ sich darin nieder. Sie streckte die Füße weit von sich, der Hitze entgegen, und starrte gedankenverloren in die prasselnden Flammen.

Eine ihrer vertrauten Dienerinnen kam und legte Holz nach, dann kauerte sie sich auf den Boden, als warte sie auf weitere Befehle. Sie war sehr hübsch, wie fast alle jungen Mädchen des Landes.

Amee winkte sie zu sich heran und gab ihr zu verstehen, sie solle sich zu ihr setzen. Das Mädchen nahm ihren Umhang, faltete ihn zu einem Kissen und

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tat, wie ihr befohlen war. »Sage mir, Fantana ... bist du glücklich?« Die Dienerin blickte erstaunt auf. In ihren Augen

war ein wenig Hilflosigkeit, die Amee derart rührte, daß sie ihre Frage schon bereute.

»Nun? Du kannst ruhig antworten, Fantana. Du weißt, daß ich Sorgen habe.«

Nun nickte Fantana. »Ich weiß ... der König.« »Ja. Und darum fragte ich dich, ob du glücklich bist.

Ich bin es ja auch, aber ich bin zugleich auch unglücklich.«

»Wir haben es alle bemerkt, meine Königin, aber wir glauben alle, daß Atlantor zurückkehrt, heil und unversehrt. Unser König wird ihn befreien und den Verbrecher bestrafen. Nur ... es dauert so lange, bis er zurückkehrt.«

Amee beugte sich vor und legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Es würde mich nicht trösten, wärest du unglücklich, Fantana. Deshalb fragte ich nicht. Ich hätte es nur gern gewußt, denn ich bin dir sehr zugetan. Vielleicht könnte ich dir helfen.«

»Ich bin glücklich, meine Königin. Ich bin es, weil ich dir dienen darf. Jeder muß glücklich sein, der dir dienen darf.« Amee sah wieder in die Flammen.

»Aber es gibt noch eine andere Art von Glück, mein Kind. Gibt es denn keinen Mann, den du glücklich

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machen möchtest? Du bist schön, Fantana, und noch sehr jung. Manchmal beneide ich dich.«

Die Dienerin sah sie ungläubig an. »Wie kannst du mich beneiden, Königin, wenn du

über unser Land herrschst und einen Mann wie Dragon dein eigen nennst? Jedes Mädchen und jede Frau von Myra wäre glücklich, wenn sie ...«

Sie schwieg erschrocken. Amee schloß für einen Moment die Augen. Sie sah

die Flammen des offenen Feuers nur noch durch die Lider schimmern.

»Ich wollte dir helfen, Fantana, falls du Hilfe brauchst. Nur deshalb fragte ich dich. Aber du hast kein Vertrauen zu mir.«

Fantana schüttelte den Kopf. »Königin, du tust mir Unrecht. Zu wem sollte ich

denn Vertrauen haben, wenn nicht zu dir? Ich liebe Achmed, den Wächter, und er liebt mich. Eines Tages werde ich seine Frau sein. Ich bin glücklich.« Sie richtete sich auf und sah Amee offen an. »Ist damit deine Frage beantwortet, meine Königin?«

Amee gab den Blick zurück und nickte. »Ja, das ist sie. Achmed also? Er sieht gut aus und ist

stark. Er wird dich ein Leben lang beschützen und dir treu sein, denn du bist schön. Jeder Mann würde glücklich sein, dich besitzen zu dürfen.«

Unabhängig davon hatte Amee in diesen Sekunden

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ein seltsames Erlebnis. Als sie wieder ihre Augen schloß, hatte sie plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden – nicht von Fantana, die mit sich selbst und mit ihren Gedanken genug zu tun hatte. Es war, als griffe etwas aus dem Feuer nach ihr, etwas Unbegreifliches, Geheimnisvolles.

Kim und Kano konnten es nicht sein, denn die Zwillinge schliefen längst zu dieser Stunde. Aber wer sonst? Dragon besaß nicht die Gabe des Gedankenlesens, aber Amee wußte, daß man die suchenden Gedanken eines Menschen, mit dem man verbunden war, spüren konnte.

Sie versuchte sich zu konzentrieren, aber es gelang ihr nicht. Vielmehr mußte sie daran denken, daß sie schon öfter vorher dieses forschende Bohren in ihrem Bewußtsein wahrgenommen hatte. Es gab keine Erklärung dafür, aber sie wußte, daß es nicht lange dauerte.

Das »Befreitsein« kam so plötzlich, daß jede Zweifel beseitigt wurden. Selbst wenn Amee alles bisher nur für Täuschung oder eine Folge ihrer ständigen Sorge um Dragon und Atlantor gehalten hatte, so mußte sie jetzt erkennen, daß jemand versuchte, gedanklichen Kontakt mit ihr aufzunehmen – oder sie zumindest zu belauschen.

»Fühlst du dich nicht wohl, meine Königin?« Amee schreckte hoch, dann schüttelte sie den Kopf.

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»Du würdest es nicht verstehen, Fantana. Ich weiß selbst nicht, was es ist. Lege kein Holz mehr nach, ich werde mich bald zur Ruhe begeben. Dich brauche ich auch nicht mehr ...«

Sie verstummte, als einer der Wächter herbeikam und in einiger Entfernung stehenblieb. Amee nickte ihm zu:

»Was willst du?« »Ein Bote, meine Königin! Er bringt Nachrichten von

Dragon, unserem König. Sechs Schiffe landeten im Hafen.«

Amee wollte aufspringen, aber dann besann sie sich auf ihre Pflichten als Herrscherin.

»Führe den Boten hierher und bereite ein Nachtlager für ihn vor.«

Fantana wollte sich diskret entfernen, aber Amee sagte:

»Bleibe noch, Fantana. Wenn Dragon einen Boten schickt, so bedeutet das, daß er bald selbst eintrifft. Wir wollen hören, was er uns mitzuteilen hat. Nun kannst du doch noch Holz auf das Feuer legen.«

Sie hatte den Mann noch nie gesehen, der von zwei Wächtern in den Saal geleitet wurde. Seine Kleidung war die eines Seemanns, und auch sein Gang verriet, daß er sein halbes Leben auf den Planken eines Schiffes zugebracht hatte. Ein wenig unbeholfen näherte er sich dem Feuer und den beiden Frauen, verneigte sich tief

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vor Amee und sagte: »Mein Herr und König schickt mich zur Königin,

um ihr eine Botschaft zu überbringen. Er hätte es lieber selbst getan, aber dringende Angelegenheiten verhindern ihn.« Seine Verlegenheit war nicht zu übersehen. »Es ist keine gute Botschaft, meine Königin ...«

Amee spürte den scharfen Stich in der Herzgegend, der alle ihre schlimmen Ahnungen zu bestätigen schien. Dragon selbst konnte keine Botschaft schicken, wenn er tot war, also lebte er.

Aber ... »Was ist mit meinem Sohn?« fragte Amee atemlos

und gab den beiden Wächtern einen Wink, sich zu entfernen. »Rede schon, und verschweige mir nicht die Wahrheit und sollte sie noch so schlimm sein!«

Der Seemann ballte beide Hände zu Fäusten. »Atlantor hat diese unsere Welt verlassen, denn er

ging durch eins der geheimnisvollen Weltentore. Der König konnte es nicht mehr verhindern, aber er wird Cnossos zum Entscheidungskampf stellen. Er wird ihn töten.«

Amee schloß die Augen und saß reglos in ihrem Sessel.

Der Seeman fiel auf die Knie. »Du wirst mich nach dieser Nachricht töten lassen,

meine Königin, aber ich erbitte mir eine Gnade: Laß es

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schnell geschehen. Ich habe keinen schmerzvollen Tod verdient, nur weil ich Dragons Befehl gehorchte und dir die Wahrheit berichtete.«

Ohne die Augen zu öffnen, sagte Amee: »Niemand wird dich dafür bestrafen. Berichte mir,

wie es geschehen ist. Warum mußte mein Sohn in das Weltentor gehen? Er konnte es überhaupt nicht.«

»Eine Sklavin trug ihn hindurch, sie verschwand ebenfalls. Niemand konnte es verhindern, niemand konnte ihnen folgen. Ich war kein Zeuge des furchtbaren Geschehens, ich kann nur berichten, was man mir auftrug.«

»Wo ist Dragon?« »Zur Insel der Kyrace, wo er Cnossos erwartet, um

ihn zu töten.« Nun öffnete sie doch die Augen. »Insel der Kyrace? Ist sie nicht eine Zauberin, die

jeden Mann umgarnt und mit Trugbildern an sich fesselt, bis sie ihn leid geworden ist und davonjagt? Was hat Dragon mit ihr zu tun?«

»Nichts, Herrin, nichts hat er mit ihr zu tun, aber er konnte in Erfahrung bringen, daß Cnossos um die Gunst der Kyrace wirbt und sie besucht. Darum will er ihn dort erwarten und zum Kampfe fordern.«

»Kyrace ...«, murmelte Amee und spürte wieder die Unrast in ihrem Herzen. »Warum muß Dragon ausgerechnet bei ihr den Todfeind erwarten?«

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»Vielleicht deshalb, weil Cnossos Dragon niemals bei Kyrace erwarten würde«, vermutete der Bote.

Sie schickte ihn fort, und dann brach der ganze Schmerz über den Verlust ihres Sohnes über sie herein. Fantana stützte sie und brachte sie in ihr Gemach. Sie wollte bei ihr bleiben, aber Amee schüttelte den Kopf.

»Du kannst mich allein lassen, Fantana, ich muß allein damit fertig werden. Und bringe mir einen Krug Wein ...«

Maratha, die blinde Seherin, saß vor ihrer Hütte an der Furt. Sie spürte die wärmenden Strahlen der Mittagssonne, und ihre Gedanken kehrten noch einmal zu jenem Tag zurück, an dem sie Dragon eroberte und für sich gewann – wenn auch nur für eine Nacht.

Sie hatte ihm einen Sohn geboren, aber er wußte nichts davon. Denn zur gleichen Zeit gebar ihm auch Amee, seine rechtmäßige Gattin, einen Sohn – Atlantor.

Maratha hatte die Ereignisse durch ihre seherische Gabe verfolgen können, denn durch die Augen von Menschen oder Tieren konnte sie sehen. Sie war weniger blind als normale Menschen.

Und allein sie wußte, daß Cnossos in Wirklichkeit ihren eigenen Sohn Dragomar entführt hatte, nicht aber Atlantor, denn sie selbst hatte die beiden Neugeborenen vertauschen können. Es war also ihr eigenes Kind, Dragomar, das hinter dem Weltentor

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verschwunden war. Atlantor aber lag in seiner Wiege in der Hütte und

schlief. Maratha hatte die Spur des Cnossos verloren, als

seine negative Aura stärker und stärker wurde. Aber sie verlor Dragon, den sie immer noch liebte, nicht aus den »Augen«. Sie sah ihn durch die Augen seiner Begleiter mit der Stolz von Sodok zur Insel der Kyrace segeln und erlebte seine Abenteuer dort mit.

Nun wartete er auf das Eintreffen des Cnossos. Das Gewissen begann Maratha zu plagen. Ihr Sohn

Dragomar sollte dereinst König von Myra werden, darum hatte sie die Kinder vertauscht. Und nun war er für sie verschollen. Noch nie war jemand aus einem Weltentor zurückgekehrt.

Die Königin Amee trauerte um ein Kind, das nicht das ihre war. Gestern nacht hatte ihr ein Bote die Nachricht überbracht. Durch Fantana wurde Maratha unmittelbare Zeugin des unbeschreiblichen Schmerzes der Königin.

Amee hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Durch Fantanas Augen sah Maratha sie auf dem Bett sitzen, ins Leere starrend und mit ausdruckslosem Gesicht.

Schnell zog sie sich wieder zurück. Hinter ihr in der Hütte begann der richtige Atlantor zu plärren. Er hatte Hunger. Aber Maratha blieb sitzen.

Sie mußte zu Amee und ihr die Wahrheit sagen. Das

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war für sie beide besser so. Vielleicht verzieh die Königin ihr den Kindestausch, wenn sie ihren Sohn heil und gesund zurückerhielt. Dragons wegen machte sie sich keine Sorgen. Er würde sie verstehen.

Wie aber gelangte sie nach Myra? Der Weg dorthin war weit und beschwerlich. Mit dem Kind würde es sogar unmöglich sein, wenn ihr niemand beistand. Sie war eine Seherin, aber keine Zauberin.

Die Drachen! Natürlich, die Drachen! Sie hausten jetzt in den

ehemaligen Höhlen der Vampire. Wenn sie Kontakt mit Hotch aufnehmen konnte und ihn bitten würde, sie und das Kind nach Myra zu bringen, war das Reiseproblem gelöst. Für Dragon tat Hotch alles.

Maratha brauchte fast eine Stunde, ehe sie die Gedanken des Drachen empfing. Immer wieder wurde sie bei ihren Versuchen von Atlantor gestört, der Hunger zu haben schien. Aber Maratha hatte jetzt keine Zeit.

Hotch, hörst du meine Gedanken? Dann antworte! Es ist dringend, Hotch!

Aber Hotch war mit häuslichen Problemen beschäftigt und jagte einige jüngere Drachen durch die Wohnhöhlen.

Hotch! Hotch! Immer und immer wieder schickte Maratha ihre

Gedankenimpulse aus. Die Drachen konnten die

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Gedanken der Menschen lesen, sehr gut sogar, nur umgekehrt war die Verständigung manchmal etwas mühsam. Für Maratha allerdings nicht, und noch viel weniger für die Zwillinge Kim und Kano. Auch Yina, die kleine Gedankenleserin, unterhielt sich gern mit den Drachen, aber die war jetzt bei Kapitän Jaggar, irgendwo in einer versteckten Bucht nahe der Kyrace-Insel.

Bist du es, Maratha? Sie schreckte zusammen, als die Antwort kam, klar

und deutlich in ihrem Gehirn, als habe jemand zu ihr laut gesprochen.

Ja, ich bin es, Hotch! Ich brauche deine Hilfe. Schon wieder? Die Menschen scheinen ohne uns

nicht mehr auszukommen, was mich natürlich mit Genugtuung erfüllt. Rufst du mich im Auftrag Dragons? Ich bin beschäftigt, Maratha.

Maratha verspürte wenig Lust, Hotch die ganze komplizierte Geschichte in diesem Augenblick zu erzählen.

Nicht im Auftrag Dragons, aber in seinem Interesse. Du mußt mir helfen, Hotch! Bringe mich nach Myra, in den Palast. Ich habe Amee sehr wichtige Dinge zu sagen.

Wirklich wichtig, Maratha? Ich weiß, daß die Weibchen der Menschen oft Dinge für wichtig erachten, die in Wirklichkeit ...

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Ich werde dir alles erklären, wenn du kommst. Es geht um Dragons Sohn Atlantor. Jeder glaubt, Atlantor sei tot, aber ich weiß, daß er lebt. Glaubst du nicht auch, daß diese Nachricht wichtig ist?

Du bist bei deiner Hütte? Ja, du kennst sie. Wann kommst du? In wenigen Stunden bin ich dort, und ich werde

Hot-chi mitbringen. Er kann es schon nicht mehr erwarten, wieder mit den Zwillingen zu spielen, und dies ist eine gute Gelegenheit. Bevor die Sonne untergeht, sind wir unterwegs nach Myra.

Danke, Hotch. Ich warte. Endlich konnte sie ihren Platz auf der Bank

verlassen und sich um das Kind kümmern, das als das ihre galt, es jedoch nicht war. Immerhin waren beide Kinder die Söhne von Dragon gewesen. Jetzt war nur der eine geblieben, und er gehörte Amee.

Lange bevor die Sonnenscheibe den Horizont berührte, vernahm Maratha das mächtige Geräusch der ledernen Drachenschwingen. Es war wie das Rauschen eines plötzlich aufkommenden Windes, der sich zu einem Sturm entwickeln wollte. Und dann sah sie das gewaltige Flugtier über den Bergen, begleitet von einem viel kleineren Drachen, der Mühe zu haben schien, ihm zu folgen.

Die urweltlichen Wesen, die nicht von dieser Welt stammten, waren die Freunde der Menschen, das

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hatten die vergangenen Ereignisse bewiesen. Sicher, sie waren Fleischfresser und rissen oft die

Tiere der Hirten, aber sie sorgten auch dafür, daß die gefährlichen Wölfe und andere raubgierige Lebewesen in Schach gehalten wurden.

Hotch landete direkt neben der Hütte auf dem freien Platz bei der Furt durch den Fluß. Der kleine Hot-chi hingegen hatte noch nicht die Erfahrungen seines Vaters und verfehlte sein Ziel um etliche Mannslängen. Mit ziemlichem Krach landete er auf dem Dach der Hütte, rutschte über deren Rand und plumpste dann auf die Erde. Maratha wollte ihm zu Hilfe eilen, aber Hotch hielt sie zurück:

»Laß ihn, du würdest nur seinen Stolz verletzen, Maratha. Er muß noch viel lernen, und er kann es besser allein. Bist du reisefertig?«

Jetzt, da sie sich gegenüberstanden, war die gedankliche Unterhaltung wie ein richtiges Gespräch.

»Ja, wir können aufbrechen. Ich habe meinen Sohn in warme Felle gewickelt und diese verschnürt. Dann werde ich ihn an mich binden, damit wir ihn nicht verlieren. Wir Menschen sind das Fliegen nicht gewöhnt.«

»Ihr werdet euch noch daran gewöhnen«, prophezeite Hotch. »Geh und hole deinen Sohn, und dann wirst du mir verraten, warum unsere Mission so wichtig ist. Ich kümmere mich indessen um Hot-chi.«

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Doch das war nicht notwendig. Der kleine Drache kam um die Ecke der Hütte gekrochen und machte ein ausgesprochen trauriges Gesicht.

»Tut mir leid, Vater, aber ich habe die Kurve nicht gekriegt.«

»Ja, das habe ich bemerkt, mein Sohn. Hast du vergessen, die Landekämme auszustrecken?«

»In der Tat, das habe ich! Woher weißt du das?« »Ich habe es an der Art deiner Landung gesehen.

Denke das nächste Mal daran, sonst brichst du dir noch die Flügel.«

Maratha kam mit dem Kind aus der Hütte. Es war in die Felle eingewickelt worden, daß nur noch die Nase aus dem Bündel hervorschaute. So konnte Atlantor, der bisher Dragomar genannt worden war, zwar atmen, aber er sah nicht den bodenlosen Abgrund, der sich bald unter ihm auftun würde.

Hotch zog seine Krallenfüße ein und lag flach auf dem Boden.

»Du mußt schon ein bißchen klettern«, entschuldigte er sich.

Maratha wartete vorsichtshalber, bis Hot-chi herbeigekrochen kam und sich neben seinen Vater legte. Da er kleiner war als Hotch, entstand so etwas wie eine Stufe, über die Maratha auf den Rücken des wesentlich größeren Drachen klettern konnte. Dort legte sie das Kind zwischen die kräftigen Nackenfalten,

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wo es einigermaßen sicher war. Sie selbst legte sich auf den Bauch und klammerte sich fest, immer darauf bedacht, daß der Hanfstrick, der sie mit Atlantor verband, nicht zu straff gespannt wurde. Ihre Füße fanden Halt in den gezackten Lederkämmen des Drachen.

»Fertig?« erkundigte sich Hotch ein wenig ungeduldig. Er wußte noch immer nicht, worum es eigentlich ging und warum Maratha es so eilig hatte. »Du kannst mir ja unterwegs die ganze Geschichte erzählen.«

Da die Unterhaltung auf gedanklicher Basis erfolgte, bedeutete das während des Fluges keine Schwierigkeit, und Hot-chi erfuhr auch gleich alles.

Der Start verlief glatt. Die beiden Drachen erhoben sich in die Lüfte, und als Hotch eine Kurve beschrieb, konnte Maratha durch die Augen Hotchs schräg unter sich die Hütte liegen sehen, den Fluß, die Wälder und alles, was sie so gut kannte. Hot-chi hielt sich dicht neben seinem Vater und gab sich alle Mühe, keine Fehler zu machen.

Maratha berichtete von dem erfolgten Kindestausch und versuchte auch, ihre Motive zu begründen. Sie betrachtete die Beichte den beiden Drachen gegenüber als eine Art Generalprobe, denn es würde ihr viel schwerer fallen, Amee die Wahrheit zu sagen, obwohl diese für die Königin positiver als die bisherige Lüge

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sein mußte. Hotch gab lange Zeit keine Antwort, doch dann

äußerte er sich: »Eine seltsame Geschichte, Maratha. Die Ereignisse

selbst bestraften dich für eine Tat, die ich durchaus verstehe, auch wenn ich kein Mensch bin. Nun hat Amee ihren eigenen Sohn wieder. Aber was ist nun mit deinem? Er ging durch ein Weltentor. Niemand weiß, wohin sie führen. Seit Atlantis unterging, gibt es sie. Vielleicht führen sie in den Tod, vielleicht zum ewigen Leben – niemand weiß es. Du hast zwar deinen wirklichen Sohn verloren, aber vielleicht lebt er und hat nur dich verloren. Eines Tages kann er zurückkehren, wer soll das wissen? Wichtig ist jetzt nur, daß es einen Nachfolger für Dragon gibt und daß Amee ihren Sohn zurückerhält. Ich glaube nicht, daß sie dir zürnen wird. Vielleicht im ersten Augenblick der Wahrheit, aber dann, wenn sie alles begreift, sicherlich nicht mehr.«

»Ich kann nur hoffen, daß du recht behältst.« Unter ihnen glitt die Landschaft dahin, die Steppe,

das Bergland, die kahlen Hügel der Hochebene, Vegetationsinseln und Flußläufe. Sie näherten sich der Hauptstadt von Myranien – Myra.

Bald kamen die Häuser und der Palast mit seinem riesigen Park in Sicht. Hotch begann Kreise zu ziehen, damit Hot-chi sich seinen Landeplatz aussuchen

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konnte. Die Ankunft der beiden Drachen war den Wächtern

des Palastes natürlich nicht verborgen geblieben, wenn auch die Sonne schon untergegangen war. Aber sie wußten, daß die Drachen die Freunde der Menschen waren und daß besonders Dragon gute Beziehungen zu ihnen unterhielt, also gaben sie keinen Alarm, wenn auch einer von ihnen in den Palast rannte, um die Königin zu unterrichten.

Hot-chi landete in der Parkwiese und riß dabei einige der Büsche aus, was ihn jedoch nicht sonderlich aufregte. Die Hauptsache war, er blieb heil. Sein Vater Hotch vollführte natürlich wieder eine meisterhafte Landung, wenn er auch einige Meter weiterrutschte und dabei ein wenig Hornhaut seiner bremsenden Füße verlor.

»Wir sind da!« teilte er Maratha mit. »Ja, ich habe es bemerkt«, gab sie zurück und nahm

das Bündel mit Atlantor in ihre Arme. »Wirst du gleich zurück zu den Höhlen fliegen?«

»Ich bleibe bis morgen früh. Auch möchte ich Amee und die Zwillinge sehen. Und Hot-chi ganz bestimmt auch.«

»Ich habe ihnen einen Flug zur Küste versprochen, Vater.«

»Lieber noch nicht, Kleiner. Warte noch einige Monde, bis du sicherer geworden bist.« Er pausierte

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und überlegte, wie sinnlos ein solcher Vorschlag war. Er kannte seinen Sohn, und er kannte auch die Zwillinge. Also machte er einen Kompromiß, von dem er hoffen durfte, daß er eingehalten wurde. »Oder nimm nur einen von ihnen mit.«

»Das verspreche ich«, meinte Hot-chi erfreut. Zwei der Wächter kamen herbei. Als sie Maratha

mit dem Kind erkannten, die inzwischen den Rücken des Drachen verlassen hatte, zeigten sie sich äußerst respektvoll.

»Die Königin ist von deiner Ankunft unterrichtet, sie erwartet dich in der großen Halle. Bringst du Botschaft von Dragon, unserem König?«

»Das werde ich der Königin selbst sagen. Die beiden Drachen bleiben hier und schlafen im Park. Sorgt auch für ihre Sicherheit. Führt mich zu Amee.«

Mit Hilfe ihrer formverändernden Gabe hatte sie die Gesichtszüge der Besucherin angenommen, die Amee vertraut war.

Maratha folgte den Wächtern, die sie in den Palast brachten.

Fantana legte ein Stück Holz nach. »Meine Königin, Achmed teilte mir mit, daß die

seltsame Besucherin zurückgekehrt ist. Warum kommt sie so plötzlich wieder?«

»Wir werden es bald wissen. Ich habe befohlen, daß

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man sie zu mir vorläßt. Du bleibst bei mir. Ich möchte, daß du jedes Wort hörst, das gesprochen wird.«

»Sie kam mit zwei Drachen.« »Darum werden wir ihr vertrauen. Die Drachen sind

Dragons Freunde. Sie würden niemanden zu uns bringen, der ein Feind wäre.«

Maratha betrat den Saal. Der Wächter, der sie geleitet hatte, kehrte auf seinen ursprünglichen Posten zurück. Amee blieb sitzen, winkte der Besucherin aber freundlich zu.

Maratha konnte durch Fantanas Augen das verweinte Gesicht der Königin sehen, und die Reue packte sie so sehr, daß sie vor Amee auf die Knie sank und ihr das Kind entgegenhielt. Sie brachte kein Wort heraus.

Amee begriff nicht, was die Geste bedeuten sollte. Aber sie nahm das Kind, das tief und fest schlief.

»Du hast großen Kummer, wie ich sehen kann. Gibst du mir deshalb deinen Sohn? Aber du weißt es vielleicht noch nicht – auch ich habe Kummer. Atlantor ist verloren, denn jemand hat ihn durch ein Weltentor getragen. Ich habe keinen Sohn mehr, und nun kommst du und gibst mir dein Kind dafür. Ist das Zufall?«

Sie betrachtete das schlafende Kind mit plötzlich erwachender Zärtlichkeit, und tief in ihrem Innern war ein Gefühl der Zuneigung, das sie sich nicht erklären konnte. Die Besucherin wollte vielleicht nicht mehr, als

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eine Heimstätte für sich und ihren Sohn finden. Sicherlich bereute sie ihr damaliges Verschwinden.

»Meine Königin ...«, begann Maratha und verstummte wieder. Tränen hatten ihre Stimme erstickt.

Fantana befolgte Amees Wink und nahm ihr das Kind ab. Sie setzte sich näher ans Feuer.

»Nun?« sagte Amee geduldig. »Was willst du mir sagen?«

Maratha wußte, daß die Zeit für die Wahrheit gekommen war. Sie vermochte nicht mehr, das Geständnis länger hinauszuzögern.

»Meine Königin, was ich dir zu sagen habe, wird dich erzürnen, aber meine Tat war ein Segen für dich und Dragon. Nicht du hast deinen Sohn für immer verloren, sondern ich. Sieh nun selbst, wer ich in Wirklichkeit bin.« Die Veränderung begann sich in ihrem Gesicht abzuzeichnen. Aus der Besucherin wurde ein schönes Mädchen mit langen Haaren und einem wohlgeformten Körper. »Ich bin Maratha, die blinde Seherin. In meiner vorigen Gestalt schlich ich mich damals nach der Geburt deines Sohnes in deinen Palast und brachte meinen eigenen Sohn mit. Ich vertauschte die Kinder und floh. Es war Dragomar, mein Kind, das durch ein Weltentor ging, nicht das deine ...«

Amee hatte der äußerlichen Verwandlung ihrer

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Besucherin mit großem Erstaunen zugesehen, und sie kannte nun Maratha wieder.

Dann erst begriff sie allmählich, was die Seherin sagte.

Ihr Blick ging zu Fantana, die das Kind auf ihrem Schoß hielt und ihre Königin mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Dann stand sie langsam auf und legte den Jungen behutsam in Amees Arme.

»Atlantor?« Amee sah Maratha ungläubig an. »Du behauptest, dies sei Atlantor, mein Sohn? Ich gebe zu, die Ähnlichkeit ist verblüffend, aber ... nein, es kann nicht wahr sein!«

»Die Ähnlichkeit ist kein Zufall, denn Dragon ist der Vater des Kindes.«

»Sicher wäre Dragon der Vater des Kindes, wenn es das meine wäre.« Sie sah abermals in das schlafende Gesichtchen, diesmal aufmerksamer, forschender. Sie nickte unmerklich. »Er hat wirklich eine Ähnlichkeit mit unserem König. Aber auch das andere Kind, wenn es wirklich dein Sohn gewesen sein sollte, sah Dragon ähnlich. Wie kannst du mir das erklären?«

Maratha hatte sich inzwischen gesetzt. Sie sagte: »Dragon war auch der Vater meines Sohnes, den ich

Dragomar nannte.« Eine Weile war es unheimlich still in dem Saal, nur

das Prasseln des Feuers war zu hören. Fantana hielt die Luft an, so sehr war sie durch das Geständnis der

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Seherin geschockt. Amee atmete heftig. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, und gerade noch rechtzeitig nahm Fantana ihr das Kind ab.

»Dragon, der Vater deines Sohnes?« Sie schüttelte den Kopf. »Warum belügst du mich? Tust du es nur, um mir dein Kind als Ersatz für meinen eigenen Sohn aufzuschwatzen, Maratha? Liebst du mich so sehr, daß du dein leibliches Kind opferst, nur um mich zu trösten – oder ist dein Haß auf mich so gewaltig, daß du Dragon des Verrats an mir bezichtigst? Das dort kann nicht mein Sohn sein, auch wenn er Dragon ähnlich sieht. Außerdem besaß Atlantor ein Muttermal am rechten Fuß. Dein Kind aber ...«

»Sieh nach!« sagte Maratha. »Du wirst das Muttermal am rechten Fuß finden. Deine Dienerin hält niemand anderen als Atlantor im Arm. Es war Dragomar, mein und Dragons Sohn, der durch das Weltentor ging. Ich vertauschte die beiden Kinder, die Zwillinge hätten sein können, weil Dragomar der Erstgeborene war. Er sollte einmal König werden. Verstehst du nun, warum alles geschehen ist?«

Fantana hatte das Kind aus den Fellen gewickelt. Amee erkannte das Muttermal, das alle ihre Zweifel beseitigte. Zögernd nahm sie das Kind wieder in ihre Arme, und dann bedeckte sie sein Gesicht mit Küssen. Atlantor erwachte und begann zu schreien. Fantana nahm Dragons Sohn und sagte: »Ich kümmere mich

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um ihn.« Beide Frauen sahen ihr nach, bis sie verschwunden war. Amee sagte ruhig und gefaßt: »Du hast nicht gelogen und mir meinen Sohn zurückgebracht, obwohl du deinen verloren hast – wenn auch durch deine eigene Schuld. Cnossos entführte das falsche Kind. Aber nun berichte, warum Dragon mich mit dir betrog. Er war glücklich mit mir, gerade zu jener Zeit vor einem Jahr. Warum sollte er mit dir ein Kind gezeugt haben?«

Maratha ahnte, daß nun das Schlimmste vorbei war. Amee hatte alles mit bewundernswerter Fassung getragen.

»Er verbrachte eine Nacht mit mir, weil er dich retten wollte, Amee. Erinnere dich daran, daß du damals von Cnossos entführt worden warst, und nur ich hatte die Möglichkeit, Dragon bei der Suche und deiner Rettung zu helfen. Ich verlangte dafür seine Liebe. Ich weiß, es war nicht recht von mir, aber die Begierde nach ihm verzehrte mich fast, und so sah ich keine andere Möglichkeit, als ihn zur Liebe zu zwingen. So geschah es, daß Dragon der Vater meines Kindes wurde. Du darfst ihm dafür nicht zürnen, er hat es für dich getan.«

Amee sah an Maratha vorbei.. Ihr Schmerz begann sich fühlbar zu lindern, ihre Eifersucht verblaßte. Zugleich ergriff die Gewißheit, ihren Sohn nie verloren zu haben, immer mehr von ihr Besitz. Das Glück war

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größer als die Trauer. »Du verführtest ihn, aber er liebt dich nicht ... wenigstens nicht so, wie er mich liebte, als wir Atlantor zeugten?«

»Sicherlich nicht, Amee, meine Königin. Dragon hat immer nur dich geliebt, auch wenn er mit anderen Frauen schlief.«

Sie überhörte den tieferen Sinn der Bemerkung, so sehr war sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Sie fragte:

»Warum bist du zu mir gekommen, Maratha? Du hättest dein Geheimnis für dich behalten können. Mag sein, daß du dich versündigt hast, aber durch deinen Fehltritt behielt ich meinen Sohn. Deshalb bin ich dir zu Dank verpflichtet.«

»Du bist sehr großzügig, Amee, mehr als ich es je verdiene. Und niemand muß die Wahrheit erfahren, denn Dragon weiß nicht, daß jener Nacht ein Kind entstammt. Aber vielleicht werden wir es ihm doch sagen müssen, denn er wird eine Erklärung verlangen. Ich kann nur hoffen, daß auch er mir verzeiht.«

»Er wird es tun, wenn ich ihn darum bitte. Maratha, möchtest du bei mir im Palast bleiben? Ich fühle, daß auch du meinen Sohn liebst, denn er war lange wie dein eigenes Kind. Du kannst mir helfen, ihn zu pflegen und für ihn zu sorgen – wie eine Mutter.«

Maratha beugte sich zu Amee und küßte ihr die Hände.

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»Du machst mich sehr glücklich, Amee. Ich hätte niemals gewagt, dich um diese Gnade zu bitten, denn Atlantor ist auch ein wenig mein Sohn. Aber von nun an werde ich dafür sorgen, daß er der deine bleibt.«

Sie umarmten sich gerührt.

Am nächsten Tag gab es im Palastgarten einigen Wirbel.

Hotch war kurz nach Sonnenaufgang zu den Vampirhöhlen zurückgekehrt und hatte seinen Sohn Hot-chi zurückgelassen. Das natürlich war den Zwillingen nicht lange verborgen geblieben. Mit Freudengeheul stürzten die beiden Knaben in den Park und fanden den noch schlummernden Kleindrachen zwischen einigen Büschen. Sie waren über ihm, ehe er überhaupt begriff, was geschah. Erschreckt wollte er die Flügel ausbreiten und Anlauf zum Start nehmen, aber die Zwillinge hämmerten mit ihren Fäusten auf ihn ein und brüllten vor Begeisterung.

Hot-chi erkannte seinen Irrtum und tat so, als habe er nur Spaß gemacht. Er blieb liegen.

»Ihr seid sehr leichtsinnig, Kim und Kano. Ich hätte euch fressen können.«

Er dachte es nur, aber für die Zwillinge waren es gesprochene Worte.

»Du und uns fressen? Drachen fressen keine Menschen!«

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Hot-chi wälzte sich ein wenig zur Seite, damit er seine Freunde besser sehen konnte, die auf ihm herumrutschten.

»So, tun sie das nicht? Da seid ihr aber im Irrtum. Noch mein Großvater verzehrte einst einen Hirten in den Himmelsbergen, als dieser ihn mit einem Speer angreifen wollte. Dabei hatte mein Großvater ihm nur helfen wollen, die Herde wieder zusammenzutreiben. Der Hirte soll sehr gut geschmeckt haben.«

»Ach was, wieder eins von deinen Märchen!« rief Kim.

»Das mit dem Hirten ist aber keins.« »Aber dein Versprechen, mit uns zu fliegen, ist

eins!« Hot-chi wälzte sich so schnell auf die andere Seite,

daß die Zwillinge abrutschten und im Gras landeten. Schimpfend rappelten sie sich wieder auf und rannten zu ihrem Freund zurück.

»Haben wir vielleicht nicht recht? Hattest du uns nicht versprochen, uns mitzunehmen?«

»Ich mußte erst die Erlaubnis meines Vaters abwarten, und er hat sie mir gestern gegeben. Aber ich darf immer nur einen von euch mitnehmen, obwohl wir alle ja wissen, daß ich auch beide mitnehmen kann. Wer also möchte zuerst?«

»Ich!« rief Kim lautstark. »Ich!« brüllte Kano noch viel lauter.

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»Ja, das dachte ich mir«, gab Hot-chi gedanklich zurück. »Wir werden es auslosen. Kim, nimm zwei verschieden lange Äste und gib sie mir ...«

»Das alte Spiel!« schimpfte Kano. »Da verliere ich ja immer ...«

Aber diesmal hatte er Glück. Während Kim enttäuscht zurückblieb, kletterte sein

Bruder auf den Rücken des Drachen und setzte sich so in den Nacken, als ritte er ein Pferd. Hot-chi nahm einen kurzen Anlauf und segelte dann schräg empor, wobei er fast die Türme des Palasts streifte. Er verschwand in Richtung der nahen Küste.

Währenddessen versorgte Maratha den Sohn Dragons und brachte ihn dann Amee.

Die beiden Frauen hatten am Abend zuvor noch lange miteinander gesprochen und ihre gegenseitige Zuneigung entdeckt. Nun gab es nichts mehr, das sie hätte trennen können.

Maratha erklärte der Königin ihre wunderbaren Seherfähigkeiten und verriet ihr auch, daß sie ständigen – wenn auch einseitigen – Kontakt zu Dragon hielt. Amee hatte sie gebeten, in dieser Nacht besonders auf Dragon zu achten, da sie ein ungutes Gefühl habe.

Sie blickte der Seherin neugierig entgegen und nahm das Kind.

»Nun, Maratha? Geht es Dragon gut? Hat er

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Cnossos schon besiegt?« »Noch nicht, aber der Kampf wird schon bald

stattfinden. Er muß stattfinden, denn Dragon ...« Sie zögerte.

»Was hat Dragon?« bohrte Amee voller böser Ahnungen. »Haben er und diese Zauberin ...?«

Maratha nickte. »Ja, Amee, er mußte es tun, wollte er keinen

Verdacht erregen. Außerdem ist Kyrace schön, wunderschön. Kein Mann kann ihr widerstehen, auch wenn er eine andere Frau liebt. Kyrace wurde betrogen, während sie noch mit Dragon schlief.«

Amee schloß die Augen und verbarg ihren Schmerz. »Sie haben es also doch getan! Warum? Warum

nur?« Maratha legte ihre Hand auf ihren Arm. »Er liebt dich, auch in den Armen der Kyrace, Amee.

Er vergaß dich nicht eine Sekunde, denn ich war bei ihm. Ich weiß es. Vergiß nicht, daß Dragon mit anderen Maßstäben zu messen ist als jeder andere Sterbliche. Er hat zweitausend Jahre überlebt und ist ein Gott. Das soll keine Entschuldigung für ihn sein, auch nicht für mich und das, was vor einem Jahr geschah, aber ich habe inzwischen gelernt. Ich würde jeden Mann töten, der mich betrügt, aber niemals einen Dragon. Kannst auch du das verstehen, Amee?«

Die Königin nickte beherrscht.

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»Ich verstehe es, aber meinst du nicht, daß es auch schmerzt, ihn in den Armen einer anderen zu wissen? Trotzdem bin ich dir dankbar, daß du mir die Wahrheit sagst. Und morgen trifft er auf Cnossos?«

»Der Kampf steht unmittelbar bevor. Dragon hat die Absicht, ihn in den Vulkan zu stürzen, um den Unsterblichen für alle Zeiten zu vernichten. Wenn ihm das gelingt, hat sich sein Abenteuer mit Kyrace gelohnt. So mußt du es sehen, Königin.«

»Ich versuche es, Maratha.« Abrupt wechselte sie das Thema: »Wo sind die Zwillinge? Im Garten bei dem Drachen?«

»Sie sind bei Hot-chi, dem Sohn Hotchs. Sie haben gerade mit der ersten Rundreise begonnen. Soweit ich sehe, fühlt Kim sich wohl. Kano hat seinen Flug bereits hinter sich.«

»Ist es nicht gefährlich?« »Natürlich ist es das, aber die Zwillinge werden

niemals Männer, wenn sie sich vor Gefahren fürchten. Außerdem macht ihnen das Fliegen einen unbändigen Spaß. Fürchte nicht für sie, Amee, Hot-chi paßt schon auf.«

Nachmittags verbrachten die beiden Frauen einige Stunden im Park, und es sollte nicht der letzte Tag sein, den sie im Palast zusammen waren. Maratha, die immer wieder visionären Kontakt zur Insel der Kyrace aufnahm, konnte nichts Neues berichten. Erst am

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dritten Tag sagte sie zu Amee: »Es ist soweit, meine Königin. Cnossos und Dragon

treffen sich heute auf der kleinen Vulkaninsel. Der König wird den Verräter besiegen und Kyrace nicht mehr wiedersehen. Es ist seine Absicht, ihr zu entkommen, und zu diesem Zweck hat er ihr den Götterwagen gestohlen – oder er wird es noch tun.«

»Götterwagen? Was ist denn das?« »Ich weiß es nicht genau, aber es muß ein Wagen

sein, mit dem man fliegen kann. Er stammt noch aus den Tagen von Atlantis, und er ruhte bis jetzt in der Schatzkammer der Kyrace. Dragon hat ihn sich ausgeliehen, aber er hat nicht den Wunsch, ihn der Zauberin zurückzugeben. Er wird fliehen.«

»Kannst du die Geschehnisse verfolgen und mir laufend berichten?«

»Das ist meine Absicht, Amee.« Am Abend war alles entschieden. Dragon hatte Cnossos in den tätigen Vulkan

gestürzt und ihn – wie er annehmen mußte – für alle Zeiten außer Gefecht gesetzt. Mit dem Götterwagen war er dann zu der stillen Bucht geflogen, in der die Schwarze Wellenreiterin und die Stolz von Sodok vor Anker lagen.

»Was plant er nun?« wollte Amee wissen, nachdem sie alles über den siegreichen Kampf erfahren hatte.

Zum erstenmal, seit sie Freundinnen geworden

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waren, verschwieg Maratha einen Teil der Wahrheit, und das aus guten Gründen.

»Er plant einen Flug in die eisigen Nordländer, aber zuvor wird er nach Myra kommen, um dich in seine Arme zu schließen. Morgen vielleicht, oder über- morgen ...«

Amee ergriff Marathas Hände. »Nein, nicht erst morgen oder noch später, heute

noch! Rufe den Drachen Hotch, damit er uns zu Dragon bringt. Bitte!«

»Aber ...« »Ich bitte dich, Maratha! Beweise, daß du meine

Freundin bist! Auch du solltest ein Interesse daran haben, daß Dragon die ganze Wahrheit hört. Er muß wissen, daß sein Sohn lebt.«

»Sicher soll er es erfahren, aber warum noch heute?« »Bevor er es sich anders überlegt und gleich nach

Norden fliegt. Rufe den Drachen, ich bitte dich!« Maratha erfüllte ihren Wunsch und bekam schnell

Verbindung zu Hotch, der versprach, sofort zu kommen. Aber er könne erst am anderen Tag mit Amee und der Seherin fliegen, behauptete er. In der Nacht sei das Hot-chis wegen zu gefährlich.

Amee ordnete die Reisevorbereitungen an. Die Wächter wurden unterrichtet, daß noch in der Nacht der große Drache eintreffen würde. Hot-chi zeigte sich sehr erfreut, die beiden Zwillinge weniger. Für sie

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waren die abenteuerlichen Flüge vorerst wieder einmal vorbei.

Kaum war die Sonne aufgegangen, kletterten die beiden Frauen auf Hotchs Rücken und banden sich mit Stricken fest, um nicht herunterzufallen. Hot-chi trug einige Vorräte, falls sich der Flug unterwegs verzögern sollte.

Dann nahmen die beiden Drachen Anlauf und erhoben sich in die Lüfte, begleitet von dem begeisterten Geschrei der Zwillinge Kim und Kano und den staunenden Blicken der Wächter.

Die Landschaft glitt schnell unter ihnen hinweg, und bald erreichten sie die Küstenlinie des großen Meeres.

Maratha gab Hotch die Flugrichtung bekannt. Der Drache nahm Kurs auf die Flache See.

2.

Um sich den Nachforschungen der Kyrace zu entziehen, hatten die beiden Schiffe noch am Vorabend des Kampfes zwischen Dragon und Cnossos die stille Bucht verlassen, waren ein Stück an der Küste

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entlanggefahren, um ein neues Versteck zu suchen, wo sie die Ankunft Dragons abwarten wollten. Da man von hier aus die kleine Vulkaninsel sehen konnte, würde es leicht sein, den – hoffentlich – siegreichen Rückkehrer abfangen zu können.

Und genauso geschah es dann auch. Es dämmerte bereits, als Dragon mit dem

Götterwagen kam. Dieser Himmelswagen war zuerst nichts als ein

winziger Punkt über der Vulkaninsel gewesen, doch dann wurde er größer und deutlicher. Dragon sah das Feuer in der Bucht, zog einige Kreise und landete im Sand des sanft ansteigenden Ufers.

Alle sahen zu, wie Dragon, mit dem Troll im Arm, dem wunderbaren Gefährt gemächlich entstieg und ihnen entgegenschritt.

Er hatte Cnossos besiegt. An diesem Abend wurde noch lange gefeiert, und

niemand rechnete damit, daß Kyrace sie in dieser versteckten Bucht entdeckte. Dragon enthüllte den Freunden seine Pläne:

»Ich habe den Götterwagen und werde mit ihm in die Nordländer jenseits der Eisbarriere reisen. Dort gibt es etwas, das ich suche, ein Erbe der Vergangenheit, die für mich einst Gegenwart war. Die Flache See, in der wir uns jetzt befinden, ist ein Teil des Großen Meeres. Wir sind weit von Myra entfernt, aber mit dem

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Götterwagen wird es leicht sein, dorthin zu fliegen. Bevor ich aufbreche, muß ich Amee wiedersehen und sie trösten. Sie hat unseren einzigen Sohn verloren. Erbolix wird mich begleiten.«

Seit er sein volles Erinnerungsvermögen zurückgewonnen hatte, war Dragon entschlossen, die technischen Hilfsmittel der versunkenen Insel Atlantis – soweit noch vorhanden – für sich in Anspruch zu nehmen. Er wollte die Überlebensstation im Norden finden – und wenn er Glück hatte, dann fand er dort auch seinen ehemaligen Lehrer Tobos und dessen liebliche Tochter Mura, mit der ihn eine enge Freundschaft verbunden hatte.

Mura und Amee – das ergab ein neues Problem, dessen war er sich absolut sicher, aber das störte ihn jetzt nur wenig.

Der Troll Erbolix saß auf seinem Schoß. »Ich werde dich begleiten und wieder kleine

Wunder vollbringen, wenn du in der Klemme sitzt«, versprach das kaum dreißig Zentimeter große Männlein, die man früher einmal »Drachenberater« genannt hatte. »Darum ist es eine gute Wahl von dir, mich zu deinem Begleiter zu erwählen.«

Damals, als Atlantis noch existierte, waren die Trolle die ständigen Begleiter der Drachen gewesen, die von anderen Welten stammten und regelmäßig die Erde besuchten. Erbolix hatte noch keinen lebenden Drachen

Page 37: Der Götterwagen

gesehen, und es war sein sehnlichster Wunsch, einem zu begegnen. Er ahnte noch nicht, wie schnell sein Wunsch in Erfüllung gehen sollte.

Der Götterwagen stand ein wenig abseits im Schatten der Felsen. Der Schein des Feuers spiegelte sich auf den seltsamen Ornamenten seiner sonst glatten, metallisch schimmernden Hülle. Die kurzen Stummelflügel ließen die Erinnerung an einen Drachen aufkommen, aber der Götterwagen war alles andere als ein Drachen. Matt glänzte die durchsichtige Kanzel über der Kabine in den Flammen des lodernden Holzes.

Jaggar hielt Yinas Hand. Einst hatte er sie gefangen und wollte sie als Sklavin verkaufen, doch nun war sie seine Geliebte geworden. Er fragte:

»Wann stechen wir in See, Dragon? Beide Schiffe sind bereit, die Rückreise nach Myra anzutreten.«

»Übermorgen, Jaggar. Ich möchte den Tag morgen noch genießen und mich von dem erholen, was ich und auch wir alle erlebt haben. Wir brauchen Kyrace nicht zu fürchten, hier findet sie uns nicht. Dann fliege ich mit dem Götterwagen nach Myra, um danach sofort zu den Nordländern aufzubrechen. Wir werden uns lange nicht sehen, meine Freunde.«

Er ahnte nicht, wie recht er mit seiner Prophezeiung haben sollte.

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Der Tag brach mit strahlendem Sonnenschein an. Mit viel Lärm und Geschrei wurden die beiden

Schiffe zum Aufbruch vorbereitet. Bald würden die Segel gesetzt und der günstige Südwind ausgenützt werden. Erbolix strolchte am Strand umher und wäre dabei Ubali bald unter die Füße gelaufen.

Der Leibwächter Dragons bückte sich und fing Erbolix mit seinen Pranken aus dem Sand. Er hielt ihn dicht vor sein Gesicht.

»Bitte, zürne mir nicht, kleiner Zauberer. Aber an deiner Stelle würde ich vorsichtiger sein. Wenn du es nicht bist, ist Dragon nicht in guten Händen. Mir wäre es lieber gewesen, er hätte mich zu seinem Begleiter für die gefährliche Reise ausgesucht, nicht aber dich. Möchtest du nicht lieber mit den anderen nach Myra zurücksegeln?«

»Du bist schwachsinnig!« behauptete der Troll wütend. »Bei mir ist Dragon sicher. Vergiß nicht, daß ich Wunder vollbringen kann.«

»Wie könnte ich das vergessen, Erbolix?« Er betrachtete den kleinen Kerl, der nur doppelt so groß war wie seine Hände. »Aber man würde es nicht glauben, wenn man dich so sieht.«

»Soll ich es dir zeigen?« »Nein, danke.« Er setzte ihn wieder in den Sand

zurück. »Aber paß auf, daß niemand auf dich tritt.« Der Troll ließ sich von einem Sonnenstrahl

Page 39: Der Götterwagen

weitertransportieren, während Ubali zum Strand hinabging, um den anderen Freunden zur Hand zu gehen. Den Götterwagen streifte er mit einem scheuen Blick.

Jaggar und Dragon wanderten ein wenig abseits des allgemeinen Aufbruchtrubels durch die Küstenlandschaft, die schon die später hier entstehende Wüste verriet. Der Kapitän der »Schwarzen Wellenreiterin« erhielt seine letzten Anweisungen. Wenn der Wind günstig blieb, konnte er in einem halben Mond oder noch früher Myra erreichen.

Jaggar blieb plötzlich stehen und sah hinauf in den wolkenlosen Himmel. Dann beschattete er die Augen mit der rechten Hand.

»Was siehst du?« erkundigte sich Dragon, den die Sorge um Amee bedrückte.

»Zwei Punkte. Sie kommen näher, und der eine ist größer als der andere.«

Dragon nahm Jaggars Arm. »Zum Strand, Yina sollte uns sagen können, was es

ist. Vielleicht hat sich Kyrace einen neuen Zauber ausgedacht.«

So schnell sie konnten, eilten sie zurück zu den Schiffen. Yina kam ihnen bereits entgegen.

»Ich habe eure Gedanken gehört«, sagte sie eifrig. »Ich glaube, Dragon, ich habe eine erfreuliche Botschaft für dich. Dort oben sind Hotch und Hot-chi. Sie

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bringen Amee zu dir.« »Amee?« vergewisserte sich Dragon mit gemischten

Gefühlen. »Was will Amee hier? Ich wollte doch sowieso nach Myra. Und wie sollte sie wissen, wo sie mich findet?«

»Maratha, die Seherin, ist bei ihr. Mehr kann und will ich dir nicht sagen, Dragon. Amee wird mit dir sprechen.«

Dragon versuchte erst gar nicht, Yina umzustimmen. Seit das Mädchen Jaggar liebte, war sie selbstbewußter und energischer geworden. Das Mädchen hatte sich in eine Frau verwandelt.

Dann kam ihm zu Bewußtsein, was sie gesagt hatte: Maratha, die Seherin? Zusammen mit Amee? Das

konnte kaum etwas Gutes bedeuten. Wenn Maratha Amee alles gebeichtet hatte ...

Er schüttelte den Gedanken ab. Na, und wenn schon? Er hatte damals seine guten Gründe gehabt, der Verführung zu erliegen. Schließlich hatte er nur dadurch Amees Leben retten können.

Dragons Begleiter, darunter auch die ehemaligen Seeräuber von der Schlangeninsel, machten bereitwillig Platz, als sich die beiden Drachen näherten und einen günstigen Landeplatz suchten. Hotch segelte schwerelos heran, um sanft auszugleiten, nachdem er den Boden berührt hatte. Mit seinen kräftigen Beinen bremste er erfolgreich ab. Auf seinem Rücken lagen

Page 41: Der Götterwagen

wohlbehalten Amee und die Seherin Maratha. Sie banden sich los, während Dragon ihnen entgegenging.

Hot-chi war wieder einmal unachtsam. Aber eigentlich konnte er nichts dafür, daß er bei seiner etwas harten Landung fast den Troll überrannt hätte. Erbolix rettete sich nur noch durch einen hastigen Sprung zur Seite. Sein sehnlichster Wunsch, endlich einmal einen leibhaftigen Drachen zu sehen, war in Erfüllung gegangen.

Hot-chi betrachtete ihn und dachte: Bei allen Bruteiern meiner Sippe – ist der aber klein! Sein Erstaunen jedoch kannte keine Grenzen, als er

klar und deutlich die Gedankenantwort vernahm: Ich bin Erbolix, ein Drachenberater! Ich begrüße

dich, Sohn des großen Drachen! Damit war das Eis gebrochen. Inzwischen hob Dragon Amee vom Rücken Hotchs

und schloß sie in seine Arme. Maratha ließ sich von Jaggar helfen und warf ihm einen verführerischen Blick zu, was wiederum Yinas Zorn erregte. Da sie aber Marathas Gedanken lesen konnte, beruhigte sie sich sofort wieder!

Nach der allgemeinen Begrüßung sagte Amee zu Dragon:

»Ich möchte mit dir sprechen, allein. Es gibt viele Dinge, die ich dir zu berichten habe, und vor allen Dingen möchte ich dir eine Freudenbotschaft

Page 42: Der Götterwagen

überbringen.« »Was könnte mich noch erfreuen, wenn unser Sohn

verloren ist?« »Er ist nicht verloren, Dragon! Er ist im Palast von

Myra, und sobald wie möglich werden Maratha und ich dorthin zurückkehren, damit er nicht allein ist, wenn du mit dem Götterwagen dort fortgehst.«

Dragon sah sie nachdenklich an, während sie den Strand hinaufschritten. Maratha sah ihnen stumm nach.

»Du weißt, daß mein Entschluß unabänderlich ist. Du wirst mit den anderen nach Myra zurückkehren. Aber nun berichte: Wieso kann Atlantor im Palast sein, wenn ich weiß, daß er durchs Weltentor ging?«

Sie zog ihn auf einen von der Sonne erwärmten Stein.

»In meinem Herzen ist keine Bitterkeit mehr. Ich weiß, daß du mit Maratha geschlafen hast, um mich zu retten. Sie hat es mir selbst gebeichtet, als sie mir das Kind zurückbrachte. Da sie die Kinder vorher vertauscht hatte, war es ihr Sohn, der durchs Weltentor ging. Atlantor lebt und ist gesund.«

Dragon starrte sie fassungslos an. »Sage das alles noch einmal und berichte

ausführlicher, bitte.« Sie erfüllte seinen Wunsch, und nun war es leichter. Lange saß er da und schwieg. Die Freude war wie

Page 43: Der Götterwagen

ein Schock, den er erst einmal verdauen mußte. Sein Sohn Atlantor lebte! Cnossos hatte sich selbst betrogen, als er Dragons Sohn entführte.

»Und Maratha kam zu dir, ganz von allein?« »Sie brachte uns Atlantor zurück, Dragon!« Er nickte. »Ja, ich weiß es jetzt. Und du zürnst weder ihr noch

mir?« Sie lächelte voller Verständnis und Liebe. »Ich zürne niemandem, dir schon gar nicht. Ich habe

dir ja auch die Nächte mit Kyrace verziehen, noch ehe du mir davon berichten konntest.« Er sah an ihr vorbei, ohne sich zu rühren. Ohne das sie es ihm zu sagen brauchte, wußte er, woher sie ihre Kenntnisse besaß. Maratha, die Seherin! Sie war die ganze Zeit mit ihrem Geist bei ihm gewesen.

»Maratha ist deine Freundin geworden?« »Ja, meine beste. Verstehst du das?« Natürlich verstand er das, aber wenn er auch alle

Nachteile in Betracht zog, die eine solche Freundschaft zwischen den beiden Frauen für ihn selbst bringen konnte, so übersah er auch nicht deren Vorteil.

»Das ist gut, Amee, sehr gut. Wenn sie im Palast bleibt, wird sie stets wissen, wie es mir ergeht. Wenn ich in Not gerate, kann sie die Drachen alarmieren und mir zu Hilfe schicken. Das aber nur wirklich dann, wenn mein Leben bedroht ist. Ich muß mit den Dingen,

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die vor mir liegen, selbst fertig werden.« Er seufzte auf. »Atlantor lebt! Ich kann es noch immer nicht glauben.«

»Es ist die Wahrheit, und wir haben alles nur Maratha zu verdanken. Ohne ihren Sohn hätte Cnossos Atlantor wirklich entführt.«

Jaggar näherte sich ihnen vorsichtig. Im Hintergrund standen Maratha und Yina, die sehr wesensverwandten Frauen. Beide verfügten sie über Gaben, die anderen Menschen nicht zur Verfügung standen.

»Erbolix wird nicht mit dir im Götterwagen reisen«, sagte Jaggar.

Dragon sah hinunter zum Strand. Die beiden Drachen lagen faul in der höher gestiegenen Sonne und schienen sich wohl zu fühlen.

»Ich kann mir den Grund denken, Jaggar. Erbolix hat endlich seine Drachen gefunden und kann sich nicht von ihnen trennen, wenigstens nicht so schnell. Na gut, dann werde ich eben Ubali mitnehmen. Morgen brechen wir auf. Und du, Jaggar, wirst beim ersten Windstoß die Anker lichten und nach Myra segeln. Ich vertraue dir Amee an – und alle anderen auch. Aber warte ...« Er dachte einen Augenblick nach. »Es wird besser sein, Hotch bringt Amee und Maratha zum Palast zurück. Wir können Atlantor nicht zu lange allein lassen.«

»Wen ...?« fragte Jaggar ungläubig.

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»Atlantor! Er lebt!« Und so erfuhren auch Jaggar und alle anderen die

wundersame Geschichte der vertauschten Kinder. Dragon suchte Erbolix und entdeckte ihn bei den

beiden Drachen. Auf seine Art unterhielt er sich mit ihnen und erfuhr alles über ihr Schicksal, das sie einst auf die Erde verschlagen hatte. Begeistert bot er ihnen seine Dienste als Berater an, und es war besonders Hot­chi, der voller Enthusiasmus zustimmte, ohne seinen Vater erst zu fragen. Aber auch Hotch war einverstanden. Die Drachen hatten schon lange keinen Troll mehr als Berater gehabt.

Dragon bat Hotch, morgen mit den beiden Frauen nach Myra zurückzufliegen und ständig mit Maratha in Kontakt zu bleiben. Wenn er sich jenseits der großen Eismauer in den Ländern des Nordens aufhielt, benötigte er die Gewißheit, daß sein Sohn in Sicherheit aufwuchs.

»Du tust ganz so«, stellte Hotch fest, »als wolltest du viele Sommer lang wegbleiben, Dragon. Du hast den Götterwagen, mit dem kannst du schnell reisen.«

»Niemand weiß, was vor uns liegt, Hotch. Unbekannte Länder und unbekannte Gefahren. Aber ich kann nur Ubali mitnehmen, für mehr ist nicht Platz.«

Er kehrte zum Strand zurück, um die Nacht mit Amee in seiner Kajüte zu verbringen. Ubali, der

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stämmige Schwarze, hielt draußen auf dem Gang Wache, damit niemand das Wiedersehen störte.

Dragon lag noch lange wach neben Amee, die eingeschlafen war. Die Schwarze Wellenreiterin schaukelte leicht in der schwachen Dünung der Bucht. Durch das Bullauge fiel der Schein des Lagerfeuers am Strand.

Ob es damals, als Atlantis unterging, Tobos und Mura noch gelungen war, die Überlebensstation im Norden zu erreichen? In ihr hatte es auch einen Platz für ihn gegeben, neben Mura.

Amee seufzte im Traum und drehte ihm den Rücken zu. Er blieb ganz ruhig liegen, um sie nicht zu wecken. Jetzt, so kurz vor seinem Aufbruch ins Ungewisse, kamen die Gedanken und Zweifel. Sicher, die Koordinaten der gesuchten Station waren ihm nun bekannt, er hatte sie im Gleiter ja gefunden, aber sie sagten nichts über die Natur des Landes aus, in das er vorstoßen wollte. Niemand wußte, was hinter der großen Eismauer nördlich des Großen Meeres lag.

Je eher er losflog, so hatte er Amee gegenüber argumentiert, um so früher konnte er wieder zurück sein. Vielleicht, hatte er ihr Hoffnung gemacht, noch vor der Ankunft der beiden Schiffe in Myra.

Draußen dämmerte der Morgen, als Dragon schon wieder erwachte.

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Leise verließ er das Lager und ließ Amee schlafen. Nach einem erfrischenden Bad in der Bucht kehrte er an Bord zurück, zog sich an und machte sich reisebereit. Die beiden Drachen warteten auch schon auf ihre Fluggäste.

Der Abschied war kurz. Ubali hatte Pelzmäntel, getrocknetes Fleisch und einige verschlossene Krüge mit Wein in den Götterwagen gebracht und im hinteren Teil der Kabine verstaut. Auch an Waffen hatten die beiden Männer gedacht. Dragon trug seinen Umhang mit den wunderbaren Eigenschaften, vor allen Dingen schützte er trotz seiner Leichtigkeit vor der Kälte.

Erbolix hockte in einer Nackenfalte Hotchs, als die Drachen mit Amee und Maratha starteten und nach einer Schleife Kurs nach Nordosten nahmen. Bald waren nur noch zwei Punkte am Himmel zu sehen, die schnell kleiner wurden und schließlich verschwanden.

Wind kam auf, und nach einer letzten grüßenden Handbewegung scheuchte Jagger seine Leute an Bord der Schwarzen Wellenreiterin. Auch die Stolz von Sodok lichtete die Anker. Langsam glitten die beiden Schiffe mit halbgeschwellten Segeln aus der Bucht.

Dragon sah ihnen nach, bis sie hinter das flache Kap gelangten und nur noch die Mastspitzen zu sehen waren.

Ubali hatte auf Dragons Geheiß eine lange lederne

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Hose angezogen, obwohl er dies für unnötig hielt, auch wenn Dragon ihm das Gegenteil prophezeite.

»Der Götterwagen kann schnell fliegen und sehr hoch steigen, Ubali, und dort oben ist es kalt.«

Dragon konnte die Kontrollen des Fahrzeugs vom ersten Augenblick an bedienen. Es war so, als hätte Dragon sehr oft in der Kabine eines Götterwagens gesessen, aber er konnte sich nur noch dunkel daran erinnern.

Sie saßen hintereinander, Dragon vorn. Ubali warf einen ängstlichen Blick auf die kurzen Stummelflügel an den Seiten. Ganz geheuer war ihm der Flugapparat nicht, das sah man ihm deutlich an.

»Du kannst dich anschnallen, ich zeige es dir«, empfahl Dragon, drehte sich zurück und half dem Schwarzen. »Ich werde es auch tun. Es könnte sein, daß wir in einen Sturm geraten, wenn wir die Eiswand überfliegen.«

Vorsichtig drückte Dragon dann den Fahrthebel ein wenig nach oben. Ein leichter Ruck ging durch den Wagen, dann schwebte er langsam empor. Ubali, der seitwärts durch das gläserne Dach blickte, sah die Bucht nun in ihren ganzen Ausmaßen und ein wenig nördlich der Küste die beiden Schiffe, die gut vorankamen. Sogar weiße Schaumkronen waren bereits auf der Wasseroberfläche zu erkennen.

Immer kleiner wurde die Bucht, und dann drückte

Page 49: Der Götterwagen

Dragon den Hebel nach vorn. Der Wagen stieg nicht mehr höher, nahm aber Fahrt auf. Bald war unter ihm nur noch Wasser zu sehen – das Große Meer.

Dragon hütete sich, die Geschwindigkeit noch weiter zu erhöhen. Sie waren schon jetzt hundertmal schneller als jedes Schiff, und einen Tagesritt legten sie in wenigen Minuten zurück. Die längst aufgegangene Sonne stand rechts hinter ihnen, und ihre Strahlen erwärmten das Innere der Kabine mehr, als Dragon erwartet hatte. Ubali behielt seine Hosen trotzdem noch an. Später kam links Land in Sicht. Sie hatten das Enge Meer erreicht. Sobald sich dieser nördliche Teil des Großen Meeres zu einer riesigen Bucht schloß, konnte die Große Eiswand nicht mehr weit entfernt sein.

Dragon wußte, daß diese Wand schon zu den Zeiten von Atlantis existiert hatte und die Grenze zwischen Nord und Süd darstellte. Es schien noch niemandem gelungen zu sein, das gewaltige Gebirge aus Eis und Schnee zu überqueren, aber es mußte Täler geben und Einschnitte, durch die ein Vordringen in die eine oder andere Richtung möglich wurde.

Dieses Problem hingegen stellte sich ihnen, die den Götterwagen hatten, nicht. Sie würden die Barriere einfach überfliegen.

Nun war auch auf der rechten Seite Land zu sehen – und dann weit vor ihnen am Horizont. Sie

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hatten die große Bucht im Norden erreicht. Ubali redete kaum. Er hatte genug damit zu tun,

sich die Welt von oben her zu betrachten. Weit vorn über dem Horizont gewahrte er etwas, das im ersten Augenblick an eine weiße Wolkenwand erinnerte, unregelmäßig geformt und von blendender Helligkeit. Aber es waren keine Wolken – und er sagte es auch.

Dragon nickte. »Es ist die Große Eiswand. Wir werden bald

höhersteigen müssen, um sie zu überwinden. Wir werden ein Gebiet überfliegen, das der Fuß eines Menschen noch nie betreten hat. Und es wird dann wirklich kälter werden, das kannst du mir glauben.«

Immer näher kam die Wand, und da sich ihre Konturen nicht veränderten, mußte sie aus festem Stoff bestehen, aus Felsen, Schnee und Gletschern. Aber Wolken gab es nun auch. Sie waren dunkler als der Schnee und verdeckten die höchsten Gipfel des riesigen Gebirges, das an manchen Stellen dreitausend Manneslängen hoch sein mußte.

Dragon stieg nur so hoch, wie es unbedingt sein mußte. Er verlangsamte die Fluggeschwindigkeit, denn er wollte die Gelegenheit auch dazu nutzen, das unbekannte Land eingehend zu betrachten. Das aber war schwieriger, als er geglaubt hatte, denn die eintönig weiße Fläche ließ Höhenunterschiede kaum sichtbar werden.

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Einmal überquerten sie ein breites Tal, das sich von Osten nach Westen zog. Hier hatten sich die Schmelzwasser gesammelt und waren abgeflossen, so war das Tal entstanden. Es gab keine Spur von Vegetation, nur eine dichte Schneedecke, die viele Manneslängen dick sein mochte. Später einmal vielleicht, in Tausenden von Sommern, würde auch hier Gras wachsen, wenn sich die alte Prophezeiung bewahrheitete und das Eis zurückwich.

»Dort!« rief Ubali plötzlich aus und deutete schräg hinab ins Tal, dessen Sohle nur hundert Manneslängen unter ihnen lag. »Es bewegt sich! Was ist es?«

Dragon ging ein wenig tiefer. Rechts und links waren die Berghänge zu weißen Mauern aus Eis geworden, die scheinbar senkrecht nach oben strebten. Man kam sich wie eingeschlossen von ihnen vor, und Ubali versuchte erst gar nicht sich vorzustellen, was geschehen würde, wenn der Götterwagen plötzlich abstürzte und sie für immer in diesem Tal bleiben mußten.

»Ein Wolf!« sagte Dragon erstaunt und hielt den Gleiter an. »Es ist ein weißer Wolf, ein riesenhaftes Tier. Wovon kann es hier leben?«

»Weiße Wölfe sind Zauberer«, behauptete Ubali. »Vielleicht kann er Schnee und Eis in Fleisch verwandeln.«

Dragon antwortete nicht. Die Versuchung, das Tier

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von der Luft her zu erlegen, wurde übermächtig, aber dann vergaß er den Gedanken wieder. Er hatte andere Dinge zu tun.

Der Götterwagen stieg wieder nach oben und ließ den einsamen weißen Wolf zurück, der ihnen furchtlos nachblickte.

Sie überquerten ein weiteres Eismassiv, und dann sahen sie vor sich nur noch vereinzelte Berge, dazwischen riesige Gletscher, die sich weit in die hügelige Ebene im Norden vorgeschoben hatten.

Und zum erstenmal sahen sie wieder grünes Land. Inzwischen war die Sonne nach Westen gewandert,

und es begann zu dämmern. Dragon deutete auf das Plateau eines flachen Berges, der eisfrei geblieben war. Ringsum schmolzen die Gletscher und ließen Flüsse entstehen, die nach Norden flossen.

»Hier werden wir übernachten«, sagte er und steuerte das Plateau an.

3.

Als Ubali aus der Kabine kletterte, um das Plateau zu

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inspizieren, schauderte er vor Kälte zusammen. Schnell beugte er sich zurück und zog einen der beiden Pelzmäntel hervor. Hastig zog er ihn an.

»Vielleicht findest du Holz«, rief Dragon ihm nach, während er sich ebenfalls warm ankleidete und die Kabine schloß. Die Waffen ließ er zurück, er nahm nur ein Messer, etwas Trockenfleisch und ein wenig trockenen Zunder und zwei Feuersteine mit.

Ubali stellte fest, daß die Hochfläche hundert Manneslängen lang und die Hälfte breit war. Nach drei Seiten fielen die Hänge steil ab, der vierte war flach. In der Ebene war es zwischen den Gletschern grün, aber das konnte er kaum noch erkennen. Es wurde schnell dunkel. Immerhin schien in dieser Gegend die Herrschaft der Gletscher bereits gebrochen zu sein.

Sein Leben lang hatte Ubali unter der brennenden Sonne zugebracht, und selten nur hatte er den Regen erlebt. Und wenn es regnete, war es eine Wohltat gewesen. Nun aber bezog sich der Himmel und beschleunigte die hereinbrechende Dämmerung. Es begann zu nieseln, feiner und kalter Regen kam aus den Wolken und ließ den Pelzmantel schwer werden. Doch es dauerte nicht lange.

Als er das wenige Holz, das er unter den Büschen fand, zum Götterwagen zurückbrachte, brannte dort bereits das wärmende Feuer.

»Setz dich, Ubali, du wirst gleich nicht mehr frieren.

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Ich habe noch einen Krug mit Wein geholt, wir müssen den ersten Tag in den unbekannten Nordländern feiern. Dort ist ein Stein, er kann dir als Sessel dienen.«

Ubali rollte den Stein nahe an das Feuer heran und legte Holz nach.

»Ich mag das Nordland nicht, Dragon. Es ist kalt und unfreundlich. Wie erst mögen die Menschen hier sein?«

»Morgen werden wir es vielleicht wissen. Wir haben den Götterwagen, und sie werden uns auch wie Götter begrüßen, glaube ich. Wir brauchen sie nicht zu fürchten.«

»Wenn es hier überhaupt Menschen gibt!« sagte Ubali.

»Doch, es gibt sie. Einige von ihnen kamen auch zu uns in die Südländer, aber sie überquerten nicht die Eiswand. Es gibt andere Wege, so jenen durch das Meer, das sich bis zum Ende der Welt erstreckt – wie man sagt.«

»Gibt es überhaupt ein Ende der Welt?« fragte Ubali. »Vielleicht ist sie unendlich groß und hört nie auf. Mit dem Götterwagen könnten wir sie erforschen ...«

Daran hatte Dragon längst gedacht. Er wollte zu jener Stelle fliegen, an der sich einst Atlantis aus den Wogen des Meeres erhoben hatte, dann weiter bis zu den großen Kontinenten im Westen. Und noch weiter, immer der sinkenden Sonne nach.

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Sie tranken den Wein und aßen das Fleisch. Das Feuer wärmte sie und ließ sie die Kälte vergessen, die von den nahen Gletschern ausging. Es hatte aufgehört zu regnen, aber die Nacht war voller Geräusche.

Irgendwo hatte ein trockener Zweig geknackt. Dragon saß ganz reglos da und starrte in die

Dunkelheit. Hinter den Wolken war der Mond, aber man konnte ihn nur ahnen. Er spendete kein Licht.

Ubali stellte den fast leeren Krug langsam auf die Erde. Sein Gesicht zeigte den Ausdruck höchster Spannung.

»Es ist ein unheimlicher Platz, Dragon. Vielleicht sollten wir ihn verlassen. Oder wir sollten im Götterwagen schlafen.«

Dragon schüttelte den Kopf und legte die Hand auf die Lippen.

»Sei ganz ruhig, Ubali! Wohin sollten wir jetzt fliegen, wo wir nicht einmal wissen, wo wir sind? Wir bleiben, aber es ist besser, du gehst und holst die Schwerter. Hast du das Geräusch auch gehört?«

»Natürlich habe ich es gehört. Jemand schleicht sich den Hügel herauf. Er muß den Schein des Feuers gesehen haben.«

»Was meinst du? Sollen wir es löschen?« »Nein, lieber nicht. Aber wir könnten in Deckung

gehen und warten, wer uns einen Besuch abstattet.« Er ging und holte die Schwerter. Dragon legte noch

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ein paar Äste nach und schlich sich mit Ubali einige Meter abseits, wo ein paar Büsche Schutz boten. Dort legten sie sich auf die feuchte Erde und lauschten.

Da war wieder das Knacken, am Rand des Plateaus. Dragons geübtes Ohr verriet, daß es sich nur um

einen einzigen Gegner handelte, wenn es überhaupt ein Gegner war. Das Knacken kam immer näher, und es war ... es war irgendwie langsam. Es war so langsam, daß Dragon vermuten mußte, es könne sich nur um ein Lebewesen handeln, das mühsam den Hang heraufgekrochen kam.

»Es muß gleich da sein«, flüsterte er Ubali zu und packte den Griff des Schwertes fester. »Vielleicht ist es friedlich.«

»Es ...?« dehnte Ubali und schauderte zusammen. Dort, wo Feuerschein und Schatten sich zu einer

diffusen Grenzzone vermischten, sah Dragon undeutlich einen Schatten, der keine menschlichen Formen besaß. Er glaubte, eine dunkle Kugel von Kopfgröße gesehen zu haben, von der ebenfalls dunkle Strahlen ausgingen. Es sah so aus, als bewege sich die Kugel auf diesen Strahlen fort.

Dann kam der undefinierbare Schatten ins Licht. Ohne sich zu rühren, lagen Dragon und Ubali unter

den Büschen und sahen zu, wie eine riesige Spinne, mit ihren Beinen fast so hoch wie ein Mann, auf das Feuer zukroch.

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Eine Spinne! Dragon erkannte deutlich die starken Greifzangen,

die sich nervös hin und her bewegten. Acht Beine hatte sie, lang, kräftig und behaart. Die Augen reflektierten den Schein des Feuers, das sie neugierig betrachtete.

Das Monstrum kam näher, langsam und zögernd. Ubali hatte inzwischen seine abergläubische Scheu

verloren. Er hauchte Dragon zu: »Herr, ich will es töten! Noch nie hat ein Mensch ein

solches Ungeheuer getötet. Laß mir die Ehre, der erste zu sein.«

»Hör zu, Ubali, wir wissen nicht einmal, ob es uns feindlich gesinnt ist. Vielleicht sucht es nur die Wärme des Feuers im Land der Kälte. Du siehst, daß es das Feuer nicht kennt. Es wäre ungerecht, das Tier zu vertreiben, bevor wir seine Absichten nicht kennen.«

»Dann geh und frage es«, gab Ubali verstimmt zurück.

Dragon nickte. »Genau das werde ich tun. Du kommst mir zu Hilfe,

wenn es mich angreift. Aber bleibe liegen, wenn es sich ruhig verhält.«

Dragon nahm sein Schwert und stand auf. Vorsichtig verließ er die Deckung, die ihm die Büsche gaben, und ging langsam auf das Feuer zu. Die Spitze des Schwertes zeigte auf den Boden.

Die Riesenspinne erstarrte in ihren Bewegungen. Sie

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war etwa zehn Manneslängen von dem Feuer entfernt, das allmählich niederbrannte. Sein Schein genügte jedoch, die nähere Umgebung fast taghell zu erleuchten.

Dragon überlegte, ob es Sinn habe, die Spinne anzureden. Vielleicht konnte sie Gedanken lesen, dann würde sie ohnehin bereits wissen, daß er mit ihr sprechen wollte. Und wenn nicht ...?

Er blieb stehen, als zwischen ihnen nur noch fünf Manneslängen waren.

»Wer bist du?« fragte er laut, damit auch Ubali ihn hören konnte. »Wir kommen in Frieden, und wenn du die Wärme haben willst, so werden wir sie gern mit dir teilen.«

Zuerst erfolgte keine Reaktion, aber dann, nach einer Weile, bewegten sich die Beine der Spinne. Das Untier kroch auf Dragon zu.

Dragon hob langsam das Schwert, ohne sich von der Stelle zu rühren. Die Spinne hielt an, als würde sie die Bedeutung der Geste erkennen. Aber dann, mit einem blitzschnellen Satz, rannte sie auf Dragon zu, die beiden Greifzangen zum Angriff weit vorgestreckt.

Nun gab es keinen Zweifel mehr. Dragons Schwert sauste herab, aber es traf nur die

beiden vorderen Beine der Spinne und trennte sie von dem Kugelrumpf. Das Monstrum hatte immerhin noch sechs weitere Beine, und es stürmte weiter vor. Dragon

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sprang zurück und rannte zum Feuer. Ubali hielt es nicht mehr länger in seinem Versteck.

Mit einem Wutschrei sprang er auf und stürmte mit vorgestrecktem Schwert auf den Gegner zu. In seiner Aufregung verfehlte er das Ziel. Aber die Spinne erwischte ihn mit einem der Beine und brachte ihn zu Fall. Kaum war das geschehen, da stürzte sie sich auf ihr Opfer, und die beiden Greifzangen schlossen sich, um ihm den rechten Arm abzuschneiden.

In diesem Augenblick kam Dragon zurück, in der Hand einen lodernden Ast, den er der Spinne gegen den Körper stieß.

Das Tier gab einen quietschenden Laut von sich, ließ Ubali los und versuchte zu fliehen. Aber Dragon eilte ihm nach und verbrannte drei der haarigen Beine. Jetzt, da die Spinne so gut wie verloren war, stellte sie sich zum Kampf. Mit einem schreckenerregenden Zischen fuhr sie auf Dragon zu, die Zangen weit gespreizt.

Abermals stieß Dragon zu, der brennende Ast fuhr dem Gegner genau in das weit geöffnete Maul und blieb stecken.

Der Erfolg war verblüffend. Die Spinne – oder was immer es auch sein mochte –

sackte in sich zusammen und wurde zu einem erbärmlichen Bündel verkohlter Materie, deren Gestank Dragon und Ubali davon abhielt, näher zu kommen.

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Zum letzten Mal zuckten die Füße, dann war das Monstrum tot.

Die beiden Männer sahen sich an. »Bei allen Göttern!« stieß Ubali hervor. »Was war

das?« Sie kehrten zum Feuer zurück. »Eine Spinne – wenigstens sah es so aus. Aber wenn

es in diesen Nordländern so große Spinnen gibt, wie groß mögen da erst die anderen Raubtiere sein? Wir werden immer in der Nähe des Götterwagens bleiben müssen, wenn wir irgendwo landen, damit wir jederzeit sofort fliehen können. Eine Gefahr, die man nicht kennt, ist doppelt so groß.«

Ubali sah sich ständig nach allen Seiten um und hatte nicht viel Freude an dem wärmenden Feuer. Er war von einer Unruhe ergriffen worden, die auch Dragon anzustecken drohte. Das Schwert ließ er nicht mehr aus der Hand, selbst dann nicht, wenn er Holz nachlegte.

»Wie machen wir es mit dem Schlafen, Dragon? Ich glaube nicht, daß ich in dieser Nacht auch nur ein Auge schließe.«

»Einer muß wachen. Wenn du willst, kannst du die erste Wache übernehmen. Ich gehe noch Holz sammeln und lege mich dann in den Götterwagen zum Schlaf nieder. Später löse ich dich ab.«

Ubali nickte sein Einverständnis, aber man sah ihm

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an, daß er es nur tat, weil er keine andere Wahl hatte. Dragon ließ sein Schwert zurück und nahm nur das Messer mit. Er machte einen Rundgang um das Plateau, konnte aber nichts Verdächtiges mehr feststellen. Wenn er über trockene Äste und Wurzeln stolperte, nahm er sie gleich mit. So kehrte er schwer beladen zum Feuer zurück.

»Alles in Ordnung«, beruhigte er Ubali und warf das Holz in das feuchte Gras. »Gute Nacht.«

Der Morgen graute, und dann brach die Wolkendecke auf. Die Sonne kam heraus und verwandelte die düstere Landschaft in eine etwas freundlichere. Dragon warf das letzte Holz ins Feuer und ging zum Rand des Plateaus. Er sah hinaus in die Ebene im Norden. Irgendwo dort mußte der Eisfluß sein, von dem man sich die unglaublichsten Dinge erzählte, obwohl noch niemand dort gewesen war. Aber es waren Menschen von ihm aus in den Süden vorgedrungen, sonst wäre seine Existenz unbekannt geblieben. Auch Arric, der abgewiesene Freier der Kyrace, mußte aus dieser Region stammen.

Eine breite Gletscherzunge schob sich weit in die grüne Ebene hinein, die nur an wenigen Stellen von Schnee bedeckt war. An seinem Ende schmolz der Gletscher, ein Bach entstand und floß nach Norden, dem großen Eisfluß entgegen. Links machte die Große

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Eiswand einen Bogen nach Norden. Im Westen war der Himmel bereits wolkenfrei, und selbst die höchsten Gipfel waren deutlich zu erkennen. Mitten in der Ebene gab es schneefreie Geröllfelder. Einst mußten auch hier Gletscher gewesen sein; sie hatten das Gestein aus der Großen Eiswand mitgebracht und hier abgelagert.

Dragon kehrte zu Ubali zurück, der ihn bereits ungeduldig erwartete.

Die Sonne war höhergestiegen und wärmte bereits. Sie legten die Pelzmäntel wieder in die Kabine und starteten, nachdem sie hineingestiegen waren und das Dach des Fahrzeugs geschlossen hatten. Ubali sah noch einmal hinab auf das Plateau, dann aber richtete sich sein Blick nach vorn, dem geheimnisvollen Eisfluß entgegen.

Nach geraumer Zeit verlangsamte Dragon die Geschwindigkeit. Ohne sich umzudrehen, sagte er:

»Unten rechts, siehst du die Hütten? Wenn du genau hinblickst, kannst du auch bebaute Felder erkennen. Es gibt also Menschen hier! Sie müssen Jäger und Bauern sein, und ihr Leben ist schwer. Kein Wunder, daß immer wieder welche von ihnen versuchen, zu den Südländern zu gelangen.«

»Willst du landen?« »Das hätte wenig Sinn. Das dort unten ist eine

einsame Siedlung, die sicher keine Verbindung zu

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anderen Menschen hat. Sie könnten uns überhaupt nicht weiterhelfen, und wahrscheinlich würden sie uns sogar für böse Dämonen halten und angreifen. Nein, wir fliegen weiter. Für mich ist nur interessant, daß hier Menschen leben.«

Ubali gab keine Antwort. Er sah mit seinen scharfen Augen, daß man auch sie bemerkt hatte. Einige in Felle gekleidete Männer standen auf den Feldern und sahen zu ihnen empor. Seltsamerweise zeigten sie keine besondere Angst oder Aufregung. Sie taten ganz so, als sei das Erscheinen eines Götterwagens etwas Gewohntes für sie.

Sie überflogen noch andere Siedlungen. Die Menschen hatten es verstanden, sich in dieser lebensfeindlichen Umgebung die günstigsten Plätze auszusuchen. Immer waren Wälder und kleine Flüsse in der Nähe. Gletscher gab es schon lange nicht mehr. Nur an den Nordhängen lag schon Schnee. Aber wenn der Winter richtig hereinbrach, würde er alles bedeckt haben. Für Ubali, der keinen Schnee kannte, war es ein Rätsel, wie Menschen hier überleben konnten.

Inzwischen war es fast Mittag geworden. Der Himmel war wolkenlos und von einem seltsam blassen Blau, wie man es in den Südländern nicht kannte. Man konnte gut bis zum Horizont sehen, der sich in einer Mischung von Weiß und Grün verlor.

Dragon entdeckte als erster das silbern

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schimmernde Band. Es zog sich von Sonnenuntergang nach

Sonnenaufgang. Wie eine Grenze, dachte Dragon, als er es erblickte. Das konnte nur der Eisfluß sein. Wenn er die Entfernung berücksichtigte, mußte der Fluß breiter sein, als er bisher angenommen hatte.

Die Siedlungen wurden immer häufiger, und einmal sahen sie sogar einen richtigen Treck nach Süden ziehen. Er bestand aus primitiven Holzkarren, die von bulligen Vierbeinern gezogen wurden. Auf den Kutschböcken saßen langmähnige Männer in Pelzmänteln oder Fellkleidern. Frauen in langen Gewändern liefen neben den Wagen her oder saßen neben den Männern. Dragon ging tiefer, um besser sehen zu können. Er wollte die Wanderer, die einem Ungewissen Schicksal entgegenzogen, nicht erschrecken. Aber seine Sorge war unbegründet. Auch diesmal war nichts von Verwirrung zu bemerken. Ganz im Gegenteil – man winkte ihnen zu.

»Das begreife ich nicht«, meinte Ubali. »Da glauben wir, wir kämen als Götter, und sie winken uns zu, als wären wir alte Bekannte. Ob die Götter hier alte Bekannte sind?«

»Man könnte es fast glauben, Ubali. Jedenfalls ist es seltsam, daß die Menschen hier keine Furcht vor Götterwagen zu haben scheinen. Es ist ein Geheimnis, das wir ergründen müssen, aber jetzt noch nicht. Wir

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fliegen weiter nach Norden, dem Eisfluß entgegen.« Der Zug der Wagen blieb zurück. Die Frage blieb

offen, was sie im Süden wollten, wo die Große Eiswand auf sie wartete. Sie würden sie niemals überqueren können, um in die warmen Südländer zu gelangen.

Immer mehr Siedlungen gab es nun. Sie lagen meist an den warmen Südhängen. An den Hängen fielen in Reihen angelegte Sträucher auf, die allerdings jetzt keine Blätter trugen. Sie waren ein Beweis dafür, daß die Menschen in diesen Regionen sich dem Ackerbau zugewandt hatten und davon lebten. Wahrscheinlich war das die Arbeit der Frauen, während die Männer auf die Jagd gingen.

Das silberne Band kam immer näher. Es war ein breiter Strom, der von Eisschollen

bedeckt war. An seinen Ufern lag Siedlung neben Siedlung, aber viele von ihnen schienen verlassen zu sein. Auf den Dorfstraßen zeigte sich kein Mensch, auch wenn der Götterwagen dicht über sie dahinschwebte oder gar stillstand.

Dragon sagte: »Ich habe noch nicht die Absicht, den Eisfluß zu

überqueren. Bevor wir weiterfliegen, müssen wir mit Menschen gesprochen haben. Auch will ich in Erfahrung bringen, warum so viele von ihnen nach Süden ziehen, obwohl das Land hier freundlicher ist.«

Page 66: Der Götterwagen

»Dann landen wir doch einfach und fragen«, schlug Ubali vor.

»Wen willst du denn fragen, wenn die meisten Siedlungen verlassen sind? Es muß doch einen Grund dafür geben? Nein, wir fliegen am Eisfluß entlang, bis wir eine größere Ortschaft finden, die bewohnt ist.«

Sie nahmen Kurs in Richtung Sonnenuntergang, bis Ubali plötzlich einen Ruf ausstieß und nach links vorn zeigte.

»Was ist das, Dragon? Das müssen ja Tausende von Menschen sein, die nach Süden ziehen! Sieh nur die Wagen, Hunderte von ihnen in einem langen Zug! Ist es das, was du gesucht hast?«

»Ja, das ist es! So viele Menschen können nicht einfach ohne Grund ihre Heimat verlassen und der Eiswand entgegenziehen, die für sie eine unüberwindliche Grenze darstellt. Wir müssen wissen, warum sie das tun. Wir werden Verbindung zu ihnen aufnehmen.«

»Und wenn sie das nicht wollen?« »Wir werden ja sehen ...« Dragon ging tiefer und folgte dem Treck. Er flog von

der Seite her auf den endlosen Zug an, verlangsamte die Geschwindigkeit und korrigierte die Richtung derart, daß der Flugwagen direkt über den Wagenkolonnen schwebte.

Der erwartete Schock blieb aus.

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Die meisten Frauen blickten nur kurz nach oben, um sich dann wieder der Führung der Zugtiere zu widmen. Für sie mußte der Anblick eines Götterwagens etwas Alltägliches sein, dem sie keine Beachtung mehr schenkten. Anders reagierten jedoch die Männer, wenn auch in absolut anderer Form, als Dragon es erwartet hatte.

Einige von ihnen schienen über das Erscheinen des Götterwagens so erfreut zu sein, daß sie ihre eigentliche Aufgaben vergaßen. Sie rannten hinaus auf das freie Gelände neben dem Treck und begannen wie verrückt zu winken, wobei sie ihre Waffen hin und her schwenkten, was aber in diesem Fall als freundschaftliche Geste zu werten war. Andere wiederum warfen die Arme empor, als wollten sie eine geliebte Frau empfangen, was natürlich von Dragon nur als symbolische Geste gewertet werden konnte, wobei er nicht ahnen konnte, wie nahe er mit seinem Vergleich der Wahrheit gekommen war.

Ubali meinte: »Die kennen uns – oder zumindest kennen sie einen

Götterwagen. Sind das die Menschen, die du suchst?« »Ja, vielleicht. Wir werden landen. Nimm die

Schwerter mit, wenn wir aussteigen. Sie sollen sehen, daß wir bewaffnet sind.«

»Ist das ein Zeichen des Friedens«, fragte Ubali vorwurfsvoll.

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Dragon antwortete: »Ein Zeichen der Wachsamkeit, Ubali!« Kaum hatte der Götterwagen hundert

Manneslängen seitlich des Wagenzugs den Boden berührt, da kamen mehrere Dutzend Männer auf ihn zugerannt. Sie umringten ihn und winkten freudig erregt. Die meisten von ihnen trugen nun keine Waffen. In ihren Gesichtern zeigte sich Freude und so etwas wie Hoffnung.

Dragon betrachtete sie genauer, ehe er das Dach der Kabine öffnete. Sie waren in Felle gekleidet, hatten lange blonde oder rote Haare und blaue Augen. Auch die Frauen, die nun herbeikamen, waren ähnlich gekleidet und sahen genauso aus. Und auch in ihren Gesichtern schimmerte die freudige Hoffnung, wie bei ihren Männern.

»Ich glaube, wir sind unter Freunden«, sagte Dragon und nickte Ubali zu. »Ich öffne jetzt das Dach, dann steigen wir aus. Ich zuerst, du wartest noch ein wenig. Folge mir, wenn ich dir einen Wink gebe.«

Das durchsichtige Dach schwang auf. Dragon gab die winkende Begrüßung zurück und kletterte aus der Kabine. Federnd sprang er auf den grasigen Boden, mitten unter die fremden Menschen. Sie wichen ein wenig zurück, aber nicht furchtsam oder erschrocken, sondern respektvoll und voller Achtung. In einigen Gesichtern glaubte Dragon das herauslesen zu können,

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was er bereits vermutete: Man hatte sie erwartet. Oder man verwechselte ihn und Ubali mit jemand

anderem. »Ich komme aus den Südländern und bin ein

Freund«, sagte er in der Hoffnung, jemand würde ihn verstehen. »Warum verlaßt ihr eure Heimat?«

Sie blickten ihn verständnislos an und verstanden seine Sprache nicht. Dann trat einer von ihnen vor, vornehmer gekleidet als die anderen und mit einem schmalen Schwert an der Seite. Seine langen und roten Haare hingen ihm bis auf die Schultern. Das Gesicht war scharf geschnitten und wirkte edel.

»Du redest in der alten Sprache der Weisen, die nicht allen bekannt ist«, sagte er, für Dragon plötzlich verständlich. »Wenn dem so ist, dann antworte mir: Kommst du im Auftrag der Eiskönigin?«

Dragon gab Ubali einen Wink, aus dem Götterwagen zu kommen.

»Wer ist die Eiskönigin? Ich kenne sie nicht.« Der Mann sah ihn ungläubig an, aber dann lachte er

plötzlich. »Du kennst die Eiskönigin nicht, die man auch die

Weise Frau nennt? Jeder kennt sie. Du kommst von ihr, um uns zu helfen. Warum willst du das leugnen? Du kennst die alte Sprache, die nur den Weisen und Fürsten bekannt ist. Also bist du auch einer von ihnen.« Er deutete mit der Hand in Richtung Ubalis, der neben

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dem Götterwagen stand, das Schwert in der Hand. »Wer ist das? Er sieht aus wie ein Dämon!«

Dragon begann einiges zu ahnen, aber er blieb vorsichtig.

»Es ist mein Diener, Ubali. Und wer bist du?« Die Frage kam so direkt und überraschend, daß der

Mann aus dem Nordland sofort antwortete: »Ich bin Fürst Genol, und ich habe beschlossen, mit

den Überlebenden meines Stammes nach Süden zu ziehen. Wir verlassen unsere Heimat, weil ihr der Untergang droht, wenn die Eiskönigin uns nicht hilft.«

»Brauchst du mich?« fragte Ubali, der kein Wort verstand. Dragon winkte ab und sagte: »Nein, Ubali, alles in Ordnung. Bleibe beim Götterwagen, falls ich mich entfernen sollte. Lasse niemand heran, verstehst du?«

»Niemand, Dragon!« versicherte Ubali. Dragon wandte sich wieder an den Mann, der sich

als »Fürst Genol« bezeichnete: »Warum droht eurer Heimat der Untergang und

warum hältst du mich für einen Beauftragten deiner Eiskönigin?«

»Du hast den Wagen der Götter, der über der Erde fliegt.«

Der Götterwagen also! Dragon begriff sofort, daß noch andere dieser fliegenden Wagen existierten, und daß sie etwas mit der Eiskönigin zu tun haben mußten.

Page 71: Der Götterwagen

Aber wer war diese Eiskönigin? Er mußte mehr darüber erfahren, ohne durch seine Fragen Mißtrauen zu erwecken. Dragon fragte:

»Was ist mit deinen Leuten? Ziehen sie nicht weiter?«

»Nein, wir werden hier unser Lager aufschlagen und übernachten. Die Sonne wird bald untergehen. Wir werden Zeit haben, über alles zu reden. Darf ich dich einladen, unser Gast zu sein?«

»Ich nehme gern an, aber gestattest du, daß mein Diener bei dem Götterwagen bleibt? Jemand könnte aus Neugier unvorsichtig sein ...«

»Es bleibt immer ein Diener der Eiskönigin beim Götterwagen zurück«, erwiderte Fürst Genol mit einer Selbstverständlichkeit, die Dragon erneut verblüffte, »nur sind es meist eiserne Diener, die unüberwindlich sind. Dein Diener ist schwarz. Wir haben noch nie einen schwarzen Menschen gesehen.«

»Die Welt ist groß«, erklärte Dragon ausweichend. »Ich bin froh und stolz, dein Gast sein zu dürfen. Du wirst mir dann alles erklären.«

»Oder du mir«, sagte Genol und lachte dröhnend. Seine Genossen fielen ein, obwohl sie anscheinend

kein Wort verstanden hatten, was gesprochen worden war. Dragon faßte Vertrauen zu den rauhen Gesellen. Er sah, daß die Wagen angehalten hatten und sich zu einem riesigen Kreis formten. Die Frauen und einige

Page 72: Der Götterwagen

Krieger eilten in die umliegenden Wälder, um Holz zu holen. Bald loderten die Flammen einiger Dutzend Lagerfeuer auf. Zelte wurden errichtet.

Fürst Genol nahm Dragon beim Arm. »Komm, großer Unbekannter, damit ich dich an

mein Lagerfeuer führen kann. Du bist unser aller Gast, und natürlich auch dein Diener, auch wenn er kein eiserner Diener ist.«

Dragon gab Ubali einige Anweisungen, dann folgte er dem Fürsten. Die Bezeichnung »Eiserner Diener« rief Erinnerungen in ihm wach, die er längst vergessen glaubte. Diener dieser Art konnten keine Menschen aus Fleisch und Blut sein. Und wenn die Eiskönigin, oder die Weise Frau, wie sie auch genannt wurde, solche Diener besaß, dann ...

4.

Mitten im gemeinsamen Lager saßen sie am Lagerfeuer. Fürst Genol schien nicht nur eine, sondern mehrere Frauen zu haben. Jedenfalls brachten drei sehr junge und hübsche Mädchen Getränke und rohes

Page 73: Der Götterwagen

Fleisch heran und begannen, letzteres über den Flammen zu braten. In Steinkrügen wurde das Getränk gereicht.

Genol hob Dragon seinen Krug entgegen. »Wir trinken darauf, daß die Plage bald ein Ende

habe – mit Hilfe der Eiskönigin und ihres ... hm ... ihres Gesandten!«

Dragon gab keine Antwort, weil ihm nichts einfiel. Er trank, und dann stutzte er. Er nahm einen zweiten Schluck und setzte das Gefäß auf den flachen Stein neben dem Lagerfeuer.

»Das ist Wein, richtiger Wein. Ein wenig herb, aber vorzüglich. Wo habt ihr ihn her?«

Genol war offensichtlich erstaunt, »Woher wir ihn haben? Er wächst bei uns. Es ist der Wein an den Hängen des Eisflusses.«

»Ihr nennt ihn auch so?« Nun konnte Fürst Genol seine Überraschung nicht

mehr verbergen. »Du weißt es nicht? Oder treibst du mit mir deinen

Spaß? Jeder weiß, daß der Wein an den Hängen des Eisflusses besonders gut ist. Selbst deine Eiskönigin weiß es.«

Dragon beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen.

»Ich kenne die Eiskönigin nicht. Wer ist sie?« Fürst Genol lachte, bis ihm die Tränen kamen. Seine

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drei Mädchen sahen verwundert auf, aber dann beschäftigten sie sich wieder mit dem Fleisch, das sie braten sollten. Eine ältere Frau kam herbei, um sie zu beaufsichtigen. Manchmal streifte ihr Blick Dragon, ein wenig neugierig, aber auch voller Wohlwollen.

»Du kennst die Eiskönigin nicht? Warum willst du mich täuschen? Du bist ihr Sohn, das sieht man doch! Eure Züge gleichen sich, auch wenn sie natürlich älter ist als du. Du bist ihr Sohn, warum willst du das abstreiten?«

Dragon sah, wie das Fett aus dem Fleisch in die Flammen tröpfelte. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, denn frisches Fleisch schmeckte besser als das, was er und Ubali mitgenommen hatten. Der Wein hatte ihm Appetit gemacht.

»Ich schwöre dir, daß ich keine Ahnung habe. Berichte, bitte!«

Fürst Genol war ein Mann ungemeiner Beherrschung. Er sagte:

»Zuerst das Fleisch! Mit vollem Magen läßt es sich besser sprechen, besonders über heikle Dinge.«

»Ja«, erwiderte Dragon unsicher. Er nahm abermals einen Schluck des köstlichen Weins und wartete ab, bis eines der Mädchen ihm ein Stück Fleisch reichte. »Reden wir später.«

Er nutzte die Pause, um sich umzusehen. Viele Lagerfeuer brannten auf dem freien Feld, das

Page 75: Der Götterwagen

von den Wagen eingeschlossen wurde. Er bemerkte, daß hinter den Wagen bewaffnete Krieger patrouillierten, so als würde ein Angriff erwartet. Die Sonne war längst untergegangen.

Fürst Genol warf den abgenagten Knochen in weitem Bogen von sich und sagte:

»In dieser Nacht werden sie wieder kommen, denn es ist klar und der Mond scheint. Das sind die Nächte, die sie lieben und in denen sie besonders hungrig nach unserem Blute sind. Aber das weißt du ja, Fremder. Wie war doch dein Name?«

»Dragon, König von Myra, einem Staat der südlichen Länder.«

Fürst Genol starrte ihn verständnislos an. »Du kommst aus den südlichen Ländern, von

jenseits der Großen Eiswand? Nicht die Eiskönigin schickt dich? Myra, sagtest du? Ich habe den Namen noch nie gehört.«

»Glaubst du mir nun, daß ich nicht der Sohn deiner Eiskönigin bin? Wenn ja, dann berichte mir von ihr. Und nicht nur von ihr, sondern auch von dir, deinem Stamm, deinem Leben und von jenen, die euch bedrohen. Vielleicht kann ich euch helfen.«

Fürst Genol warf Dragon einen zweifelnden Blick zu, aber dann nickte er.

»Gut, nehmen wir einmal an, ich gehe auf deinen Scherz ein. Ich werde dir alles erzählen, so als wärest

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du einer aus den Südländern und kämst nicht in einem Götterwagen zu uns. He, Mädchen, noch zwei Krüge Wein! Du bist satt?«

»Danke, Fürst Genol. Aber ich bin begierig, die Geschichte deines Stammes zu erfahren. Beginne damit, ehe es zu spät wird.«

Genol wartete, bis das Mädchen den Wein brachte. Er kniff sie ins Hinterteil und amüsierte sich königlich, als sie davonhüpfte.

»Also gut, führen wir das Spiel fort. Du kennst die Ungeheuer?«

»Welche Ungeheuer? Sie sind es, die euch bedrohen?«

»Ja, Ungeheuer! Zwei Tagesritte vom Heiligen Berg entfernt, weit im Norden und jenseits des Eisflusses, öffnete sich ein Spalt in der Erde und machte den Weg für sie frei. Zu Tausenden quollen sie aus der entstandenen Höhle und fielen über uns und unser Land her. Sie töteten alles, was sich bewegte – und fraßen es! Sie trinken Blut, sie ernähren sich von unseren Leichen, und sie morden auch dann, wenn sie keinen Hunger haben. Sie sind Dämonen, Teufel und böse Geister.«

»Aber sie sind aus Fleisch und Blut?« fragte Dragon. »Man kann sie töten?«

»Zum Glück, ja! Aber es ist schwer, und viele von uns fanden dabei selbst den Tod. Wir sind Flüchtlinge,

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die vor den Ungeheuern fliehen. Vielleicht sind wir außer den Siedlern diesseits des Flusses die einzigen Überlebenden aus dem Reich der Eiskönigin. Deshalb fliehen wir gen Süden. Wir sollten am Südufer des Eisflusses bleiben, aber die Mehrheit ist dagegen. Es gibt keine Verteidigung gegen die Dämonen.«

»Wie sehen sie aus?« Genol zuckte die Schultern und scheuchte einige

seiner Krieger fort, die neugierig herumstanden. »Wie Wölfe, aber sie sind keine Wölfe. Sie sehen aus

wie zu groß gewordene Ratten, ja, genauso sehen sie aus. Und dann Spinnen, mannshoch und voller Mordlust. Sie packen einen mit ihren Zangen und töten mit Gift. Danach fressen sie ihr Opfer auf. Und es gibt noch eine dritte Sorte, die wie Menschen aussehen, nur ist ihr Körper von Haaren bedeckt, und ihre Ohren sind spitz. Wo immer sie auftauchen, gehorchen die Rattenwölfe und Riesenspinnen ihnen.«

Dragon berichtete von seinem Abenteuer mit der Spinne auf dem Plateau und seinem Versuch, Kontakt mit ihr aufzunehmen.

»Ha!« lachte Fürst Genol dröhnend. »Kontakt mit diesen Dämonen? Das ist unmöglich! Sie kommen aus der Hölle und wollen uns vernichten. Entweder sie töten uns, oder wir töten sie. Wir haben gehofft, die Eiskönigin würde uns helfen können, aber sie hat sich noch nicht gezeigt, weil ihre Zeit noch nicht gekommen

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ist. Darum nahm ich an, du kämst in ihrem Auftrag.« Er grinste. »Und das tust du doch, oder ...?«

Dragon blieb ernst. »Ich versichere dir noch einmal, daß ich die

Eiskönigin nicht kenne. Berichte mir auch von ihr, vielleicht weiß ich dann einen Rat. Vergiß nicht, daß ich der König meines Landes bin und auch schon Kriege führte. Und vertraue mir. Ich belüge dich nicht, mein Wort darauf.«

Fürst Genol schob einen Ast ins Feuer. »Ich beginne, dir zu glauben, König Dragon, aber

meine Leute sollten die Wahrheit nicht erfahren. Sie setzen ihre ganze Hoffnung auf die Hilfe der Eiskönigin, die unseren Völkern schon seit vielen Generationen beigestanden hat. Ihr haben wir alles zu verdanken, was wir haben und was wir sind. Sie wohnt weiter im Norden, im Heiligen Berg. Alle zehn Sommer kommt sie ans Tageslicht, kaum gealtert, begleitet von ihren eisernen Dienern. Dann lehrt sie unsere Völker neue Dinge und spricht mit den Stammesfürsten. So war es, soweit ich zurückdenken kann.«

»Ist sie eine Göttin?« fragte Dragon. »Sie ist die Eiskönigin, die Weise Frau – vielleicht ist

sie wirklich eine Göttin, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß meine Männer dich für ihren Sohn halten, und so sollte es bleiben.«

»Berichte von eurem Kampf gegen die Ungeheuer,

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Fürst Genol.« Genol nickte und nahm einen kräftigen Zug aus

seinem Krug. »Sie waren plötzlich da, die Ungeheuer, und zuerst

wußte niemand, wo sie hergekommen waren, bis einige Flüchtlinge aus dem Norden berichteten, daß sich in den Felsen westlich des Heiligen Berges ein Spalt aufgetan und die Bestien ausgespien habe. Die Ungeheuer überfielen Siedlungen und rissen alles, was sie finden konnten. Die Männer sammelten sich und verteidigten Hab und Gut, ihre Frauen und Kinder, aber ihr Kampf blieb vergebens. Die Ungeheuer waren in der Überzahl, und wenn sie von den Spitzohren angeführt wurden, war es noch schlimmer. So drangen sie nach Süden vor.«

Es war Dragon sofort klar, daß der Spalt nichts anderes als eines jener geheimnisvollen Weltentore war, durch das auch Marathas Sohn Dragomar verschwunden oder vor Hunderten von Sommern die Wassermenschen von Taa auf die Erde gekommen waren.

»Wie groß ist das Volk der Eiskönigin, dem auch dein Stamm angehört?«

»Wir sind zehn Stämme, jeder etwa gleich groß. Was du hier in meinem Lager siehst, ist weniger als die Hälfte meines Stammes. Und den anderen Stämmen erging es nicht viel besser. Fürst Edil führte uns an,

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aber er fiel mit dem Großteil der Krieger im Kampf gegen die Bestien. Aber vor seinem Tod hatte er uns den Rat gegeben, nach Süden zu ziehen. Nur eine Gruppe von tausend Kriegern sollte versuchen, den Heiligen Berg zu erreichen, um die Eiskönigin zu alarmieren. Es gibt natürlich keine genauen Zahlen, aber auch die Ungeheuer erlitten empfindliche Verluste. Es blieben nur einige tausend am Leben, aber das ist mehr als genug.«

»Aber sie bilden keine geschlossene Armee?« »Nein, das nicht. Ihre Horden durchstreifen das

bewohnte Gebiet, überfallen die Siedlungen oder die Trecks, die nach Süden ziehen. Die meisten befinden sich noch auf der anderen Seite des Eisflusses, aber einige drangen weiter nach Süden vor. Edil hatte uns geraten, das Südufer des Eisflusses besetzt zu halten und gegen die Invasoren zu verteidigen. Das taten wir auch, aber es war sinnlos. Die Bestien fielen uns in den Rücken, nachdem sie den Fluß überquert hatten. So entschloß ich mich, mit meinem Stamm nach Süden zu ziehen, bis wir die Große Eisbarriere erreichten. Dort wollen wir uns in einem Tal verschanzen.«

Dragon warnte: »Es gibt dort unten nur Schnee und Eis. Wovon

wollt ihr leben?« »Ich weiß es nicht, aber hier können wir auch nicht

mehr leben. Wir haben getrocknetes Fleisch und Brot

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für etliche Monde, und wenn uns die Ungeheuer nicht bis zur Eiswand folgen, werden wir von dort aus Vorstöße nach Norden unternehmen und jagen. Ich glaube, wir werden es schaffen.«

»Und was ist mit jenen tausend Kriegern, die zum Heiligen Berg wollten? Ihr könnt sie nicht einfach im Stich lassen, Fürst Genol. Sie haben vielleicht Erfolg und treffen die Eiskönigin. Soll sie ein leeres Land befreien?«

Genol sah in die Flammen des niedergebrannten Feuers. Er nickte.

»Da hast du recht, König Dragon. Aber ich muß an die Frauen und Kinder denken. Du siehst doch selbst, daß ich nur noch zweitausend Männer habe, alle anderen sind im Kampf gegen die Bestien gefallen. Und wenn in dieser Nacht abermals ein Angriff erfolgt, werden wieder welche fallen. Je weiter wir nach Süden vordringen, desto weniger Angriffe haben wir zu befürchten.«

»Die Flucht ist sinnlos, ihr würdet in eine riesengroße Falle geraten, denn die Eiswand verhindert die weitere Flucht nach Süden. Ihr müßt den Gegner stellen und vernichten. Versuche Verbindung zu den anderen Stämmen aufzunehmen und sie zu vereinen. Ich werde dir dabei helfen.«

Genol sann lange vor sich hin. Dragon erhielt Gelegenheit, sich eingehender umzusehen. Die meisten

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Frauen waren in den Wagen verschwunden. Einige Männer saßen noch an den Feuern und unterhielten sich mit gedämpfter Stimme. Außerhalb der Wagenburg waren die Schatten der Posten. Der Mond warf sein bleiches Licht auf die nur teilweise mit Schnee bedeckte Erde. Die Sicht war gut, wenn einen das Feuer nicht blendete.

Endlich sagte Fürst Genol: »Vielleicht hast du recht, König Dragon. Und wenn du dein Versprechen hältst und uns hilfst, würden wir es noch einmal versuchen. Aber ich muß zuerst den Rat meiner Krieger einholen. Ohne sie möchte ich in dieser schwierigen Lage keine so lebenswichtige Entscheidung treffen. Kannst du bis morgen warten?«

»Ich bleibe bei euch, aber wir werden den Götterwagen in den Schutz des Lagers holen. Warum rechnest du überhaupt mit einem Angriff in dieser Nacht?«

»Weil bisher keine Nacht ohne einen solchen verging. Sie kommen meist nach Mitternacht. Wir sind darauf vorbereitet. Darum sollten wir jetzt schlafen, uns bleibt nicht sehr viel Zeit.«

»Ich gehe und hole den Wagen. Wo ist ein Platz für ihn?«

»Hier, neben dem Feuer. Du kannst bei mir im Zelt schlafen.«

»Danke«, erwiderte Dragon und erhob sich. »Ich bin

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bald zurück.« Er ging an den anderen Lagerfeuern vorbei und

erreichte die Wagenburggrenze. Es waren nur wenige Manneslängen bis zum Götterwagen. Ubali atmete erleichtert auf, als er Dragon erkannte.

»Ein Glück, daß du zurückkommst. Ich befürchtete schon, es sei dir etwas geschehen. Starten wir?«

»Ja, aber nur, um im Lager wieder zu landen.« Er berichtete kurz über das, was er erfahren hatte. »Wir müssen diesen Menschen helfen, Ubali. Soweit ich das überblicken kann, gibt es nur noch zehntausend dieser Bestien, die durch das Weltentor kamen. Es mußte aber noch etwa vierzigtausend Überlebende des Volkes der Eiskönigin geben. Es sollte doch möglich sein, die Ungeheuer zu vernichten, ehe sie weiter nach Süden vordringen.«

Geräuschlos erhob sich der Götterwagen in die Luft und schwebte in geringer Höhe ins Lager, um dicht bei dem Feuer Genols zu landen.

»Du schläfst im Wagen«, sagte Dragon. »Ich werde dem Fürsten Gesellschaft leisten. Wenn die Bestien wirklich in dieser Nacht angreifen, steige mit dem Wagen zehn Mannslängen empor und bleibe in meiner Nähe. Aber lande nicht, bevor ich es dir sage. Du weißt ja mit den Kontrollen Bescheid. Der eine Hebel genügt für alle notwendigen Funktionen.«

Ubali machte es sich in der Kabine bequem. Dragon

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verließ den Götterwagen und ging zu Fürst Genol, der aufgestanden war.

»Geh schon mal ins Zelt, König Dragon, ich werde noch einmal die Posten kontrollieren und ihnen letzte Anweisungen geben. Es ist bald Mitternacht, und vielleicht können wir noch einige Stunden schlafen.«

Er brachte Dragon bis zum Zelteingang und verschwand dann.

Im Innern des Zeltes brannte eine Fackel. Zwei breite Schlaflager waren von den Frauen hergerichtet worden, und auf jedem von ihnen wartete eins der Mädchen. Dragon verbarg seine Überraschung und setzte sich auf einen hölzernen Stuhl.

»Fürst Genol wird bald kommen. Welches ist mein Bett?«

Eins der Mädchen winkte ihm zu. »Du kannst hier schlafen, Fremder. Der Fürst hat

mich gebeten, dir Gesellschaft zu leisten, denn niemand weiß, ob es nicht die letzte Nacht ist, die wir zu leben haben.«

Dragon ahnte, daß er weder das Mädchen noch den Fürsten beleidigen durfte, aber er dachte daran, daß Maratha ihn vielleicht mit ihrer seherischen Gabe wieder beobachtete, und diesmal lag kein zwingender Grund vor, aus politischen Rücksichten heraus Amee zu betrügen.

»Du kannst bei mir schlafen, aber ich bin müde. Und

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wenn wir überfallen werden, brauchen wir zuvor Ruhe, um kämpfen zu können. Wie heißt du?«

Sie war rotblond und noch sehr jung, vielleicht zwanzig Sommer. Und sie lag nackt unter dem Fell, mit dem sie ihre Blößen nur notdürftig bedeckte.

»Melina«, erwiderte sie und errötete. »Ich bin Genols Tochter.«

Er blieb sitzen, bis Genol zurückkehrte. Das andere Mädchen hatte kein Wort gesprochen. Sie schien eingeschlafen zu sein.

Genol setzte sich auf sein Lager. »Die Posten sind wachsam. Insgesamt patrouillieren

dreißig von ihnen um das Lager. Weitere zehn fungieren als Meldeläufer, damit die Nachricht von einem Angriff schnell verbreitet wird. Ich glaube, wir können uns beruhigt niederlegen. Bisher ist es den Ungeheuern noch niemals gelungen, in das Innere der Wagenburg einzudringen, ohne getötet zu werden.« Er lachte breit. »Wie gefällt dir Melina?«

»Sie ist schön, Fürst Genol, und wenn ich nicht so müde wäre ...«

»Ach was, müde!« Er besann sich. »Auch wenn du müde bist, wirst du an ihrer Seite doppeltes Vergnügen beim Schlafen finden. Die Nächte sind kalt, und wir brauchen die Wärme des anderen.« Er zog den Pelzrock aus und kroch vorsichtig unter die Felle, ohne sein Mädchen zu wecken. »Du hast kein Schwert?«

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»Es ist im Götterwagen bei meinem Diener.« »Na gut, dann hole es, wenn es soweit ist. Gute

Nacht!« Auch Dragon entledigte sich seiner Jacke, ließ aber

die Hosen an. Das Mädchen Melina schlug die Felle zurück und rutschte zur Seite. Er legte sich neben sie und schloß die Augen. Die Fackel würde bald erlöschen. Als ihre Hand sich verstohlen der seinen näherte, nahm er sie und hielt sie fest.

So schlief er ein.

Lärm weckte ihn auf. Ehe er richtig begreifen konnte, was geschehen war,

kam ein Krieger mit einer lodernden Fackel ins Zelt gestürzt.

»Die Ungeheuer – sie kommen!« Fürst Genol war mit einem Satz aus dem Bett, warf

sich die Pelzjacke über, ergriff sein Schwert und raste hinaus. Dragon hatte Mühe, ihm zu folgen. Er sah nur noch die weit aufgerissenen Augen Melinas, dann war er draußen beim Götterwagen. Ubali warf ihm das Schwert heraus und rutschte hinter die Kontrollen. Sekunden später schwebte der Wagen hoch über dem Lager.

Dragon entdeckte Fürst Genol, der seine Männer um sich sammelte und sie dann in verschiedene Richtungen davonschickte. Dann winkte er Dragon zu

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und rannte zum Rand des Lagers. Außerhalb der Wagenburg brannten keine Feuer.

Die Posten hatten sich zwischen die hölzernen Räder zurückgezogen und machten sich zur Verteidigung bereit. Dragon und Genol lagen mitten zwischen ihnen. Angestrengt starrten sie in das Dunkel.

»Dort!« flüsterte Genol und deutete nach vorn. »Es sind Ratten!«

Nun sah auch Dragon die huschenden Schatten, die sich dem Lager näherten. Wie Wölfe, die ihr Opfer gefunden hatten und es beschlichen. Aber es waren keine Wölfe, sondern ins Riesenhafte vergrößerte Ratten. Deutlich konnte er die kahlen, dünnen Schwänze erkennen. Hin und wieder blitzten im Mondlicht die weißen Fangzähne der Bestien auf.

Die ersten waren nur noch wenige Mannslängen entfernt, da gab Fürst Genol das Zeichen zum Angriff. Als erster sprang er auf, schwang sein leichtes Schwert und ließ es auf den Rücken eines Angreifers niedersausen. Der Erfolg war verblüffend, denn das Tier wurde regelrecht in zwei Teile gespalten und war sofort tot.

Aber dann geschah noch etwas viel Verblüffenderes: Zwei andere Riesenratten stürzten sich auf ihren getöteten Artgenossen und zerrissen ihn vollends. Gierig schlangen sie das blutige Fleisch in sich hinein, aber noch während sie sich den Bauch vollschlugen,

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starben sie unter den Schwertstreichen von Genols Männern.

Dragon eilte zu ihnen, denn mehr als zwei Dutzend der unheimlichen Räuber tauchten hinter einem Hügel auf und griffen geschlossen an. Es wurde manchmal schwer, Freund von Feind zu unterscheiden, aber noch während Dragon eine Ratte erschlug, kam ihm die rettende Idee.

Er warf sich zwischen die Räder eines Karrens, kroch ins Innere des Lagers und rannte dann zum nächsten Feuer, wo er einen brennenden Ast ergriff und ihn während des Zurücklaufens in der Luft herumschwenkte. Das Holz war mit Harz durchtränkt und brannte lichterloh. Der Lichtschein beleuchtete die Kampfszene.

Genol rief Dragon einen Dank zu und tötete die nächste Ratte. Auch die anderen Männer kämpften jetzt zielbewußter. Sie sahen den Gegner, während sie ihn vorher nur erahnen konnten.

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Dragon stürmte weiter nach vorn, und bald war er von einem Dutzend Ratten eingeschlossen, die ihn mit blanken Fangzähnen umringten. Aber sie zögerten mit ihrem Angriff. Das Feuer schien sie zu erschrecken.

Das Erlebnis mit der Spinne fiel Dragon ein. Er hatte daraus gelernt, und er konnte nur hoffen, daß die Ratten ähnlich reagierten wie sie.

Er drehte sich im Kreis, die Fackel weit von sich haltend. Immer wieder stieß er zu, die Ratten wichen zurück, flohen aber noch nicht. Doch sie achteten so sehr auf das Feuer, daß sie Genols Krieger in ihrem Rücken nicht bemerkten. Es war, als würden sie von den Flammen hypnotisiert und in den Bann geschlagen. Wehrlos fast ließen sie sich abschlachten.

Genol traf auf Dragon. »Das Feuer, Dragon! Sie fürchten das Feuer! Warum

bin ich nicht schon früher darauf gekommen.« Er rief einigen Kriegern einen Befehl zu. »Sie werden noch mehr Fackeln holen. Endlich haben wir die richtige Waffe gefunden. Danke, König Dragon, danke!«

Im Kampfgetümmel wurden sie wieder getrennt.

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Es mußten mehr als zweihundert Ratten sein, die das Lager angriffen. Fast die Hälfte von ihnen war getötet worden, als auch die Spinnen erschienen. Inzwischen jedoch waren die Männer mit den Fackeln zurückgekehrt, während die Frauen im Lager weitere vorbereiteten und noch mit Fett bestochen, damit sie besser und heller brannten. Der sichtbare Erfolg der Aktion beflügelte die Krieger zu immer gewagteren Aktionen. Ratten und Spinnen erlitten furchtbare Verluste, aber einigen von ihnen gelang es dennoch, in die Wagenburg einzudringen.

Die grellen Schreckensschreie der Frauen drangen an Dragons Ohr. Er ahnte sofort, was geschehen war. Schnell ergriff er sein Schwert, das er in die Erde gestoßen hatte, um freie Hand für zwei Fackeln zu haben, und rannte zurück ins Lager. Mehrere der Männer folgten ihm, während die anderen blieben, um die Angreifer zu beschäftigen.

Es waren die Ratten, aber auch zwei der menschenähnlichen Wesen mit den spitzen Ohren und dem zottigen Haarpelz. Sie schwangen Keulen und schlugen selbst wehrlose Frauen erbarmungslos nieder, wenn sie ihrer habhaft werden konnten.

Dragon packte ein unbändiger Zorn. Dem ersten Spitzohr rannte er das Schwert in den Leib, zog es sofort wieder heraus und wandte sich dem zweiten zu, der gerade ein junges Mädchen packen und

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davonschleppen wollte. Es strampelte verzweifelt mit den Beinen und schrie um Hilfe. Mit den Fäusten schlug sie in das Gesicht des Ungeheuers, das sie wütend anknurrte.

Dragon wartete auf den rechten Moment und trennte dem Monstrum mit einem einzigen Hieb seines Schwertes die Beine vom Rumpf. Dann tötete er es, als das Mädchen sich von seinem Schock erholt hatte und davonlief.

Die Ratten hatten ihre Befehlsgeber verloren. Von nun an kämpften sie planlos und unüberlegt, nur ihrer Gier nach Blut gehorchend. Es fiel Dragon leicht, einige Krieger um sich zu scharen und die Bestien mit Feuer und Schwert zu töten. Dann kehrten sie zu Fürst Genol zurück.

Es waren nur noch Spinnen vorhanden, die mit sturer Wut angriffen und in die Fackeln rannten. Das Feuer ließ sie regelrecht zergehen, sobald sie damit in Berührung kamen. Nur wenigen gelang die Flucht im Dämmerlicht des beginnenden Tages.

Fürst Genol vergaß allen Respekt seinem Gast gegenüber und klopfte ihm auf die Schultern, während seine Männer die gefallenen Krieger einsammelten, um sie zu begraben. »Mann, Dragon, ohne dich hätten wir doppelt soviel Verluste erlitten, vielleicht hätte sogar niemand überlebt. Das Feuer ist eine große Waffe gegen die Unheimlichen. Es ist zu ärgerlich, daß wir

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nicht schon früher auf den Gedanken kamen. In Zukunft werden wir noch mehr Fett sammeln und Äste darin tränken, damit sie besser brennen.«

»Du wirst also nicht weiter nach Süden ziehen, sondern meinen Rat befolgen, Genol?«

»Ja, wir werden bleiben und den Eisfluß verteidigen. Ich werde Boten aussenden, damit auch die anderen Stämme zu uns stoßen. Wir werden eine Verteidigungslinie aufbauen.«

Dragon war mit dem ersten Erfolg seiner Diplomatie zufrieden. Er hatte den Nordmännern gezeigt, wie man einen unüberwindlich erscheinenden Gegner besiegen konnte, wenn man seine Schwäche erkannte und ausnutzte. Nun durfte er sie auch nicht im Stich lassen und mußte bei ihnen bleiben, bis die Gefahr endgültig beseitigt war.

Der Götterwagen landete am alten Platz, an dem die Mädchen das Feuer wieder neu entfacht hatten. Ubali kletterte aus der Kabine und ging Fürst Genol und Dragon entgegen.

»Das war ein Kampf!« sagte er begeistert und voller Anerkennung. »Deine Männer sind sehr tapfer, Fürst!«

»Ohne König Dragon hätte es einen anderen Ausgang geben können, wir haben ihm viel zu verdanken. Werdet ihr bei uns bleiben?«

»Zumindest bleiben wir in der Nähe«, sagte Dragon. »Wir werden den Eisfluß auf und ab fliegen und

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festzustellen versuchen, wo sich die Ungeheuer versammelt haben. Mit dem Götterwagen werden wir sie angreifen und vertreiben. Allerdings kann ich nicht für immer bei euch bleiben, Genol. Mein Ziel ist es, die Eiskönigin zu suchen und mit ihr zu reden. Vielleicht hast du recht, und ich kenne sie wirklich.«

»Was rätst du uns? Sollen wir hier an dieser Stelle bleiben und die weiteren Geschehnisse abwarten?«

»Nein, geht nach Norden zurück, bis ihr den Eisfluß erreicht. Dort errichtet ein stark befestigtes Lager, das gut zu verteidigen ist. Und zwar nach allen Seiten, denn die Ungeheuer gelangen auch über den Fluß und greifen vom Süden her an. Ihr werdet dann bald Verstärkung erhalten.«

Ubali kletterte wieder in die Kabine des Götterwagens, während Fürst Genol und Dragon den Zelteingang zurückschlugen und eintraten.

»Morgen können wir ausschlafen«, meinte Genol anzüglich und warf den Pelzrock in eine Ecke.

Dragon zog sich aus und kroch unter die Felle seines Lagers.

Er war nicht sonderlich erstaunt, das Bett leer vorzufinden.

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5.

Am anderen Tag schwebten sie hoch über dem Eisfluß. Sie begriffen nun, warum man ihn so nannte. Fast

die gesamte Oberfläche bestand aus Eisschollen, die stromabwärts trieben.

Am Nordufer erhoben sich flache Hügel. Auf ihnen wuchs der Wein, der nicht die Süße der Reben der Sonnenländer besaß, aber den Durst löschte. Durch die Taleinschnitte gelangten kleine Zuflüsse in den Eisstrom, und an ihren Mündungen lagen die meist verlassenen Siedlungen der Stämme, die zum Volk der Eiskönigin gehörten.

Ubali hatte scharfe Augen. »Dragon, dort unten sind sie – die Ungeheuer. Sie

scheinen eins der Dörfer besetzt zu haben. Wenn es ihnen gelingt, hier eine Angriffslinie aufzubauen und dann geschlossen den Eisstrom zu überqueren, dürfte es zu einer Entscheidungsschlacht kommen. Können wir das verhindern? Sollen wir sie nicht vertreiben?«

»Mit zwei Schwertern?« erkundigte sich Dragon sarkastisch.

Aber er ließ den Götterwagen auch weiterhin reglos über der Siedlung schweben und ging ein wenig tiefer, um besser sehen zu können. Ubali hatte recht: In den

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Straßen und auf den Feldern konnte er die wolfsgroßen Ratten erkennen, manchmal aber auch eine der Spinnen. Und dann beobachtete er etwas, das äußerst interessant war.

Etwa ein Dutzend der Ratten näherte sich vom Dorfeingang her der Mitte der Siedlung, wo ein Platz erkennbar war. Im Zentrum des Platzes war etwas, das er nicht erkennen konnte, aber hier schienen die Spinnen jedenfalls in der Überzahl zu sein. Sie umringten den Platz, als wollten sie ihn verteidigen. Die Ratten kamen von allen Seiten durch die Straßen zwischen den Hütten auf den Platz zu.

Nur der Überblick aus der Luft konnte das Rätsel lösen, und Dragon begriff sofort, was dort unten geschah. Die Ratten griffen die Spinnen an, die den Platz zu verteidigen gedachten. Warum, das wußte er auch noch nicht, aber er beschloß, es herauszufinden. Er ließ den Götterwagen weiter absinken und hoffte, daß man ihn nicht so schnell bemerkte.

Im Zentrum des Dorfplatzes war eine diffuse Masse, wie unter einem Schleier verborgen. Erst beim Niedergehen, als Einzelheiten erkennbar wurden, stockte Dragon das Blut in den Adern, und auch Ubali, der unablässig beobachtete, stieß einen Ruf des Entsetzens aus.

Auf dem Platz lagen Menschen, zu Bündeln verpackt und von nahezu durchsichtigen Schleiern

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umgeben. Die Spinnen hatten sie eingesponnen, wahrscheinlich lebend, um sie als Proviant zu benutzen. Nun aber kamen die Ratten, um den Spinnen ihre Beute abzujagen. Sie kannten keine Bevorratung. Sie fraßen, wenn sie etwas hatten.

»Wir müssen ihnen helfen – es könnten Angehörige von Genols Stamm sein«, rief Ubali entsetzt.

»Auch wenn sie es nicht sind, werden wir ihnen helfen. Halte dich fest!« Dragon schob den Fahrthebel nach unten, und der Götterwagen fiel senkrecht in die Tiefe, der Siedlung und dem Platz entgegen. Erst in einer Höhe, die nur wenigen Mannslängen entsprach, hielt er an. Und wartete.

Die Spinnen hatten die Bedrohung aus der Luft sofort erkannt, besaßen aber keine Möglichkeit, etwas gegen sie zu unternehmen. Sie erwarteten den anderen Gegner, die Ratten.

»Und was nun?« fragte Ubali. »Wir können sie nicht mit dem bloßen Schwert angreifen, sie sind in der Überzahl.«

Daran hatte auch Dragon schon gedacht, aber ihm war keine Zeit zur Planung geblieben. Es würde sinnlos sein, den Götterwagen zu landen und dann zu verlassen. Er und Ubali würden dabei in größte Gefahr geraten und doch nichts ausrichten können. Es mußte einen anderen Weg geben, die Menschen zu retten.

Er konnte sie nun deutlicher sehen. Es waren etwa

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zwei Dutzend, zu Bündeln verschnürt und in einem einzigen Netz versammelt, das sie alle umschloß. Blitzschnell formte sich ein Plan in seinem Gehirn, dessen Erfolg allerdings von zwei unbekannten Faktoren abhing. Es kam ganz darauf an, wie stark das Spinnennetz war und was der Antrieb des Götterwagens leisten konnte.

Vorsichtig öffnete Dragon das Kabinendach. »Ich klettere auf den rechten Flügel, dann kommst

du nach vorn zu den Kontrollen, Ubali. Sobald ich dir ein Zeichen gebe, schiebst du den Fahrthebel vorsichtig nach oben. Aber langsam, hörst du? Das Netz darf nicht zerreißen, sonst ist alles umsonst.«

Ubali erriet, was Dragon wollte. Er nickte und wartete, bis der Platz vor den Kontrollen frei wurde, dann kletterte er über den Vordersitz und nahm seinen Platz ein.

Dragon stand auf dem kurzen Flügel des Götterwagens, der langsam tiefer sank, bis er dicht über den gefangenen Menschen schwebte. Einige Spinnen näherten sich, blieben aber in respektvoller Entfernung. Behutsam bückte er sich und ergriff ein Bündel der fingerdicken Spinnenfäden, von denen er annahm, das sie den Knoten bildeten, der alles zusammenhielt. Die Stricke waren klebrig und elastisch. Es gelang ihm, das geflochtene Bündel in den Haken unter dem Rumpf des Wagens einzuhängen,

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dann kam eine der Spinnen heran, während in diesem Augenblick die Ratten auf dem Platz erschienen und in Rudeln vorstürmten.

Dragon zog sein Messer und schnitt der Spinne ein tastendes Bein ab, dann gab er Ubali einen Wink und kletterte in die Kabine zurück.

Der Götterwagen stieg unendlich langsam nach oben. Voller Zweifel und Bangen beugte sich Dragon aus der offenen Kabine und sah zu seiner Erleichterung, daß die Menschen in dem riesigen Netz mit nach oben stiegen. Einige schrien vor Entsetzen auf, weil die Spinne mit dem abgeschnittenen Bein nicht losließ und auf dem Netz hocken blieb.

»Schneller!« rief Dragon dem Schwarzen zu. »Vielleicht verliert sie den Halt und stürzt ab. Wenn nicht, helfe ich nach.«

Die Menschen im Netz beruhigten sich allmählich. Auch sie mußten den Götterwagen kennen und versuchten, ihre Furcht vor dem Abgrund zu überwinden, den sie nun überflogen. Die Spinne tat ihnen nichts.

Dragon überquerte den Eisfluß und landete im Lager des Fürsten Genol. So verblüfft die Krieger auch über die seltsame Last sein mochten, sie stellten keine Fragen und töteten zuerst einmal die Spinne. Dann erst konnten die eingesponnenen Menschen befreit werden.

Ihr Bericht war kurz und eindrucksvoll.

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Spinnen hatten ihr Dorf überfallen und jeden getötet, der nicht rechtzeitig entkam. Als sie satt waren, wurden die Gefangenen in die klebrigen Fäden eingewickelt und in ein Netz verpackt. Dann kamen die Ratten und wollten ihren Anteil an der Beute, aber sie waren auf den erbitterten Widerstand der Spinnen gestoßen.

Schließlich kam der Götterwagen und befreite sie. Gelassen nahmen Dragon und Ubali ihren Dank

entgegen, dann sagte ersterer zu Fürst Genol: »Wir werden das Tageslicht nutzen und weitere

Erkundungen fliegen. Ich weiß, was nun zu geschehen hat. Du mußt längs des Südufers des Eisstroms eine Verteidigungslinie errichten. Vergiß das Feuer nicht, Genol! Die Frauen sollen trockenes Holz sammeln, Reiser und dürre Äste. Damit errichtet einen durchgehenden Wall einige Mannslängen vom Ufer entfernt. Verteile deine Leute in regelmäßigen Abständen. Jeder soll eine brennende Fackel haben, damit er den Holzwall in Brand setzen kann, wenn das Zeichen dazu gegeben wird. Habt ihr genügend Fett, das in den Wall gelegt werden kann, damit er besser brennt?«

»Die Vorbereitungen haben begonnen«, versicherte Genol. »Meine Boten sind auch bereits unterwegs, um die anderen Stämme herbeizurufen. Ohne deine Hilfe, König Dragon, wären wir alle verloren gewesen.

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Manchmal glaube ich doch, daß du der Sohn der Eiskönigin bist.«

»Vielleicht bin ich es im gewissen Sinn«, meinte Dragon ausweichend.

Sie blieben, bis die Wagenkolonne sich wieder in Bewegung setzte, diesmal in nördliche Richtung. Der Eisfluß war nur einen knappen Tagesmarsch entfernt, so daß nur noch ein Nachtlager notwendig wurde. Genol wollte sein Ziel so schnell wie möglich erreichen.

Dragon und Ubali flogen mit dem Götterwagen voraus und erkundeten das Gelände. Sie entdeckten keine Ungeheuer, die sich aber bei Tage auch in den Wäldern versteckt halten konnten.

»Werden wir abermals den Eisfluß überqueren?« fragte Ubali. »Die Menschen am anderen Ufer befinden sich in größter Gefahr, und vielleicht können wir wieder helfen.«

»Das werden wir auch tun«, versprach Dragon. Etwa an der gleichen Stelle wie am Vormittag

entdeckten sie auf einer größeren Eisscholle mehrere dunkle Punkte, die sich als ein Dutzend Ratten entpuppten, die unter der Leitung eines haarigen Spitzohrs versuchten, den Strom zu überqueren. Die Tiere hielten sich in der Mitte der Scholle auf und sorgten für das Gleichgewicht des unsicheren Gefährts. Das Spitzohr steuerte die Scholle mit einem flachen Stück Holz.

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Als er den niedrig fliegenden Götterwagen erblickte, schüttelte er drohend die Faust, ruderte aber dann weiter. In einer halben Stunde konnte die Eisscholle das Südufer erreichen.

»Was tun wir?« erkundigte sich Ubali. »Es wäre eine günstige Gelegenheit, ihnen eine Lehre zu erteilen. Aber wie?«

Dragon deutete zum Nordufer, wo sich eine Geröllhalde in das flache und halbgefrorene Wasser schob.

»Du wirst es gleich sehen ...« Er landete den Wagen auf sicherem Grund und

öffnete das Dach. »Es gibt Arbeit, Ubali. Wir sammeln schwere Steine

und nehmen sie mit. Über den Ungeheuern werfen wir sie ab. Sobald die Scholle das Gleichgewicht verliert, rutschten ihre Passagiere ins eisige Wasser. Ich hoffe, sie können nicht schwimmen.«

Viel Last konnten sie nicht mitnehmen, aber einige schwere Brocken kamen doch zusammen. Sie schlossen das Dach nicht mehr und starteten. Ubali hielt den fast zentnerschweren Steinbrocken fest, der auf seinem Schoß ruhte.

Dragon näherte sich vorsichtig der treibenden Eisscholle und hielt eine Höhe von knapp fünf Mannslängen. Die Ratten drängten sich noch mehr als bisher zusammen, sie schienen das fliegende

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Ungeheuer zu fürchten, das geräuschlos über ihnen schwebte. Das Spitzohr schlug mit dem Holz nach dem Götterwagen, erreichte ihn jedoch nicht.

»Sieh zu, daß du den Rand der Scholle triffst«, riet Dragon und nickte Ubali aufmunternd zu.

Dieser hatte Mühe, den Felsbrocken hoch genug zu heben, um ihn aus der Kabine zu werfen. Er konnte nicht genau zielen und mußte sich dabei mehr auf Dragon verlassen.

Der Stein fiel mitten zwischen die Ratten, die gellend quietschten und zur Seite sprangen. Eine blieb liegen. Drei weitere rutschten ab und stürzten ins Wasser. Zwar machten sie einige ungeschickte Schwimmbewegungen, aber wahrscheinlich wurden ihre Glieder sofort steif von der eisigen Kälte. Sie erreichten die Eisscholle nicht mehr.

»Sie ertrinken!« rief Dragon. »Los, nimm den nächsten Stein!«

Ubali eröffnete ein regelrechtes Bombardement. Nach dem dritten Wurf erwischte er das Spitzohr am Kopf. Der Unhold sackte zusammen, und da die Eisscholle durch das Hin- und Herlaufen der Ratten in schwankende Bewegungen versetzt wurde, verlor auch er das Gleichgewicht und fiel ins Wasser. Er ging sofort unter.

Nun waren die Ratten führerlos geworden. Ratlos rannten sie von einer Seite der Scholle zur anderen, die

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immer mehr in Bewegung geriet und bald keinen Halt mehr bot. Dragon stieß einen Triumphschrei aus, als sämtliche Ratten zugleich ins Wasser rutschten und unter den nachfolgenden Schollen verschwanden.

Als die Wogen sich glätteten, tauchte keine mehr auf.

Ubali legte den vorletzten Stein in die Kabine zurück.

»Wieder ein paar weniger«, knurrte er befriedigt. Dragon steuerte nun endgültig das nördliche Ufer

an und stieg höher, um die Weinberge zu überfliegen. An dieser Stelle mündete ein größerer Bach in den Eisfluß. Er hatte ein enges Tal geschaffen, dem Dragon nun folgte, bis er die höher gelegene Ebene erreichte, die sich nach Norden erstreckte. Hier lag mehr Schnee als auf der Südseite des Eisflusses. Es gab Wälder, aber auch Felder, die einst bebaut worden waren. Zwei Dörfer am Rande des Tals waren zerstört worden, von Menschen war nichts zu sehen.

»Ein Land des Todes«, meinte Ubali düster. »Diese Bestien aus dem Weltentor haben ganze Landstriche regelrecht entvölkert. Hätten wir nur bessere Waffen, um sie besiegen zu können.«

»Wir schaffen es auch so, Ubali. Wir haben den Götterwagen.«

Einmal entdeckten sie einen Zug von Spinnen, aber sie schleppten keine in Netze gewickelten Gefangenen

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mit. Ubali begnügte sich damit, die beiden restlichen Steine auf sie zu werfen. Einige der Riesentiere wurden getroffen und blieben mit zuckenden Beinen liegen. Die anderen zögerten und fielen dann über ihre verwundeten Artgenossen her, um sie zu verspeisen.

»Wir werden ihre Spur zurückverfolgen«, schlug Dragon vor. »Die restlichen erwischen wir früher oder später. So schnell gelangen sie nicht über den Eisfluß.«

Einmal landeten sie bei einer größeren Hütte, die einsam an einem Berghang stand. Sie war leer und verlassen, aber die Verwüstungen verrieten nur zu deutlich, daß ein Kampf stattgefunden hatte. Es mußten die Ratten gewesen sein, vielleicht auch die Spitzohren. Jedenfalls war nichts in den Räumen heil geblieben, und an den Wänden klebte noch das Blut gemordeter Menschen.

»Schrecklich!« stellte Ubali fest, und sein Gesicht nahm einen noch grimmigeren Ausdruck als bisher an. »Ich werde diese Ungeheuer töten, wo immer ich sie auch antreffe, das schwöre ich dir! Wie können die Götter nur eine solche Plage über die Menschen hier schicken? Was haben sie getan, um ihren Zorn derart herauszufordern?«

»Die Götter tun manches ohne ersichtlichen Grund, Ubali. Aber ich gebe dir recht: Wir werden sie töten, wo immer wir sie finden!«

Der Bach und das Tal waren kleiner geworden. Das

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Gelände war ziemlich eben und übersichtlich. Ubali, der in erster Linie jetzt als Beobachter fungierte, deutete plötzlich nach vorn und sagte:

»Dort, Dragon, siehst du es? Was ist das?« Sie flogen sehr hoch, um einen besseren Überblick

zu gewinnen. Dadurch war der quadratische Komplex in seinen ganzen Ausmaßen zu sehen. Er lag am Ufer des Baches, der an dieser Stelle ein wenig gestaut wurde und einen kleinen See bildete. Ringsum war Wald, aber die Bäume hatten keine Blätter mehr.

Das Viereck war regelmäßig angelegt worden, und als der Götterwagen an Höhe verlor und sich dem rätselhaften Gebilde weiter näherte, wurde es deutlicher erkennbar.

Aus Holzstämmen war ein Zaun errichtet worden, der an seinem oberen Rand in regelmäßigen Abständen durch Speerspitzen verstärkt wurde. Dahinter standen in der Art von Fürst Genols Burg die Wagen, vielleicht als innerer Schutzwall. Der Zwischenraum betrug zwanzig Mannslängen.

Im Innern der so stark befestigten Anlage brannten die Lagerfeuer. Dragon und Ubali schätzten an die hundert solcher Feuer, um die Männer und Frauen saßen und Fleisch brieten. Unter dem Schutz bewaffneter Krieger ging gerade eine Gruppe von Frauen mit Gefäßen zum nahen Bach, um Wasser zu holen. An allen vier Ecken der Festung erhoben sich

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Wachtürme, und ihre Besatzung war es dann auch, die den Götterwagen zuerst entdeckte.

Dragon konnte deutlich sehen, wie einer der Posten herabkletterte und zum nächsten Lagerfeuer rannte. Dort redete er mit den Männern und zeigte in den klaren Himmel hinauf. Ein zweiter Mann sprang auf und raste zu einem der Wagen. Wenig später erschien ein in Felle gekleideter Krieger in der Tür. In der Hand hielt er ein bloßes Schwert.

»Aha, der Anführer!« vermutete Ubali. »Landen wir?«

»Mal sehen, wie sie reagieren«, vertröstete ihn Dragon.

Der Mann mit dem Schwert ließ die Waffe plötzlich fallen und begann mit beiden Armen dem Götterwagen entgegenzuwinken. Sein Gesicht drückte Freude und Hoffnung aus. Er rief den Leuten an den Feuern etwas zu, und kurz darauf rotteten sie sich zusammen und starrten nach oben. Zögernd nur begannen auch sie zu winken.

»Sicher gehören auch sie zum Volk der Eiskönigin«, sagte Ubali.

»Eben deshalb werden wir auch landen. Sie scheinen sich hier für den Winter eingerichtet zu haben. Es wird schwer sein, sie davon zu überzeugen, weiter nach Süden zu ziehen, um sich mit Genols Stamm zu vereinen.«

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Der Götterwagen senkte sich lautlos herab und landete zwischen den Feuern. Der Mann mit den Fellen näherte sich ehrerbietig und reckte den Ankömmlingen beide Hände entgegen. Gleich von Beginn an redete er in der »Alten Sprache«, so daß Dragon ihn sofort verstehen konnte.

»Willkommen bei Hadreks Stamm, Freund der Eiskönigin! Bist du gekommen, um uns eine Botschaft von ihr zu überbringen?« Er starrte Ubali befremdet an. »Wer ist das?«

»Mein Diener und Freund Ubali, du wirst ihn noch kennenlernen. Nein, wir kommen nicht von der Eiskönigin, aber wir haben dir eine Botschaft von Fürst Genol zu überbringen. Wo können wir in Ruhe darüber sprechen?«

»An meinem Lagerfeuer. Fürst Genol also? Ich kenne ihn gut, wir sind Freunde. Ist er nicht nach Süden gezogen mit dem Rest seines Stammes? Er wollte zur großen Eiswand, wie mir Boten berichtet haben.«

»Wir trafen ihn jenseits des anderen Ufers des Eisflusses. Er wollte in der Tat nach Süden, aber nun wird er umkehren und mithelfen, die Ungeheuer zu vernichten. Wir haben einen Plan ausgearbeitet.«

Ubali war beim Götterwagen zurückgeblieben und verständigte sich mit einigen Neugierigen durch die Zeichensprache. Hadrek und Dragon erreichten das

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Lagerfeuer und setzten sich auf Holzstämme. »Einen Plan? Was ist das für ein Plan?« Dragon erklärte es dem Stammesfürsten so

eindringlich wie möglich und berichtete auch von dem Kampf in der vergangenen Nacht. Er schloß:

»Am Südufer wird die Verteidigungslinie errichtet. Sie muß so lückenlos sein, daß es keinem einzigen Ungeheuer gelingen darf, den Eisfluß zu überqueren. Und wenn es doch einem gelingt, müssen wir es erschlagen.«

Fürst Hadrek hatte seine eigenen Vorstellungen in dieser Hinsicht.

»Wir haben dieses Winterlager errichtet, und es hat viel Arbeit und Schweiß gekostet. Wir sind hier sicher, denn fast jede Nacht schlagen wir einen Angriff der Ungeheuer ab. Und wir töten dabei sehr viele von ihnen. Ihre Zahl ist begrenzt. Einmal wird es keine mehr geben, vielleicht schon im nächsten Sommer. Ich glaube, wir werden hier bleiben.«

»Und was ist mit den anderen Stämmen? Wo sind sie?«

»Im Land zerstreut. Manche zogen nach Süden, wie Genol, andere blieben im Land der Eiskönigin und verschanzten sich. Ich weiß es nicht, die Boten kommen spärlich, wenn überhaupt welche kommen.«

»Und wovon wollt ihr leben, wenn es kälter wird und der Schnee höher wird? Überall lauern die

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Ungeheuer, und wenn sie euch nicht im Lager töten können, dann warten sie, bis ihr es verlaßt.«

»Wir haben genügend Vorräte, Fremder. Wir werden den Winter überstehen. Und kein einziges der Ungeheuer wird je in unser Lager eindringen.«

Dragon sah ein, daß seine Überredungskünste scheiterten. Er würde Hadrek nicht davon abbringen können, in seinem stark befestigten Lager zu bleiben. Aber vielleicht war es ganz gut, eine sichere Bastion am Nordufer zu wissen. Man konnte diese Tatsache in die weiteren strategischen Planungen einbeziehen. Wichtig war nur, daß Fürst Hadrek bereit war, mit den anderen Verteidigern zusammenzuarbeiten.

Dragon sprach ihn darauf an und versuchte ihm klarzumachen, daß nur gemeinsames Handeln auf die Dauer einen Erfolg versprach. Allerdings bat er ihn, die Hälfte seiner Krieger zur Verstärkung der Front am Südufer des Eisflusses zur Verfügung zu stellen. Er selbst wollte sie im Schutz des Götterwagens zu Genols Leuten führen.

Das war ein Kompromiß, zu dem Fürst Hadrek nach einigem Zögern bereit war.

»Na gut, ich kann die Hälfte der Männer für einige Zeit entbehren. Aber du mußt sie mir zurückbringen, wenn der Schnee schmilzt. Ich brauche sie hier, wenn das Land frei zum Bebauen wird oder wir wieder nach Norden ziehen. Versprichst du mir das?«

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»Ich kann es dir im Namen Genols versprechen, der für ihre Rückführung garantiert, sobald die Ungeheuer besiegt sind. Wann kann ich sie holen?«

»Schon morgen, Fremdling. Ich werde dafür sorgen, daß sie in dieser Nacht durchschlafen können. Dann habe ich zugleich den Beweis, daß wir unsere Burg auch ohne sie verteidigen können.«

»Ich danke dir, Fürst Hadrek.« Dragon sah hinauf zum Himmel. Die Sonne senkte sich bereits. »Und nun muß ich dich verlassen, um zu Genol zurückzukehren. Wir erwarten auch einen neuen Angriff der Ungeheuer, diesmal an einem anderen Ort. Morgen kehre ich zurück, um deine Männer zum Eisfluß zu bringen.«

Als die quadratische Befestigung unter ihnen zurückblieb, hatte Dragon das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben. Ausführlich berichtete er Ubali von seinem Erfolg.

Sie fanden Genols Wagenzug vor Einbruch der Dämmerung keinen halben Tagesmarsch vom Südufer entfernt. Die Burg formte sich gerade, und die ersten Lagerfeuer flackerten auf. Der Götterwagen landete, und Dragon beeilte, sich, dem Fürsten die freudige Nachricht zu überbringen.

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6.

In dieser Nacht erfolgte kein Angriff der Ungeheuer. Fürst Genol war fest davon überzeugt, daß die neue

Waffe – das Feuer – die Bestien abschreckte und davon abhielt, erneut seinen Zug zu überfallen. Dragon hingegen vertrat die Ansicht, daß vielleicht das Erscheinen des Götterwagens die Wesen aus dem Weltentor verwirrt hatte. Immerhin hatten sie ihm bereits empfindliche Niederlagen zu verdanken, und daß eine gewisse Kommunikation zwischen den Gruppen der Ungeheuer stattfand, daran konnte kein Zweifel bestehen.

Wie auch immer: Fürst Genol brach mit seinen Leuten bereits vor Sonnenaufgang auf. Noch gegen Mittag sollte die Verteidigungsstellung am Eisfluß bezogen werden.

Dragon und Ubali flogen nach Norden, um Hadreks Krieger abzuholen. Die Entfernung war nur gering. Bis zum Anbruch der Dämmerung konnte die Verstärkung am Nordufer angelangt sein. Die Frage, wie sie den Fluß überqueren sollten, blieb vorerst noch offen.

»Wir benutzten große Flöße«, verriet Genol, als sie beim Abschied darüber sprachen. »Die müßten eigentlich an der Landestelle liegen, wenn wir auch

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einige von ihnen zu Brennholz verarbeiteten.« Dragon ließ sich die Stelle beschreiben, denn ihm

war ein Gedanke gekommen, der sich allerdings erst am Abend verwirklichen ließ. Zuerst mußten Hadreks Krieger am Nordufer sein.

Sie starteten, während sich Genols Wagenzug zum Abmarsch formte. Schnell erreichten sie den Eisfluß und fanden die beschriebene Stelle. Die Flöße lagen halb an Land gezogen in Sicherheit. Dragon landete und betrachtete sie skeptisch. Seile waren genügend vorhanden.

»Ja, das wird gehen. Wir werden sie aneinanderbinden und auf die andere Seite ziehen. Dann laden wir Hadreks Krieger auf und ziehen sie zurück. So einfach ist das, wenn man einen Götterwagen hat.«

Ubali grinste und erwiderte nichts. Ihm begann die Sache trotz der Ungeheuer Spaß zu machen.

Mit Höchstgeschwindigkeit flogen sie das Tal entlang und erreichten Hadreks Lager, als die Sonne gerade aufgegangen war. Die versprochenen tausend Krieger standen abmarschbereit vor den Toren der Befestigung. Ohne einen Befehl abzuwarten, setzte sich die Kolonne in Marsch, und Dragon hatte nur noch Zeit, dem Fürsten den Dank Genols auszusprechen, dann startete er wieder, um die mutigen Männer zu begleiten, die ihr sicheres Lager und ihre Frauen

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verließen, um ihr Leben für die gemeinsame Sache aufs Spiel zu setzen.

Der Götterwagen schwebte dicht vor ihnen daher, und wenn sich wirklich eines der Ungeheuer blicken ließ, wurde es mit Steinen beworfen, bis es tot zusammenbrach oder im dichten Wald untertauchte.

Am frühen Nachmittag wurde der Eisfluß erreicht. Dragon ließ Ubali zurück und holte allein die Flöße. Es war ein erstaunlicher Anblick, der sich wenig später den verblüfften Kriegern bot. Etwa ein Dutzend großer Flöße wurden von dem Götterwagen durch die treibenden Eisschollen gezogen und landeten sicher am Ufer. Eilfertig sprangen einige Männer hinzu und banden die hölzernen Plattformen mit Stricken an Steinen oder Bäumen fest, damit sie nicht wegschwimmen konnten. Dann begannen sie mit der Verladearbeit.

Dragon mußte zweimal den Eisfluß überqueren, bis alle Krieger am anderen Ufer waren. Dann gab er ihnen den Rat, die Flöße weit an Land zu ziehen, da man sie später wieder benötigen würde, und sei es als Brennholz. Dann stieg er mit dem Götterwagen auf, um Fürst Genol zu suchen. Er brauchte nur einige tausend Mannslängen nach Westen zu fliegen, um ihn zu finden.

Soweit er das aus der Höhe her beurteilen konnte, waren die Vorbereitungen zur Errichtung der

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geplanten Verteidigungslinie schon so weit gediehen, daß bereits für die kommende Nacht mit der wirksamen Abwehr eines eventuellen Angriffs gerechnet werden konnte. Morgen sollte die Kampflinie soweit auseinandergezogen werden, daß mindestens eine Strecke von zwei Tagesmärschen gegen die Invasion aus dem Norden abgesichert werden konnte.

Die erste Bewährungsprobe hatte die Verteidigungslinie gleich in der ersten Nacht zu bestehen ...

Dragon war zusammen mit Genol am Ufer entlanggeflogen, bevor die Sonne unterging und es dunkelte. Sie hatten sich davon überzeugt, daß auch Hadreks Männer die Befehle befolgten und einen leicht brennbaren Holzwall errichteten und die Fettöpfe bereitstellten. Nach dem Landinneren zu waren ähnliche Verteidigungsmaßnahmen ergriffen worden, und vor allen Dingen die Wagen boten Deckung gegen einen Angriff von dieser Seite her.

Wichtig war, daß kein Ungeheuer mehr den Eisfluß überquerte.

Niemand bemerkte es, auch Dragon nicht, daß nach Einbruch der Dämmerung vom anderen Ufer ein gewaltiges Floß abstieß, das aus primitiv zusammengebundenen Hauswänden und Balken

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bestand. An den Vorsprüngen klammerten sich Spinnen und Ratten fest, die sich zum gemeinsamen Beutezug vereint hatten. Ein halbes Dutzend Spitzohren leitete die Aktion.

Das abenteuerlich wirkende Floß trieb durch die Eisschollen und wurde durch die Ruderschläge der Anführer immer mehr zur südlichen Uferseite gelenkt. Der Schein der Lagerfeuer verriet das Ziel.

Dragon hatte sich nicht dagegen gewehrt, daß Melina den Arm um ihn legte, bevor er einschlief. Sein letzter Gedanke galt Amee und seinem Sohn Atlantor. Genols Schnarchen störte ihn nicht.

Dann kam das plötzliche Erwachen. Hinter dem Fürsten her rannte er aus dem Zelt.

Wieder warf ihm Ubali aus dem Götterwagen das Schwert zu, und dann sah er die Flammen am Ufer des Eisflusses auflodern.

Der Wall begann zu brennen. Einer von Genols Kriegern war geistesgegenwärtig

genug, eine brennende Fackel auf das Floß zu schleudern, von dem die Angreifer an Land quollen. Viele der Spinnen fingen dabei Feuer. Die Ratten hingegen griffen mit verbissener Wut an, angefeuert von den Spitzohren, die sich vorsichtig im Hintergrund hielten.

Die Krieger Genols und Hadreks erwarteten den Gegner.

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Dragon hielt den rennenden Genol am Pelz fest. »Nicht so schnell, Fürst! Deine Leute schaffen das

auch ohne uns. Sehen wir lieber zu, welche Fehler sie vielleicht machen, damit wir sie morgen abstellen können. Keine Methode ist perfekt.«

Aber es schien doch alles perfekt zu sein. Genol grinste im Schein der Feuer, als die Ratten

eine Lücke im brennenden Wall fanden und ins eigentliche Lager eindrangen. Dragon wollte etwas sagen, aber dann schwieg er. Es sah ganz so aus, als habe er den Fürsten ein wenig unterschätzt.

Die Ratten, es mochten knapp hundert von ihnen sein, wollten sich gerade auf ihre vermeintlichen Opfer stürzen, als rings um sie die vorbereiteten Brände aufloderten und sie einschlossen. Die mit Fett getränkten Holzstöße waren auf leichten Karren angebracht worden, die nun von den Kriegern vorgeschoben wurden.

Der Kreis wurde enger. Die Ratten sahen sich in der Falle. Sie wollten dem

brennenden Kreis entfliehen, aber sie fanden die Lücke nicht mehr, durch die sie gekommen waren. Sie war längst durch neues Feuer geschlossen worden.

Geblendet und halb verrückt vor Angst stürmten sie blindlings vor und rannten in die wartenden Schwerter, Speere und Pfeile der Krieger. Keine von ihnen entkam.

Page 117: Der Götterwagen

So geschah es an mehreren Stellen, und als die Überlebenden ihr Heil in der Flucht suchten, wartete nur der eisige Fluß auf sie.

Sie ertranken. Fürst Genol nickte Dragon zu. »Nun, König Dragon, sind meine Krieger nicht

tapfer?« »Ja, das sind sie. Aber wir wollen nicht Hadreks

Leute vergessen, auch wenn sie heute weniger Arbeit bekommen haben. Du mußt ihnen den Trick mit dem Feuerkessel verraten, damit er ihn ebenfalls vorbereitet. Das war nicht der letzte Angriff.«

Dragon kehrte zum Zelt zurück, während Genol noch zu seinen Männern ging, um ihnen sein Lob auszusprechen. Er verringerte die Wachen, da in dieser Nacht nicht mehr mit einem Angriff zu rechnen war. Dann erst folgte er Dragon ins Zelt. Mit einem zufriedenen Schmunzeln sah er ihn bereits unter den Fellen des Lagers ruhen. Neben ihm lag seine Tochter Melina, der er keinen besseren Mann wünschen konnte.

Seine Stirn bekam jedoch einige Runzeln, als er feststellen mußte, daß beide bereits tief und fest schliefen.

In den folgenden Tagen baute Fürst Genol die Stellung weiter aus. Den ganzen Tag über waren Frauen und

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Männer unterwegs, um Brennholz herbeizuschaffen. Jäger durchstreiften die umliegenden Wälder und sorgten für Wintervorräte.

Immer wieder wurden Ansiedlungen entdeckt, besonders auf der Nordseite, in denen noch Überlebende hausten. Genols Leute nahmen sie mit und brachten sie im Lager der Verteidiger unter.

Inzwischen unternahmen Dragon und Ubali weitere Erkundungsflüge, um die anderen Stämme zu finden, falls es sie noch gab. Sie drangen weit nach Norden vor und waren entsetzt über das Ausmaß der Zerstörung, das von den eingedrungenen Ungeheuern verursacht worden war.

Am dritten Tag entdeckten sie gleich zwei Stämme – oder deren Überreste. Insgesamt waren es immerhin siebentausend Männer und Frauen, die nach Süden zogen, um den Eisfluß zu erreichen, von dem sie sich Rettung erhofften. Das Erscheinen des Götterwagens löste freudige Überraschung und neuen Mut bei ihnen aus. Dragon verhandelte mit den Anführern – die eigentlichen Fürsten waren im Kampf gegen die Invasoren gefallen – und überzeugte sie, daß es für sie nur eine einzige Möglichkeit zur Rettung gab: die Verteidigungslinie am Südufer des Eisflusses.

Später landeten sie auf einem Berg, dessen Gipfel von Steilwänden abgesichert wurde. Ubali nahm das mitgebrachte Holz und entfachte ein Lagerfeuer.

Page 119: Der Götterwagen

»Warum fliegen wir nicht gleich zur Eiskönigin, wenn es sie überhaupt gibt?« fragte Ubali. »Es kann nicht mehr weit sein.«

»Das stimmt, mein Freund, aber welchen Sinn hätte es? Glaubst du, es wäre so einfach, sie nach den unterschiedlichen Berichten zu finden? Und wenn wir sie wirklich fänden, würden Tage vergehen, ehe wir zum Eisfluß zurückkehren könnten. Bis dahin kann alles verloren sein, was wir dort mühsam errichtet haben. Die Eiskönigin hat Zeit, Ubali. Wichtig ist jetzt nur, daß die Ungeheuer besiegt werden, und zwar endgültig. Kannst du dir vorstellen, was geschieht, wenn sie sich vermehren ...?«

Ubali schauderte zusammen und vergaß die Eiskönigin vorerst.

Der Himmel hatte sich bewölkt, und es wurde windig. Auf dem Berggipfel gab es kein Holz, das Feuer würde bald erlöschen. Die beiden Männer stiegen in den Götterwagen und versuchten, ein paar Stunden zu schlafen.

Bald war die Verteidigungslinie am Südufer des Eisflusses mehr als zehn Tagesmärsche lang. Es war Dragon gelungen, etwa vierzigtausend Überlebende des Eisköniginvolkes zu vereinen. Kein einziges Ungeheuer konnte den Fluß überqueren, ohne bei seiner Ankunft am anderen Ufer getötet zu werden.

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Zusätzlich machten sich nun Jagdtrupps auf, um im Süden die früher eingedrungenen Bestien aufzuspüren und zu erlegen. Die Aktionen waren von großem Erfolg begleitet.

Aber immer noch gab es die Bedrohung aus dem Norden.

Die nächtlichen Angriffe, die über den Eisfluß vorgetragen wurden, waren für den teuflischen Gegner katastrophal. Er erlitt ungemein hohe Verluste, gab sich jedoch noch längst nicht geschlagen. Immer wieder erfanden die Spitzohren neue Methoden, den Eisfluß zu überqueren. Zum Glück für die Verteidiger fror er nicht zu.

Dragon, der Ubali beim Götterwagen zurückgelassen hatte, wanderte mit Fürst Genol am Flußufer entlang. Sie befanden sich außerhalb der eigentlichen Verteidigungsstellung, aber das bedeutete tagsüber schon keine Gefahr mehr.

»Du mußt wieder zurück in dein Königreich?« erkundigte sich Genol vorsichtig, als sie am Rand einer kleinen Bucht standen und auf den Strom hinausblickten, auf dem nur Eisschollen zu sehen waren.

»Sicher, ich werde erwartet«, erwiderte Dragon, der bereits ahnte, worauf der Fürst hinauswollte. »Ich darf mein Reich nicht zu lange allein lassen.«

»Und du würdest unter keinen Umständen bei uns

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bleiben wollen? Auch dann nicht, wenn ich dir meine Tochter Melina zur Frau gebe?«

»Auch dann nicht, mein Freund.« Dragon legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mißverstehe mich nicht, Genol, Melina ist ein begehrenswertes Weib, und der Mann, der sie einmal sein eigen nennen darf, ist glücklich zu schätzen. Aber ich habe schon eine Königin. Und ich liebe sie und unseren Sohn. Natürlich ehrt mich dein Angebot, und auch Melina würde einwilligen, meine Gattin zu werden, aber es geht nicht. Sie hat mein Lager gewärmt, und dafür danke ich ihr.«

Fürst Genol sah nicht ganz glücklich aus. »Sie hat dir nicht gefallen?« Dragon überlegte, wie er es ihm noch deutlicher

sagen konnte, ohne ihn und seinen Stolz zu beleidigen. »Oh doch, sie hat mir ungemein gefallen, und ich

hatte die ganzen Nächte nichts anderes zu tun, als gegen die Versuchung anzukämpfen, denn selten in meinem Leben habe ich einen wunderbareren Körper als den deiner Tochter gesehen und gespürt. Aber würdest du es gutheißen, wenn zum Beispiel dein künftiger Schwiegersohn dein geliebtes Kind betröge, nur weil er neben einer anderen Frau schläft?«

Fürst Genol überlegte ernsthaft, dann meinte er: »Ich glaube, du hast recht, Dragon. Du hast richtig

gehandelt und mir die Wahrheit gesagt. Aber Melina

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wird traurig sein. Sie hat mir gestanden, daß sie dich liebt. Ihr ist noch nie ein Mann begegnet, der so ist wie du.«

Dragon lächelte. »Das mag daran liegen, daß sie erst wenigen

Männern begegnet ist.« Fürst Genol lächelte zurück und schnitt das Thema

nicht mehr an. Mit dem Götterwagen besuchten sie auch Hadreks

Männer, die sich häuslich für den Winter eingerichtet hatten und Dragon wie ihren eigenen Anführer empfingen. Sie gaben der Hoffnung Ausdruck, daß sie bereits im Frühling zum ursprünglichen Lager zurückkehren konnten. Bis dahin, so meinten sie, gäbe es keine Ungeheuer mehr, wenn diese weiter angriffen und so hohe Verluste erlitten.

Auf dem Rückflug sagte Dragon: »Es gibt noch genug von ihnen im Norden. Sie

haben sich zerstreut und leben in den Wäldern. Bei gelegentlichen Überfällen auf noch vorhandene Siedlungen beschaffen sie sich Fleisch. Es dauert noch lange, bis wir sie ausgerottet haben, aber ihr schafft es nun allein. Ubali und ich werden euch morgen verlassen.«

Genol sah ihn fassungslos an. »Ihr wollt uns verlassen? Aber der Winter hat noch

nicht einmal richtig begonnen, Dragon! Was ist, wenn

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der Eisfluß zufriert? Dann können sie über das Eis laufen, die Bestien.«

»Selbst wenn der Strom zu Eis wird, bedeutet das keine große Gefahr mehr für euch. Sicher wird es einigen der Ungeheuer gelingen, die Verteidigungslinie zu umgehen und ans südliche Ufer zu gelangen, aber ihr werdet sie aufspüren und töten. Die anderen, die direkt über das Eis kommen, laufen in die Feuerfallen. Der Krieg ist so gut wie gewonnen, Fürst Genol, und ihr braucht uns nicht mehr.«

»Ich hoffe, du hast recht, König Dragon. Werden wir dich eines Tages wiedersehen?«

»Das ist gut möglich, aber nicht vor dem nächsten Sommer. Vielleicht werden wir auch dereinst einen Weg über die Große Eiswand finden, wenn sich die alte Prophezeiung erfüllt und es wärmer auf der Erde wird. Niemand vermag vorauszusehen, wann das geschieht.«

»Du wirst in die südlichen Länder zurückkehren?« »Ja, nach einem kurzen Erkundungsflug nach

Norden. Ich möchte Fürst Hadreks Lager noch einen Besuch abstatten und ihm die Grüße seiner Krieger übermitteln. Er soll wissen, daß es ihnen gutgeht.«

Genol seufzte. Er sah hinauf in den Himmel und suchte die tiefstehende Sonne hinter den Wolken.

»Wann wirst du aufbrechen? Es wird bald dunkel.« »Morgen früh. Dies ist die letzte Nacht in deinem

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Zelt.« Sie kehrten ins Lager zurück. Am anderen Morgen stiegen Dragon und Ubali in

ihren Götterwagen und winkten den Zurückbleibenden noch einmal zu. Fürst Genol und seine Tochter Melina standen vor dem Zelt, reglos und mit versteinerten Mienen.

Ihnen mochte der Abschied am schwersten fallen. Dragon schob den Fahrthebel vor und zugleich nach

oben. Der Wagen gewann schnell an Höhe und Geschwindigkeit, zog über die Verteidigungslinie hinweg und erreichte dann die Hügel beim Nordufer. Er folgte dem bekannten Tal, bis Hadreks Burg in Sicht kam.

Hier hatte sich nichts verändert. Die Angriffe der Bestien waren seltener geworden, und die Männer und Frauen bereiteten sich auf einen harten und kalten Winter vor. Der Schutzwall aus Holz mußte noch verstärkt werden, Feuerfallen wurden vorbereitet und weitere Vorräte angelegt. Riesige Stapel mit Eisblöcken aus dem nahen Bach garantierten die Wasserversorgung.

Hadrek zeigte sich sehr zufrieden. »Wenn meine Krieger im nächsten Frühjahr

zurückkehren, werden sie eine neue Heimat vorfinden, und viele ihrer Frauen werden Mütter werden.« Er lachte dröhnend. »Dafür haben sie schnell noch

Page 125: Der Götterwagen

gesorgt, bevor sie uns verließen.« »Bis dahin werden auch einige dieser Mütter

Witwen sein«, dämpfte Dragon seinen Optimismus. »Aber das kann euch nicht den Sieg über die Ungeheuer nehmen. Der ist so gut wie sicher.«

Dragon und Ubali blieben, bis die Sonne am höchsten stand, dann schlug abermals die Stunde eines Abschieds. Das Versprechen, sich wiedersehen zu wollen, wurde von beiden Seiten ernst genommen.

Der Götterwagen erhob sich geräuschlos und stieg so schnell in die Höhe, daß er für die Menschen auf der Erde bald nur noch ein winziger dunkler Punkt unter den Wolken war, der plötzlich ganz verschwand.

Es war, als habe der Himmel ihn verschluckt.

7.

Sie flogen etwa zwei Tagesritte weit nach Norden, dann drosselte Dragon die Geschwindigkeit und ging tiefer. Das Gelände unter ihnen war unübersichtlicher und gebirgiger geworden. Schneebedeckte Berge und Wälder wechselten mit Schluchten und weißen Ebenen.

Page 126: Der Götterwagen

Es gab kaum noch Ansiedlungen, oder sie lagen so versteckt, daß man sie nicht bemerkte.

Mehrmals hatten sie ganze Rudel von Ratten oder Spinnen entdeckt, die durch die Schneelandschaft dahinzogen. Ubali juckte es jedesmal in den Fingern, und er beschloß, heute abend wieder Steine zu sammeln und mitzunehmen. Im Osten begann es bereits zu dämmern, während sich im Westen der Himmel rosa färbte. Bald würde es dunkel werden.

»Wir brauchen einen sicheren Platz für die Nacht«, mahnte er.

»Ich suche schon die ganze Zeit danach«, erwiderte Dragon und ging noch tiefer. »Ein Berggipfel wäre gut, dann könnten wir beide durchschlafen. Aber dort finden wir auch kein Holz für ein Feuer.«

»Und keine Steine in dem hohen Schnee«, fügte Ubali bedauernd hinzu.

Sie flogen an steilen Felshängen entlang, die sich von Norden nach Süden zogen. Tiefe Täler unterbrachen die Formation des Gebirges, aber die Flüsse waren zu Eis erstarrt und keine Spur von Leben war zu entdecken. Selbst die Ungeheuer schienen die wildromantische Gegend zu meiden.

»Dort!« rief Ubali plötzlich und deutete schräg nach vorn. »Was ist das? Menschen ...?«

Dragon steuerte genau auf den dunklen Fleck zu, der sich im Schnee gut abhob. Er lag genau unter der

Page 127: Der Götterwagen

senkrecht aufsteigenden Felswand und entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als eine Ansammlung von etlichen Hütten, die von einer hölzernen Palisade eingeschlossen waren. Aus steinernen Schornsteinen kräuselte Rauch in den dämmerigen Abend. Nördlich des befestigten kleinen Dorfes begann ein riesiger Wald, der sich bis zum Horizont erstreckte.

»Natürlich, Menschen, was sonst? Wir werden landen. Vielleicht finden wir bei ihnen Schutz vor der Kälte in dieser Nacht.«

»Auf dem Platz vor den Hütten sollte es gehen ...« Dragon näherte sich langsam und vorsichtig der

Siedlung. Er sah niemanden. Die Bewohner mußten sich bereits in die Häuser zurückgezogen haben. Erstaunlich, daß sie keine Wachen aufgestellt und ein Lagerfeuer angezündet hatten. Holz gab es hier genug, wenn auch nur außerhalb der Palisade.

Wie immer landete der Götterwagen ohne jedes Geräusch. Er stand zwischen den Hütten und der Palisade, und darüber stellte die Felswand nach oben. Ihr Ende verlor sich im dämmerigen Himmel.

Dragon öffnete das Dach. Er verstand die Sorglosigkeit der Menschen nicht, die hier in der Einsamkeit lebten und zweifellos von der Gefahr wußten, in der sie sich befanden. Hätten sie sonst den starken und hohen Zaun aus Holzstämmen errichtet und sich derartig verschanzt?

Page 128: Der Götterwagen

Er ließ das Schwert in der Kabine und winkte Ubali zu, ihm zu folgen. Beide Männer behielten nur ihre Messer als Waffen.

Die Fenster der Häuser waren durch Holzläden gesichert. Durch mehrere schimmerte Licht. Es war inzwischen fast völlig dunkel geworden, und noch immer zeigte sich keiner der Hausbewohner.

So sorglos konnte kein vernunftbegabtes Wesen sein! Oder gab es andere Gründe für ihr Verhalten?

Dragon ging vor bis zu dem größten Haus, zögerte einen Augenblick und klopfte dann mit dem Knöchel gegen die Fensterlade, hinter der Licht war. Er wußte, daß weder die Ratten noch die Spinnen an ein Fenster klopfen würden. Bei den Spitzohren war er sich nicht so sicher.

Das Stimmengemurmel hinter der Lade verstummte jäh, dann hörte Dragon Schritte. Die Tür wurde aufgestoßen. Ein Mann erschien darin, in der Hand eine Öllampe. Sein Gesicht war von einem roten Vollbart und roten Haaren umrahmt, seine Kleidung bestand aus roh bearbeiteten Tierfellen. Um seinen Hals trug er eine Kette mit blitzenden Rattenzähnen.

Wahrscheinlich nahm er an, daß einer der Nachbarn angeklopft hatte. Er fragte etwas in einer unbekannten Sprache.

Dragon kam ins Licht der Lampe, während Ubali abwartend im Hintergrund verharrte.

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»Erschrick nicht, ich bin ein Freund«, sagte der Atlanter in freundlichem Tonfall, um seinen Worten den entsprechenden Nachdruck zu verleihen, falls der Bärtige die »alte Sprache« nicht kannte. »Wir möchten die Nacht bei euch bleiben. Habt ihr Platz für uns?«

Zu seiner Überraschung erschrak der Mann nicht sonderlich. Indem er sich zu ihm umdrehte, gewahrte er den Götterwagen – vielleicht war das der Grund. Im gleichen Idiom sagte er:

»Ihr redet in der Heiligen Sprache und seid mit einem Himmelswagen gekommen mit dem fliegenden Thron der Eiskönigin ...? Seid willkommen bei uns, wo ihr immer einen Platz finden werdet, euch zu wärmen und zu ruhen. Ja, ich meine auch dich, der du im Hintergrund wartest. Komm ins Licht, damit ich dich besser sehen kann. Mein Name ist Leif, aber man nennt mich ›den Roten‹. Du kannst es auch so halten, Fremder, den die Eiskönigin schickt.«

Diesmal verzichtete Dragon darauf, den Irrtum aufzuklären.

»Wir möchten nur für eine Nacht bleiben. Dürfen wir eintreten?«

Leif staunte nicht einmal über die dunkle Hautfarbe von Ubali und ging voran. Sie kamen in einen großen Raum, in dem mehrere Personen versammelt waren, meist Männer, die ähnlich aussahen wie der Rote, aber auch einige Frauen, die ihnen neugierig

Page 130: Der Götterwagen

entgegenblickten. Leif erklärte in wenigen Worten, wer da bei ihnen übernachten wollte und schaffte Platz am offenen Kamin, in dem ein wärmendes Feuer brannte. Dann wandte er sich wieder an Dragon:

»In den Nächten kommen die Ungeheuer, aber bis jetzt haben wir sie erfolgreich abgewehrt. Seltsam nur ist, daß sie uns jetzt viele Tage in Ruhe ließen. Vielleicht haben sie eingesehen, daß sie uns nichts anhaben können.«

»Oder sie bereiten eine neue List vor, Roter!« rief einer der Männer und schlug mit der Faust auf die Tischplatte.

»Jedenfalls werden wir eine Wache aufstellen«, beruhigte ihn Leif. »Unsere Gäste sollen ruhig schlafen können.« Er sah Dragon an. »Was sucht ihr hier bei uns, wenn ich fragen darf? Wir glaubten schon, die Eiskönigin habe uns vergessen.«

Dragon schüttelte den Kopf. »Nein, das hat sie nicht, Leif. Der Kampf gegen die

Ungeheuer ist bald beendet. Am Eisfluß hat sich eine starke Abwehrfront des Eisvolkes gebildet und den Bestien große Verluste zugefügt. Es wird bald keine mehr geben. Aber bleibt wachsam, zumindest über den Winter. Ihr habt eure Siedlung gut befestigt.«

»Ja, das haben wir, und es war auch notwendig. In den Wäldern nördlich von hier wimmelte es von den Ungeheuern, aber sie sind meist nach Süden gezogen,

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dem großen Fluß entgegen. Wir haben lange keine anderen Menschen mehr gesehen, ihr seid die ersten Besucher.«

»Wir suchten einen Landeplatz, und da fanden wir euch. Eure Hütten stehen im Schatten des Felsens, und im Norden ist der Wald. Habt ihr genügend Wasser und Vorräte, um den Winter durchzustehen?«

»Ja, wir haben vorgesorgt. Die Quelle ist innerhalb der Umzäunung, und sie friert niemals zu. Schon unsere Eltern tranken aus ihr. Und auch unsere Kinder werden aus ihr trinken. Und wenn sich die Ungeheuer verdoppeln, wir werden unsere Heimat niemals aufgeben. Hadreks Leute versuchten, uns zur großen Wanderung nach Süden zu bewegen, aber wir blieben. Hadrek ist einer der Fürsten unseres Volkes.«

»Ich kenne Hadrek. Er hat geholfen, die Verteidigungslinie am Eisfluß aufzubauen. Er ist ein tapferer Mann, wie seine Krieger.«

»Aber es muß auch im Norden Männer geben«, sagte Leif einfach.

Sie saßen noch lange zusammen, und immer wieder verstand es Dragon, das Gespräch in harmlose Bahnen und von der Eiskönigin abzulenken. Er vermied es, daß ihm direkte Fragen gestellt wurden, die er jetzt nur noch mit einer Lüge hätte beantworten können. Ubali, der unmittelbar neben dem Feuer saß, war eingeschlafen.

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»Ihr seid müde«, meinte der Rote schließlich und forderte einen der Anwesenden auf, auf Wache zu gehen. Bis jetzt hatten sie sich sicher gefühlt. »Es wird Zeit, daß die Frauen das Lager herrichten. Ihr könnt beim Feuer schlafen. Felle haben wir genug.«

Es war ein einfaches Lager, und diesmal gab es auch keine Tochter als Gastgeschenk für Dragon. Angezogen wie er war, legte er sich nieder, und es dauerte nur Minuten, da war auch er eingeschlafen.

Die vergangenen Tage waren zu anstrengend gewesen.

Lautes Gepolter riß ihn aus seinem Schlummer. Irgend etwas krachte auf das stabile Dach des

Hauses, so als käme eine Steinlawine aus den Felsen und wolle die Ansiedlung verschütten. Die nur schwach brennende Ölfunzel verbreitete wenig Licht, aber schon war Leif auf den Beinen und machte mehr Licht.

Die Frauen krochen aus den Betten und warfen sich die Pelze über. Es war wie Routine, so als hätten sie nie etwas anderes getan, als mitten in der Nacht durch Lawinen aufgeweckt zu werden. Leif zog sich ebenfalls die Jacke an, die Hosen hatte er erst gar nicht ausgezogen. Er griff nach seinem Schwert, das an der Wand hing.

»Sie sind heute doch gekommen, und sie versuchen es wieder mit ihren Steinen. Als ob sie nicht wüßten,

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wie sinnlos das ist, weil wir die Dächer verstärkten.« Wieder krachte ein Felsbrocken auf das Dach. Draußen im Hof war ein knirschendes Geräusch. Dragon war mit einem Satz hoch. »Steine, sagst du? Sie werfen mit Steinen?«

»Vom Felsen herab, ja. Das tun sie oft. Damit wollen sie uns mürbe machen, aber es gelingt ihnen nicht. Sobald sie damit aufhören, erfolgt der Angriff vom Wald her. Sie ändern niemals ihre Taktik.«

Dragon durchfuhr ein eisiger Schreck, als es das Geräusch zersplitternden Metalls hörte.

»Der Götterwagen!« rief er entsetzt, riß dem verblüfften Leif das Schwert aus der Hand und rannte durch die Tür nach draußen. »Ubali, schnell!«

Nur durch einen Zufall verfehlte ihn ein kopfgroßer Stein, der dicht neben ihn auf den Boden prallte und weiterrollte. Ein Volltreffer hätte ihn auf der Stelle getötet. Aber er achtete nicht auf die Gefahr, er sah nur den zertrümmerten Götterwagen im schwachen Schein der Lampe, deren Licht durch die geöffnete Tür fiel. Ein riesiger Felsblock hatte das Kabinendach durchschlagen und die Kontrollen zertrümmert.

Er würde nie mehr fliegen können. Eine unbändige Wut packte Dragon. Wie hatte er auch nur so leichtsinnig sein können, so nahe am Felsen zu bleiben? Er hätte sich denken können, daß jeder herabfallende Stein größten Schaden anrichten konnte. Aber nun war

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es zu spät zur Reue. Das Unglück war geschehen, und abgeschnitten von seiner Welt saß er mit Ubali im Urwald der nördlichen Länder, von Ungeheuern umgeben und ohne Aussicht auf Hilfe.

Es fielen keine Steine mehr. Leif kam zu ihm. »Der Götterwagen ist zerstört. Die Eiskönigin wird

dir einen neuen schicken, denn du mußt ein großer Fürst sein. Du kannst mein Schwert behalten, wenn die Ungeheuer angreifen. Und das wird bald geschehen.«

Die anderen Männer verteilten sich längs der Palisade. Sie machten Pfeil und Bogen schußbereit. Neben sich legten sie Speere und Schwerter. Sie warteten seelenruhig auf den bevorstehenden Angriff.

Dragon ging zu den Verteidigern und reihte sich ein. In ihm war alles leer und ohne Hoffnung. Er sah Ubali nicht an, der sich neben ihn stellte, in der Hand ein Beil.

Vor der Palisade war es dunkel, denn die Wolken verdeckten den abnehmenden Mond. Zu spät kam Dragon zu Bewußtsein, daß er Leif und seinen Männern nichts von der abschreckenden Kraft des Feuers gesagt hatte. Die Ungeheuer würden im Dunkel der Nacht angreifen, und da sahen sie besser als jeder Mensch.

Die ersten Schatten tauchten am Waldrand auf und kamen schnell näher. Dragons Augen hatten sich an die Finsternis gewöhnt. Er konnte die einzelnen Ratten

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voneinander unterscheiden, und im Hintergrund erkannte er die langsameren Spinnen. Leif war plötzlich neben ihm. »Keine Sorge, es sind nur wenige diesmal. Mit denen werden wir fertig.«

Die Taktik der Einsiedler bestand darin, stellte Dragon bald fest, die Angreifer bis auf die Spitze der Palisaden klettern zu lassen, was sie Mühe genug kostete. Dann erst schlugen sie mit ihren Schwertern zu, und fast jeder Hieb war tödlich. Nur wenigen Ratten gelang es, das hohe Hindernis im Sprung zu nehmen und innerhalb der Umzäunung zu landen. Dann traten die Bogenschützen in Aktion. Selbst in der Dunkelheit verfehlten sie nur selten ihr Ziel.

»Ein Feuer! Warum macht ihr kein Feuer im Hof?« Leif spaltete den Schädel einer Ratte, die ihn von der

Palisade her anspringen wollte. »Feuer? Dann können sie uns noch viel besser

sehen!« erklärte er verwundert. Dragon beschloß, das Gespräch auf den kommenden

Tag zu verschieben. Er bekam Arbeit, und da er des vernichteten Götterwagens wegen voller Zorn war, wütete er wie ein Berserker unter den Angreifern. Er wußte es später nicht mehr genau, aber Ubali behauptete, er habe in dieser Nacht mindestens zwei Dutzend der Rattenwölfe erschlagen.

Die Überlebenden suchten ihr Heil in der Flucht, aber die schnell herbeieilenden Bogenschützen erlegten

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noch die Hälfte von ihnen. Später saßen sie alle noch in Leifs Hütte. Die Frauen

hatten das Kaminfeuer wieder angefacht und brachten Krüge mit Wein. Niemand war zu Schaden gekommen.

»Wie war das mit dem Feuer?« fragte Leif, und die Männer der Siedlung spitzten die Ohren. »Was hast du gesagt? Feuer vertreibt sie schnell?«

»Es tötet die Spinnen sofort und schreckt die Ratten ab. Wir haben es am Südfluß erprobt.« In kurzen Worten erklärte er, was er meinte. »Auch die menschlichen Ungeheuer haben Angst vor offenem Feuer. Ihr habt Holz genug in den Wäldern. Sammelt und trocknet es, mischt Fett darunter und legt es bereit. Werft es unter sie, wenn sie kommen, und ihr werdet sehen, sie werden diese Gegend bald verlassen und ihre Angriffe einstellen. Nur ...«

Leif sah ihn an. »Nur ... was?« Dragon dachte erbittert an den vernichteten

Götterwagen. »Der Felsen! Er bietet euch auf der einen Seite

Schutz, denn niemand kann von ihm aus angreifen. Aber es muß oben ein Plateau sein, zu dem die Ungeheuer gelangen können, um Steine herabzuwerfen. Dagegen müßt ihr etwas unternehmen. Die Steine, die aus großer Höhe herabfallen, werden

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einmal die Dächer eurer Häuser durchdringen und euch erschlagen. Verstärkt die Dächer noch einmal, oder legt euch oben auf dem Felsen auf die Lauer und erschlagt den Gegner, wenn er kommt. Ihr müßt etwas tun, sonst werdet ihr den Winter nicht überleben, glaubt mir.«

»Die Steine stören uns nicht, aber dein Gedanke mit dem Feuer hat einiges für sich. Wir werden es versuchen.«

Sicher, dachte Dragon erbittert, die Steine stören sie nicht, aber sie haben meinen Götterwagen vernichtet! Was nun? Bei allen Göttern, was nun?

Eigentlich, dachte er weiter, habe ich nun eine unauffällige Gelegenheit, einige Fragen bezüglich der Eiskönigin und des Heiligen Berges zu stellen. Wenn ich es geschickt anfange ...

Er nutzte die nächste Gesprächspause. »Leif, ich muß zurück zur Eiskönigin. Aber ich

kenne den Weg nur vom Götterwagen her, also von oben, aus der Luft. Wie kommen Ubali und ich von hier aus und zu Fuß zurück zum Heiligen Berg? Kannst du uns den Weg beschreiben?«

Leif machte ein entsetztes Gesicht. »Du wirst es nicht wagen, durch die Wälder zu

gehen, die voller Ungeheuer sind.« »Wir müssen!« erwiderte Dragon bestimmt. Leif schüttelte den Kopf.

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»Wir werden dir und deinem schwarzen Freund helfen, soweit wir das können. Aber wir können euch nur eine kurze Strecke bringen. Die Leute müssen vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein, sonst sind sie verloren – so wie ihr.«

»Wir werden uns wehren. Die Schwerter sind noch im zerstörten Götterwagen, also sind wir nicht waffenlos. Und wenn ihr unsere Freunde seid, dann gebt uns einige Gefäße mit Öl mit. Vielleicht auch einige Fackeln, damit wir den Weg in der Nacht finden. »Ihr sucht den Tod!« warnte Leif.

»Wir suchen die Freiheit!« widersprach Dragon, und in dieser Sekunde bekam seine Stimme wieder den befehlsgewohnten Tonfall, den er seinen eigenen Kriegern gegenüber anwendete. »Auch für euch, Leif.«

Der Rote sah ihn nachdenklich an. Dann sagte er: »Man spürt, daß du der Sohn der Eiskönigin bist. Ihr

werdet das Öl und zwei Führer erhalten, die euch morgen ein Stück des Weges begleiten. Mehr aber kann ich nicht für euch tun.«

»Es genügt«, erwiderte Dragon. Sie saßen noch einige Zeit beim Feuer, dann

verschwanden sie, einer nach dem anderen. Es wurden keine Wachen mehr aufgestellt.

Dragon kroch unter die Felldecken und versuchte zu schlafen.

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Es gelang ihm nur halb. Das, was vor ihm und Ubali lag, bereitete ihm zuviel

Sorgen.

Am anderen Morgen, kurz vor dem Aufbruch, sagte Leif:

»Mein Vater ist am Heiligen Berg gewesen, vor langer Zeit schon. Er hat uns den Weg beschrieben. Er führt immer nach Norden, bis ihr die Wasserscheide erreicht, einige Tagesmärsche von hier. Von nun an braucht ihr nur den Bächen zu folgen, die wieder der Morgensonne entgegenfließen. Sie führen genau zu einem Gebirge, das ihr nicht verfehlen könnt. Dort findet ihr den Heiligen Berg.«

»Gibt es auch Ansiedlungen dazwischen?« »Zumindest gab es sie. Wie es heute dort aussieht,

weiß niemand von uns. Fast alles ist von Wald bedeckt, der von tiefen Schluchten durchzogen wird. Von hier aus sind wir nie weit gekommen, aber wozu auch? Allein der Rand des Waldes hat genug Holz für uns.«

Ubali hatte die Vorräte und einige nicht zerbrochene Weinkrüge aus dem unbrauchbaren Götterwagen geholt. Die Schwerter waren heil geblieben. Dragon nahm noch einen Bogen und einen Köcher voller Pfeile mit, aber zu sehr durften sie sich auch nicht mit Gepäck belasten, um beweglich zu bleiben.

Schweigend wurden sie am Tor des Holzzauns von

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zwei schwer bewaffneten Männern erwartet. Sie nickten Dragon zu und machten grimmig entschlossene Gesichter.

Im Vorfeld des kleinen Forts lagen noch die Kadaver der in der Nacht getöteten Ratten und Spinnen. Man ließ sie einfach liegen. Meist waren sie dann am nächsten Tag verschwunden.

Die beiden Führer gingen vor, Ubali sicherte nach hinten und übernahm so die Rückendeckung. Der Schnee war hoch und nicht sehr hart. Sie sackten oft bis zu den Knien ein und kamen nur langsam voran. Im Wald wurde es dann besser.

Sie folgten einem schmalen Pfad, der allerdings kaum zu erkennen war. Einer der Männer deutete auf eine Kerbe, die mit der Axt in den Stamm eines Baumes geschlagen worden war. Sie kennzeichnete eine Richtungsänderung.

Dragon lauschte, aber im Wald blieb alles still. Die Ungeheuer schliefen irgendwo im dichten Unterholz und sammelten neue Kräfte für den nächsten Überfall.

Sie marschierten schweigend und wechselten kaum ein Wort. Gegen Mittag kam die Sonne durch die Wolken. Die beiden Männer deuteten nach vorn.

»Dort werden wir umkehren, sonst schaffen wir den Rückmarsch nicht vor Einbruch der Dunkelheit. Unser Pfad ist hier zu Ende. Geht in der gleichen Richtung weiter, dann könnt ihr die Wasserscheide nicht

Page 141: Der Götterwagen

verfehlen. Ihr müßtet morgen schon dort sein.« Auf dem bewaldeten Hügel machten sie Rast. Die

Männer des Roten gaben Dragon und Ubali noch einige gute Ratschläge, aber in ihren Gesichtern stand die feste Überzeugung geschrieben, daß sie die Abgesandten der Eiskönigin nie mehr lebendig zu Gesicht bekommen würden.

Dann machten sie sich auf den Rückweg. Dragon sah ihnen nach, bis sie hinter einer Biegung

des Pfades verschwunden waren. Wortlos luden sie ihr Gepäck wieder auf, zu dem jetzt noch einige Töpfe mit flüssigem Fett gekommen waren. In der Pelztasche waren Feuersteine und Zunder.

Der Wald war nicht mehr so dicht, dafür lag der Schnee höher. Das Gelände fiel leicht ab und würde erst bei der Wasserscheide wieder ansteigen. Obwohl es übersichtlicher geworden war, konnte Dragon nicht die geringste Spur einer Ansiedlung erkennen. Felder schien es keine zu geben, und wenn, dann bedeckte sie Schnee.

Sie hielten sich soweit wie möglich zwischen den Bäumen, um nicht gesehen zu werden. Sie fühlten sich von unsichtbaren Gegnern belauert und rechneten stets mit einem plötzlichen Überfall.

Als er erfolgte, waren sie kaum überrascht. Drei Ratten waren es, die plötzlich aus einem

Gebüsch sprangen und sie anfielen. Dragon brauchte

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nur sein Schwert zu heben. Die Ratte sprang mitten hinein und riß Dragon mit ihrem Schwung mit herum. Er setzte sofort den einen Fuß auf den zuckenden Leib und zog das Schwert wieder heraus. Keine Sekunde zu früh.

Während Ubali noch mit seinem Gegner beschäftigt war, nutzte das dritte Ungeheuer die Gelegenheit, auf Dragons Rücken zu springen. Der Stoß ließ den Atlanter straucheln. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte mit dem Gesicht nach unten in den Schnee. Das Schwert entglitt seiner Hand, aber schon hatte er das Messer aus der Scheide am Gürtel gezogen. Noch ehe die Ratte ihre Zähne in den Nacken ihres Opfers schlagen konnte, wälzte sich Dragon herum. Mit der Linken packte er die Kehle des Tieres und krallte die Finger in das glatte Fell. Mit der Rechten bohrte er ihm das Messer bis zum Heft ins Herz.

In der gleichen Sekunde enthauptete Ubali seinen Angreifer.

Dragon stand auf und schüttelte den Schnee ab. Er fand sein Schwert und stützte sich darauf.

»Das war knapp«, stellte er fest, »obwohl es nur drei waren. Gegen ein ganzes Rudel kommen wir nie an. Vielleicht haben wir Glück, und es gibt hier wirklich nur wenige von ihnen. Es ist besser, wir marschieren gleich weiter, ehe die anderen das Blut ihrer toten Artgenossen wittern.«

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Bis zum Einbruch der Dämmerung geschah nichts mehr.

Sie hatten einen Wald durchquert, dessen Bäume ungewöhnlich dick und hoch waren und weit auseinander standen. Vor ihnen lag eine schneebedeckte und nahezu deckungslose Ebene. Einige Baumgruppen versprachen Schutz, aber sie waren selten genug. Weiter rechts allerdings setzte sich in einiger Entfernung der Wald wieder fort.

Dragon war stehengeblieben. Nach einigem Überlegen sagte er:

»Wir werden hier übernachten, Ubali. Ich habe ein ungutes Gefühl, nachts die Ebene zu durchqueren. Außerdem werden wir uns morgen weiter rechts halten, am besten in der Nähe des Waldrandes.«

Ubali sah sich um. »Die dicken Bäume bieten wenig Schutz gegen einen

Angriff.« Dragon lächelte und zeigte nach oben. »Wir werden uns im Wipfel einen starken Ast

suchen und dort schlafen.« »Da werden wir ganz schön frieren.« »Wir haben die Pelze, und vielleicht können wir

sogar ein kleines Feuer mit trockenen Ästen machen. Wenn wir eine entsprechende Gabelung finden ...«

»Dann brennt der Baum ab.« »Dessen Stamm ist frisch und feucht, so schnell

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brennt der nicht. Versuchen werden wir es jedenfalls.« Sie fanden einen Baum, der ihnen günstig erschien. Dragon schwang sich auf den ersten Ast und nahm das Gepäck und die Waffen an. Dann kam Ubali nach. So arbeiteten sie sich empor, bis sie zehn Mannslängen über dem Waldboden eine günstige Stelle fanden. Mehrere Äste bildeten eine richtige Plattform, auf der fünf Männer leicht Platz gefunden hätten.

Sie verstauten das Gepäck, legten die Waffen griffbereit und aßen erst mal von dem Trockenfleisch, ehe es zu dunkel wurde. Dann kletterte Ubali im Wipfel herum und fand genügend vertrocknete Zweige. Dragon hatte ein flaches Astloch entdeckt und entzündete das Feuer, das bald eine angenehme Wärme verbreitete. Ein Krug mit Wasser stand daneben, falls der Stamm doch zu brennen beginnen sollte.

Sie fühlten sich zum erstenmal an diesem Tag wieder sicher.

»Ob wir die Eiskönigin finden werden?« fragte Ubali, der, bequem mit dem Rücken gegen den Hauptstamm gelehnt, dicht beim Feuer saß. »Wäre es nicht doch besser gewesen, zum Eisfluß zurückzukehren?«

Dragon schüttelte den Kopf. »Warum sollte das besser gewesen sein? Fürst Genol

hätte versucht, uns für immer festzuhalten. Für dich

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hätte er auch noch eine Frau gefunden, da bin ich sicher. Jedenfalls hätte er uns nicht weiterhelfen können, und ohne den Götterwagen wären wir niemals über die Eiswand gekommen. Wir müssen diese Eiskönigin finden. Sie hat mein Interesse geweckt, und ich bin mir fast sicher, daß sie etwas mit meiner Vergangenheit zu tun hat.«

Was er wirklich zu glauben begann, verriet er auch Ubali nicht. Er hätte es doch nicht verstanden, außerdem war er sich selbst noch nicht sicher. Er wußte nur: Wenn jemand ihm weiterhelfen konnte, dann war es nur diese sagenumwobene Eiskönigin, die im Heiligen Berg hauste und sich nur alle zehn Jahre sehen ließ.

Schon gestern in der Nacht hatte er versucht, gedanklichen Kontakt mit Maratha, Yina oder den Zwillingen aufzunehmen. Er konnte natürlich keine Antwort erwarten, da er keine Gedanken lesen konnte. Er konnte nur hoffen, daß zumindest die Seherin wußte, wo er sich befand und in welche schlimme Lage er geraten war. Vielleicht war Hotch schon unterwegs und hatte bereits die Große Eiswand überquert ...

»Ist es nicht besser, wenn einer von uns wach bleibt?« fragte Ubali mit einem besorgten Blick in die Tiefe.

»Ja, zumindest bis nach Mitternacht. Du kannst schon mal schlafen.«

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Ubali band sich vorsichtshalber mit einem Strick fest, um nicht vom Baum zu fallen, wenn er sich auf die andere Seite wälzte. Er warf noch einige Äste ins Feuer und schloß die Augen.

Wieder ergab sich für Dragon die Gelegenheit, intensiv an Maratha zu denken und sie zu rufen. Aber seine Gedanken schweiften immer wieder ab zu Amee und Atlantor, seinem Sohn. Wie erging es ihnen? Machten sie sich Sorgen um ihn?

Ubali schnarchte bereits, als Dragon unten im Wald ein Geräusch vernahm. Er war sich sofort sicher, es schon einmal gehört zu haben, so vertraut schien es ihm. Dieses Schleifen, das gelegentliche Knacken eines Astes, das Knirschen des hartgefrorenen Schnees.

Er weckte Ubali noch nicht. Er lauschte und kramte einen der Fetttöpfe aus dem Gepäck. Vorsichtig legte er noch einige Zweige auf das Feuer. Dann kletterte er eine Mannslänge tiefer, um nicht geblendet zu werden und besser sehen zu können.

Mit plötzlicher Gewißheit durchzuckte ihn die Erkenntnis, daß sich ihnen eine der Riesenspinnen näherte.

Rinde schabte, als das Tier begann, den Stamm heraufzukriechen.

Dragon kehrte zur Plattform zurück und weckte Ubali, der erschrocken hochfuhr und abgestürzt wäre, hätte er sich nicht festgebunden.

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»Wir bekommen Besuch, Ubali. Eine Spinne! Vielleicht auch mehrere. Pfeile und den Bogen bereitmachen, ich kümmere mich um das Feuer. Wir werden einen brennenden Ast nach unten werfen, dann sehen wir sie vielleicht. Wenn ja, dann schieße sofort und gut.«

Das Schaben kam näher. Ubali legte den Pfeil auf die Sehne des Bogens und

postierte sich so, daß er zwischen den Ästen hindurchzielen konnte. Dragon wartete, bis ein Ast richtig Feuer gefangen hatte, dann nahm er ihn aus den Flammen, hielt ihn mit der Glut nach unten und ließ ihn fallen. Der Windzug ließ ihn hell auflodern, und für einen Augenblick wurden zwei riesige Spinnen sichtbar, die nur noch fünf Mannslängen unter der Plattform waren.

Ubali ließ den Pfeil von der Sehne schnellen, und wie durch ein Wunder traf er den nur kopfgroßen Körper der Spinne. Sie sahen es nicht, aber sie hörten den schrillen Todesschrei, dann den leichten Aufschlag im Schnee.

Aber die zweite Spinne kroch unbeirrt weiter. Das kostbare Fett war Dragon zu schade. Ein

anderes Mal würden sie es notwendiger brauchen. Er legte Äste nach, damit das Feuer mehr Licht verbreitete.

»Wir lassen sie hochkommen, dann erledigen wir sie

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mit dem Schwert. Wir müssen sparsam mit den Pfeilen umgehen, Ubali. Sollten noch mehr kommen, müssen wir allerdings das brennende Fett zu Hilfe nehmen.«

Es gelang ihnen, auch diese Spinne zu töten. Die beiden mußten allein auf Jagd gegangen sein, denn es tauchte keine mehr auf in dieser Nacht. Nur kurz vor der Morgendämmerung erschienen drei Ratten, verzehrten die Spinnen, blieben noch eine Weile witternd in der Nähe, entdeckten aber ihre Beute nicht. Dann zogen sie weiter.

Dragon und Ubali nahmen eine kräftige Mahlzeit zu sich, ehe sie ihr Versteck verließen, um ihre Wanderung fortzusetzen. Sie fanden nur noch einige Reste der dürren Spinnenbeine, sonst nichts.

Der Himmel war klar und kalt heute. Die Ungeheuer fanden keine Nahrung, denn selbst die Tiere des Waldes hatten sich an unzugänglichen Stellen zum Winterschlaf verkrochen. Und Menschen schien es hier keine mehr zu geben.

Dragon nickte Ubali zu. »Gehen wir«, sagte er einfach und setzte sich in

Bewegung. Ubali sah sich noch einmal nach allen Seiten um, ehe

er ihm folgte. Der Bogen und der Köcher mit den Pfeilen hing griffbereit über der Schulter.

Die ungewohnte Kälte machte dem Schwarzen zu schaffen, und er wußte, daß nur ein anstrengender

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Marsch ihn jetzt erwärmen konnte. Die Gefahr durch die Spinnen schreckte ihn kaum. Aber die Ratten machten ihm Sorgen und die Spitzohren.

Dragon sorgte dafür, daß sie immer ein paar Bäume zwischen sich und der deckungslosen Ebene hatten. Doch rechts war der Wald, und auch in ihm lauerten die Ungeheuer aus dem Weltentor. Doch das war jetzt nicht seine Hauptsorge. Die galt der Eiskönigin und ihrem Geheimnis. Wenn seine Vermutungen stimmten, kam er einen guten Schritt weiter auf der Suche nach der Vergangenheit. Aber zuerst mußte er sie gefunden haben, und der Heilige Berg war noch weit.

Aber sie hatten nun schon eine Nacht allein in der Wildnis überstanden, und sie würden auch die kommenden überstehen. In einigen Tagen würden sie am Horizont den Heiligen Berg auftauchen sehen, in dem die Eiskönigin wohnen sollte.

Dragon nickte Ubali zu, der unverdrossen in seine Fußstapfen trat.

»Wir werden es schaffen, Ubali, ganz bestimmt schaffen wir es.«

ENDE

Dragon und Ubali überflogen die unübersteigbare Gebirgsmauer und erreichten das Gebiet, in dem die Überlebenden des Eisvolks der Armee der Bestien

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erbitterte Kämpfe liefern. Dragon und Ubali griffen in diese Kämpfe ein, um

die Menschen vor dem Ansturm der Ungeheuer zu schützen und verloren dabei den »Götterwagen«.

Jetzt sind sie allein auf sich und ihre Findigkeit angewiesen beim Marsch DURCH DAS EISLAND ...

DURCH DAS EISLAND so heißt auch der Titel des nächsten Dragon-Bandes. Autor des Romans ist ebenfalls Clark Darlton.


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