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Der gegenwärtige Stand der Behandlung des Diabete mellitus

Date post: 05-Jan-2017
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Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) http://dx.doi.org/10.1016/j.zefq.2012.12.012 93 ZEFQ-SERVICE Siebenter Jahrgang Donnerstag, den 1.Dezember 1910 Nummer 23 Zeitschrift für ärztliche Fortbildung I. Abhandlungen I. Der gegenwärtige Stand der Behandlung des Diabetes mellitus von Priv.-Dozent Dr. O. Baumgarten in Halle Zur Verhütung des Diabetes lassen sich besondere Maßnahmen nicht treffen. Gleichwohl werden wir in Familien, in denen Zuckerharnruhr erblich ist, eine dauernde Beschränkung der Kohlehydrate von vornherein empfehlen und in gewis- sen Abständen nach Verabreichung von100g Traubenzucker die Assimilationskraft prüfen. Eine lang- same und vorsichtige Herabsetzung der Kohlehydrate gilt auch für Fettsucht erblich Belastete der mittleren und höheren Lebensjahre als Regel. Weitere prophylaktische Maßnahmen ergeben sich aus der Erfahrungstatsache, daß Diabetes des öfteren in Verwandtenehen, bei Kindern syphilitischer Eltern, bei Deszendenten von Gichtikern und Fettleibigen und in neuropathischen Familien beobachtet wird, gelegent- lich auch ohne erbliche Belastung durch Übertragung in der Ehe, namentlich bei Frauen, nachdem sie längere Zeit einen Diabetiker gepflegt und dauernd mit ihm intim verkehrt haben. In der Behandlung der ausgebro- chenen Erkrankung sind wir zumeist auf symptomatische Maßnahmen angewiesen. … Arzneimittel zur Behandlung der diabetischen Glykosurie kommen nur vorübergehend in Betracht. … Opium hat da, wo nach Entziehung der Kohlehydrate die übrig bleibende Zuckerausscheidung auf Kosten des Eiweißes erfolgt, einen günstigen Einfluß und setzt mit 0.3-0.5g pro die die Zuckermenge durchschnittlich um 10-15 g herab, schädigt aber über mehrwöchigen Gebrauch hinaus den Gesamtorganismus. Salizylsäure und ihre Derivate kommen allen- falls da in Betracht, wo noch kleine Mengen von Kohlehydraten assimiliert werden. … Erheblich seltener erzielen Pankreaspräparate vorübergehende Besserung. Bei dieser Unvollkommenheit der Mittel zur Hebung der glykolytischen Energie gewinnt die hygienisch- diätetische Behandlung die größte Bedeutung. Zweck derselben ist in erster Linie Besserung der Toleranz für Kohlehydrate. … Die Glykosurie ist eine leichte, wenn sie ohne Beschränkung der Eiweißzufuhr der Entziehung der Kohlehydrate weicht, eine mittel- schwere, wenn zu ihrer Beseitigung neben der Ausschaltung der Kohlehydrate die Eiweißzufuhr so stark herabgesetzt werden muß, daß sie bei Erwachsenen eine tägliche Stickstoffausscheidung von 10-18 g, bei Kindern eine von 7-13 g zur Folge hat. Bei dem Erfordernis einer wei- teren Eiweißbeschränkung sprechen wir von einer schweren Form. Aus der mittelschweren läßt sich wenig- sten bei Erwachsenen häufig durch Energie und sachgemäße Behandlung eine leichte Glykosurie wieder herstellen. Bei Kindern geht jene, auch bei konsequenter Behandlung, in der Regel in die schwere über. Der Abgrenzung der einzelnen Formen dienen Toleranzbestimmungen. Werden bei einer Probediät mit 100 g Weißbrot (=60 g Kohlehydraten), auf 4 Portionen verteilt, noch nen- nenswerte Zuckermengen ausge- schieden, so geht man nach 2 bis 3 Tagen allmählich zu kohlehydrat- freier sog. „strenger“ Diät über. Schnelle Entziehung könnte ein gefährliches Ansteigen der Acidose bewirken. … Besteht nach wei- teren 8-10 Tagen „strenger“ Diät die Zuckerausscheidung fort, dann ist eine zunehmende Beschränkung der Eiweißzufuhr notwendig. … Unter den Eiweißkörpern beeinflusst Kasein die Glykosurie am stärksten, demnächst Fleischeiweiß und die Eiweißkörper der Leguminosen. Am unteren Ende steht Eiereiweiß und die Bestandteile der Ceralien. … Praktisch wichtig ist es, daß von den meisten Diabetikern der mit- telschweren und schweren Form Kohlehydrate besser vertragen werden, wenn man die Eiweißzufuhr beschränkt.
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Page 1: Der gegenwärtige Stand der Behandlung des Diabete mellitus

Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) http://dx.doi.org/10.1016/j.zefq.2012.12.012 93

ZEFQ-SERVICE

Siebenter Jahrgang Donnerstag, den 1.Dezember 1910

Nummer 23

Zeitschrift für ärztliche Fortbildung

I. Abhandlungen

I. Der gegenwärtige Stand der Behandlung des Diabetes mellitus

von

Priv.-Dozent Dr. O. Baumgarten

in Halle

Zur Verhütung des Diabetes lassen sich besondere Maßnahmen nicht treffen. Gleichwohl werden wir in Familien, in denen Zuckerharnruhr erblich ist, eine dauernde Beschränkung der Kohlehydrate von vornherein empfehlen und in gewis-sen Abständen nach Verabreichung von100g Traubenzucker die Assimilationskraft prüfen. Eine lang-same und vorsichtige Herabsetzung der Kohlehydrate gilt auch für Fettsucht erblich Belastete der mittleren und höheren Lebensjahre als Regel. Weitere prophylaktische Maßnahmen ergeben sich aus der Erfahrungstatsache, daß Diabetes des öfteren in Verwandtenehen, bei Kindern syphilitischer Eltern, bei Deszendenten von Gichtikern und Fettleibigen und in neuropathischen Familien beobachtet wird, gelegent-lich auch ohne erbliche Belastung durch Übertragung in der Ehe, namentlich bei Frauen, nachdem sie längere Zeit einen Diabetiker gepfl egt und dauernd mit ihm intim verkehrt haben.In der Behandlung der ausgebro-chenen Erkrankung sind wir zumeist auf symptomatische Maßnahmen angewiesen. …Arzneimittel zur Behandlung der diabetischen Glykosurie kommen nur vorübergehend in Betracht. … Opium hat da, wo nach Entziehung der Kohlehydrate die übrig bleibende Zuckerausscheidung auf Kosten des Eiweißes erfolgt, einen günstigen Einfl uß und setzt mit 0.3-0.5g pro die die Zuckermenge durchschnittlich um 10-15 g herab, schädigt aber über mehrwöchigen Gebrauch hinaus den Gesamtorganismus. Salizylsäure und ihre Derivate kommen allen-falls da in Betracht, wo noch kleine Mengen von Kohlehydraten

assimiliert werden. … Erheblich seltener erzielen Pankreaspräparate vorübergehende Besserung.Bei dieser Unvollkommenheit der Mittel zur Hebung der glykolytischen Energie gewinnt die hygienisch-diätetische Behandlung die größte Bedeutung. Zweck derselben ist in erster Linie Besserung der Toleranz für Kohlehydrate. …Die Glykosurie ist eine leichte, wenn sie ohne Beschränkung der Eiweißzufuhr der Entziehung der Kohlehydrate weicht, eine mittel-schwere, wenn zu ihrer Beseitigung neben der Ausschaltung der Kohlehydrate die Eiweißzufuhr so stark herabgesetzt werden muß, daß sie bei Erwachsenen eine tägliche Stickstoffausscheidung von 10-18 g, bei Kindern eine von 7-13 g zur Folge hat. Bei dem Erfordernis einer wei-teren Eiweißbeschränkung sprechen wir von einer schweren Form. Aus der mittelschweren läßt sich wenig-sten bei Erwachsenen häufi g durch Energie und sachgemäße Behandlung eine leichte Glykosurie wieder herstellen. Bei Kindern geht jene, auch bei konsequenter Behandlung, in der Regel in die schwere über. Der Abgrenzung der einzelnen Formen dienen Toleranzbestimmungen. Werden bei einer Probediät mit 100 g Weißbrot (=60 g Kohlehydraten), auf 4 Portionen verteilt, noch nen-nenswerte Zuckermengen ausge-schieden, so geht man nach 2 bis 3 Tagen allmählich zu kohlehydrat-freier sog. „strenger“ Diät über. Schnelle Entziehung könnte ein gefährliches Ansteigen der Acidose bewirken. … Besteht nach wei-teren 8-10 Tagen „strenger“ Diät die Zuckerausscheidung fort, dann ist eine zunehmende Beschränkung der Eiweißzufuhr notwendig. … Unter den Eiweißkörpern beeinfl usst Kasein die Glykosurie am stärksten, demnächst Fleischeiweiß und die Eiweißkörper der Leguminosen. Am unteren Ende steht Eiereiweiß und die Bestandteile der Ceralien. … Praktisch wichtig ist es, daß von den meisten Diabetikern der mit-telschweren und schweren Form Kohlehydrate besser vertragen werden, wenn man die Eiweißzufuhr beschränkt.

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Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) (2013) 107, 93–95www.journals.elsevier.de/zefq94

Fragt man nach der absoluten Höhe der Eiweißzufuhr, so sollte dieselbe auch in leichten Fällen bei Erwachsenen 120-140g, bei alten Leuten, Kindern und Frauen 100 g nicht überschreiten. … Zur „stren-gen“ Diät nimmt man in leichten Fällen zwecks Hebung der Toleranz für Kohlehydrate nur selten länger als einige Wochen oder Monate seine Zufl ucht. Die Gefahr des Comas besteht dabei nicht. Bei mittel-schweren und schweren Glykosurien besteht die Möglichkeit, daß nicht nur die Ketonurie auftritt, sondern daß sich eine, das Leben bedro-hende Acidose entwickelt. … Alkohol erleichtert die Aufnahme von Fett und spart die Verbrennung anderer stickstofffreier Substanz. Je älter das Individuum, desto weniger darf der daran gewöhnte Diabetiker ihn meiden, wenn er auch freilich nur die leichtesten Weine genießen sollte. Alkohol vermindert die Produktion der Acetonkörper. Je größer die Glykosurie, desto mehr ist der Diabetiker auf kohlehydratfreie Nahrungsmittel angewiesen; so erhält er den nutzbaren Stoff von min-destens 35 Kalorien pro Tag und Kilo… Ein allgemein gehaltenes Schema für die „strenge“ Diät gibt uns v. Noorden:I. Frühstück: Kaffee oder Tee mit dickem, süßem Rahm. Kaltes, fett-reiches Fleisch, Eier in verschiedener Form mit durchwachsenem Speck gebraten.II. Frühstück: Eier in verschiedener Form, wechselnd mit kaltem Fleisch oder Käse mit Butter. Zur Abwechslung außerdem Sardinen, Kaviar usw. Dazu 1 Tasse Fleischbrühe mit Mark oder 1 Glas nicht süßen Weins.Mittags: Suppe mit mehlfreien Einlagen. 1-3 Fleischgänge. Kohlehydratfreie Saucen und Salate. Reichlich grüne Gemüse, fett ange-richtet, Käse mit Butter, schwarzer Kaffee, ½ Flasche Rotwein.Vesper: Kaffee oder Tee mit sehr viel fettem Rahm, dazu 1 Ei oder Käse mit Butter, Sardinen usw.Abends: Fleisch verschiedener Art mit Salat oder Gemüse, mehlfreie Eierspeisen, Käse mit Butter, 1-2 Glas Wein.

Auf diese Weise kann man den Kranken … die erforderlichen nutz-baren 2500-3000 Kalorien bei-bringen. … Als Getränke dienen Wein, wohl auch ein Gläschen Branntwein, indifferente Säuerlinge nach Belieben. Empfehlenswert sind kleine Spaziergänge, im übrigen aber reichlich Aufenthalt in frischer Luft, Schlafen bei offenem Fenstern, mehr-malige warme Bäder in der Woche und täglich kühle Waschungen. …Um bei mittelschweren und sch-weren Formen auch die letzten Spuren von Zucker aus dem Harn zu vertreiben, nimmt man vorüberge-hend seine Zufl ucht zur „verschärften strengen“ Diät, einer Beschränkung der Eiweißzufuhr. Stets aber sollte, wenigstens bei längerer Dauer für entsprechenden Ersatz der ausfallen-den Nahrung durch größere Mengen von Fett, Gemüse und eventuell Alkohol gesorgt werden. … Will man auf wenige Tage die Eiweißzufuhr auf das denkbar niedrigste Maß herab-setzen, so schaltet man zweckmäßig die von v. Noorden eingeführten Gemüsetage ein, an denen nichts anderes als grüne Gemüse mit sehr viel Butter und Speck, Kaffee, Tee bei möglichster Bettruhe verabreicht werden. Eine weitere Errungenschaft … besteht in der Anwendung von Haferkuren in Fällen, wo eine ein-fache Entziehung der Kohlehydrate nicht zuckerfrei macht. V. Noorden verordnet 250 g Hafermehl unter strengster Vermeidung der übrigen Kohlehydrate, 2 stündlich in Suppen- oder Breiform. Dazu kommen noch 200-300 g Butter und bisweilen 100g Pfl anzeneiweiß oder 5 bis 8 Eier. … An derartigen „Hafertagen“ würde schwarzer Kaffee oder Tee, guter alter Rotwein oder etwas Branntwein gestattet sein. Den „Hafertagen“ schickt v. Noorden einige Tage gewöhnlicher „strenger“ Diät und stets 1-2 „Gemüsetage“ voraus. Nach 3-4 Hafertagen fol-gen dann wieder 1-2 Gemüsetage. Die besten Erfolge sehen wir bei Kindern und jungen Leuten. Nach bisweilen auftretender anfänglicher Steigerung der Glykosurie sinkt die Zuckerausscheidung sehr bedeutend und mit ihr in relativ noch höherem

Grade die Ketonurie. In allen anderen Fällen sind Haferkuren überfl üssig und erfolglos.Wenn auf Grund der obwaltenden Verhältnisse ein gewisses Maß von Kohlehydraten gestattet werden darf,… würde einen Ersatz unter den Zuckerarten höchstens die Lävulose bilden, von der 20 g für 10g Amylum eintreten können. Gemüse sind unentbehrliche Hilfsmittel, um große Mengen Fett dem Kranken einzu-verleiben. … Obstfrüchte sind bei strenger Diät absolut zu vermeiden. Sind gewisse Mengen Kohlehydrate gestattet, dann werden jene (näm-lich die Obstfrüchte) besser als Brot vertragen, weil mindestens die Hälfte des Obstzuckers Lävulose ist. … Kartoffeln, mit etwa dem drit-ten Teil an Kohlehydratgehalt wie Weißbrot, treten um so zweckmäßiger für etwa gestattetes Brot ein, als sich mit ihnen große Mengen von Fett dem Körper einführen lassen. … Mehlfreie Wurstwaren sind wegen ihres hohen Fettgehaltes wertvolle Nahrungsmittel. Von der gewöhn-lichen Milch kann man in größeren Mengen nur da Gebrauch machen, wo noch mindestens 100 g. Brot gestattet werden. Eine Ausnahme von dieser Regel sollte auch nicht die saure Milch machen, die höchstens 10-15 Proz. ihres Milchzuckergehaltes eingebüßt hat. … Entzuckerte gelabte Milch, Kefi r, Kumys, die Rahme der verschiedenen Dampfmolkereien und fetter Käse enthalten durchschnittlich 2-3 Proz., trockener Magerkäse bis 6 Proz. Milchzucker. Die Ausgangsform für kohlehydratfreie Suppen ist die Fleischbrühe mit Zusätzen von Suppengrün, Fleisch, Gemüse, Eiern. … Andere Zusätze dürfen nur insoweit gestattet sein, als dafür ein Teil des erlaubten Brotes preisgegeben wird….Wesentlich werden diätetische Maßnahmen unterstützt durch eine sachgemäße Hygiene, wenn es gilt, Begleiterscheinungen des Diabetes zu bekämpfen und Komplikationen zu verhüten.Es gibt zahlreiche Diabetiker, bei denen Besserung und Verschlimmerung vom Zustand des Nervensystems abhängig sind: Befreiung von aufreibender

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Berufsarbeit, Aufregungen und uner-quicklichen Verhältnissen, Reisen in sonnige Gebirgsgegenden und an warme Seeküsten sind da empfeh-lenswert, und zur Unterstützung der genannten Maßnahmen pro-longierte warme indifferente und kohlensaure Bäder, … gelegentlich auch elektrische oder Radiumbäder zur Bekämpfung der Schlafl osigkeit, des lästigen Hautjuckens und des Depressionsgefühls. … Das beste Heilmittel für die Neurasthenie des Diabetikers ist die zielbewusste und systematische Behandlung selbst, insbesondere die diätetische Schulung in einer geschossenen Anstalt. … In den folgenden Abschnitten geht der Autor ausführlich auf die allgemeinen Therapiemaßnahmen bei Diabetikern (Verstopfung) ein, besonders bei Verhaltensstörungen oder die Durchführung von Badekuren. In einem Abschnitt wird die spezielle Therapie der einzelnen Formen besprochen.Schwere Formen, bei denen trotz möglichst kohlehydratfreier Diät der Harn zuckerhaltig bleibt, kommen meist im jugendlichen Alter vor und werden nach dem 40. Lebensjahr fortschreitend seltener. Gewöhnlich bestehen Magerkeit, körperliche Schwäche und verringerte Arbeitskraft auch auf geistigem Gebiete. Bei abso-lut hoffnungslosen Fällen sind strenge Diätvorschriften zwecklos. Hier wird man etwa 100 g Weißbrötchen pro Tag gestatten. Dabei ist auf reichliche Fett- und Alkoholzufuhr Gewicht zu legen. … Vereinzelte, kräftige, arbeit-gewöhnte Diabetiker kommen bis-weilen viele Monate ohne alle Kohlehydrate, mit wenig Eiweiß, aber viel Gemüse und Fett aus, und ver-lieren nach anfänglicher Steigerung der Ketonurie dieselbe fast vollstän-dig und erleben so einen Übergang von der schweren zu einer leichteren Form. …Noch größere Vorsicht bei Kohlehydratentziehung ist beim

Diabetes der Kinder erforderlich, weil diese ganz besonders leicht der Gefahr der Säureintoxikation ver-fallen. Eine große Erleichterung in der Diätetik gewährt auch hier die Haferkur. … Die Toleranz hebt sich manchmal überraschend, ändert aber, von seltenen Ausnahmen abgesehen, nichts an dem tödlichen Ausgang. … Komplikationen ändern im allge-meinen nichts an den gegebenen Vorschriften, sondern fordern nur zu gewissenhafterer Durchführung auf. Dies gilt in erster Linie für die Fettsucht. Denn diese Kranken stellen erfahrungsgemäß das Hauptkontingent für arteriosklerotische Prozesse mit ihren Folgezuständen. … Bei Komplikationen mit Nephritis ist der ausgiebigste Gebrauch von frischen Gemüse und reizlosen Fetten ratsam. Größere Flüssigkeitsmengen (über 1½ Ltr.), reichliche Eiweißkost, Alkoholika und Gewürze sind zu ver-meiden. Auch sonst wird … die exakte Durchführung der Diabetestherapie schlecht vertragen.Bei gleichzeitiger Gicht und Zuckerharnruhr handelt es sich fast immer um leichte Formen beider Krankheiten. …Darmkatarrhe sind bei schwerem Diabetes stets ein ernstes Ereignis und gehen häufi g dem Ausbruch eines Comas voraus. …Gravidität ändert nichts an der Durchführung der für den Diabetes notwendigen Maßnahmen. …Dem ausgebildeten Coma stehen wir meist machtlos gegenüber. Dem drohenden Ausbruch begeg-net man am besten die Entziehung aller Nahrung für 1-2 Tage. Es ist das wirksamste Mittel, um die Azetonkörperausscheidung auf den denkbar niedrigsten Stand herab-zudrücken. Gleichzeitig werden konzentrierte Alkoholika in größeren Mengen gereicht. Ist die Hauptgefahr überwunden, gehen wir zu fettarmer Haferdiät, erst später ganz allmählich

zu der oben geschilderten antidia-betischen Kost über. … Überblicken wir noch einmal die Ergebnisse der Behandlung: Zuckerausscheidungen bei leichten und frischen Diabetesfällen zu vermeiden ist nicht schwer. Beschränkungen der Kohlehydrate bessert die Toleranz für dieselben. Und wenn man weiter nichts errei-chte, als gefährlichen Komplikationen für lange Zeit vorzubeugen und schlimme Wandlungen … hin-auszuschieben, so ist damit schon viel gewonnen. Darum sollte auch jeder transitorischen, nicht durch exzessiv hohe Zuckermengen hervorgerufenen Glykosurie dauernde Beobachtung der Harnverhältnisse und Einschränkung der Kohlehydrate folgen. Leichter, erst in den 40er Jahren auftretender Diabetes bleibt unter sachgemäßer Behandlung gewöhnlich leicht. … Diabetiker, die ohne Rücksicht auf die Glykosurie reichlich Kohlehydrate genießen, büßen immer mehr an Toleranz für dieselben ein und sind Komplikationen, inbesondere degene-rativen Prozessen, in erhöhtem Maße ausgesetzt. Wie schwer es vor der Gewinnung und Anwendung des Insulins gewesen sein muss, den Diabetes zu behandeln, kommt in der Arbeit von Baumgarten zum Ausdruck. Betrachtet man die Diätvorschläge v. Noordens, konnten nur Wohlhabende diese einhalten, denn viel Fleisch, Wein oder gar Kaviar gehörten sicher nicht zu den Hauptnahrungsmitteln der Duchschnitts-Bevölkerung. Mit „Naturprodukten“ konnte und kann eine wesentliche, länger andauernde Besserung nicht erzielt werden. Welchen Gewinn bringen da heut-zutage synthetisch produzierte Medikamente, wie Insuline oder orale Antidiabetica, den Betroffenen.

Geidel (Dresden)


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