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Der Engel des Grauens

Date post: 04-Jan-2017
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Mac Kinsey�Band 11�

Norman Thackery�

Der Engel des�Grauens�

Dracula und Woods rüsteten zum entscheidenden Kampf gegen mich. Heimlich, wie es ihre Art war. Und sie schufen den Engel des Grauens. Dieser legte eine blutige Fährte für mich aus. Ahnungslos verfolgte ich diese entsetzliche Spur und merkte nicht, daß sie mich genau in eine teuflische Falle führte. Als ich den Braten endlich roch, hatte ich nicht nur die Untoten von London auf dem Hals, sondern auch meine beiden Erzfeinde. Die hielten alle Trümpfe in der Hand. Mein Leben war weniger wert als eine gezwickte Fahr-karte vom vergangenen Jahr.

Gespenstisch bleich war Rebecca Gallingers Gesicht, als sie durch das Fenster hinausblickte. Die Dämmerung senkte sich aufs Land, die Nacht kam, und mit ihr kehrte die Angst ein.

Ob heute wieder der Totenvogel mit langsamen Schwingenschlä-gen über den alten Friedhof hinstrich? Jetzt war seine Zeit. Um die-se Stunde tauchte er auf. Seit drei Abenden.

Sie legte die Stirn gegen die Scheibe. Die Türme der Abtei von Waltham versanken im Grau der Dämmerung. Die Schatten der Nacht krochen zwischen die schiefen Leichensteine und breiteten sich aus, bis sie wie ein Totentuch alles dort draußen zudeckten.

Rebecca fürchtete sich vor diesem Friedhof gleich hinter dem Gar-ten. Er erinnerte sie zu sehr an die Vergänglichkeit alles Lebendi-gen und vor allem daran, daß sie selber nur noch ein Gastspiel auf Erden gab, das jederzeit durch eine höhere Macht beendet werden konnte.

Mit jedem vergehenden Tag kam sie dem Ende ihres Pfades einen Schritt näher. Unabänderlich, unwiderruflich.

Dem Doktor, der jeden zweiten Tag vorbeikam und krampfhaft bemüht war, Zuversicht zu verbreiten, glaubte sie schon lange nicht mehr. Er war ein barmherziger Lügner, mehr nicht.

Sie sah ja selber, was mit ihr los war. Sie wußte es seit jenem Tag vor drei Jahren, als sie in einem weißen Bett erwacht war, umgeben von Ärzten und Schwestern, die alle den lüstern-wissenschaftlichen

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Blick hatten. Rebeccas Finger krallten sich in die Decke über den Knien. Basil umgab sie mit rührender Fürsorge, schleppte Bücher, Maga-

zine und Zeitschriften heran, um ihr Ablenkung zu verschaffen. Es war ein kümmerlicher Ersatz für das Leben, das an ihr vorbeiging. Die Bücher und Zeitschriften vertrieben nicht die Einsamkeit und nicht die Angst, Basil könnte eines Tages nicht mehr nach Hause kommen.

Er hatte ein Mädchen für den Haushalt und zur Pflege eingestellt. Eine überragende Pflegerin war Dolly Bacon nicht, mehr ein schwatzhaftes Ding, das den ganzen Tratsch von London zu ken-nen schien.

Aber Dolly brachte Leben ins Haus, darum ertrug Rebecca das Geplapper, das von früh bis spät durch die Räume tönte. Selbst jetzt noch, obgleich sich Dolly für den Heimweg rüstete. Sie wohnte in einem anderen Viertel und blieb nie länger als bis acht Uhr.

Ihre leichten Schritte klapperten die Treppe herab. In der Diele verstummten sie.

»Huh!« machte Dolly. »Sitzen Sie wieder am Fenster? Sie sollten Licht machen. Es ist nicht gut, in der Dunkelheit zu grübeln.«

»Lassen Sie nur, Dolly!« sagte Rebecca rasch, als die energischen Schritte des Mädchens wieder klapperten. »Ich liebe es so.«

»Na, ich weiß nicht!« Das Licht, das aus der Diele hereinfiel, wur-de dunkler. Dolly Bacon war in den Türrahmen getreten. »Sehen Sie sich lieber das Fernsehprogramm an. Nachher ist eine Übertra-gung aus der Albert Hall. Sie müssen mehr Zerstreuung suchen. Ihr Mann sagt das auch. Also, ich wäre dann fertig, Mistress Gallin-ger, ich gehe jetzt. Haben Sie noch einen Wunsch? Angerufen hat Ihr Mann nicht, er wird also pünktlich heimkommen.«

»Nein, danke, Dolly, Sie können nichts für mich tun.« Rebecca wandte den Kopf. Im selben Moment erschauerte sie. Ein unheimli-ches Schwirren drang von draußen herein.

Selbst Dolly, die weit vom Fenster entfernt stand, vernahm es. »Was ist denn das?« fragte sie furchtsam.

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Das Schwirren war genau vor dem Fenster. Es verstummte. Dafür knisterte es wie trockenes Gras unter Schuhen.

Rebecca hatte den Kopf wieder herumgeworfen und schaute aus angstgeweiteten Augen aus dem Fenster. Draußen war die Nacht und nichts zu erkennen. Nicht einmal mehr die alten schiefen Lei-chensteine.

»Vielleicht der Totenvogel!« wisperte sie und spürte ihr Herz bis zum Hals hinauf schlagen. »Mein Totenvogel!«

»Der was? O Gott, Mistress Gallinger, so etwas dürfen Sie nicht sagen! Das darf man nicht beschreien, es bringt Unglück ins Haus! Vielleicht ist ein Hund im Garten. Oder der Wind raschelt in den Büschen.«

»Nein, nein!« Rebecca Gallingers Stimme war nur ein Hauch. »Es ist mein Totenvogel. Er besucht mich. Seit drei Abenden fliegt er hier vorbei. Ich weiß schon, was das zu bedeuten hat!«

Dolly lief es eiskalt über den Rücken. Mrs. Gallinger war ja etwas wunderlich, doch daran hatte sie sich schon gewöhnt. Daß sie aber nun solche seltsamen Sachen sagte, beunruhigte sie.

Ob sie nicht besser Mr. Gallinger anrief? Er hatte ihr eindringlich ans Herz gelegt, ihn sofort in Scotland

Yard anzurufen, wenn mit seiner Frau etwas sein sollte. Dabei hatte er bestimmt nicht Todesahnungen im Sinn gehabt.

Wie es aussah, hatte Mrs. Gallinger aber solche Ahnungen. »Das kommt davon, daß Sie lieber in der Dunkelheit sitzen!« sag-

te Dolly und schüttelte das eigene Unbehagen ab. »Es ist nicht gut, wenn Sie immer auf den alten Friedhof sehen.« Resolut knipste sie das Licht im Wohnraum an.

Dabei überlegte sie, daß ein Anruf bei Scotland Yard jetzt zweck-los war. Mr. Gallinger befand sich bestimmt schon auf der Heim-fahrt.

»Vielleicht bleibe ich besser hier, bis Ihr Mann kommt!« Rebecca Gallinger starrte immer noch hinaus. In der Scheibe sah

sie nur noch ihr eigenes bleiches Spiegelbild. Aber keine Leichen-steine mehr. Keinen Nachthimmel. Und keinen Totenvogel.

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»Nein, nein, Sie brauchen nicht zu bleiben, Dolly.« Mit zitternder Hand fuhr sie sich über die Augen. »Es geht schon wieder, ich bin in Ordnung. Vielleicht war es wirklich ein Hund.«

»Das sage ich doch.« Dolly Bacon atmete auf. »Dann also bis mor-gen früh. Ich bringe mit, was wir zum Kochen brauchen. Gute Nacht, Mistress Gallinger.«

»Gute Nacht, Dolly. Und passen Sie auf sich auf.« Das Hausmädchen kehrte in die Diele zurück und zog den leich-

ten Mantel an. Ein paar Augenblicke später klappte die Haustür zu. Rebecca hörte die leichten Schritte über den Plattenweg davonei-

len, der den Vorgarten teilte. Ein Neidgefühl gegen Dolly begann an ihrer Seele zu nagen und ließ sie mit dem Schicksal hadern.

Dolly konnte die Beine gebrauchen, sie nicht. Eine Weile lauschte Mrs. Gallinger mit schräggeneigtem Kopf, bis

sie absolut nichts mehr hören konnte. Tiefe Stille herrschte. Mit der Stille kroch die Einsamkeit aus allen Winkeln des Hauses. »Ich wollte, ich wäre tot«, murmelte die Frau. Sie griff an die Rä-

der des Rollstuhles und fuhr vom Fenster weg zum Lichtschalter. Die Helligkeit schmerzte in ihren Augen.

Sie löschte das Licht und rollte zurück zum Fenster. Mochte Dolly auch sagen, was sie wollte – irgendwo dort draußen war der Toten-vogel, und sein Besuch galt ihr. Sie spürte es.

Die schreckliche Stille steigerte Rebeccas Furcht. Deshalb fuhr sie heftig zusammen, als irgendwo im Haus ein Bal-

ken knackte. Mit angehaltenem Atem lauschte sie. Waren das nicht schleichende Schritte? Streifte da nicht ein Ge-

wand an der Wand entlang? Es war nichts. Meine Nerven, dachte Rebecca. Ich bilde mir Dinge ein, die es

nicht gibt. Womöglich sogar den Totenvogel! Ein winziges Geräusch ließ sie den Kopf zum Fenster wenden. Im

selben Augenblick ließ sich wieder das unheimliche Schwirren ver-nehmen. Dann ein Rauschen wie von mächtigem Flügelschlag.

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Er ist da, hämmerte es in Rebeccas Kopf. Der Vogel ist wieder da! Sie starrte angestrengt hinaus. Vor dem hellen Nachthimmel flatterte ein mächtiger schwarzer

Vogel über den Friedhof heran. Er kam aus der Richtung der Abtei. Die Abende davor war er in umgekehrter Richtung geflogen. Rebeccas Augen weiteten sich vor Grauen, als sie sah, wie groß

und gewaltig das Tier war. Weit spreizte es die mächtigen Schwin-gen und segelte immer näher. Plötzlich ließ es sich langsam nieder.

Im selben Moment war der alte Friedhof von einem geisterhaften Licht erfüllt, als würde der Mond auf die Leichensteine scheinen.

Da war der gewaltige Totenvogel wieder! Gerade ließ er sich auf einem Grabstein nieder. Unverwandt

schaute er herüber, als wüßte er, daß Rebecca hinter dem dunklen Fenster saß und sich vor Entsetzen nicht rühren konnte. Seine Au-gen begannen in einem unheimlichen Feuer zu glimmen.

Er plusterte sein Gefieder auf. Und mit einem Male war es Rebecca, als würde er größer. Immer

größer. Ein gequältes Stöhnen entrang sich ihrer Brust. Sie schloß die Au-

gen. Sie konnte den Anblick nicht länger ertragen. Minutenlang verharrte sie so. Bis sie draußen ein anderes Geräusch hörte. Ein Schlurfen zuerst,

dann ein unheimliches Kichern. Sie riß die Augen auf. Der Friedhof lag noch immer von gespenstischem Licht Übergos-

sen. Aber vor den bleichen Leichensteinen wankte eine Gestalt nä-her. Eine menschliche Gestalt. Mit großen zusammengelegten Schwingen und einem vogelähnlichen Kopf.

Rebeccas Zähne schlugen wie im Fieber aufeinander. Sie krampfte die Hände um die Armlehnen des Rollstuhles und

schaute aus hervorquellenden Augen auf die näherkommende Schreckensgestalt.

Das ist der Totenvogel! hämmerte es in ihrem Kopf. Ein Spuk! Ein Unhold! Ein böser Geist!

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Sie hoffte, daß die grausige Erscheinung am hinteren Zaun ste-henblieb.

Aber das schwingenbewehrte Wesen schritt einfach durch den Zaun hindurch. Es überquerte den Rasen. Seine Augen begannen stärker zu glühen.

»Nein!« schrie Rebecca auf. »Nein! Weiche von mir!« Abwehrend hielt sie den linken Arm vor sich.

Das grauenvolle Ding blieb genau vor dem Fenster stehen. Es be-gann aus sich selber zu leuchten. Genauso bleich und unwirklich wie die Leichensteine. Langsam beugte es sich nach vorn und schaute herein.

Wie gelähmt hing Rebecca Gallinger im Rollstuhl, unfähig, etwas zu tun. Eine geheimnisvolle Kraft bannte sie fest.

Sie wollte schreien und brachte keinen Laut über die Lippen. , Das grauenvolle Ding vor dem Fenster war kein Vogel. Niemals. Es hatte auch keinen Vogelkopf. Es war der Kopf eines Menschen.

Rebecca fragte sich nur, wie das möglich war. Hatte sie sich so ge-täuscht und einen Menschen für einen Vogel gehalten? Oder hatte sich das Wesen verwandelt? War es zuerst doch ein Vogel gewe-sen?

Sie zweifelte an ihrem Verstand. Mit eigenen Augen hatte sie doch eben gesehen, wie das Ding durch den festen Zaun ging, als sei es nichts.

Das Gesicht draußen kam dem Fenster näher und verharrte kaum armlang entfernt.

Eine unbekannte Kraft preßte Rebecca das Herz zusammen. Sie atmete keuchend und stoßweise, als sich das Gesicht zu einem

Grinsen verzerrte. Ein Männergesicht! Die Züge drückten Grausamkeit und die glühenden Augen Bös-

artigkeit aus. Die Lippen zuckten, der Mund bewegte sich und formte Worte.

Und dann klafften die Lippen weiter auseinander. Fingerlange, dolchspitze Zähne wuchsen aus dem Mund des Ungeheuers.

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Ein Vampir stand vor dem Fenster! Rebecca sprengte den fremden Bann, der sie umfing. Sie packte die Griffringe an den Rollstuhlrädern, schleuderte das

Fahrzeug herum und gab ihm soviel Schwung, daß es mit ihr bis in die Diele schoß.

Käme doch nur Basil! hämmerte es in ihrem Kopf. Warum ist er noch nicht da? Wer hilft mir denn?

Nur ein Gedanke hatte noch Raum. Sie mußte die Haustür öffnen und schreien, was die Lungen hergaben! Die Nachbarn, Passanten, irgendwer würde es hören.

Als die die Hand nach der Klinke ausstreckte, hörte sie ein grausi-ges Lachen hinter ihrem Rücken. So nah, so klar und deutlich, als stünde der schreckliche Vampir schon im Wohnzimmer.

Das Entsetzen war so groß, daß Rebecca neben die Türklinke griff und um ein Haar aus dem Rollstuhl stürzte.

Die Angst peitschte sie. Keuchend richtete sie sich auf, schaute über die Schulter und sah nichts als Schwärze und eine undeutliche Bewegung. Vielleicht noch vor dem Fenster, vielleicht schon im dunklen Zimmer.

Zu einer klaren Überlegung war sie nicht mehr fähig. Sie faßte die Klinke, riß die Tür auf – und warf sich mit einem gel-

lenden Schrei zurück. Der Vampir stand schon vor der Haustür! Sein totenbleiches Gesicht schimmerte gespenstisch, seine langen

scharfen Zähne blitzten drohend. Er schüttelte seine zusammenge-legten Flügel, daß es raschelte und schabte und Rebecca die Eises-kälte bis ins Mark jagte.

Er trat einen Schritt auf sie zu, er wollte ins Haus. Rebecca stieß beide Arme nach vorn gegen die Tür, schmetterte

sie zu und stürzte mitsamt dem Rollstuhl um. Dabei schrie sie, was ihre Lungen hergaben.

*

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Ein höhnisches Grinsen verzerrte das Gesicht der Gestalt vor der Tür. Verzückt lauschte der Vampir den gellenden Schreien.

Dann hob er den Kopf. In der Nachbarschaft wurde es laut. Au-ßenbeleuchtungen wurden eingeschaltet, besorgte Stimmen dran-gen heran.

Der Vampir kicherte zufrieden. Das war der erste Schritt, es lief alles nach Plan. Diesmal jeden-

falls. Und wenn schließlich die Falle zuklappte, saß sein Erzfeind Mac Kinsey darin, darauf wollte er tausend schwarze Eide schwö-ren.

Wenn Likkat und die Schwarzwelt zu dumm waren, den verhaß-ten Gespenster- und Dämonenjäger zur Strecke zu bringen, dann mußte er das eben selber in die Hand nehmen und den Jäger in die unauslotbaren Tiefen der Verdammnis hinabschicken.

An den Ort, von dem es keine Wiederkehr gab. Schritte näherten sich dem Haus der Gallingers. Der Vampir glitt

lautlos von der Haustür fort und schlüpfte ungesehen durch die Büsche auf die Rückseite des Anwesens.

Vor dem Fenster des Wohnzimmers stand eine andere dunkle Ge-stalt mit zusammengeklappten Flügeln und spähte immer noch durch die Scheibe ins Hausinnere.

»Es genügt, Woods«, sagte er. »Die halbe Straße hört die Frau schreien. Gallinger dürfte auch bald eintreffen. Ich sehe unseren Feind schon, wie er mit offenen Augen in die Falle tappt.«

»Hoffentlich, Fürst, hoffentlich!« erwiderte Woods, ehemals In-spektor bei Scotland Yard und jetzt Untoter und Vampir und treuester Gefolgsmann von Dracula, dem Fürsten und Herrscher al-ler Blutsauger.

»Aber ich würde auch mit der Frau vorliebnehmen. Ich habe Durst. Ich brauche Blut.«

»Nicht diese Frau«, sagte Dracula in einem Ton, der keinen Wi-derspruch duldete. »Mich verlangt es auch nach Blut, aber ich kann mich bezähmen, und dir rate ich das auch. Wir dürfen keinen Feh-ler begehen. Kinsey wartet nur darauf. Eine winzige Unvorsichtig-

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keit, und er ist gewarnt. Gerade du müßtest das wissen, Woods!« Der Untote senkte schuldbewußt den Kopf. »Ich habe alles versucht«, murrte er. »Der Kerl ist einfach zu ge-

rissen.« »Das beweist nur seine Gefährlichkeit, Woods.« Dracula legte

leicht den Kopf auf die Seite. Über das Hausdach hinweg hörte er aufgeregte Stimmen von Männern und Frauen. Und aus der Ferne das Brummen eines Automotors. Es kam rasch näher.

Er kicherte auf eine mitleidlose Art. »Holen wir uns die andere Frau. Dieses Hausmädchen. Mit der habe ich besondere Pläne.«

»Kein Blut?« machte Woods enttäuscht. »O doch, wir nehmen ihr Blut, mein Freund. Aber ich hauche ihr

kraft meiner Macht dämonisches Leben ein. Ich erhebe sie zum En-gel des Grauens. Sie wird uns ständig frisches Blut in Gestalt von Opfern zuführen. Wir werden vor Kraft strotzen, wenn wir Kinsey zum letzten Kampf stellen.«

Das hörte Woods gern. »Frisches Blut ist immer gut, Fürst.« Er lachte leise. »Engel des Grauens – das hört sich vielversprechend an.«

Es klang wie eine Herausforderung. »Dann holen wir sie uns! Worauf wartest du noch?« Dracula trat

einige Schritte in den Garten hinein und breitete die mächtigen Schwingen aus.

Mit einem gewaltigen Flügelschlag erhob er sich in die Luft. Woods leckte begehrlich die Lippen. Dabei schielte er auf das

Fenster. Dort drinnen war Mrs. Gallinger, und er brauchte nur das Fenster einzudrücken, um sich zu holen, wonach ihn dürstete und was ihm Kraft gab. Bis die Leute etwas merkten, war alles vorbei. Selbst wenn Basil Gallinger in dem heranbrummenden Auto saß.

Aber wenn er gegen Draculas ausdrücklichen Befehl handelte, war das Auflehnung.

Woods erschauerte. Lieber fügte er sich. Er wußte, wie der Fürst der Vampire Aufrührer bestrafte. Dagegen waren die Qualen der Hölle gar nichts.

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Er versagte sich den Wunsch, mit Gewalt ins Haus einzudringen. Draculas Ziel, diesen verdammten Kinsey zu vernichten, der im-mer wieder ihre Pläne durchkreuzte, erschien auch ihm wichtiger.

Woods huschte vom Haus weg, nahm einen Anlauf, breitete die Schwingen aus und erhob sich mit rauschendem Flügelschlag in die Nacht.

Noch während er den Randbezirk des alten Friedhofes bei der Abtei überflog, schrumpfte seine Gestalt, bis nur noch ein großer schwarzer Vogel am Nachthimmel dahinstrebte und Anschluß an einen anderen Vogel suchte, der etwas Vorsprung hatte.

*

Ich wartete seit Tagen auf den großen Paukenschlag. Selbst mit ei-nem Blitz aus heiterem Himmel wäre ich zufrieden gewesen. Vor-ausgesetzt, der Blitz brachte mir die Erleuchtung über den Zu-fluchtsort von Dracula und Woods und wer sich noch inzwischen um diese beiden Statthalter des Schreckens geschart hatte.

Aber rein nichts passierte. Und das nervte mich. Ich spürte mit allen Fasern eines Körpers, wie die zwei Erzhalun-

ken draußen in der Riesenstadt London ihre Netze spannen. Ich konnte nicht einmal ausschließen, daß sie sich über meine Unge-schicklichkeit ins Fäustchen lachten.

Sie lachten so leise, daß ich es nicht hörte. Ein wahrer Jammer, denn ich hätte ihnen gerne was übergebraten und vor allem den Krif an ihnen ausprobiert, die uralte Waffe der Druiden.

Ich konnte nicht einmal vermuten, wo meine beiden Erzfeinde steckten.

Ich kannte aber Orte, wo sie über kurz oder lang auftauchen muß-ten. Friedhöfe nämlich.

Denn Dracula und Woods besaßen noch steinerne Köpfe jener Ungeheuer aus der Baugrube in Finsbury. Ich war überzeugt, daß sie diese restlichen Steinköpfe in Särge gerade Verstorbener prakti-zieren würden wie unlängst auf dem Brompton-Friedhof.

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Die Frage war nur, wo sie ihre Zombie-Saat aufgehen lassen woll-ten. Wo mittels eines teuflischen Magiertricks Verstorbene zu unto-tem Leben erweckt wurden, um sich in die Gefolgschaft Draculas einzureihen.

Den richtigen Friedhof zu finden war so aussichtslos wie die Hoffnung am Samstagabend auf den Haupttreffer in der Lotterie. Ich jedenfalls habe nie das richtige Los. Aber einmal fast. Da war ich nur etwas mehr als zweihundert Nummern entfernt.

Damit es mir mit Woods und Dracula und den von ihnen fortge-schleppten Steinköpfen nicht wie bei der Lotterie erging, hatte ich in enger Zusammenarbeit mit der Stadtpolizei und mit Scotland Yard ein Beobachtungs- und Überwachungssystem für alle Londo-ner Friedhöfe eingerichtet. Es arbeitete rund um die Uhr. Bei jedem Wetter.

Der Yard und Polizeichef Newman hatten sich nicht allein des-halb zur Mitarbeit bereit erklärt, weil ich nun ausgerechnet zum Se-cret Service gehöre und dort meine eigene Mini-Abteilung habe – mich selber nämlich.

Was das betrifft, blicken sie eigentlich ziemlich scheel auf den Ser-vice, weil sie uns dunkle Machenschaften und so ziemlich alles Schlechtes zutrauen.

Aber seitdem bekannt ist, daß ich mich der Aufhellung übersinn-licher Geschehnisse und eigentlich unaufklärbarer Verbrechen wid-me, ist doch ein gewisses Wohlwollen seitens des Yard und der Stadtpolizei festzustellen.

Denn erstens kann ich Erfolge vorweisen und belegen. Und zweitens hatte gerade der Yard ein gewaltiges Problem mit

seinem Inspektor Woods, der sich zu den Untoten geschlagen hatte und Dracula ständig am Rockzipfel hing.

Inzwischen hatte sich beim Yard schon eine Art Woods-Komplex eingestellt. Man brauchte den Namen nur zu erwähnen, dann zuck-ten alle zusammen und kriegten den stieren Blick.

Und da in der Not der Teufel bekanntlich Fliegen frißt, hatte der Superintendent vom Yard beschlossen, es lieber mit mir zu versu-

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chen, statt untätig und mit dem Daumen im Mund dazustehen und dem untoten Treiben von Woods zuzusehen.

Was den Sachverhalt auch nicht richtig trifft. Denn wenn Woods zulangte, gab's keine Zeugen, die hinterher noch den Mund auf-machten. Die einzige Ausnahme bin ich. Mich hatte der Kerl nicht abservieren können. Trotz mehrfacher Versuche.

Im allgemeinen fand man Hinweise auf Woods erst, wenn er be-reits zugeschlagen hatte. Deshalb war's mit dem Zusehen Essig. Ich wollte auch keinem geraten haben, das zu versuchen.

Das war ein Unternehmen auf Leben und Tod. Dabei kam nur ein Begräbnis heraus. Und bestimmt nicht das von Woods. Ich weiß, wovon ich rede. Woods hatte sich den dunklen Mächten verdingt, er hatte sich dem Bösen verkauft. Dafür genoß er den Schutz des gesamten schwarzen Gesindels. Und das machte kurzen Prozeß mit neugierigen Leuten.

Aus diesem Grunde hatte ich auch den Polizisten und den Freun-den vom Yard eingeschärft, nichts auf eigene Faust zu versuchen, wenn sie den Verdacht hatten, Dracula oder Woods würden sich auf einem Friedhof zu schaffen machen. Sie sollten sofort Alarm schlagen. Alles danach war dann meine Aufgabe.

Auf den Alarm wartete ich vergebens. Und das machte mich un-ruhig. Etwas braute sich zusammen.

Sir Horatio, mein Chef, sagte mir vertraulich, ich laufe herum wie ein Hund mit Flöhen – gereizt nämlich und bissig.

Und Barbara Hicks, die unverwüstliche eiserne Jungfrau im Vor-zimmer des Chefs, hatte sich in sprachliche Tiefen herabgelassen und voll schadenfroher Hoffnung Auskunft darüber erbeten, ob sich vielleicht Ameisen oder Hummeln in meinem Anzug einquar-tiert hätten, weil ich gar so hitzig herumsause.

Über solche dummen Witze konnte ich mich gar nicht freuen. Ich blieb der wackeren Barbara sogar die Antwort schuldig. Das ist bei mir stets ein schlechtes Zeichen.

Ein weiteres Indiz für meine hochgespannten Nerven war die Tat-sache, daß ich immer noch an meinem Bericht über die Vorgänge in

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Bardon Mill herumwerkelte. Dort war ich in der vergangenen Wo-che gewesen, und ich war auf einen Brunnen gestoßen, bei dem durch die Jahrhunderte ahnungslose Menschen von einem Dämon umgebracht worden waren, wobei der finstere Geselle die Köpfe seiner Opfer auf Pfähle spießte und dieses ganze grausige Szenari-um bei Bedarf erscheinen ließ oder es in der Unsichtbarkeit seiner Welt verborgen hielt.

Sir Horatio hatte schon verhalten nach meinem Bericht gefragt. Ich muß ihn aber derart grimmig angesehen haben, daß er fix das Thema wechselte.

Ewig konnte ich den Mann aber ja nicht warten lassen. Also nahm ich mir vor, heute den Bericht zu einem Ende zu bringen. Vielleicht schaute ich dann später noch in meinem Stammpub vorbei. Oder ich ging mit Kathleen essen. Seit ich aus Bardon Mill zurück war, hatte ich sie nicht gesehen. Nur telefoniert hatte ich mit ihr. Wie ich sie kannte, betrachtete sie das als äußerst bescheidenen Ersatz. Sie hatte am anderen Ende der Leitung auch so komisch gefaucht, was allemal kein gutes Zeichen war.

Also richtete ich mich hinter meinem Schreibtisch ein, guckte eine Weile auf die Lichter von Whitehall hinaus und gab mir dann in-nerlich einen sanften Fußtritt, damit ich endlich zur Sache kam.

Genau in diesem Moment schrillte das Telefon. Ich hatte den Hörer schneller am Ohr, als jemand zwinkern kann.

»Kinsey, ja?« Erst hörte ich nur ein Rauschen. Ich begriff, der Anruf kam über

Autotelefon. In mir spannte sich alles. Dann meldete sich eine ble-cherne und etwas verlegene Männerstimme: »Policeman Horn-blower, Sir, ich bin auf dem Paddington-Friedhof eingeteilt, Sie wissen schon. Ich hätte da eine Beobachtung zu melden.«

»Legen Sie nur los, Hornblower, Sie sind an der richtigen Adres-se!«

Endlich! Ich ließ Dampf ab. Diese ewige Anspannung hätte ich nicht mehr lange ausgehalten.

»Ja, also die Sache ist die, Sir, daß ich auch die Leichenhalle kon-

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trolliere, wie es verlangt wird. Zwischen vier und sechs Uhr sind sieben Särge hergebracht worden, die Beisetzungen sollen morgen stattfinden. Ich stand beim Abladen daneben. Da war noch alles in bester Ordnung. Wie ich nun vorhin meinen Kontrollgang mache, ist ein Sarg offen, und die Leiche daraus fehlt. Sir, also ganz wohl ist mir bei der Sache wirklich nicht…«

Das konnte ich ihm nachempfinden. Üblich ist es schließlich nicht, daß ein Sarg aufgeht und eine Leiche Ausflüge unternimmt.

»Sind Sie allein, Hornblower?« »Im Moment ja, Sir. Unser Wagen steht vor dem Tor gegenüber

der Kirche an der Salusbury Road. Mein Kollege Jackson ist in der Nähe der Leichenhalle geblieben. Für alle Fälle. Sollen wir den Friedhof absuchen?«

»Das lassen Sie schön bleiben!« stieß ich hervor. »Sie dürfen nichts riskieren. Jackson soll sich aus der Nähe der Leichenhalle zu-rückziehen. Ich komme. Bis dahin unternehmen Sie gar nichts. Falls noch eine Leiche davonspaziert, dann gehen Sie ihr aus dem Weg, klar?«

»Noch eine?« ächzte Hornblower. »Machen Sie keine schlechten Scherze!«

»Wäre ja möglich«, schwächte ich ab. Der leere Sarg schien ihm ganz schön auf den Nerv gegangen zu sein. »Wer lag in dem Sarg? Mann oder Frau?«

»Sie machen mir Laune!« knurrte er mich an. »Wie soll ich das wissen? Auf der Kiste steht nur 'ne Nummer.«

»War ja auch bloß eine Frage«, dämpfte ich seinen Unmut. An-hand der Nummer ließ sich ja feststellen, wer in dem Sarg gelegen hatte. »Gibt es einen Leichenwärter? Der Mann müßte ebenfalls aus dem Gefahrenbereich weggeholt werden.«

»Gibt es keinen«, sagte Hornblower. »Den Schlüssel für die Halle habe ich.«

»Hüten Sie ihn gut. Bis gleich.« Ich unterbrach das Gespräch, aber ich legte den Hörer nicht auf. Ich war ja nicht von gestern.

Mit einem Anruf hatte mich Woods schon einmal geleimt. Ich

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mußte mich erst vergewissern, wer wirklich auf dem Paddington-Friedhof gerade Dienst versah.

Darum wählte ich das Polizeiquartier an. Newman hatte dafür ge-sorgt, daß die Überwachung der Friedhöfe, soweit sie von seinen Polizisten bestritten wurde, im Hauptquartier koordiniert wurde und nicht bei einer Wache.

Ich ließ mir die entsprechende Stelle geben und fragte, wer jetzt gerade Dienst auf Paddingston machte.

»Ach, Sie sind das, Kinsey?« dröhnte mir eine Männerstimme ins Ohr wie die Posaune vom Jüngsten Gericht. »Hornblower und Jackson sind draußen. Erfahrene Leute. Da kam vor ein paar Minu-ten ein Alarm herein.«

»Weiß ich, darum auch mein Anruf. Ich will nicht in eine Falle tappen.«

»Falle?« Ich hielt rasch den Hörer weit vom Ohr weg, weil ich um mein

Trommelfell fürchtete. Der Mann regte sich offensichtlich auf. »Erzähle ich Ihnen ein andermal.« Ich legte auf und langte schon

mit der anderen Hand nach meiner Utensilientasche neben dem Schreibtisch.

Seit ich den Krif besaß, das uralte Drei-Klingen-Beil, kam ich mir nicht mehr gar so hilflos im Kampf gegen die finsteren Mächte vor. Das Ding war eine gute Waffe. Besonders benagten mir seine magi-schen Kräfte, über die ich leider verteufelt wenig wußte.

Ich überzeugte mich, daß der Krif auch wirklich in der Tasche steckte. Samt der anderen Gerätschaften, die vielleicht von Nutzen waren.

Den unfertigen Bericht über Bardon Mill und den Brunnen des Schreckens feuerte ich in die Schublade und sauste aus dem Büro.

Um diese Tageszeit weilte nur noch die Stallwache im Gebäude. Die Kollegen, die unbedingt da sein mußten für den Fall, daß es ir-gendwo im Königreich etwas geradezurücken gab.

Die Aufzüge standen mir darum zur Verfügung. Ich schwebte in einer Kabine hinunter, sprintete zu meinem MG,

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packte die Tasche auf den Beifahrersitz und brauste los. Der Paddington-Friedhof liegt oben im Nordwesten im Stadtteil

Kilburn, das sind satte drei Meilen von Whitehall aus. Falls ich im Verkehr hängen blieb, konnte es eine Stunde dauern, bis ich Horn-blower und Jackson Verstärkung brachte.

Deshalb sann ich rechtzeitig auf einen Umweg, schnurrte den Birdcage Walk hinauf und am Südflügel vom Buckingham-Palast vorbei, weil ich so am ehesten die Park Lane am Hyde Park entlang erwischte.

Es klappte. Ich kalkulierte nur noch eine halbe Stunde ein. Und selbst die unterbot ich. Wenn auch nur um zwei Minuten. Als ich hinter dem Polizeiwagen an der angegebenen Stelle stopp-

te, stiegen zwei Bobbies aus dem Fahrzeug und kreisten mich ein. Sie schienen keinem Menschen zu trauen. Das war gut so.

»Könnten Sie sich nicht einen anderen Parkplatz suchen, Sir?« fragte mich einer und schielte mißtrauisch auf meine Tragetasche, mit der ich ausstieg.

Ich traute ihm und seinem Kollegen auch noch nicht. Ich beguckte mir die zwei erst mal im Laternenlicht, das eine Straßenlampe spendete.

Die typische Blässe der Untoten hatten sie nicht. Bißmale am Hals entdeckte ich auch keine. Ich atmete auf.

»Kinsey«, stellte ich mich vor. »Ich bekam vorhin den Anruf. Wer ist Hornblower?«

»Ich, Sir!« sagte der Bobby aufatmend, der mir einen anderen Parkplatz empfohlen hatte. »Was bin ich froh, daß Sie da sind.«

»Kann ich mir schon denken. Geben Sie mir den Schlüssel für die Leichenhalle.«

»Wollen Sie da allein reingehen?« Hornblowers Gesicht drückte allergrößtes Unbehagen aus. »Mann, Sie haben vielleicht Nerven!« Er drückte mir einen komplizierten Schlüssel in die Hand. Dann kratzte er sich unentschlossen am Kinn. »Ist überhaupt so ein Ding, Sir, wie die Leiche verschwunden ist.«

»Ja?«

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»Die Tür war nämlich fest verschlossen!« Hornblower schaute un-behaglich, und sein Kollege Jackson wandte sogar den Kopf, als könnte die verschwundene Leiche unverhofft hinter ihm stehen.

Ich hätte ihnen beiden eine Menge Dinge aufzählen können, was Untote sonst noch alles konnten. Durch verschlossene Türen zu ge-hen war eine der leichtesten Übungen.

Aber ich wollte ihre Nerven nicht noch mehr strapazieren und hielt darum den Mund. Möglicherweise wurden sie für weitere Überwachungseinsätze gebraucht.

Das schmiedeeiserne Tor gegenüber der Kirche war nur ange-lehnt. Es kreischte erbärmlich in den Angeln, als ich es aufdrückte.

Aus einem nahen Gebüsch schimpfte ein verschlafener Nachtvo-gel ungehalten über die Störung.

Ich war erst mal beruhigt. Inzwischen wußte ich, daß Tiere die Nähe von Untoten mieden. Zumindest hier vorne spukte die ver-schwundene Leiche also nicht herum.

Leichtsinnig war ich dennoch nicht. Ich langte die Taschenlampe heraus und leuchtete die Umgebung

ab. Denn an die Londoner Friedhöfe hatte ich höchst ungute Erin-nerungen.

Aber kein bronzenes Grabmal drohte mir auf die Birne zu kippen. Keine Knochenhand fingerte aus einem Grabhügel und winkte mir drohend zu.

Den Rundgang über den Friedhof hob ich mir für später auf. Wenn ich ganz gewissenhaft vorging, würde das ein nachtfüllender Job. Die Leichenhalle war wichtiger.

Sie war in der Verlängerung der Kirche mitten in den Friedhof hineingebaut. Ein breiter Kiesweg führte mich hin.

Die große Tür stand spaltweit auf. Hornblower oder Jackson hat-ten in dem Mordsschrecken wohl vergessen, sie zuzuklinken.

Drinnen war es finster wie in einer wasserdichten Totenkiste. Ich zog die Tür ganz auf und leuchtete hinein. Leere Stuhlreihen sah ich, sonst nichts. Hier fanden die Gedenkgottesdienste und Ausseg-nungen statt.

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Zögernd trat ich ein. Mein Lampenstrahl riß die Ecken aus der Dunkelheit. Niemand verbarg sich, ich weilte allein im Raum.

Von der Seite näherte ich mich dem Vorhang, der den Raum ab-teilte. Ich hob ihn mit einem Ruck an und leuchtete dahinter.

Der Vorhang verbarg lediglich zwei Totenbahren und zwei Sarg-wagen. Die Wagen wurden dazu benützt, die Särge zum Grab zu rollen. Im Hintergrund entdeckte ich eine Tür.

Sie war nicht verschlossen. Ich gelangte in einen kurzen Flur, von dem zwei Türen abzweigten. Eine dritte Tür befand sich am gegen-überliegenden Ende. Und die stand weit auf.

Ich widerstand der Versuchung, einfach dort einzutreten. Ich wollte niemand in meinem Rücken wissen, der mir eventuell den einzigen Fluchtweg abschnitt; einen Untoten schon gar nicht.

Darum inspizierte ich die Räume hinter den Türen rechts und links.

Das eine war der Geräteraum. Er gab nichts her. Gegenüber lag das Büro des Friedhofswärters. Im wesentlichen

bestand es aus einem Schreibtisch und ein paar Regalen und einem Kleiderständer. Auf der zerkratzten Schreibplatte sah ich so etwas wie eine Liste liegen. Zusammengeheftete Formulare jedenfalls.

Mein Lichtstrahl wanderte weiter. Ein winziger Teil des Büros schien den Geistlichen als Umkleideecke zu dienen. An einem Wandbrett hingen dunkle Gewänder und Umhänge.

Drei Paar schmutzige Halbschuhe standen darunter auf dem Bo-den.

Ich nickte düster. Erde von einem Friedhof, egal wo er liegt, schi-en immer besonders hartnäckig am Schuhwerk zu haften. Selbst die Geistlichkeit blieb nicht verschont.

Mir fiel ein, daß Hornblower am Telefon etwas von einer Sarg-nummer erwähnt hatte.

Vielleicht gab die Liste auf dem Schreibtisch Auskunft. Sie hatte einen amtlichen Eindruck gemacht. Außerdem war's nur logisch, daß sie hier Unterlagen darüber brauchten, wer in seiner letzten en-gen Wohnung angeliefert worden war. Damit es zu keinen peinli-

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chen Verwechslungen kam. Ich wandte mich dem Schreibtisch zu. Eine Bewegung in der Tür ließ mich erstarren. Ich hatte eine mächtig lange Schrecksekunde. Dann dachte ich,

daß mir vielleicht Hornblower gefolgt war. Oder Jackson. Ich richtete den Lichtstrahl voll auf die Tür. Mir gefror fast das Mark in den Knochen. In der Tür stand ein Mann. Im weißen Totenhemd. Seine Hände und Füße sahen aus, wie Hände und Füße aller To-

ten aussehen – bleich, fast wachsen. Nur mit seinem Gesicht stimmte etwas nicht. Die Augen lebten. Und wie! Sie glühten in einem düsteren bösartigen Feuer. Und das Gesicht war eine grauenvolle Fratze. Eine Dämonenvisa-

ge. Bei mir fiel der Penny. Dracula hatte wieder einmal seine Zombie-Saat ausgelegt. Hier in

diesem Leichenhaus. Er hatte Köpfe seiner versteinerten Monster in wenigstens zwei Särge geschmuggelt, und die Saat des Bösen war aufgegangen.

Denn Tote waren zu untotem Leben erweckt worden. Eine Leiche war ja schon aus dem Sarg geklettert und verschwun-

den. Und mir gegenüber stand noch eine. Oder handelte es sich um

jene, die Hornblower vermißt hatte? Ich hatte keine Gelegenheit, das Zombie-Quiz zu spielen. Denn

der Untote setzte sich in Bewegung. Er kam auf mich zu. Weiß der Teufel, wie Dracula es machte, jedenfalls stülpten sich

seine Monsterschädel über die Totenköpfe und verdeckten deren wahres Aussehen. Das hatte ich bereits in jener Schreckensnacht auf dem Brompton-Friedhof erfahren, als ich zum ersten Male mit seiner Zombie-Saat Bekanntschaft machte.

Ich schüttelte meine Erstarrung ab. Es war auch allerhöchste Zeit, denn der Zombie im Totenhemd

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war keine fünf Schritte mehr entfernt. Die Taschenlampe! funkelte es in meinem Verstand. Der Untote

orientiert sich nach der Lichtquelle! Ich wich zurück und stieß mit der Tragetasche den Kleiderständer

um. Das Gepolter hörte sich schaurig an. In meinen Ohren jedenfalls.

Ob es der Zombie hörte, konnte ich nicht sagen. Jedenfalls zeigte er sich durch den Lärm nicht die Bohne beeindruckt.

Ich stieg rückwärts über den Standes hinweg. Und da kam mir so eine Idee. Ich stieß den Kleiderständer mit einem Fußtritt dem Un-toten vor die Füße.

Er sollte darüberstürzen. Den Gefallen tat er mir nicht. Er stieg darüber mit der Sicherheit eines Hochseilartisten. Verdammt, es sah ganz so aus, als müßte ich den Krif auspacken

und die Waffe dem Zombie auf den Schädel hauen! Ich wich blitzschnell nach der Seite aus, hastete am Schreibtisch

vorbei und fischte mir die Liste von der Schreibplatte. Mit zwei lan-gen Schritten erreichte ich die Tür.

Der Untote war schon wieder hinter mir. Und nicht einmal lang-sam. Seine nackten Füße erzeugten klatschende Laute auf dem Steinboden.

Ich flitzte auf den Flur. Noch schneller prallte ich zurück. Da hatte ich mich vielleicht auf etwas eingelassen! Auf dem Flur entdeckte ich Untote. Rechts und links. Vier oder

fünf. Aber die Zahl spielte auch keine Rolle. Sie hatten mir den Fluchtweg abgeschnitten.

Das Büro des Friedhofswärters besaß nicht mal ein Fenster. Au-ßerdem tappte der Untote darin herum.

Ich steckte in der Klemme.

*

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Dolly Bacon hastete der Bushaltestelle zu. Totenvogel! dachte sie. Sie hat selber einen Vogel! Warum sitzt sie

auch immer am Wohnzimmerfenster und starrt stundenlang hin-aus, ohne ein Wort zu sagen? Immer diesen alten gräßlichen Fried-hof vor Augen, das hält ja kein Kopf aus! Und gerade sie, das kann ja nicht gutgehen! Ich muß es wohl doch Mr. Gallinger sagen. So geht es jedenfalls nicht weiter!

Sie überholte ein älteres Ehepaar. Als sie schon zwanzig Schritte weiter war, hörte sie einen er-

schreckten Ruf und dann eine ärgerliche Männerstimme: »Was hat denn das zu bedeuten? Hast du schon mal derart unverschämte Nachtvögel erlebt?«

Vögel? dachte Dolly. Schon wieder? Mir scheint, die Leute sind heute allesamt nicht in guter Verfassung! Erst redet Mrs. Gallinger von einem Totenvogel, jetzt der alte Mann da hinten von Nachtvö-geln! Es muß wohl an der Jahreszeit liegen, daß sie alle so wunder-lich sprechen!

Sie hastete weiter. Aber dann war ihre Neugierde größer als ihre Meinung, alle Menschen außer ihr hätten heute Abend eine Meise oder sonstwas unter dem Pony. Sie wandte den Kopf.

Zwei häßliche schwarze Vögel flogen mit trägem Flügelschlag in geringer Höhe über der Straße. Als suchten sie etwas.

»Komische Tiere!« murmelte Dolly und eilte weiter. Seltsam fand sie es schon, daß Vögel so langsam und so dicht

über der Straße flogen. Ihr war das nie aufgefallen. Aber besonders darauf geachtet hatte sie auch nicht.

Ein paar hundert Schritte weiter bog sie in eine andere Straße ein. Das war der kürzeste Weg, sie hatte es ausprobiert.

Ihre Gedanken kreisten um Mrs. Gallinger. Mit der Frau stand es nicht gut, im Gegenteil, es wurde ständig schlimmer statt besser. Sie ließ sich zu sehr hängen. Sie hatte vor ein paar Wochen sogar den Mann, der ihr die Prothesen anmessen wollte, aus dem Haus gewiesen.

Damals hatte Dolly gemerkt, daß Mrs. Gallinger irgendwie

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schwermütig zu werden begann. Die Bücher und Zeitschriften, die Mr. Gallinger heranschaffte, rührte sie kaum noch an. Sie interes-sierte sich nicht mehr dafür.

Ist andererseits auch ein erbärmliches Leben mit den Beinen, dachte Dolly. Was heißt Beine? Wenn sie nur welche hätte?

Ein eigenartiges Knarren ließ sie erschauern. Himmel, das war doch genau das Geräusch, das sie vorhin hinter

dem Haus der Gallingers gehört hatte und das sie einem Hund oder dem Wind zuschrieb.

Dolly schaute zurück. Die Straße war menschenleer, nicht mal ein Auto kam. Ein Fensterladen wird's gewesen sein, beruhigte sich Dolly. Oder

eine alte Jalousie! Ich lasse mich doch nicht von den trüben Gedan-ken anstecken und werde auch so wunderlich wie Mrs. Gallinger!

Aber unbewußt beschleunigte sie die Schritte. Ein kurzes Stück weiter vernahm sie erneut das befremdliche Ge-

räusch. Jetzt war sie sicher, daß es weder von einen Fensterladen noch von einer altersschwachen Jalousie herrührte. Sie hob den Kopf.

Ihr Herzschlag setzte für einen Augenblick aus. Die zwei unheimlichen schwarzen Vögel waren immer noch da.

Sie flogen langsam und niedrig. Gerade, als folgten sie ihr. Dolly empfand plötzlich Angst. Vergessen war der Vorsatz, sich nicht von den düsteren Gedan-

ken von Mrs. Gallinger anstecken zu lassen. Die Furcht stieg aus den Tiefen ihrer Seele auf. Sie hatte keine Macht darüber.

Einer Eingebung folgend, begann Dolly zu laufen. Nach einem kurzen Wegstück bekam sie Seitenstechen und auch

kaum noch Luft. Sie blieb keuchend stehen. Ihr Blick ging in die Höhe.

Die unheimlichen Vögel waren immer noch da. Viel niedriger jetzt sogar.

Dolly trat in einen Hauseingang und lehnte sich an die Wand. Vielleicht war alles nur ein dummer Zufall. Etwas mochte die Vö-

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gel aufgeschreckt und aus ihrem Schlafbaum vertrieben haben. Oder sie hatten sich verirrt. Das kam sicher auch bei Tieren vor.

Allmählich kam sie wieder zu Atem und beruhigte sich. Sie lauschte, ob wieder das eigentümliche Knarren zu hören war. Die unwirkliche Stille auf der Straße ging ihr an die Nerven. Sonst

waren um diese Zeit immer Leute unterwegs, und gerade in dieser Straße war sie sogar schon einigemal dumm angequatscht worden. Von Männern. Die schienen sie für weiß Gott was gehalten zu ha-ben!

Sie wünschte, so ein unverschämter Kerl käme jetzt daher. Aber keine Schritte tackten, kein Auto schnurrte vorbei. Das Knarren allerdings wiederholte sich auch nicht. Vorsichtig schob sie den Kopf vor und spähte um die Kante. Sie zuckte zusammen. Keine zwanzig Schritte entfernt hockten die beiden unheimlichen

Vögel auf dem Bürgersteig. Am Rande des Lichtkreises einer Stra-ßenlaterne, wo die Helligkeit mit der Dunkelheit kämpfte.

Die Tiere schienen genau zu wissen, wo sie sich versteckt hatte. Sie schauten exakt in ihre Richtung.

Dolly konnte sich nicht entsinnen, je häßlichere Vögel gesehen zu haben. Sie sahen wie gerupfte Geier aus. Nur kleiner. Aber dafür hatten sie Augen wie glühende Kohlen.

Mit rechten Dingen ging das nicht zu. »Husch, verschwindet, haut ab!« rief Dolly und begleitete eine

heftige Handbewegung mit einem ärgerlichen Zischen. Die Vögel dachten überhaupt nicht daran, die Platte zu putzen.

Sie guckten nur noch aufdringlicher her. Dolly erwog, auf die Klingelknöpfe neben der Tür zu drücken.

Egal, wer dann öffnete oder nachschauen kam. Hauptsache, sie war nicht allein mit diesen Vögeln.

Die Tiere schienen zu spüren, was sie vorhatte. Mit mißtönendem Krächzen erhoben sie sich und flatterten die Straße hinab.

Verdutzt lauschte Dolly ihnen nach. Es hörte sich fast so an, als würden die Tiere nicht nur krächzen,

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sondern auch kichern. Höhnisch und spöttisch irgendwie. »Jetzt ist's aber gut!« schalt Dolly sich selber. »Jetzt drehe ich auch

schon fast durch! Das fehlt noch!« Energisch faßte sie den Riemen der Schultertasche und trat auf

den Bürgersteig hinunter. Und als sei der Bann gebrochen, tauchten zwei Autos auf und fuhren die Straße herab. Aus einem Haus vor-aus kamen sogar drei junge Leute. Die kümmerten sich aber gar nicht um sie. Sie überquerten die Straße und machten sich an Mo-torrädern zu schaffen.

»Na also!« murmelte Dolly Bacon. Nach kurzer Zeit hörte sie das Dröhnen schwerer Motoren. Die

jungen Leute sausten auf den Motorrädern vorbei. Sie hatte noch zwei Straßen zu gehen, bis sie an die Bushaltestelle

kam. Auf dem kurzen Wegestück würde kaum noch etwas passie-ren. Dennoch schaute sie prüfend in den Nachthimmel hinauf.

Ihr Herz schlug bis zum Hals hinauf, als sie die dunklen Vögel wieder sah. Sie waren da. Sie hatten irgendwo in aller Ruhe auf sie gewartet!

Jetzt strichen sie wieder tief über der Straße daher. Dolly vernahm ein unheimliches Schwirren und Rauschen. Sie dachte nichts ande-res, als daß die Vögel sie angreifen wollten. Schützend hob sie einen Arm über den Kopf und begann wieder zu rennen.

Das Schwirren und Rauschen war genau über ihr. Ein eisiger Luftzug wehte über sie hin. Dann waren die Vögel vorbei und flatterten die Straße hinab, wo

die Motorradfahrer und Autos verschwunden waren. Dolly war drauf und dran, umzukehren und Mr. Gallinger zu bit-

ten, sie heimzufahren. Er mußte inzwischen aus London herausge-kommen sein. Sie hatte ihn noch nie um eine Gefälligkeit gebeten. Die Bitte würde er ihr nicht abschlagen. Bestimmt nicht.

Er war ein ernster und ziemlich wortkarger Mann, aber nicht un-höflich. Seiner Frau erfüllte er jeden Wunsch.

Dolly war schon ein paar Schritte in Gegenrichtung unterwegs, als ihr Bedenken kamen. Was würde Mr. Gallinger bloß von ihr

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denken? Daß sie eine Schraube locker hatte, ganz gewiß. Das konnte Folgen haben. Am Ende kam er zu der Ansicht, daß

sie nicht die geeignete Haushaltshilfe und Gesellschafterin für seine Frau war. Dann war sie den Job los und die fünfundzwanzig Pfund ebenso, die er ihr pro Woche bezahlte.

Das Geld brauchte sie. Und heutzutage eine Anstellung im Haus-halt zu finden, war schier unmöglich. Wer einen Job hatte, mußte froh darüber sein. Es gab eine Menge Mädchen, die in einer weni-ger glücklichen Lage waren.

Dolly hängte den Trageriemen auf die andere Achsel und strebte wieder der Bushaltestelle zu. Es war wohl besser, wenn sie mit Bri-an über die Sache sprach statt mit Mr. Gallinger.

Brian Hedges wohnte zwei Häuser von ihr entfernt und stieg ihr nach. Der Bursche sah gut aus. Es gefiel ihr, daß er hinter ihr her war. Aber sie wurde den Verdacht nicht ganz los, daß seine Zunei-gung mehr ihrem Geld galt.

Denn seit er wußte, daß sie eine feste Anstellung hatte, kam er fast jeden Abend vorbei. Er nahm sie auch schon mal in eine Spiel-halle mit. Oder in eine Kneipe. Sie mußte dann aber für sich und ihn bezahlen.

Und sobald Brian das Geld anderer Leute ausgeben konnte, war er nicht zimperlich.

Dolly überlegte, daß er sich nun auch mal nützlich machen konn-te, statt nur gut auszusehen und sie als Zahlesel in seine Lokale mitzunehmen.

Wenn er wirklich auf sie stand und etwas für sie übrig hatte, dann sollte er sie mal ein paar Abende lang bei den Gallingers ab-holen. Falls er dazu keine Lust verspürte, sollte er sich zum Teufel scheren.

Sie sah auch gut aus, und sie konnte sich nach einem anderen um-tun. Es mußte nicht gerade Brian Hedges sein.

Blödsinnigerweise hing sie an dem Kerl. Selbst wenn sie wütend auf ihn war, brauchte er sie mit seinen braunen Augen nur anzubli-cken, und schon verrauchte ihr Ärger.

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Brian konnte sie um den Finger wickeln, Er nützte das weidlich aus.

Dabei hatte er noch mit keinem Wort erklärt, welche Pläne er für die Zukunft hatte. Sie hätte schon gerne gewußt, woran sie war. Wie es aussah, betrachtete er jeden Tag als Sonntag und ließ den lieben Gott einen guten Mann sein.

Je länger Dolly nachdachte, desto mehr gewann sie die Überzeu-gung, daß dies die Gelegenheit war, Brian auf Herz und Nieren zu prüfen. Sie mußte es ihm nur richtig beibringen.

Entweder holte er sie künftig ab, oder er konnte in den Wind schießen!

Sie war so richtig dabei, sich mit Brian zu zanken. Sie genoß es, daß er ihr nicht widersprechen konnte; er war ja nicht zugegen. Deshalb fuhr sie gewaltig zusammen, als die unheimlichen schwar-zen Vögel wieder in der Straße auftauchten. Sie kamen ihr entge-gen. Dolly sah sie durch die Lichtkegel der Straßenlaternen fliegen.

Einer ließ sich höchstens zwanzig Schritte vor ihr nieder und be-guckte sie aufsässig. Der andere strich haarscharf über ihren Kopf hinweg. Wieder streifte sie ein eiskalter Luftzug.

Erschreckt schaute sie hinter sich. Der andere Vogel landete auf einer Mülltonne, hüpfte herab und reckte den mageren Hals, als sei er mit der Aussicht nicht zufrieden.

Im nächsten Augenblick torkelte Dolly wie betrunken an die nächste Hauswand, so sehr schüttelte sie das Entsetzen.

Sie weigerte sich einfach, zu glauben, was sie sah. Beide Vögel hüpften kichernd und heiser krächzend naher, bis sie

beide im Blickfeld hatte. Und jetzt begannen sie sich auf grauenhaf-te Weise zu verwandeln. Sie wuchsen.

Sie wurden immer größer! Die häßlichen Vogelköpfe nahmen das Aussehen von Menschen-

köpfen an. Die schwarzen Schwingen schrumpften. Die gedrunge-nen Vogelkörper streckten sich in die Länge. Das Gefieder verwan-delte sich in Kleidung, die stelzenartigen Greifwerkzeuge in richti-ge Beine.

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Dolly atmete keuchend und verfolgte aus hervorquellenden Au-gen das entsetzliche Schauspiel.

Sie wollte schreien, doch die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Als würde eine unsichtbare eiskalte Hand den Hals zusammenpressen.

Die grauenvolle Verwandlung der beiden Vögel dauerte nur we-nige Herzschläge lang. Und doch kam es Dolly fast wie eine ganze Ewigkeit vor.

Ihr Entsetzen schlug in Panik um, als sie zwei ausgewachsene Männer vor sich stehen sah. Nichts erinnerte mehr an die unheimli-chen Vögel – mit Ausnahme der glühenden Augen.

Nein, das gibt es nicht, dachte Dolly. Das ist nicht wahr! Ich träu-me schlecht! Ich habe Einbildungen! Mrs. Gallinger hat mich ange-steckt!

Zitternd und bebend preßte sie die Schultern gegen die rauhe Hauswand. Langsam streckte sie beide Arme abwehrend aus.

»Nein!« brach es mühsam aus ihr heraus. »Nein, lassen Sie mich in Ruhe! Tun Sie mir nichts, bitte!«

Das Licht der nächsten Laterne reichte gerade aus, sie die beiden Männergesichter erkennen zu lassen. Blaß waren die, unheimlich und beängstigend blaß! Als seien die Männer längst tot.

Sie rochen auch so seltsam. Wie Moder und alter Stoff und feuch-te Erde zusammen.

Die Gesichter verzogen sich höhnisch. Der eine Mann war etwas größer. Sein längliches Gesicht und sein glattes schwarzes Haar lie-ßen ihn wie einen Südländer aussehen.

Um den Mund hatte er einen grausamen Zug. Seine dünnen blassen Lippen klafften auseinander. »Sicher lassen

wir dich in Ruhe, Dolly – wenn du mit uns gehst. Ich habe große Pläne mit dir. Komm nur, komm! Gib deinen Widerstand auf, lehne dich nicht gegen das Schicksal auf. Gib dich ganz hin.«

»Wer – wer sind Sie?« keuchte Dolly. Sie drehte fast durch. Wie redete denn der Kerl? Der hatte doch eine Macke. Wie der andere auch. Der grinste nämlich auch so eigenartig –

»Wer ich bin, Dolly? Dein neuer Gebieter bin ich«, sagte der süd-

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ländische Typ und brachte ein öliges Lächeln zustande. Aber eines ohne Freundlichkeit.

Wie ein böser Hund, der gleich zubeißt und gar nicht erst knurrt, zuckte es Dolly durch den Kopf. Die zwei Kerle sind ja gemeinge-fährlich! Die müssen aus einer Klapsmühle ausgekniffen sein! Ge-bieter – der Bursche tickt ja nicht richtig!

Ein eigenartiges Gefühl kam Dolly Bacon an. Ihr Verstand sagte ihr, sich zu wehren und diesen zwei schrägen Gestalten die Schul-tertasche um die Ohren zu hauen, daß die Fetzen flogen.

Zugleich spürte sie, wie etwas Unsichtbares sie einzulullen be-gann. Wie Watte, in die sie verpackt wurde. Es ergriff von ihrem ganzen Körper Besitz.

»Gib dich ganz hin, Dolly, sträube dich nicht«, lockte der toten-bleiche Südländer. »Du wirst es gut bei uns haben.«

Und er hat doch einen Sprung in der Schüssel, dachte Dolly. So redet kein normaler Mensch!

Das Herz blieb ihr fast stehen, als sie wieder den dünnen Mund des Mannes sah. Jetzt ganz nah.

Die Lippen waren welk und blutleer. Sie zogen sich zurück und entblößten die Zähne.

Dolly zerriß den unerklärlichen Bann, der sich über sie zu breiten im Begriff war. Sie stieß einen gellenden Schrei aus. Denn aus dem Mund des gräßlichen Kerls wuchsen lange messerspitze Zähne.

Sie wußte nicht, was das zu bedeuten hatte. Sie begriff nur in-stinktiv, daß das eine schlimme Bewandtnis hatte. Richtigen Men-schen wuchsen nicht in Sekundenschnelle solche Zähne aus dem Mund!

Sie stieß dem Kerl beide Fäuste vor die Brust und schleuderte ihn zwei Schritte zurück.

Die Berührung währte kürzer als ein Augenzucken, und doch war ihr, als würde Eiseskälte aus dem Körper des Mannes in ihre Fäuste überströmen.

Der Bursche fing sich. Seine Augen begannen gefährlicher zu glü-hen. Sein Gesicht drückte jetzt sadistische Freude aus.

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»Auch gut, wenn du dich auflehnst«, sagte er langsam und ohne fremdländischen Dialekt. »Aber es nützt dir nichts. Wen ich dazu ausersehen habe, in mein Gefolge einzutreten, der hat zu gehor-chen.« Bei den letzten Worten wurde seine Stimme scharf wie ein Messer.

Er nickte seinem Begleiter zu. Und dann schleuderten sie beide die Hände nach vorn und pack-

ten Dolly Bacon. Das Mädchen strampelte und trat und wehrte sich verzweifelt.

Die Männer schienen über Satanskräfte zu verfügen. Dolly konnte sich nicht befreien.

Eine eiskalte Hand legte sich auf ihren Mund und erstickte ihren Hilfeschrei brutal.

Wie eine Totenhand, dachte Dolly noch. Dann sah sie das Gesicht des anderen Mannes ganz dicht vor sich.

Das Grinsen raubte ihr vollends den Nerv. Sie biß zu. Kälte drang in ihren Mund. Der Mann schien gar nicht zu spüren, daß sie die Zähne in seine

Hand grub. Oder wenn er es spürte, schien es ihm auch noch Spaß zu machen. Sein Grinsen wurde breiter und selbstgefälliger. Und dann öffnete auch er den Mund.

Fingerlange Zähne schoben sich an seinen dürren Lippen vorbei. Dolly drohten die Sinne zu schwinden. Die beiden Männer waren keine normalen Menschen. Das waren

Monster. Irgendwelche grauenvollen Wesen aus einer anderen Welt!

Das Mädchen fühlte sich gegen die Hausmauer gedrückt. Die eisi-gen Totenhände nagelten sie förmlich fest. Dolly spürte rechts und links am Hals die nadelspitzen grauenhaften Zähne in ihre Haut fahren.

Es schmerzte unsagbar. Dann spürte sie, wie mit jedem Herzschlag von den beiden Un-

heimlichen das Blut aus ihrem Körper gesaugt wurde.

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*�

Inspektor Basil Gallingers Magen zog sich mit einem Ruck zu ei-nem harten Klumpen zusammen, als er eine Menschenansamm-lung vor seiner Haustür sah.

Als Leiter einer Mordkommission von Scotland Yard waren ihm solche Aufläufe bekannt. Die waren nie ein gutes Zeichen.

In, seinem Haus brannte Licht. Jedenfalls in der Diele. Es schim-merte aus dem kleinen Fenster neben der Tür.

Er kurvte hart vor die Garage seines kleinen Hauses, das ihm sein Vater vererbt hatte. Er mochte es nicht besonders wegen der Nähe zum alten Friedhof der Abtei, aber Häuser waren teuer. Sogar hier draußen.

Und Mietwohnungen kosteten ein Sündengeld. Wegen Rebecca war er hier wohnen geblieben. Das Leben in der

Stadt hätte sie nur noch mehr deprimiert. Hier draußen hatte sie Grün ums Haus und frische Luft und für die Hausarbeit und Handreichungen und zur Zerstreuung das Hausmädchen.

Irgend etwas war im Haus passiert. Gallinger feuerte den Wagenschlag zu und hastete quer über die

Blumenbeete des Vorgartens. Jetzt erkannte er Nachbarn, die ihm besorgt und ratlos entgegenschauten.

Aus den Augenwinkeln sah er weitere Anwohner aus der Nach-barschaft herzueilen.

Seine kriminalistische Erfahrung sagte ihm, daß eben erst in sei-nem Haus etwas geschehen war, was immer es sein mochte.

»Machen Sie Platz!« sagte er rauh. »Lassen Sie mich durch!« Er suchte nach dem Hausschlüssel in den Taschen.

»Ihre Frau, Inspektor Gallinger!« sagte der Nachbar von gegen-über aufgeregt. »Sie hat ganz furchtbar geschrien. Gerade jetzt. Aber sie macht nicht auf.«

Umstehende nickten bekräftigend. Gallinger schaufelte sich durch. Sie wußten, wer und was er war.

Spätestens seit dem Tag vor drei Jahren, als die Autobombe in sei-

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nem Wagen explodiert war und seiner Frau beide Beine abgerissen hatte.

Eine alte Rechnung, die eigentlich ihn hatte treffen sollen. Zufällig hatte seine Frau an dem Abend noch wegfahren wollen. Da war es passiert. Sie war das Opfer geworden, nicht er.

Seit dem Tag haßte Gallinger alles, was nach Verbrechen roch. Mit der ganzen Kraft seiner Seele und seines Herzens. Seitdem eilte ihm der Ruf voraus, der unerbittlichste Mann vom ganzen Yard zu sein.

Er fand den Schlüssel und spurtete auf die Haustür zu. Zwei, drei Nachbarn folgten ihm auf dem Fuß. Gallinger wußte,

daß es nicht Neugierde war, sondern Anteilnahme, mit seiner Frau und ihrem Schicksal.

Soweit, sie zu pflegen und ihr Handreichungen zu machen, war die Anteilnahme allerdings nicht gegangen, als er sich in der Nach-barschaft nach ein paar guten Seelen umgehört hatte. Weder da-mals noch später. Darum hatte er Dolly Bacon angeheuert. Deren Alten kannte er. Ein Gauner von der alten Garde war das gewesen. Der einzige Lichtblick in der Familie war Dolly. Die wollte raus aus dem tristen Milieu. Ohne Hilfe schaffte sie das allerdings nicht.

Er hatte ihr die Chance geboten, und Dolly hatte sie genutzt. Er hatte noch nie einen Grund zur Klage gefunden. Auch seine Frau nicht, die manchmal wirklich schwierig war.

»Haben Sie noch etwas gehört?« fragte Gallinger rauh, während er den Schlüssel ins Türloch schob.

»Nichts. Sie hat nur ganz furchtbar geschrien.« Ein anderer Nachbar versuchte Klimmzüge am kleinen Fenster,

um einen Blick in die Diele tun zu können. Gallinger merkte gleich, daß die Tür nicht abgeschlossen war. Das

war sie ja auch nie. Dolly Bacon zog die Tür immer hinter sich zu, wenn sie das Haus verließ. Der Inspektor ließ die Tür aufschnap-pen. Er konnte sie aber nicht weiter öffnen. Drinnen sperrte etwas.

»Rebecca?« fragte er, und nun bekam er es mit der Angst zu tun. Aus dem Haus antwortete nur beklemmende Stille.

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Gallinger stemmte sich gegen die Tür. Er war ein kräftiger Mann. Ein beträchtlicher Teil der Londoner Unterwelt konnte ein Klage-lied davon singen. Denn wenn einer dem Inspektor dumm kam, hakte es bei Gallinger allzuschnell aus. Dann langte er hin. Das war der Grund, weshalb er noch nicht zum Oberinspektor befördert war. Dem Leiter einer Mordkommission stand diese Stufe zu.

Aber Gallinger handelte leider oft sehr impulsiv. Er leitete zwar eine Mordkommission, aber mehr war nicht.

Er preßte die Schulter gegen die Tür und warf sich mit seinem Körper dagegen. Ruckweise ließ sich die Tür aufschieben. Als der Spalt groß genug für Gallingers dicken Kopf war, spähte er um die Kante.

Sein Herz tat ein paar überlaute Schläge. Rebecca lag hinter der Tür, vom umgestürzten Rollstuhl einge-

klemmt. Die Sorge um sie brachte ihn fast um den Verstand. Er dachte an

einen Überfall. Daß jemand sie verletzt hatte. Blut sah er nicht. Auch keine Wunde. Er wandte rasch den Kopf. Die Nachbarn standen dichtgedrängt

wie eine Mauer. In den Gesichtern entdeckte er nur mehr bloße An-teilnahme, sondern auch Sensationsgier. Die Leute wollten wissen, was passiert war.

»Es ist schon in Ordnung!« knurrte Gallinger. Es war Absicht, daß seine Stimme drohend klang.

Er schob mit der Schulter die Tür weiter auf, bis er sich hinein-zwängen konnte.

Bevor einer der Nachbarn den Kopf durch den Türspalt brachte, drückte er die Tür zu. Sofort beugte er sich über Rebecca und hob den Rollstuhl von ihr herunter.

Seine Hand griff zur Halsschlagader. Rebecca lebte. Das Herz schlug regelmäßig, der Puls war schon

wieder ganz in Ordnung. Er nahm seine Frau auf die Arme und setzte sie in den Rollstuhl.

Dabei lauschte er in das dunkle Haus hinein.

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Seine Sinne waren alarmiert und geschärft. Rebecca hatte so dicht hinter der Tür gelegen, daß ein Eindringling nicht durch die Vor-dertür hatte entwischen können.

Entweder war er hinten hinaus. Oder er steckte noch im Haus. Gallinger trug keine Waffe bei sich. Jetzt war er nicht im Dienst.

Er verließ sich auch im Ernstfall lieber auf seine Fäuste. Die mach-ten nicht viel Lärm und waren meist wirkungsvoller als eine Kano-ne.

Rebecca war noch ohne Besinnung. Er konnte sie nichts fragen. In der Diele war sie im Augenblick am sichersten aufgehoben. Darum ließ er den Rollstuhl hier stehen und hastete zum Wohnzimmer, dessen Tür weit auf stand.

Er griff um die Kante und knipste das Licht an. Eine etwas unklu-ge Handlung, falls der Eindringling hier steckte und bewaffnet war.

Aber Gallinger befand sich in einer Stimmung, in der er auch mit blanken Fäusten auf einen hungrigen Eisbären losgegangen wäre.

Der Inspektor warf einen Blick ins Wohnzimmer und hinter die Tür, und der genügte ihm schon.

Die Tür zum Garten war zu, Das Fenster geschlossen, die Blumen auf der Fensterbank standen wie immer. Da war nichts verrückt und nichts verändert.

Er hastete ins Obergeschoß hinauf. Dolly hatte gebügelt. Der typische Geruch hing noch in der Luft.

Was auch nur bewies, daß kein Fenster offen stand. Gallinger kontrollierte die Räume, ohne auch nur den Hauch ei-

nes Hinweises auf das Eindringen einer fremden Person zu entde-cken. Im Erdgeschoß knöpfte er sich die Küche und den kleinen Abstellraum vor.

Ebenfalls mit negativem Ergebnis. Danach war er ziemlich ratlos, und wenn er sich recht besann, ei-

gentlich zum ersten Male in seinem Leben. Wie es aussah, war überhaupt niemand im Haus gewesen. Keine

fremde Person jedenfalls.

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Warum hatte denn Rebecca so laut geschrien, daß die Nachbar-schaft zusammengelaufen war? Und warum war sie mit dem Roll-stuhl genau hinter der Haustür umgestürzt?

Gallinger schob Rebecca ins Wohnzimmer und kehrte zur Vor-dertür zurück. Draußen hörte er noch die Leute murmeln. Klar, sie warteten auf ihre Sensation, sie wollten unbedingt wissen, warum aus dem Haus Schreie gedrungen waren.

Er überlegte kurz und scharf. Dann riß er mit einem Rück die Tür auf.

Die Nachbarn guckten ihn etwas seltsam an. Er zwang sich zu einer freundlichen Miene. »Wieviel Zeit ist denn nach Ihrer Meinung zwischen dem Schrei-

en und Ihrem Erscheinen vergangen?« fragte er. »Fast gar keine, Inspektor«, sagte der Nachbar von gegenüber.

»Wie ich es hörte, bin ich sofort rausgelaufen. Ist das wichtig?« Die Umstehenden spitzten augenblicklich die Ohren. »Dann könnten Sie doch jemand gesehen haben, der hier vor der

Tür gestanden hat und vielleicht weglief, oder?« Der Nachbar dachte nach. »Also, wenn da jemand gewesen wäre, hätte ich ihn sehen müs-

sen. Da war aber niemand, Inspektor, und es ist auch niemand weggelaufen.«

»Hinter das Haus vielleicht?« Der Nachbar ließ sich nicht beirren. »Vor den hellen Blumen hätte

ich ihn auch gesehen.« Er schüttelte den Kopf. »Und das hätte ich auch gehört. Er hätte durch die Büsche gemußt.«

Der Mann hatte recht. Und Gallinger wußte es. Der Vorfall wurde immer rätselhafter.

Eine Frau fragte ängstlich: »Treibt sich etwa ein Einbrecher in un-serer Gegend herum? Das fehlte noch.«

»Ein Idiot, daß er gerade das Haus vom Inspektor erwischt«, steu-erte eine andere Frau ihre Meinung zu diesem Thema bei.

Eine allgemeine Hysterie kam Gallinger ungelegen. »Auf einen Einbrecher weist überhaupt nichts hin, also beruhigen

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Sie sich bitte. Gallinger verzog das Gesicht und verschwand hinter der Tür.

Mit seiner Theorie, daß vielleicht jemand vor der Tür gestanden hatte und Rebecca derart darüber erschrocken war, daß sie samt dem Rollstuhl stürzte und unglücklicherweise die Tür blockierte, war es auch Essig.

Er brachte keine Ordnung und kein System in die Ungereimthei-ten.

Daß der Nachbar von gegenüber sich verguckt haben könnte, schloß er aus. Der Mann sah alles, eigentlich zuviel, denn die meis-te Zeit lag er im Fenster und verfolgte, was auf der Straße los war. Nur im Winter hielt er sich hinter dem geschlossenen Fenster auf.

Aber auch dann kriegte er alles mit. Es sei denn, etwas passierte genau in dem Moment, in dem der Mann mal seinen Ausguck am Fenster aus zwingenden Gründen verließ.

Vielleicht eben auch. Gallinger schaute nach Rebecca. Sie atmete gleichmäßig, war aber

noch nicht bei Bewußtsein. Er holte die Taschenlampe aus dem Abstellraum, öffnete die Hin-

tertür und schaute sich draußen um. Er fand keine Spuren, keine Abdrücke, keine genickten Zweige

und abgerissenen Mütter. Nachdenklich kehrte er ins Haus zurück und dämpfte die Be-

leuchtung. Rebecca hatte es nicht gern hell. Er zog sich einen Stuhl heran, ergriff ihre Hand und begann sie zu

streicheln und zu tätscheln. Es dauerte eine Weile, bevor Rebecca tief einatmete und dann An-

zeichen fürs Erwachen aus der Besinnungslosigkeit erkennen ließ. Gallinger wußte, wie schreckhaft sie war und wie sie manche

Nacht aus tiefem Schlaf hochfuhr. Deshalb begann er leise und sanft zu sprechen, damit sie sich nicht zu Tode erschreckte, wenn sie ihn plötzlich neben sich sitzen sah und auf Anhieb nicht erkann-te.

Ihr Atemzug riß jäh ab. Mit einem Ruck entzog sie ihm die Hand.

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»Basil?« Ihre Stimme drückte Panik und Entsetzen aus. »Ja, Darling, ich bin's. Es ist alles in Ordnung«, sprach er freund-

lich. Als er danach wieder nach ihrer Hand griff, hatte sie nichts mehr

dagegen. Er ließ ihr Zeit, sich zurechtzufinden. Ihr letzter Eindruck rührte

von etwas bei der Vordertür her. Natürlich war es ein Schock, daß sie sich nun erwachend im Rollstuhl sitzend und im Wohnzimmer wiederfand. Sie mußte erst einen gedanklichen Zusammenhang herstellen.

»Hast – hast du ihn noch gesehen, Basil?« fragte sie. »Wen?« Er spürte, wie ihre Hand heftig zitterte. »Also nicht«, sagte sie ächzend. »Dann brauche ich dir auch wohl

nicht erst von ihm zu erzählen, du könntest mir doch nicht glau-ben.«

»Möchtest du nicht erst darüber sprechen, bevor wir zu einem Ur-teil kommen? Er – also ein Mann?«

»Mit Flügeln, Basil! Schau mich nicht so vorwurfsvoll an, es ist so, wie ich sage. Erst stand er hinten am Fenster, dann vorn vor der Tür, und er ist mitten durch den Zaun gekommen. Basil, kann ein normaler Mensch durch einen Zaun gehen?«

Basil Gallinger erwog alle denkbaren Möglichkeiten, was in seine Frau gefahren sein konnte. Etwas seltsam war sie in den letzten Ta-gen ja schon gewesen, das war nicht zu leugnen. Ganz sicher han-delte es sich um eine Nervenkrise. Die Ärzte hatten sie ihm in Aus-sicht gestellt – früher oder später.

Es sah ganz so aus, als sei der Zeitpunkt gekommen. Er beobachtete sie scharf. Sie war blaß und aufgeregt. Kein Wun-

der nach dem Sturz. Eine weitere Aufregung verschlimmerte den Zustand wohl nur.

Besser, er widersprach nicht, sondern ging auf sie ein. »Na, ich würde sagen, ein Mensch kann das wirklich nicht. Durch

welchen Zaun ist er denn gekommen?« »Durch unseren. Den da hinten zu dem gräßlichen Friedhof hin.

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Und zuerst war's ja auch kein Mann, sondern ein Totenvogel. Seit drei Abenden kam er schon. Immer um dieselbe Zeit. Das habe ich auch dem Mädchen gesagt.«

»Das war noch hier?« Gallinger fühlte ein unbehagliches Gefühl aufsteigen. Dolly Bacon stammte zwar aus einer Familie mit äu-ßerst zweifelhaftem Ruf, aber daß das Mädchen unglaubwürdig war oder gar eine Lügnerin, konnte und wollte er nicht behaupten.

»Was ist denn das für eine dumme Sache mit einem Totenvogel?« fuhr er brummend fort. »Irgend ein Nachtvogel. In der alten Abtei drüben werden eine Menge Tiere nisten.«

»Nein, nein. Basil, es ist kein normaler Nachtvogel. Es ist mein Totenvogel. Er kommt, das gilt mir. Das ist ein Zeichen. Und das Knarren und Rauschen und Schwirren hat Dolly auch gehört. Sie hat aber gemeint, es könnte auch ein Hund sein, der draußen im Garten streunt. Basil, ich habe Angst.«

Die hatte Gallinger auch. Aber um seine Frau und ihren Nerven-zustand. Totenvogel? Zeichen? Wo gab's denn so was? Er mußte mit Dolly reden. Morgen. Er mußte es einrichten, daß er früher nach Hause kam. Oder er legte ihr einen Zettel hin, wo Rebecca ihn nicht fand. Oben am besten.

Mit dem Doktor mußte er auch reden. Ganz dringend. »Du glaubst mir kein Wort, nicht wahr?« fragte seine Frau in sei-

ne Überlegungen hinein. Er brummte ausweichend. »Ich kenne dich, Basil, vor mir kannst du dich nicht verstellen. Es

klingt ja auch zu unwahrscheinlich. Aber es stimmt jedes Wort.« »Zumindest ist es eine nicht alltägliche Geschichte«, räumte er

ein. Dieses Zugeständnis kostete ihn eine Menge Überwindung. Vielleicht half er Rebecca, wenn er sich für ihr Problem interes-

sierte, wenn er sie erzählen ließ und ein geduldiger Zuhörer war. »Also, wie war das nun? Drei Abende ist dieser komische Vogel schon dagewesen? Was hat er mit dem Mann mit den Flügeln vor der Tür zu tun?«

»Du denkst immer noch, es wäre pure Phantasterei von mir,

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Basil!« »Erzähle nur. Wir reden danach über deine Beobachtung.« Er

wählte mit Bedacht dieses Wort, um ihr zu suggerieren, daß er glaubte, sie hätte wirklich etwas gesehen.

»Vor drei Abenden ist dieser unheimliche Vogel aufgetaucht. Er flog über unser Haus weg, ich saß am Fenster. Er überquerte den Friedhof.«

»Und ist zur Abtei geflogen?« »Nein, es war nicht genau diese Richtung. Er könnte auch zu die-

sem unheimlichen alten Haus auf dem Hügel hinter dem Friedhof geflogen sein. Du weißt schon, welches ich meine. Wo noch nie ein Licht gebrannt hat.«

»Das Talgarth-Haus. Da kann auch kein Licht brennen. Es ist seit vielen Jahren unbewohnt.«

»Möglich, Basil. Jeden Abend ist der unheimliche schwarze Vogel in diese Richtung geflogen. Immer über unser Haus hinweg. Ich kenne viele Vögel, die nach Einbruch der Dämmerung unterwegs sind, so einen habe ich nie zuvor gesehen. Heute abend kam er aus der falschen Richtung. Über den Friedhof zu uns. Ich spürte sofort, das galt mir.«

Sie zitterte wieder verstärkt. Er drückte ihre Hand. »Unsinn. Das war ein Zufall.« »Nein, Basil, und du wirst das gleich verstehen. Plötzlich war

draußen ein unheimliches Rauschen und Knistern zu hören. Da kam gerade das Mädchen herunter. Es knipste das Licht hier drin-nen an, aber ich sagte, ich möchte das nicht haben. Dolly ist dann gegangen. Als ich wieder zum Friedhof rübergesehen habe, lag ein seltsames Licht auf den Totensteinen. Direkt unheimlich. Wie Mondschein. Aber der Mond steht gar nicht am Himmel. Ist das nicht eigenartig?«

»Schon. Und was war dann?« »Der Totenvogel hat sich auf einem Grabkreuz niedergelassen. Er

hat genau zu mir hergeschaut. Mit glühenden Augen. Basil, ich bin fast vergangen vor Angst! Plötzlich ist er von dem Kreuz herabge-

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hüpft. Und da ist etwas Unglaubliches mit ihm passiert – er hat sich verwandelt. Er sah wie ein Mensch aus und war genausogroß. Und er marschierte einfach auf unseren Zaun zu und ging mitten hin-durch, als gäbe es keinen Zaun.«

Basil beobachtete die großen Augen seiner Frau. Sie fieberten et-was. Aber diese Augen logen nicht. Ein Frösteln überlief ihn.

»Er kam bis dicht ans Fenster. Er hat sich herabgebeugt. Ich hatte seinen Kopf auf Armlänge vor mir, nur die Scheibe war dazwi-schen. Erst war es noch ein Vogelkopf, aber der nahm immer mehr Ähnlichkeit mit einem Menschenkopf an. Nur die Augen glühten weiter wie Kohlen. Ich war erst gar nicht fähig, mich zu rühren. Er stand draußen und hatte seine Flügel auf dem Rücken zusammen-geklappt. Ich denke, er hat überlegt, wie er ins Haus kam, ohne viel Lärm zu machen.«

Rebeccas Atem ging keuchend und stoßweise. In einer solchen Er-regung hatte Basil Gallinger seine Frau noch nie gesehen.

Himmel, dachte er beklommen, sie spielt mir nichts vor, sie glaubt wirklich diesen Unsinn! Sie geht voll und ganz mit und stei-gert sich in die Sache hinein!

»Schon gut, er ist ja nicht hereingekommen«, sagte Gallinger trös-tend.

»Aber fast!« erwiderte seine Frau heftig. »Ich war erst wie ge-lähmt vor Angst. Ich glaube, etwas hat mich auch im Rollstuhl fest-gehalten. Eine fremde Kraft. Unsichtbar. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, aus dem Wohnzimmer zu kommen. Ich wollte Dol-ly zurückrufen, sie konnte noch nicht weit sein. Als ich die Haustür öffnete, stand das gräßliche Wesen schon da. Ein Mann, Basil, ich schwöre es dir. Er hatte die Flügel. Aus seinem Mund wuchsen fin-gerlange scharfe Zähne. Da wußte ich, was er ist. Ein Vampir. Vam-pire verwandeln sich, und sie haben solche Zähne. Und fliegen können sie auch. Ist etwas?«

Jetzt keuchte Basil Gallinger. Vampir! Lange Zähne! Er dachte an den Kollegen Peter Woods

vom Yard, der angeblich ein Vampir und Untoter geworden war.

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Lieber Himmel, ernsthafte Leute hatten Woods so gesehen, an sei-ner neuen Existenzform war nicht zu zweifeln.

Und so ein Kerl hatte vor der Tür gestanden! »Nein, nein, es ist schon gut. Und was geschah dann?« Rebecca umklammerte seine Hand. »Er wollte ins Haus. Ich habe

die Tür zugeworfen, aber er hat dagegengedrückt. Ich glaube, ich habe dann furchtbar geschrien, und ich wollte ihn nicht hereinlas-sen, ich hatte doch eine solche Angst. Eigentlich immer noch. Es ist gut, daß du da bist.«

Die Tränen stiegen ihr in die Augen. Basil ließ ihr Zeit, sich zu fangen. Es hatte keinen Sinn, wenn er

sie jetzt drängte. Er zweifelte auch kaum noch am Wahrheitsgehalt ihrer Schilde-

rung, seit er über das neue Aussehen von Woods einiges gehört hatte.

Ein Vampir in diesem Viertel! Vor seinem Haus! Das hielt er fast im Kopf nicht aus. Auch noch einer mit Flügeln! Er hatte vor eini-gen Monaten in einem Mordfall ermittelt, und da war auch ein ge-heimnisvoller Kerl mit Flügeln drin vorgekommen. Selber gesehen hatte er ihn nicht, aber der Hauptverdächtige im Mordfall Fürstin Renata de Angelis hatte Stein und Bein geschworen, dieser geflü-gelte Kerl hätte die Fürstin umgebracht und nicht er.

Was sich später dann auch tatsächlich als die richtige Version her-ausgestellt hatte.

Dieser Kinsey vom Secret Service hatte seinerzeit den Fall über-nommen und abgeschlossen.

Den Knaben könnte ich vielleicht anspitzen und mit Rebeccas Problem bekanntmachen, überlegte Basil Gallinger. Der kennt sich mit Geistern und Gespenstern und so mächtig gut aus, was man so hört. Der Alte vom Service hat ihm doch wahrhaftig eine eigene Abteilung gegeben. Da muß also schon was dran sein, denn Sir Ho-ratio Merriman ist kein Spinner und noch weniger ein Spaßvogel!

Mit leiser Stimme fuhr Rebecca nach einer Weile fort: »Ich hatte nur noch den einen Gedanken – du darfst ihn nicht ins Haus her-

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einlassen, sonst hat er dich! Als er wieder gegen die Tür drückte, bin ich aus dem Stuhl gefallen. Aber die Tür habe ich noch zube-kommen.«

»Das hast du«, lobte Basil. »Und es war ganz richtig, daß du laut gerufen und geschrien hast. Die Nachbarn sind sofort gelaufen ge-kommen.«

»Haben sie den gräßlichen Vampir auch gesehen?« fragte Rebecca bang.

»Nein. Es ist auch nicht wichtig. Ich bin froh, daß dir nichts zuge-stoßen ist. Ich rufe jetzt Doktor Abraham an, er soll nach dir sehen. Nach dem Schreck machst du doch die ganze Nacht kein Auge zu.«

»Ich will keine Spritze haben, ich kann Spritzen nicht mehr sehen, Basil. Ich will mich nicht mehr quälen lassen.«

»Er soll dir keine Spritze geben, er soll nur nach dir sehen. Er wird dir ein Schlafmittel dalassen.«

Rebecca schwieg trotzig. Basil Gallinger rief den Hausarzt an, der seine Frau seit langem betreute.

Abraham versprach, sofort vorbeizukommen. Er nahm am Schicksal von Rebecca regen Anteil; und nicht aus beruflichen Gründen.

Basil schnappte sich noch einmal die Taschenlampe und schaute sich draußen um. Jetzt hatte er ja Anhaltspunkte. Auch wenn es ihm schwerfiel, alles unbesehen zu glauben, was seine Frau ihm be-richtet hatte.

Unter dem Fenster war der Rasen etwas zerdrückt. Das war zwar kein sicheres Indiz, aber immerhin besser als gar

nichts. Fußumrisse konnte er nicht feststellen. Den Zaun begutachtete er besonders sorgfältig. Der war jedoch

völlig unversehrt. Es gab keine Lücke, keine Bresche, und er war auch nicht umgedrückt.

Gallinger leuchtete auf den alten Friedhof hinüber, vor dem sich Rebecca gruselte. Die Leichensteine schimmerten nur geisterhaft, wenn er sie in den Lichtkegel bekam. Von einem Totenvogel oder gar von dem verdammten Vampir war nichts zu sehen.

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Gallinger war fest entschlossen, mit Kinsey zu sprechen. Er hoffte, daß der Rat wußte. Gleich morgen rief er ihn an, das nahm er sich vor.

*

Ungerupft kam ich nicht aus dem Bau der Leichenhalle heraus, wie es aussah.

Hinter mir rückte der Zombie im Totenhemd heran. Und vor mir versperrten weitere Untote den einzigen Fluchtweg. Auch sie besa-ßen diese scheußlichen Monsterfratzen.

Ich wußte, daß darunter ganz normale Totengesichter waren. Nur half mir das im Moment überhaupt nichts. Sie rückten mir alle auf den Pelz. Sie wollten mich haben.

Wer ihnen diesen Befehl gegeben hatte, war mir klar. Dracula hat-te mir wieder mal eins ausgewischt. Meine vielfältigen Aktivitäten waren einem Erzgauner wie ihm nicht verborgen geblieben. Der Kerl hörte sogar die Wasserflöhe husten.

Ziemlich viel Wind mit meinem Überwachungssystem für alle Londoner Friedhöfe, auf denen bestattet wurde, hatte ich ja ge-macht. Unfreiwillig. Diese Art Geschäft verträgt keine Publicity. Aber ich hatte ja eine Menge Leute einspannen müssen. Und da wird selbst ein todsicheres System undicht. Irgendwo beginnt es herauszutröpfeln.

Die nackten Füße hinter mir patschten auf dem Steinboden näher. Ich griff in die Tragetasche und angelte nach dem Krif. Es half al-

les nichts, das Drei-Klingen-Beil mußte mich aus der Patsche retten, bevor mich die Untoten in der Luft und bei lebendigem Leib zerris-sen.

Die Umgebung war besonders makaber. Falls ihnen ihr Vorhaben gelang, brauchte der Totengräber meine Überreste nicht weit zu tragen. Ich hoffte, der Mann wußte das zu würdigen, falls es dazu kam, und er behielt mich in guter Erinnerung.

Ich spürte den Stiel der Waffe zwischen den Fingern und wollte

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gerade eine günstige Gefechtsposition einnehmen, als ich einen Stoß zwischen die Schulterblätter bekam, daß ich dachte, mir kommt vorne was aus der Brust herausgeflogen.

Der Zombie in meinem Rücken war schneller gewesen, als ich ausgerechnet hatte. Er hatte mich getroffen.

Ich flog den anderen Untoten förmlich in die Arme hinein. Zum Glück wollte jeder mich packen, und außerdem drängten sie

gerade zur Tür herein. Ich kriegte zwar ein paar harte Püffe ab, und ich hörte auch, wie

meine Jacke zu knirschen begann, aber um meinen Hals legte sich keine Totenhand.

Von mir aus sollte die Jacke zum Teufel gehen, Hauptsache, ich blieb einigermaßen in einem Stück.

Ich prallte mit der Schulter förmlich in einen Untoten hinein. Im herumzuckenden Licht meiner Taschenlampe kriegte ich mit, wie er rücklings über den Flur segelte und gegen die gegenüberliegen-de Wand krachte, daß der ganze Bau verhalten dröhnte.

Ein lebender Mensch hätte sich dabei das Rückgrat gebrochen. Der Untote rappelte sich jedoch behend wieder auf und stürzte sich mit flatterndem Totenhemd ins Getümmel.

Die ganze grausige Mannschaft war aus der eigentlichen Leichen-halle gekommen, das war mir klar. Und das bewies auch, daß dort etliche Steinmonsterköpfe in diverse Särge geschmuggelt worden waren. Wie kürzlich schon mal.

Wie die Untoten allerdings lautlos aus den Särgen gekommen wa-ren, gab mir Rätsel auf. Es sei denn, die waren schon vor meinem Erscheinen aus den Totenkisten gestiegen und hatten in endloser Geduld auf mich gewartet.

Und nichtsahnend war ich hier hereingetappt und ihnen in die Falle gegangen.

Ich brüllte plötzlich auf. Ein Schraubstock hatte meinen rechten Arm zu packen bekommen. Zumindest empfand ich solche Schmerzen.

Ich riß meinen Arm frei. Ein Zombie prallte gegen mich. Eine

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Frau, wie ich an den Ausbuchtungen des Totenhemdes feststellen konnte. Sie hatte Kräfte wie zehn Männer. Das war die dämonische Macht, mit der Dracula mittels der Monsterfratzen sie beseelt hatte.

Der mörderische Griff verstärkte sich. Ich fürchtete schon, mir würden die Knochen brechen wie mürbes Brot.

Klar, in der rechten Hand hielt ich die Tragetasche und den Griff des Drei-Klingen-Beils. Die Untoten schienen zu spüren, welche Kräfte in der Waffe schlummerten. Unter allen Umständen wollten sie verhindern, daß ich die Waffe einsetzte.

Ich flog von dem Anprall gegen den Türstock, kassierte zwei mächtige Hiebe, die mir fast den Kopf von den Achseln rissen, und erwischte auch noch einen Tritt gegen das Schienbein.

Zwei Zombies rannten blindlings gegen mich an. Sie versuchten, mich von der Tür wegzubringen. Tiefer in den Raum hinein, aus dem es für mich kein Entweichen gab.

Ich konnte den Ansturm gar nicht richtig abfangen und torkelte rückwärts. Wahrscheinlich wäre ich auf den Rücken gestürzt, wenn ich nicht plötzlich so halb auf dem Schreibtisch des Friedhofswär-ters gesessen hätte.

Ohne lange zu überlegen, verlängerte ich die unfreiwillige Lan-dung, rollte über den Schreibtisch wie ein Sack Kartoffeln und plumpste auch so auf der anderen Seite hinunter. Aber wenigstens hatte ich für den Augenblick Luft.

Und das war eine ganze Menge. Geistesgegenwärtig knipste ich die Taschenlampe aus, weil ich

annahm, die Untoten könnten mich nun nicht mehr sehen und hät-ten Mühe, mich zu finden.

Ich hörte sie dafür. Mit den nackten Füßen tappten sie ganz schön laut herum. Außerdem waren sie sich ständig selber im Weg, und die Totenhemden knisterten, daß mir ganz anders wurde.

Ich bekam Assoziationen und dachte an einen Ball im Leichen-haus. Dracula hatte nur vergessen, die Musik zu bestellen.

Ich fummelte den Krif aus der Tasche, fädelte die Trageschlaufen der Tasche in meinen Hosengürtel und wappnete mich für den

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Ausbruch. Die Tasche mit dem Inhalt wollte ich keinesfalls im Stich lassen.

Die Rechnung hatte ich mal wieder falsch zusammengezählt. Die Untoten kriegten ein anderes Ergebnis heraus als ich, sie schienen mich zu sehen, denn anders konnte ich mir nicht erklären, daß sie über den Schreibtisch stiegen.

Das Möbelstück ächzte bedenklich. Ich war mit einem gewaltigen Sprung hinten an der Wand und schaltete die Lampe wieder ein.

Zwei Untote waren schon auf meiner Seite. Zwei standen auf dem Schreibtisch. Die anderen kamen drum herum.

Mir richtete es die Haare auf. Die rettende Tür war weiter entfernt denn je.

Wenn jetzt der Krif versagte, wenn irgend etwas Unvorhergese-henes passierte, tat ich meinen letzten Schnaufer.

Ich dachte an Miriam, die Hexe. Ich müßte ganz fest an die Macht des Krif glauben, hatte sie mir auf die Seele gebunden. Ich dürfte nicht zweifeln.

Das war eine löbliche Empfehlung, aber Miriam hatte bestimmt nicht bedacht, daß mich eine Gruppe Untoter in die Zange nehmen könnte. Da hört die klare Überlegung auf, da will man die nackte Haut retten und sonst nichts.

Die Zombies gaben jetzt eigenartige Laute von sich. Es klang wie Kindergreinen, aber viel zorniger.

Das hatte ich schon mal gehört. Deshalb kippte ich vor Schreck auch nicht aus den Schuhen. Totenstimmen hören sich fürchterlich an. Man denkt, man müßte darüber den Verstand verlieren.

Und vor allem rechnet man ja nicht damit, daß Untote sich ir-gendwie äußern können.

Aber sie können es, leider. Und meine Angreifer drückten Zorn und Wut und Ärger mit ih-

rem schaurigen Chorgesang aus. Ich machte ihnen Arbeit. Damit hatten sie offensichtlich nicht gerechnet.

Die Frau, die mich schon am Arm zu packen bekommen hatte, sprang mich mit einem entsetzlichen Geheul an. Weiß der Teufel,

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ich glaube, meine Hand zitterte ganz lieblich. Darum verfehlte ich auch die gräßliche Monsterfratze, die sich auf geisterhafte Weise über ihren Kopf gestülpt hatte.

Eine Klinge des Krif fuhr ihr in die Achsel. Ich hatte es fast erwartet, und doch traf mich der Anblick wie ein

Hammerschlag in den Magen. Aus der Wunde spritzte schwarzes Blut!

Ich schnellte mich beiseite, um nicht davon getroffen zu werden. Schwarzes Blut ist pures Gift für einen Lebenden. Es kann ihn

zerfressen – bei lebendigem Leib. Es kann ihn auch verwandeln, so daß er zu einem Geschöpf der düsteren Welten jenseits unseres Le-bens wird. Es vermag auch eine reißende Bestie aus ihm zu machen oder ein Gerippe, daß herumwandelt und mit seinem Geklapper die Leute zu Tode ängstigt.

Ich verzichtete gern auf diese vielfältigen Möglichkeiten. Ein Zombie-Mann sauste gerade in meine Richtung. Ich versuchte

ihn mit dem Lampenstrahl zu blenden. Selbst das funktionierte nicht. Mit einem weiteren Satz brachte ich mich noch einmal in re-lative Sicherheit. Relativ insofern, als mich der Untote nicht sofort zu einem Putzlumpen zerpflücken konnte. Seine vorschnellenden Hände stießen ins Leere.

Ich streifte ihn mit dem Krif auch nur, aber ich hatte die Genugtu-ung, daß ich die mit schwarzem Blut beschmierte Klinge an seinem Totenhemd abwischte.

Er greinte, daß mir die Ohren weh taten. Und die anderen fielen in den entsetzlichen Chor wieder ein.

Nur die Frau nicht. Sie sank gerade zu Boden. Ich hatte sie an-scheinend doch schwerer getroffen, als es zunächst aussah. Aus der Wunde spritzte es nicht mehr. Aber der Boden war naß und be-stimmt auch glitschig.

Darauf mußte ich besonders achten. Ich hob den Krif, als ich nun wirklich in der äußersten Ecke einge-

keilt war und in keine Richtung mehr ausbrechen konnte. Die anrückende Front ließ meinen Magen hochschnellen. Die

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Monsterfratzen waren ein Bild des Grauens, die Stimmen klangen zum Steinerbarmen, und die Absichten der Untoten waren eindeu-tig.

Ich stieß mich von der Wand ab, sprang den Gestalten entgegen und schlug zu.

Dieser Hieb war ein voller Treffer. Das Drei-Klingen-Beil sauste auf einen Monsterschädel nieder.

Es klang, als würde Stein zerspringen. Die schauderhafte Fratze zerplatzte in tausend Stücke, die eiserne Klinge drang noch tiefer und erreichte den eigentlichen Schädel des Untoten.

Wie vom Blitz gefällt stürzte die Gestalt nieder. Der entsetzliche Chorgesang brach ab. Ich schätzte, daß die Unto-

ten mächtig verblüfft waren. Lange hielt dieser vorteilhafte Zu-stand leider nicht an.

Bevor ich mich über meinen Erfolg richtig freuen konnte und auf gedanklichem Weg einen heißen Händedruck an Miriam schickte, stürzten sich die übrigen Zombies mit geisterhaftem Wutgeheul auf mich.

Jetzt war mir alles gleichgültig. Jetzt kam auch Pietät nicht mehr in Betracht. Ich kämpfte ums Leben.

Mit dem nächsten Hieb fällte ich einen Zombie-Mann, der nach seinen runzeligen Beinen zu schließen siebzig oder mehr Jahre zu Lebzeiten auf dem Buckel gehabt hatte.

Als die Monsterfratze wie eine Maske von seinem Gesicht weg-platzte, kam darunter ein altes runzeliges Männergesicht zum Vor-schein, über dem ein Schimmer von Frieden lag.

Ich hätte in diesem Augenblick Dracula liebend gern den Hals umgedreht. Es war schier unvorstellbar, was er den Toten angetan hatte.

Aber wann hätten ihn je Skrupel geplagt? Er wollte sich wieder eine Gefolgschaft schaffen, nachdem ich ihm seine erste gewaltig dezimiert hatte. Und er nahm, was er kriegen konnte. Junge, Alte, Männer, Frauen, Hauptsache, er konnte sie zu untotem Leben er-wecken und für seine finsteren Ränke einspannen.

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Besonders deprimierend war, daß ihm Woods wacker dabei half. Die zwei klebten ja inzwischen zusammen wie Pech und Schwefel. Falls dem einen eine Schlechtigkeit gerade nicht einfiel, hatte be-stimmt der andere eine parat.

Drei Untote hatte ich bereits in Tote zurückverwandelt. Das gab mir Luft. Ich konnte mich besser bewegen.

Die Treffer mit dem Krif allein machten den Erfolg nicht aus. Denn ein Geschöpf, das bereits tot ist, kann man nicht noch einmal töten. Es widerspricht sogar der dämonischen Logik, obwohl die al-les andere als logisch ist.

Teuflisch ist vielleicht der treffendere Ausdruck. Nein, was meinen Erfolg ausmachte, waren die Kräfte des Guten,

die in den Krif gebannt waren. Seit jenen grauen Tagen der Vorzeit, als die Väter der Druiden und die guten Götter gegen die Heer-scharen des Bösen gekämpft und gesiegt hatten.

So gesehen war der Krif eine magische Waffe. Bloß sah man es ihm nicht an. Weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick. Er wirkte eher wie ein fast vorsintflutliches und etwas absonderliches Kriegsbeil, an dem sich ein prähistorischer Schmied mit künstleri-scher Ader und mächtiger Freude am Gestalten ausgetobt hatte.

Barbara, der Vorzimmerdrachen vom Chef, hatte die Waffe ja auch auf Anhieb für ein Kriegsbeil gehalten und mit spitzen Bemer-kungen mein Zartgefühl verletzt.

Die drei Klingen in einer Ebene hatten einen wichtigeren Zweck, als nur als Schlaginstrument zu dienen. Ich schätzte, jede Klinge stellte für sich ein ganz bestimmtes Symbol dar, obschon sie sich nicht voneinander unterschieden. Und alle drei zusammen mach-ten die magische Wirkung aus.

In dieser Richtung hatte ich bei Miriam schon auf dem Busch ge-klopft, aber die Hexe hatte geschwiegen wie eine frische Auster. Dieses Geheimnis hatte sie mir nicht anvertraut.

Vielleicht war es auch eines der Mysterien vom Hexenstein von Llanwellyn.

Mir war in erster Linie nützlich, daß der Krif seine Wirkung tat

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und die Erwartungen erfüllte, die ich in ihn setzte. Ich fällte mit einem genau gezirkelten Schlag den Zombie, der mir

den mörderischen Stoß ins Kreuz verpaßt hatte. Die Steinfratze zerspritzte förmlich. Darunter kam ein entstelltes

Gesicht zum Vorschein. Ein Unfallopfer, wie ich unschwer erkann-te.

Während ich den Untoten den Preis für mein Leben diktierte, machte ich eine Entdeckung. Nur die Zombie-Frau, der ich den Krif in die Achsel geschmettert hatte, hatte geblutet.

Die anderen hatten nicht einen Tropfen Schwarzblut vergossen. Es mußte damit zu tun haben, daß ich auf die übergestülpten

Steinfratzen zielte und die auch traf. Zwei Hiebe waren tiefer gegangen, wie ich im Lampenschein sah.

Die Schädel zeigten eindeutige Spuren. Aber dort sickerte kein Blut heraus. Was mir bewies, daß die Untoten wirklich nur noch Tote waren und daß Dracula und sein Zauber keine Macht mehr über die Leichen hatten.

Drei Untote standen mir noch gegenüber. Wobei das eine milde Untertreibung ist. Sie standen nämlich nicht, sondern hechteten förmlich auf mich los.

Einen traf ich noch im Flug auf den Kopf. Er fiel mir genau vor die Füße, sein hageres Gesicht zu mir em-

porgewendet, nachdem die Fratze zerbrochen war. Die anderen zwei packten mich. Und wie! Ich fürchtete, mir wür-

de die Seele aus dem Leib fahren, so hart krachten sie gegen mich und keilten mich fest.

Ich versuchte, von oben mit dem Krif auf sie einzuschlagen. Aber sie hatten die Gefahr erkannt. Sie packten beide meinen erhobenen rechten Arm und quetschten ihn gegen die Wand.

Ich konnte gerade noch die Hand bewegen. Aber lange bestimmt nicht mehr. Meine Rippen knackten schon verdächtig, und der mörderische Druck gegen meinen Körper verstärkte sich. Die Zom-bies verfügten über Titanenkräfte. An mir ließen sie sie aus.

Ich brachte den Krif in eine halbwegs erfolgversprechende Stel-

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lung, öffnete die Hand und ließ die Waffe einfach fallen. Ich hatte Glück, einer der Untoten nicht. Er kriegte den Krif auf

die Birne. Mit einem scheppernden Ton zersprang die Monstermaske, und

der Zombie sackte zusammen. Und damit war es auch vorbei mit dem Zombie-Dasein. Ein toter junger Mann lag vor mir.

Der letzte Zombie hatte sich in mich förmlich verkrallt. Mit einer Hand drückte er immer noch meinen Arm hoch oben gegen die Wand, er hatte noch gar nicht begriffen, daß er damit nichts mehr erreichte. Mit der anderen Hand umfaßte er meinen Hals.

Er war im Begriff, mir den Kehlkopf einzudrücken. Himmel, ich kam an den Krif nicht heran! Der lag auf dem Boden. Bevor mir der Atem so knapp wurde, daß ich gar nichts mehr an

Gegenwehr zu bieten hatte, versuchte ich eine Finte und wollte blitzschnell wegtauchen.

Fast hätte ich mir selber den Kopf ausgerenkt. Ich hatte das schmerzliche Gefühl, daß mein Hals aufs Doppelte der ursprüngli-chen Länge gezogen wurde.

Verzweifelt riß ich das rechte Knie hoch. Es nützte auch nichts. Der Zombie empfand keine körperlichen Schmerzen.

Ich lehnte mich ganz dicht an die Wand, brachte wieder das rech-te Knie hoch und stemmte es mit viel Glück zwischen den Untoten und mich.

Jetzt gelang es mir, ihn etwas auf Distanz zu drücken. Gleichzeitig riß ich den festgepreßten rechten Arm an der Wand

herab. Ich opferte eine Menge Haut, aber der Zombie ließ los und suchte eine neue Chance.

Bevor er die fand, entlud sich meine Angst und mein Zorn fast ex-plosionsartig. Ich konnte den Zombie endlich fast zwei Schritte weit zurückschleudern. Noch lieber hätte ich es gesehen, wenn er auf den Hintern gefallen wäre.

Keuchend rang ich nach Atem, griff mit der linken Hand, in der ich die Taschenlampe hielt, nach meinem Kehlkopf und spürte un-ter dem Daumen, daß mein Kehlkopf noch intakt war. Zugleich

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rutschte ich an der Wand herab wie ein Bild ohne Haltehaken. Ich bekam den Krif eher zu fassen, als der Zombie zur Stelle war. Von unten heraus wehrte ich seinen blitzschnellen Angriff ab, traf

aber seinen linken Arm. Genau in dem Sekundenbruchteil, als seine Hand in meine Jacke auf dem Rücken packte und ihr vollends den Garaus machte.

Ich hörte die Nähte aufkrachen. Mit einem verzweifelten Ruck schnellte ich mich aus dem Bereich

des spritzenden schwarzen Blutes. Ich hatte den Arm glatt durch-trennt.

Der Untote verschwendete nicht einmal einen Blick an den ver-stümmelten Arm. Er warf sich nach vorn. Er wollte mich unter sich begraben und noch töten, bevor ihn die magische Kraft des Krif zu-rückstieß in den Zustand des Toten.

Instinktiv begriff ich sein Vorhaben. Ich fand irgendwo Halt für meine Füße, stieß mich ab und kam gerade noch unter ihm weg, bevor er mit seinem ganzen Gewicht auf mich krachte.

Keuchend blieb ich liegen. Ich mußte erst mal mit dem schreckli-chen Erlebnis fertig werden.

Als es mir einigermaßen besserging, lauschte ich, ob da nicht noch andere Untote im Anmarsch waren.

Aber ich konnte nichts vernehmen. Ächzend richtete ich mich auf. Und erstarrte: Etwas baumelte auf

meinem Rücken! Mir lief es eiskalt herauf und hinunter. Die Hand! Ich hatte Hand und einen Teil vom Unterarm dem Zombie abge-

trennt, und die Hand hatte sich in meine Jacke gekrallt gehabt in diesem Moment.

Mit einem Ruck hatte ich die Jacke herunter, als sei sie in Brand geraten.

Und noch schneller langte ich mit dem Krif zu. Die Hand hatte sich wahrhaftig wie ein Stahlhaken in den Jackenstoff geklammert. Sie fiel unter der Berührung des Krif auf den Boden.

Im Schein der Taschenlampe machte ich Inventur. Das nackte

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Grausen kam mich an. Sieben Untote waren auf der Strecke geblie-ben. Zwei trugen noch die Monsterfratze. Was bedeutete, daß sie wieder zu untotem Leben erwachen konnten, sobald es Dracula ge-fiel oder wenn sein Zauber wieder stark genug war.

Die Steinfratzen waren das Geheimnis. Die mußte ich zerstören, dann war auch das böse Bann gebrochen.

Ich zertrümmerte die Monstermaske des Zombies, der mich zu-letzt angegriffen hatte. Danach zerstörte ich die Maske der Frau, der ich die Waffe in die Achsel geschmettert hatte.

Sie war jung gewesen und jung gestorben, das sah ich jetzt. Sie dauerte mich. Ebenso wie die anderen, die hier im Raum lagen.

Doch für Besinnlichkeiten hatte ich keine Zeit. Ich mußte erst einmal sehen, ob in der Leichenhalle nicht noch

weitere unangenehme Überraschungen warteten. Die Liste steckte ich vorsichtshalber ein, und beim Verlassen des

Raumes, in dem ich verbissen und mit Glück mein Leben verteidigt hatte, paßte ich auf, daß ich nicht in das schwarze Blut trat, das auf den Boden gespritzt war.

Draußen lehnte ich mich an die Flurwand und gratulierte mir zweimal zum. glücklichen Ausgang des schlimmen Erlebnisses. Ohne den Krif wäre ich erledigt gewesen.

Das Zittern in meinen Knien ließ allmählich nach. Ich stieß mich von der Wand ab, richtete den Lampenstrahl auf die Tür der Lei-chenhalle und marschierte stur und entschlossen los.

Die Halle war klimatisiert. Demzufolge herrschte eine recht kühle Atmosphäre. Mir wurde dennoch warm unter dem Haardach, als ich acht Särge zählte, alle offen.

Pedantisch waren die Untoten jedenfalls. Die Sargdeckel lehnten säuberlich neben den schwarzen Totenkisten.

Acht Särge, aber ich hatte es mit nur sieben Zombies zu schaffen gehabt!

Also war die eine Leiche, derentwegen Hornblower Alarm ge-schlagen hatte, immer noch auf Tournee. Das waren alles andere als liebliche Aussichten. Die Leiche konnte mittlerweile über alle

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Berge sein. Ich sagte mir, daß es nicht gut ist, den dritten Schritt vor dem

zweiten zu machen. Also fischte ich die Liste vom Schreibtisch des Friedhofswärters aus der Tasche und suchte mir die Sargnummern von den Totenkisten.

Ich fand sie auf der Liste. Auch die zugehörigen Namen. Ich sah harte Arbeit auf mich zukommen, denn ich konnte ja nicht

sagen, welcher Tote in welchen Sarg gehörte. Auf der Liste war das Alter nicht angegeben, was ein wenig hilfreich hätte sein können!

Zwei Frauen waren auf der Liste aufgeführt. Eine lag drüben im Büro. Dann war die andere die Leiche, die jetzt als untote Frau unter-

wegs war. Ich hatte immer das Glück, die kniffligsten Fälle zu erwischen.

Wo sollte ich die Untote suchen? London war ein verdammt großer Heuhaufen.

*

»Durst!« sagte Dolly Bacon mit eigentümlich flacher und unbeton-ter Stimme. »Ich habe Durst.«

»Nach Blut, kann ich mir denken!« Woods lachte meckernd. Er hielt das Mädchen noch fest.

Das Straßenlicht fiel auf die Züge des Mädchens. Sie waren toten-bleich und ohne jeden Ausdruck.

Dracula strich über das Gesicht von Dolly Bacon. Er murmelte da-bei einen schrecklichen Zauberspruch, so grauenhaft, daß die Luft in der Umgebung zu knistern begann.

»Du bist jetzt eine von uns«, sagte der Fürst der Vampire dann. »Fortan gehörst du zum Heer des Schattenreiches und zur Schar meiner Blutsauger. Stille deinen Durst, aber dann wirst du auch Blut für uns beschaffen. Suche Opfer, wir sind immer in deiner Nähe. Suche sie in der Umgebung von Gallingers Haus. Doch erst, wenn die Dunkelheit hereingebrochen ist. Versehe deinen Dienst

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wie immer, mein Engel des Grauens.« »Ja«, sagte Dolly wie ein Sprechautomat. »Ich habe Durst.« Ein satanisches Lachen entrang sich Draculas Brust. »Du hast

doch einen Freund. Oh, wir wissen genau über dich Bescheid, wir haben dich lange beobachtet und sorgfältig ausgewählt. Er wird dich auch heute wieder besuchen. Dieses Opfer ist ganz allein für dich bestimmt. Lösche deinen Durst an Brian Hedges.«

»Das werde ich tun, ja«, sagte Dolly und wandte sich um, als Dra-cula und Woods sie losließen.

Der Fürst der Vampire breitete die Arme aus und gab Dolly den bösen Segen mit auf den Weg. Sein Zauber traf sie noch einmal. Ihr schleppender Schritt wurde kräftiger und sicherer.

Jetzt in der Dunkelheit verriet nichts, daß Dolly Bacon nunmehr eine Vampirin war.

Nur als sie endlich die Bushaltestelle erreichte und in den gerade eintreffenden Bus stieg, sagte der Fahrer, der sie kannte: »Lieber Himmel, was ist denn mit Ihnen los, wie sehen Sie denn aus? Ist Ih-nen schlecht?«

Beim Wort ›Himmel‹ taumelte Dolly. Sie hielt sich an der Griffs-tange fest und sagte zischend und böse: »Gar nichts ist mit mir. Lassen Sie mich in Ruhe!«

»Auch gut, von mir aus!« brummte der Fahrer. »Möchte bloß wis-sen, was heutzutage mit den Weibern los ist? Mal machen sie ei-nem schöne Augen, dann wieder gucken sie, als wollten sie einen vergiften, und wenn man dann noch etwas sagt, spielen sie Blüm-chen-rühr-mich-nicht-an!«

Er knipste Dolly die Karte und schaute hoch. »Klar doch ist mit Ihnen was«, meinte er dann. »An Ihrem Hals.

Sieht wie Blut aus. Sie scheinen sich verletzt zu haben. Damit darf man nicht spaßen. Eine Tante von mir hat sich wegen so was eine Blutvergiftung geholt und ist gestorben. Gehen Sie lieber heute noch zum Arzt.«

Heftig nahm ihm Dolly die Fahrkarte ab, versenkte sie achtlos in der Schultertasche und setzte sich hinter den Fahrer.

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Als der Bus endlich losrollte, schaute Dolly gebannt auf den Nacken des Mannes. Sie konnte den Blick nicht mehr davon wen-den. Der Durst wurde schier übermächtig.

Da war Blut, frisches warmes Blut, das wußte sie. Aber da war auch eine Sperre. Etwas hinderte sie, die Zähne in

den Hals des Fahrers zu schlagen und dem Mann den Lebenssaft auszusaugen.

Aber immer wieder schaute Dolly verlangend auf den kräftigen Männernacken.

Manchmal zitterten ihre Hände vor Gier und Erregung. Nur ein ganz klein wenig, wünschte sich das Mädchen, nur eine

kleine Menge, ein winziger Biß nur, und es geht auch ganz schnell! Doch der von Dracula gegebene Befehl hatte seine Wirkung.

Auch wenn Dolly fast verging, sie ließ den Fahrer des Busses unge-schoren.

Der Mann beobachtete sie im großen Innenspiegel. Mit dem Mäd-chen war etwas, davon ließ er sich nicht abbringen. Es war immer noch mächtig blaß, als hätte es einen tüchtigen Schrecken erlebt.

Der Fahrer tat das, was er gerne tat – er starrte auf den Busen des Mädchens. Er starrte auch auf andere Busen, wenn sie gerade zu sehen waren.

Nach einer Weile fand er es doch sehr eigenartig, daß das Mäd-chen zwar erregt wirkte, aber eigentlich kaum atmete. Oder gar nicht.

Blödsinn, sagte er sich, jeder Mensch atmet, der eine starker, der andere schwächer! Jeff, alter Junge, guck auf die Straße, sonst kriegst du noch Fliegen im Gehirn!

Dolly stieg an ihrer Station aus. Sie warf noch einen verlangenden Blick auf den abrollenden Bus

und den schönen starken Nacken des Fahrers, dann hob sie die Achseln und strebte mit festen Schritten ihrer Wohnung zu.

Sie wohnte nicht bei ihrer Familie. Von der hatte sie sich losge-sagt, seit Mr. Gallinger ihr den Job in seinem Haus angeboten hatte. Ausgezogen war sie schon früher.

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Vorübergehend hatte sie bei einer Tante gewohnt, die sie dann al-lerdings an zahlungskräftige Männer stundenweise verkuppeln wollte. Da hatte sie ihr Bündel gepackt und war in die Wohnung ei-ner Familie gezogen, mit der die Bacons locker befreundet waren.

Lange gutgegangen war auch das nicht. Eines Nachts war Dolly davon wach geworden, daß jemand in der winzigen zugigen Dach-kammer zu ihr ins Bett gekrochen war und gleich an ihr herumge-fummelt hatte.

Vorsichtshalber hatte sie dem zudringlichen Besucher erst einmal eine geklebt und dann um Hilfe gerufen.

Die herbeistürzende Hausfrau hatte dann ihren Ehemann unterm Bett von Dolly hervorgezogen, hatte ihm eine Tracht Prügel verab-reicht und Dolly eine verdammte Hure geschimpft und mitten in der Nacht auf die Straße geworfen.

Ein Jahr lang hatte sie sich dann herumgetrieben, hatte Jobs ge-sucht und war auf keinen grünen Zweig gekommen. Mit Männern einlassen mochte sie sich nicht. An Angeboten hatte es nicht ge-fehlt.

Dann war der Tag gekommen, da sie Gallinger mit ihrem Vater in einem Polizeiwagen hatte davonfahren sehen. Ein übler Kerl aus dem Viertel war aufgeschlitzt aus der Themse gefischt worden, und praktischerweise hatte noch das Messer in ihm gesteckt. Das Mes-ser ihres Vaters, wie sie hörte.

Aber im Yard hatten sie schnell heraus, daß die Fingerabdrücke auf dem Messer nicht von ihrem Vater stammten, sondern von ei-nem anderen Kerl, der kein Stück besser war als der Tote.

Und der alte Bacon hatte auch schon seit Wochen sein Messer ver-mißt und überall in den Kneipen danach herumgefragt.

Das hatte alles Mr. Gallinger herausgefunden. Eines schönen Ta-ges hatte er ihren Vater ins Viertel zurückgebracht. Wieder mit ei-nem Polizeiwagen, und er hatte gesagt, alles müßte seine Ordnung haben, und wo nun die Unschuld des alten Bacon erwiesen sei, sollte auch alle Welt sehen, daß die Polizei auch einen Irrtum einsä-he.

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Ihrem Vater hatte die Sache viel Sympathie eingebracht. Und auch Gallinger, von dem bis dahin eigentlich nur wenige aus dem Viertel eine gute Meinung hatten.

Bei der Abfahrt hatte Gallinger sie am Straßenrand entdeckt, hatte angehalten und freiweg gefragt, ob sie seine kranke Frau pflegen wolle und sich ums Haus kümmern möchte.

So war es gewesen. Die Erinnerung lief wie ein Film vor Dolly ab. Sie empfand keine

Freude. Ihr war es gleichgültig, wie alles gekommen war. Sie hatte Durst.

Ihre Wohnung war winzig. Aber für vier Pfund die Woche war keine königliche Bleibe zu erwarten. Mit gebrauchten Möbeln hatte sie die eineinhalb Räumchen ausstaffiert.

Brian machte hin und wieder blöde Witze über die Enge. Falls er niesen müßte, würde es die Möbel zum Fenster hinaushauen. Und tief einatmen dürfe man auch nicht, sonst hätte man ein Möbel-stück schon unter der Nase hängen.

Seine tiefere Absicht war, sie mit solchen Sticheleien dazu zu bringen, eine größere Wohnung zu mieten, in der er sich einnisten konnte. Das jedenfalls vermutete Dolly.

Jetzt war ihr auch das gleichgültig. Sie tappte zu ihrer Wohnung drei Stockwerke hinauf, schloß auf

und warf sich auf das kleine Sofa. Durst! Er brachte sie fast um. Sie biß in ihre Handwurzel. Aber da sickerte nicht ein Tropfen

heraus. Sie hob die Achseln. Sie verstand, daß sie eine andere war als die,

die am Morgen diese Wohnung verlassen hatte. Es berührte sie nicht.

Sie war eine Vampirin, hatte Durst und gehorchte Dracula. Noch keine Stunde war um, als Schritte die Treppe heraufpolter-

ten. Eine harte Hand pochte gegen die Tür. Dann wurde die knar-rende Klinke niedergedrückt, und in die Dunkelheit sagte Brian Hedges verwundert: »Wahnsinn, bist du unter die sparsamen Leu-

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te gegangen wie mein Alter? Der schiebt sogar die Brille auf den Kopf, wenn's nichts zu gucken gibt, damit er die Glaser nicht ab-nützt.« Er schaltete das Licht an.

Dolly rollte sich auf dem Sofa herum. Sie blieb liegen. Ihr Rock hatte sich verschoben und gab eine Menge von ihren langen Beinen frei.

Brian mißverstand die Situation gründlich, er fand sie jedoch vor-teilhaft. Statt Dolly mitzuschleppen und mit ihrem Geld eine Sause zu machen, tat er lieber das Naheliegende, zu dem ihn Dollys un-bürgerliche Haltung anregte.

»Komm, setz dich!« sagte Dolly auch noch ermunternd. Sie zeigte neben sich aufs Sofa.

Verwundert schaute Brian auf das Mädchen, dann auf die Tür. »Soll ich nicht besser abschließen? Falls jemand kommt«, sagte er

heiser und verstand die Welt nicht mehr. Seit er Dolly als ausgewachsenes Mädchen kannte, hatte sie giftig

reagiert, wenn er ihrer Haut zu nahe gekommen war. Hatte sie es sich nun anders überlegt, weil sie fürchtete, sitzenzubleiben und eine unbemannte alte Schachtel zu werden?

Oder war's einfach sein Charme? Er hatte keinen, aber er glaubte, ihn pfundweise zu besitzen. Er entschied sich dafür, weil's bequem war und ihm am meisten

gefiel. Eitel war er nämlich auch noch. Und wie es seine Art war, ging er gleich zur Sache und nestelte

seine Hose auf. Zwei Sekunden später hockte er neben Dolly und fuhr ihr mit der

Hand unter die Bluse. Wohlige Schauer rannen ihm über den Rücken, als er Dollys Hän-

de in seinem Nacken spürte und wie sie seinen Kopf hinunterzog. Sein Verstand, auf den er sich eine Menge einbildete, war restlos im Eimer.

Er stutzte nur, als er spürte, daß ihre Brüste eiskalt waren. »Sag mal, bist du krank? Da kriegt man ja 'ne Gänsehaut. Kalt wie

'n Eisblock!«

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Dolly zog ihn fester an sich, ihre Fingernägel gruben sich in seine Schultern und ließen ihn nicht mehr los.

Brian kam das seltsam vor. Nicht daß er was dagegen gehabt hät-te, aber alles so plötzlich auf einmal?

Ihr Gesicht war dicht unter ihm. Es war blaß, wächsern, fast durchsichtig. Dollys Augen blickten hart wie Glas. Ihre Lippen wa-ren seltsam welk und dürr.

Lieber Himmel, wo hatte er all die Zeit hingeguckt? So ein Ass war das Mädchen wahrhaftig nicht! Da gab's bessere im Viertel.

Er wollte sich befreien. In diesem Moment öffnete Dolly die Lippen. Ihre Zähne blitzten

im Lampenlicht. Irgendwie gefährlich. »Laß den Quatsch!« stieß Brian hervor. Verflogen war sein Liebes-

bedürfnis, sein Hormonpegel pendelte sich schlagartig wieder auf Normalwert ein.

Dolly dachte nicht daran, ihn loszulassen. Aus ihren Zahnreihen schoben sich plötzlich vier fast fingerlange scharfe Zähne hervor.

Bevor Brian das richtig begriff, schnellte Dollys Kopf in die Höhe, und mit einem – mörderischen Biß grub sie die Vampirzähne in sei-nen Hals.

Brian wollte schreien, auf Dolly einschlagen, sich befreien, irgend-wie von dem Mädchen loskommen, aber die Hände hielten ihn wie Stahlklammern fest, und außer einem Stöhnen kam kein Laut aus seinem Mund.

Sein Strampeln wurde lahm und langsamer. Schließlich lag er still.

Dolly löste sich von seinem Hals und stöhnte wohlig. »Kein Durst mehr«, murmelte sie. »Das ist gut. Ich will nie mehr

Durst haben müssen.« Sie sah jetzt aus wie das blühende Leben. Und Brian war leer und

ausgesaugt und bleich wie ein Leichentuch. Der Engel des Grauens hatte nach dem Willen von Dracula zuge-

schlagen. Dolly schob den für sie wertlos gewordenen Körper von sich her-

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unter. Der Tote fiel auf den Rücken. Sein Gesicht war im Augenblick des

größten Entsetzens erstarrt. Es bot ein grauenhaftes Bild. Die Vampirin machte es sich auf dem Sofa bequem. Wie Höllen-

feuer durchpulste es sie. Es prickelte und kribbelte überall und an-genehm.

Sie hob erst lauschend den Kopf, als wieder Schritte die Treppe hochpolterten.

Nach ein paar Sekunden war ihr klar, daß der Besuch ihr galt. Sie erhob sich und schob Brians blutleere Leiche unter das Sofa.

Da war sie gut aufgehoben. Sie hielt mit der Hand die Fransen an, damit sie nicht pendelten.

Die unverschlossen gebliebene Tür wurde ungestüm aufgerissen. Einer der Burschen, die stets in Brians Windschatten segelten und meist kräftig mittranken, wenn Dolly bezahlte, trat in den Rahmen.

Er grinste flüchtig. »Brian hier?« Dolly schüttelte den Kopf. »Den habe ich noch nicht gesehen.« »Er wollte aber zu dir«, beharrte der junge Bursche. »Ich habe ihn

auch ins Haus gehen sehen.« »Siehst du ihn?« antwortete Dolly mit einer Gegenfrage. »Oder

denkst du, ich hätte ihn unter dem Sofa versteckt?« Der Bursche lachte blechern. »Brian wäre auch gerade der Typ,

der sich unter dem Sofa verstecken läßt! Zum Teufel, wo ist er dann hingegangen? Verstehe ich echt nicht.«

Kopfschüttelnd ging er. Ohne Gruß wie schon beim Kommen. Er liebte es zwanglos. Und was ging ihn an, was die Leute unter An-stand verstanden? Alles kalter Tee!

Dolly legte sich wieder aufs Sofa und schloß die Augen. Ihre Zunge glitt immer wieder über die Lippen, die nun gar nicht

mehr welk und vertrocknet aussahen. Sie waren voll und verlockend wie immer. Der Engel des Grauens war ein schönes Geschöpf.

*

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Ich zog einen Bogen über den Paddington-Friedhof, weil ich die tö-richte Hoffnung hegte, die verschwundene Leiche aufzuspüren.

Natürlich brachte mein symbolischer Fischzug nichts ein. Außer, daß ich mich vor einer knienden Gestalt fürchterlich erschreckte und ihr fast den Krif auf den Kopf haute.

Im letzten Moment merkte ich, daß es eine Skulptur auf einem Grab war.

Ich tappte schließlich hinaus zu Hornblower und Jackson. Die zwei Polizisten guckten mich an, als sei ich aus einem Grab heraus-gekrochen. Genauso fühlte ich mich auch.

»Hatten Sie Ungelegenheiten?« erkundigte sich Hornblower und schielte auf meinen Krif.

Ich verstaute die Waffe in der Tragetasche an meinen Hosengürtel und kam mir wie eine Art modernes Känguruh vor. »So kann man es auch nennen. Rufen Sie Inspektor Fisher her. Es ist brandwich-tig.«

»Sir, welchen Fisher meinen Sie?« »Den vom Yard. Der eine Mordkommission leitet.« »Mordkommission?« machte Hornblower. Dann betrachtete er

mich noch einmal, und dann brummte er. »Aha, ich verstehe!« Ich fürchtete, er verstand gar nichts oder alles falsch. Aber das

war mir im Moment auch gleichgültig. Für das, was hier jetzt zu tun war, brauchte ich einen hartgesottenen Helfer. Das war Fisher, obwohl der mit dem Secret Service überhaupt nichts am Hut hat.

Er kennt meinen Chef und mich und sonst noch ein paar muntere Knaben vom Verein. Das ist alles. Beziehungen nennt man das.

Fisher hatte eine ganze Menge mehr auf dem Kasten, als beim Yard gefordert wird. Aus dem Grunde schon liebäugelte Sir Hora-tio mit dem Gedanken, Fisher beim Yard abzuwerben. Gewisser-maßen ist das eine Lieblingsidee von ihm geworden.

Kürzlich hatte ihm Fisher dann allerdings was gehustet und sich eindeutig gegen unseren Verein erklärt. Er wolle lieber beim Yard bleiben.

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Das war eine ehrliche Antwort auf ein ehrliches Angebot. Und so etwas wird bei uns respektiert, ohne daß wir jahrelangen Groll in der Seele hegen.

Was Fisher für mich so nützlich machte, war seine Erfahrung mit Hexenwerk und Spuk und allerlei finsteren Umtrieben der dunklen Mächte. Darum mußte ich ihn haben. Von allen Leuten, die ich ken-ne, versteht er am meisten von diesem Geschäft – die Hexe Miriam ausgenommen.

Aber Miriam war eine gute Hexe. Ich kannte niemand, dem sie schiefe Zähne oder einen Buckel oder einen Klumpfuß angehext hatte. Das muß ich mal zur Ehrenrettung von Miriam ausdrücklich sagen.

Für diesen Job auf Paddington mußte jedenfalls Fisher her. Der kippte mir nicht gleich aus dem Anzug, falls unvorhergesehen ein Skelett lustwandelte oder ein Untoter zwischen den Gräbern her-umkurvte. Was ich von Hornblower und Jackson nicht so ohne weiteres behaupten konnte.

Ich wußte ja nichts über die beiden. Schön, sie galten als gute und erfahrene Polizisten, auf der Wache hatte man mir das ausdrück-lich bestätigt.

Ich wußte aber nicht, wie sie reagierten, wenn ihnen plötzlich eine Leiche entgegenkam, die eigentlich tot und starr zu sein hatte. Wahrscheinlich handelten sie stinknormal – nämlich falsch. Baller-ten vielleicht mit der Taschenartillerie los und wunderten sich dann noch, daß sie mit der Bleispritze überhaupt nichts ausrichteten.

Hornblower hatte inzwischen das Autotelefon in Betrieb genom-men. Aus seinen ziemlich grimmigen Bemerkungen schloß ich, daß Fisher Feierabend hatte und der Telefondienst beim Yard wenig Neigung verspürte, den Mann zu Hause zu alarmieren.

Aber Hornblower bewies mehr Hartnäckigkeit als ein Mausefal-lenverkäufer auf dem Markt in Soho. Er ließ nicht locker und er-reichte endlich, daß er mit Fisher daheim verbunden wurde.

Er reichte mir das Telefon heraus. »Fisher, Sir.« Die knurrige Stimme des Inspektors meldete sich. »Dienstschluß

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hatte ich vor zwei Stunden. Ich dachte nicht, daß die Christenver-folgung bis in unsere Tage anhält. Also, was liegt an?«

»Übertreiben Sie Ihre Frömmigkeit nicht ein wenig, Fisher? Kin-sey spricht hier. Ich brauche Sie dringend.«

»Von Ihnen bin ich nichts anderes gewöhnt, Mac.« Er schnaufte wie eine alte Lokomotive. »Können Sie mir 'nen heißen Tip geben? Ich wußte gern, worum es geht.«

Er hatte mit mir ein böses Abenteuer auf dem Brompton-Friedhof bestanden. Das war noch gar nicht lange her, ich konnte vorausset-zen, daß er sich gut, wenn auch höchst ungern erinnerte. Da war es schon um Draculas grausige Zombie-Saat gegangen.

»Ich bin auf dem Paddington-Friedhof, ich hätte Sie gern dabei, Fisher.«

»Paddington-Friedhof?« knurrte er. »Friedhöfe scheinen Ihr be-vorzugter Aufenthaltsort zu sein. Warum nehmen Sie sich nicht gleich eine Wohnung da?«

»Der Tag wird kommen! Im Ernst, Fisher, unser ganz besonderer Freund hat wieder seine Souvenirs hinterlassen.«

Erst hörte ich gar nichts. Dann ein wildes Schnaufen. Und dann einen lästerlichen Fluch. Mit Fishers Christentum war es nicht weit her. Schließlich knurrte er: »Ich komme.«

Das schätzte ich so an ihm. Er machte nicht viele Worte. Er hatte ein Gefühl dafür, wann gehandelt werden mußte.

Daß ich ihn nicht zum Spaß aus seinem heimeligen Haus weg-lockte, konnte er sich obendrein denken.

»Sie finden uns vor dem Hauptportal in der Salusbury Road ge-genüber der Kirche«, präzisierte ich unseren Standort. »Zwei von Newmans Leuten haben hier die Aufsicht – Hornblower und Jack-son.«

Fisher sagte gar nichts mehr, er legte auf. Für mich war klar, daß er sich in Eilmärschen zum Paddington-

Friedhof bewegte. Dracula war für ihn so eine Art Zeitbombe, die unentwegt im Verborgenen tickt und von der man nicht weiß, wann und wo sie hochgeht.

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Ich reichte Hornblower das Telefon zurück. Er kroch aus dem Wagen und kratzte sich nachdenklich am Kinn.

»Es geht mich zwar direkt nichts an, Sir, aber ist etwas passiert dort drinnen, wozu die Mordkommission benötigt wird?«

»Noch nicht, Hornblower, noch nicht.« Damit konnte er nichts anfangen, er schaute mich einigermaßen

ratlos an. Ich klopfte Zigaretten aus der Packung und reichte sie herum.

Jackson spendierte dafür eine Runde Feuer. Die beiden Polizisten lauerten förmlich darauf, daß ich mit einer

grandiosen Enthüllung aufwartete. Weiß der Teufel, was sie von mir erwarteten und wofür sie mich hielten. Mittlerweile hatte ich auch bei der Stadtpolizei einen ziemlich unheimlichen Ruf. Dabei bin ich ganz normal gebaut.

Ich rauchte und schwieg. Das machte die Situation auch nicht ver-ständlicher.

Fisher war dreißig Minuten später da. Er guckte mich an, wobei seine Brauen ausdrucksstark in die Höhe gingen. »Wie sehen Sie denn aus?«

»Wie Winston Churchill nach der Schlacht von Waterloo«, gab ich zurück. Seltsam, daß die Leute sich plötzlich alle für mein Wohlbe-finden interessierten.

Fisher knurrte feindselig. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Churchill hatte nie was mit der Schlacht von Waterloo zu tun. Das ist unmöglich.«

»Sage ich doch. Genau so komme ich mir vor. Wir müssen da drin aufräumen.« Ich deutete auf den Friedhof. »Unser Freund hält nichts von Ordnung.«

Hornblower und Jackson fuhren die Ohren aus. Sie erhofften sich von mir weitere Hinweise, die ihnen endlich auf die Sprünge hal-fen. Den Gefallen tat ich ihnen nicht.

Fisher aber war sofort im Bilde. »Packen wir's an«, brummte er. Ich sah aber doch, wie unbehaglich ihm die Sache war. Ich bildete

mir sogar ein, zu sehen, wie sich seine Haare sträubten.

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»Ist unser Wachdienst hiermit aufgehoben?« fragte Hornblower, halb hoffnungsvoll und halb enttäuscht, weil ich so unergiebig war.

»Davon kann keine Rede sein«, ließ ich ihn wissen. »Sie machen Ihre Sache so vorzüglich, daß ich Ihnen und Jackson die weitere Be-obachtung besonders ans Herz lege. Auch für diese Nacht. Und ich schätze auch, daß wir Ihren Wagen benützen müssen.«

»Das ist ein Polizeifahrzeug«, meinte er belehrend. Ebensogut hätte er sagen können, daß ich den Wagen nicht fahren durfte. Das wollte ich auch gar nicht.

»Wir brauchen nur das Autotelefon«, beruhigte ich ihn. Daraus schloß er, daß der Abend und die Nacht noch nicht gelau-

fen waren. Ich hörte förmlich seine Gedanken hinter der Stirn ti-cken. Er stellte Vermutungen darüber an, was Fisher und ich aus-heckten.

Als ich ein wenig in seinen Gedankenströmen sondierte, fand ich meine Vermutung haargenau bestätigt.

Zugleich spürte ich eine gewisse Erleichterung darüber, daß ich nicht von ihm verlangte, direkt auf dem Friedhof oder in der Lei-chenhalle Posten zu beziehen. Die verschwundene Leiche setzte ihm arg zu, er machte sich deswegen eine Menge Sorgen.

Ich schob meine Tragetasche beiseite, weil sie mir beim Gehen dauernd gegen die Knie schlug. Fisher betrachtete mich eingehend. Möglich, daß ich ein wenig einen verrückten Anblick bot, aber dar-auf ließ ich es ankommen. Ich mußte die Hände frei haben. Ich wußte ja nicht, was mich noch erwartete.

Der Kampf gegen die Übermacht der Zombies im Büro des Fried-hofswärters hatte mir auf drastische Art gezeigt, daß man bei ei-nem Gegner wie Dracula jeden Augenblick mit einer neuen Heim-tücke rechnen mußte.

Und ich wollte mich nicht noch einmal überraschen lassen. Mit Fisher ging ich aufs Tor zu. Wir nahmen den Kiesweg zum

Leichenhaus. Der Yard-Inspektor musterte mich von der Seite und machte

dann eine unbestimmte Handbewegung auf die Umgebung. »Ist

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Ihnen hier auch schon mal beinahe was auf den Kopf gefallen?« Er spielte auf einen Zwischenfall auf dem Brompton-Friedhof an. »Was nicht ist, kann ja noch werden«, versuchte ich zu scherzen.

»Es ist aber auch ohne stürzende Grabmale genug passiert.« Ich berichtete ihm in weniger als zehn Sätzen, was sich abgespielt

hatte. Fisher pfiff fast anerkennend durch die Zähne. »Und da soll noch

einer behaupten, auf unseren Friedhöfen sei nichts los!« Er klappte den Mantelkragen hoch. »Sieben Zombies, und acht Särge«, fuhr er fort. »Haben Sie Spuren, der achten Leiche gefunden?«

»Noch nicht.« Er blieb stehen und steckte die Nase in die Nachtluft wie ein wit-

ternder Jagdhund. »Mit der Monsterfratze über dem Kopf kann die untote Frau nicht weit kommen. Wissen Sie, wer es ist?«

»Eben nicht, Fisher. Das ist ja mein Problem. Ich habe nicht ein-mal eine Ahnung, wer in welchen Sarg gehört.«

»Na, das wird ja eine feine Beschäftigung werden«, meinte er düs-ter. Wir betraten die Leichenhalle.

Auf meine Taschenlampe allein wollte ich mich nicht verlassen, darum schaute ich mich nach den Lichtschaltern um. Eine Minute später ließ ich das Gebäude im Lichterglanz aufstrahlen. Freundli-cher wurde es dadurch aber auch nicht. Die düstere Atmosphäre blieb, und aus jedem Winkel roch es nach Tod und Vergänglichkeit.

Ich führte Fisher zum Büro des Friedhofswärters. Er blieb in der Tür stehen und schaute mit Beklemmung auf das grausige Bild.

»Sehen Sie, Mac, das ist auch ein Grund, weshalb ich Friedhöfe nicht mag«, meinte er. »Man ist seines Lebens nicht sicher.«

Für seinen hintersinnigen schwarzen Humor hatte ich jetzt keine Verwendung, denn ich bemerkte einige Veränderungen. Nicht, daß sich die Leichen schon wieder verwandelt hätten, nein, aber die Monsterfratzen, die ich mit dem Krif zerschmettert hatte, waren nicht mehr da.

Mir wurde flau. Ich argwöhnte natürlich, daß sich Dracula oder Woods in der Nähe aufgehalten hatten und Zeuge meines verzwei-

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felten Kampfes geworden waren. Diese Vorstellung jagte mir nachträglich noch einen Schrecken

ein. Aber das sah den beiden ähnlich – erst mal abzuwarten, ob ihre

Saat des Verderbens auch richtig aufging. Diese hohe Erwartung hatte ich zunichte gemacht. Meine Sorgen erwiesen sich jedoch bei näherem Zusehen als un-

begründet. Fisher entdeckte zwischen den Leichen eine Substanz wie graue Asche. Ziemlich genau an den Stellen, an denen die Steinfratzentrümmer gelegen hatten.

Mir fiel hörbar ein dicker Stein von der Seele. Ich hatte nämlich meine düsteren Überlegungen weitergesponnen

und vermutet, daß Dracula oder Woods die Brocken eingesammelt hatten, um sie erneut als Zombie-Saat auszulegen. In Särgen völlig unschuldiger Toter.

Als Fisher tiefer in den Raum gehen wollte, hielt ich ihn zurück. »Kommen Sie mit den schwarzen Lachen besser nicht in Berüh-

rung«, warnte ich. »Das ist Zombie-Blut. Es könnte schlimme Fol-gen haben.«

»Verdammt, Sie haben eine Art, einem die Dinge beizubringen! Geben Sie mir eine Zigarette. Vor einer Woche habe ich es mir ab-gewöhnt, aber Sie schaffen es spielend, mich wieder zum Raucher zu machen. Sogar auf einem Friedhof.«

Ich spendierte ihm den Glimmstengel. Danach schauten wir uns im klimatisierten Aufbewahrungsraum

für die Leichen um. Fisher studierte die Liste und die Sargnum-mern.

»Selbst mit der Frau ist das so eine Sache«, meinte er dann sor-genvoll. »Welche Leiche liegt drüben und welche ist ausgerissen? Mac, da haben Sie mir ein böses Ding serviert!«

»Ich lege eben großen Wert auf Ihren geschätzten Rat, Fisher«, versicherte ich.

Argwöhnisch blickte er mich an. Ich zeigte ein unverfängliches Gesicht, so daß er den Verdacht fallenließ, ich könnte es auch iro-

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nisch gemeint haben. »Hilft wohl alles nichts«, sagte er seufzend, »wir müssen bis zum

Morgen warten und dann die Angehörigen, die zur Beisetzung kommen, mit der Identifizierung bemühen.«

»Ein vernünftiger Vorschlag«, lobte ich. »Aber wir legen die Lei-chen besser in die Särge. Umgebettet werden können sie dann im-mer noch. Den Angehörigen möchte ich den schlimmen Anblick er-sparen. Und zuerst muß ich überhaupt das Zombie-Blut entfernen.«

»Womit das Beschäftigungsprogramm für die Nacht ja gesichert wäre«, orakelte Fisher.

Ich widersprach ihm nicht. Ich beschaffte mir aus dem Geräteraum erst mal Handschuhe und

einen Spaten. Fisher bewaffnete sich mit einer Kelle und einem Ei-mer.

Dann fingen wir an. Das Zombie-Blut war noch zäher als Teer. Ich mußte regelrecht je-

den briefmarkengroßen Fleck abhobeln. Fisher hob das gelöste Blut unter Beachtung aller Sicherheitsvorschriften in den Eimer.

Es war schon weit nach Mitternacht, als wir mit diesem Teil der Arbeit fertig waren. Nicht ein Krümel des eingetrockneten Zombie-Blutes lag noch herum. Ein schöner Erfolg.

Dafür tat uns das Kreuz weh, daß wir fürchteten, wir wären mit-ten durchgebrochen.

Über einem Waschbecken schrubbten wir uns erst mal gründlich die Hände und gingen für eine Zigarettenlänge vor die Tür. Das schwarze getrocknete Blut verströmte nämlich einen eigenartigen Geruch, der sich uns nachhaltig auf die Lungen legte.

Fisher schaute über den nachtdunklen Friedhof hin. »Elf Monster-köpfe hatte Ihr ganz spezieller Freund Dracula übrig«, begann er vorzurechnen. »Wenn Ihre Aufstellung stimmt, Mac. Acht davon hat er hier verbraucht. Bleiben ihm drei.«

»Hoffentlich nur drei«, sagte ich fromm. »Aber selbst mit denen kann er die Hölle loslassen, wenn er will.«

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Fisher versuchte sich das vorzustellen, kam aber zu keinem be-friedigenden Ergebnis. Jedenfalls brummte er unwirsch: »In sol-chen Dingen sind Sie der Experte, Mac.«

Wir kehrten zurück und trugen die Leichen in den Raum, in den sie gehörten. Wir betteten sie in die Särge.

Einer blieb leer. . Ich schaute lange auf ihn. Wo war die Frau, die jetzt ein untotes

Dasein führte?

*

Für das, was jetzt zu tun war, konnte ich Fisher nicht gebrauchen. Ich durfte keinen Zeugen haben.

Ich faßte vorsichtig den Eimer und den Spaten und trug beides hinaus.

Fisher trabte hinter mir her. »Gegen einen schönen heißen Tee hätte ich nichts einzuwenden«,

sagte ich zu ihm. Er blickte irritiert. »Mann, haben Sie Einfälle! Wo soll ich jetzt hei-

ßen Tee herkriegen? Im Gegensatz zu Ihnen kann ich nicht hexen.« Da war wieder dieser böse Verdacht, ich sei ein Zauberer und He-

xenmeister. Dieses blödsinnige Gerücht hielt sich hartnäckig bei der Londoner Polizei und bei Scotland Yard und sogar in unserem Verein.

»Machen Sie sich keine falschen Vorstellungen, Fisher! Ich kann's auch nicht.«

Naja, so ganz stimmte es nicht. Und was ich gerade zu tun beab-sichtigte und wobei ich Fisher nicht als Zeugen und Zuschauer ge-brauchen konnte, hatte schon etwas mit Zauberei zu tun. In jedem Falle mit Magie. Ich mußte nämlich das Zombie-Blut vernichten.

»Sie können mir viel erzählen!« begehrte Fisher auf. Er rammte die Hände in die Manteltaschen.

»Hornblower hat ein schönes Autotelefon«, sagte ich. »Die nächs-te Wache ist nicht weit. Vielleicht sind die Jungens dort so nett und

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gießen uns einen Tee auf.« »Habe verstanden!« knurrte Fisher. »Sie wollen mich für eine

Weile loshaben.« Ich schwieg. Das war auch eine Antwort. Der Inspektor trottete davon. Ich wartete, bis ich das Eisentor

knarren hörte. Aber nicht, weil ich Fisher mißtraute, sondern ein-fach zu meiner eigenen Sicherheit.

Ich wollte nicht, daß sich der Zauber gegen mich richtete und ich bei lebendigem Leib verbrennen mußte. Das konnte mir nämlich blühen, wenn ich die Regeln nicht streng beachtete.

Ich suchte mir neben der Leichenhalle einen geeigneten Platz, stellte den Eimer auf den Boden und legte den Spaten, an dem möglicherweise Blutreste hafteten, mit dem Stahlblatt auf den Ei-mer.

Die brennende Taschenlampe deponierte ich ein paar Schritte ent-fernt, aber so, daß sie den Ort beleuchtete.

Mit einem Holzstück zog ich einen Kreis um den Eimer, weit ge-nug, daß ich mich darin noch bewegen konnte.

Das Holzstück warf ich über die linke Achsel weg. Mit Streichhölzern legte ich drei Kreuze auf dem Boden aus und

kniete mich innerhalb des Kreises hin. Ich konzentrierte mich und sprach die Vorbereitungsformel für

den Feuerzauber. Ein Raunen und Wispern umgab mich plötzlich. Ich ließ mich

nicht ablenken, auch nicht vom fernen Aufbrummen eines Auto-motors.

Dieses unheimliche Raunen kannte ich. Es waren die Äußerungen von Seelen Verstorbener, die sich durch den Feuerzauber beunru-higt fühlten.

Daß ich das Ritual auf einem Friedhof vollzog, spielte keine Rolle. Die Unwillensbekundungen kann man auch andernorts beobach-ten.

Ich zündete die kleinen ausgelegten Streichholzkreuze an. Als sie hell brannten, sprach ich den gewaltigen Feuerzauber.

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Die Flammen, die die Kreuze verzehrten, wuchsen an. Die gelbli-che Farbe verblaßte. Weiße Flammenzungen umspielten den Eimer.

Ein unheimliches Brodeln und Zischen drang aus dem Eimer. Schwarze Dämpfe quollen auf. Ein leichter Wind trieb sie mir ins Gesicht.

Der Gestank war im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Doch ich durfte nicht lockerlassen.

Die lodernden Flammen der kleinen Kreuze schlugen in den Ei-mer und entzündeten die Dämpfe. Die Hitze war gewaltig. Ich konnte jedoch nicht abrücken, ich durfte den Kreis nicht verlassen.

Rote Glut entstand im Eimer. Das Spatenblatt färbte sich in der Hitze. Da und dort sah ich tat-

sächlich Blutpartikel aufflammen. Der Vernichtungsprozeß währte nur wenige Minuten. Das düstere roten Glühen im Eimer erlosch, die Flammen meiner

drei kleinen Kreuze sanken zusammen. Es blieben nur winzige Aschenspuren.

Diese zerstörte ich mit gekreuzten Fingern. Dann erhob ich mich und löschte den Kreis aus. Nichts durfte üb-

rigbleiben. Ich gestattete mir eine Zigarette. In der Zeit hatte der Eimer Gele-

genheit, auszukühlen. Ich verspürte nicht den Wunsch, mir am Henkel die Hand zu verbrennen.

Nach fünf Minuten trug ich Eimer und Spaten in die Leichenhalle zurück, löschte die Lichter und schloß ab. Mehr konnte ich für den Augenblick nicht tun!

*

Als ich vor das Portal des Friedhofes ging, standen nur Fisher und Jackson da. Hornblower war mit dem Auto unterwegs. Die Aus-sichten auf heißen Tee standen günstig.

Ein paar Minuten später kehrte Hornblower zurück. Er brachte wirklich eine ganze Thermoskanne von dem belebenden Gebräu

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mit. Ich merkte sofort, daß eine eigenartige Stimmung herrschte, und

ich schloß daraus, daß Hornblower und Jackson den armen Fisher gelöchert hatten. Wie ich den Inspektor allerdings kannte, war er so auskunftsfreudig wie ein Karpfen gewesen.

Wir wärmten uns mit dem Tee Magen und Gemüt auf. »Dann könnte ich ja jetzt heimfahren und noch ein paar Stunden

an der Matratze horchen«, schlug Fisher vor. »Oder haben Sie an-dere Pläne?«

»Allerdings«, sagte ich. »Spuren.« Er war sofort im Bilde. Wir kehrten auf den Friedhof zurück. Unterwegs sagte der In-

spektor: »Falls sich meine Frau scheiden läßt, gebe ich Sie als Ursa-che an, Mac. Sie hat's nicht gern, wenn ich mich in meinen dienst-freien Nächten außer Haus herumtreibe.«

»Ich gebe Ihnen ein Entschuldigungsschreiben mit, wenn's hilft«, versprach ich.

Fisher schien wenig davon zu halten, denn er knurrte noch eine ganze Weile.

Wir begannen mit der Suche in der Nordecke des Friedhofes und kämmten alle Grabreihen durch. So allmählich ging es auf den Morgen. Für Fisher bestand nur noch wenig Aussicht, sein Bett von innen zu sehen.

Die Stadt erwachte. Wir konnten es hören. Ein feines Summen und Brummen war es zunächst nur, aber mit jeder Minute wurde es hektischer und lauter, bis es sich wie der Lärm aus einem Nest mit gereizten Hornissen anhörte.

Die Taghafte Helligkeit kam uns zustatten, denn die Batterien meiner Taschenlampe waren im Begriff, den Geist aufzugeben.

Fisher und ich setzten uns auf eine Bank, um dem Tag Gelegen-heit zu geben, uns etwas mehr Licht zukommen zu lassen. Unsere Schuhe waren aufgeweicht von der Nässe des Grases, die Füße feucht und kalt, und so ähnlich war auch unsere Stimmung be-schaffen.

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»Angenommen, wir finden sie nicht«, sagte Fisher, »was bleibt dann zu tun?«

»Weit kommt sie mit dem gräßlichen Monstergesicht nicht. Viel-leicht ist schon irgendwo Alarm geschlagen worden. Es sei denn, Dracula hat die Frau schon unter seiner Fittische genommen und zu seinem unbekannten Unterschlupf geführt.«

»Den Burschen soll der Teufel holen!« wünschte Fisher. »Warum bin ich nicht in einem anderen Jahrhundert geboren?«

»Hadern Sie nicht mit Ihrem Vater«, ermahnte ich ihn. »Der Mann hat sich etwas dabei gedacht, als er Sie in die Welt gesetzt hat. Ob Sie hundert Jahre früher oder später ins Erdenreich eingetreten wä-ren, würde überhaupt keinen Unterschied machen. Die Mächte der Finsternis, die Sendboten des Bösen sind zu allen Zeiten gegenwär-tig und leider immer sehr aktiv.«

»Kommt mir vor, als hätten immer sie die besseren Ideen.« »Sie sind von keinen Skrupeln geplagt, sie nützen die geringste

Chance, die sich ihnen bietet. Darum kommt es uns so vor, als hät-ten sie die besseren Ideen. Aber unsere sind auch nicht schlecht.«

»Haben Sie eine in bezug auf die Untote?« Er hatte eine peinliche Art, einen gleich aufs Wort festzunageln. »Leider nicht, Fisher. Machen wir weiter.« Wir grasten den Rest der Gräber und Wege ab. Ohne den gerings-

ten Erfolg. Fisher schaute auf die Armbanduhr. »Lohnt sich gar nicht mehr,

erst noch nach Hause zu fahren. Kommen Sie mit?« »Ich will noch die Mauer abgehen. Wenn die Untote schon nicht

ein Versteck auf dem Friedhof gefunden hat, muß sie irgendwo über die Mauer geklettert sein. Die Nebentore kann sie nicht be-nützt haben, die sind abgeschlossen.«

»Auch das Hauptportal?« »Davor hielt Jackson Wache. Er hat niemand im Totenhemd her-

auskommen sehen, das hätte er uns gesagt.« Fisher schloß sich mir wortlos an. Er drehte auch noch die Runde

entlang der Mauer mit.

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Wir hatten mehr als die Hälfte schon abgeschritten, als mein Blick auf etwas fiel, das mir ein Frösteln durch die Knochen jagte. Es lag recht unscheinbar im taunassen Gras. Aber bei mir schrillten sofort die Alarmklingeln.

Ich bückte mich. Fisher war sofort neben mir und fluchte verhalten. Verstreut entdeckten wir weitere Beweisstücke. Trümmer einer

steinernen Monsterfratze nämlich! Und das warf meine ganzen Berechnungen und hoffnungsvollen

Vermutungen über den Haufen. Ich war davon ausgegangen, daß die Untote mit der Monsterfrat-

ze unterwegs war und eventuell schon aufgefallen war oder bald auffiel. Wie es aussah, hatte sie aber noch hier auf dem Friedhof die unheimliche Steinmaske abgestreift oder absichtlich an der Mauer zerbrochen.

Fisher faßte die Pleite in Worte. »Jetzt sehen wir aber geküßt aus.« »Und wie!«, stimmte ich zu. Ich sammelte die Bruchstücke ein und fügte sie behelfsmäßig an-

einander. Sie ergaben eine komplette Monsterfratze. Ich überlegte fieberhaft, warum sie sich nicht aufgelöst hatte wie

jene drüben im Büro des Friedhofswärters. Von denen war kaum etwas übriggeblieben.

Es mußte mit dem Krif und mit den magischen Kräften zu tun ha-ben, die in ihm schlummerten.

Das konnte ich auf der Stelle nachprüfen. Ich hatte meine Aus-steuer dabei. Und außerdem durfte dieser Monsterkopf in keinem Fall noch einmal Dracula oder Woods in die Finger fallen. Jeder Steinschädel, den ich ihnen abjagte, war ein Gewinn für mich.

Ich holte den Krif aus der Tasche und legte die Waffe flach auf das grauenhafte Steingebilde.

Fisher guckte mächtig interessiert. »Müssen Sie nicht 'n Spruch oder so aufsagen?« erkundigte er sich. Seine Stimme klang ein we-nig strapaziert.

Vielleicht dachte er, ich müßte etwas Hokuspokus machen.

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Da war nicht erforderlich, und abgesehen davon wußte ich gar nicht, was ich mit dem Krif hätte zelebrieren sollen.

Der steinerne Monsterschädel zerbröselte nämlich vor unseren Augen. Es stieg kein Rauch auf, es dampfte nicht. Der Vorgang war eigentlich ziemlich ernüchternd. Aber ich konnte ermessen, welche ungeheueren Kräfte am Werk waren und den Schädel zerstörten.

Das war Magie in ihrer reinsten Form. Die Alten hatten sie beherrscht. Danach waren mehr oder weni-

ger nur noch Stümper an der Arbeit gewesen. Als der Auflösungsprozeß abgeschlossen war, haftete etwas

graue Substanz am feuchten Gras. Das gleiche Zeug, das wir Asche aussah und das Fisher frühen im Büro entdeckt hatte.

Ich fegte die spärlichen Reste mit dem Schuh auseinander und packte den Krif ein.

Aber gehobene Stimmung wollte nicht aufkommen. Die Untote war über alle Berge. Ich hatte nichts in der Hand, mit

was ich ihre Spur verfolgen konnte. Der eigentliche Sieger war Dracula. Denn eines seiner Geschöpfe

war entkommen. Mir war es nur ein schwacher Trost, daß ihm wenigstens nicht

der Monsterkopf in die Hände gefallen war. Den war er los. Für alle Zeit.

*

Vor dem Portal stießen wir auf eine kleine Versammlung, die hitzig debattierte.

Hornblower und Jackson mußten sich eine Menge anhören. Sie bewiesen Geduld und Ausdauer, und wie es aussah, hinderten sie die vier Männer, den Friedhof zu betreten.

Ich griff schlichtend ein und erfuhr, daß wir es mit dem Fried-hofswärter und drei Gehilfen zu tun hatten.

Ich murmelte meinen Namen und zog den Schlüssel fürs Leichen-haus aus der Tasche. Der Mann war ziemlich irritiert.

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Ich brachte ihm und seinen Leuten schonend bei, daß sich in der Nacht etwas in der Leichenhalle ereignet hatte, daß die Leichen nun durcheinander waren und daß ich auf seine Mithilfe zählte.

Er wurde sehr ungemütlich und wollte wissen, was mich das an-ginge und wie ich dazu käme, in seinem Leichenhaus herumzustö-bern und mit seinem Schlüssel in der Tasche herumzulaufen.

Wenn ich ihm auf die Nase band, daß ich beim Secret Service war, zerriß er sich den Mund. Und seine Helfer würden auch nicht schweigen.

Fisher griff rettend ein. Er zeigte seinen Dienstausweis. Daß ein leibhaftiger Inspektor von Scotland Yard sich um den

Friedhof kümmerte, gab der Sache natürlich besonderes Gewicht. Die Friedhofswärter waren in meine Aktion zwar eingeweiht,

ohne allerdings die wahre Absicht und den Hintergrund zu ken-nen. Die Aktion lief unter der Devise, daß irgend jemand eben Lei-chen verschwinden lassen würde.

Nur die Polizisten und die Leute vom Yard wußten ganz genau, worum es ging und worauf es mir ankam.

Fisher und ich gingen mit dem Friedhofswärter und seinen Leu-ten hinüber.

Ich hatte ein reines Gewissen, denn die nächtlichen Spuren waren ja entfernt.

Ich rückte die Liste heraus und fragte den Wärter, ob er uns aus der Klemme helfen könnte.

Er hatte gerade nicht seine guten fünf Minuten. »Die sind doch alle vertauscht!« pfiff er mich an. »Woher soll ich

wissen, wer in welchen Sarg nun gehört? Wir bekommen die Behäl-ter verschlossen.«

Behälter! So konnte man es natürlich auch sehen. »Außerdem fehlt eine Leiche!« Der Mann regte sich derart auf,

daß ich fürchtete, er würde gleich platzen. »Das ist uns ja mächtig peinlich, aber verlangen Sie nicht von mir,

daß ich Ihnen im Handumdrehen eine andere Leiche beschaffe, nur damit das Begräbnis stattfinden kann«, sagte ich.

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Das sah er ein. Er ließ Dampf ab. Ich entwickelte ihm meinen Plan, die Angehörigen hinzuzuzie-

hen. »Was bleibt uns denn auch anderes übrig?« murrte er. »Aber mit

den Leuten reden Sie, klar? Und auch mit den Geistlichen. – Mir ist manches schon passiert, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt.«

Das wollte ich ihm gerne glauben. Fisher entschloß sich, zu bleiben und mir zur Hand zu gehen. Zwei Stunden später kam ein Geistlicher. Ich weihte ihn soweit

ein, wie ich verantworten konnte. Dann traf die erste Trauergemeinde ein. Ich machte es so rücksichtsvoll wie möglich. Ihren lieben Verstor-

benen identifizierten die Angehörigen als den alten runzeligen Mann.

Er wurde in den richtigen Sarg umgebettet. Danach ging es Schlag auf Schlag. Fisher führte die Liste und hakte ab. Zwischendurch vertraute er

mir an, daß ihm der Magen bis auf die Knie hänge. »Nicht dran denken, Zähne zusammenbeißen«, raunte ich. »Schon, aber ich hätte halt gerne was dazwischen. Dann beißt es

sich gemütlicher«, brummte er. Rein zufällig hatten wir die tote Frau in den richtigen Sarg gebet-

tet. Das war die, die als Zombie mir fast den Arm gebrochen hätte. Und jetzt wußten wir wenigstens, wer als Untote unterwegs war.

Zu Lebzeiten hatte sie Beth Keeler geheißen. Ihre Familie gehörte den besseren Kreisen an. Ihr Mann war mehr

wütend als von Trauer betroffen und drohte uns Konsequenzen an. Jemand aus der Trauergruppe nahm ihn schließlich mit hartem Griff beiseite und verhinderte einen Skandal.

Der Vorfall war schon peinlich genug, er brauchte nicht noch mit einer Schlägerei gekrönt zu werden.

Auch der Geistliche war böse. Ich hatte den Eindruck, er sah Fis-her und mich als die Hauptschuldigen an.

Wir standen die Sache durch, so gut wir konnten.

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Ich versprach der Trauerfamilie, daß wir alles daransetzen wür-den, die Verstorbene aufzufinden und den pietätlosen Räuber zur Rechenschaft zu ziehen.

Der Vater der Verstorbenen fragte beklommen: »Könnte mögli-cherweise eine Erpressung versucht werden?«

»Dann informieren Sie umgehend Scotland Yard«, sagte ich. Fisher bedachte mich mit bitterbösen Blicken. Ich hatte ihm schon

genug eingebrockt. Als wir endlich allein waren, sagte er heftig: »Sie schrecken auch

vor nichts zurück! Bestärken den Mann noch in seiner Ansicht, da könnte eine Erpressung versucht werden. Sie sind ja nicht ganz dicht!«

»Hat's alles schon gegeben, und die Prominenz blieb nicht davon verschont«, erwiderte ich mit Engelsgeduld. »Vor Jahren wurde die Leiche von Charlie Chaplin in der Schweiz aus dem Grab geklaut und erst gegen eine unbekannte Summe zurückgegeben.«

Er blickte mich ziemlich perplex an. Die besseren Argumente hatte ich. Und Hauptsache war, daß wir diese Sache auf dem Friedhof erst

mal überstanden hatten. Ich trennte mich von Fisher. Er wollte zum Yard. Mich zog es

heimwärts. Ich mußte unbedingt ein Auge voll Schlaf haben.

*

Basil Gallinger sorgte sich den ganzen Tag um das Befinden seiner Frau. Das mit dem Totenvogel hielt er für übertrieben, aber an der Sache schien doch ein Fädchen Wahrheit zu sein. Aus den Fingern gesogen hatte sich Rebecca die Geschichte ja nicht. Das zertrampel-te Gras unter dem Fenster ließ sich nicht wegleugnen.

Besser, er sprach mit Dolly Bacon. Vielleicht hatte das Mädchen eine zusätzliche Beobachtung gemacht, die Licht in die ominöse Geschichte brachte.

Deshalb fuhr er heute früher nach Hause.

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Dolly war noch da. Sie bügelte oben wider Wäsche. Gallinger redete nicht lange um den Brei herum. »Gestern abend

habe ich meine Frau hinter der Vordertür liegend und in einer sehr beunruhigenden Verfassung vorgefunden, Dolly. Es ist ihr nichts weiter passiert, aber sie hat von einem Totenvogel gesprochen und daß Geräusche zu hören waren.« Dolly hob kaum den Kopf. »Mistress Gallinger hat mir heute morgen erzählt, was passiert ist.« Sie bügelte dabei weiter.

»Ja, haben Sie auch diese Geräusche gehört?« fragte Gallinger et-was ungeduldig. »Meine Frau sagte so etwas.«

Dolly dachte nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich habe nichts gehört.«

»Haben Sie den Nachtvogel gesehen, den meine Frau als Totenvo-gel bezeichnet? Hat Sie dazu etwas gesagt? Ich mache mir große Sorgen.«

Jetzt stellte Dolly das Bügeleisen hochkant beiseite. Sie schaute den Inspektor an. Ihre Augen blickten hart. Keine Regung war dar-in erkennbar. »Welchen Nachtvogel?« Gallinger nickte bekümmert. Fast hatte er es vermutet. Seiner Frau waren die Nerven durchge-gangen. Vielleicht bahnte sich die längst erwartete Krise an.

Es gab also keinen Nachtvogel. Keinen Totenvogel. Und auch kei-nen Vampir, der mit zusammengeklappten Flügeln und langen Zähnen ums Haus schlich und sich vor die Haustür stellte.

War das ein sicheres Zeichen dafür, daß Rebecca schwermütig wurde? Daß sie sich Dinge einbildete, die gar nicht wirklich waren?

Er war direkt froh, daß sich Kinsey noch nicht bei ihm gemeldet hatte. Gleich am Morgen hatte er versucht, ihn beim Secret Service zu erreichen, der Mann war aber nicht greifbar gewesen.

Eine schöne Blamage wäre das geworden. Gut, Woods war eine Ausnahme, den gab es. Aber warum hätte

ausgerechnet bei ihm hier draußen in Waltham ein Vampir erschei-nen sollen, der sich auch noch als angeblicher Totenvogel betätigte und über dem alten Friedhof hinter dem Haus herumflatterte?

Gallinger beschloß, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Falls Re-

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becca wieder davon anfing, wollte er ihr geduldig zuhören, aber keine eigene Meinung dazu äußern.

Eigenartig, wie plastisch und anschaulich sie ihm gestern abend ihr angebliches Erlebnis geschildert hatte. Suggestion war es, nichts anderes. Er war ihr beinahe erlegen.

Er ließ Dolly allein und ging hinunter ins Wohnzimmer. Rebecca hatte den Stuhl bereits wieder vor das Fenster gerollt und

schaute hinaus. Gallinger lag eine Bemerkung auf der Zunge. Er unterdrückte sie.

Wenn er jetzt mit einem Wort nur auf die angeblichen Vorgänge vom Vorabend einging, bestätigte er Rebecca nur. Sie hatte sich da in etwas verrannt.

Am hilfreichsten war sicher, wenn er die Sache überging. Sonst glaubte Rebecca noch wirklich an das, was sie in der Einbildung er-lebt hatte.

Ihr Sturz mit dem Rollstuhl mußte eine andere Ursache haben. Ein falsches Fahrmanöver vielleicht.

Seine Frau wandte den Kopf. »War es heute wieder schlimm?« Es geschah selten, daß sie Anteil an seiner Arbeit nahm. Früher

schon. Seit der Explosion nicht mehr. »Es ging«, sagte Gallinger. Er legte sich die Zeitung bereit und holte Tee aus der Küche. Da-

bei warf er durch das Küchenfenster einen Blick auf die Straße. Mr. Hoddle, der neugierige Nachbar von gegenüber, lag schon

wieder im Fenster, um ja nichts von den Vorgängen auf der Straße und in der Nachbarschaft zu verpassen.

Eben, dachte Gallinger, der Mann hätte nun wirklich eine seltsa-me Gestalt vor unserer Haustür entdeckt! Weiß der Himmel, was Rebecca mit ihrer Geschichte bezweckt? Vielleicht will sie auch ein-fach Interesse erwecken, will im Mittelpunkt stehen. Ich muß mich ihr wieder mehr widmen. Kann schon sein, daß ich sie vernachläs-sigt habe!

Er trug den Tee ins Wohnzimmer. Und er führte seine guten Vorsätze gleich aus. »Trinkst du eine

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Tasse mit?« fragte er freundlich. Rebecca nutzte diese Chance nicht. Sie schüttelte den Kopf und

blickte wieder hinaus, wo der Abend allmählich einzufallen be-gann.

Nach einer Weile kam Dolly herunter. »Ich habe das Abendessen vorbereitet«, sagte sie. »Haben Sie

noch einen Wunsch? Sonst gehe ich jetzt.« Basil Gallinger hatte das Mädchen anders in Erinnerung, freundli-

cher irgendwie und hilfsbereiter, mit einer Stimme voller Wärme. Jetzt redete sie kühl und geschäftsmäßig. Als sei ihr irgend etwas lästig.

Na ja, vielleicht hatte sie heute ihren schlechten Tag. Man konnte nicht jeden Tag gleich gestrickt sein.

»Wir kommen schon zurecht, Dolly, vielen Dank. Gehen Sie nur«, sagte Gallinger.

Dolly zog den leichten Mantel an und verließ grußlos das Haus. – Der Inspektor vermutete, daß es zwischen Rebecca und Dolly eine Reiberei gegeben hatte. Vielleicht sogar wegen der Sache gestern abend.

Er blieb jedoch konsequent und fragte nicht. Er setzte sich in seinen Sessel, klappte die Zeitung auf und ver-

suchte, auf andere Gedanken zu kommen. Kurze Zeit später war es so dunkel, daß er das Licht einschalten mußte.

»Bitte, laß das!« sagte Rebecca scharf. »Ich mag nicht im hellen Licht sitzen. Außerdem…« Sie schwieg und starrte wieder hinaus in den rasch hereinbrechenden Abend.

Der Teufel ritt Gallinger. »Was ist außerdem?« Er legte die Zei-tung zusammen.

»Ich kann ihn sonst nicht sehen.« Fast trotzig sagte Rebecca das. »Wen?« »Meinen Totenvogel.« Unheilvoll klangen diese zwei Worte aus

dem Mund seiner Frau. »Es wäre besser, du würdest nicht wieder davon anfangen«, sagte

Gallinger behutsam. »Sonst wird der verdammte Vogel noch zur fi-

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xen Idee.« Er erschrak. Aber es war zu spät. Er hatte es gesagt. Es war ihm

einfach so herausgerutscht. Er rechnete mit, einer heftigen Reaktion von Rebecca. Aber sie

blieb ganz still. Er sah nur, daß sie erschauerte, als hätte sie starkes Fieber.

Und nach einer ganzen Weile erst sagte seine Frau fast ein wenig triumphierend: »Und was ist das da draußen, Basil? Eine fixe Idee? Ich glaube nicht, daß Ideen Gestalt annehmen können und über dem alten Friedhof herumflattern.«

Mit einem Satz war Gallinger aus dem Sessel hoch. Und mit zwei-en stand er bei seiner Frau am Fenster.

Tatsächlich, über dem alten Gräberfeld segelte ein seltsamer Nachtvogel herum, wie er noch keinen gesehen hatte.

Das Tier zog seine Kreise, als suchte es etwas. Rebeccas Worte wurden wieder lebendig. Alles, was sie ihm ges-

tern abend geschildert hatte. Sollte sie doch keiner Einbildung erle-gen sein? Aber Dolly hatte doch gesagt, daß es keine Geräusche und keinen Nachtvogel gegeben hatte! Was stimmte denn nun?

Vielleicht war Dolly auch schon fort gewesen, als Rebecca das Tier gesehen hatte.

In der Ferne, schräg hinter den Türmen der Abtei, zwinkerte ein einsames Licht in der hereinbrechenden Dunkelheit.

Gallinger gab es einen Stich. Das war das uralte Talgarth-Haus auf dem Hügel, in dem kein

Mensch wohnte, seit er denken konnte. Zum Teufel, wieso brannte dort ein Licht?

Es gab ihm den zweiten Stich. Rebecca hatte davon gesprochen. Und im nächsten Augenblick quollen Basil Gallinger fast die Au-

gen aus dem Kopf, denn jetzt legte sich ein unheimliches Licht auf den alten Friedhof und die schiefen Leichensteine.

Genau, wie Rebecca es geschildert hatte. Die Grabsteine schimmerten wie im Mondlicht. Dabei war der

Himmel total bewölkt. Und dieser seltsame Nachtvogel dehnte sei-

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ne Kreise immer weiter aus und kam immer näher am Haus vorbei. Gallinger konnte sogar die Augen des Tieres erkennen. Erst dach-

te er, das helle Licht aus dem Wohnzimmer würde reflektiert. Dann entdeckte er, daß die Augen des Vogels aus eigener Kraft leuchte-ten. Unheimlich direkt, teuflisch, irgendwie dämonisch. Wie glü-hende Kohlen.

Genau so hatte Rebecca es beschrieben. Mit denselben Worten. Der Inspektor ächzte. Das unheimliche Tier draußen war keine Einbildung, nicht das

Ergebnis einer Nervenkrise. Er hatte Rebecca bitter unrecht getan. Gerade, als er das Wort an seine Frau richten wollte, verlöschte

der unwirkliche Schimmer draußen. Der uralte Friedhof sank in die Dunkelheit zurück. Im Talgarth-Haus zwinkerte kein Licht mehr. Der unheimliche Vogel schraubte sich mit gewaltigen Flügelschlag in den Nachthimmel hinauf und entschwand Gallingers Blicken.

Er stützte sich schwer auf die Rückenlehne des Rollstuhles. »So schlimm habe ich es mir nicht vorgestellt«, gestand er, und ein Frösteln zog ihm ins Gemüt.

Rebecca schaute aus brennenden Augen hinaus. »Siebenmal muß er kommen, dann ist es soweit. Es ist mein Totenvogel, ich weiß es.«

»Unsinn!« stieß Gallinger hervor. »Das ist Aberglaube. Irgendein Tier, das sich die Gegend als Revier gewählt hat.

Er redete wie gegen eine Mauer. Rebecca war seinen Worten un-zugänglich. »Heute war das fünfte Mal«, sagte sie mit leiser Stim-me. »Noch zwei Abende dann ist es soweit.«

*

Ein stummer Befehl ließ Dolly langsam gehen. Er dirigierte sie auch eine andere Straße als jene, die sie für gewöhnlich zur Bushaltestel-le nahm.

Die Gegend wurde einsamer. Die kleinen Häuser verbargen sich hinter Büschen und Bäumen. Nur da und dort schimmerte mattes

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Licht heraus. Dolly erschrak nicht mehr, als plötzlich die zwei häßlichen Nacht-

vögel auftauchten und mit kaltem Schwingenschlag über sie hin-strichen.

Ein paar Schritte voraus landeten die Tiere. Dolly blieb stehen und beobachtete gelangweilt die Verwandlung der Vögel in Men-schen. Die beiden Männer standen vor ihr.

Sie erkannte ihren Gebieter. Dracula krümmte den Finger. »Komm näher, mein Engel des

Grauens, laß dich anschauen!« Gehorsam schritt Dolly auf ihn zu. Sie war eine Vampirin, und

Dracula war der Fürst, dem sie bedingungslos gehorchte. Dracula betrachtete sie vergnügt und wandte sich an Woods.

»Sieht sie nicht fabelhaft aus? Du hast getrunken, Engel, nicht wahr? Du hast es getan?«

Dolly nickte. »Es war ganz leicht. Der Durst war so schlimm.« »Das ist unser Fluch«, sagte Dracula. »Wir werden immer Durst

haben, mal mehr, mal weniger. Jetzt haben wir Durst. Komm, wir zeigen dir den Weg. Wir wollen heute ein Opfer haben.«

Sie nahmen Dolly in die Mitte und kehrten in die Straße zurück, in der das Haus der Gallingers stand.

Ein kugeliger Busch bot etwas Deckung. Dort blieben die drei ste-hen.

Dracula zeigte auf das Haus gegenüber den Gallingers. Dort lehn-te ein Mann aus dem offenen Fenster. Im Zimmer brannte Licht.

»Den!« sagte der Fürst der Blutsauger. »Es ist Mister Hoddle.« Dolly sprach ohne jede Regung. »Ich weiß!« Dracula kicherte vergnügt. »Mein Engel, ist dir noch

nie aufgefallen, wie der Mann dich anblickt? Hast du noch nie seine schmutzigen Gedanken aufgefangen? Seit du hier arbeitest, über-legt er, wie er dich in sein Bett bekommt. Heute ist seine Nacht.«

Früher hätte Dolly ein solches Ansinnen mit einer Ohrfeige beant-wortet. Aber früher war sie auch noch keine Vampirin. Sie nickte, als sei es die selbstverständlichste Sache auf der Welt, zu einem fast

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wildfremden Mann ins Haus zu gehen und seine lüsternen Gedan-ken aufzustacheln.

»Lehne die Haustür nur an!« befahl Dracula. »Alles andere ist un-sere Sache. Geh jetzt, mein Engel!«

Dolly trat hinter dem Busch hervor und näherte sich mit einem ziemlich aufreizenden Gang dem Haus von Mr. Hoddle. Sie merkte an seiner Reaktion, daß sie sofort seine Aufmerksamkeit erregte, denn er fiel fast aus dem Fenster.

»Guten Abend, Mister Hoddle!« wünschte sie. Dem Mann verschlug es fast die Sprache. Mehr als zwei Jahre

lang hatte er das Hausmädchen der Gallingers mit Blicken fast auf-gefressen, doch die Kleine hatte ihn nie auch nur eines Blickes ge-würdigt. Und jetzt grüßte sie ihn! Und sie kam zurück! Dabei hatte er sie vor zehn Minuten doch fortgehen sehen!

Sollte es doch gezündet haben? War das Mädchen endlich auf ihn aufmerksam geworden?

Er entschied sich für die angenehmste aller Möglichkeiten. Klar, die Kleine hatte begriffen, daß bei ihm was zu holen war. Gegen ge-wisse kleine Gefälligkeiten natürlich. Was bekam sie bei den Gallin-gers denn schon? Der Mann verdiente beim Yard sicher nicht die Welt. Und die Frau kostete eine Menge Geld. Da ging allerhand für den Doktor und für Medikamente und sonst noch einiges drauf.

»Guten – guten Abend, Miß Dolly«, stotterte Hoddle. »Immer noch unterwegs?«

»Ich möchte Sie besuchen.« Hoddle glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Alle Wetter, die

Kleine ging aber ran! Die fackelte nicht lange! Ob sie mit zwanzig Pfund zufrieden war? Oder zehn Pfund, und zehn bekam sie noch mal, wenn sie wiederkam!

Mit Hoddles Verstand war es in diesem Augenblick nicht weit her. Er verschwand wie vom wilden Affen gebissen vom Fenster und tauchte in der Haustür auf. Sein schwitzendes Gesicht glänzte im Licht der Haustürbeleuchtung, als Dolly mit wiegenden Gang den kurzen Weg zum Haus nahm.

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»Nur herein, Miß Dolly«, sagte er heiser und versuchte, das er-wartungsvolle Zittern seiner Hände zu verbergen.

»Aber gern.« Dolly erinnerte sich des Befehls. Sie ließ Hoddle vorangehen und

schloß geräuschvoll die Haustür. Aber blitzschnell und geschickt drückte sie die Klinke und öffnete die Tür spaltbreit.

Hoddle merkte nichts. Der war mit den Gedanken schon woan-ders.

»Möchten Sie nicht ablegen?« Er half Dolly aus dem Mantel und ließ dabei genußvoll die Hände

über ihre Schultern gleiten. Sie sträubte sich nicht und zuckte auch nicht weg.

Das bestärkte ihn in seiner Meinung, sie sei kein Kind von Trau-rigkeit und mit einer ganz bestimmten Absicht hergekommen.

»Nett, daß Sie mich besuchen«, sagte er heiser. »Ich bewundere Sie schon lange.«

»Ich weiß.« Er grinste töricht. Das machte die Sache viel einfacher. Er ging voraus und bot ihr Platz in seinem Wohnraum an. Dabei

überlegte er, wie er es anstellte, daß er zum Ziel kam. Mit der Tür ins Haus fallen wollte er nicht. Das ging nicht. Am Ende lief sie ihm davon.

Dolly Bacon machte es ihm einfach. Sie lagerte sich recht male-risch auf seine abgewetzte Couch, daß ihm die Knopfaugen fast aus dem Gesicht sprangen.

Sein verstörtes Aussehen amüsierte das Mädchen. »Was ist? Bin ich so häßlich?« Dolly lachte gurrend.

Hoddle schwitzte noch viel mehr und bot ein ziemlich abstoßen-des Bild. Er faßte sich ein Herz und rückte Dolly näher. Sein Herz raste wie verrückt, in seinen Schläfen hämmerte das Blut, und in seinen Ohren war ein Rauschen wie von einem Wasserfall.

Deshalb hörte er auch nicht die schleichenden Schritte im Haus-flur.

Er begann an Dolly herumzutätscheln.

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Sie faßte ihn an den Oberarmen und zog ihn zu sich hinab, daß ihm schier die Sinne vergingen. Ihre roten Lippen lockten einla-dend, ihre Brust hob und senkte sich.

Den eiskalt-tödlichen Blick bemerkte Hoddle nicht. Er kam fast um den Verstand.

Bis er aus dem lockenden Mund des Mädchens lange Zähne her-vorwachsen sah.

Mit einem Schrei prallte er zurück. Er las gern Gruselmagazine und Schauergesichten, in den unheimlichen Geschichten kam es vor, daß ganz harmlos aussehenden Leuten plötzlich lange Zähne wuchsen. Mit denen bissen sie sich an anderen harmlosen Leuten fest und saugten ihnen das Blut aus.

Hoddle blieb fast das Herz stehen, als er sich an der Schulter noch weiter zurückgerissen fühlte. Aus hervorquellenden Augen stierte er auf zwei wildfremde Männer, die unhörbar in sein Haus einge-drungen waren. Sie standen hinter ihm, ihre Hände krallten sich in sein Fleisch.

Und die Gesichter! Die Burschen hatten auch so entsetzliche Zähne wie das Mäd-

chen. Hoddle riß weit den Mund auf, um sein Grauen hinauszuschrei-

en. Blitzschnell legte ihm einer der Männer die Hand auf den Mund

und erstickte den Schrei. Eiseskälte strömte in Hoddles Gesicht. Er stieß nach den Männern, wollte von der Couch rutschen.

Unbarmherzig hielten ihn die eisenharten Fäuste fest. Und dann spürte der Mann nur noch zwei ätzend scharfe Bisse

rechts und links am Hals. Zehn Minuten später verließen drei Gestalten ungesehen das

Haus. Das Licht brannte weiter und beleuchtete Hoddles welke blutlee-

re Leiche auf dem Fußboden.

*

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Ein heimliches Schaudern überlief Joan Masters, als sie die Frau kurz vor Geschäftsschluß den Laden betreten sah. Diese Augen wa-ren so kalt wie der Tod selber!

Sie hatte sie heute schon einmal gesehen. Am frühen Nachmittag. Draußen am Schaufenster.

Und in diesem Moment funkte es bei ihr. Das war die dreiste Diebin! Kurz nach der Mittagspause war ihr eine jüngere Frau in einer et-

was sonderbaren Aufmachung vor dem Geschäft aufgefallen. In ei-nem eigenwilligen weißen Hemd oder was immer es darstellte.

Sie hatte noch gedacht, daß es eine Schwester irgendeiner neuen Sekte war, ein wenig fernöstlich angehaucht.

Andererseits war Covent Garden eine Gegend von London, in der weit exotischer gewandete Leute herumliefen, ohne daß deswegen ein Volksauflauf stattfand. Hier konnte jeder nach seinem Ge-schmack selig werden. Darum hatte Joan die Kundin weiter be-dient, die sich exquisite Stücke aus Kathleen Burkes Kollektion zei-gen ließ.

Die Kundin hatte dann auch für vierhundert Pfund gekauft. Als sie die Boutique verließ, war die Frau im weißen langen Hemd ver-schwunden.

Fünf Minuten später kam die gute Kundin atemlos und außer sich zurückgehastet. Dem aufgeregten Wortschwall aus ihrem Mund war zunächst nur soviel zu entnehmen, daß ihr jemand auf der Straße, als sie gerade in ihren Wagen steigen wollte, die Plastik-tüte mit den Einkäufen entrissen hatte.

Dann aber fing sie sich soweit, daß sie eine brauchbare Beschrei-bung geben konnte. Eine Frau hatte ihr die teureren Textilien ge-raubt. Eine Frau in einem weißen Kleid, das ganz komisch aussah.

Kathleen, die Chefin, hatte sich sofort ans Telefon gehängt und die Wache vier Straßen weiter alarmiert. Zwei Bobbies waren mit der beraubten Kundin auch fast eine Stunde lang herumgefahren.

Die unverschämte Diebin war jedoch nicht wieder im Straßenbild

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aufgetaucht. Auch niemand, der eine Plastiktüte aus Kathleen Bur-kes Boutique trug. Die Diebin war wie vom Erdboden verschwun-den. Als hätte es sie nie gegeben.

Joans Beobachtung, daß sie die Diebin am Schaufenster gesehen hatte, half der Polizei auch nicht weiter. Klar war nur, daß die Die-bin ihr Opfer beim Einkauf offensichtlich scharf im Auge behalten hatte.

Und jetzt betrat diese Diebin den Laden. Es war die Höhe, denn sie trug die Kleidung, die sie frech auf der

Straße geraubt hatte. Joan erkannte die Teile sofort wieder. Kathleen Burke war schon nach hinten ins Büro gegangen, um die

Tagesabrechnung zu machen. Drei Verkäuferinnen drückten sich hinter einem Kleiderständer herum und zeigten wenig Neigung, die letzte Kundin noch zu bedienen.

Fieberhaft überlegte Joan, wie sie die Chefin verständigen konnte. Die Kolleginnen, diese dummen Hühner, merkten überhaupt

nichts. Die erkannten nicht mal, daß die vermeintliche Kundin Klei-dung trug, wie sie nur Kathleens Boutique führte.

Die Diebin kam mit steifem Gang näher, hatte den eiskalten Blick unverwandt auf Joan gerichtet. Ein fast hypnotischer Zwang ging von diesen Augen aus.

Joan löste sich nur mühsam aus dem eigenartigen Bann. »Cora, bedienen Sie die Kundin!« rief sie verhalten in die Ecke.

Cora, ein schwarzhaariger Teufel mit blitzenden Augen, empfand dieses Ansinnen fast als Belästigung. Sie schaute her, aber sie blieb, wo sie war.

Die Kundin mit dem durchdringenden Blick machte eine knappe Handbewegung. »Bemühen Sie Ihre Kollegin nicht, ich wünsche von Ihnen bedient zu werden. Ich interessiere mich für den schwar-zen Overall mit Pallettenstickerei. Meine Konfektionsgröße ist vierunddreißig.«

Joans Gedanken überschlugen sich. Wie kam sie bloß aus dieser Situation heraus? Erst mal hinhalten, sagte sie sich. Und geschäfts-mäßig fragte sie: »Kontinentale oder englische?«

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»Englische selbstverständlich. Bringen Sie mir den Overall in die Kabine.« Die Frau wandte sich ab und strebte der Umkleide zu.

Die Ladenbeleuchtung ließ ihre Haut wächsern und bleich, fast durchsichtig erscheinen. Joans Unbehagen nahm zu.

Kaum war die Frau hinter dem Vorhang verschwunden, huschte Joan ins rückwärtige Büro. Kathleen saß über die Abrechnung.

»Die Polizei, rasch!« flüsterte Joan. »Sie ist da. Ich erkenne sie wie-der. Sie ist es.«

»Wer ist da?« Verwundert blickte Kathleen auf. »Die Diebin vom Nachmittag.« Joan hatte rote Wangen vor Auf-

regung. »Ich halte sie hin, sie will anprobieren.« »Sind Sie auch ganz sicher?« fragte Kathleen skeptisch. Nichts

war blamabler, als wenn sie eine gute und unschuldige Kundin von der Polizei festnehmen ließ.

»Absolut sicher.« Kathleen griff zum Telefon. »Daß sie aber keinen Verdacht

schöpft!« »Ich werde sie in Sicherheit wiegen.« Joan huschte hinaus und

hängte den Overall vom Stativ, auf dem er verlockend drapiert war.

Aus der Kabine rief die Kundin drängend: »Wo bleiben Sie denn?«

Cora und ihre Kolleginnen grinsten schadendroh. »Sofort«, versicherte Joan und trat zur Kabine. Sie reichte den

Overall durch den Vorhang. »Können Sie mir mal helfen? Ich komme nicht aus dem Oberteil.« Joan erwehrte sich eines neuerlichen Schauders. Hinhalten, häm-

merte es in ihrem Kopf. Die Polizei wird gleich da sein! Sie schlüpfte hinter den Vorhang. Die Frau schien wirklich Probleme zu haben. Der Rückenreißver-

schluß klemmte. Joan faßte zu und zuckte zusammen. Von der blei-chen Haut der Frau ging eine entsetzliche Kälte aus. Und im Spie-gel trafen sich ihre Blicke.

Joan war es, als würde die Frau triumphierend lächeln. Spöttisch

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und höhnisch. »Geht es nicht?« erkundigte sich die Frau. »Ich habe es gleich«, versprach Joan. Sie hatte mit einem Schlag

unbeschreibliche Angst. Als käme mit Riesenschritten ein Verhäng-nis näher, dem sie nicht ausweichen konnte.

Sie zupfte am Reißverschluß. Unwillkürlich schaute sie wieder in den Spiegel. Wie unter einem Zwang.

Die Kundin hielt ein weißes Band zwischen den Fingern. Ein aus-gefranstes Band. Ein Streifen Stoff, den sie irgendwo abgerissen hatte.

Joan rätselte, wozu der Streifen gut sein sollte. Und dann plötzlich blieb ihr fast das Herz stehen. Die unheimli-

che Kundin atmete nicht! Sie lebte, aber sie kam ohne Atem aus. Gräßliche Bilder aus der Vergangenheit tauchten vor Joans innerem Auge auf. Solche Geschöpfe hatte sie schon einmal erlebt. Damals, als der fürchterliche Graf Dracula sie zu seiner Braut machen wollte und schon in die Katakomben hatte schaffen lassen. Zusammen mit Kathleen.

Mit einem leisen Schrei fuhr Joan herum und wollte aus der Kabi-ne flüchten.

Blitzschnell schlang die vermeintliche Kundin den Arm von hin-ten um ihren Hals und riß Joan zurück. Und mit der anderen Hand versuchte die Frau, der Verkäuferin den weißen Stoff streifen um den Hals zu schlingen. Ihr eigener Arm war ihr etwas im Weg. Joan konnte die Arme nach vorn werfen und die Finger in den Vorhang krallen. Mit einem Knacken brach die Stange herunter. Verstört wa-ren die drei Verkäuferinnen in der Ecke herumgefahren und schau-ten jetzt her.

Joan kämpfte verzweifelt. Sie wußte jetzt, wer die Frau war und warum sie diesen fürchterlichen Blick hatte. Sie war von Dracula geschickt! Sie war ein Geschöpf dieses grauenhaften Monsters! Dar-um brauchte sie nicht zu atmen! Darum war sie kalt wie der Tod!

Ein krächzender Schrei drang aus Joans Mund. Genau in dem Au-genblick, als Kathleen Burke aus dem Büro eintrat.

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Kathleen verkannte die Situation. Sie vermutete, daß Joan ver-suchte, die Diebin an der Flucht zu hindern, weil die den Braten trotz aller Vorsicht gerochen hatte.

Sie sprang herzu, um Joan beizustehen. Ein wüstes Handgemenge entstand in der engen Kabine. Joan keuchte verzweifelt, Kathleen atmete japsend, als sie merkte,

daß die Diebin über Bärenkräfte verfügte. Sie bekam einen Stoß an die Achsel, daß sie ein paar Schritte zurücktaumelte und in einen Kleiderständer fiel.

Sie befreite sich aus den Textilien, sprang auf und fauchte ihre Verkäuferinnen an: »Tun Sie doch was!«

Dann eilte sie wieder Joan zu Hilfe. Ihre Augen weiteten sich, als sie Joan auf den Knien liegen sah

und wie die Diebin ihr einen weißen Stoff streifen um den Hals band. Joan quollen die Augen hervor, sie wehrte sich nicht mehr. Als hätte sie keinen eigenen Willen.

Die Diebin lachte grauenhaft. »Jetzt gehört sie ihm!« schleuderte sie Kathleen triumphierend entgegen. »Sie ist ihm versprochen. Er bekommt immer, was ihm gehört. Früher oder später!«

Eine Verrückte, schoß es Kathleen durch den Sinn. Aber dann ent-sann sie sich des entsetzlichen gemeinsamen Erlebnisses im unterir-dischen Reich von Dracula.

Sollte diese Frau –? Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen. Dieser tödlich kalte Blick! Diese totenbleiche Haut! Die Frau war eine Abgesandte jenes Scheusals Dracula, gar keine

Frage. Kathleen hatte ihre Erfahrung mit dämonischen Geschöpfen

schon gemacht. Sie drehte nicht durch. Sie entsann sich, daß sie sich einmal mit einer Schere ein dämonisches Wesen gerade noch vom Leib gehalten hatte. Ihr Freund Mac hatte ihr später erklärt, daß es sich um einen Ghoul gehandelt hatte.

Mit der Schere hatte sie das Kreuzsymbol gebildet und dem Ghoul ins Gesicht gedrückt.

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Sie warf sich herum, ergriff eine Schere, klappte sie auf und hielt sie zum Kreuz. Damit drang sie auf das bleiche Teufelsgeschöpf ein.

Die Diebin stieß ein schrilles Kreischen aus und ließ Joan sofort los. Die Verkäuferin kippte auf den Boden.

Mit abwehrend erhobenen Armen wich die Diebin in die Kabine zurück. Der Anblick der gekreuzten Schere bereitete ihr Pein.

Kathleen sprang sie mit einem mutigen Satz an und berührte sie mit der Schere.

Wie ein Stromschlag fuhr es in ihre Hände. Die Diebin taumelte gegen den Kabinenspiegel, stieß sich ab,

schleuderte Kathleen beiseite und ergriff unter heulendem Geschrei die Flucht.

Fast ging noch die Scheibe in der Ladentür in Scherben. Das Entsetzen wollte Kathleen lähmen. Also doch! Die Frau war

ein dämonisches Geschöpf! Eines dieser unbegreiflichen und grau-samen Wesen, gegen die Mac immer wieder kämpfte! Geschöpfe der Finsternis nannte er sie. Ausgeburten der dunklen Mächte.

Stöhnend bewegte sich Joan am Boden. Ihr Blick war nicht klar. Geistesgegenwärtig bückte sich Kathleen und zerschnitt den

Stoffstreifen um Joans Hals. Ächzend faßte sich die Verkäuferin an die Kehle. Nach einer Wei-

le setzte sie sich auf. Ihr Blick kehrte aus einer unbestimmten Ferne zurück. Vom Grauen geschüttelt, begann sie zu schluchzen. Ihre Nerven machten nicht mehr mit.

»Ist ja gut«, sagte Kathleen mütterlich und zog sie behutsam vom Boden hoch. »Sie ist fort.«

»Ich – ich hatte keine Macht mehr über mich«, schluchzte Joan. »Sie hatte mich in ihrem Bann. Sie ist kein Mensch – o Gott!« Sie schlug die Hände vor das Gesicht.

»Das habe ich gemerkt.« Joan nickte entschlossen. »Sie redete so seltsame Sachen. Als sei sie von diesem schrecklichen Dracula ge-schickt. Ich rufe Mac an. Der weiß Rat.«

Sie hastete in ihr Büro.

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*�

Anhaltendes Klingeln riß mich aus tiefem Schlummer. Es dauerte, bis ich halbwegs klar war, um zu unterscheiden, daß

das Telefon läutete und nicht ein unverschämter Zeitgenosse den Daumen auf meiner Wohnungsklingel geparkt hatte.

Ächzend griff ich mir den Hörer. »Ja, zum Teufel?« Ich hörte die Stimme meiner Freundin Kathleen. Ziemlich aufge-

regt. Das machte mich schlagartig munter. »Mac, komm bitte ganz schnell her!« haspelte Kathleen los. »Es ist

etwas passiert. Mit Joan. Es hat mit Dracula zu tun.« »Schon wieder? Ich drehe dem Kerl den Hals um! Erzähle, Mäd-

chen!« »Eine Frau war hier, Mac. Es ist eine lange Geschichte. Jedenfalls

hat sie Joan fast behext. Sie hat ihr was um den Hals gebunden, ich hab's aber durchgeschnitten. Joan geht's schon wieder besser. Sie sagt, die Frau hätte nicht geatmet, und ihre Haut sei totenbleich und eiskalt gewesen.«

Eine Untote! Bei mir zündete es. Sollte das Beth Keeler gewesen sein, die aus dem Leichenhaus vom Paddington-Friedhof ausge-kniffen war? Möglich war alles.

»Sie hat seltsam gesprochen«, fuhr Kathleen hastig fort. »Joan ge-höre ihm. Sie sei ihm versprochen. Er bekäme früher oder später immer, was ihm zustehe. Ich denke, sie meinte Dracula. Du weißt doch, daß dieses widerliche Scheusal Joan zu seiner Braut machen wollte.«

Und ob ich das wußte! Ich schwang schon die Beine aus dem Bett. »Bleibt, wo ihr seid!«

sagte ich. »Ich habe zwar eine ganze Nacht und einen halben Tag auf einem Friedhof in wenig angenehmer Gesellschaft verbracht, aber ich komme.«

»Soll ich Joan besonders schützen?« »Wo ist diese andere Frau jetzt?«

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»Fortgelaufen, Mac. Ich habe eine Schere zu einem Kreuz aufge-klappt. Davor hatte sie entsetzliche Angst. Mein Gott, wie sie ge-schrien hat!«

»Lege die Schere nicht aus der Hand, bis ich da bin!« Ich warf den Hörer auf die Gabel und kleidete mich in Rekordzeit an. Zum Ra-sieren reichte es nicht. Ich besaß mittlerweile einen sehenswerten Stachelbart.

Wer mich so nicht mochte, hatte auch was gegen mich, wenn ich rasiert war. Im Übrigen war es mir egal. Ich legte wenig Wert auf die Meinung der Leute.

Ich schnappte meine Tasche, sauste aus der Wohnung, die Treppe hinab und jumpte in meinen MG vor der Tür. Die Nacht war her-eingebrochen.

Nach Covent Garden brauchte ich jetzt schätzungsweise eine Stunde. Ich geriet in den Feierabendverkehr.

Auf der Fahrt dachte ich über Dracula nach. Sah ganz so aus, als würde mein Erzfeind eine neue Offensive starten. Daß seine Mons-terköpfe, die er als Zombie-Saat in die Särge in der Leichenhalle ge-legt hatte, etwas zu bedeuten hatten, war mir längst klar.

Der Bursche griff an mehreren Fronten an. Mit einer Kaltschnäu-zigkeit, die mir Angst machte.

Nicht nur, daß er wieder Gefolgschaft zu sammeln suchte, er hat-te auch noch den Nerv, angebliche alte Forderungen einzutreiben. Auf Joan Masters hatte er ja schon vor einiger Zeit Ansprüche erho-ben. Auch wenn das eine ziemlich einseitige Angelegenheit war und er das Mädchen gar nicht erst gefragt hatte.

Aber so war er nun mal! Ein rücksichtsloser und furchtbarer Pa-tron. Ein Kerl, der ausgetilgt gehörte!

Ich war in der richtigen Stimmung, als ich in Covent Garden ein-traf.

Kathleen und Joan hatten sich in der Boutique verschanzt. Außer ihnen war niemand mehr da.

Ich ließ mir erst mal von Kathleen berichten, wie sie den Vorfall erlebt hatte. Dann hörte ich Joan zu. Ich spürte, daß sie Vertrauen

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zu mir hatte. Ich hatte sie schon einmal aus den Klauen Draculas und seiner Meute gerettet.

Sie zitterte weniger, als sie sprechen konnte. Ich war ihr ein aufmerksamer Zuhörer. Als sie das seltsame weiße

Gewand erwähnte, das ihr wie ein exotisches Hemd vorgekommen war, wußte ich endgültig Bescheid.

Beth Keller, die Untote vom Paddington-Friedhof, war hier gewe-sen! Sie erledigte Botendienste für den Fürsten der Blutsauger und arbeitete als Menschenfänger für ihn.

Ich war überzeugt, daß Joan der Untoten willenlos gefolgt wäre, wenn Kathleen nicht den Stoffetzen um ihren Hals zerschnitten hätte.

Ich ließ mir den Fetzen zeigen. Er konnte durchaus von einem To-tenhemd stammen. Ich verbrannte ihn sofort im Aschenbecher, ohne daß ich eine Auffälligkeit bemerkte, daß die Untote mit völlig normaler Stimme gesprochen hatte, war eine neue und wertvolle Erfahrung für mich. Bisher hatte ich Untote nur greinen hören. Die-se Totenstimmen sind das Abscheulichste, was man sich denken kann.

Eine Ausnahme war Woods. Der redete auch normal. Aber der war Untoter und Vampir. Gewissermaßen erfüllte er eine Doppel-funktion. Vielleicht lag darin der Unterschied.

Mir kam es vor, als würde Dracula seine Vasallen immer besser ausstatten und mit immer neuen Fähigkeiten versehen, bevor er sie auf die Menschen hetzte.

Der Kerl wurde zu einer ungeheuren Gefahr. »Ihr bleibt hier, ich sehe mich draußen mal um, vielleicht ist sie

noch in der Nähe. So schnell wird sie nicht aufgeben«, sagte ich. Besser, ich schenkte den Mädchen gleich klaren Wein ein. »Dracula erwartet von seiner Gefolgschaft, daß sie seine Befehle ausführt und Erfolg hat.«

Ich verließ den Laden und stöberte erst mal in der Nachbarschaft herum. Dann klemmte ich mich in den MG und klapperte die um-liegenden Straßen ab. Kathleen hatte mir genau beschrieben, was

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die Frau angehabt hatte. In der Nacht sind alle Katzen grau. Ich entdeckte die Frau nicht

und kehrte unverrichteter Dinge zur Boutique zurück. Als ich aus-stieg, kamen gerade zwei Polizisten aus dem Geschäft. Sie entfern-ten sich zu Fuß.

»Was wollten die denn?« fragte ich Kathleen. »Ich hatte die Wache angerufen, als Joan glaubte, die Diebin sei

zurückgekommen. In der Aufregung hatte ich dann vergessen, die Polizisten abzubestellen. Ich konnte ihnen doch nicht sagen, daß es zwar die Diebin war, aber zugleich auch ein dämonisches Ge-schöpf. Die hätten mich für verrückt erklärt.«

»Mit Sicherheit.« Ich überlegte, wo Joan am besten aufgehoben war. So lange jedenfalls, bis ich Beth Keeler gefunden hatte. Eine verwegene Idee formte sich in meinem Kopf. Warum sollte ich die Untote eigentlich nicht in eine Falle locken?

»Ihr kommt vorläufig mit zu mir«, sagte ich. »Dort schlaft ihr, und tagsüber seid ihr hier im Geschäft. Vielleicht findet die Untote Joans Spur und kommt zu meiner Wohnung. Dort könnte ich sie packen, ohne daß es unliebsames Aufsehen gibt.«

»Was ist sie?« Joan schaute mich entsetzt an. »Eine Untote. Eine neue Ausgabe sozusagen.« Kathleen überlegte. »Dein Vorschlag ist nicht schlecht. Aber wir

sind nicht darauf eingerichtet, bei dir zu übernachten.« Das war wieder ein typisch weiblicher Einwand. »Zwei Schränke

voller Klamotten, aber nichts anzuziehen«, sagte ich und machte eine Handbewegung auf die Textilien in der Runde. »Himmel, ihr werdet doch unter all dem Zeug was finden, oder?«

Sie packten ein paar Kleinigkeiten zusammen, während ich eine Zigarette rauchte. Die Einquartierung, die ich mir da aufhalste, brachte ein paar Probleme mit sich. Mein Kühlschrank enthielt nicht genug Vorräte, um drei Mägen satt zu machen.

Besser, ich ging unterwegs mit den Mädchen was essen. Und ließ mir gleich auch was Handfestes fürs Frühstück einpacken.

Joan und Kathleen konnten wieder in mein Schlafzimmer ziehen,

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während ich mein keusches Lager auf der Couch aufschlug. So hat-ten wir es schon einmal gemacht, und es hatte reibungslos ge-klappt.

Die Mädchen waren endlich fertig. Den dünnen Plastiktaschen nach zu urteilen, hatten sie nicht viel

eingepackt. Beide brachte ich sie nicht in meinem MG unter. »Bist du mit deiner Prachtkarosse da?« erkundigte ich mich bei

Kathleen. Sie fährt einen Rolls-Royce, eins von den bescheidenen Wägelchen, das die Kleinigkeit von rund fünfzigtausend Pfund kostet.

»Warum?« »Weil ihr vorausfahrt und ich an euerer Stoßstange klebe«, sagte

ich. »Wir essen bei Curtis.« Das war das Lieblingsrestaurant von Kathleen und mir. Ich ging mit den Mädchen auf den Parkplatz hinüber und unter-

suchte Kathleens Rolls innen und außen. Die Untote hatte sich nicht in dem Schlitten verkrochen. Schwarzmagische Zeichen ver-mochte ich auch nicht zu entdecken.

Ich war schon dankbar dafür. Bei einem Gegner wie Dracula lernte man Bescheidenheit empfin-

den.

*

Basil Gallinger erwachte mit trockenem Mund. Mitten in der Nacht. Er ging in die Küche hinunter an den Kühlschrank. Sein Blick fiel

durchs Fenster auf das Haus gegenüber. Bei Mr. Hoddle brannte immer noch Licht, obschon es zwei Uhr

früh war. Sogar über der Haustür. Gallinger hob die Achseln, löschte seinen Durst und legte sich

wieder zu Bett. Besorgt lauschte er zu Rebecca hinüber. Aber sie war nicht wach geworden, sie atmete regelmäßig und schlief.

Diesen Unsinn mit dem Totenvogel muß ich ihr ausreden, aber

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um die unheimliche Sache soll sich Kinsey ruhig kümmern, dachte Gallinger. Wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie sich das geisterhafte Licht auf die Leichensteine und den Friedhof legte, hätte ich geglaubt, daß es um Rebeccas Nerven wirklich schlimm bestellt ist!

Er lauschte noch eine Weile zum Fenster hin. Der Wind, der über den Friedhof heranblies, zischelte leise um die Ecken des Hauses. Gallinger schlief wieder ein.

Als er in der Frühe das Haus verließ, brannte bei Hoddle immer noch das Licht.

Jetzt war Gallingers berufliches Interesse gefordert. Er überquerte die Straße, statt zur Garage zu gehen.

Seltsam, dachte er, der Mann hat nicht mal richtig sein Wohnzim-merfenster geschlossen!

Gallinger kam sich zwar etwas komisch vor, aber er spähte in das Wohnzimmer hinein und hoffte, daß ihn niemand dabei beobachte-te.

Ein leibhaftiger Inspektor vom Yard, der seinen Nachbarn in die Fenster guckte! Die Leute von Waltham würden sich das Maul zer-reißen.

Er zuckte zusammen, als er Hoddle unbeweglich vor einer abge-schabten Couch liegen sah. Der Mann sah ja unheimlich bleich aus!

Gallinger hastete zur Haustür. Die war natürlich zu. Er jagte zum Fenster zurück, drückte es vollends hoch und

schwang sich über die Fensterbank ins Haus. Sein scharfer Blick wanderte umher. War ja möglich, daß Hoddle

überfallen worden war. Mit solchen Dingen hatte er täglich zu tun. Es herrschte keinerlei Unordnung. Ein gewalttätiger Raub schied

aus. Besorgt beugte er sich über Hoddle. Der Mann atmete nicht. Gallinger faßte nach dem Puls. Aus. Da kam jede Hilfe zu spät.

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Hoddle schien einen Herzanfall erlitten zu haben. Er war daran gestorben. Er hatte niemand um sich gehabt, der Hilfe hätte holen können.

Schon wollte sich Gallinger aufrichten, als sein Blick auf einem ei-genartigen Bißmal am Hals des Toten haften blieb. Vier Löcher. Es war noch Blut ausgetreten. Die Tropfen waren hart und trocken.

Irritiert beugte er sich noch mal nieder und untersuchte den Toten genauer.

Hoddle hatte auf der anderen Halsseite auch noch so ein merk-würdiges Bißmal.

Gallinger lief es kalt über den Rücken. Da sah ja gerade so aus, als ob –!

Genau so stellte er sich Bißspuren von einem Vampir vor. Seine Gedanken überschlugen sich, er stellte Kombinationen an

und Verbindungen her! Einen entsetzlichen Augenblick lang er-starrte er.

Der Totenvogel! Vielleicht hatte der etwas damit zu tun. Nur hatte der geisterhafte

Besuch des Totenvogels nicht Rebecca gegolten, sondern Hoddle! Er strich sich über die Augen. Dann erhob er sich, kletterte durchs Fenster hinaus und kehrte in

sein Haus zurück, statt zur Garage zu gehen. Ordnung mußte sein. Und ein Toter war ein Fall für die Polizei.

Er rief den Yard an und bestellte die Leute seiner Mordkommission her.

*

Ich lag in einem Sarg, jemand knallte den Deckel drauf und schlug Nägel ein, daß mir die Ohren zu platzen drohten.

Verzweifelt stemmte ich mich gegen den Deckel. Die Arme brach-te ich ja hoch, aber die Knie wollten nicht. Ich versuchte es noch einmal – und da plumpste ich von der Couch auf den Boden und kriegte mit, daß ich bloß miserabel geträumt hatte.

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Das kam davon, daß ich ständigen Umgang auf Friedhöfen hatte. Oder träumte ich immer noch? Das peinigende Hämmern hielt nämlich an. Ich guckte verwirrt.

Bis ich begriff, daß jemand versuchte, meine Wohnungstür einzu-schlagen. Und jetzt schrillte auch die Klingel, daß meine Nerven gleich richtig gereizt wurden.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Acht. Draußen war's hell. Wir hatten verpennt.

Aus Richtung Schlafzimmer hörte ich einen Laut, der Erschrecken ausdrückte. Ich kümmerte mich nicht weiter darum. Klar, bei dem Höllenlärm waren die Mädchen wach geworden.

Ich riß die Wohnungstür auf und wurde förmlich überrannt. Da-bei wollte ich dem Störenfried den Marsch blasen. Mit Dudelsack und Pfeifen, wenn er s so haben wollte.

Es waren gleich zwei Störenfriede. Inspektor Fisher und Inspektor Gallinger.

Nachdem sie mich fast plattgewalzt hatten, ging mir erst auf, daß sie aussahen, als kämen sie geradewegs aus der Hölle oder einem ähnlich angenehmen Ort.

Ich schmetterte mehr verblüfft als wütend die Tür zu und trabte hinter ihnen her. Aber sie blieben nach fünf Schritten schon stehen wie angewurzelt und stierten in Richtung meines Schlafzimmers.

O verdammt, die Tür stand weit auf! Und drinnen auf meinem doppelschläfrigen Bett knieten ver-

schreckt und von dem Lärm aufgestört Kathleen und Joan. Kathleen hatte ein süßes Nichts von schwarzem Shorty an. Joan

trug dasselbe Modell in Weiß. Alles was recht ist, es sah schnuckelig und ziemlich einladend

aus. Aber mir war's mächtig peinlich. Ich spürte, wie mir sogar das

Blut ins Gesicht stieg. Fisher wandte sich um und grinste düster und wissend. »Ein trauriger Knabe sind Sie ja nicht, Mac! Black and White,

was?« Sein Daumen zeigte zum Schlafzimmer. »Ich dachte immer,

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das gibt's nur hochprozentig in Flaschen. Aber die Sorte wäre mir auch recht.«

Kathleen und Joan tauchten endlich hinter das hochgerissene Deckbett. Jetzt wußte ich wenigstens, was sie gestern abend im Ge-schäft so wichtig einzupacken gehabt hatten. Wegen der luftigen Nachtfummel hätten sie sich aber nicht so lange aufzuhalten brau-chen.

Ich sprintete los und zog die Tür zu. »Denken Sie nur nichts Falsches, Fisher«, sagte ich ergrimmt und

wies auf die Couch, wo sich mein Lager befand. »Bevor Sie mich für einen Ausbund von Verdorbenheit halten – bei mir wird ge-trennt geschlafen.«

Ich ärgerte mich auch noch über seinen blöden Scherz. Black and White! Der Mann hatte vielleicht Ideen!

Er hörte mir überhaupt nicht zu. »Bei dem Geschäft bleiben leicht zwei Schwiegermütter an Ihnen hängen, Mac!«

»Ich nehme nur Waisenkinder auf!« erwiderte ich giftig. Er schaute sich im Zimmer um. »Aha, und das ist das Asyl für ob-

dachlose Waisenmädchen!« »Und um das zu besichtigen, treten Sie fast meine Tür ein?«

knurrte ich. »Mann, da drinnen sind meine Freundin Kathleen und ihre Verkäuferin Joan Masters. Ich habe ihnen Obdach gewährt, weil nämlich unsere untote Beth Keeler gestern abend im Geschäft meiner Freundin aufgekreuzt ist und um ein Haar Joan Masters für Dracula einkassiert hätte. Geht das in Ihre Inspektorenbirne hinein?«

Ich sprang nicht gerade sanft mit ihm um. Sein anhaltendes Grinsen zerbarst und wich ehrlicher Betroffen-

heit. »Machen Sie keine schlechten Witze am frühen Morgen, Mac!« »Die sind mir längst vergangen«, maulte ich. »Beth Keller ist

wirklich in der Stadt unterwegs. Ihr Totenhemd hat sie gegen erst-klassige Garderobe vertauscht. Mittels Straßenraub.«

»Und Dracula?« »Der hockt irgendwo wie die fette Spinne im Netz. Seine Genera-

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loffensive scheint anzulaufen. Der Gedanke ist mir jedenfalls ge-kommen.«

»Hm!« Fisher kratzte sich am Kinn. »Klingt aber nicht gut. Zum Teufel, jetzt wird es aber eng.«

»Wobei?« »Sie werden wahrscheinlich an Beth Keeler dranbleiben wollen.

Damit sie nicht an Ihre Joan Masters rankommt. Wir brauchen Sie aber auch für einen mysteriösen Mordfall. Ihr Chef hat schon sei-nen Segen dazu gegeben.«

»Ein großzügiger Mensch«, versetzte ich bissig. »Wie mysteriös ist Ihr Mordfall?«

»Gallinger bearbeitet ihn, nicht ich. – Bitte, Basil!« »Setzen Sie sich erst mal«, forderte ich auf. »Der Stehempfang fin-

det erst am Nachmittag statt.« Fisher klemmte sich auf einen Stuhl, Gallinger versank in einem

meiner heimtückischen Sessel, aus denen man kaum wieder hoch-kommt, und ich pflanzte mich inmitten meiner Kissen auf die Couch.

Ich hatte mit Gallinger schon zu tun gehabt. Damals, als er im Mordfall der italienischen Fürstin Renate de Angelis den verflosse-nen Liebhaber der Frau, einen gewissen Raimondo Galdos, als Tä-ter am Wickel gehabt hatte. Ich hatte Galdos herausgepaukt. Denn der Bösewicht, der der Fürstin das Lebenslicht ausgepustet hatte, war er nicht gewesen. Sondern Nekrotius, der schwarze Mönch. Der hatte die Frau auf dem Gewissen.

Ich war damals offiziell mit dem Fall betraut worden, nachdem sich immer mehr Ungereimtheiten offenbart hatten und die ganze üble Sache mehr zum Spuk geriet als zu einem einwandfreien Mordfall.

Ich hatte ihn gelöst. Allerdings war ich dabei fast auf der Strecke geblieben.

Basil Gallinger rückte an seiner Krawatte herum. Schließlich be-gann er zu sprechen.

Erst dachte ich, er holt aber mächtig weit aus, am Ende kriegt er

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die Kurve nicht, denn er erzählte von seiner Frau Rebecca. Ich wuß-te bisher gar nicht, daß er verheiratet war.

Als er aber von einem Totenvogel sprach, merkte ich auf. Auf dem Ohr hörte ich verteufelt gut.

Daß seine Frau meinte, die abendlichen Besuche des unheimli-chen Vogels würden ihr gelten, brauchte nichts zu bedeuten.

Daß aber auch er gestern Abend dieses geisterhafte Lieht auf Grabsteinen und einem Friedhof hinter seinem Haus gesehen hatte, alarmierte mich. Ich kannte ihn als durchaus ernsthaften Mann, der jede Übertreibung haßte.

Aus gewissen Worten hörte ich heraus, daß er seine Frau sehr liebte und sich ihretwegen eine Menge Sorgen machte.

»Ich komme heute Abend raus zu Ihnen, Gallinger«, versprach ich. »Ich schaue mir den unruhigen Flattergeist mal an. Und wo ist der Mord?«

»Das scheint alles zusammenzugehören«, sagte er düster. »Ein Komplex gewissermaßen, Kinsey. Mein Hausmädchen hat zwar be-hauptet, es hätte den seltsamen Vogel nicht gesehen, aber ich habe ihn gesehen. Und meine Frau ja auch.«

Bei der Erwähnung seines Hausmädchens gingen meine Brauen leicht in die Höhe. Beim Yard wurden sie ja auch nicht gerade fürstlich bezahlt. Allerhand, daß er sich ein Hausmädchen halten konnte. Vielleicht hatte er reich geheiratet oder dick geerbt. Ich gönnte es ihm.

Mir war, als wollte Fisher mir etwas sagen. Er blinzelte in auffälli-ger Weise, hielt aber den Mund.

Ich hörte wieder Gallinger zu. Jetzt wurde es spannend. Er hatte vor knapp zwei Stunden seinen Nachbar Hoddle tot vorgefunden, weil er wegen der brennenden Hausbeleuchtung in dessen Wohn-zimmer geschaut hatte.

»Ich hielt die eigenartigen Wunden am Hals gleich für Vampir-bißmale«, sagte er. »Und unser Polizeiarzt hat das indirekt bestä-tigt, weil ihm eine bessere Erklärung auch nicht eingefallen ist. Die körperliche Untersuchung, eine vorläufige natürlich, hat das bestä-

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tigt. Hoddle war bis auf den letzten Tropfen Blut leergesaugt. Ich bin überzeugt, der Nachtvogel war der Vampir. Meine Frau hat ja gesehen, daß er sich verwandeln kann. In einen richtigen Men-schen.«

Mir zog es langsam den Magen zusammen. Ich kannte nur einen, der imstande war, sich je nach Wunsch in eine Fledermaus, einen Vogel oder einen Menschen zu verwandeln. Mein Erzfeind Dracu-la! Fisher schien meine Gedanken lesen zu können. Er nickte näm-lich und sagte: »Ich schätze, wir denken dasselbe, Mac!«

»Ja«, sagte ich wild, »er ist selber in Erscheinung getreten. Er pumpt sich voll Blut, er sammelt Kraft, er hat etwas vor! Meine Nase! Er greift an! An vielen Ecken gleichzeitig. Wundert mich, daß wir von Woods noch nichts gehört haben.«

»Darauf verzichte ich gerne!« sagte Fisher. Ich überdachte das, was Gallinger geschildert hatte. »Könnte sein,

daß Dracula irgendwo in Ihrer Nähe sein Quartier aufgeschlagen hat. Der Kerl findet immer eine Zuflucht. Ich komme schon am Nachmittag hinaus. Werden Sie dasein?«

»Drei Uhr?« schlug er vor. »Abgemacht.« Ich brachte die beiden zur Tür.

Fisher kam von der Mitte des Flures zurück und sagte leise: »Als Basil von seinem Hausmädchen sprach, wurden Sie unruhig, Mac.« Er lächelte. »Ich hab's wohl gemerkt. Seine Frau ist schwer körper-behindert, sie braucht ständig eine Hilfe um sich herum. Basil gibt viel Geld dafür aus. Vor drei Jahren ist eine Autobombe explodiert, die ihm gegolten hat. Seine Frau ist aber zuerst in den Wagen ge-stiegen. Die Beine, verstehen Sie? Sie hat keine mehr.«

»Das tut mir leid«, sagte ich betroffen. »Wenn Basil nicht seinen Hausengel hätte, müßte er den Dienst quittieren oder seine Frau in eine Pflegeanstalt geben. Ich sage Ihnen das, damit Sie die Situation draußen im Waltham besser verstehen.«

»Geben Sie mir überhaupt mal die Anschrift und Gallingers Tele-fonnummer.«

Er schrieb mir alles auf und ging hinter Gallinger her. Der war

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schon im Treppenhaus. Seine Schritte verhallten. Ich schloß die Tür. Nachdenklich blieb ich stehen. Dracula in Waltham? Warum nicht. Vielleicht auch Beth Keeler,

die Untote. Es war eine Chance. Ich konnte Kathleen und Joan ja nicht bis in alle Ewigkeit beherbergen.

Himmel, die Mädchen! Ich sauste zur Tür. »Aufstehen, ihr Hübschen! Jede hat zehn Mi-

nuten für das Bad. Andernfalls nehme ich euch so mit, wie ihr seid.«

»Sind sie weg?« rief Kathleen. »Was wollten die Männer?« »Mal nachsehen, was ein Mann vom Secret Service so in seiner

Freizeit treibt. Ich kriege den ersten Preis.« »Als was?« »Als Lustmolch. Hör mal, zwei Mädchen im Bett, wenn das nichts

ist!« »Du Schuft!« Kathleen pfefferte ein Kissen drinnen gegen die Tür.

*

Ich brachte einen dicken Strauß Rosen für Rebecca Gallinger mit und tat im übrigen, als sei ihr Rollstuhl gar nicht vorhanden.

Das erwähnte Hausmädchen stellte die Blumen in eine Vase und deponierte das Gebinde gefällig auf einem Sideboard.

Gallinger konnte nur wenige Minuten vor mir angekommen sein. Er hatte noch eine Serviette in der Hand, als er aus der Küche kam.

»Essen Sie fertig, ich habe Zeit.« »Schon fertig. Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Gegend.« Er zog

die Jacke über. Wir gingen in den Garten hinter seinem Haus. Jen-seits des Zaunes lag ein alter Friedhof mit schiefen Leichensteinen.

»Die Türme da drüben, das ist die Abtei«, erklärte Gallinger. »In den Gebäuden ist ein Altenheim untergebracht. Und das verkom-mene Haus dort hinten auf dem Hügel ist das Talgarth-Haus. Dort habe ich das Licht zwinkern sehen.«

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Auf zwinkernde Lichter fiel ich immer wieder herein. Wie droben in Bardon Mill, als im Wald von Wark kürzlich auch ein Licht ge-zwinkert hatte.

»Verkommene Häuser interessieren mich immer«, sagte ich. »Wem gehört es?«

»Keine Ahnung, Kinsey. Niemand wahrscheinlich.« Er führte mich auf die Vorderseite seines kleinen Hauses und

wies auf das Haus gegenüber. »Dort lebte Hoddle.« Ich hörte, daß jemand ein Staubtuch ausschüttelte, und wandte

mich um. Gallingers Hausmädchen wedelte aus einem der oberen Fenster wirklich mit einem Lappen heraus. Mir kam es vor, als hät-te die Kleine gelauscht.

Warum auch nicht? An ihrer Stelle wäre ich auch neugierig gewesen. »Dann sehe ich mich etwas in der Gegend um«, sagte ich zu Gal-

linger und holte meine Tasche mit meinen Utensilien aus dem MG. Ich suchte zwischen den Häusern nach einer Passage zum Fried-

hof. Schon drei Ecken weiter hatte ich Glück. Eine Friedhofsmauer hatte es mal gegeben. Teile davon lagen im

braunen langen Gras. Was fehlte, hatten die Leute vielleicht zum Bau ihrer Häuser verwendet.

Ich betrat den Friedhof und spannte alle meine Sinne an. Ich hoff-te darauf, daß mir meine ›Gabe‹ fremde Strömungen verständlich machte. Besonders gut sprach sie an, wenn ich in die Nähe von Kreisen des Bösen geriet.

Meine ›Gabe‹ schwieg jedoch, ich empfing keine Signale. Nach gut einer Stunde hatte ich den alten Totenacker abgeklap-

pert und pirschte mich an die Gebäude der Abtei heran. Auch hier hatte ich keinen Erfolg. Da blieb nur noch das Talgarth-Haus. Ich betrachtete es lange. Verkommen war es ja wirklich. Aber es

strömte nichts aus, es hatte keine Atmosphäre. Es war irgendwie taub.

Dabei wußte ich, daß gerade alte Häuser eine gewisse Atmosphä-

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re besitzen. Einmal neugierig geworden, stieg ich auf den Hügel jenseits des

Friedhofes. Immer noch nichts. Aus der Nähe sah ich, daß alle Fenster noch intakt waren. Das

war schon eine Seltenheit, denn normalerweise wird so ein Bau-werk ausgeschlachtet.

In der Ferne sah ich Hallen. Eine Fabrik. Ich peilte den Winkel und kam zu dem Ergebnis, daß sich durch-

aus auch eine Lampe dieser Fabrik in einem der Fenster gespielt haben konnte und Gallinger und seiner Frau ein zwinkerndes Licht in diesem Haus vorgetäuscht hatte.

Die Richtung kam hin. Ich sah die Rückseite vom Haus der Gal-lingers und den Inspektor, wie er gerade seine Frau im Rollstuhl aus der Hintertür in den kleinen Garten schob.

Ich wandte mich um und betrat das Talgarth-Haus. In den Räumen hatte sich einiges angesammelt. Vor allem aber

wohnten ganze Heerscharen von Spinnen da. Sie kamen mir beson-ders fett und widerlich vor. Dabei mag ich die Tiere eigentlich.

Ich durchforschte das Haus lange und gründlich. Ich stöberte in sämtlichen Kellerwinkeln herum. Ohne Ergebnis. Das sah mir nicht nach Draculas Zuflucht aus.

Und wenn, dann hätte er ja wohl dasein müssen. Irgendwann mußte er sich ja ausruhen. Auch Woods. Ich schätzte, daß ihnen das Tageslicht ganz höllisch zusetzte.

Tödlich war es nicht mehr für sie, diese bestürzende Erkenntnis hatte ich gewonnen. Aber es kostete die zwei ungeheuer viel Kraft und Energie, dem Tageslicht standzuhalten.

Diese Kraft holten sie sich wieder. In Form von Menschenblut. Ich kehrte dem Talgarth-Haus den Rücken und machte mir so

meine Gedanken. Wenn Dracula hier in der Gegend keinen Unter-schlupf hatte, was bedeutete es dann, daß er sich den Nachbarn von Gallinger als Opfer auserkoren hatte?

War das der Beginn einer Kampagne gegen Gallinger? Und über-

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haupt Woods Idee? Wollten die zwei Gallinger soweit treiben, daß er sich auf ihre Sei-

te schlug? Oder daß er unvorsichtig wurde und sie ihn packen konnten?

Zwei Inspektoren vom Yard in den Reihen von Dracula – dieser grimmige Scherz konnte auch nur dem Fürsten der Blutsauger ein-fallen. Aber ähnlich sah ihm das schon.

Ich war bereit, mein nächstes Gehalt darauf zu wetten, daß es Woods Idee gewesen war, sich ausgerechnet Gallinger vorzuneh-men. Sie waren einmal Kollegen gewesen. Sie kannten sich, klar.

Daß Rebecca Gallinger die Hauptleidtragende dabei war, küm-merte die zwei Erzhalunken überhaupt nicht. Wie auch? Sie waren bar aller menschlichen Gefühle.

Auf nichts und niemand nahmen sie Rücksicht. Ich kehrte zum Haus der Gallingers zurück und nahm mit ihnen

den Tee. »Sie bleiben doch noch?« fragte mich die Frau. Ihre Stimme

schwankte, sie hatte Angst. Ihr Mann hatte sie eingeweiht, sie wuß-te, warum ich hier war, das verstand ich schon, und sie erwartete von mir irgendein Wunder.

»Selbstverständlich«, versprach ich. Später nahm ich Gallinger beiseite. »Ich habe nichts gefunden,

aber ich habe den Verdacht, dieses Treiben könnte Ihnen gelten. Bitte, ich habe keine Beweise dafür, ich verlasse mich auf mein Ge-fühl, und geirrt habe ich mich auch schon. Aber welchen Sinn könnten die Vorgänge sonst haben? Sie kannten Woods näher?«

»Oh, daher weht der Wind!« machte Gallinger. »Sehr gut kannte ich ihn. Sie meinen, er steckt dahinter?«

»Das weiß ich erst, wenn ich ihn packen kann. Sie müssen sich schützen. Und Ihre Frau. Haben Sie ein Kruzifix im Haus?«

Er schaute mich verwundert an. »Nein.« »Knoblauch?« »Auch nicht. Warum?« »Das brauchen Sie aber. Knoblauch ist gut gegen Vampire. Gibt es

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ein Geschäft in der Gegend?« »Vorne in der Straße. Der Laden von Pomeroy.« »Gut, ich hole Ihnen da Knoblauch. Sie legen das Zeug im Haus

aus. Für alle Fälle. Und Sie tragen ständig eine Zehe in der Tasche. Für Ihre Frau empfehle ich das auch.«

Ich machte mich auf den Weg. Zu Fuß, weil das gesund ist. Es ging auf den Abend zu inzwischen. Der Laden war noch von der gemütlichen Art, wo die Schuhwich-

se neben der Ölfische stand. Es roch nach Gewürzen und Obst. Mr. Pomeroy war ein vitaler alter Knabe mit vergnügt funkelnden Au-gen und einem Mundwerk, das ging wie eine Klappermühle, Ich mußte den Mann bremsen, sonst hätte er mir seinen gesamten Vor-rat an Knoblauch aufgewogen. Er wollte wissen, ob ich in der Ge-gend zugezogen sei.

»Das nicht«, sagte ich lächelnd, »aber die Gegend könnte mir ge-fallen. Die Luft ist besser als in London drinnen.«

»Das will ich wohl meinen. Sehen Sie mich an!« Er stellte sich in Positur. »Ich bin siebzig und reiße noch Bäume aus. Ich habe nie in London drinnen gelebt. Das beweist es.« Der Schalk blitzte aus sei-nen Augen.

Daß es einen Todesfall in der Straße gegeben hatte, verschwieg er mir. Todesfälle waren nicht gut fürs Geschäft.

Inzwischen war es dunkel geworden. Ich kehrte zum Haus der Gallingers zurück. Unterwegs begegnete mir das Hausmädchen. Ich erkannte es erst

gar nicht, es trug einen leichten Mantel. Plötzlich stand es vor mir. Und es schaute irgendwie bestürzt auf meine Papiertüte mit den Knoblauchzehen.

Dann hastete es davon, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Ich ging kopfschüttelnd weiter. Es wurde Zeit, daß ich mich bei

den Gallingers einfand. Wenn heute wieder das spukhafte Lichter-eignis auf dem Friedhof stattfand, wollte ich ihm beiwohnen. Und auf den Totenvogel war ich auch gespannt.

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*�

Dolly Bacon wandte zweimal den Kopf zurück. Aber der Gast der Gallingers ging weiter.

Ihr Blick wurde, böse. Aus der Papiertüte war ein Geruch gestie-gen, der ihr Angst machte.

Sie hastete weiter. Zwischen zwei Straßenlaternen tauchten die beiden Vögel wieder auf und vollzogen die Umwandlung, Dolly trat mit ihnen in den nachtschwarzen Schatten eines Baumes.

»Er hat dich erschreckt, nicht wahr?« kicherte Dracula. »Kinsey heißt er, auf den haben wir es abgesehen.«

»Er hat schon fast angebissen«, sagte Woods eifrig. »Das wird eine Abrechnung!« Seine Augen begannen haßvoll zu glühen.

»Fast!« sagte Dracula. »Du sagst es. Wir sind noch nicht kräftig genug. Er besitzt starke Waffen, und er ist geschickt. Diesmal müs-sen wir ihn besiegen. Mein Engel, komm, wir zeigen dir ein neues Opfer. Wir müssen viel Kraft besitzen, wenn wir ihn zum Kampf stellen.«

Zu dritt schritten sie dem Geschäft von Pomeroy zu. Dolly empfing ihre Befehle. Sie betrat allein den Laden. »Oh, Miß Dolly?« staunte der alte Mann. »Bringen Sie die Bestel-

lung für morgen?« »Auch, Mister Pomeroy. Aber ich wollte Ihnen etwas zeigen. In

Ihrem Hof ist etwas, ich habe Geräusche gehört.« Der alte Mann kam hinter dem Ladentisch hervor. »Sicher wieder

die Lümmels. Die mausen mir das Obst. Na ja, das haben wir frü-her ja auch gemacht.«

Dolly folgte ihm hinaus. Sie wies in die dunkle Einfahrt. »Da habe ich es gehört. Ganz deutlich, Mister Pomeroy.«

Der Alte machte zwei zögernde Schritte. Er hörte nichts. Dolly gab ihm einen gewaltigen Stoß in den Rücken. Der alte

Mann flog in die Dunkelheit. Sein verzweifelter Aufschrei brach schlagartig ab.

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Dann hörte Dolly nur noch ein zufriedenes Knurren und ein gieri-ges Schmatzen.

*

»Jetzt kommt er bestimmt«, sagte Rebecca Gallinger. Wir hatten uns hinter dem Fenster im dunklen Wohnzimmer ver-

sammelt. Ich starrte mir fast die Augen aus dem Kopf. Ich sah keinen eigen-

artigen Vogel am Nachthimmel. Die Zeit tropfte dahin. Der Vogel schien heute mächtige Verspätung zu haben. Ich behielt auch das Talgarth-Haus im Auge. Da zwinkerte kein

Licht. Die spukhafte Helligkeit auf dem Friedhof fand auch nicht statt. Ich wollte ja nicht unhöflich sein, aber nach zwei Stunden räus-

perte ich mich dezent. »Ich verstehe es nicht«, sagte Mrs. Gallinger verwundert. »Wieso

kommt er nicht?« »Sei froh. Das ist doch gut, jetzt weißt du, daß es nicht dir gegol-

ten hat.« Gallinger schob ihren Rollstuhl vom Fenster weg. »Aber dem armen Mister Hoddle, das willst du doch sagen?« »Nicht direkt«, sagte Gallinger ausweichend. Er knipste das Licht

an. Für mich gab es nichts zu tun. Ich verabschiedete mich geziemend und nahm Gallinger das Ver-

sprechen ab, mich sofort anzurufen, wenn sich etwas ereignen soll-te, das ihm nicht geheuer war.

Auf dem Heimweg passierte ich den Laden des alten Pomeroy. Er hatte noch Licht im Geschäft brennen, der alte Knabe war noch voll beschäftigt.

Eine Stunde später war ich daheim. Kathleen und Joan waren schon da. Sie waren heute unbelästigt

geblieben, aber ich sagte ihnen, daß ich dem Frieden nicht traute

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und daß sie bis auf weiteres bei mir nächtigen sollten. Mit oder ohne Black and White, mir sei es egal.

»Also doch Lustmolch.« sagte Kathleen und verpaßte mir einen Ellbogenstoß in die Rippen.

*

»Ich hoffte schon, Sie seien in Pension gegangen«, empfing mich Barbara Hicks, die Sekretärin meines Chefs. »Weil man Sie nicht mehr zu sehen bekommt.«

»Bestellen Sie Dankgottesdienst und Freudenfeuerwerk wieder ab, ich bin noch im Amt«, sagte ich und wies auf die Tür von Sir Horatio.

Dann sah ich, daß seine Morgenzeitungen noch bei Barbara lagen. »Seine Magenbeschwerden«, klärte mich Barbara auf. »Daran

sind Sie schuld.« »Natürlich. Gestern ist eine Taube wegen Altersschwäche vom

Big Ben gepurzelt, ich nehme an, Sie machen mich auch dafür ver-antwortlich. Wann kommt der Chef wieder?«

»In zwei Tagen. Er hat Bettruhe verordnet bekommen und Diät.« »Die haben Sie ihm eingebrockt. Er mag keine Diät.« »Aber sie ist gesund«, entkräftete Barbara meinen Vorwurf.

»Wenn Sie sich also noch nicht in Pension befinden, können Sie ja Inspektor Fisher von Scotland Yard anrufen, er hat schon mehrfach nach Ihnen verlangt. Sie haben da einen Toten. In Waltham drau-ßen. Ein Fall für Sie.«

»Der Fall Hoddle, ich weiß. Und die Anrufe kamen gestern. Sie sind nicht auf dem neuesten Stand, meine Liebe.«

Sie spießte mich um ein Haar mit Blicken auf. »Ich bin immer mit dem neuesten Stand vertraut! Die Anrufe kämen vorhin, und es handelt sich um einen Fall Pomeroy.«

»Was?« Mir klappte der Mund auf. Aber nicht für lange. Ich sprintete in mein Büro und rief Fisher an.

Seine Stimme klang traurig und deprimiert, als spräche er aus ei-

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ner Gruft. Heute früh hatte der Milchlieferant Pomeroy im Hof vorgefun-

den. Im Laden hatte immer noch das Licht gebrannt, die Tür hatte offen gestanden. Pomeroy war so blutleer wie Hoddle gewesen.

Die Frage nach Bißmalen konnte Fisher auch beantworten. »Hatte er. Genau wie bei dem anderen Toten. Entweder hat der Vampir zweimal zugebissen, oder es handelt sich um zwei Vampire«, sagte Fisher. »Was Ihre Annahme stützt, Mac, hier könnten Dracula und Woods am Werke sein.«

»Wer bearbeitet den Fall offiziell? Sie?« »Basil. Die Leute draußen erwarten das. Das Viertel ist mächtig

verunsichert. Zwei Tote im Zeitraum von vierundzwanzig Stun-den! Waltham fängt an, London den Rang abzulaufen.«

»Sieht so aus«, gab ich zurück und legte auf. Der alte Mann mit den lustigen Augen tat mir unendlich leid. Es

traf mich deshalb besonders, weil ich gestern abend noch in seinem Laden gestanden und mich mit ihm unterhalten hatte. Er riß jetzt keine Bäume mehr aus.

Den unheimlichen Totenvogel hatte ich gestern nicht gesehen, aber er hatte dennoch zugeschlagen.

Ich hatte mir keine Vorwürfe zu machen. Aber ich beschloß, am Abend wieder nach Waltham hinauszufahren. Für alle Fälle.

Ich telefonierte mit Kathleen und gab ihr Verhaltensmaßregeln für den Fall, daß ich in der Nacht gar nicht heimkam. Daß Beth Keeler meine Wohnung ausfindig machte oder von Dracula oder Woods hingeschleust wurde, hielt ich nicht mehr für unwahr-scheinlich.

»Bleib ein braves Mädchen und jage alle Typen von der Tür weg, die nicht aussehen wie ich«, empfahl ich ihr.

»Die sturmfreie Bude werden wir ausnützen«, drohte sie mir schalkhaft. »Wir reißen irgendwo zwei irre Typen auf und trinken dir deinen Whisky weg.«

»Dann schütte denen nur tüchtig ein, denn in der Narkose stirbt es sich leichter«, drohte ich und beendete das Gespräch.

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Ich beendete an diesem Tag meinen Bericht über Bardon Mill. Ich hoffte, der Chef erbaute sich daran und genas rasch von seinen Ma-genbeschwerden und kam auch über Barbaras Diät hinweg.

Am Spätnachmittag fuhr ich nach Waltham hinauf. Ich parkte den MG in der Straße, in der Gallinger wohnte. Die un-

heimlichen Geschehnisse konzentrierten sich eindeutig auf diese Gegend.

Ein paar Leute guckten neugierig in mein Wägelchen, aber ich störte mich nicht daran.

Endlich wurde es dunkel. Ich sah Gallingers Hausmädchen aus der Tür treten. Heute schlug sie eine andere Richtung ein, sie ging die Straße hinunter. Ich sah ihren hellen Mantel noch ein paarmal aufleuchten, wenn sie die Lichtkreise der Straßenlampen durch-querte. Schließlich verschluckte die Dunkelheit sie.

Ich wartete noch etwas und stieg dann aus. Ich ging herum wie eine lebende Antenne. Ich war bereit, die Ausstrahlungen des Bö-sen zu empfangen.

Dabei beobachtete ich den Nachthimmel. Es konnte ja sein, daß der Totenvogel heute unterwegs war.

Ich zog eine Niete. Bis Mitternacht hielt ich in Waltham aus, dann fuhr ich heim. Meine zwei süßen Tauben schliefen. Hatte sich was mit irren Ty-

pen aufreißen und mir meinen Whisky wegzuputzen! Pünktlich fuhr ich nach Whitehall, damit Barbara nicht glaubte,

ich würde mich so allmählich aufs Altenteil zurückziehen. »Fisher hat schon wieder für Sie angerufen«, teilte sie mir mit.

»Wann beginnen die eigentlich den Dienst?« Ich hatte kein gutes Gefühl, aber ich sagte frivol: »Kommt drauf

an, wann sie von einer Leiche herausgeklingelt werden. Was will er schon wieder?«

»Sie haben da zwei Tote. Ein junges Pärchen in einem Wagen. In Waltham.«

Mir riß es fast den Boden unter den Füßen weg. Ich fiel über Barbaras Telefon her, rief Fisher an und erfragte Ein-

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zelheiten. »Sie fahren am besten selber raus, Mac. Gallinger hat auch den

Fall. Sie sind noch bei der Arbeit.« »Und wo ist das genau? Waltham ist groß.« »Neben so einem alten Friedhof. Am Ende der Straße, in der Basil

sein Haus hat.« »Danke, ich weiß Bescheid!« Ich legte auf und war schon aus dem

Vorzimmer fort. Himmel, hatte ich geschlafen? Ich war doch bis Mitternacht draußen gewesen. Das gab's doch gar nicht!

Ich scheuchte den MG nach Norden hinauf. Am Ende der Straße, hatte Fisher gesagt. Am Beginn lag Pome-

roys Laden. Er war geschlossen. Ich zischte an Gallingers Anwesen vorbei und sah die Fahrzeuge der Mordkommission schon von weitem. Die Straße war dort wirklich zu Ende.

Ein Stichweg führte zum alten Friedhof hinüber. Gallinger sah mich aus dem Wagen steigen. Er kam mir entgegen.

Ich sah, daß er gebeugt ging. Die Verantwortung lag auf seinen Schultern, und was er da zu schleppen hatte, drohte ihn zu Boden zu drücken.

»Unfaßbar, Kinsey!« sagte er mit angegriffener Stimme. »Zwei junge Leute aus der Nachbarschaft.«

»Es trifft Sie kein Vorwurf«, sagte ich. Ich versuchte ihn aufzu-richten. Aber was sind in einer solchen Situation Worte?

Ich ließ mir den Wagen zeigen. Die jungen Leute hatten ein Schmusestündchen im Auto gehalten,

wie es jeden Abend – zigtausendmal auf der Welt vorkommt. Man hatte sie allerdings nicht im, sondern am Auto gefunden.

Gallinger erläuterte mir, daß der junge Mann sich verzweifelt ge-wehrt haben mußte. Auf dem Boden zeugten auch tatsächlich Spu-ren davon.

Das Mädchen, höchstens neunzehn, lag noch neben der Beifahrer-tür auf der linken Seite. Das Gesicht zeigte einen grauenhaften Aus-druck.

Ich untersuchte die Leiche. Der Hals trug beidseitig die typischen

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Bißmale. Den jungen Mann hatte man schon eingeladen. Ich kletterte in

den Wagen und deckte das Tuch hoch, das man über ihn gebreitet hatte. Auch sein Gesicht war unvorstellbar verzerrt.

Er war zweiundzwanzig, wie mir Gallinger hereinsagte. Die Lei-che trug ebenfalls beidseitige Bißmale.

Ich fischte mir den Polizeiarzt beiseite, der sich an dem jungen Mädchen zu schaffen machte.

»Können Sie eine ungefähre Angabe machen, wenn der Tod ein-getreten ist?«

Er schaute mich an, als käme ich vom Mond. »Bei dem Zustand, in dem sich beide befinden? Unmöglich, Kinsey. Ich glaube, daß nicht einmal der Mageninhalt Schlüsse gestattet. Sie sind blutleer, es konnten keine Abbau- und Zersetzungsprozesse stattfinden. Ir-gendwann während der Nacht eben. Verlangen Sie nicht mehr von mir. Es tut mir leid.«

Er kehrte zu der Mädchenleiche zurück. Gallinger stand in der Nähe. Ich trat zu ihm. Mit einem Blick auf

die umstehenden Häuser fragte ich: »Hat jemand etwas gehört?« »Rein gar nichts. Nicht einmal, wann das Auto hier hereingefah-

ren ist.« »Wird der Platz häufiger von jungen Pärchen im Auto aufge-

sucht?« »Ich denke schon. Der Ort ist etwas geschützt, und wenn jemand

kommt, hört man es.« Er gab mir das Stichwort. »Wir sollten vielleicht Ihr Hausmädchen fragen. »Dolly? Wieso?« »Sie ist gestern abend in diese Richtung gegangen.« Gallinger schaute mich eigenartig an. »Sie müssen sich irren, zur

Bushaltestelle nimmt sie die Gegenrichtung.« »Ich irre mich selten. Ich war gestern abend in der Straße, ich

konnte ihr Haus sehen. Auch, wie diese Dolly herauskam und hier herunterging.«

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»Fragen wir sie«, bestimmte Gallinger. Wir gingen die kurze Strecke zu Fuß. Rebecca Gallinger schaute uns angstvoll entgegen. Sie wußte na-

türlich schon, was geschehen war. Ich sprach ein paar freundliche Worte zu ihr.

Der Inspektor kam mit dem Hausmädchen herunter. »Sie sagte, sie war nicht dort.« Ich fixierte das Mädchen. »Ich habe sie aber gesehen«, sagte ich. »Kann sein, daß ich ein Stück die Straße hinuntergegangen bin«,

räumte sie jetzt ein. »Aber nicht bis zu der Stelle, wo es passiert sein soll. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Es ist ja auch nicht ver-boten, oder? Und es war erst Abend.«

»Das ist ja auch kein Vorwurf«, sagte ich einlenkend. Ich betrach-tete sie. Sie war gelassen, vollkommen unberührt. Das schreckliche Ereignis regte sie nicht im mindesten auf. »Es hätte nur sein kön-nen, daß Sie eine Beobachtung gemacht haben, die wertvoll für die Arbeit der Polizei ist.«

Sie schüttelte den Kopf. Dann fragte sie: »Sind Sie von der Polizei?«

»So ungefähr.« Ich ließ sie in Frieden. Ich kam mit ihr nicht zu-recht. Ich fand den Grund nicht heraus. Irgend etwas war an ihr, das anders war.

Der Inspektor schaute ihr nach, wie sie ins Obergeschoß zurück-kehrte.

»Die letzten Tage ist sie etwas seltsam«, sagte er gedämpft. »Aber kein Wunder auch! Ich bin ihr dankbar, sie nimmt mir die Haupt-last ab. Hier.«

Ich verstand schon, wie er es meinte. Dolly nahm ihm einen Hauptteil der Pflege seiner Frau ab und

die ganze Hausarbeit. So gesehen war das Mädchen schon ein Engel, wie Gallinger ge-

sagt hatte. »Diese Nacht bin ich jedenfalls wieder in der Gegend«, versprach

ich. »Ich muß den Vampir zur Strecke bringen. Oder zwei. Weiß

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der Teufel, wie viele es sind.« Ich verabschiedete mich. Draußen fiel mir ein, was an Dolly einigermaßen seltsam war. Ich hatte instinktiv versucht, in ihren Gedanken zu lesen. Ich war nicht durchgekommen, ich hatte nicht einmal einen

Hauch von Ausstrahlung empfangen. Als sei das Gehirn des Mäd-chens total blockiert.

In der Form hatte ich das nur bei Miriam festgestellt. Aber die Hexe hatte auch sofort mit einem medialen Gegenangriff geantwor-tet, der mir gar nicht bekommen war.

Bei Dolly hatte ich gar nichts dergleichen gespürt. Ich verstand es nicht. Kopfschüttelnd stieg ich in meinen Wagen.

*

Kaum daß sich die Dunkelheit über Waltham senkte, war ich auf dem Posten.

Geparkt hatte ich neben Pomeroys verwaistem Laden. Einen günstigen Standort boten mir zwei Hecken, die im spitzen

Winkel zusammenstießen. Sie waren mannshoch. Ich brauchte kei-ne Verrenkungen in ihrem schwarzen Schatten zu machen.

Und ich lief auch nicht Gefahr, von einem zufälligen Passanten entdeckt zu werden. Vorausgesetzt, er führte keinen Hund aus.

Ich behielt die Straße im Auge, lauschte in die Nacht, suchte die vielfältigen Geräusche zu unterscheiden und kontrollierte den Nachthimmel, weil ich nämlich immer noch auf den ominösen To-tenvogel hoffte.

Nach einer Weile klappte eine Tür, rasche Schritte klapperten nä-her.

Dolly verließ das Grundstück. Sie ging drüben auf dem Bürger-steig vorbei und verschwand in Richtung des Ladens. Ich schaute ihr nach, bis ich ihre Gestalt nicht mehr in den Lichtkegeln der Stra-ßenlampen sehen konnte.

Heute ging sie in die richtige Richtung.

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Ich wartete und verrenkte mir den Hals. Der Totenvogel hatte etwas gegen mich. Er kam nicht. Ungefähr zehn Minuten später klapperten Absätze näher. Ich guckte reichlich verdutzt, denn in den Lichtflecken sah ich

den hellen Mantel des Mädchens. Dolly kam zurück. Auf meiner Straßenseite!

Das war ja reichlich merkwürdig. Noch seltsamer war, daß sie schließlich genau vor meinem Ver-

steck stehenblieb. »Mister Kinsey?« wisperte sie. Alle Höllenteufel, sie schien genau zu wissen, wo ich steckte. Ich

kroch aus meinem Versteck und schaute sie an. Aber bestimmt nicht freundlich.

Sie deutete meinen Gesichtsausdruck richtig. Eine Laterne spen-dete gerade soviel Licht.

»Mister Gallinger sagte, daß Sie heute nacht hier wären.« Sie lach-te etwas seltsam. »Ich dachte mir schon, daß Sie hinter den Hecken stecken. Das ist nämlich der einzige gute Platz. Ich muß Ihnen et-was zeigen, ich habe vorhin auf dem Friedhof etwas gesehen. Da hat sich jemand bewegt.«

Für ein Hausmädchen entwickelte sie aber ganz beachtliche Qua-litäten.

»Wo auf dem Friedhof?« fragte ich und schob meine Verwunde-rung beiseite.

»Da drüben. Kommen Sie, aber leise.« Sie war schon unterwegs. Ich wollte sie nicht dabeihaben. Die Sache konnte gefährlich wer-

den. Mit ziemlicher Sicherheit sogar. Dolly nahm den Weg, den ich auch schon benützt hatte. Ich holte sie ein, als sie gerade über die Reste der Mauer klettern

wollte. »Warten Sie besser hier!« flüsterte ich. »Das ist nichts für Sie.« »Haben Sie eine Ahnung!« Ihr Ton gefiel mir nicht. Und leise war sie auch nicht. Mich hatte

sie aber dazu angehalten.

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Ich hörte plötzlich ein unheimliches Schwirren in der Luft. Ein ei-siger Luftzug strich über mich hin.

Erschrocken riß ich den Kopf hoch und ließ vor Schreck fast mei-ne Tasche fallen.

Zwei mächtige schwarze häßliche Vögel strichen dahin, wendeten scharf und ließen sich niederplumpsen. Im selben Moment verwan-delten sie sich.

Der Nachthimmel war hell genug, um mich die Gestalten und Ge-sichter erkennen zu lassen.

Dracula und Woods waren da! Und ich war der größte Idiot auf Erden. Denn ich bekam einen Stoß vor die Brust, daß ich hinterrücks ins

Gras flog. Wie der leibhaftige Teufel war sofort Dolly Bacon über mir.

Und jetzt hatte ich es, was mich noch an ihr gestört hatte. Sie atmete nicht! Ich sah fingerlange Zähne aus ihrem Mund hervorschnellen und

mit diesem mörderischen Gebiß nach meinem Hals schnappen. Sie war eine Vampirin!

*

»Brav gemacht, mein Engel des Grauens!« hörte ich Draculas wohl-bekannte Stimme. »Das ist er, er ist in die Falle gegangen!«

Ich dachte einen schrecklichen Augenblick lang, mir mußte der Verstand stehenbleiben.

Eine Falle? Es sah so aus, und ich lag mitten drin. Dann waren diese grauenhaften Morde nur inszeniert, um mich

für diese Gegend zu interessieren? Dann hatte Dolly das willfährige Werkzeug gemacht?

Wie Schuppen fiel es mir von den Augen. Ich hatte sie in Richtung von Pomeroys Laden gehen sehen, wir

waren ja fast zusammengestoßen.

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Und gestern hatte ich sie auf dem Weg zum Ende der Straße ent-deckt, wo man dann das blutleere junge Paar gefunden hatte.

Sie hatte damit zu tun, oder ich wollte mich hängen lassen! Sie war eine Vasalin von Dracula. In einem Sekundenbruchteil gingen mir diese Gedanken durch

den Kopf. Geistesgegenwärtig riß ich meinen linken Arm hoch und verhin-

derte, daß sich Dollys Vampirzähne in meinen Hals gruben. Sie biß in meinen Jackenärmel. Und wie!

Ich spürte schon die Schärfe der spitzen Zähne auf der Haut. Ich wußte nicht, ob es auch funktionierte, wenn sie mich in den

Arm biß und dort Blut saugte. Ich wollte es lieber nicht drauf an-kommen lassen.

Blitzschnell ließ ich die Taschengriffe los und wuchtete ihr die rechte Faust gegen die Schläfe.

Sie wurde nicht bewußtlos und sie schrie auch nicht auf. Sie fauchte nur gierig. Aber immerhin steckte hinter meinen Schlag so-viel Mumm, daß sie von mir heruntergeschleudert wurde und ihre Zähne aus meinem Jackenärmel nehmen mußte. Eine Menge Stoff ging mit, ich hörte es am reißenden Geräusch und am Spucken der Vampirin.

Jetzt hatte ich etwas Luft. Ich war in Panik, keine Frage. Es war eine natürliche Reaktion auf

die Heimtücke, wie man mir diese Falle gestellt hatte. Dracula und Woods waren zum Kampf angetreten. Sie wollten

mich vernichten, das begriff ich. Mit dem Blut der Opfer hatten sie sich vollgesaugt, und jetzt bars-

ten sie fast vor Kraft. Ich schnappte die Tasche, rollte herum und wünschte, ich könnte

wie eine Maus im langen braunen Gras verschwinden. Zu allem Überfluß hörte ich auch noch Schritte durch das Gras ra-

scheln, aber von einer Seite, wo ich niemand gesehen hatte. Ich riß den Kopf hoch. Sie waren zu viert. Da kam Verstärkung für Dracula, Woods und

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Dolly heran. Eine Frau. Wenn ich keinen Augenfehler hatte, in sol-chen Klamotten, wie Kathleen sie in ihrer Boutique den Kundinnen verkaufte.

Die Untote vom Paddington-Friedhof! Beth Keeler! Christine Keeler wäre mir in diesem Moment entschieden lieber

gewesen, auch wenn das Skandalgirl von einst inzwischen kräftig in die Jahre gekommen war.

Woods lachte gehässig. »Auf den Tag habe ich lange gewartet, Kinsey. Du schuldest mir

unendlich viel. Wir werden jetzt mit dir abrechnen. Aber nicht wie mit den anderen. Du wirst langsam sterben, du sollst etwas davon haben. Wir saugen dir das Blut langsam aus, damit du lange bei Verstand und Bewußtsein bleibst und merkst, wie du stirbst.« Mit dem letzten Wort sprang er auf mich los.

Ich warf die Beine hoch. Er sauste mir genau auf die Schuhflä-chen. Ich schleuderte ihn zurück, daß es ihn ungelogen drei Fuß hoch vom Boden hob.

Fliegen war nicht neu für ihn, das konnte er mittlerweile auch. Und sich verwandeln. Dracula, sein Meister und Gebieter, hatte ihn wirklich mit allem Schlechten ausgestattet, das für seine dämoni-sche Existenz erforderlich war.

Ich riß die Tasche auf und angelte nach dem Krif. In dem Moment war Dracula über mir. Und ich lag noch immer

am Boden. Ich packte etwas. Es war nicht der Krif, sondern einer der Eichen-

pfähle, die ich stets mit mir herumschleppte. Blitzschnell holte ich aus und wollte dem Fürst der Blutsauger

das angespitzte Holz in den Leib jagen. Irgendwo hin. Das Herz traf ich nicht. Mit der Brust lag er ja halb auf mir, sein Herz war ge-schützt.

Er schien mir aber doch einiges zuzutrauen, das nicht gut für ihn war. Er fing meinen niederstoßenden Arm ab und lenkte ihn zur Seite. Genau in Dolly hinein, die sich schon wieder über mich her-

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machen wollte. Es war ein unglücklicher Zufall für sie, daß sie genau in diesem

Augenblick da war. Für mich war es Glück. Der Eichenpflock fuhr ihr links oben in die Schulter mit Richtung

nach schräg unten. Ich hörte ihr Schlüsselbein brechen und dachte, mir zerreißt es die Trommelfelle, so sehr schrie sie auf.

Dann sackte sie zusammen und klemmte meine Beine ein. Ich fürchtete, ein schwarzer Blutregen würde sich über mich er-

gießen. Aber nichts dergleichen geschah. Bis mir klar wurde, was passiert war. Der Eichenpflock hatte noch das Herz der Vampirin getroffen.

Sie war tot. Das merkte ich auch an der Reaktion von Dracula. Er war wie erstarrt. Daß er seinen Engel des Grauens, wie er Dol-

ly genannt hatte, so schnell verlieren würde, war ihm auch nicht an der Wiege gesungen worden. Seine Gefolgschaft, die er sich müh-sam wieder zusammensuchte, hatte einen empfindlichen Verlust erlitten.

Ich nutzte die Gunst des Augenblicks und erwischte endlich den Krif.

Dracula warf sich gegen meinen hochschwingenden Arm und verhinderte den Hieb auf seinen Schädel. Sein stinkender Atem stieß mir ins Gesicht und drohte mir den Verstand zu umnebeln.

Der Bursche hatte Kräfte wie ein Riese. Er versuchte mir den Arm zu brechen. Wir rangen verbissen miteinander. Ich keuchte, er nicht. Woods sprang mit einem Schrei herbei und zielte mit einem Fuß-

tritt nach meinem Arm. Ich merkte seine Absicht gerade noch und ruckte weg. Dafür ver-

paßte der untote Inspektor seinem Gebieter und Fürsten einen Tritt, der sich gewaschen hatte.

Dracula zuckte zusammen und knurrte: »Du Tölpel!« Ich hatte etwas Spielraum und hackte mit der Waffe nach Dracu-

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las Arm. Die Wirkung des Krif schien ihm bekannt zu sein. Er ließ mich

nicht zu einem Treffer kommen und drückte wieder meinen Arm nach hinten.

Dort war jetzt Woods. Der Kerl brauchte mir nur noch das Drei-Klingen-Beil aus der Hand zu pflücken wie eine reife Frucht.

Ich bäumte mich auch und konnte Dracula abwerfen. Zwar schnappte sein Vampirgebiß noch nach meiner Kehle, aber

ich hatte mich schon mit einem Ruck weggeschnellt. Zum Glück bekam ich die Tasche mit weg. Woods raste heran. Ich holte aus, und er duckte sich. Schneller, als ein Stein zu Boden

fällt. Mit einem Satz war ich auf den Füßen und schaute mich um. Jetzt

waren die Chancen besser verteilt. Jetzt sollten sie nur antanzen. Ich würde ihnen dazu etwas geigen.

Dracula und Woods mußten ziemlich verbittert sein, daß die Falle nicht so zuschnappte, wie sie sich das ausgemalt hatten.

Sie zögerten erkennbar. Ihre Gesichter konnte ich nicht erkennen. Ich langte einen Eichenpflock aus der Tasche, weil Beth Keeler in-

zwischen ungemütlich nahe war und stur wie ein Panzer auf mich zuhielt. Entweder fürchtete sie den Krif nicht, oder sie kannte seine Wirkung nicht.

Von welchem Holz Dracula und sein Anhänger Woods waren, bekam ich sofort drastisch vor Augen geführt.

Sie ließen die Untote in ihr Verhängnis laufen! Sie opferten sie! Das war wieder typisch für diese Halunken. Beth Keller sollte ihnen die Chance verschaffen, die sie benötig-

ten, um mir doch noch das Genick umzudrehen und das Blut her-auszuziehen.

Die Untote griff mich frontal an. Hinter ihr sah ich Dracula und Woods auseinanderspritzen. Sie

nahmen mich in die Zange. Sie waren furchterregend schnell. Ich packte den Eichenpflock fester und wollte ihn mit der linken

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Hand der Untoten ins Herz stoßen. Das war die einzige Möglich-keit für mich, mit dem Leben davonzukommen und ihr den Toten-frieden zu geben.

Ein harter Stoß traf mich an der rechten Schulter und schleuderte mich nach links. Dracula hatte mich angesprungen.

Ich ruderte mit den Armen und kämpfte ums Gleichgewicht. Ohne Absicht traf ich Beth Keeler mit dem Krif. Auch wenn ich tausend Jahre alt werden sollte wie Miriam, wer-

de ich nie diesen Schrei vergessen, der mir fast die Haare vom Kopf zog.

Die Untote wurde förmlich davonkatapultiert. Aus den Augen-winkeln sah ich noch, wie sie sich mehrmals überschlug und dann gegen einen der alten Leichensteine prallte.

Gut, daß sie ohnehin tot ist, dachte ich, da ist kein Knochen heil geblieben!

Mit der linken Hand hing ich irgendwo fest. Ich hatte etwas ge-troffen. In der Sekunde, als der Krif Beth Keeler davongeschleudert hatte.

Verdutzt riß ich den Kopf herum. Woods! Ich hatte ihm den Eichenpfahl in den Oberarm gespießt. Das Herz wäre mir lieber gewesen. Woods krümmte sich. Der Pfahl war mit einigen Beschwörungen

besprochen. Die Freiheit hatte ich mir genommen. Jetzt litt Woods Qualen. Ich fürchtete nur, sie brachten ihn nicht um. Er packte mit einem

Ruck das Holz und riß es heraus. Sekundenlang klebte der Eichen-pflock in seiner rechten Hand, bevor er ihn von sich schleudern konnte.

Ich holte mit dem Krif zu einem Schlag aus, der alles entscheiden mußte.

Ein bedrohliches Schwirren lenkte mich nur für eine Winzigkeit ab.

Harte gewaltige Schwingen streiften mich und wirbelten mich

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einmal um meine eigene Achse. Aber ich verlor die Orientierung nicht.

Den Gegner schon. Dracula hatte sich hinter meinem Rücken in einen riesigen Vogel

verwandelt. Beim Start hatten mich seine Schwingen gestreift. Be-vor ich es verhindern konnte, griffen seine schon wie Krallen ausse-henden Hände zu und rissen Woods in die Höhe.

Dracula brachte seinen treuesten Diener in Sicherheit. Ich wünschte, er würde ihn fallenlassen. Aber er hielt Woods sicher fest. Wie er so über den Nachthimmel

davonstrich, erinnerte er mich an einen Aasgeier, der mit seiner Beute entkommt.

Ich schickte meinen beiden Erzfeinden einen grauenhaften Fluch hinterher. Doch auch der holte sie nicht vom Himmel.

Keuchend sammelte ich meine Habseligkeiten ein und torkelte dann los, um Gallinger zu alarmieren. Die beiden toten Frauen mußten weg sein, bevor die Leute kamen.

Der Kampf gegen Dracula war ein weiteresmal mit einem Patt ausgegangen.

*

Es stellte sich heraus, daß Gallinger kein Wort zu Dolly gesagt hat-te, ich würde in der Nacht in der Straße sein. Sie hatte mich mit ih-ren dämonischen Fähigkeiten aufgespürt.

Oder Dracula hatte sie geschickt geleitet, damit sie mich in die Falle führte.

Aus ihrer Wohnung holten wir einen fast mumifizierten Toten. Er hatte unter dem Sofa gelegen. Er wurde als Brian Hedges identifi-ziert, ihr Freund. Eine mikroskopische Untersuchung ergab, daß er Bißmale am Hals hatte.

Ob Dolly, die Vampirin, ihrem Freund allein das Blut ausgesaugt hatte oder ob ihr dabei Dracula und Woods geholfen hatten, ließ sich nicht mehr feststellen.

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Die Bestattung von Beth Keeler fand einen Tag später in aller Stil-le auf dem Paddington-Friedhof statt. Jetzt hatte sie endlich ihre Ruhe. Denn tot zu sein und doch nicht tot sein zu das stellte ich mir wie eine schreckliche Strafe vor. Eine, die nur die Welt der finsteren Mächte hatte aushecken können.

Was niemand wußte, ich hatte ihr etwas in, den Sarg mitgegeben, das Dracula davon abhalten würde, sie noch einmal zu erwecken.

ENDE

Jake Ross

Der Kreuzweg der Skelette�

Ein unheimliches Knistern schreckte den Oberpfleger Gains im Sie-chenheim ›Zum Guten Hirten‹ auf. Das hörte sich doch wie nach ei-nem Feuer an!

Zu dem Knistern gesellte sich jetzt noch ein unheilvolles Knacken und Prasseln.

So krachen Balken, die im Feuer zersprangen! Gains schnellte hoch und stieß den Stuhl zurück, daß das Sitzmö-

bel quer durch das Wachzimmer flog und gegen die Heizung prall-te. Die Angst peitschte den Oberpfleger. Vor zehn Jahren hatten sie schon einmal einen Brand im Haus gehabt. Es war fürchterlich ge-wesen.

Blitzartig stand die schreckliche Erinnerung auf. Einige Heimin-sassen, die schon gerettet waren, hatten in völliger Verwirrung zu-rück ins Haus gedrängt und waren in das Feuer gelaufen.

Anderen war jeder Fluchtweg aus dem alten Gebäude abgeschnit-ten. Ihre grauenhaften Schreie hatten aus der Flammenhölle gegellt, bis das orgelnde Fauchen und Brausen des Feuersturmes die

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Schreie gnädig übertönte. Wie das Feuer damals hatte ausbrechen können, war nie ganz ge-

klärt worden. Die Brandexperten hatten sich schließlich darauf ge-einigt, daß einer der verwirrten Heiminsassen gezündet hatte.

Das war die bequemste Lösung gewesen. Beim Wiederaufbau hatte dann alles anders gemacht werden sol-

len. Mehr Brandschutz, bessere Räume für die Insassen und das Personal, eine zusätzliche Feuertreppe, eine Sprinkleranlage.

Mangels Geld war das Haus dann doch in der alten Manier aufge-baut worden. Im Grunde war es immer noch eine Mausefalle für die Insassen, falls ein Feuer ausbrach.

Mit der Brandkatastrophe vor zehn Jahren und den grauenhaften Folgen vor Augen hastete Gains auf den Flur hinaus.

Im Haus herrschte nächtliche Ruhe. Bis auf das unheimliche Knacken und Prasseln. Es kam von dieser Etage. Gains warf sich herum, er hatte die falsche Richtung eingeschlagen.

Geistesgegenwärtig riß er einen Feuerlöscher aus dem Halter an der Wand.

Feuerlöscher! Diese lächerlichen Schaumbehälter waren von der großzügig und

teuer geplanten Sprinkleranlage übriggeblieben! Ein Hohn. Letzt-endlich aber immer noch besser als gar nichts.

Früher, vor der Feuerkatastrophe, hatte es hier nicht einmal Feu-erlöscher gegeben. Wassereimer – ja. Aber ohne Wasser. Weil die Heiminsassen mit dem Wasser dauernd Unfug anstellten.

Soweit die Leseprobe aus dem neuen Mac Kinsey-Grusel-Thriller, den Sie in vierzehn Tagen erhalten. Dann ist wieder Kinsey-Time!

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