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Der Elfenbeinkönig

Date post: 03-Jan-2017
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Seewlfe Taschenbuch 49 Die Seereisen des Howard Bonty, der einer Pregang in die Hnde fiel und seine Laufbahn als Schiffsjunge begann. John Curtis Der Elfenbeinknig
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Seewölfe

Taschenbuch 49 Die Seereisen des Howard Bonty, der einer Preßgang in die

Hände fiel und seine Laufbahn als Schiffsjunge begann.

John Curtis

Der Elfenbeinkönig

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8. Januar 1635 im Jahre des Herrn. Homeward bound hieß es wieder einmal � heimwärts mit Kurs auf merry old England. Wir hatten den Indischen Ozean längst hinter uns gelassen, das berühmt-berüchtigte Cabo tormentoso � das Kap der Guten Hoffnung � gerundet und befanden uns jetzt auf der Höhe der Walfischbucht, jenem Gewässer, in dem die Walfänger zu Hause waren und ihrer Arbeit nachgingen. An diesem Vormittag des achten Januar war allerdings weit und breit kein Schiff zu sehen, und auch die Wale zeigten sich nicht. An der Westküste des afrikanischen Kontinents ging ein Wolkenbruch nieder, der vom Atlantik heranströmte und die Küste in dunstiges Licht tauchte. Innerhalb weniger Augenblicke waren wir alle bis auf die Knochen durchnäßt. Bei der hohen Temperatur. war dieser heftige Schauer eine willkommene Erfrischung, die wir richtig genossen. China-Harry stand mit offenem Mund an Deck, hatte den Kopf weit in den Nacken gelegt und ließ sich das kühle Wasser hineinregnen. Die meisten anderen taten es ihm nach, denn das klare Regenwasser schmeckte weitaus besser als die lauwarme Brühe in den Fässern, die immer abgestanden und schal roch, und in der sich trotz aller Sauberkeit doch immer wieder kleine grüne Fäden fanden. Unser Bibelmann Zebulon Prescott ließ sich das überraschende Geschenk ebenfalls nicht entgehen. Er hatte die Arme weit ausgebreitet, und von seinem mächtigen Körper troff nach allen Seiten das Wasser. Kurze Zeit später war der Schauer abgeregnet und zog weiter zum Land hin. Wir bedauerten das lebhaft, aber wir wurden auf eine andere faszinierende Weise entschädigt, die alle ehrfürchtig staunen ließ. Hoch über unseren Köpfen erschien ein Regenbogen, der sich bis zum afrikanischen Festland zog. Wir hatten diese Naturerscheinung auf See und Land schon oft beobachtet, nie aber in dieser unvorstellbaren Pracht und Größe. Sogar unser Zweiter Offizier, Mister Pickens, war sehr beeindruckt, und das wollte sehr viel heißen. Der riesige Bogen spiegelte alle Farben in einer Herrlichkeit herüber, daß mir die Worte fehlten. Ich stand nur da und starrte mir die Augen aus.

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Das sah aus wie eine bunte schillernde Brücke, die sich durch die Luft spannte, die geheimnisvoll strahlte, und über die es unzählige Legenden und Erzählungen gab. �Wie entsteht so ein Bogen eigentlich?� fragte China-Harry. Niemand wußte darauf eine Antwort, selbst unser allwissender Zweiter Offizier wand sich bei der Frage verlegen und konnte sie nicht beantworten. Der einzige, der eine Antwort bereit hatte, war Zebulon Prescott, aber der legte sie auf seine Art aus. �Ein Regenbogen entsteht nicht einfach�, sagte er, �den setzt. unser Herrgott aus ganz bestimmten Gründen an den Himmel. Nachdem Noah in der Arche mit seiner Familie und all den vielen Tieren hundertfünfzig Tage lang auf dem Wasser getrieben war, setzte Gott einen gewaltigen Bogen an den Himmel, wie es im ersten Buch Mose geschrieben steht. Dieser Bogen ist das Zeichen des Bundes, den ich geschlossen habe zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier bei euch auf ewig, so sprach er zu Noah. Meinen Bogen habe ich in die Wolken gesetzt, der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde. Das sollte bedeuten�, fuhr Zebulon mit ernster Stimme fort, �daß es künftig auf Erden keine Sintflut mehr geben wird. Der Bogen zeigt dann auch meist das Ende des Regens an.� Dagegen konnte keiner argumentieren. Aus dem einfachen Grund, weil es niemand besser wußte. Wissenschaftlich erklärt wurde das Phänomen erst. zwei Jahre später durch den französischen Philosoph und Mathematiker Rene Descartes. Der wies rechnerisch nach, warum der Regenbogen in einem Winkel von zweiundvierzig Grad erscheint. Doch davon wußten wir noch nichts. Die meisten anderen kannten aber genügend Erzählungen, Mythen und Legenden. Dieser gewaltige Bogen stand immer noch, in allen Farben schillernd, am Himmel und beschäftigte die Gemüter. Selbst Master Flanagan auf dem Achterdeck konnte sich an der Erscheinung nicht satt sehen. Mein Freund Jonny starrte sinnend zum Land hin, wo der riesige Bogen schillernd in der Erde zu verschwinden schien. �Wenn man jetzt genau dahin könnte�, meinte er, �dann wäre man mit einem Schlag reich. Nach den vielen Sagen steht am Ende eines Regenbogens immer ein Topf mit Gold in der Erde, oder man findet eine magische Perle. �Soll ich auf diese bloßen Vermutungen hin vielleicht ein Boot aussetzen, um nachzuprüfen, was an der Geschichte wahr ist, Jonny?� fragte der Zweite Offizier spöttisch.

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�Ich bin mir leider nicht ganz sicher, Mister Pickens�, erwiderte Jonny grinsend, �aber ich kenne viele Leute, die diesen Goldschatz angeblich schon gehoben haben.� �Ja, die gibt es�, meinte Pickens nachdenklich, �wahrscheinlich haben die vielen reichen Nichtstuer die Gunst der Stunde genutzt und am Ende eines Regenbogens nachgegraben. Dann fanden sie den Goldtopf will legten sich für den Rest des Lebens auf die faule Haut.� Immer noch war die Erscheinung in all ihrer Schönheit und wundersamen Farbenpracht zu bestaunen. In Japan und im Reich der Mitte nannte man sie schwimmende Himmelsbrücke, bei anderen Völkern hieß sie Gottesbraut, und die Lappländer sahen in ihr den Bogen für die Blitzpfeile ihres Donnergottes. Aber der Regenbogen war für viele primitive Völker auch eine furchteinflößende und lebensbedrohende Erscheinung. Gerade hier an der Westküste Afrikas hielt man ihn für eine riesige schillernde Schlange, die Flüssen und Seen das Wasser entzog und gelegentlich sogar Kinder und ganze Viehherden verschluckte. Die Sonne brannte jetzt wieder vorn Himmel. Nur an der Küste regnete es noch ab. Dann verblaßte das Naturwunder ganz langsam, bis es sich schließlich in Nichts auflöste. Der Zauber war vorbei, und den Goldtopf hatte wieder mal niemand ausgegraben. Wir segelten mit Backbordhalsen auf Steuerbordbug liegend weiter auf nördlichem Kurs. An Bord der �King Charles�, wurde bereits spekuliert, wann wir London erreichen würden. Sogar Wetten wurden darauf schon abgeschlossen. �Was willst du denn setzen?� fragte mich Pete Bird, an Bord seiner Schnelligkeit und Gewandheit wegen nur die Katze genannt. �Nicht einen lausigen Copper�, erwiderte ich, �denn es wäre reine Spekulation. Frag mich wieder, wenn wir die portugiesische Küste erreicht haben, denn es kommt bestimmt wieder etwas dazwischen, das alles verzögert.� Jonny wettete auch nicht, denn vor uns lagen noch ein paar tausend Seemeilen, auf denen sich allerhand ereignen konnte. Wie recht wir mit unserer Vermutung hatten, sollte sich schon bald darauf erweisen, denn wieder einmal zog uns das Schicksal einen dicken Strich durch die Rechnung.

*

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Es war achtzehn Tage später, am 26. Januar 1635. Der Himmel war von samtener Blaue und wölbte sich wie eine riesige Glocke über einem Meer, das die Farbe von hellblauer Tinte angenommen hatte. Der Wind schob uns hart achterlich auf langrollender Dünung. Wir liefen fast platt vorm Laken, wie man das nannte. Master Flanagan hatte sich entschlossen, noch einmal Land anzulaufen, um das brackige Trinkwasser zu ergänzen und aufzufrischen. Wenn es möglich war, wollten wir auch noch den Proviant durch Jagen oder Sammeln von Früchten aufstocken. Es war fast unerträglich heiß. Die Sonne brannte so stechend herab, daß es hin und wieder in den Planken knackte. Selbst das Holz ächzte unter der fürchterlichen Hitze. Alle paar Stunden wurde es daher mit Seewasser begossen, damit es in dieser Glut nicht austrocknete und rissig wurde. Wir näherten uns jetzt dem Äquator, und damit dem Golf von Guinea. An Steuerbord war das Land verschwunden. Nur ein hitzeflirrender Strich ließ den afrikanischen Kontinent vermuten. �Deck! Land an Steuerbord voraus!� erklang die Stimme des Ausgucks. Vom Achterdeck aus war das Land noch nicht zu sehen. Erst eine Viertelstunde später erkannten wir einen dünnen Strich, der ebenfalls in der Hitze beständig flimmerte. Pickens deutete mit dem Finger auf die Seekarte. �Das ist die Insel Annobón�, stellte er mit Bestimmtheit fest. �Sie gehört zu Äquatorial-Guinea und wurde von den Spaniern in Besitz genommen. Die nächste Insel gehört den Portugiesen. Das wechselt in dieser Gegend alle paar Meilen.� Flanagan streifte das weit vorausliegende Stückchen Land mit einem flüchtigen Blick. �Soviel ich weiß, gibt es dort Trinkwasser�, sagte er. �Aber wie steht es mit den Spaniern?� �Die haben die Insel nur zu ihrem Besitz erklärt und einen Flaggenmast aufgestellt�, wußte Pickens zu berichten. �Wie mir bekannt ist, hält sich dort niemand auf. Ich glaube nicht, daß sich das in den letzten paar Jahren geändert hat. Laufen wir Annobón an, Sir?� Der Master nickte bedächtig. �Ja, wir laufen die Insel an. Wenn wir an der westafrikanischen Küste nach Trinkwasser suchen, kann es wieder Scherereien mit den

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Eingeborenen geben. Das sollten wir tunlichst vermeiden. Halten Sie Kurs auf die Insel, Mister Bonty.� �Aye aye, Sir, Kurs auf die Insel�, wiederholte ich. Master Flanagan ging für einige Augenblicke nach unten, während ich leicht Ruder legte und auf den dunstigen Strich zuhielt. Ein Deck tiefer, auf dem Quarterdeck, sah ich Jonny stehen und angestrengt ins Wasser blicken. Er tat das so auffällig, daß es nicht nur meine, sondern auch die Aufmerksamkeit El Pomados erregte. Der Mann mit den schwarzen Haaren, der wie ein Spanier aussah, trat neugierig näher heran. Jonny hatte sich weit über das Schanzkleid gebeugt, und ich hörte, wie er immer wieder sagte: �Verdammt, das muß doch hier sein, last genau hier. Ich kann mich doch nicht so irren.� El Pomado starrte jetzt ebenfalls neugierig ins Wasser. �Was suchst du denn?� fragte er gespannt. �Den Äquator�, sagte Jonny ernst. Da wußte ich, daß er El Pomado wieder einmal verulken wollte. Ich sah, daß auch unser Erster Offizier, Mister Finn, den Kopf schüttelte und unmerklich lächelte. �Den Äquator?� fragte El Pomado, �ich denke, den kann man gar nicht sehen.� �Wer hat dir denn das erzählt? Klar kann man den sehen. Du mußt deine Klüsen nur richtig aufreißen. Er liegt ziemlich tief im Wasser und sieht wie ein riesiger schwarzer Balken aus. Da steht ein großes weißes Ä drauf. Die Spanier haben ihn mit einer langen Kupferschiene markiert und ins Meer versenkt. Sonst wüßte ja kein Mensch, wo der Äquator liegt.� Der Äquator lag zwar noch etwas weiter nördlich, nahe der portugiesischen Insel Sao Tome, aber El Pomade fiel darauf herein und starrte sich weiterhin die Augen aus. Jonny flüsterte ihm noch etwas zu, was ich auf dem Achterdeck allerdings nicht verstand, dann ging er nach vorn und ließ El Pomado eine Viertelstunde lang ins Wasser glotzen. Der tat das auch so ausgiebig, als sähe er auf dem Meeresgrund blaue Affen herumtollen. Jonny kehrte wieder grinsend zurück. �Da ist er, na endlich�, sagte er. El Pomado rieb sich die Augen und starrte wieder über Bord. �Jetzt sind wir drüber weg, genau im richtigen Augenblick.� Inzwischen kehrte auch der Master wieder aufs Achterdeck zurück und sah durchs Spektiv zu der Insel hinüber, die jetzt immer größer wurde.

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�Sir, Meldung an das Achterdeck!� brüllte El Pomado so laut, daß der Master erstaunt den Kieker sinken ließ. �Soeben sind wir über den Äquator gesegelt. Er liegt jetzt achteraus, Sir.� Flanagans kühl wirkendes Gesicht veränderte sich. Erst blickte er erstaunt, dann verwundert, schließlich fast befremdet auf El Pomado, der in strammer Haltung auf dem Quarterdeck stand. Jonny hatte sich inzwischen längst grinsend verzogen. �Was ist mit dem Mann?� fragte Flanagan irritiert. �Hat er etwa einen Sonnenstich?� An Deck grinsten jetzt alle. Nur El Pomado war sehr erstaunt, daß seine wichtige Meldung offenbar nicht auf fruchtbaren Boden gefallen war. Vielleicht glaubte er auch, der Master habe ihn nicht richtig verstanden, daher wiederholte er den Schwachsinn noch einmal mit lauter Stimme. Daraufhin wurde das Gelächter zu einem Brüllen, das orkanartig anschwoll. Ich weiß nicht, ob der Master sich auf den Arm genommen fühlte, oder ob er sich darüber ärgerte, denn er sah El Pomado immer noch so seltsam an, als sei er nicht ganz bei Verstand. Erst dann glitt ein Zug des Verstehens über sein Gesicht, und er wollte uns den Spaß wohl nicht verderben. Zu unser aller Erstaunen sagte er ruhig: �In Ordnung. Entern Sie jetzt in den Großmars, und beobachten Sie den Äquator so lange, bis er aus Ihrem Blickfeld verschwindet.� �Aye, aye Sir�, rief El Pomado. Er flitzte zum Großmast und enterte in den Ausguck auf. Dort stand er in luftiger Höhe und starrte angespannt ins Kielwasser. Der Teufel mochte wissen, was er da wohl zu sehen glaubte. Er kam erst wieder runter, als wir dicht bei der Insel vor Anker gingen. Da hatte er den Äquator endgültig aus den Augen verloren, wie er behauptete. Jedenfalls hatten alle ihren Spaß. Nur El Pomado konnte sich das dämliche Grinsen der anderen nicht erklären. �Jonny hat mir genau gesagt, was ich melden muß�, meinte er, �ich verstehe nicht, wie man darüber so dämlich lachen kann.� �Das wird an der Bullenhitze liegen�, sagte ChinaHarry lachend, �ich muß auch ständig grinsen.� Wir lagen jetzt in einer kleinen malerischen Bucht mit einem jungfräulich erscheinenden Strand. Auf den ersten Blick sah es so aus, als hätte noch nie ein Mensch seinen Fuß hier an Land gesetzt. Ein paar hundert Yards landeinwärts gab es einen dichtbewachsenen grünen Hügel. Ein paar kleine Ölpalmen wuchsen an dem sanft

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ansteigenden Hang, den ein rötliches Blütenmeer bedeckte. Hoch über uns tummelten sich ein paar Vögel im Blau des Himmels. Auf Annobón war es so still und ruhig, als sei hier die Zeit stehengeblieben. �Da sind wir an der günstigsten Stelle vor Anker gegangen�, sagte Pickens, der durch das Spektiv zu dem Hügel sah. �Besser können wir es gar nicht treffen. Aus dem Hügel läuft ein Rinnsal in einen winzigen See, und dahinter wachsen offenbar wilde Tomaten, Oliven, oder was immer das andere sein mag.� Das Beiboot war bereits abgefiert worden und dümpelte jetzt leicht auf der Steuerbordseite der �King Charles�. Auch die leeren und gesäuberten Wasserfässer hatten Gofredo und einige Helfer bereits an Deck gebracht. Weiter im Norden der Insel bestand der Küstenverlauf aus Mangroven mit ihren hohen Stelzwurzeln und Dickicht, das in dem feuchtheißen Klima wie ein Regenwald gedieh. Zur südlichen Richtung gab es weitere Ölpalmen und ein paar Schraubenbäume mit ihren zahlreichen schraubenartig um den Stamm laufenden Blättern. Ganz oben auf dem Hügel waren ein Flaggenstock und ein Kreuz zu erkennen. Das Kreuz stand schief da, an dem Flaggenstock befand sich keine Fahne mehr. Wind und Wetter hatten sie längst vermodern lassen, aber das war ein Zeichen, daß die Spanier sich schon lange nicht mehr um diese Insel gekümmert hatten. Etwas später pullten wir mit insgesamt sechs Leuten unter der Führung Pickens zum Strand hinüber, luden die Wasserfässer aus und packten sie an die hölzernen Tragegestelle. Der Strand schien unberührt. Nirgendwo befand sich ein Abdruck, der auf die Anwesenheit anderer Menschen schließen ließ. �Hier könnte man es eine Weile aushalten�, sagte Jonny begeistert. �Faulenzen, rumhängen, und die Insel erkunden. Vielleicht gibt es hier sogar jagdbare Tiere.� Wir fanden jedoch nichts Jagdbares, bis auf ein paar wohlgenährte Ratten. Vielleicht stammten sie von einem gesunkenen Schiff, das sie noch rechtzeitig verlassen hatten. Aber Ratten hatten wir schließlich selbst an Bord und brauchten sie nicht zu jagen. Dafür bot die Insel jedoch eine Menge an Früchten, hauptsächlich sehr aromatisch schmeckende wilde Tomaten. Es gab aber auch Affenbrotbäume und eine den Papaya ähnliche Frucht, die herb und sehr sauer schmeckte. Das Rinnsal, das aus dem Hügel hervorsickerte, erwies sich als kühles, frisches Trinkwasser. Es floß in einen Teich, der offenbar von den

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Spaniern einmal angelegt worden war. Die Natur hatte ihn nicht erschaffen, das bewies ausgehobenes Erdreich, das jetzt total von Pflanzen überwuchert wurde. Pickens ließ China-Harry und die Katze wieder zur �King-Charles� zurückpullen, damit sie weitere Männer holten. Später kamen Zebulon, Mister Bunk und noch ein paar andere mit. Eine Gruppe war damit beschäftigt, die kleinen Tomaten zu pflücken, ein paar andere Männer pflückten die Schoten vom Affenbrot und den sauren Früchten, während die restlichen sich um das Trinkwasser kümmerten und Faß um Faß füllten. Bisher waren wir schon fünfmal hin und her gepullt. Die Jolle war bei jeder Fahrt fast überladen. �Noch ein oder zwei Fahrten�, ordnete Pickens an, �dann dürfte es wohl reichen. Sehen wir uns mal an dem Hügel die Früchte an. Die ähneln grünen Birnen.� Wir bogen nach links ab, wo zwei Yards hohe Bäumchen wuchsen, von denen die faustgroßen tropfenförmigen Früchte hingen. �Kenne ich nicht�, sagte Pickens verwundert. �Nie gesehen. Aber ich werde einmal vorsichtig probieren.� Er pflückte eine der Früchte ab und biß vorsichtig hinein. Dann verzog sich sein Gesicht so angewidert, als hätte er in faule Äpfel gebissen. �Schade, sie sind ungenießbar�, stellte er fest. �Sie schmecken wie alte Roßäpfel.� Wir grinsten beide bis über die Ohren, worauf Pickens uns strafend ansah. �Was gibt es da zu feixen. Das war lediglich eine Feststellung.� �Ich kann mir darüber kein Urteil erlauben�, meinte Jonny, immer noch grinsend, �denn ich habe noch keine probiert.� �Naja�, sagte Pickens einschränkend, �jedenfalls riechen sie so. Sie müssen einen Vergleich nicht immer gleich wörtlich nehmen, und mir alles mögliche unterstellen, Jonny.� In der wilden Harmonie dieser Landschaft fiel mir etwas auf. Wenn ich an dem Hügel vorbeisah, mit Blick nach Norden, dann störte irgendetwas die krummen Gebilde der Mangroven, die bis dicht an das Wasser wuchsen und ihre Stelzwurzeln in sumpfiges Gelände streckten. Zwischen diesen verkrüppelt aussehenden Pflanzen, die trotzdem sehr harmonisch wuchsen, befand sich undeutlich und schemenhaft ein genau senkrecht aufsteigender Ast von ungewöhnlicher Glätte. Er paßte einfach nicht in das Bild und hob sich deutlich davon ab. Er

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erinnerte mich ein wenig an einen kahlen Fichtenstamm. Sobald aber der Wind die Mangroven bewegte, verschwand der schlanke Stamm immer wieder. �Was starren Sie denn so?� fragte Pickens in die plötzliche Stille hinein, �haben Sie einen Geist gesehen, Bonty, oder sind das träumerische Anwandlungen?� �Nein, Sir, keinen Geist. Aber da paßt etwas nicht ins Bild. Zwischen den Mangroven gibt es einen auffallend glatten Baum oder Ast, so genau kann ich das nicht erkennen. Wenn sich die Wurzeln bewegen, verschwindet er zeitweilig.� Pickens blickte auf den Flaggenstock am Hügel, aber ich korrigierte seine Blickrichtung durch ein paar Handbewegungen. Eine ganze Weile blickten wir in die nördliche Richtung, dann war der schlanke Stamm wieder einmal klar und deutlich zu erkennen. �Tatsächlich�, sagte unser Zweiter verwundert. �Ein sehr merkwürdiger Baum ist das, kahl, ohne Äste. Offenbar haben die Spanier dort ebenfalls etwas errichtet.� Jonny traf eine sehr sachliche Feststellung: �Das ähnelt verteufelt einem abgebrochenen Schiffsmast.� Jetzt waren auch die anderen aufmerksam geworden und kamen langsam herüber. �Das Ding scheint mindestens eine halbe Meile entfernt zu sein�, meinte Jeremias Bunk, �die Entfernung täuscht gewaltig durch die flirrenden Hitzewellen und die Bewegung der Mangroven. Aber mit einem Schiffsmast hat das eine Menge Ähnlichkeit.� Von der �King Charles� aus hatte der Ausguck nichts bemerkt. Aber ihm hatte auch der Hügel die Sicht versperrt. So konnte er das merkwürdige Gebilde gar nicht sehen. �Ich werde das dem Master melden�, sagte Pickens, �er wird entscheiden, was zu geschehen hat. Sie können noch hier bleiben�, sagte er zu mir, Jonny und Mister Bunk. �Die anderen kehren zurück an Bord.� Jonny war inzwischen genauso neugierig wie ich. Am liebsten wären wir sofort hinübergelaufen und hätten das �Ding� untersucht. Wir konnten uns immer noch nicht einigen, was es eigentlich war, denn die Entfernung ließ keine einwandfreie Deutung zu. Die Männer zogen ab und pullten zum Schiff hinüber. Wasser und Früchte wurden an Bord genommen. Kurze Zeit später kehrte Pickens allein mit der .Jolle zurück. Er hatte eine Muskete dabei und verteilte an uns doppelläufige Pistolen � für alle Fälle.

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Master Flanagan hat kleine Gefechtsbereitschaft angeordnet�, sagte er, �eine rein vorbeugende Maßnahme. Wir lassen die Jolle hier am Strand liegen und umgehen den Hügel von der linken Seite. Rechts müßten wir uns durch die Mangroven quälen.� Er hatte kaum ausgesprochen, als auf der �King Charles� vier Stückpforten hochgingen, und die dunklen Schlünde der Culverinen ausgerannt wurden. Ebenso wurden zwei Drehbassen besetzt. Diese Vorsichtsmaßnahme war durchaus angebracht. Wir hatten schon zuviel schlechte Erfahrungen gesammelt und waren plötzlich überrumpelt worden. Pickens nickte uns kurz zu, dann gingen wir linker hand an dem künstlichen See vorbei und marschierten durch die rotblühenden Blumen. Schon nach den ersten paar Yards wurde das Dickicht wilder und dschungelartiger. Eine dumpfe feuchte Hitze stieg vom Boden auf. Von oben knallte uns sengende Hitze auf die Köpfe. Trampelpfade gab es nicht, dafür wuchsen an der anderen Seite des Hügels Bäume, die immer mehr an Dschungel erinnerten. Es war dichter, niedrig wachsender Regenwald, in dem es auch ein paar kreischende und zeternde Vögel gab. Von rechts wehte eine lauwarme Brise herüber, die fauligen Brodem von den Mangroven mitbrachte. Zeitweilig wurde es stickig heiß. Als wir aus diesem Stück heraus waren, troff mir der Schweiß über den ganzen Körper. Den anderen erging es ähnlich. Nur Jonny war immer noch knochentrocken. �Der reinste Affenstall ist das�, schimpfte Jeremias Bunk schnaufend. �Wir können jetzt da vorn rechts abbiegen, Mister Pickens. Das sieht mir wie eine kleine Bucht aus.� �Ja, das ist eine Bucht. Sie liegt genau hinter dem kleinen Hügel. Dahinter kann ich das Meer sehen.� Von der �King Charles� war schon lange nichts mehr zu sehen. Der große Hügel verbarg sie total vor unseren Blicken. Dafür sahen wir jetzt das �Ding� klar und deutlich. Es gab nicht den geringsten Zweifel daran, daß es ein Schiffsmast war. Er war zersplittert und geborsten, und der Topp fehlte völlig. �Vorsichtig jetzt�, sagte Pickens, �keine Unterhaltung mehr. Bewegt euch ganz leise.� Noch hatten wir kein freies Blickfeld auf die Bucht. Erst als wir uns vorsichtig vorarbeiteten und regelrecht anschlichen, konnten wir von dem kleinen Hügel hinabsehen.

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Uns stockte der Atem, denn in der Bucht lag ein Viermaster, ein unheimlich wirkendes Schiff.

* So ein einsam und versteckt daliegendes Schiff hat immer etwas Gespenstisches an sich, zumal ein Wrack. Bewegungslos starrten wir auf den düster und unheimlich daliegenden Viermaster. Sein Bug lag ein Stück auf dem Strand, und er hatte sich leicht nach Backbord geneigt. Niemand war zu sehen. Eine beklemmend wirkende Stille ging von dem schwarzen Wrack aus, eine Stille, die alles mögliche vermuten ließ. Die Heckgalerie des düsteren Schiffes, das sah ich von der Seite, war offenbar zerschossen worden. Auch das Ruder schien einiges abgekriegt zu haben. Einer der Masten war nur noch ein armseliger Stumpf. Der Großmast trug nur eine einzige Rah, von der in Fetzen das Segeltuch herabbaumelte und im Wind flatterte. Auf den Decks waren Planken aufgesprungen, brüchiges Tauwerk hing wie Spinnweben herum und baumelte außenbords. Das war so richtig ein Spukschiff, wie ich es mir früher heimlich vorgestellt und ausgemalt hatte. Als wir immer noch bewegungslos dastanden und das unheimliche Bild in uns aufnahmen, waren auch leise Geräusche zu hören. Da war ein ganz schwaches Knistern und Knacken, da war das leise Raunen winziger Wellen, die rauschend an den Strand liefen und den Schiffskörper umspülten, und da war hin und wieder ein leises Ächzen zu hören, als stöhne jemand verhalten. Doch es zeigte sich niemand. Das Wrack war von der Sonne gepeinigt, vergammelt, zersplittert und vermodert. Es konnte schon seit Ewigkeiten hier liegen. Als endgültig feststand, daß hier kein Mensch mehr an Bord war, gab Pickens mit der Hand ein Zeichen. �Das sehen wir uns mal aus der Nähe an.� Jonny stand immer noch wie festgenagelt und starrte das schwarze Schiff nachdenklich an. Ich glaubte zu bemerken, daß ihm ein Schauer über den Rücken lief. Mich stieß dieses Wrack ab, aber gleichzeitig faszinierte es mich auch. Ich konnte mir das eigentlich nicht so richtig

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erklären. Da war etwas, was mir bekannt oder vertraut vorkam, eine Ähnlichkeit, eine Erinnerung an etwas Unheilvolles. �Das sieht verdammt nach der ,Sea Cloud' aus�, sagte Jonny mit seltsam brüchiger Stimme. Ich fuhr herum und starrte ihn an, fassungslos und staunend. �Mein Gott, Jonny, du könntest recht haben. Jetzt weiß ich genau, daß es mich an das höllische Sklavenschiff erinnert.� �Ihr meint das Schiff von Master Pratt?� fragte Pickens entgeistert. �Den unheimlichen Sklavenfänger?� Ich nickte nur beklommen. �Es sieht jedenfalls so aus.� �Das will ich genau wissen�, murmelte Pickens. Trotz der Erkenntnis, hier weit und breit allein zu sein, bewegten wir uns doch mit der nötigen Vorsicht. Aber an diesem Wrack war nichts präpariert, wie wir das schon einmal erlebt hatten. Es hatte sich auch niemand versteckt, um uns hinterrücks zu überfallen. Der Stand war etwa zwanzig Yards breit und endete im Dickicht. Direkt davor, als wir gerade den Fuß auf den Strand setzten, blieb Mister Bunk stehen und zeigte auf den Boden. Ein verrosteter Säbel steckte dort im Sand. Er war bis zur Hälfte in den Sand gerammt worden und sah aus, als sei er schon hundert Jahre alt. Der Säbel erregte aber nicht so sehr unsere Aufmerksamkeit. Der Boden war, deutlich sichtbar, zu einem kleinen Grabhügel geformt. Es gab keinen Zweifel, dass in dem Sand jemand begraben lag, der hier vermutlich auf recht grausige Art sein Leben verloren hatte. Offenbar war der Tote auch der Besitzer des rostigen Säbels. Ein Kreuz hatte man sich gespart. Das war das einzige Grab am Strand. Sonst war der Boden eben und glatt. Ich sah wieder zu dem Wrack hin, das jetzt unmittelbar vor uns lag und noch drohender und unheimlicher wirkte als vorhin. �Es ist die ,Sea Cloud', ganz sicher�, sagte ich. �Wir sind lange genug auf dem Sklavenfänger gefahren. Der Name ist zwar nicht mehr zu lesen, und er sieht jetzt ganz anders aus, aber er ist es.� Die Erinnerung an den grausamen Master Pratt überfiel mich wie ein Blitz. Fast leibhaftig standen er und seine düsteren Gesellen vor meinem geistigen Auge. Dabei war es noch gar nicht so lange her, daß wir ihn getroffen hatten, nicht einmal ein Jahr.

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Bei dieser unliebsamen Begegnung hatte sich herausgestellt, daß des Satans Kapitän der Stiefbruder von Master Flanagan war, und beide sich aus tiefster Seele haßten. Hier, an der afrikanischen Küste, war es auch zu dem letzten Duell zwischen den so ungleichen Männern gekommen. Dieses Duell hatte Master Pratt fast das Leben gekostet, und er war entsetzlich zugerichtet kniend auf die Planken gefallen. Wir waren davongesegelt und hatten ihm aus unseren Rohren ein paar Kugeln ins Heck und die achtere Kapitänskammer gefeuert. Offenbar waren das die Spuren, die man heute noch am Schiff sah. Danach hatten wir Pratt und seine wilden Gesellen endgültig aus den Augen verloren. Und jetzt lag das Schiff als Wrack in einer kleinen versteckten Bucht von Annobón! Das war nicht zu fassen! �Ein seltsamer Zufall�, sagte Mister Bunk. �Immer wieder geistert dieser Sklavenfänger durch unser Leben, und ganz besonders durch deines, Howard. Was mag hier nur vorgefallen sein? Ob wir es jemals erfahren werden?� �Ich weiß es nicht�, sagte ich tonlos. �Vielleicht erfahren wir näheres an Bord. Es würde mich auch interessieren, denn das alles ist ja recht geheimnisvoll.� �Dann entern wir auf�, sagte Pickens. �Den Master wird das ganz besonders interessieren.� Wir prüften ein paar Tampen, die außenbords hingen. Einer war so morsch und brüchig, daß er unter meinen Händen brach. Ein eigentümlicher Geruch ging von der �Sea Cloud� aus, ein Geruch, der schon immer an ihr haftete. Es war der Geruch nach Schweiß und Tränen, Blut und Tod. Unvorstellbare Grausamkeiten hatten sich hier an Bord abgespielt. Schon am Geruch des Holzes hätte ich dieses Schiff blind aus hundert anderen herausgefunden. Ich sah auch an Jonnys Gesicht, daß ihn recht üble Erinnerungen bewegten, und er unter anderem wohl auch an das Kielholen dachte, das uns fast das Leben gekostet hatte, oder an Pratts wilde widerliche Orgien, die der düstere Mann hier gefeiert hatte. Lag er unter jenem Hügel im Sand � umgebracht von seinen eigenen Leuten? Der Säbel ließ keinen Schluß zu, denn er war so verrostet und vom Wasser zersetzt, daß ich nicht sagen konnte, wem er einst gehört hatte. Aber das grauenhafte Geheimnis um den Sklavenfänger wollte ich doch versuchen zu lösen, so gut das ging.

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Wir enterten an einem Tampen auf und standen gleich darauf an Deck. Unter unseren Tritten knackte überall bedenklich das Holz, als würde der alte Sklavenjäger unter uns zusammenbrechen. �Himmel, sieht das hier aus�, sagte Jonny. �Aus der Nähe ist das alles ja noch viel schlimmer.� Auf der Kuhl lag eine rostige Eisenkugel. Vielleicht hatte sie den Mast getroffen und zersplittert. Vielleicht auch war der Sklavenfänger unter vollem Preß auf den Strand gesegelt, und hatte dabei durch den Anprall einen Teil seiner Takelage eingebüßt. Wir konnten uns nur auf Vermutungen stützen, denn anscheinend war das Schiff schon seit langer Zeit verlassen. Gewundert hätte es mich allerdings kaum, wenn jetzt des Satans Kapitän plötzlich an Deck erschienen wäre. Sein Geist schien in diesem fluchbeladenen Schiff zu leben, und alles zu beobachten. Mürbes, modriges und zerfetztes Segeltuch lag an Deck herum. Ausgebleichte Fetzen hingen von der einen Rah herab und flatterten leicht in der schwachen Brise. Mister Bunk ergriff meinen Arm. �Sieh mal, dort drüben, auf der Kuhl�, sagte er. Meine Blicke irrten ständig hin und her, und ich konzentrierte mich nicht auf einen Punkt. Jetzt aber tat ich das. Was da neben der zerschmetterten Kuhlgräting auf den Planken lag, war ein Mann, genauer gesagt: Es war sein Gerippe, und es sah mehr als schaurig aus. Es paßte genau zu diesem Schiff und seiner unheimlichen düsteren Atmosphäre. Neben der Gräting lag ein Mann auf dem Rücken, dessen skelettierte Finger im Todeskampf verkrampft waren. Sein grinsender Totenschädel starrte uns aus großen leeren Augenhöhlen an, durch die man seitlich die Planken des Schiffes sah. Teile einer schwarzen Uniform mit Silberknöpfen bedeckten seinen Brustkorb, der aus ausgebleichten Rippen bestand. Die Uniformfetzen bedeckten noch einen Teil der Knie. Die Beinknochen steckten noch in den Stiefeln, in denen er gestorben war. Er schien uns höhnisch anzugrinsen. �Wer kann das sein?� fragte Pickens. �Er hat einen bulligen Knochenbau�, sagte ich, �aber das läßt keine Rückschlüsse zu. Fast alle Kerle waren groß und bullig auf diesem Schiff. Vielleicht ist es Pratt selber.� �Es kann auch Abott sein, der Bootsmann, oder Rodney, der Offizier�, meinte Jonny. �Aber alle trugen doch nicht Uniform?� wandte Pickens fragend ein.

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�Sie trugen alle schwarzes Zeug mit Silberknöpfen, selbst der Profos. Ich kann es wirklich nicht sagen.� Wir traten näher an den Knochenmann heran und besahen uns seine scheinbar grinsende Fratze von allen Seiten. �Ich weiß nur eins�, sagte Jonny, �und zwar, wie die Ratten auf diese Insel gekommen sind. Alles andere sind reine Spekulationen.� Er trat wieder kopfschüttelnd zurück und überließ mir die weitere Begutachtung des Knochenmannes. Auch ich starrte dieses ehemalige Besatzungsmitglied zweifelnd an. Nein, Pratt schien es nicht zu sein, ich konnte mir das einfach nicht vorstellen. �Nun?� fragte Pickens, �rufen Sie sich die Kerle doch alle mal ins Gedächtnis zurück.� �Das tue ich schon die ganze Zeit, Mister Pickens. Aber ich glaube nicht, daß es Pratt ist. Der war größer und wuchtiger. Was meinst du, Jonny?� �Kannst recht haben. Aber in der Hitze haben sich die Knochen möglicherweise verändert oder sind geschrumpft. Ich tippe eher darauf, daß es der Bootsmann Abott ist. Reine Gefühlssache, Mister Pickens.� In diesem Augenblick fiel mir etwas ein, eine Kleinigkeit nur, aber wichtig zur Identifizierung vielleicht. Ich blickte noch einmal genau hin. �Ich weiß jetzt, wer er ist. Der Zimmermann O'Neill, der Ire.� Pickens sah mich genauso überrascht an wie Jonny. �Wie willst du das so genau wissen, Bonty?� �Der Zimmermann O'Neill hatte mal vor vielen Jahren einen kleinen Unfall. Er war einer der Kerle, die sich noch ein wenig Menschlichkeit bewahrt hatten. Er erzählte mir einmal flüchtig, daß ihm eine Musketenkugel das erste Glied des kleinen Fingers weggerissen hatte. Das war an seiner linken Hand. Genau das ist bei ihm der Fall. An der linken Hand fehlt der oberste Fingerknochen.� �Tatsächlich�, sagte Jonny, �jetzt erinnere ich mich auch. Wir sprachen mal darüber. Der Zimmermann also.� �Dann wäre eins der vielen Rätsel gelöst�, sagte Pickens, �wo aber mögen die anderen Kerle geblieben sein?� �Überlebende hat es sicher gegeben, was immer hier auch vorgefallen sein mag�, sagte Bunk in seiner ruhigen Art. �Darauf lassen die Beiboote schließen, es befindet sich nämlich kein einziges mehr an Bord. Wahrscheinlich sind die restlichen Kerle damit zum afrikanischen Festland gesegelt.�

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�Sehr gut�, meinte Pickens anerkennend. �Vermutlich gibt uns das Wrack noch weiteren Aufschluß.� Wir sahen uns zunächst im Forecastle um. Dort war alles kurz und klein geschlagen, als hätten die Berserker gewütet. Die Kojen waren nur noch Trümmerhaufen. Einen weiteren Knochenmann fanden wir in den zerschlagenen Bunks nicht. Die Frachträume der �Sea Cloud�, die soviel menschliches Elend gesehen hatte, waren ebenfalls leer. In den Balken befanden sich nur noch rostige Ketten, mit denen die Negersklaven früher angekettet waren. Die Kombüse gab auch nichts her. Dort fanden sich nicht einmal verfaulte oder vertrocknete Lebensmittel. Sie war unaufgeräumt wie immer und schmuddelig, seit Cookie hier nicht mehr Koch war. �Das läßt darauf schließen�, vermutete Pickens, �daß die Kerle buchstäblich bis zum Schluß hier gewesen sind. Oder aber sie haben den restlichen Proviant in die Boote verfrachtet. Wahrscheinlich haben sie sich ordentlich in die Haare gekriegt.� �Das war keine Seltenheit an Bord�, sagte ich. �Aber das Gerippe des Zimmermanns weist keine Verletzungen auf. Auch der Schädel ist noch heil.� Wir konnten spekulieren wie wir wollten, die Wahrheit würden wir doch kaum herausfinden, dachte ich. Die �Sea Cloud� gab nur einen kleinen Teil ihres düsteren Geheimnisses preis. Alles andere verschwieg sie uns. Die Hitze war kaum auszuhalten. Dazu kam diese unheilschwangere Atmosphäre, das Knacken und Ächzen der Planken und das Wasser, das murmelnd an den Rumpf klatschte. Hin und wieder fuhren wir herum, wenn es bedenklich laut knackte. Ich nahm immer noch an, daß plötzlich jemand erscheinen würde, obwohl das so gut wie ausgeschlossen war. Auf diesem Schiff gab es kein Leben mehr. Im Quarterdeck klafften Löcher, durch die man fahles Licht erkennen konnte. In einem der Räume stand grünlich schimmerndes Wasser, das leise, glucksende Geräusche erzeugte. Wir hatten schon viele Wracks gesehen, und ich erinnerte mich an ein ganz besonders unheimliches im Sargassomeer, aber die �Sea Cloud� übertraf das mühelos. Sie wirkte noch schlimmer. Ich sah auch, daß selbst Mister Bunk sich hin und wieder umdrehte und mißtrauisch alle Decks musterte.

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�Das dürfte das endgültige Ende des Sklavenfängers sein�, sagte Pickens, �dieses Schiff wird nie wieder über die Meere segeln. Es wird in dieser Bucht still verrotten und verkommen, bis es in alle Teile auseinander fällt.� Vorsichtig gingen wir weiter, schauten in die Segellast, sahen in den Offizierskammern nach und entdeckten nur, daß alles ausgeräumt worden war. Es gab keine Bekleidungsstücke mehr an Bord, kein Schießpulver, keine Kugeln. In den Kammern standen die leeren Schapps weit offen und gähnten uns an. Hin und wieder knarrte unheimlich laut ein Schott. Als wir vor Pratts Kammer standen, hatte ich das Gefühl, als würde das Schott sich jeden Augenblick öffnen und des Satans Kapitän heraustreten. Ich glaubte seine Anwesenheit überdeutlich zu spüren. Pickens riß das Schott mit einem harten Ruck auf. Dann betraten wir die Kapitänskammer. Ein süßlicher warmer Wind blies uns in die Gesichter, entstanden von dem offenen Schott und den zerplatzten Scheiben. Ob diese Zerstörung noch von uns stammte, ließ sich nicht mit Sicherheit sagen. Wir hatten der �Sea Cloud� jedenfalls einen Schuß in die achtere Kammer verpaßt und die Bleiglasscheiben zerstört. Zuerst glaubte ich, der süßliche Geruch stamme von verwesten Körpern, so aufdringlicher war er. Im ersten Augenblick roch es, als würde der Pesthauch aus offenen Gräbern herüberwehen, dann erkannte ich den wahren Grund. Überall lagen Scherben. Die gesamte Kammer war damit übersät, selbst die Kojen. Rumflaschen mußten hier voller unbeschreiblicher Wut gegen die Wände geworfen worden sein. Der Rum, oder irgendein anderer übler Fusel, hatte das Holz getränkt, und der Geruch war trotz der zersplitterten Scheiben geblieben. In Pratts Kammer herrschte die größte Unordnung. Auch hier waren Schapps und Schränke offen, Schubladen herausgerissen oder weitere Flaschen in die Schapps geworfen worden. In der Koje lag nur noch eine Decke, ebenfalls von Splittern und Scherben übersät. Seekarten und der größte Teil des Mobiliars waren verschwunden. Vielleicht hatten die Kerle einen Teil davon am Strand verheizt und Lagerfeuer entzündet. Pickens rieb sich nachdenklich das Kinn, wobei er sich kopfschüttelnd nach allen Seiten umsah.

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�Der Teufel mag wissen, was hier vorgefallen ist. Die Kerle haben hier wie die Wilden gehaust und alles zerstört. Hier ist jedenfalls nichts zu holen, und die Kammer gibt uns auch keinen weiteren Aufschluß.� Wir schlossen die Möglichkeit aus, daß der Sklavenfänger aufgebracht und ausgeplündert worden war, denn alles sprach dagegen. Pratts Männer mußten regelrecht Amok gelaufen sein. Aber weshalb nur? War der finstere Master etwa wahnsinnig geworden, seit er die schwere Niederlage erlitten hatte? Auch darauf erhielten wir keine Antwort. Wir sahen uns noch in den beiden Gästekammern um und fanden dort die gleiche Unordnung vor. Pickens ließ das Geheimnis um den Sklavenfänger keine Ruhe, und er durchstreifte immer wieder das Schiff, um weitere Anhaltspunkte zu finden. Das einzige, was wir noch entdeckten, war der Name �Sea Cloud�, der im Kielschwein eingebrannt war. Aber das hatten wir inzwischen längst herausgefunden. Es war jetzt fast noch heißer geworden. Die Planken des Schiffes warfen die Hitze zurück und strahlten sie in teuflischer Konzentration aus, so daß man es selbst in schattigen Winkeln kaum aushielt. Ganz besonders schlimm war es in den tiefer gelegenen Räumen, denn dort stand die Hitze wie eine Mauer. Es war so stickig, daß wir kaum noch Luft kriegten. Später standen wir wieder etwas ratlos an Deck und sahen unseren Zweiten an, der die Decks musterte und dann mit den Schultern zuckte. �Kein Ergebnis�, meinte er. �Wir sind fast so schlau wie am Anfang.� Er blickte auf das Skelett, als würde es ihm das Geheimnis um den Sklavenfänger verraten. Aber der ehemalige irische Zimmermann schien uns immer noch höhnisch anzugrinsen und sich darüber satanisch zu freuen, dass wir nichts herausfanden. �Kehren wir wieder zurück�, sagte Pickens. Ein entsetzlich lautes Krachen durchbrach die unheimliche Stille. Wir alle fuhren blitzschnell herum. �Vorsicht�, brüllte Bunk, �die Rah!� Mit ein paar Schritten sprangen wir entsetzt zurück, denn es krachte noch einmal im Mast. Die Rah zitterte und schwankte, dann löste sie sich und kam herab. Sie donnerte mit einer Wucht an Deck, daß wir alle erneut zusammenzuckten. Sie knallte auf die rissigen Planken und donnerte dann auf das Schanzkleid. Mit einem lauten Knirschen ging der

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Handlauf zu Bruch und zersplitterte. Die Rah kippte zurück und blieb an Deck liegen. Wir sahen uns an, sagten aber nichts. Ich wollte schon sagen: �Das war der Geist von Habakuk Pratt`, ließ es jedoch noch rechtzeitig bleiben, weil es einfach absurd war. Es schoß mir nur gerade so durch den Kopf. Pickens wandte sich kopfschüttelnd und etwas blaß ab und winkte uns, ihm zu folgen. �Zurück, Männer, wir verschwenden nur unsere Zeit. Hier gibt es für uns keine weiteren Erkenntnisse.� Wir enterten an den Tampen wieder ab und waren froh, wieder sicheren Boden unter den Füßen zu haben. Hier konnte uns wenigstens nichts mehr auf die Köpfe fallen. Jonny und ich blieben noch einen Augenblick stehen und sahen uns den Höllensegler an. Er wirkte nach wie vor unheimlich, abstoßend, erschreckend und doch auf eine merkwürdige Art faszinierend. �Den sehen wir nie wieder�, prophezeite Jonny, �mit Master Pratt und seiner Bande ist es wohl endgültig aus.� �Das erleichtert mich�, gab ich zur Antwort, �das Schiff und sein Kapitän waren für mich immer die reinsten Alpträume. Aber du hast recht, Jonny, die ,Sea Cloud' wird nie wieder in See gehen und unschuldige Neger fangen.� Pickens suchte noch den Strand nach Brandstellen ab und fand auch welche. Es gab drei dunkle Flecken im Sand. Als er mit den Stiefeln den Sand wegschob, kamen Reste von Holzkohle zum Vorschein, und wir fanden einen rußgeschwärzten, total zerbeulten Kochtopf. �Hier haben sie tatsächlich das Mobiliar verheizt�, meinte er. Jonny war inzwischen ein paar Yards nach links gegangen, um einem menschlichen Bedürfnis nachzugehen. Er ging auf das Dickicht zu und blieb abrupt stehen, als hätte man ihm einen Hammer auf den Schädel gehauen. Ich sah, wie er heftig zusammenzuckte. �Kommt mal her! � rief er. Wir rannten zu ihm hin und starrten in das Dickicht. Pratts Männer hatten da eine Nische hineingeschlagen, die wie ein Unterschlupf für schlechtes Wetter aussah. Über der Nische wölbte sich sattes Grün, sie war nur nach vorn hin offen. Drei, vier Mann hatten in der Nische bequem Platz. Weshalb sie diese Nische geschlagen hatten, blieb ebenso rätselhaft wie alles andern Sklavenfänger.

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Ich prallte zurück, als ich den Knochenmann sah, der mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden hockte und mit dem Rücken an den Asten und Blättern lehnte. Sein Gesicht glich dem einer Mumie. Die Haut war eingetrocknet und spannte sich wie Pergament über den Backenknochen. Nase und Augen waren eingefallen. Die Knochen selbst waren pechschwarz. Die Hände lagen auf den Oberschenkeln, und zwischen seinen skelettierten Knien stand ein Tonkrug. Auch er trug eine vermoderte schwarze Uniform, die Kluft der Sklavenjäger. Aber diese Uniform bestand nur noch aus halbverblichenen Stoffresten. Seine Beine steckten in Stiefeln, und überall aus seiner Kleidung sahen diese pechschwarzen Knochen hervor. Der Anblick dieses Mannes war noch schlimmer als der des Iren. Dieser hier schien zu leben, wenn die Sonne durch das Blätterdach funkelte und die Lichtreflexe sich veränderten. Über sein mumifiziertes schwarzes Gesicht huschte dann jedes Mal ein Schimmer, als würde er flüchtig grinsen. �Könnt ihr ihn identifizieren?� fragte Pickens leise. �Ist er etwa des Satans Kapitän?� �Nein�, sagten Jonny und ich fast unisono. �Pratt ist es auf keinen Fall, das kann ich beschwören�, setzte ich hinzu. �Und woher wollen Sie das so genau wissen, Bonty? Das Gesicht ist total entstellt. Vielleicht hat den Kerl sogar die Pest erwischt.� �Pratt ist viel breiter, Mister Pickens, und er hat ein viel stärkeres Kinn als dieser Mann. Ich kenne ihn jedenfalls nicht.� �Es sind ja auch ständig neue Leute hinzugekommen�, meinte Jonny. �Es kann einer von den Neuen sein. Sagten Sie, die Pest, Sir?� Jonny trat unwillkürlich zurück und stieß einen unterdrückten Fluch aus. Schaudernd sah er auf den unheimlichen Knochenmann. �Dann sollten wir hier aber ganz schnell verschwinden.� �Es besteht die Möglichkeit�, sagte Pickens heiser. �Natürlich ist das nicht sicher. Aber ich habe schon ein paarmal Pesttote gesehen, die die gleichen Verfärbungen aufwiesen.� �Dann hätten sieh die anderen vermutlich auch angesteckt�, meinte Jeremias Bunk ernst. �Das Gerippe an Deck weist aber keine derartigen Verfärbungen auf.� �Trotzdem muß man das annehmen und vorsichtig sein. Es gibt mir zu denken, daß man diese Nische geschlagen hat. Weshalb, aus welchem

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Grund? Etwa um ein paar Kranke zu isolieren? Sonst ergäbe das alles doch keinen Sinn.� Jetzt wurde auch Bunk sehr nachdenklich. Auch er trat rein instinktiv ein paar Schritte von der Nische zurück. Er schluckte hart. �Vielleicht haben Sie recht, Mister Pickens. Da ist nämlich noch ein Punkt: Sie haben einen Mann an Land begraben. So wie ich die rauhen Kerle kenne, hätten sie sich die Mühe erst gar nicht gemacht, sondern den Toten ins Wasser geworfen. Was tun wir jetzt, Mister Pickens?� �Abhauen�, erwiderte der Zweite Offizier lakonisch, �und zwar augenblicklich. Vor allem nichts mehr anfassen.� Trotzdem blieben wir alle noch einen Augenblick wie gelähmt stehen und sahen auf den furchtbar mumifizierten Knochenmann, über dessen schwarzes Gesicht jetzt wieder seltsame Lichter zuckten und es in eine fürchterliche Visage verwandelten. �Vermutlich hat es hier eine Panik gegeben�, sagte Jonny, �die Kerle sind vor Angst aufeinander losgegangen, haben alles kurz und klein geschlagen und sind mit den Booten verschwunden.� Alles waren bloße Theorien und Annahmen. Die �Sea Cloud� würde ihr Geheimnis wohl für alle Zeiten bewahren, dachte ich und spürte wieder jenen kühlen Schauer, der mir unangenehm über den Rücken lief. Wir verließen die Stätte des Grauens und kehrten auf demselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Später schoben wir das Beiboot ins Wasser und pullten an Bord der �King Charles� zurück. �Das hat reichlich lange gedauert�, sagte Master Flanagan mißbilligend und mit hochgezogenen Augenbrauen. �Was ist passiert?� �Die Gefechtsbereitschaft kann aufgehoben werden�, erwiderte Pickens. �Das Schiff ist die ,Sea Cloud', das haben wir einwandfrei festgestellt.� Flanagans Körper versteifte sich. In seinen Augen lag ein bedrohliches Funkeln. Immerhin war Pratt ja sein Stiefbruder. Flanagan war sonst kaum aus der Ruhe zu bringen, aber diesmal schien ihn die Nachricht doch zu erschüttern und aufzuwühlen. �Erzählen Sie kurz und knapp�, forderte er Pickens barsch auf. �Und unterlassen Sie diesmal Ihre blumigen Beschreibungen. Ich möchte einen kurzen nüchternen Bericht.� Pickens beschränkte sich auf die wesentlichsten Punkte, ließ nichts aus und fügte nichts hinzu. Das hätte auch gar nicht seinem Wesen entsprochen.

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Als er endete, hatten sich die hellen Augen Flanagans verdüstert. Er starrte eine Weile schweigend ins Wasser. �Pratt ist also nicht unter den Toten�, sagte er leise. �Sind Sie sich da ganz sicher?� Bonty und Jonny werden es Ihnen bestätigen, Sir. Ich kannte ein paar Leute von dem Sklavenfänger nur sehr flüchtig.� �Nein, Sir, Master Pratt war nicht unter den Toten�, bestätigte ich. �Möge er sich hüten, nochmals meinen Weg zu kreuzen�, sagte der Master flüsternd. Doch die Worte waren nicht für uns bestimmt, er sagte sie mehr zu sich selbst, �Ich weiß nicht, ob ich richtig handelte, Sir�, sagte Pickens, �aber ich habe das Wrack nicht in Brand stecken lassen, wie ich es anfangs vorhatte. Wenn Sie das anordnen, können wir es jederzeit nachholen.� Flanagan starrte in weite unbekannte Fernen. Er schien Pickens Worte gar nicht gehört zu haben. Erst nach einer Weile gab er sich einen kleinen Ruck. �Wie? Nein, nein, das Wrack bleibt da liegen. Es geht uns nichts mehr an. Und die Toten bleiben ebenfalls an Ort und Stelle. Wenn da wirklich eine Krankheit ausgebrochen sein sollte, dann kann ich nicht das kleinste Risiko eingehen, nur wegen einer halben Handvoll Menschenjäger. Da ist jede Humanität fehl am Platz. Und jetzt gehen wir ankerauf, Mister Pickens und setzen die Segel. Die nächste Ruderwache übernimmt Mister Prescott.� �Aye, aye, Sir.� Pickens war offenbar froh. sich um andere Dinge kümmern zu können, denn das Thema Pratt war doch eine heikle Sache und rührte an Dinge, die Flanagan lieber vergessen wollte. Ich sah wieder deutlich den Kampf auf Leben und Tod zwischen den beiden Stiefbrüdern vor meinem geistigen Auge ablaufen. Als der Anker auf und nieder war, nahmen wir langsam Fahrt auf. In der Zwischenzeit, wo wir die �Sea Cloud� entdeckt hatten, waren Trinkwasser und Früchte bereits weggestaut worden. Ein paar der Leute mampften noch an ihren Früchten. Jeder durfte sich soviel holen wie er wollte, denn die Früchte verdarben ziemlich schnell. Wir segelten langsam weiter nach Norden. An Bord hatte sich natürlich wieder einmal in Windeseile herumgesprochen, was in der Bucht passiert war. Jetzt hingen fast alle über das Schanzkleid gelehnt und Starrten nach Steuerbord hinüber, um nur ja einen langen und ausgiebigen Blick in die Bucht werfen zu können. Verständlich, daß jeder das unheimliche Schiff einmal sehen wollte.

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Selbst Flanagan schloß sich davon nicht aus. Eigentlich hatte ich erwartet, er würde der kleinen Bucht noch einen persönlichen Besuch abstatten, aber darauf hatte er verzichtet. Jetzt stand er auf dein Achterdeck und blickte durch das Spektiv. �Sieht man das Wrack von hier aus?� fragte El Pomado mich. �Und sieht man auch die Knochenmänner?� �Ja, das Wrack sieht man. Den einen Knochenmann an Deck wahrscheinlich nicht. Der andere hockt im Gebüsch. Wir segeln ja ziemlich dicht dran vorbei.� Flanagans Gesicht sah jetzt ebenfalls düster und drohend aus, als wir den Eingang zur Bucht passierten. Sein Augenmerk konzentrierte sich ganz besonders auf das anonyme Grab im Sand. Es interessierte ihn mehr als das Schiff selbst. Vielleicht wähnte er unter dem Grabhügel doch seinen Stiefbruder, obwohl wir anderen diese Möglichkeit einfach ausschlossen. Denn ganz sicher hätte einer seiner Kerle zumindest die Initialen seines Namens irgendwo eingeritzt. Ein Rest Ungewißheit blieb also in jedem Fait Nichts konnte einwandfrei bewiesen werden. Da lag er, der düstere Viermaster, diesmal aus einer ganz anderen Sicht betrachtet. Er wirkte genauso unheimlich wie vorhin. Wie ein riesiger schwarzer Wal war er ein paar Yards auf den Strand gelaufen und dort stecken geblieben, wobei er sich seine leichte Schlagseite zugelegt hatte. Schweigen herrschte an Bord. Man hörte nur den Wind in der Takelage singen. Jeder starrte gebannt auf das einsame Wrack, und jeder versuchte natürlich auch einen Blick in die Nische des Knochenmannes zu erhaschen, wohl aus dem Grund, weil das aus sicherer Entfernung so schön gruselig war. Er war auch von hier aus zu sehen, wie er an den Ästen lehnte, den Krug zwischen den Beinen und zu grinsen schien. Ein paar Männer bekreuzigten sich hastig und murmelten etwas vor sich hin. �Mann�, sagte El Pomado, �das ist ja ein ganz unheimlicher Geselle. Ich möchte nicht für hundert Pfund auch nur eine einzige Nacht oder einen Tag in der Bucht allein verbringen.� �Die wird dir auch kaum jemand zahlen�, meinte Pete Bird. �Und so ein Gerippe kann mich nicht im geringsten erschüttern. Der Kerl tut keinem mehr etwas.� �Das sagst du so leicht dahin. Sein Geist kann aber noch in der Bucht umgehen und die Leute erschrecken.�

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El Pomado schüttelte sich zwar leicht, doch er konnte den Blick einfach nicht abwenden, so eindringlich war das Bild, das sich seinen Augen bot. Kurz danach verschwand die Bucht. Eine vorgelagerte Landzunge entzog sie immer mehr unseren Blicken, bis nur noch der eine Mast der �Sea Cloud� zu sehen war. Danach geriet El Pomado ins Schwärmen und erzählte mir, daß er auch mal liebend gern auf dem Schiff gefahren wäre, unter dem schrecklichen und grausamen Kapitän des Satans. Er sah das mal wieder von der heroischen Seite und wäre zu gern zu Ruhm und Ehren gelangt. �Ich habe weder Ruhm noch Ehre errungen, obwohl ich eine Zeitlang auf dem Menschenfänger gefahren bin�, sagte ich, um ihn wieder zu ernüchtern. �Da gab es nur Leid und Trauer, Mord und Totschlag und unvorstellbare Grausamkeiten an Bord. Jonny und mich hätte es fast das Leben gekostet.� �Aber daraus lernt man, davon wird man hart�, meinte er voller Überzeugung. �Ihr könnt wenigstens was erzählen, und ihr seid in kurzer Zeit richtige Kerle geworden.� Jonny hörte grinsend zu, wenn El Pomado ins Schwärmen geriet. �Du bist doch schon ein richtiger Kerl�, sagte er zu El Pomado, �ein Kerl wie Jesus sein Gaul.� �Jesus sein Gaul?� fragte El Pomado. �Ich denke, das war ein Esel.� �Richtig�, griente Jonny, �das darf man aber nicht so eng sehen. Immerhin hast du auch den Äquator entdeckt.� An jenem Tag drehten sich die Gespräche nur um das schwarze Wrack und seine unheimlichen Toten. Im Batteriedeck wurden haarsträubende Geschichten erzählt. Das ging die halbe Nacht so, erst dann beruhigten sich die Gemüter langsam wieder.

* Der Januar neigte sich seinem Ende zu, als etwas geschah, das uns in allergrößte Schwierigkeiten bringen sollte. Wir lagen auf Westnordwest-Kurs, hatten den Äquator endgültig überschritten und wollten gegen Mittag auf Westkurs gehen, um ein Stück parallel zur Elfenbeinküste zu segeln. Im Golf von Guinea herrschte immer noch diese fürchterliche feuchte und stickige Hitze. Der Himmel hatte seine Farbe in den letzten 'ragen nicht. verändert.

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Die Besatzung ging ziemlich lustlos, matt und schläfrig ihrer Arbeit nach, die drei Mal am Tag darin bestand, alle Decks der �King Charles� kräftig unter Wasser zu setzen und zu wässern. Bei diesem schwül-warmen Wetter beschäftigte Pickens die Männer meist mit leichten Arbeiten. Da wurde Werg gezupft, Tauwerk geteert, Tauwerk gelabsalt oder undichte Stellen wurden in aller Gemütlichkeit kalfatert. Kid Holloway, der Witzbold vom Dienst, ging Ausguck, und schon bald darauf war seine helle Stimme zu hören: �Deck! Wal bläst auf Backbord voraus!� Solche Meldungen waren eigentlich bei den Schiffen der Company nicht üblich, das ging eher die Walfänger etwas an. Aber Holloway wollte wohl die schläfrigen Gestalten etwas hochpurren und ermuntern. Das war auch tatsächlich der Fall. Die eben noch so müde an Deck bockenden Kerle rissen die Köpfe hoch und standen auf, um den Blow out eines Wales zu sehen, obwohl den jeder kannte. Der Wal blies auf Backbord voraus eine riesige Fontäne in die Luft. Sein mächtiger Körper walzte träge durchs Wasser, der riesige Kopf hob sich, verschwand wieder. Dann kam die gigantische Fluke aus dem Wasser, ein Anblick, der immer wieder faszinierte, und dem man stundenlang zuschauen konnte. Ein wilder Wasserwirbel brach auf. Dann tauchte das Tier weg und verschwand in der Tiefe. Der Gigant des Meeres und der Tiefsee tauchte jedoch überraschend schnell wieder auf, diesmal knapp eine Kabellänge von der �King Charles� entfernt und blies wieder seinen wilden Atem aus. China-Harry sah stirnrunzelnd auf den Giganten, der sich an uns überhaupt nicht zu stören schien. �So schnell schwimmt selbst der schnellste Wal nicht�, sagte er verwundert, �und so schnell tauchen die Burschen normalerweise auch gar nicht wieder auf.� �Ich weiß�, entgegnete ich, �Jonny und ich sind ja selbst mal auf einem Walfänger gefahren. Dies hier ist ein anderer Wal, es ist nicht derselbe.� �Hat aber genau denselben Kurs drauf�, sagte Harry. Jetzt blickten alle auf den glänzenden Riesen, der mit seiner Fluke wild das Wasser peitschte und kurz danach auf Tiefe ging. Der Wirbel war noch eine ganze Weile lang zu sehen. Etwas später erschienen weitere Wale, die alle der Küste zustrebten.

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Jetzt begann es interessant zu werden. Offenbar waren wir in eine Walschule geraten. Es wurden immer mehr Tiere, und immer wieder bliesen sie ihre Fontänen über das Meer, daß es aussah, als würden dort pausenlos schwere Kugeln ins Wasser schlagen. Dieser Anblick hätte das Herz jeden Walfängers erfreut, und sie hätten hier reiche Beute gefunden. Eine ganze Weile ergötzten sich alle an dem Schauspiel, denn es war wirklich eine nette Abwechslung im Bordleben, dann erschien Pickens und zog ein bedenkliches Gesicht. �Hoffentlich donnert uns nicht einer dieser Riesen ans Schiff�, meinte er, �die scheinen ganz aufgeregt zu sein.� Jonny berichtete kurz, daß uns auf dem Walfänger einmal ein Wal gerammt und in eine lebensgefährliche Lage gebracht hatte. Das Schiff hatte bei der Ramming sogar Feuer gefangen und war halb gekentert. �Aber da haben wir ihn auch gejagt und verletzt. Vielleicht hat er sich in seiner Angst oder Wut nur an uns gerächt�, schloß Jonny. �Hier weichen uns die Wale ganz sicher aus.� Wir blickten wieder aufs Meer, diesmal etwas besorgter, denn immer mehr Tiere kamen aus den Tiefen des Atlantiks und strebten der Küste zu. Sie schienen wirklich sehr aufgeregt zu sein, wie Pickens gesagt hatte. Soweit man das bei einem Wal beurteilen konnte. Irgendetwas schien sie jedoch mit Gewalt an die Strände zu locken. Nach einer Weile sahen selbst der Master und der Erste Offizier Finn besorgt drein. �Nicht mehr lange, dann kreuzt diese Walschule direkt unseren Kurs�, meinte Finn. �Ich weiß nicht, was mit den Tieren los ist, aber sie scheinen mir sehr nervös zu sein. Wir sollten lieber den Kurs etwas ändern, Sir, wenn ich das vorschlagen darf.� �Ja, ich halte das auch für besser. Wir gehen jetzt schon auf Westkurs und lassen die Wale an Steuerbord vorbei. Sie befürchten, daß eins dieser Tiere uns versehentlich rammen könnte, nicht wahr?� �Genau das befürchte ich, Sir. Diese Tiere scheinen einem Instinkt zu folgen, der sie blind für alles werden läßt, was in ihrer unmittelbaren Nähe vorgeht. Bekanntlicherweise sehen Wale auch nicht sehr gut.� Die Kursänderung wurde befohlen. Mit Fallen und Schoten wurden die Segel nachgetrimmt. Wir drehten auf Westkurs. um der durch das Meer rasenden Meute auszuweichen. Der Anblick dieser tobenden Walherde beunruhigte auch mich. So hatte ich die Wale noch nie gesehen. Es schien, als würden sie einer drohenden Gefahr ausweichen.

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Das konnte etwa ein Seebeben sein, oder alles mögliche, denn der Instinkt dieser Tiere war besonders gut ausgeprägt. Diese Erfahrung hatte ich längst hinter mir. Wir lagen kaum auf dem neuen Kurs, als unmittelbar vor dem Bug ein ungewöhnlich riesiges Exemplar auftauchte. Instinktiv suchte jeder in diesem Augenblick nach einem Halt. Brüllend und fauchend stieg eine Wassersäule aus dem Meer, so dicht in unserer Nähe, daß wir sogar das Auge des Wales sehen konnten. Es blickte auf eine merkwürdige Art menschlich, aber auch gleichgültig, als sähe es die Gefahr gar nicht. �Junge, Junge, war das knapp�, sagte Terence Dexter. �Fast hätte uns das Biest gerammt. Der rennt ja wie blind in sein Unglück.� Erleichtert atmeten wir auf. Ihre mächtigen Leiber stießen nur kurz in die See, dann kamen sie wieder hoch und vollführten wilde Sprünge, ähnlich wie die der Delphine, nur schwerfälliger und etwas träger. Ich kehrte aufs Achterdeck zurück, weil Jonny jetzt die nächste Ruderwache übernahm und Jeremias Bunk ablöste. Die Ausgucks wurden jetzt mit zwei Mann: besetzt, die hauptsächlich Wale melden sollten, die, genau Kurs auf unser Schiff hielten. Sah man sie rechtzeitig, dann bestand die Möglichkeit diesen wie wild durch das Meer pflügenden Kolossen noch rechtzeitig auszuweichen. Nach einer knappen halben Stunde, wir hatten jetzt schätzungsweise etwa fünfzig Wale gesichtet, machten wir eine erstaunliche Entdeckung. Es war Mister Finn, der verblüfft den Kieker absetzte und auf das Land auf der Steuerbordseite deutete. �Sehen Sie sich das bitte einmal an, Sir. Unglaublich, was da geschieht.� Flanagan hatte nur Augen für die Kolosse, die eventuell unseren Kurs kreuzen würden, denn sie waren einfach unberechenbar. Sonst wichen sie jedem Hindernis aus oder tauchten weg, aber hier waren sie wie sture Büffel, die ihr Wegerecht verlangten und darauf loshielten, egal welch großer Brocken ihnen im Wege stand. Was wir jetzt sahen, erschreckte und verunsicherte uns noch mehr. Zwei dieser tonnenschweren Riesen rasten stur auf den Strand zu. Nichts und niemand vermochte sie in ihrer selbstmörderischen Absicht aufzuhalten. Wie riesige Geschosse stoben sie auf den Strand zu. Waren sie erst einmal im seichten Wasser, dann konnte es ihr Ende bedeuten. Das schien sie jedoch nicht davon abzuhalten. Unbeirrbar

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zogen sie weiter, gefolgt von einer ganzen Schule, die aus etwa einem Dutzend Wale bestand. Fassungslos sahen wir diesem mörderischen Schauspiel zu. Offenbar war das Wasser dicht unter Land noch tief genug, um sie ganz nahe an den Strand herankommen zu lassen. Dann hob sich der erste Körper mächtig aus dem Wasser heraus, die riesige Fluke peitschte die Luft � der Wal saß fest und legte sich etwas auf die Seite. Der zweite Wal fegte heran und strandete ebenfalls. Durch den Kieker war das ganz deutlich zu erkennen. Ich sah, daß Finn schluckte, den Kicker absetzte und sich hastig nach allen Seiten umsah, als drohe uns unmittelbare Gefahr. Aber da gab es nichts zu sehen. Die See war ruhig mit leichter Dünung, bis auf die überall auftauchenden Wale. Zwei der Kolosse wanden sich jetzt am Strand. Ihr eigenes Gewicht schien sie zu erdrücken. Dann fegte der nächste heran, mitten hinein, wie bei einer Ramming, die mit voller Absicht. herbeigeführt wurde. �Was bewegt diese Wale, sich auf den Strand zu stürzen?� fragte unser Erster besorgt. �Wissen Sie eine Antwort darauf, Mister Pickens? Ich selbst habe leider keine Erklärung.� Unser allwissender Pickens hatte so etwas auch noch nicht gesehen und mußte vor der Frage hilflos kapitulieren. �Ich weiß es nicht�, sagte er, �die Welt ist noch voller ungelöster Rätsel. Es muß vom Atlantik her eine Gefahr geben, die die Wale erkannt haben. Möglicherweise doch ein Seebeben.� �Das ist doch kein Grund, sozusagen Selbstmord zu verüben�, widersprach Finn. �Ich bin diesmal wirklich überfragt, ich habe keine Antwort. Ich habe nur mal gehört, daß man etliche töte Wale an den Stränden gefunden hat, die aus unbekannten Gründen an Land geschwommen sind. Sogar Fischer haben schon versucht, die Kolosse wieder ins Meer zurückzubringen, und wenn sie es unter unsäglichen Strapazen geschafft hatten, dann benahmen sich die Wale wie verrückt und rasten wieder auf das Land zu.� �Noch ein Ausguck nach oben�, befahl der Master, der zu unserer Unterhaltung keinen Kommentar abgegeben hatte. �Schärfen Sie den Ausgucks ein, Mister Pickens, daß sie auf jede Kleinigkeit achten sollen, ganz besonders aber auf die Veränderungen des Meeres. Es kann, dem Verhalten der Wale nach, durchaus sein, daß sich eine Flutwelle nähert, ausgelöst etwa durch ein Seebeben.�

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�Hier gibt es keine sogenannten Tsunamis, Sir�, sagte Pickens, �die Flutwellen finden sich meist im Pazifik, oder in der Java-See.� �Tun Sie, was ich Ihnen sagte�, rief Flanagan scharf, �und diskutieren Sie jetzt nicht meine Anordnungen. Auch hier kann es Flutwellen geben, die durch unterseeische Beben ausgelöst werden.� Pickens lief rot an, nickte hastig, räusperte sich und befahl den dritten Ausguck nach oben. Ausdrücklich schärfte er ihm ein, auf jede kleinste Veränderung zu achten. Der Selbstmord der Wale ging unterdessen weiter. Mittlerweile waren bereits ein halbes Dutzend Tiere gestrandet, die jetzt in der mörderischen Hitze auf dem Strand lagen, austrockneten oder durch ihr eigenes Gewicht erdrückt wurden. Es war ein schrecklicher Anblick, und mir taten diese ungeschlachteten Tiere leid, zumal man ihnen in keiner Weise helfen konnte. �Wal auf Backbord!� schrie einer der Ausgucks gellend. �Er liegt genau auf Rammkurs.� In der Ferne war ein auf- und abtauchender grauschwarzer Riesenkörper zu sehen. Der gewaltige Leib glänzte und glitzerte in der Sonne. Tonnenweise troff das Wasser von ihm ab. Seine Fluke peitschte das Wasser zu schaumigen Wirbeln. �An Brassen und Schoten!� rief Flanagan. �Zwei Strich nach Backbord abfallen.� Der Riese stob weiter durch das Meer, umtost von gewaltigen Wasserwirbeln, Schaum und Gischt. Zwischendurch blies er riesige Fontänen ab. Ruder wurde gelegt, fast in Richtung des heranbrausenden Ungetüms, um ihm auszuweichen. Die �King Charles� brauchte eine Weile, um dem Ruder zu gehorchen. Sie war schwer beladen, lag tief im Wasser und war außerdem noch von Muschelbewuchs behangen, der das Manövrieren erschwerte. Wir schafften es jedoch und behielten den Riesenwal im Auge. Es würde etwas knapp werden, aber nicht zur Kollision kommen. Gerade als der neue Kurs anlag, drehte sich der schwere Körper etwas zur Seite. Donnernd und von einem singenden Geräusch begleitet stieß der Riese die Luft aus. Dann hielt er genau Kurs auf unser Schiff, als wollte er uns absichtlich rammen. An Bord herrschte jetzt einige Nervosität. Der Stückmeister Jim Corcoran rannte herum und fragte, ob wir auf das Monstrum schießen sollten, um es zum Stoppen zu bringen.

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Flanagan gab keine Antwort. Er hielt es wohl auch für sinnlos. Bis die Stückpforten hoch und die Kanonen ausgerannt waren, würde es längst zu spät sein. Außerdem konnte das schnelle, auf- und abtauchende Ziel nicht genau anvisiert werden, es bewegte sich viel zu schnell durch sein Element. Corcoran sprang an die vordere Drehbasse, ohne einen weiteren Befehl abzuwarten. Die Drehbasse war mit Grobschrot geladen, größeren Eisen- und Bleistücken, und war feuerbereit. Wie ein gewaltiger Rammbock hielt der. Wal weiter Kurs. Flanagan ließ erneut den Kurs ändern, doch der Riese schien sich die �King Charles� nun einmal als Ziel ausgewählt zu haben und folgte der Kursänderung mit spielerischer Leichtigkeit. So, als wüßte er ganz genau, was passieren würde, wenn er uns rammte. In diesem Augenblick feuerte Corcoran und zog die Drehbasse ab. Brüllender Donner erklang vom Vordeck. Orgeln, Kreischen und Brüllen folgten einem unglaublichen langen Feuerstrahl, den wiederum eine Wolke aus Pulverqualm eindeckte. Der ganze Segen knallte mit unvorstellbarer Wucht in die See, genau in den Kurs des Giganten. Das Wunder geschah, auf das keiner mehr gehofft hatte. Entweder war der Wal von etlichen Brocken getroffen, oder Blitz und Knall hatten ihn erschreckt. Er reagierte jedoch erstaunlich schnell. Augenblicklich ging er in die Tiefe. Genau in der Höhe der Kuhl verschwand er. Jetzt folgten bange Augenblicke, ob der Gigant abtauchte. Würde er tief genug unter der �King Charles� hinwegschwimmen, oder würde er uns noch berühren? Fast alle hielten den Atem an. Flanagan schien in sich hineinzulauschen. Finn hatte ganz schmale Augen. während Pickens ein Gesicht zog, als erwarte er einen heftigen Anprall. Er hielt sich auch mit beiden Händen am Handlauf der Balustrade fest. Es hatte keines Befehls bedurft, sich festzuhalten. Jeder tat das rein instinktiv, denn jeder wußte wie hart so ein Anprall auf einem fahrenden Schiff sein konnte. Ein im Wasser treibender Holzbalken genügte schon, um alles zu erschüttern. �Er ist durch�, sagte Finn aufatmend. Aber er war noch nicht durch, denn sofort nach seinen Worten folgte ein hartes, schabendes Geräusch, als seien wir an ein kleines Hindernis gestoßen. Dem Geräusch folgte ein hartes Rumpeln, und dann begann die �King Charles� in allen Verbänden zu zittern. Sie

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wurde durchgeschüttelt bis in die Mastspitzen. Ein zweiter Ruck folgte, der sich so anhörte, als würden schlagartig alle Muscheln und aller Bewuchs unter dem Rumpf abrasiert. Ich hatte das Gefühl wie bei einem leichten Erdbeben. Mir war mulmig zumute, und ich erwartete den nächsten Ruck, von dem ich nicht wußte, was er brachte. Aber es folgte kein Ruck mehr, es folgte etwas anderes. Ein Donnern an der Bordwand ertönte. Ein Schlag, der die Planken beben ließ, und dessen Nachhall wie eine große Glocke klang, wenn der letzte Ton verhallte. Das war die riesige Fluke, mit der der Koloß uns das letzte Ding verpaßt hatte. Wir sahen ihn auch nicht mehr. Was wir sahen, war lediglich eine leicht rötliche Bahn im Wasser. Entweder hatten ihn Brocken aus der Drehbasse getroffen, oder er hatte sich an dem unglaublich scharfen Muschelbewuchs des Schiffes verletzt. Jedenfalls war die Gefahr für den Augenblick gebannt, denn umdrehen und zurückkehren würde der Walganz sicher nicht. �Gut gemacht., Mister Corcoran�, lobte der Master unseren grauhaarigen Stückmeister, dem etwas beklommen zumute war, weil er ohne ausdrücklichen Befehl gefeuert hatte. �Alle Räume überprüfen�, befahl der Master. �Sofort nachsehen, ob es irgendwo ein Leck gegeben hat. Mister Bonty und Mister Jonny: Sie nehmen sich die achteren Räume vor. Mister Finn übernimmt solange das Ruder. Mister Pickens wird mit einem Havarie-Kommando die Laderäume überprüfen. Im Batteriedeck kontrollieren, ob alle Geschütze fest verzurrt sind.� Was jetzt folgte, war eine Hektik wie in extremen Situationen, wo blitzschnell gehandelt werden mußte. Jeder Mann ging auf die ihm zugewiesene Station und begann mit den Überprüfungen. �Wahnsinn�, sagte ich zu Jonny, während wir zu den achteren Räumen liefen, �jetzt müssen wir uns schon den Weg freischießen, nur weil ein paar Wale verrückt spielen.� �Sei bloß froh, daß der Bursche noch rechtzeitig auf Tiefe ging, Bonty. Nur ein Yard weniger, und wir hätten jetzt ein Loch im Bauch, das uns eine Menge Kummer bereiten würde. Das ist ungefähr so, als würden zwei Schiffe in voller Fahrt kollidieren.� �Ja, ich erinnere mich noch gut an den Walfänger, als wir gerammt wurden.�

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Wir sahen achtern in der Bilge nach, deckten Dielen und Bretter auf und lauschten auf gluckernde Geräusche. ,.Achtern ist alles in Ordnung, da ist nichts passiert�, sagte ich zu Jonny. �Jedenfalls kann ich nichts finden.� �Scheint so. als hätten wir Glück gehabt�, meinte er augenzwinkernd. �Der Kerl hat nur die Muscheln mitgenommen und hat uns damit eine Menge Arbeit erspart.� Wir kehrten aufs Achterdeck zurück. �Keine undichten Stellen, Sir.� Flanagan nahm das erleichtert zur Kenntnis, atmete aber erst auf, als auch die anderen Trupps keine Schäden meldeten. �Alles in Ordnung in den Laderäumen?� fragte er ausdrücklich. �Nichts, Sir�, meldete Pickens, �wir sind nur kräftig durchgeschüttelt worden.� �Wir haben einen Schutzengel�, meinte Zebulon, �er hat noch einmal das Schlimmste verhindert.� �Hoffentlich ruht er sich jetzt nicht auf seinen Lorbeeren aus�, sagte Jonny, �meist tun das Schutzengel, oder sie sind müde nach dem ersten Eingreifen.� �Versündige dich nicht, Jonny�, brummte der grauhaarige Bibelmann. �Danke lieber deinem Herrn, daß er uns alle vor Schaden bewahrt hat. Der Herr wird auch weiterhin seine schützende Hand über uns halten.� Diesmal irrte der gottesfürchtige Zebulon allerdings. Einmal waren wir noch ungeschoren davongekommen. Eine halbe Stunde später sah alles ganz anders aus. Da mußte wohl auch unser Schutzengel eingeschlafen sein.

* Der Teufel mochte wissen, weshalb in dieser Ecke alles verrückt spielte. Von einer drohenden Gefahr war weit und breit nichts zu sehen, außer von der Gefahr, die uns von den Walen drohte. Weit achteraus am Strand lagen jetzt gut ein Dutzend Riesenleiber, die zuckten, sich hiflos wanden und mit ihren riesigen Fluken den Sand peitschten. Aus den Marsen wurde ständig gebrüllt. weil alle Augenblicke wieder weitere Wale auftauchten, die alle demselben Ziel zustrebten. Ein Ausweichen vor diesen unberechenbaren Kolossen wurde nun immer unmöglicher. Wechselten wir den Kurs, um einer Ramming zu

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entgehen, dann geschah es, daß auf dem neuen Kurs schon wieder ein Wal auftauchte. �Ich schlage vor, daß wir weiter in den Atlantik ablaufen�, sagte der Erste mit besorgtem Gesicht. �Die Möglichkeit habe ich bereits erwogen�, meinte der Master. �Es wird uns wohl auch nichts anderes übrig bleiben, obwohl es weiter draußen so ähnlich aussieht wie hier.� Er blickte kurz durch den Kieker, schüttelte wie fassungslos den Kopf und befahl dann die Kursänderung. Wir wollten weiter nach Süden ablaufen, um so schnell wie möglich diesen magischen Anziehungspunkt für die Wale zu verlassen. Da sah ich weit voraus einen riesenhaften Schatten im Wasser. Von den Ausgucks war er ebenfalls bemerkt und gemeldet worden. Es war ein Wal, der genau auf unserem Kurs lag und jeden Augenblick auftauchen konnte. Flanagan ließ Hartruder legen, doch diesmal war alles zu spät. Es gab kein Ausweichen mehr, denn um uns herum kochte und brodelte das Meer wie bei einem unterseeischen Ausbruch. Der Schatten wurde größer, und dann war er heran. Etwa fünfzig Yards auf Backbord voraus hob sich ein Gigant aus dem Meer, hei dessen Anblick mir das Herz höher schlug. Aus dem monströsen Schädel stieg eine Fontäne aus Wasser und Luft. Ein unglaublich scharfes Schnaufen war zu hören, ein Ton, der uns allen durch Mark und Bein ging. Der Rudergänger versuchte verzweifelt auszuweichen. Aber er war genauso hilflos wie die anderen. Und die �King Charles� war keine Jolle, die man beliebig schnell im Wasser drehen konnte. Sie reagierte selbst unter vollem Preß immer mit einer kleinen Verzögerung. �Festhalten�, schrie der Erste mit gellender Stimme. �Ihr da oben, verschafft euch festen Halt.� Das galt für die Ausgucksgasten, damit sie nicht aus den Marsen geschleudert wurden. Das Riesenvieh war heran. Es schien die Masse des Schiffes überhaupt nicht zu bemerken. Es hatte ein fernes Ziel im Auge und folgte stur seinen Artgenossen. Dann erfolgte der Rammstoß. Es klang, als hätten ganze Breitseiten uns getroffen. oder als wären wir bei voller Fahrt auf ein Riff gelaufen. Da war ein Splittern und Krachen, ein Bersten, Donnern und Knirschen. Ein unglaublich harter Schlag erschütterte die �King Charles� von achtern bis achtern. Ihr Bug wurde herumgedrückt von der Gewalt des

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aufprallenden Kolosses, ihre Masten und Rahen gerieten in heftige Bewegung, und sie schwang noch weiter herum. Obwohl sich alle festen Halt verschafft hatten, stürzten einige auf die Planken. Auch wir auf dem Achterdeck wurden durchgeschüttelt. Pickens rutschte aus und krachte gegen das Schanzkleid. Der Rudergänger verlor den Halt. Ich selbst klammerte mich mit aller Kraft an den Handlauf der Balustrade. Der riesige Körper des Wales taumelte regelrecht durch das Wasser, die Fluke schlug wild zu. Unter dem zweiten Schlag knirschten erneut einige Planken im Vorschiff. Der Wal befand sich jetzt auf der anderen Seite auf Steuerbord und war durch den Zusammenstoß stark benommen. Sein Körper wälzte sich zur Seite, doch für ihn hatten wir jetzt keine Zeit. Wir waren selbst in höchster Gefahr, denn die Ramming hatte mit Sicherheit beachtliche Schäden hinterlassen. Ich glaubte schon zu bemerken, daß der Bug ein Stück tiefer ins Wasser sackte. Fluchende Männer rappelten sich auf und schickten dem Wal wüste Verwünschungen nach. Flanagan versuchte so ruhig wie möglich zu bleiben. �Schäden feststellen, Mister Finn�, rief er. �Mister Prescott ans Ruder, alle entbehrlichen Männer sofort nach vorn.� Als wir schon losrannten hörte ich Flanagan gerade noch sagen: �Kurs genau auf die Küste, Mister Prescott. Veranlassen Sie alles andere, Mister Pickens.� Mit alles andere meinte er das Bedienen der Brassen, Fallen und Schoten, Manöver, die erforderlich waren, um auf den neuen Kurs zu gehen. Pickens sammelte einige Leute um .sich, denen er die Befehle weitergab. Sie rannten zu den Brassen, um nachzutrimmen, denn die Segel begannen bereits heftig zu killen. Ein flüchtiger Blick aus den Augenwinkeln zeigte mir, daß der Wal immer noch wie gelähmt im Wasser trieb. Immerhin war ihm ja ein mächtiger Hammer an den Schädel geknallt. Der Profos McCoy, der Zimmermann Bob Costigan, der Stückmeister und der Segelmacher Salis waren bereits vorn. �Starker Wassereinbruch�, meldete der Profos finster. �Pumpen einsetzen�, sagte Finn. Was wir dann sahen, versetzte uns doch einen mächtigen Schlag.

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Die Planken auf der vorderen Backbordseite waren zertrümmert, genau in Höhe der Wasserlinie. Das Meer brauste schäumend und gurgelnd ins Schiffsinnere. Ich mußte an die kostbare Ladung denken, die wir nach England bringen sollten. Sie bestand aus hochwertigen edlen Gewürzen, aus Tee, Seide, Elfenbein und Silber. Die Gewürzfässer waren zwar mit Pech und Wachs versiegelt, aber Salzwasser findet immer wieder kleine Ritzen, wo es durchdringen kann. Wenn das der' Fall war, dann war unsere Reise so gut wie umsonst. Feuchtgewordene Gewürze ließen sich nicht mehr absetzen. Die Company würde darüber sehr erfreut sein und einen großen Verlust hinnehmen müssen. Der Wassereinbruch war schlimmer, als wir befürchtet hatten. In der Vorpiek schäumte und quirlte es. Brausend ergossen sich immer neue Wassermassen ins Innere. Im Forecastle, dem Mannschaftsquartier, drang ebenfalls Wasser ein, das unglaublich schnell anstieg. Wie weit es nach achtern gedrungen war, ließ sich nicht feststellen. Die Pumpen wurden herbeigeschleppt, und wir begannen einen verzweifelten Kampf gegen das eindringende Meer zu führen. Finn erkannte sofort, daß wir es nicht schaffen würden, auch Pickens schüttelte mutlos den Kopf. �Da hilft kein Pumpen mehr, der Wassereinbruch ist zu stark. Aber wir haben doch ...� �Die Lecksegel�, sagte Finn, �lassen Sie sie sofort an Deck schaffen! Mister Sails weiß, in welcher Ecke der Segellast sie liegen.� Die Lecksegel waren das einzige Mittel, das uns jetzt noch vor dem sicheren Untergang bewahren konnte. Diese Segel wurden auch Rettungskleid, Leckmatten oder Leckpflaster genannt, je nach ihrer Größe und Beschaffenheit. Für die Havarie, die wir erlitten hatten, brauchten wir das größte an Bord befindliche Lecksegel. Ein unglaublich hartes Rennen gegen die Zeit begann. Wir pumpten, bis wir die Arme nicht mehr spürten. Andere Männer schöpften das Seewasser mit Pützen. Ketten wurden gebildet, aber das alles war umständlich und zeitraubend. Wir konnten uns anstrengen wie wir wollten, das Wasser stieg ständig weiter. Im Forecastle wurden bereits die ersten Bunks überflutet. Wir brachten unser bißchen Habe rasch in Sicherheit und reichten es weiter nach oben, wo sich das ganze Zeug an Deck stapelte. Die �King Charles� sah nach dieser Ramming aus, als sei sie in ein schweres Gefecht geraden.

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Ich stand bis zu den Hüften im Wasser, hörte es zischen und gurgeln und verfluchte alle Wale dieser Welt. Jonny, Pete und El Pomado schufteten ebenfalls mit verbissenen Gesichtern und zusammengepressten Zähnen. �So ein verdammter Scheiß�, fluchte Jonny, �jetzt säuft uns unsere alte Lady noch unter dem Hintern ab. Vielleicht können wir den Schaden gar nicht selbst reparieren.� �So können wir jedenfalls nicht weitersegeln�, sagte ich. �In ein paar Stunden ist das Vorschiff vollgelaufen, und dann?� Neben uns erschien der Profos. Sein Gesicht war noch finsterer geworden. Er hatte sich das Hemd ausgezogen, starrte in das schäumende Wasser, tastete sich bis dorthin vor, wo es am lautesten gurgelte und hielt die Luft an. Wortlos tauchte er nach vorn. Eine ganze Weile lang blieb er verschwunden, dann tauchte er wieder auf, nach Luft ringend und leise keuchend. Aus seinem schwarzen Vollbart troff das Wasser. �Wie sieht es aus?� fragte Finn von oben. Der Profos schnaufte immer noch. Er war ziemlich lange unter Wasser geblieben. �Man kann fast durch das Leck schwimmen�, sagte. �Es befindet sich unter der Vorpiek und dem Gang zum Forecastle. Wie es ganz vorn aussieht, weiß ich nicht. Soll ich versuchen, das festzustellen, Mister Finn?� �Nein, das ist zu gefährlich. Schicken Sie vier Mann an Deck. Ich lasse sie durch andere ablösen.� Der Profos schickte uns nach oben, wo eine unglaubliche Wuhling an Deck herrschte. Da lag unser ganzer Krimskrams verstreut auf den Planken, da waren Segel herausgezerrt worden und Hölzer lagen verstreut an Deck. Auf den ersten Blick glich das Deck � gelinde gesagt � einem riesigen Misthaufen. Ich sah mich schnell um und stellte fest, daß wir auf einem Kurs lagen, der genau zu einem weißen Landstrich führte, einem breiten Strand, mit Palmen, Büschen und Dickicht bewachsen. Flanagan ließ auf eine Einbuchtung zuhalten, in der das Wasser ruhig war. Mister Finn rannte nach achtern und gab seine Meldung ab. Der Master hörte ruhig zu und nickte ein paarmal. Was er sagte, konnte ich nicht verstehen. �Jetzt geht es uns so ähnlich wie den Walen�, sagte Harry, �wir rasen auch wie die Wilden auf den Strand.�

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�Und wir sind kopflastig�, sagte ich, �der Bug geht immer tiefer in den Bach.� Zwei Mann waren dabei, Blinde und Schiebblinde aufzutuchen, damit der Druck auf den Bug etwas gemildert wurde. Die anderen Segel standen voll im Wind. Aber wir waren ziemlich langsam geworden, und außerdem gierte die alte Lady hilflos von einer Seite zu anderen. Direkt schwerfällig wirkte sie. Sails zerrte bereits an dem Lecksegel. Wir sprangen herbei, um ebenfalls zu helfen und das schwere Ding außenbords zu bringen. Das Tuch war extra stark und wasserdicht präpariert, und es hatte an beiden Seiten lange Taue. Auf der �King Charles� hatten wir es bisher noch nie benötigt. Jetzt konnte das Lecksegel zu unserer letzten Hoffnung werden. Pickens überwachte das Ausbringen und half auch selbst. Die anderen pumpten unterdessen mit allen Kräften. Fürs erste, dachte ich, war unsere Reise wohl beendet. Der Wal, der uns das Ding verpaßt hatte, war inzwischen auch verschwunden. Vermutlich hatte er sich von der Kollision wieder erholt. Wir aber würden uns noch lange damit abplagen können, das stand fest. Wir schleppten das Lecksegel nach vorn zum Bug. Acht Männer waren jetzt mit dem Ausbringen des Rettungskleides beschäftigt und hielten die Taue, die langsam nachgefiert wurden. Dieses Lecksegel .wurde im Falle einer größeren Beschädigung so über die Außenhaut der Leckstelle gezogen, daß es fest anlag. Es hatte die Aufgabe, das nachströmende Wasser so weit einzudämmen, daß nur noch wenig nachströmte und man wieder lenzen konnte. Der Wasserdruck sorgte außerdem dafür, daß es fest anlag. Hand über Hand wurde nachgefiert. Das Lecksegel war jetzt im Wasser verschwunden, wurde vorn gehalten und von achtern immer weiter durchgezogen. Finn war inzwischen wieder zurückgekehrt. Sein Gesicht war ernst und verschlossen. �Noch ein Stück weiter nach achtern�, brüllte der Profos mit seiner Donnerstimme aus dem Forecastle. �Noch weiter, aber langsam jetzt. Haltet ein!� rief er dann. Offenbar tauchte er wieder, um zu prüfen, ob das Lecksegel bereits die richtige Stelle erreicht hatte. Kurz darauf hörten wir erneut seine keuchende Stimme. �Ein knappes halbes Yard weiter nach achtern, Leute. Auf der Backbordseite etwas höher hieven, etwa zwei Handbreiten.�

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Wir spürten den Druck, zerrten und rissen an dem Ding, um es in die richtige Stellung zu bringen. �Halt so!� rief Pickens. �Wie steht es, Profos?� Die Antwort ließ eine Weile auf sich warten. McCoy war vermutlich wieder einmal unter Wasser. �Noch etwas mehr Backbord, verflucht nochmal. Zwei Handbreiten habe ich gesagt.� �Haben wir gezogen�, schrie Jonny zurück. �Vielleicht hat das Ding sich verklemmt.� Wieder war das Platschen seines Körpers zu hören. Unterdessen zogen wir vorsichtig weiter, während die Männer auf der Steuerbordseite langsam nachfierten. Als der Profos wieder auftauchte, war er zufrieden, man hörte es an seiner Stimme. Er fluchte auch nicht mehr. �Gut so, fest und bei. Belegt das!� Die Taue wurden festgemacht. Sie sangen wie die Saiten einer Fiedel und zitterten unter dem Druck. Finn und Pickens waren unten im Raum. Flanagan stand steif und hölzern wie ein Ladestock auf dem Achterdeck. Zebulon bemühte sich krampfhaft, die Lady auf Kurs zu halten und ihr das Gieren von einer Seite zur anderen auszutreiben. Über dem Mannschaftslogis wurden jetzt die Grätings entfernt, damit helles Licht hineinfluten konnte. Im Raum selbst keuchten die Männer vor Anstrengung. Aber wir gingen wieder an die Pumpen. Pickens stand bis zum Bauch im Wasser, wobei sich sein Bauch wie eine Halbkugel wölbte. �Es steigt kaum noch, Mister Finn�, sagte er, �jedenfalls ganz langsam. Wir haben es noch einmal geschafft.� Der Erste war sichtlich erleichtert. �Gott sei Dank�, sagte er. �Weiter lenzen, Männer. Wollen doch mal sehen, ob das Lecksegel hält.� Jeder verfügbare Mann wurde wieder eingesetzt. Die einen pumpten, die anderen pützten auf zeitraubende Art. Aber wir konnten keine weiteren Pumpen einsetzen, sonst traten wir uns gegenseitig auf die Füße. Nach etwa zehn Minuten trat der erste Erfolg ein. Das Wasser stieg nicht weiter, es sank sogar ein wenig ab, aber nur, wenn alle Mann pausenlos weiter an der Arbeit waren. �Da ist noch irgendwo ein Leck�, sagte der Zimmermann. �Weiß der Satan wo, aber an einer Stelle suppt es noch ganz kräftig. Das werden

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wir aber erst nachher feststellen können. Hoffentlich ist nichts in die Laderäume gedrungen.� �Malen Sie bloß nicht den Teufel an die Wand, Costigan�, sagte Pickens leise, �das fehlt uns gerade noch. Als wenn wir nicht schon so in der Schei ... dingsbums .. . steckten.� Finn ging erneut nach oben, um dem Master zu berichten. Als er zurückkehrte, sagte er: �Wenn ich euch rufe, dann seid ihr wie der Blitz an Deck. Alle, ohne Ausnahme. Das Lenzen wird dann sofort und augenblicklich eingestellt. Wir packen alles Tuch auf, denn der Master beabsichtigt, das Schiff auf den Strand zu setzen. Es gibt keine andere Möglichkeit, sonst gehen wir zu den Fischen. Lenzt jetzt weiter.� Die Lady auf den Strand setzen, dachte ich wie benommen. Das hatte uns gerade noch gefehlt. Aber es gab tatsächlich keine Alternative, wenn wir das Schiff retten wollten. Es mußte auf den Strand gejagt werden, sonst soffen wir ab. Der Bug war jetzt noch tiefer abgesackt. Wir schufteten im Schweiße unseres Angesichts, so wie es im Alten Testament stand. Hier im Forecastle verloren wir bei der schweißtreibenden Arbeit jegliches Zeitgefühl. Ich konnte nicht sagen, ob erst Minuten oder bereits Stunden seit der Havarie vergangen waren. Meine Arme schmerzten, in meinen Lungen brannte es, und dazu kam diese fürchterliche stickige Hitze, die einen fast um den Verstand brachte. Aber nicht nur mir erging es so. Selbst der knochenharte Jonny zeigte erste Spuren dieser höllischen Anstrengung. Hin und wieder hielt auch er inne, um gierig nach Luft zu schnappen. Nach Ewigkeiten hörte ich wie aus weiter Ferne die Stimme des Ersten Offiziers. �Alles an Deck, wir sind dicht unter der Küste. Auftuchen.� Mit großer Erleichterung wurde augenblicklich das Pumpen eingestellt. Jeder war froh, dieser stickigen Hölle zu entrinnen. �Mann, ich sehe nur noch rote Nebel�, sagte El Pomado keuchend. �Ich bin total erledigt.� Ich gab keine Antwort, denn mir hing die Zunge buchstäblich zum Hals heraus. Meine Hände zitterten. Aber ich sah, daß ich beileibe nicht der einzige war, dem es so erging. Auch die anderen waren ausgelaugt und bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gefordert.

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An Deck war es in diesem Augenblick direkt himmlisch. Ein sanfter Wind blies und brachte ein wenig Erfrischung, obwohl es immer noch so furchtbar heiß war. Die Segel wurden aufgepackt, und ich hatte endlich Zeit, mich ein wenig umzusehen. Elfenbeinküste! Ich sah auf Steuerbord eine leicht vorspringende Halbinsel und zahlreiche kleinere Buchten, Lagunen und Mangrovenwälder. Dort wo der Strand aufhörte, standen Kokospalmen mit rauschenden Wedeln, die sanft ihre Häupter im Wind wiegten. Dicht hinter dem Strand mit der kleinen Bucht begann ein dunkelgrüner Vegetationsgürtel aus scheinbar undurchdringlichem Dickicht. Noch weiter hinten zog sich der tropische Regenwald endlos in die Länge. Im fernen Dunst, dem Landesinneren zu, waren sanft ansteigende Hügel zu erkennen. Von Behausungen, die auf Menschen schließen ließen, war nichts zu sehen. Flanagan hatte einen relativ guten Platz ausgesucht, denn auf der Backbordseite, zum Westen hin, wurde die Küste felsiger. Da gab es große, weit in die See ragende Kliffs, vorgelagerte kleine Inseln und weitere sandige Buchten. Aber auch hinter ihnen begann der Regenwald sich auszudehnen. Wie es jetzt weitergehen würde, wagte noch keiner zu beurteilen. Pessimistisch betrachtet, schien sich hier unser Schicksal und das der �King Charles� zu besiegeln. Selbst optimistisch gesehen, war unsere Lage mehr als kritisch. Es würde ein schweres Stück Arbeit werden, die Lady zu reparieren und später wieder vom Strand herunter zu bringen. Die Segel waren aufgepackt. Der Bug lag jetzt noch tiefer im Wasser, das pausenlos nachströmte, seit wir das Pumpen eingestellt hatten. Das Lecksegel hielt zwar viel ab, aber den Wassereinbruch konnte es nur etwas dämmen. Ohne das Lecksegel wären wir vermutlich längst auf Grund gelaufen oder hilflos abgesoffen. Mit ganz schwacher Fahrt liefen wir auf den Strand zu. In den Gesichtern der Männer standen hundert bange Fragen. Dann gab es wieder einen harten Ruck, als die Masse des Schiffes sich knirschend in den Sand bohrte, der Bug sich hob, und die �King Charles� sich sanft zur Seite neigte. Man konnte sagen, wir waren in Sicherheit, aber jetzt begannen erst richtig die Probleme für uns.

*

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Die gute alte Lady hatte sich ziemlich weit auf den Sand hinaufgeschoben und lag jetzt ruhig da. Nur die Masten und Rahen zitterten noch ein wenig. Um uns her war alles still geworden. Eine Stille, wie wir sie in der Bucht angetroffen hatten, wo wir das Wrack fanden. Unsere Situation war jetzt ähnlich. Auch wir waren praktisch ein Wrack, zumindest ein Schiff, daß sich nicht mehr mit Hilfe des Windes über das Meer segeln ließ. Wir lagen kaum auf dem Strand, als die Stille durch Gurgeln und Brausen jäh unterbrochen wurde. Gluckernd, als liefen riesige Wasserfässer aus, verschwand das eingedrungene Seewasser aus Vorpiek und Forecastle. Ein paar Hemden und Hosen, die noch irgendwo verloren in den Bunks lagen, wurden mit hinausgerissen. In einem riesigen Schwall lief das Wasser ab. �Bringt Jakobsleitern aus�, befahl Pickens. �An jeder Seite eine. Wir setzen auch die kleine Jolle auf den Strand.� Erst jetzt erschien Master Flanagan mit ernstem Gesicht. Er hatte das Achterdeck während der ganzen Zeit kein einziges Mal verlassen. Jetzt kam er, um das Leck zu inspizieren. In seiner Begleitung befand sich der Schiffszimmermann Bob Costigan. In der Piek sah es schlimm aus. Fassungslos standen wir vor dem Loch, das der Wal geschlagen hatte. Es war so groß, daß man gebückt. nach draußen gehen konnte. Das Lecksegel war bereits abgenommen worden und hing noch halb unter dem Bug. Jetzt fiel dort Sonnenlicht ein, wo es ansonsten immer stockfinster war. Der Zimmermann rang die Hände. �Himmel, das ist ja noch größer, als ich dachte�, sagte er erschüttert. �Da ist eine ganze Menge zu Bruch gegangen.� Er und Flanagan befühlten und betasteten zersplitterte Planken. Gebückt traten sie dann durch die Piek auf den Strand und besahen sich den Schaden kopfschüttelnd von außen. Inzwischen untersuchten wir das Forecastle, das immer noch so übel aussah. Unter den aufgesprungenen Dielen war ein yardlanger klaffender Riß zu sehen, durch den Wasser eingedrungen war. In den Funks schwappte immer noch die Brühe. �Lenzt die Kojen�, sagte der Profos. �Wenn das Wasser länger darin stehen bleibt, quillt das Holz auf, und ihr könnt nicht mehr darin schlafen.�

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Einer wollte Schwabber und Pützen holen, um die trogartigen Kojen auszuschöpfen. Aber Pete Bird, die Katze, erledigte das ganz unkonventionell und sparte auf diese Weise eine Menge Arbeit, weil ja jede Hand jetzt dringend gebraucht wurde. Er holte sich aus der Zimmermannskiste einen Holzbohrer und bohrte in jede der Kojen ganz einfach ein Loch. Zuerst bohrte er die unterste Koje an, danach die obere, und im Nu war das Wasser abgelaufen. Dann standen wir wieder auf dem heißen Sand und überlegten, wie die Reparatur am besten ausgeführt werden konnte. Bob Costigan stieß mit dem Fuß an eine Planke. Immer wieder schüttelte er dabei den Kopf, klopfte dort an das Holz, stieß hier an und wurde immer verdrossener. �Zum Glück scheint kein Wasser in Laderäume gedrungen zu sein�, meinte er bedächtig. �Und wir haben im Raum eins auch noch genügend Ersatzplanken und Hölzer an Bord.� �Und woraus schließen Sie, daß kein Wasser eingedrungen ist?� fragte der Master. �Die Räume sind noch gar nicht aufgedeckt. Die Leute fangen erst damit an.� �Der Riß hört im Forecastle auf, Sir. Der Bug liegt ziemlich hoch auf dem Strand. Es scheint, als seien wir bei Flut abgelaufen. In dem schräg geneigten Forecastle steht aber noch etwas Wasser direkt am Querschott. Das ist für mich ein Zeichen, daß es dicht ist und gehalten hat.� �Ihr Wort in Gottes Ohr�, sagte Flanagan brummig. �Es wäre zu schön, um wahr zu sein. Das wird sich ja gleich herausstellen. Glauben Sie, daß wir das Leck so gut abdichten können, daß wir das Schiff noch bis England bringen?� Costigan war nicht gerade ein Optimist. Er besah sich derartige Dinge meist immer kopfschüttelnd und skeptisch. �Es wird uns gelingen, Sir, davon bin ich überzeugt. Wir dürfen nur nicht in schwere Stürme geraten, denn es wird alles nur ein Provisorium. Um das auszubessern, müßten wir aufslippen, aber das ist leider nicht möglich.� �Nein, natürlich nicht. Wie lange werden wir � ganz grob geschätzt � dazu benötigen?� Der Zimmermann, ein Könner auf seinem Gebiet, kratzte sich überlegend das Kinn, kniff die Augen zusammen und rechnete. Dabei hob er immer wieder Daumen und Zeigefinger. �Etwa eine Woche, schätze ich, wenn wir hart rangehen, Sir.�

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�Wir werden hart rangehen, darauf können Sie sich verlassen�, meinte der Master. �Deshalb werden wir auch keine Zeit verlieren, und sofort anfangen.� Über das Schanzkleid beugte sich Zebulons riesige Gestalt. �In Raum eins ist kein Wasser eingedrungen, Sir�, meldete er, �wir haben das bis auf die Bilge überprüft.� �Danke, Mister Prescott. Das ist endlich einmal eine gute Nachricht. Lassen Sie den anderen Raum ebenfalls überprüfen.� �Aye, aye, Sir�, erklang Zebulons tiefe Stimme. Der riesenhafte Schatten verschwand wieder. Unter der Aufsicht von Pickens kontrollierten jetzt Zebulon, Jeremias Bunk und ein paar andere Männer den zweiten Raum. Etwas später kam die Meldung, daß auch achtern alles in Ordnung war. Nur Piek und Forecastle waren in Mitleidenschaft gezogen worden. Der Zimmermann maß bereits aus. Ihm zur Hand gingen die Leute, die etwas �vom Holz� verstanden, wie er sich immer ausdrückte, Leute also, die vom Schiffbau etwas verstanden. Trotz dieser ziemlich schweren Havarie schien der Master doch unsäglich erleichtert darüber zu sein, daß die Ladung nichts abgekriegt hatte. Den Leuten war auch nichts passiert, und so hatte der liebe Gott doch wieder einmal. seinen Daumen dazwischen gehalten, und wir waren mit einem blauen Auge davongekommen. Am Vorschiff wurde schon die Säge angesetzt, und die ersten Planken, die ohnehin nur noch aus Trümmern bestanden, flogen nach allen Seiten davon. Inzwischen sahen wir uns das aus dem Wasser ragende Vorschiff genauer an. �Prachtvoll, was?� fragte der Zweite sarkastisch, �die Lady hat einen Bart, um den sie jeder Kerl beneiden würde.� Er deutete auf eine unglaublich dicke Schicht winziger Muscheln und klebrigem Seetang, der sich auf den langen Reisen am Rumpf angesammelt hatte. Dieses Zeug abzukratzen � es war so hart wie Korallen � würde nochmal ein Stück schweißtreibender Arbeit werden. Noch jetzt, während immer wieder Wassertropfen vom Rumpf und aus dem Tang fielen, krochen winzige Garnelen in dem Zeug herum. Die Sonne brannte ihnen auf den Pelz, und jetzt waren sie bestrebt, das austrocknende Zuhause so schnell wie möglich zu verlassen, um wieder ins Wasser zu gelangen. �Die sichtbare Schicht werden wir wohl abklopfen�, sagte Pickens. �Jetzt ist die Gelegenheit günstig dazu. Die Lady ist sowieso träge in

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ihren Bewegungen geworden. Und in London wird sie wohl eine ganze Weile auf der Werft bleiben müssen.� Jonny, Harry und ich sahen uns beklommen an, als Pickens mit der Hand gegen den Bartwuchs klopfte. �Wie lange werden wir denn in der Werft bleiben?� fragte China-Harry schließlich. �Ich rechne mit mindestens vier Monaten, mindestens, vermutlich aber noch länger. Es kann sogar sein, daß die Lady abgewrackt wird. Sie hat immerhin etliche Jahre auf dem Buckel. Ich habe das schon mit dem Master besprochen.� �Was haben Sie mit mir besprochen, Mister Pickens�, erklang unvermutet Flanagans kühle Stimme. �Und wenn Sie etwas mit mir besprochen haben, dann behalten Sie es gefälligst für sich, und geben es nicht weiter, verstanden!� Pickens lief wieder mal rot an. Flanagan schätzte es nicht, daß er Informationen weitergab, und den engen Kontakt zur Mannschaft, wie Pickens ihn hielt, konnte er überhaupt nicht ausstehen, auch wenn wir noch so gut bei ihm im Kurs standen. �Ich sprach nur davon, daß wir in London auf die Werft müßten�, sagte Pickens. �Noch ist es nicht soweit. Zur Zeit liegen wir an der Elfenbeinküste fest. Zu gegebener Zeit werden die Leute schon alles erfahren.� �Sollen wir die Muscheln abschlagen lassen, Sir?� �Nur das Gröbste�, sagte Flanagan. �Wir kommen an das Achterschiff nicht heran. Klopfen wir hier alles ab, dann sind wir wieder hecklastig.� �Aye, Sir. Ich werde ein paar Leute abstellen.� �Stellen Sie weitere drei Mann ab, die das Umfeld ein wenig in Augenschein nehmen. Ich möchte, daß die Gegend hier im Umkreis von einer Meile abgesucht wird. Ich will ferner wissen, ob es hier Eingeborene gibt. Bewaffnen Sie die Leute ausreichend. Hier gibt es eine artenreiche Fauna, darunter etliche recht gefährliche Tierarten.� �Leoparden, Sir, Krokodile, Schlangen, Affen ...� zählte Pickens bereits auf. Aber der Master nickte nur, und überließ alles weitere ihm. Er selbst ging wieder zum Vorschiff zurück. �Jonny, Bonty, Harry�, sagte Pickens, �ihr drei übernehmt das. Ihr gehört ja auch zum Sonderkommando, außer Harry. Ihr habt gehört, was der Master sagt. Holt euch die erforderliche Ausrüstung und unternehmt gleich anschließend die Exkursion. Aber seid bis zum Anbruch der Dunkelheit auf jeden Fall zurück�

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Harry grinste sich eins, denn eine kleine Exkursion war ihm lieber, als den Bewuchs am Schiffsrumpf abzuklopfen. Aber sich jetzt durch den Dschungel zu quälen, war auch nicht das reinste Vergnügen. Es würde ebenfalls eine Strapaze werden. Pickens unterrichtete noch den Stückmeister Jim Corcoran uns Waffen und Munition auszuhändigen, dann ging er ebenfalls zu den anderen und stellte das �Muschel-Kommando� zusammen. �Wißt ihr überhaupt, was Pickens vorhin gesagt hat?� fragte ich Jonny und Harry, die sich offenbar keine großen Gedanken darüber gemacht hatten, jetzt aber aufmerksam wurden. �Ja, wir gehen auf die Werft�, meinte Harry, �aber daß die Lady abgewrackt wird, glaube ich nicht. Costigan hat einmal gesagt, und das ist noch gar nicht so lange her, die alte Tante wäre noch verflucht stabil und könne einiges vertragen.� �Selbst wenn sie nicht abgewrackt wird, heißt das, daß wir nicht an Bord bleiben können. Oder seht ihr das anders?� �Mann, das ist mir noch gar nicht richtig aufgegangen�, sagte Kleine Hölle verdattert. �Klar, es bleibt ja kaum jemand an Bord während der Werftzeit. Das bedeutet also, daß wir uns wieder mal in London nach einem anderen Kahn umsehen müssen.� Ich grinste ihn etwas hinterhältig an, denn Jonny wußte immer noch nicht, worauf ich hinaus wollte. �Sonst fällt dir nichts dazu ein?� �Klar, vielleicht finden wir kein Schiff. Aber deswegen werden wir nicht verhungern. Wir sind nicht gerade arm, und du hast in Bristol sogar ein Haus. Notfalls kann ich ja eine Weile bei dir bleiben, und dir im Garten helfen.� �Du gibst bestimmt den richtigen Gärtner ab�, meinte Harry. �Dich kann ich mir so richtig beim Umgraben und Jäten vorstellen.� Ich grinste jetzt ganz impertinent, denn entweder hatte Jonny heute ein Brett vor dem Schädel, oder er hatte eine gewisse Angelegenheit schon wieder vergessen. �Im Garten helfen?� fragte ich süffisant, �du kannst höchstens Gartenkresse züchten, und zwar bei Master Fleet auf dem Achterdeck. Der wird uns nämlich in London sehnlichst erwarten, wie er schon versprochen hat. Und wenn der erfährt, daß die �King� auf die Werft geht, dann läßt er die entsprechende Order bei der Company los, und du darfst wieder Zylinder und Uniform tragen.� Jonny war bestimmt nicht so leicht zu erschrecken, aber diesmal zuckte er doch heftig zusammen und wechselte die Farbe.

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�Heilige Seeschlange�, ächzte er, �daran habe ich ja kaum noch gedacht. Aber du hast verdammt recht, Bonty: Wenn der Alte uns in die Finger kriegt, dann sind wir auf seiner neuen ,Scout', tragen wieder Uniformen, und müssen uns wieder den ganzen Tag sein Gebräse anhören.� Master Isaac Fleet war zwar ein sehr ungewöhnlicher Mann, bei dem wir auf seinen Forschungsreisen sehr viel gelernt hatten, aber er hatte auch so seine Mucken, und die gefielen uns gar nicht. Trotz allem, wir hatten ihm viel zu verdanken, alles was recht ist, aber so scharf darauf, auf seinem Neubau zu segeln, war ich auch wieder nicht. Oft genug hatte er angekündigt, daß er uns gern wieder an Bord haben wollte, auch Zebulon oder Mister Bunk. Er wollte uns auch liebend gern sein neues Schiff zeigen. Einmal waren wir ihm gerade noch entwischt. Wie es beim nächsten Mal aussah, wußte ich noch nicht. Er war ziemlich überstürzt aus Indien abgesegelt und konnte es kaum erwarten, seinen Neubau zu inspizieren. Wir würden also bestenfalls zehn oder zwölf Tage später in England eintreffen als er. Harry sah jetzt auch ziemlich besorgt drein. Pickens so lässig dahin geworfene Bemerkung hatte uns doch recht nachdenklich gestimmt, denn mit der Werftzeit stand fest, daß ein großer Teil der Mannschaft auseinander gerissen wurde. Unser Schicksal stand also wieder einmal in den Sternen. Aber ich tröstete mich vorerst mit dem Gedanken, daß wir noch lange nicht in London waren. �Was sollen wir jetzt darüber grübeln�, sagte Jonny schließlich; �Sehen wir lieber zu, daß wir an Land gehen, sonst müssen wir doch noch Muscheln klopfen.� �Genau�, stimmte Harry zu, �zerbrechen wir uns später die Köpfe darüber, wir haben noch genügend Zeit zum Überlegen. Und eurem Master Fleet werdet ihr schon entkommen. Vielleicht nimmt er mich an Bord. Ihr seid jedenfalls reich bei ihm geworden, wenn ihr auch wie dressierte Affen herumlaufen mußtet. Was soll's also!� Jonny kratzte sich die Bartstoppeln. Er überprüfte seine beiden Pistolen und steckte sie dann in den Hosenbund. Auch wir sahen die Waffen noch einmal sorgfältig nach. �Wenn wir in London sind, gehen wir erst einmal zu Cookie�, sagte Jonny grinsend, �da ist noch ein Ochse am Spieß fällig, den wir der Mannschaft versprochen haben, ebenso ein paar Fässer Bier. Reden wir nicht mehr vorn alten Fleet, Bonty.� �Einverstanden. Das hat noch alles Zeit.�

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Gleich darauf gingen wir über die Jakobsleiter von Bord.

* Wir marschierten zunächst auf die lange Reihe der Kokospalmen zu, ehe wir einen Bogen schlugen. Wir hatten vor, etwa eine Meile durch den Regenwald zu gehen, damit wir den von Flanagan verlangten Sektor inspizieren konnten. Von dort aus wollten wir zuerst einen Bogen nach links, dann einen weiteren nach rechts schlagen. Damit hätten wir unser Revier dann ungefähr abgesteckt. Hatte in der Bucht noch eine einigermaßen erträgliche Brise geweht, so wurde es jetzt noch heißer, dumpfer und stickiger, als wir in den Regenwald eindrangen. Vom Schiff her waren Axtschläge und das laute Kreischen einer Säge zu hören. Es klang uns auch dann noch in den Ohren, als wir die �King Charles� längst aus den Augen verloren hatten. Eine matschige Sumpfzone zog sich neben uns her. Sie war der weit ins Innere reichende Ausläufer der Lagune, die mit Mangroven besetzt war. Der Geruch war modrig, faulig und legte sich uns beklemmend auf die Lungen. Nach den ersten paar hundert Yards lief uns der Schweiß in Strömen und Bächen über Gesicht und Körper. Hin und wieder mußten wir uns den Weg mit dem Schiffshauer freischlagen. �Hier hausen höchstens Affen�, sagte Jonny, �und auch die sind von dem Krach auf dem Schiff längst getürmt.� Immer wieder blieben wir stehen und sahen uns um. Der Dschungel war auf eine eigenartige Weise still, als wäre hier alles Leben erloschen, und doch wurde ich das Gefühl nicht los, als würden uns unsichtbare Augenpaare ständig beobachten. Als wir es einmal laut knacken hörten, fuhren wir herum, die Pistolen schußbereit in der Faust. Niemand war zu sehen. Mißtrauisch beobachteten wir im grünlichen Dämmerlicht die üppige Vegetation. Wenn sich hier jemand verbarg, würden wir ihn trotzdem nicht sehen können. Dazu waren wir an den Urwald viel zu wenig angepaßt. Wir hatten das bereits einmal mit des Satans Kapitän erlebt. Da waren etliche Leute aus dem Hinterhalt niedergemetzelt worden, ohne daß wir einen der geschickt getarnten Angreifer sahen. Wir kämpften uns weiter, bis Jonny maulte, daß wir vermutlich die erste Meile längst hinter uns hätten. Natürlich war das eine faule Ausrede, wir waren noch weit von- der Meile entfernt.

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�Da hat sich was bewegt�, raunte Harry plötzlich, �da drüben, wo der morsche Baum ins Gestrüpp gestürzt ist.� Wie auf Kommando hatten wir wieder unsere Waffen in den Fäusten und lauschten. �Nichts zu erkennen�, flüsterte ich. Aber Harry blieb bei seiner Behauptung, und als wir ein paar Schritte in Richtung der vermeintlichen Stelle gingen, da zuckten wir doch entsetzt zusammen. Ein entsetzlich lautes Fauchen erklang, schon mehr ein Brüllen. Wir standen steif wie die Ladestöcke da, die Augen in jene Richtung gerichtet, aus der es noch einmal herausfordernd und drohend fauchte. Dann kam Bewegung in den Busch. Blätter raschelten, ein langgestreckter gefleckter Körper raste in gewaltigen Sätzen davon. Kurz darauf war alles wieder still und ruhig. �Ein Leopard�, sagte ich, �zum Glück ist er vor uns ausgerissen. Offenbar haben wir ihn gestört.� Wir hatten ihn tatsächlich gestört, denn gleich darauf fanden wir blutige Überreste seiner Mahlzeit. Den Knochen nach zu urteilen, schien es sich um einen kleinen Affen gehandelt zu haben. Er hatte uns dicht an sich herankommen lassen, uns noch einmal durch sein Brüllen gewarnt, es dann aber doch vorgezogen zu verschwinden. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, der mir beißend in die Augen rann. �Ganz schön heiß�, meinte Harry doppelsinnig. �Dem Vieh hätte ich nicht gern gegenübergestanden. Wenn der springt, brauchst du deine Waffe erst gar nicht mehr abzudrücken.� �Wird Zeit, daß wir umkehren�, meinte ich, �so ungefähr dürften wir eine Meile zurückgelegt haben. Wir haben noch eine ganz nette Strecke vor uns.� Entfernungen ließen sich im Regenwald schlecht abschätzen, aber wir beschlossen jetzt doch, unseren Bogen zur anderen Seite zu schlagen. Drangen wir noch weiter vor, bestand die Möglichkeit, daß wir uns verirrten oder gar nicht mehr herausfanden. Jonny und Harry waren erleichtert einverstanden. Wir gingen also nach links und kämpften uns weiter voran. Später mußten wir diesen Weg ja noch einmal kreuzen und ihn zurückgehen. �Glaubt der Master eigentlich, daß die Neger hier Reigen tanzen?� fragte Jonny, �ich wette, hier gibt es nicht einmal die Andeutung eines Dorfes. Die haben doch Angst vor den Weißen, besonders vor solchen Kerlen wie Pratt. Wir sind doch in der Nähe der Sklavenküste, wo man die Schwarzen erbarmungslos jagt.�

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�Der Master ist nur vorsichtig und will kein Risiko eingehen.� Ziemlich müde trotteten wir weiter, und nach einer Ewigkeit sahen wir endlich wieder das Meer im Süden auftauchen. Wir waren so weit gegangen, daß von der �King� nicht einmal die Mastspitzen zu sehen waren, hatten uns also wesentlich weiter als eine Meile entfernt. Dann erreichten wir den Strand und befanden uns dicht an einer vorgelagerten Landzunge, die weit ins Meer lief und die mit Palmen und Gestrüpp bewachsen war. In der lagunenartigen kleinen Bucht standen wieder Mangroven, und das Ufer war sumpfig. Auf diesem Weg gab es keine Rückkehr zum Schiff. Durch die Mangroven kamen wir nicht durch. Ich vermutete außerdem, daß sich in der Bucht Krokodile tummelten. Wir gingen ein paar Yards weiter, wo der Strand flacher wurde. und keine Stelzwurzeln mehr wuchsen, denn von jener Stelle schimmerte etwas herüber. Als wir näher heran waren, sahen wir eine Planke am Strand. Die Sonne hatte das Holz gebleicht, aber es war unverkennbar Eiche. Kurz darauf entdeckten wir ein großes -Holzstück, das möglicherweise vom Bug eines Schiffes stammte, denn es wies die typische Form eines gedämpften Stevens auf. �Offenbar ist hier jemand mal in ärgerer Bedrängnis gewesen als wir�, meinte ich. �Kann aber auch sein, daß die Hölzer von See her angeschwemmt wurden, und weit draußen ein Schiff untergegangen ist.� Wir rätselten daran herum, fanden aber keine Antwort. Das Holz konnte schon uralt sein, wir konnten das jedenfalls nicht beurteilen, und um es mitzuschleppen, dazu war es zu schwer. Hinweise auf dem Holz gab es natürlich nach der langen Zeit auch nicht mehr. Wind und Wetter hatten alle Spuren getilgt. Wir waren uns nur darin einig, daß es vom Bugteil stammte, und daß es vormals mit Kupfer ummantelt worden war, wie ein paar oxidierte Stellen bewiesen. Dann brachen wir zur anderen Richtung auf, denn die Sonne neigte sich bereits dem westlichen Horizont entgegen. Wir wollten die Dunkelheit nicht gern im Regenwald verbringen. Es war ungefähr eine gute Stunde später, als Harry stehen blieb. Ganz langsam drehte er sich um. �Meinetwegen könnt ihr mich für verrückt halten�, sagte er im Flüsterton, �aber ich habe eben das Gesicht eines Schwarzen gesehen, mit platter Nase und einem Kraushaarschädel. Jetzt ist es wie ein Geist verschwunden.�

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�Wird wohl einer gewesen sein�, meinte Jonny. �Bei der Hitze sehe ich schon blaurote Affen.� �Ich habe mich nicht getäuscht�, sagte Harry ruhig. �Und wo war das?� fragte ich. Harry zeigte auf eine Stelle, die in grünlichem Dämmerlicht lag, wo es Licht und Schatten gab und wo sich Blätter leicht bewegten. Wir gingen vorsichtig darauf zu, spähten in die Büsche, sahen hinter Baumstämmen und Dickicht nach. Wir suchten auch auf dem Boden nach Spuren, doch da fand sich absolut nichts. Vielleicht war das Harrys überreizter Phantasie zuzuschreiben. Als wir noch weiter vordrangen, lichtete sich der Wald, und vor uns breitete sich dünne Vegetation aus, die weiter zum Horizont hin noch spärlicher wurde. Das war der Abschnitt, den auch wir schon vom Schiff aus gesehen hatten. �Und wo ist dein Neger jetzt?� fragte Jonny spöttisch. Harry sah sich ratlos nach allen Seiten um. �Ich hab' schon an die chinesische Mauer geschissen, da wußtest du noch gar nicht, wo sie liegt�, sagte er trocken, �und wenn ich einen Schwarzen gesehen habe, dann habe ich ihn auch verdammt gesehen, das kannst du mir glauben. Was weiß ich denn, wo der Kerl plötzlich geblieben ist. Er sah mir genau in die Augen.� �Und ich habe schon in den indischen Gewürzmühlen geschuftet�, konterte Jonny, �da gab es deine Scheißmauer noch gar nicht. Und ich habe, verdammt, keinen Neger gesehen.� Es schien so, als würden sich die beiden ernsthaft in die Haare geraten. Sie warfen sich ihre Ahnenreihe gegenseitig vor, bis Jonny behauptete, vielleicht würde Harrys Opa noch auf einer Palme sitzen und Bananen klauen. �Jetzt langt es�, sagte ich. �Wir haben keine Spuren gefunden, so sehr wir auch gesucht haben. Aber wir werden dem Master Harrys Beobachtung selbstverständlich mitteilen. Vielleicht hat es dieses Gesicht wirklich gegeben, und ein Späher der Schwarzen hat uns beobachtet. Wir haben selbst schon erlebt, daß sie wie Schatten auftauchen und wieder verschwinden.� �Wenn ihr euch vielleicht gütigst erinnert�, meinte Harry, �den Leoparden habe ich auch zuerst bemerkt, und er war durchaus kein Hirngespinst, sondern verflucht echt.� Wir hielten noch einmal Ausschau und suchten nach Spuren, doch es fand sich absolut nichts. Harry konnte durchaus recht haben. Die

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Schwarzen waren äußerst geschickt und blieben meist unsichtbar. Ich hatte auch ständig das Gefühl, daß wir beobachtet wurden. Trotzdem sah ich keine Menschenseele. Nach einer Weile hörten wir dumpf klingende Geräusche. Da wurde gehämmert, gesägt und mit der Axt gearbeitet. Die Geräusche stammten vom Schiff. Noch lange bevor wir die gute alte �King Charles� sahen, schob sich eine Wolkenbank heran. Das Sonnenlicht wurde dunstig und trüb, dann verschwand es, und auf uns ging übergangslos ein Schauer nieder, daß wir kaum noch Luft kriegten. Auch das war typisch für den Regenwald und die Elfenbeinküste. Hier goß es mehrmals am Tag wie aus Kübeln. Dann dampfte der Urwald, alles troff vor Nässe, und die große Hitze setzte erneut ein. �Wenigstens ein bißchen Kühlung�, sagte Harry erleichtert. Der Schauer war schon wieder vorbei. Unter uns dampfte der Boden. Nebelschleier stiegen auf, die Luft war schwer wie Blei. Nicht lange danach waren wir wieder an Bord. Das Leck am Bug war jetzt noch gewaltiger, noch größer, so daß man bequem zu zweit in die Piek steigen konnte. Costigan hatte eine ganze Menge angeknackster Planken entfernt. Auf den ersten Blick sah die �King� so aus, als würde sie nie mehr segeln können. Ich erstattete dem Master Bericht, und verschwieg auch nicht, daß Harry glaubte, einen Eingeborenen gesehen zu haben. Flanagan sah mich äußerst aufmerksam an. �Gab es diesen Mann nun, oder gab es ihn nicht?� fragte er. �Wir haben ihn nicht gesehen, Sir. Lediglich Mister Harry sagte, er hätte ein Gesicht gesehen. Wir haben auch nach Spuren gesucht, doch keinen einzigen Hinweis gefunden.� �Es könnte aber doch einer gewesen sein?� �Das ist nicht auszuschließen, Sir. Mister Jonnys und meine Beobachtungen haben nichts ergeben. Ich möchte Harry damit aber nicht unterstellen, daß es den Schwarzen gar nicht gab oder gibt.� �Die Antwort gefällt mir nicht�, sagte Flanagan ehrlich. �Damit bleibt also immer noch ein gewisser Rest Unsicherheit. Sonst haben Sie nichts bemerkt?� �Nein, Sir, wir haben nur einen Leoparden aufgestöbert. Weiter vorn in Strandnähe fanden wir altes angeschwemmtes Holz von einem Schiff. Treibgut, Sir, das vermutlich schon lange dort liegt.� �Keine Feuerstellen, Reste von Holzkohle oder dergleichen?�

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�Nichts, Sir, nur das angeschwemmte Holz. Wir sind meiner Schätzung nach wesentlich weiter als eine Meile gelaufen.� �Gut, dann geben Sie jetzt die Waffen ab. In einer halben Stunde wird es dunkel, dann werden die Arbeiten eingestellt. Pickens wird Ihnen morgen Arbeit zuweisen.� �Aye, aye Sir.� Flanagan sah noch einmal auf das gewaltige Loch im Bug, seufzte dann verhalten und enterte auf. Gleich darauf verschwand er in seiner Kammer. Die Dunkelheit brach rasch herein. Es gab nur eine ganz kurze Dämmerung, dann wurde es fast übergangslos dunkel. Als einer der Männer die Laternen an Deck entzünden wollte, wehrte Pickens sofort ab. �Kein Licht in der Nacht, auch im Batteriedeck nicht. Anordnung von Mister Finn.� Die Laternen wurden wieder zurückgehängt und blieben lichtlos an ihrem Platz. Finn hatte das Entzünden der Lampen wahrscheinlich aus dem Grund verboten, um keine Neugierigen anzulocken. Brennende Laternen waren in der Finsternis meilenweit zu sehen, natürlich auch von See aus. Das war eine ganz vernünftige und begründete Anordnung, denn wir lagen hilflos auf dem Trockenen und konnten von irgendwelchem Piratengesindel wie eine Weihnachtsgans ausgenommen werden. Wir waren nicht einmal in der Lage, uns zu verteidigen. Auf dem Meer war jedoch kein Licht zu sehen, denn die meisten der Schiffe, die von Indien heraufsegelten, nahmen den Weg, der bestenfalls durch den Golf von Guinea führte, aber nur selten den, der unmittelbar an der Elfenbeinküste lag. So hatten wir eine angenehme ruhige Nacht. Erst der nächste Tag brachte dann die ganz große Überraschung.

* In der Frühe des nächsten Morgens gingen wir wieder an die Arbeit. Ein Trupp klopfte den größten Muschelbewuchs ab, der andere arbeitete verbissen daran, das große Leck auszubessern. Das Frühstück war gerade vorbei, und schon setzte uns die Sonne wieder zu wie am vergangenen Tag, als Zebulon plötzlich aufblickte. Er senkte die Axt und starrte zu dem Regenwald hinüber. �Schwarze�, sagte er tonlos.

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Niemand hatte sie bemerkt, niemand hatte auch nur den geringsten Laut gehört, und dort standen sie jetzt plötzlich wie aus dein Boden gewachsen da, genau zwischen den Kokospalmen. Wir waren so verblüfft, daß uns im ersten Augenblick die Sprache wegblieb, denn mit dieser Überrumpelung hatte keiner von uns gerechnet. Obwohl zwei Männer ständig Wache gingen, hatten auch sie nichts bemerkt. Mir fiel siedendheiß ein, daß Harry gestern ein Gesicht bemerkt hatte. Er hatte es anscheinend wirklich gesehen und sich nicht getäuscht, wie wir angenommen hatten. Etwa zwanzig Schwarze standen da, und aus dem Regenwald lösten sich weitere unheimliche Gestalten, die geräuschlos herankamen. Master Flanagan starrte sie überrascht an. Seine Hand tastete sich unauffällig näher an die Radschloßpistole heran, die er im Gürtel trug. Die Schwarzen trugen Pfeil und Bogen. Als Bekleidung hatten sie nur einen dunklen Lendenschurz. Sie standen nicht etwa in lauernder oder feindseliger Haltung da. Sie hatten lediglich Aufstellung genommen, als würden sie auf ein Ereignis warten. Wir waren immer noch überrascht. Selbst Pickens kriegte den Mund nicht mehr zu vor Verblüffung. �Das hat uns gerade noch gefehlt�, sagte Finn heiser. Er erhielt jedoch keine Antwort, denn jeder starrte die Schwarzen an. Ein paar von ihnen traten jetzt zur Seite. Es waren alles stämmige große Kerle, Krieger offenbar, die ihre Oberkörper mit Kokosöl eingerieben hatten. Sie glänzten wie schwarzes Ebenholz. Was dann folgte, haute uns fast um. Die Krieger waren zur Seite getreten, und nun erschienen junge, barbusige Negerinnen, die um die Hüften nur verschiedenfarbige Tücher trugen. Sie hatten junge stramme Brüste, die sie ungeniert zur Schau stellten. Hinter ihnen folgten weitere Schwarze, aber es schienen keine einfachen Krieger zu sein, denn sie waren bemalt und gekleidet, als gehörten sie zum Gesinde eins Hofstaates. Zwischen ihnen trat aus dem Regenwald ein weiterer Neger hervor, flankiert von zwei geschmückten Riesen. Der Neger, der in der Mitte ging, erregte fast noch mehr unsere Aufmerksamkeit als die barbusigen Mädchen, und das wollte bei den ausgehungerten Kerlen wirklich etwas heißen, denn dieser Neger war ganz ungewöhnlich. Einen ähnlichen Mann hatte ich nie gesehen.

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Er war schlicht gesagt ein braunhäutiger Riese von etwa sieben Fuß Größe. Damit überragte er sogar Zebulon. Und an Gewicht übertraf er ihn gleich zweifach. Wir hatten noch nie so einen fetten Mann gesehen, selbst in Japan oder China nicht. Die fettesten Kerle, die ich bisher gesehen hatte, waren die japanischen Sumo-Ringer, gemästete Brocken, die vor lauter Kraft kaum laufen konnten. Aber hinter diesen Schwarzen konnte sich selbst der dickste Sumo-Ringer verstecken. Daß so eine Masse sich überhaupt auf zwei Beinen fortbewegen konnte, war mir schleierhaft. Jeden Augenblick war ich darauf gefaßt, ihn wie eine riesige Blase platzen zu sehen. Dabei sah er nicht schlecht aus. Auch sein Gesicht war nicht sonderlich dick oder gar fett. Er hatte das typische Kraushaar und trug dazu einen gestutzten Vollbart. In seinem linken Ohr baumelte ein goldener Ring von der Größe meiner Faust. Er mochte sicher zwei Pfund wiegen. Seine Kleidung bestand aus einem federgeschmückten Umhang und einem golden glänzenden Untergewand, das ihm bis über die Knie reichte. Der Umhang war von gelblich-orangeroter Farbe, die sich immer dann veränderte, wenn das Sonnenlicht aus wechselnden Richtungen darauf fiel. Sein Leib war gar nicht zu beschreiben. Es war die unförmigste Riesentonne, die es auf dieser Welt gab. Sie wölbte sich wie die Halbkugel eines kleinen Domes nach vorn. Fasziniert starrten wir alle auf diese lebendige Fleischmasse, diesen Koloß und Fettwanst, der offenbar an der Elfenbeinküste ein hohes Amt bekleidete. Seine Aufmachung und der ganze Hofstaat ließen darauf schließen. Hochaufgerichtet stand er da, blickte sehr lange zu unserem Schiff und rührte sich nicht. Er beobachtete uns nur schweigend. Wir saßen ganz schön in der Klemme, das ließ sich nicht leugnen, denn wenn es diesen Schwarzen jetzt einfiel, über uns herzufallen, dann konnten wir uns nicht einmal zur Wehr setzen. Es würde nur ein sehr kurzes Gemetzel werden, denn mittlerweile waren es mehr als achtzig Krieger, alle mit Pfeil, Speer und Bogen bewaffnet. Und wir hatten bestenfalls zwei oder drei Pistolen greifbar. Der Riese starrte immer noch auf das große Loch im Schiff. Dann wanderte sein Blick sehr sachlich und kühl weiter und musterte uns der Reihe nach. Was unter seinem krausen Wollschädel vorging, konnte ich nicht einmal ahnen. Der Häuptling zeigte kaum eine Gemütsregung.

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Er nahm nur alles ziemlich gelassen in sich auf, und schien auch nicht sonderlich überrascht zu sein. Flanagan hatte immer noch die Hand an seiner Pistole. Aber die Finger seiner rechten Hand bewegten sich nicht weiter. �Feine Situation�, sagte jemand flüsternd. �Hoffentlich sind die friedlich und haben noch keine Erfahrungen mit Sklavenjägern hinter sich.� Niemand gab dem Sprecher eine Antwort. Es war eine merkwürdige Situation, in der wir uns befanden. Die Krieger konnten uns wohlgesonnen, sie konnten aber auch lebensgefährlich sein. An ihren Mienen ließ sich das nicht ablesen. Eines aber kam mir an dem fetten Häuptling merkwürdig vor. Er hatte Schiffe dieser Art schon oft gesehen, denn sein Interesse war nicht das eines staunenden Kindes, das derartiges zum erstenmal im Leben sah. Ich hatte das Gefühl, als würde er alles genau taxieren, einordnen und zur Kenntnis nehmen. Er besah sich aus der Ferne auch das Loch im Schiff, und sein Blick wanderte weiter und blieb genau dort hängen, wo sich unsere Stückpforten befanden. Diese Linie am Schiff musterte er ganz besonders sorgfältig. Dann ging er zwei Schritte vor und blieb wieder stehen. Zwei der jungen Negerinnen fielen dicht vor ihm auf die Knie, als wollten sie ihm huldigen, sobald er sich bewegte, und so war es offenbar auch, denn diese Gesten sahen wir noch öfter. Meist stimmten sie dabei auch einen kurzen aber aufreizenden Gesang an, der sofort verstummte, sobald der Dicke eine Handbewegung machte. Unsere Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Ich sah, daß Finn krampfhaft nach einem Ausweg suchte, daß Pickens ebenfalls scharf überlegte, was jetzt wohl folgen würde, und ich sah weiter, daß der Master sich sehr abwartend verhielt. Er war selbst sehr überrascht, so überrumpelt worden zu sein. Der Dicke näherte sich wiederum zwei Schritte, wobei die Mädchen auf die Knie fielen, und ein paar andere diesen merkwürdigen Singsang anstimmten. Als er diesmal stehen blieb, gab es die größte Überraschung seit unserem unfreiwilligen Besuch an der Elfenbeinküste. Der Fette hob beide Arme. Dann erklang eine tiefe, sonore Stimme, die jedes Geräusch überlagerte, und die sich fast so anhörte wie die Stimme eines Götzen in der Südsee, wenn ein besessenes Medium für ihn sprach.

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�Kawassa-Kauli spricht�, sagte die Stimme zu unserer nächsten Verblüffung auf Englisch. �Ich bin der Elfenbeinkönig, der Herr über die Küste, das Land und das Meer.� Sein Englisch war nach den nächsten Worten direkt schauderhaft. So sprachen nicht mal die Kerle in Deptfort aus den Elendsvierteln. Trotzdem verstanden wir jedes Wort. Der Satan mochte wissen, woher dieser Kawassa-Kauli sich die englische Sprache angeeignet hatte. Er mußte also über ziemlich große Erfahrungen mit unseren Landsleuten verfügen. �Und der Herr über alle Lebewesen in meinem Land�, fügte die tiefe Stimme hinzu. Das hörte sich alles sehr hochtrabend an, aber damit war der Bann offenbar gebrochen, und wir konnten erleichtert aufatmen. Genauso gut hätten diese Krieger auch über uns herfallen und uns massakrieren können. �Das heißt also�, meinte Pickens flüsternd, �er ist auch der Herr über uns, denn wir befinden uns ja in seinem Land.� �Schweigen Sie�, sagte der Master. �Ich möchte wissen, was er uns noch zu sagen hat.� Offenbar aber hatte Kawassa-Kauli uns vorerst nichts zu sagen. Er kam jedoch näher und lächelte freundlich. Dabei betrachtete er immer noch sehr aufmerksam Schiff und Leute. Aus der Nähe wirkte er noch fetter, und wieder hatte ich das Gefühl, er würde gleich mit einem lauten Knall platzen. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, daß sich immer mehr Krieger einfanden. Sie kamen fast. unsichtbar und geräuschlos aus dem Regenwald und nahmen Aufstellung. Hier mußten wir sehr vorsichtig taktieren, denn mittlerweile waren es � grob geschätzt � schon mehr als hundert Schwarze, die sich nach und nach einfanden. Wieviel Krieger Kawassa-Kauli insgesamt hinter sich hatte, ließ sich nicht einmal annähernd schätzen. Master Flanagan hatte seine Überraschung endlich überwunden und trat dem Elfenbeinkönig entgegen. Dabei lächelte er den Dicken freundlich, aber unverbindlich an. �Ich bin der Kapitän dieses Schiffes�, sagte er etwas förmlich. �Wir hatten einen Zusammenstoß mit einem großen Wal und sahen uns gezwungen, das Schiff auf Land zu setzen, sonst wären wir dicht vor der Küste untergegangen. Wir wußten nicht, daß diese Küste besiedelt ist.� Flanagan sprach ziemlich langsam, damit ihn der Elfenbeinkönig auch verstand.

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Kawassa-Kauli schien in sich hineinzulauschen und nahm die Worte des Masters mit schräg geneigtem Kopf in sich auf. Als Flanagan schwieg, lächelte der Dicke verständnisvoll. �Ihr seid meine Gäste�, radebrechte er. �Ihr könnt bleiben, solange ihr wollt. Ihr seid keine Sklavenjäger?� fragte er dann lauernd. �Nein�, sagte der Master fast empört. �Wir sind Freunde der Schwarzen und bekämpfen die Sklavenfänger. Ich verabscheue diese Menschenjäger aus ganzem Herzen.� Dem Elfenbeinkönig schien die Antwort zu gefallen. Er lächelte wohlwollend und nickte uns zu. Wieder musterte er für kurze Augenblicke das Schiff. Er watschelte bis dicht an die Bordwand, hob dann die Faust und schlug ein paarmal gegen den Schiffsrumpf. Flanagan ließ ihn lächelnd gewähren. Zebulon knuffte mich leicht in die Seite. Seine Stimme war so leise, daß ich sie kaum verstand. �Dieser Mann ist ein Schlitzohr, Howard. Ich fühle es. Er wird uns noch sehr viel Ärger bereiten.� Ich wußte, daß Zebulon einer der wenigen war, die einen Menschen gleich auf Anhieb beurteilen konnten. Er hatte sich auch in den drei Halunken Boomer, Leach und Gordon nicht getäuscht, als er sie gleich zu Anfang als hinterhältiges Lumpenpack bezeichnet hatte. �Meinst du wirklich?� fragte ich ebenso leise. �Er ist nicht ehrlich. Ich glaube, er will was von uns.� �Und was will er?� �Keine Ahnung, irgendetwas, ich weiß es nicht.� �Vielleicht das kaputte Schiff?� fragte ich etwas ironisch. �Auch das ist möglich.� Am Strand der Bucht umstand jetzt der größte Teil des Hofstaates uns und unser Schiff. Es wimmelte buchstäblich von Kriegern, Bediensteten und niederen Würdenträgern, die alle um den Dicken herumscharwenzelten und ihm huldigten. Er schien eine sehr große Macht in diesem Land zu verkörpern. Kawassa-Kauli wurde jetzt ausgesprochen neugierig und wollte von Flanagan etliches wissen. �Wieviel Geschütze hast du auf dem Schiff, Master?� �Vierundzwanzig Geschütze�, sagte Flanagan verwundert. �Sind die alle hinter dem Holz?� fragte der Dicke, auf den Schiffsrumpf deutend. �Ja, im Batteriedeck, so nennt man es. An Deck stehen ebenfalls noch sechs Geschütze, das sind schwenkbare Drehbassen.�

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�Sind die alle geladen?� �Nur ein paar, für den Notfall�, sagte Flanagan zögernd. Es war auffällig, wie sehr sich der Dicke für die Geschütze interessierte. �Können alle Männer deines Schiffes damit umgehen?� Wieder zögerte der Master etwas mit der Antwort. Er wußte nicht, was der Dicke mit seinen neugierigen Fragen bezweckte. �Die meisten können es�, sagte er. �Ich möchte mir die Geschütze ansehen�, verlangte Kawassa-Kauli. Das klang so bestimmt, daß es keine Widerrede gab. Er war ganz versessen auf die Geschütze. Flanagan konnte ihm die Bitte, oder genauer gesagt, die Forderung, schlecht abschlagen, ohne sich den Zorn des Dicken zuzuziehen. Und gerade das konnten wir in unserer miserablen Lage nicht gebrauchen. �Also gut�, meinte er. �Ich werde dir die Geschütze zeigen. Du sprichst ein ausgezeichnetes Englisch�, fügte er hinzu. Der Mann, der sich Elfenkönig nannte, lächelte breit. �Ich hatte schon mit Engländern zu tun�, sagte er, �auch mit Spaniern und Portugiesen. Ich verstehe auch deren Sprachen und kann ihre Schiffe an der Bauart unterscheiden.� Das war sehr merkwürdig, wo sich doch hier hin kaum Schiffe der Dons, Engländer oder Portugiesen verirrten, dachte ich. Aber dieser Mann steckte voller Überraschungen, und wir sollten ihn noch von ganz erstaunlichen Seiten kennenlernen. �Lassen Sie die Stückpforten öffnen, Mister Pickens, damit genügend Helligkeit ins Batteriedeck fällt.� �Aye, Sir. Soll ich auch ein paar Kanonen ausrennen lassen?� �Nein, das ist nicht erforderlich.� Der Dicke war jetzt neugierig wie ein kleines Kind und konnte es kaum erwarten, bis die ersten drei Stückpforten hochgezogen waren. Voller Ungeduld brannte er darauf, die Kanonen zu sehen. Flanagan lud ihn ein, das Schiff zu betreten und sich das Batteriedeck anzusehen. Kawassa-Kauli kam der Aufforderung auffallend eilig nach. Jeder erwartete voll versteckter Schadenfreude, daß der Dicke es nicht schaffen würde, an der Jakobsleiter aufzuentern. Auch Flanagan schien damit zu rechnen. Doch darin hatten wir uns gewaltig geirrt. Als hätte er das schon hundert Mal getan, enterte er auf, trotz seiner gewaltigen Leibesfülle geradezu behende. Die Jakobsleiter hielt auch das Gewicht des unförmigen Königs aus und brach nicht. Kaum war er oben, da winkte er zwei Männern seines Hofstaates, ihm zu folgen.

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Im Batteriedeck war es jetzt hell, und die bronzenen Rohre der Culverinen glänzten im schräg einfallenden Sonnenlicht wie pures Gold. Kawassa-Kauli stieß einen Ruf des Entzückens aus, als er die großen Rohre sah. Mit staunenden Augen näherte er sich und sagte dann zu den beiden anderen etwas in seiner Sprache, das wir nicht verstanden. Die beiden waren ebenso beeindruckt wie ihr König. Kawassa ging fast ehrfürchtig um die Lafetten herum, bückte sich und betrachtete alles so genau, als sollten die Kanonen ihm zum Geschenk gemacht werden. Dann streckte er die Hand aus, verdrehte die schwarzen Augen und streichelte eins der Rohre. Seine Freude war fast kindlich zu nennen, und seine Verzückung war echt. Er blickte auch in den Schlund der Culverine und tastete mit seinen fetten Fingern über das Zündloch. �Wo sind die Kugeln?� fragte er begierig. Mister Finn zeigte auf den Kugelkasten, nahm eine der Eisenkugeln heraus und überreichte sie dem Dicken, der sie in die Hand nahm und genau betrachtete. Dabei glitt ein undeutbares Grinsen über sein bärtiges Gesicht. Jetzt wollte er unbedingt nähere Einzelheiten wissen. �Wie funktioniert das genau?� erkundigte er sich aufgeregt. Natürlich war sein Englisch hundsmiserabel, aber ich gebe es der einfacheren Verständigung wegen flüssig wieder. Ich sah, daß der Master wieder zögerte, und ein nachdenklicher Ausdruck in seine Augen trat. Es berührte ihn offensichtlich unangenehm, daß der Dicke diese Kanonen geradezu hätschelte und sie fast anbetete. Fehlte nur noch, daß er sie umarmte. �Soll ich die Erklärung übernehmen, Sir?� erkundigte sich unser Waffen- und Stückmeister Jim Corcoran. Flanagans Stimme war schroff. �Nein, das übernehme ich. Halten Sie sich da heraus! � Der Dicke hielt immer noch abschätzend die Kugel in der Hand, als wollte er ihr Gewicht prüfen. Dann setzte Flanagan zu einer recht langatmigen Erklärung an und erklärte das Bedienen der Geschütze so kompliziert und weitschweifig, daß ich selbst nicht mehr wußte, wie die Dinger überhaupt funktionierten. Er sprach von Lafetten, Brooktauen, Ansetzern, Wischern, Ladern und Schaufeln, von Zündkraut, Pulver, Stangen-, Kettenkugeln und Kartuschen, von Überhöhung des Schußwinkels, und was der Dinge mehr waren.

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Kawassa-Kauli hörte anfangs mit steigendem Interesse ganz begierig zu, doch dann kam er nicht mehr mit, weil Flanagan es zu langatmig und kompliziert schilderte. Zum Schluß bombardierte er den verstörten Dicken noch mit verschiedenen Kalibern, Bodensätzen und Verschlüssen, bis der überhaupt nichts mehr begriff. Für den schwarzen Elfenbeinkönig war die Bedienung der Stücke jetzt ein Buch mit sieben Siegeln. Es ging beträchtlich über seinen geistigen Horizont, was der Master ihm da verklarte. Flanagan hatte einen ganz merkwürdigen Gesichtsausdruck, obwohl er freundlich und liebenswert aussah. Er schien sich redlich Mühe gegeben zu haben, aber das alles war nur eine großartige Schau. Er hatte wohl seine ganz besonderen Gründe dafür, denn der Master tat nie etwas grundlos. Der Dicke blickte immer wieder ratlos auf die schwere Eisenkugel in seiner fleischigen Pranke, dann sah er die Kanonen an, und schließlich blieb sein Blick an Flanagan hängen, der, so glaubte ich deutlich zu sehen, unmerklich grinste. Doch das unmerkliche Grinsen verging dem Master gleich darauf, als Kawassa-Kauli ungeniert mit einer weiteren Forderung herausrückte. �Das ist sehr schwierig zu verstehen�, sagte er holperig, �wenn ich das selbst sehe, begreife ich es schneller. Hier, Master, nimm die Kugel�, sagte er, Flanagan den Siebzehnpfünder in die Hand drückend. �Laß sie in das Rohr stecken. Dann machen wir bumbum.� �Bumbum�, wiederholten die beiden anderen Schwarzen, die mit an Bord gekommen waren. Sie konnten sich über Kawassas einfältiges �Bumbum� fast kranklachen. Es schien sie mächtig zu erheitern, genau wie den Dicken selbst. �Bumbum�, wiederholte er in kindlicher Freude. Dabei stieß er ein schrecklich lautes Lachen aus. Hinter dieser kindlichen Freude steckte aber etwas ganz anderes, das erkannte ich deutlich, denn in Kawassas Augen stand ein begierliches, fast hinterhältiges Funkeln. Er wollte unbedingt herausfinden, wie die Kanonen funktionierten. Ging der Master nicht auf seine Bitte ein, so mußten wir wahrscheinlich mit erheblichen Schwierigkeiten rechnen. Flanagan war zwar das Lachen vergangen, nicht aber seine unverbindliche Freundlichkeit. Er nahm die Kugel und legte sie wieder in den Kugelkasten zurück. Das Gesicht des Elfenbeinkönigs veränderte sich. Anfangs lag Trotz darin, dann wurde es grimmig, und ich mußte wieder an Zebulons Worte denken, daß der Dicke uns noch Ärger bereiten würde.

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�Bumbum geht nicht�, erklärte der Master. �Warum nicht?� fragte Kawassa fast böse. �Mein Schiff ist beschädigt und liegt auf dem Trocknen. Wenn wir jetzt eine Kanone abfeuern, fällt das Schiff auseinander. Die Erschütterung ist zu groß. Wir können erst dann wieder einen Schuß abfeuern, wenn wir im Wasser liegen.� Kawassa dachte lange über die Worte nach. Flanagan hatte sich gut herausgewunden. Die Frage war nur, ob der Dicke ihm das auch glauben würde. �Warum geht das Schiff kaputt?� fragte er hartnäckig. Flanagan brauchte fast zehn Minuten, um Kawassa das alles zu verklaren und auseinanderzusetzen. Der Elfenbeinkönig war etwas gekränkt, daß sein Wunsch nicht in Erfüllung ging, aber schließlich fand er sich widerwillig mit der Erklärung ab. Er unternahm nur noch einen letzten Vorstoß in dieser Richtung. �Ich habe einen Zauberer, der das Schiff schützen wird�, sagte er. �Dann kann nichts passieren, wenn gefeuert wird.� Flanagan und den Offizieren entlockte das nicht mal ein müdes Lächeln. Sie mußten ihm wieder und wieder erklären, weshalb der Zauberer nichts ausrichten würde. Pickens sagte dem Dicken, das Schiff stünde schon in England unter dem Schutz eines Zauberers, und wenn ein anderer es versuche, würde uns alle der große Fluch treffen und böse Geister würden aus den Schiffswänden entfliehen. Das half. Kawassa war ungemein beeindruckt. Die Schiffsgeister wollte er auf keinen Fall hervorlocken. Das war etwas, wovor er tatsächlich Angst zu haben schien. Flanagan warf dem Zweiten einen dankbaren Blick zu. Kawassa schien nun jegliches Interesse an uns verloren zu haben. �Nach dem Aufgang der Sonne komme ich wieder�, verkündete er. �Meine Krieger werden dir dann vielleicht helfen, Master, damit das Schiff wieder schwimmen kann.� Er wartete erst gar keine Antwort ab, drehte sich und watschelte davon. Seine beiden Begleiter folgten ihm eilig. Der Dicke enterte auch diesmal erstaunlich rasch ab. Dann winkte er mit herrischen Gesten seinem Gefolge, sah noch einmal mit gerunzelter Stirn zu uns herüber und verschwand auf dem gleichen Weg, den er gekommen war.

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Augenblicke später waren wir allein. Sämtliche Krieger waren verschwunden. Nur ihre Fußabdrücke verrieten noch den kurzen und eigenartigen Besuch.

* �Ein sehr merkwürdiger Mann�, sagte der Master sinnend. �Er gefällt mir nicht. Ich glaube, seine Freundlichkeit ist nur gespielt. Dieses eigenartige Verhalten läßt darauf schließen, daß er etwas ganz Besonderes von uns will. Und daß er Englisch spricht, wenn auch sehr schauderhaft, will mir nicht in den Kopf. Woher mag er wohl seine angeblichen Kontakte zu Engländern haben?� Mister Firn räusperte sich leise und blickte auf jene Stelle, wo die Krieger im Regenwald verschwunden waren. Es war nicht festzustellen, ob Kawassa einige zurückgelassen hatte. Wenn ja, dann blieben sie für uns jedenfalls unsichtbar. �Mir fällt ein�, sagte Finn überlegend, �daß der Landtrupp etwas von Wrackteilen erwähnt hat. War es nicht so, Mister Bonty?� �Ja, wir fanden eine Planke und den Teil eines Bugs oder Stevens. Es war gedämpftes Holz und zweifelsfrei Eiche.� �Welche Schlußfolgerungen gedenken Sie daraus zu ziehen, Mister Finn?� fragte der Master. �Es ist nichts als eine graue Theorie, Sir, ich möchte nicht schlußfolgern. Besteht aber nicht die Möglichkeit, daß hier in der Nähe bereits einmal ein Landsmann strandete?� �Die Möglichkeit besteht durchaus. Das Holz kann aber auch von weit her angeschwemmt worden sein.� �Fest steht jedenfalls�, fuhr Finn fort, �daß man unsere Ankunft sehr genau beobachtet hat, und es steht weiterhin fest, daß der Landstrich bis auf mindestens eine Meile im Umkreis nicht besiedelt ist. Dieser fette Herr scheint mithin tiefer im Landesinneren zu Hause zu sein, aber doch ausgezeichnet über alles informiert zu sein.� �Weiter, was wollen Sie damit sagen?� �Theoretisch ist hier vor der Küste ein vermutlich englisches Schiff gestrandet oder angetrieben worden, Sir. Diese Leute müssen längere Zeit hiergewesen sein, und Kawassa-Kauli hatte Kontakte zu ihnen. Vielleicht waren es auch seine Gefangenen, ich traue dem Mann fast alles zu. Im Laufe der Zeit lernte er ein paar Brocken seines schauderhaften Englischs.� �Und weiter?�

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�Nehmen wir an, er hat das Schilf ausgeplündert und die Mannschaft umbringen lassen. Dabei hat er ein paar Kanonen erbeutet, und möchte jetzt gern wissen, wie man sie abfeuert. Daher auch seine fast penetrante Neugier für alles was mit Geschützen zusammenhängt.� Finn schwieg, sah aber den Master nachdenklich an. Flanagan kaute auf seiner Unterlippe, dann nickte er. �Auszuschließen ist das nicht, Mister Finn, wenn es mir auch weit hergeholt scheint. Wir unterstellen dem Elfenbeinkönig grausame Ungeheuerlichkeiten, obwohl wir keinen anderen Beweis als zwei angetriebene Holzstücke haben, die nicht unbedingt etwas aussagen. Der Grund für seinen Eifer kann auch pure kindliche Neugier sein. Sie wissen ja, wie kindisch diese Schwarzen sich mitunter benehmen.� �Sir�, sagte Finn steif, �mir fiel weiterhin auf, wie kompliziert sie ihm die Bedienung der Geschütze erklärten, obwohl die Handhabung doch relativ einfach ist. Folglich, so nahm ich an, hegen Sie etwa gleiche Gedanken wie ich.� Zum ersten Mal seit längerer Zeit sah ich Flanagan wieder lachen. Aber es war kein fröhliches Lachen. Der Ausdruck seiner Augen blieb kühl und unnahbar. �Sehr gut, Mister Finn. Ja, ich denke ähnlich wie Sie. Aber ich schätze es nun einmal, auch Gegenargumente zu bringen, die für den Elfenbeinkönig sprechen. Wenn man versucht, die Theorie eines anderen ins Wanken zu bringen, ergeben sich meist sehr gute Aspekte. Man wägt das Für und Wider ab und rauft sich schließlich zu einer vernünftigen Ansicht zusammen.� �Das sagt mir über Ihre Meinung immer noch nicht viel, Sir.� �Ich traue dem Mann auch nicht�, sagte der Master seufzend. �Aber wir sind gezwungen, nach Möglichkeit auf seine absonderlichen Wünsche einzugehen. Und zwar aus dem Grund, weil wir mit einem schwer havarierten Schiff hilf- und wehrlos auf seinem Territorium liegen und auf seine Gunst angewiesen sind. Sie haben sich bisher noch nicht zu den Fakten geäußert, Mister Pickens�, sagte er dann überraschend. �Sonst pflegen Sie doch immer Ihre Meinung kundzutun. Was halten Sie also davon?� Pickens hatte beide Hände wieder über seinen dicken Bauch gefaltet. Auch er blickte zu der Stelle hin, wo die Krieger im Regenwald verschwunden waren. �Ich habe mehr als hundert Krieger gezählt, Sir, und das ist vermutlich nur ein Teil seines Heeres. Ich kann nur empfehlen, die Reparaturen so schnell wie möglich durchzuführen, das Schiff zu Wasser zu bringen,

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und noch schneller abzusegeln. Dieser Mann heckt etwas aus. Er ist unberechenbar und launisch. Wir können uns auf keinen Kampf einlassen. Die Breitseiten können wir nicht einsetzen, und die Drehbassen würden im Regenwald nicht viel ausrichten, falls es zum Äußersten kommen sollte.� �Ja, das werden wir tun�, sagte Flanagan knapp. Dann wandte er sich an Jonny und mich. �Sie beiden nehmen die Jolle und bringen die angeschwemmten Hölzer an Bord. Mister Costigan soll sie sich einmal ansehen. Vielleicht hat. er mehr dazu zu sagen. Und wenn Sie an der Stelle sind, dann halten sie gleich Ausschau nach weiteren Wrackteilen. Sollte dort ein Schiff gestrandet sein, besteht die Möglichkeit, daß im Wasser vielleicht die eine oder andere Kanone zu sehen ist. Halten Sie sich aber nicht zu lange auf, wir brauchen jede Hand an Bord.� �Aye, aye, Sir.� Jonny und ich enterten wieder ab. Gleich darauf stießen wir die Jolle ins Wasser und pullten aus der Lagune hinaus in westlicher Richtung. Nicht lange und wir fanden die Stelle wieder. Diesmal hockte dicht bei den Mangroven allerdings ein träges, ziemlich großes Krokodil am Ufer. Es hatte den Rachen weit aufgerissen und ließ sich die Sonne ins Maul scheinen. �Hast du den Dschungel im Auge behalten?� fragte ich Jonny. �Ja, schon die ganze Zeit. Aber wenn uns wirklich einer beobachtet, dann hat er sich geschickt getarnt und ist nicht zu erkennen.� Das große Krokodil irritierte uns. Es schien sich an unserer Anwesenheit überhaupt nicht zu stören. Einmal öffnete es ein Auge, das uns kalt und gefühllos ansah. Dann schloß sich das Auge wieder, und das riesige Tier döste weiter. �Fahren wir zuerst die Bucht ab und halten wir Ausschau�, meinte Jonny, �vielleicht verschwindet das Biest bald. Ich bin nicht gerade wild darauf, in seine Nähe zu geraten.� Wir pullten kreuz und quer durch die Bucht. Sie war so flach, daß ein Schiff darin kaum ankern konnte. Wir pullten auch etwas weiter hinaus und blickten immer wieder in das klare Wasser. Doch von den Resten eines Schiffes oder einer versunkenen Kanone war nichts zu entdecken. Als Jonny einmal den Riemen zu hart ins Wasser knallte, zuckten wir beide zusammen, denn der Schlag hatte das Krokodil aufgestört. Es rannte ein Stück zum Wasser und verschwand darin. Mit hochgereckter Schnauze hielt es Kurs auf unsere Jolle.

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Zum Glück wollte es nichts von uns, denn kurz vor dem Boot drehte das Biest ab und tauchte weg. Weitere Krokodile waren nicht zu sehen, also pullten wir beruhigt dem flachen Strand entgegen, wo das angeschwemmte Zeug lag. Dabei hielten wir immer wieder Ausschau und versuchten mit unseren Blicken den Regenwald zu durchdringen. Ich fühlte mich von unsichtbaren Augenpaaren belauert, doch zu sehen war niemand. Jonny ergriff die Planke und zog sie ins Boot. Dann beugten wir uns beide über den Dollbord und hievten mit einiger Mühe das vom Bug stammende Holzstück in die Jolle. �Damit wird der Zimmermann auch nicht viel anfangen können�, meinte Jonny. �Das glaube ich auch nicht.� Als wir zurückpullten, glaubte ich, im Regenwald eine Bewegung gesehen zu haben. Aber es konnte auch ein Tier gewesen sein. Ich war jedenfalls nicht in der Lage, das zu unterscheiden. Ebenso gut mochte es einer von Kawassas Kriegern gewesen sein. Auch Jonny starrte lange und angestrengt auf die Stelle. Dann zuckte er mit den Schultern. �Na schön, sollen sie uns doch beobachten. Wir können es nicht verhindern. Sie haben uns die ganze Zeit über beobachtet.� Wir pullten um das tief im Wasser liegende Heck der �King Charles� und luden die beiden Holzteile aus. Flanagan kam mit dem Schiffszimmermann Costigan zu uns herüber. Beide betrachteten sich stumm ein paar Augenblicke das angeschwemmte Zeug. �Haben Sie noch etwas entdeckt?� fragte der Master. �Nein, Sir. Wir haben die betreffende Bucht genau abgesucht, aber keine weiteren Reste gefunden, auch weiter draußen nicht�, sagte ich. �Sollen wir es noch einmal in anderen Richtungen versuchen?� �Nein, das kostet zuviel Zeit.� Costigan, der früher auch im Schiffbau tätig gewesen war, beäugte das Holz von allen Seiten. Sein faltenreiches Gesicht wurde noch melancholischer. Er drehte das Holz immer wieder herum, dann nahm er sein Entermesser und zog mit der Klinge ein paar Riefen hinein. �Das ist englische Eiche, Sir�, sagte er bedächtig, �auch die Planke scheint von demselben Schiff zu stammen. Die Planke ist etwas angesengt, als wäre sie für kurze Zeit mit Feuer in Berührung gekommen. Das große Stück stammt einwandfrei vom Bug einer

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Galeone. Es ist über Rauch und Feuer gedämpft, also künstlich in Form gebracht worden.� �Das hilft uns leider auch nicht weiter�, sagte Flanagan mißmutig. �Ich hatte mir mehr Aufschluß darüber erhofft. Auf der Galeone ist vermutlich ein Feuer ausgebrochen, aber die Ursachen dafür kennen wir nicht. Es kann hier an Land ausgebrannt sein, es kann aber auch auf See passiert sein.� Schulterzuckend wandte er sich ab. �Tut mir leid, Sir�, sagte Costigan, �mehr läßt sich leider nicht feststellen.� Flanagan verbarg seine Enttäuschung nicht. Sein Gesicht verschloß sich wieder, und er kehrte zum Bug zurück. Die Arbeiten gingen inzwischen zügig weiter, aber sie würden trotzdem nur ein Provisorium bleiben, weil wir die �King Charles� nicht richtig aufslippen konnten. Hier gab es Ebbe und Flut, und die Gezeiten behinderten uns bei der Arbeit. Ein Teil des Muschelbewuchses war bereits abgeklopft, jedoch nur das Gröbste, wie der Master befohlen hatte, um die Hecklastigkeit des Schiffes zu vermeiden. In dieser Nacht schlief ich schlecht. Die Hitze stand wie eine Mauer im Forecastle, und so verbrachten die meisten der Männer die Nacht an Deck, obwohl es da nicht viel kühler war. Morgen also würde Kawassa-Kauli wieder erscheinen, dachte ich noch, bevor ich einschlief. Was hatte dieser fette Kerl, der sich Elfenbeinkönig nannte, nur mit uns vor? Bevor ich jedoch darauf eine Antwort fand, war ich schon eingeschlafen, doch ich wachte ständig auf und fand einfach keine richtige Ruhe in jener Nacht.

* Noch bevor die Sonne aufging, und das seltsame Zwielicht herrschte, waren die meisten Männer schon munter. Das Frühstück fiel ziemlich kurz aus, kaum jemand hatte Appetit. Nach dem spärlichen Essen ging wieder ein kurzer aber heftiger Regenschauer nieder. Der Dschungel begann zu dampfen und zu qualmen, als würde er brennen. Anschließend begann die Sonne sengend herab zu brennen. Inder Lagune waberten dichte Nebelschwaden, die auch die �King Charles� einhüllten.

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Wir gingen alle sofort an die Arbeit, denn jetzt herrschte Ebbe, und die Zeit mußte genutzt werden. Die Überraschung kam diesmal von See her. Flanagan hatte einen Ausguck befohlen, der oben im Großmars stand und von dort aus beobachtete, damit wir gegen Überraschungen unliebsamer Art geschützt waren. Vor der Küste konnten sich Piraten oder Schnapphähne herumtreiben. Eine rechtzeitige Warnung durch den Ausguck war unerläßlich. �Deck! Ein langes Boot aus westlicher Richtung�, meldete der Mann im Großmars. �Ein Boot?� fragte der Master. Wir blickten angestrengt in die westliche Richtung, aber dort waberten immer noch Nebelschwaden über der See, die alles in grauweiße Tücher hüllten. �Unauffällig die Drehbassen besetzen�, befahl der Master. Auch er blickte angestrengt in den Nebel hinaus. Die achteren Drehbassen wurden besetzt. Aus der Kombüse wurden glimmende Lunten geholt. Zebulon, Jeremias und Jim Corcoran gingen an die Drehbassen, stellten sich aber seitlich auf, als würden sie aus ihrer Position nur beobachten. Konturen wurden in dem Nebel sichtbar, ein langes, seltsam anmutendes Boot wurde für Augenblicke erkennbar, ehe es wieder in einer Nebelwand verschwand. Es war ein langes, schmales Boot, viel zu lang um damit weit auf See hinausfahren zu können. Es wurde von etwa zwanzig schwarzen Kriegern fast lautlos gepullt. Ganz vorn am Bug trug es ein gelblich schimmerndes langes und gebogenes Horn, an den Seiten befanden sich weitere Hörner, die allerdings etwas kürzer waren. Wieder zerriß der Nebel, und jetzt sahen wir zu unserem Erstaunen weitere Einzelheiten. In der Mitte des Bootes befand sich eine Art Thron, auf dem breit, massig und gewichtig Kawassa-Kauli hockte. Diesmal hatte er seinen schillernden Umhang zusätzlich mit Straußenfedern geschmückt. In seiner Begleitung befanden sich auch keine Frauen oder Mädchen. Er kam allein mit den Kriegern und einem merkwürdig aussehenden Kerl, der vorn im Boot stand und aus dunklen Augen zu uns herüber starrte. �Komische Hörner sind das an dem Boot�, sagte Harry. �So was habe ich noch nie gesehen.� �Das sind Stoßzähne von Elefanten�, sagte Pickens tonlos, �Elfenbein. Davon haben wir selbst einen großen Teil in der Ladung.�

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Der merkwürdige Kerl ganz vorn im Boot hampelte scheinbar nervös herum, hob immer wieder einen federgeschmückten Speer und schrie etwas in heiserer kehlig klingender Sprache. Um den Hals trug er eine Kette aus scharfen Zähnen, in seinen Ohren hingen Ringe, auch Arme und Beine waren mit den golden schimmernden Ringen geschmückt. Eine seltsame Prozession war das. An dem Boot zählte ich insgesamt achtzehn Stoßzähne, die ein Vermögen darstellten. �Daher der Name Elfenbeinkönig�, sagte Jonny trocken, �seine Hoheit belieben sich und seine Umgebung damit zu schmücken.� Kawassa-Kauli hockte immer noch reglos auf seinem thronähnlichen Gebilde. Bewegen durfte er sich wohl auch nicht, sonst wäre das Langboot durch die Gewichtsverlagerung vermutlich gekentert. Und das Kerlchen vorn im Boot war offenbar der Zauberer, Magier oder Medizinmann, denn er nahm sich ungeheuer wichtig und bekleidete wohl auch dementsprechend einen hohen Rang. �Weg von den Drehbassen!� befahl der Master. �Wir wollen nichts provozieren. Löscht auch die Lunten.� Die Lunten wurden gelöscht, und die Männer traten weiter zur Seite, denn Kawassa-Kauli beäugte alles sehr mißtrauisch und genau. Gespannt warteten wir ab, was weiter geschehen würde. Flanagans Gesichtsausdruck war undefinierbar. Man sah ihm aber trotzdem an, daß er von dem Besuch keineswegs entzückt war. Sehr viel Gutes konnte er nicht bringen. Das lange schlanke Boot befand sich jetzt dicht vor dem Strand und wurde nur noch sehr vorsichtig weiterbewegt. Ein paar Schwarze sprangen heraus, stoppten es noch weiter ab und zogen es dann fast behutsam auf den Strand, knapp zehn Yards von der �King Charles� entfernt. In grotesken Sätzen sprang der Zauberer an den Strand, hüpfte mit beschwörenden Gesten vor den Bug unserer Galeone und blickte durch das Leck verwundert ins Innere. Dann blieb er wie festgenagelt stehen, wobei er seinen geschmückten Speer in den Sand rammte. Was diese seltsame Prozedur zu bedeuten hatte, wußten wir nicht. Jetzt erhob sich Kawassa-Kauli feierlich aus seinem riesigen monströsen Thron, und da sahen wir, daß das Ding aus Elfenbeinstücken kunstvoll zusammengesetzt war. Als Armlehnen dienten ebenfalls die Stoßzähne von Elefanten. Auch die Rücklehne war elfenbeinern aus mehrfach gekreuzten kleinen Stoßzähnen. Kawassas mächtige Gestalt hatte diese Herrlichkeit total verdeckt.

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Der massige Mann schritt durch das Boot, das einen schmalen Mittelgang aufwies, zum Bug und ließ sich von einem halben Dutzend schwarzer Krieger an Land helfen. Flanagan empfing ihn mit gebührender Höflichkeit und wünschte ihm auf Englisch einen Guten Morgen. �Das Schiff muß entzaubert werden�, sagte Kawassa zu unserer Überraschung gleich nach der Begrüßung in seinem schlechten Englisch. �Ich habe mit den Medizinmännern und dem Zauberer Ngango-Ngango darüber gesprochen. Wenn das nicht. geschieht, dringen Geister und böse Dämonen in unser Land, Master.� �Es gibt keine bösen Dämonen bei uns an Bord�, sagte Flanagan vorsichtig. �Sie sind alle gebannt. Das Schiff steht bereits unter dem Schutz eines Zauberers.� �Da kommt man sich direkt dämlich vor�, sagte Pickens ganz leise, �wenn man einen solchen Schwachsinn hört und auch noch freundlich darauf eingehen soll.� Für den Master war dieses nervtötende Spielchen nun wirklich nicht gerade erheiternd. Er fühlte sich in seiner Rolle auch ganz sicher nicht wohl. Aber hier galten andere Gesetze, hier glaubten die Schwarzen nun mal an Geister und Dämonen, die in ihr Land einfielen. Oder war das alles nur ein Vorwand? �Der Zauber gilt nicht in meinem Land�, radebrechte der Dicke. �Hier gilt nur der eigene Zauber. Ngango-Ngango wird jetzt anfangen, Master.� Flanagan vermied jeden Ärger und alles, was den Dicken kränken oder verletzen konnte. Deshalb nickte er und gab nach. Was sollte auch schon passieren, wenn der Zauberer hier herumhampelte und Beschwörungsformeln oder magische Sprüche abließ. Es kam sogar eine gewisse Belustigung auf, denn was der Zauberer gleich darauf anstellte, ließ die meisten versteckt grinsen. Zunächst unterhielten sich Kawassa und der Zauberer aufgeregt in ihrer Landessprache, von der wir natürlich nichts verstanden. Dann holten zwei Krieger einen Korb aus dem Boot und stellten ihn dicht vor dem Schiff in den Sand. Der Zauberer riß seinen Speer aus dem Sand, griff in den Korb und brachte eine Handvoll grünliches Pulver zum Vorschein. Inzwischen bildeten die Schwarzen einen weitgezogenen Kreis um den Bug der �King Charles�. Auf einem Bein in einer geradezu lächerlichen Pose tanzend und hüpfend umkreiste Ngango-Ngango den Bug, stach mit dem Speer

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Löcher in die Luft und warf mit drohenden Gebärden grünes Pulver gegen das Schiff. Dazu schrie er immer wieder, stach erneut mit dem Speer zu und zuckte zurück. Dann wieder rannte er gegen das Schiff an, als wollte er es mit dem Speer durchbohren. Dieser hüpfende, kreischende und tobende Derwisch bückte sich nun, kam angeschlichen, brüllte die Bordwand an und feuerte mit dem Pulver um sich. Ich konnte mir das Grinsen nicht mehr verbeißen. �Stell dir mal vor, das würde in England jemand tun�, sagte ich zu Pete Bird, der sich ebenfalls nur mühsam das Lachen verbiß. �Die würden uns doch glatt für verrückt halten.� �Ganz sicher�, antwortete er. �Sieh mal zum Dschungel hinüber, Bonty, da sind die Kerle wieder. Wie aus dem Boden gewachsen tauchen sie auf.� Alles blickte auf den brüllenden und Drohungen ausstoßenden Zauberer, und so war uns allen entgangen, daß am Rand des Regenwaldes wieder stumm und regungslos mindestens fünfzig schwarze Krieger standen, die still der Zeremonie zusahen. �Jetzt müßten doch schon eigentlich eine ganze Menge Dämonen und Teufelchen abgemustert haben�, bemerkte Jonny, �ich habe bloß noch keinen gesehen.� �Vielleicht hocken sie jetzt gebannt im Holz�, vermutete Harry, �und können erst in England wieder heraus.� Während über den Unsinn faule Witze gerissen wurden, nahmen die Schwarzen ihr Ritual unheimlich ernst. Und dann stieß jemand mit dem Fuß gegen einen herumliegenden Hammer an Deck. Der Hammer fiel auf die Stufen des Niedergangs und flog polternd ins Batteriedeck hinunter. Das Geräusch war noch nicht richtig verklungen, da tat der Zauberer einen wilden Satz, schrie laut auf und fiel rücklings in den Sand, wo er regungslos mit ausgebreiteten Armen liegenblieb, als hätte der Hammer ihn am Schädel getroffen. Wie erstarrt blickten wir auf das Kerlchen und fragten uns, was wohl mit ihm passiert sein mochte. Unsere Blicke wanderten weiter zu Kawassa-Kauli, aber dem war keinerlei Regung anzusehen. Starr und unbeweglich stand er da und sah auf den Zauberer. Von den anderen Kriegern rührte sich auch niemand. Flanagan sah von einem zum anderen, dann wieder auf den Zauberer, dessen Gliedmaßen plötzlich wild zu zucken begannen. Er verdrehte die Augen, strampelte mit Armen und Beinen und sprang schließlich

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auf die Füße. Dann drehte er sich mit glasigen Augen noch ein paar Mal im Kreis herum, bis er wieder normal wurde. Aufgeregt sprach er dann auf Kawassa-Kauli ein und fuchtelte wild mit den Armen herum. Der Dicke nickte dem Zauberer mit ernstem Gesicht zu. Dann wandte er sich an den Master. �Ngango-Ngango sagt, ein riesenhafter Dämon sei aus dem Schiff geflohen, aber er würde noch zwei Sonnenaufgänge lang auf der See herumirren, ehe ihn die Finsternis schluckt. Wir müssen jetzt gehen, Master. Wenn der Dämon verschwunden ist, feiern wir ein Fest. Dazu lade ich euch alle ein.� �Vielen Dank�, sagte Flanagan erleichtert. �Wir nehmen die Einladung gern an.� �Wir werden das Fleisch von zwei Elefanten essen, Master. Hütet euch davor, daß der Dämon zurückkehrt.� �Ja, wir werden gut aufpassen�, versprach Flanagan. Seltsamerweise hatten es jetzt alle wieder sehr eilig, das Boot zu besteigen. Auch die Krieger verschwanden wieder im Regenwald. Sie verließen uns immer so schnell, daß wir schon fast selbst an Zauberei glaubten. Das Langboot blieb noch eine Weile in unserem Blickfeld, ehe es hinter einer Landzunge verschwand. Diesmal hatte sich der Dicke ausgesprochen freundlich gezeigt und uns auch nicht weiter belästigt. �Der Teufel mag aus dem Kerl schlau werden�, sagte Pickens, �da fällt ein Hammer über die Stufen, und schon glaubt der Hampelmann, er hätte einen riesigen Dämon ausgetrieben. Diesmal wollte er gar nichts von uns, was mich sehr erstaunt.� �Er glaubt bestimmt an diesen Dämon und wird abwarten, bis ihn die Finsternis geschluckt hat�, meinte Finn. �Ich bin sicher, daß er dann wieder erscheinen wird.� Die Stimmung war eigentlich ganz fröhlich, und es hatte kaum noch den Anschein, als würde Kawassa-Kauli uns Schwierigkeiten bereiten, doch darin irrten wir gewaltig. Der Elfenbeinkönig war ein verschlagener und hinterhältiger Kerl. An diesem Tag, als Ngango-Ngango uns den �Hammerdämon�, wie wir den Zwischenfall nannten, ausgetrieben hatte, blieben wir unbehelligt. Lediglich ein einsames Krokodil bekundete sein Interesse an unserem Schiff, doch es verschwand bei dem Lärm bald wieder und trollte sich zur Lagune hinaus.

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Wir konnten zügig arbeiten. Flanagan und Finn trieben uns unbarmherzig zur Eile an. Der Master wollte weg, und das so schnell wie nur möglich. �Wie steht es mit der Einladung?� fragte Finn. �Ob das von dem Elfenbeinkönig ernst zu nehmen war?� �Absolut ernst�, sagte der Master. �Werden wir der Einladung Folge leisten, Sir?� �Es wird sich wohl kaum vermeiden lassen, Mister Finn. Es sei denn, wir hätten das Leck bis dahin repariert und könnten wieder in See gehen. Leider wird das aber dann noch nicht der Fall sein.� �Wir könnten notdürftig reparieren Sir, dicht unter der Küste bleiben und an einem anderen Landstrich erneut auflegen, um die Reparatur zu vollenden.� �Davon halte ich nichts, Mister Finn. Wir liegen hier günstig und haben später keine großen Schwierigkeiten, das Schiff über den Anker wieder ins Wasser zu bringen.� �Und wenn die Einladung eine Falle ist?� fragte Finn hartnäckig weiter, bis Flanagan unwillig wurde. �Sie könnten uns auch hier überfallen, das wäre kein Problem. Wir würden mit ihnen nie fertig, und das weiß dieser Kawassa auch. Noch ist es ja nicht soweit.� Diesmal waren irgendwie die Rollen vertauscht, fand ich. Sonst war der Master es immer, der alles ins Kalkül zog, abwägte und äußerst mißtrauisch war. Jetzt war es Finn, der hinter allem eine Falle oder einen Hinterhalt witterte. �Nun, warten wir ab�, murmelte er. An diesem Tag wurden zwei neue Planken eingezogen, und jeder atmete erleichtert auf, als das Leck beträchtlich zusammengeschrumpft war. Auch am anderen Tag ließ sich niemand von den Kriegern sehen. Pickens behauptete sogar, man würde uns nicht beobachten, weil die Angst vor dem Dämon den Kriegern noch in den Knochen stecke. Aber das konnte ebenfalls niemand beurteilen, denn wenn es heimliche Beobachter gab, blieben sie für uns unsichtbar. An diesem Tag wurde bereits unter vielen Mühen der Anker in die Lagune gefahren und ausgebracht. Es war ein schweres Stück Arbeit, aber da nicht alle an dem Leck arbeiten konnten, setzte der Master die Leute schon für die Arbeiten ein, die eigentlich noch gar nicht anstanden. Später konnten wir uns dann mit Hilfe des Bratspills am Anker in tieferes Wasser ziehen.

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�Die Männer, die jetzt nicht mehr viel zu tun haben�, sagte Pickens, �werden auf Anordnung des Masters mit dem Umstauen aus Raum eins in den zweiten Laderaum beginnen. Ich weiß, daß das nochmals eine Schufterei sein wird, weil ausschließlich das schwere Zeug umgestaut werden muß. Es muß auch immer gleich sorgfältig abgedeckt werden, damit uns der Regen nicht den anderen Teil der Ladung verdirbt. Wenn ein paar Tonnen nach achtern weggestaut sind, ist es ein Kinderspiel, unsere alte Lady vom Schlick zu hieven. Tun wir das nicht, gibt es eine weitaus schlimmere Schufterei.� Die meisten hatten die Nase voll von der ewigen brütenden Hitze, den Regenschauern, der mühsamen Plackerei und der nicht enden wollenden Arbeit. Wir wollten nach Hause, homeward bound, auf Kurs England, und viele sahen sich im Geiste bereits in Cookies Kneipe hocken und kaltes Bier trinken. Ich gehörte natürlich ebenfalls dazu. Aber wir mußten noch einmal kräftig in die Hände spucken und zupacken, sonst rückte England in immer weitere Fernen. Das Umstauen war noch mühsamer als das Muschelklopfen. Wir mußten in den Laderaum tief hinunter, wo die Hitze sich so gewaltig wie in einem Backofen staute. Selbst Jonny, allgemein Kleine Hölle genannt, schwitzte diesmal Blut und Wasser, als wir Gewürzfässer beiseite räumten, Silberbarren und Elfenbein umluden. Gleich nach dem Umstauen wurden wieder Persenninge über die Ladung gespannt, damit der Regen ihr nichts anhaben konnte. Als wir an diesem Abend die Kojen aufsuchten, oder auch an Deck schliefen, behaupteten fast alle, sie hätten keine Arme mehr und fühlten sich am Ende ihrer Kräfte angelangt. Ich konnte nicht sagen, daß es mir besser ging. Ich spürte meine Knochen kaum noch. Ich war fertig, erledigt, ausgelaugt und wollte nur noch schlafen. Wir hatten nicht einmal mehr Lust auf eine Unterhaltung, wie sie am Abend üblich war. Die meisten schliefen sozusagen schon im Stehen ein.

* In aller Herrgottsfrühe erschien am nächsten Morgen ganz überraschend Kawassa-Kauli mit einem kleineren Gefolge. Er wirkte strahlend, aufgeräumt und fröhlich. Er fragte auch nicht, ob er an Bord kommen dürfe, sondern enterte ganz selbstverständlich mit zwei

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Männern aus seiner Begleitung an der Jakobsleiter auf. Das Langboot, das ihn wieder hergebracht hatte, wurde etwas höher auf den Strand gezogen. Der fettleibige Mann watschelte über Deck und verkündete uns, daß der Dämon verschwunden sei. �Die Götter haben gesprochen�, kauderwelschte er lachend. �Das Fest muß noch heute mittag gefeiert werden. Gleich jetzt.� Dem Master war das gar nicht recht, denn wir standen kurz vor dem Abschluß der Reparaturen. Es mußten nur noch ein paar Planken gespannt und genagelt werden, dann konnte die �King Charles� in ihr Element zurückgleiten. �Wenn das Fest vorbei ist�, verkündete der Dicke, �werden alle meine Krieger das Schiff ins Wasser schieben. Und bevor du hinter den Horizont segelst, mußt du noch einmal bumbum machen, Master.� Flanagan lächelte gequält. �Können wir das Fest nicht heute abend feiern?� fragte er, �dann sind die letzten Planken eingezogen.� Kawassa gab sich sofort beleidigt. �Die Götter bestimmen den Beginn des Festes�, behauptete er. �Wir müssen den Göttern gehorchen, Master.� Er drehte sich um und zeigte auf sein barkenähnliches Gebilde mit dem elfenbeinernen Thron in der Mitte. �Mein Schiff wartet�, sagte er. Flanagan und Finn tauschten einen Blick. Sie wollten den Dicken nicht beleidigen, denn wir genossen immerhin sein Gastrecht, und bisher hatte er uns nicht das geringste angetan. Also mußten wir uns wohl oder übel seinem Wunsch beugen. �Ein paar Männer müssen an Bord bleiben�, sagte der Master. �Das Schiff muß immer bewacht sein.� �Alle gehen mit zum Fest�, bestimmte der Dicke. �Meine Krieger werden das Schiff bewachen. Es wird nichts geschehen.� Flanagan hatte alle möglichen Einwände und wand sich, doch der Dicke blieb stur und gab nicht nach. Schließlich traf er den Master an seiner empfindlichen Stelle, als er fragte, ob man ihm nicht traue. Das konnte Flanagan schließlich nicht zugeben, ohne daß wir uns den Zorn des Dicken zuzogen. Dann watschelte er ein paar Schritte über Deck, blieb neben dem einen Laderaum stehen und blickte hinein. Seine Augen wurden groß und rund, als er die Fässer, das Elfenbein und die Seidenballen sah.

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�Was ist das?� fragte er fasziniert wie ein kleines Kind, das kunterbuntes Spielzeug betrachtet. �Wir werden dir etwas von den bunten Stoffen zum Geschenk machen�, sagte der Master, ohne die Frage direkt zu beantworten. �Es sind bunte Tücher.� Ein strahlendes Lachen glitt über Kawassas bärtiges Gesicht. Seine kohlschwarzen Augen leuchteten vor Freude. Während er immer noch fasziniert die bunten Stoffballen betrachtete, knuffte mich Pickens leicht in die Seite. Er ging ein paar Schritte voraus und lehnte sich ans Schanzkleid. Kawassa-Kauli konnte nicht hören, was er sagte. Ich gab Jonny einen unauffälligen Wink, der auch sofort herbeischlenderte. Pickens sah uns beide lächelnd an. �Es geht nicht an�, sagte er im Plauderton, �daß alle Mann das Schiff verlassen und dem Fettwanst die Elefanten wegfressen. Ihr gehört zum besonderen Kommando, ihr seid immer noch zur besonderen Verwendung abgestellt, und das schon seit Master Fleet'schen Zeiten. Ihr werdet euch jetzt unauffällig und klammheimlich verdrücken, denn ihr bleibt an Bord.� �Trauen Sie ihm nicht, Mister Pickens?� fragte Jonny. �Wem ich traue und wem nicht, spielt jetzt keine Rolle, Männer. Versteckt euch in der kleinen Kammer hinter der Segellast, aber tut das ganz unauffällig. Ich glaube kaum, daß der Dicke die ganze Mannschaft durchgezählt hat.� �Und dann?� fragte ich gespannt. �Ich will euch nur in Reserve haben�, sagte Pickens, �für alle Fälle. Ihr habt euch schon oft bewährt. Irgendetwas wird euch zu gegebener Zeit sicher einfallen.� �Dann verschwinden wir gleich�, sagte ich. �Geht aber von achtern in die Kammer und nicht von vorn. Du kennst den Raum ja bestens, Bonty, und hast dich, soviel ich weiß, dort ja schon einmal recht lustig vergnügt.� Das stimmte allerdings. Den Tip dazu hatte mir sogar Pickens einmal selbst gegeben, als ich mit dem Negermädchen Nunumi dort ein paar herrliche Stunden verbracht hatte. �Gut, dann gehe ich zuerst�, sagte ich. �Hoffentlich gibt es mit dem Master keinen Ärger.� �Das werde ich schon regeln�, versprach Pickens. Ich verdrückte mich so unauffällig, wie es nur ging, und warf dem Master noch einen letzten Blick zu, weil der gerade herüber blickte.

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Flanagan hatte sofort begriffen, und während er mit der Hand nach unten in den Raum deutete, nickte er mir kaum merklich zu. Etwas später war ich unter Deck und kroch durch den winzigen Gang, eine Holzröhre, die an Bord nur einige wenige kannten, in Richtung der kleinen Kammer, die sich der Segellast anschloß. Niemand würde uns hier finden, denn von der Segellast aus war nicht einmal das kleine Schott zu entdecken, so geschickt war es getarnt. Und außerdem lagen schwere Segel und Leinenzeug davor. In diesem Raum gab es auch zwei Lampen, Flint und Feuerstein, sowie ein Fäßchen mit Zwieback, ein Fäßchen Wein und ein Fäßchen Dünnbier. Man konnte es hier tagelang aushalten, ohne bemerkt zu werden, oder ohne daß man verhungern oder verdursten mußte. Ganz früher hatte hier einmal in einer kleinen Bunk der Segelmacher geschlafen, aber der Raum wurde nicht mehr gebraucht, seit die Company das Forecastle erweitert hatte. Ich blieb in der schweigenden Finsternis hocken, ohne Licht zu entzünden, setzte mich auf die schmale Koje und verhielt mich ganz ruhig. Die Geräusche drangen nur gedämpft herein und waren mitunter kaum zu unterscheiden. Etwas später hörte ich ein leises Kratzen am Holz, stand auf und öffnete lautlos das Schott. Kleine Hölle schob sich in den Raum. Das Schott wurde ebenso lautlos wieder geschlossen. Wir hockten uns jetzt zusammen auf die Koje und lauschten den vielfältigen Geräuschen an Deck. Meist war nur das Füßetrappeln oder ganz verzerrte Stimmen zu hören. Selbst das Gluckern an den Bordwänden hörte man hier kaum. �Hoffentlich hocken wir hier nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag�, raunte Jonny. �Aber die Idee von Pickens war nicht schlecht.� �Schlecht nicht, ich frage mich nur, was wir tun können, wenn wirklich etwas schiefgeht.� �Das weiß ich auch noch nicht�, meinte Jonny, �das muß die Situation ergeben.� �Der Master hat übrigens gemerkt, was Pickens wollte, und mir wie zur Bestätigung zugenickt, Jonny.� �Hoffentlich geht alles gut.� Von da an schwiegen wir eine geraume Zeit und versuchten die Geräusche zu identifizieren, die verzerrt zu uns drangen. Daß der Master ebenfalls das Schiff verließ, konnte ich kaum glauben, aber das hier war eine außergewöhnliche Situation. In dieser Lage sprang er

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wohl auch einmal zwangsweise über seinen eigenen Schatten, um uns Ärger vom Leib zu halten. Ich wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Es mochte ungefähr eine Viertelstunde her sein, da wurde es immer stiller an Bord, bis sich eine gespenstische Ruhe ausbreitete. Hin und wieder knackte das Holz, aber das waren Geräusche, die die �King Charles� immer von sich gab, und sie waren durchaus vertraut. �Jetzt dürften sie wohl alle weg sein�, meinte Jonny. �Man hört überhaupt nichts mehr.� �Wir warten noch ein paar Minuten und sehen dann nach�, schlug ich vor. �Dann müssen wir aber höllisch aufpassen, falls die Blackys das Schiff bewachen. Pickens hat mir übrigens noch zugeraunt, wir sollten mal in westlicher Richtung nachschnüffeln, falls die ersten Männer bis zum Abend nicht zurück sind.� Mir war nicht sonderlich wohl in meiner Haut, als ich an den direkt auffallend harmlosen Blick Kawassa-Kaulis dachte, und an sein breites Lachen, als er die Schätze im Laderaum sah. Im stillen hegte ich die Befürchtung, daß man uns doch gehörig aufs Kreuz legen wollte. Dann aber wies ich das wieder zurück, obwohl mir immer wieder Zebulons Worte einfielen. ,Dieser Mann ist ein Schlitzohr, Howard. Ich fühle es. Er wird uns noch sehr viel Ärger bereiten.' �Wollen wir mal die Lage peilen?� fragte Jonny. �Ja, aber sehr vorsichtig.� Gerade als wir das Schott öffneten und in den Gang krochen, hörten wir leises Getrappel an Deck. Es klang, als liefen ein paar Männer barfuß über die Planken. �Da sind doch noch welche zurückgeblieben�, meinte Jonny erstaunt. �Das ist ja eigenartig.� Im Gang hörte man die Geräusche besser. Auch die Stimmen, obwohl sie immer noch verzerrt klangen. Es waren Laute in einer uns unbekannten Sprache. �Verdammt, sie haben doch Wachen an Bord gelassen�, sagte ich. �Der Dicke hat wahrhaftig ein paar Krieger abgestellt.� �Also scheint er auch keine üblen Gedanken zu hegen�, vermutete Jonny, �wir dürfen uns aber nicht sehen lassen. Wir riskieren erst einmal vorsichtig einen Blick.� Wir kamen am Quarterdeck wieder heraus und blickten durch ein angelehntes Schott. Von hier aus ging es wieder zur Kuhl.

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Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen. Fassungslos wechselten Jonny und ich einen Blick. Fünf Schwarze standen an Deck und schnatterten miteinander. Zwei von ihnen waren damit beschäftigt, unter der Plane Elfenbein hervorzuziehen. Insgesamt lagen bereits drei lange Stoßzähne an Deck. Einen warfen sie gerade über Bord auf den Strand. �Dieser hinterhältige Bastard�, raunte Jonny, �der hat den Kerlen mit Sicherheit befohlen, das Schiff zu plündern. Auf das Elfenbein hat er es ganz besonders abgesehen. Was jetzt, Bonty?� In mir kochte der Zorn, aber wir durften uns nicht zu unüberlegten Handlungen hinreißen lassen. �Abwarten�, flüsterte ich heiser. �Wir wissen leider nicht, ob sie noch Krieger postiert haben.� Wir blickten in den Regenwald hinüber und suchten alles genau ab. Es war niemand zu sehen, bis auf die fünf Schwarzen. Die hatten jetzt vier riesige Stoßzähne über Bord geworfen und enterten wieder ab. Wir hörten ihr aufgeregtes Schnattern. �Ins Batteriedeck�, raunte ich Jonny zu. Lautlos huschten wir den Niedergang hinab und verbargen uns hinter den schweren Geschützen. Ungesehen konnten wir weiter beobachten, was sich an Land tat. Zwei der Kerle banden einen Stoßzahn an eine lange Stange, die sie sich über die Schulter hängten. Sie trugen den schwersten Zahn. Die anderen hievten das Elfenbein auf den Schädel, schnatterten laut miteinander, sahen noch einmal auf das Schiff und zogen dann ab. Krieger waren immer noch keine zu sehen. Als sie weg waren, herrschte gespenstische Stille. Die Kerle waren in westlicher Richtung verschwunden, und zwar auf dem Weg, den auch die anderen genommen hatten. Wir gingen ins Pulvermagazin und deckten uns mit Pistolen ein, die wir gleich an Ort und Stelle luden und überprüften. Jonny wollte am liebsten hinterher, um nachzusehen, wohin die Kerle das geklaute Elfenbein brachten. Natürlich wollte er auch gleich das Domizil des Dicken auskundschaften, aber ich konnte seinen Eifer gerade noch bremsen. �Wir dürfen nichts überstürzen, Jonny. Wenn sie uns auch schnappen, ist den anderen nicht geholfen. Dann sitzen wir alle fest.� �Also glaubst du jetzt endlich auch, daß der Fettsack mit unseren Leuten etwas vorhat.�

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�Ja, das glaube ich. Trotzdem sollten wir einen klaren Kopf behalten. Wir warten noch zwei oder drei Stunden ab und vergewissern uns, daß wirklich niemand in der Nähe ist. Kann ja sein, daß die Halunken zurückkehren, um weiter zu plündern.� �Vielleicht lassen sie sich auch Zeit, denn die Beute ist ihnen sicher, sobald sie unsere Leute gefangen oder in die Falle gelockt haben. Diese fünf Blackys waren sicher nur eine Art Vorhut. Sie haben ja nur das mitgenommen, was unter den Planen lag. In die Räume trauen sie sich vermutlich nicht hinunter. Das werden später die anderen besorgen, verflucht noch mal.� Jonny war genauso aufgebracht und wütend wie ich. Ich mußte ihm erneut gut zureden, damit er nicht gleich losstürmte und alles kurz und klein schlug. Wir warteten und warteten, doch niemand ließ sich blicken. Kein Schwarzer war zu sehen. Es kam keiner, um die Ladung der �King Charles� weiter auszuplündern. Schließlich war es später Nachmittag. �Gehen wir?� fragte ich Jonny. �Na endlich Mann. Ich sitze hier wie auf glühender Holzkohle. Wollen wir die Jolle nehmen, oder pirschen wir uns an?� �Die Jolle nicht. Die ist vom Land zu leicht zu entdecken. Wenn wir gehen, können wir uns anschleichen oder auch zwischen den Mangroven verstecken. Wir peilen erst einmal die Lage und verschaffen uns einen genauen Überblick von dem sogenannten Fest.� Jonny war richtig erleichtert, daß es endlich zur Sache ging. Noch einmal ließen wir alle Vorsicht walten, falls sich doch noch ein Schwarzer versteckt haben sollte. Wir hielten die doppelläufigen Pistolen schußbereit in den Fäusten, als wir uns schnell über den Strand zum Dickicht des Dschungels bewegten. Immer wieder blickten wir genau in alle Richtungen, darauf gefaßt, daß aus dem Regenwald ein Pfeil geflogen kam, oder uns einer der Schwarzen mit dem Speer in der Hand gegenübertrat. Alles blieb still, bis auf das Krächzen eines großen Vogels, der hoch über uns seine Kreise zog. �Die sind tatsächlich alle verschwunden�, sagte Jonny. �Von wegen das Schiff bewachen. Damit steht für mich fest, daß dieser fette Halunke eine große Schweinerei vorhat.� �Ich sehe dafür immer noch keinen richtig erkennbaren Grund�, wandte ich ein.

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�Einen Grund�, sagte Jonny verächtlich, �der hat es auf die Ladung abgesehen, auf das Schiff und alles was dazugehört. Ist das etwa kein Grund?� �Das hätte er auch vorher tun können.� �Hmm. Weiß der Satan, was in seinem krausen Schädel vorgeht. Wir werden es ja bald wissen.� Wir schlichen weiter durch den Regenwald, aber diesmal in westlicher Richtung, bis das Land etwas felsiger wurde, und es kaum noch mangrovenbewachsene Lagunen gab. Der Regenwald trat weit von der Küste zurück und wurde lichter. Nicht lange und wir entdeckten das Boot mit dem elfenbeinernen Thron. Es lag gut versteckt in einer winzigen, vom Wasser kaum einsehbaren Bucht. Als Wache war ein Schwarzer zurückgeblieben, der direkt vor dem Thron im Halbschatten döste und seine Umgebung gar nicht wahrzunehmen schien. Wir verhielten uns so leise, daß er uns nicht hörte und auch nicht bemerkte. Die Bäume und Sträucher boten uns diesmal ein vorzügliches Versteck. Von hier aus war der Weg nicht schwer zu finden, denn im sandigen Boden gab es unzählige Fußabdrücke. Wir folgten den Spuren eine Weile, bis wir das Boot aus den Augen verloren hatten. Linkerhand war der Regenwald lichter, zur rechten Seite war er fast undurchdringlich. Kurz darauf stießen wir auf einen Trampelpfad und nahmen uns von nun an höllisch in acht. Wir hatten die Erfahrung gemacht, daß Trampelpfade dieser Art oft mit tödlichen Fallen gespickt waren, in die man ahnungslos hineinstolperte. Aber so sehr wir auch Ausschau nach Fallgruben oder Stricken hielten, konnten wir keine entdecken. Es dauerte nicht sehr lange, da hörten wir weit entfernte Stimmen. �Vorsicht�, sagte Jonny, �ganz sicher haben die Kerle Wachen aufgestellt.� �Glaube ich nicht, sie fühlen sich doch absolut sicher. Beim Boot haben sie auch nur einen Mann zurückgelassen, wahrscheinlich, damit es nicht abtreibt.� Trotzdem bewegten wir uns jetzt wie Katzen vorwärts, bis wir den Rand einer Lichtung erreichten. Diese Lichtung war so groß, daß zehn Galeonen unserer Größe darauf Platz gehabt hätten. Der Lichtung folgte ein schmaler Waldstreifen, danach gab es eine weitere Lichtung. Fasziniert blickten wir auf eine Meute schwarzer Krieger und auf bienenkorbförmige Hütten, die sich aneinanderreihten. Es waren mindestens vierzig Hütten, größere und kleinere.

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Zwischen den Hütten brannte ein Feuer, und Teile eines großen Elefanten waren noch deutlich zu erkennen. Schwere Fleischklumpen hingen an langen Stangen über dem Feuer, doch niemand aß. Auch von unseren Leuten war keiner zu sehen. Aber war sahen Kawassa-Kauli, der auf einem ähnlichen Thron hockte, wie er ihn auf dem Boot besaß. Der Dicke starrte auf den Boden und schien sich köstlich zu amüsieren. Mitunter wabbelte sein Körper, wenn er lautlos lachte. Dann wieder sagte er etwas in drohendem Ton, als spräche er direkt zu dem Erdboden. Viel mehr konnten wir nicht erkennen, ohne daß man auf uns aufmerksam geworden wäre. Aber wir sahen dicht neben einer der Hütten unser Elfenbein auf dem Boden liegen, das man von der � King Charles� geklaut hatte. Und dann sahen wir noch etwas, das uns den Atem stocken ließ: Links von der Lichtung standen Geschütze auf dem Boden, einschließlich ihrer hölzernen Lafetten. Die Rohre waren unterkeilt und drohten in den Regenwald hinein. Insgesamt zählten wir vierzehn Culverinen, Siebzehnpfünder, so wie unsere eigenen Stücke. Diese Entdeckung war so ungeheuerlich, daß mir für eine ganze Weile einfach die Worte fehlten. Was sollten diese Geschütze hier im Regenwald bei afrikanischen Kriegern? Jonny griff sich nichtbegreifend an den Kopf. �Sag mal, verstehst du das?� raunte er atemlos. �Ich kapiere überhaupt nichts mehr.� �Ich verstehe es auch noch nicht, ich weiß nur, daß uns noch einiges Unangenehmes bevorsteht.� �Und wo sind unsere Leute?� Darauf wußte ich ebenfalls keine Antwort, aber zum besseren Verständnis habe ich den weiteren Bericht aus den Tagebuchaufzeichnungen Jeremias Bunk zusammengestellt.

* Auszug aus den Tagebuchaufzeichnungen des Jeremias Bunk, im Jahre des Herrn 1635. Kawassa-Kauli war ausgesprochen freundlich und liebenswürdig, als wir das Langboot verließen. Mithin schien des Masters Sorge unbegründet zu sein.

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Mir fiel lediglich auf, daß Bonty und Jonny fehlten. Von Finn erfuhr ich, daß Pickens sie extra abgestellt hatte � für den Fall der Fälle, denn gesundes Mißtrauen war durchaus angebracht. Nachdem wir einem Trampelpfad durch den Regenwald folgten, erreichten wir eine riesige Lichtung, bebaut mit großen und kleinen Hütten. Weiter zum Regenwald hin gab es nochmals eine Lichtung mit Hütten, deren Form an Bienenkörbe erinnerte. Die Schwarzen hatten einen riesigen Elefanten erlegt, den sie stückweise zur Lichtung gebracht hatten, und dessen Fleisch nun über offenem Feuer gegart wurde. Ein zweiter Elefant wurde etwas später ebenfalls noch stückweise angeschleppt. Es war alles still und friedlich. Die Eingeborenen schwatzten und schnatterten, während uns die barbusigen Frauen neugierig und interessiert betrachteten. Sie kicherten unaufhörlich. Die Harmonie des Dorfes wurde allerdings beträchtlich durch die Kanonen gestört, die am Rand des Dschungels aufgebaut waren. Wir alle starrten die Culverinen fassungslos an. Stammten sie vielleicht von dem Schiff, das hier untergegangen oder gestrandet war? Oder war das Schiff gar nicht untergegangen? Hatten es die Schwarzen vielleicht erobert? Kawassa-Kauli ließ uns alle Platz nehmen und setzte sich selbst auf einen thronähnlichen gewaltigen Sessel, der ausschließlich ihm vorbehalten war. Dann zeigte er uns voller Stolz die Kanonen. Auf des Masters vorsichtige Frage, woher sie stammten, erklärte der Dicke in seinem holprigen, schlecht verständlichen Englisch: �Ein englisches Schiff ist an der Küste im Sturm gesunken, brach auseinander und trieb an Land. Von der Mannschaft konnten sich nur ein halbes Dutzend Leute retten. Sie waren sehr lange bei mir und sehr geschätzte Gäste.� �Und wo sind sie geblieben?� fragte Flanagan interessiert. �Wir haben ein Boot für sie gebaut, mit einem Segel. Mit diesem Boot verließen sie uns eines Tages. Einer von ihnen ist hier allerdings am Fieber gestorben.� �Interessant�, sagte der Master, aber in seinen Augen stand immer noch das Mißtrauen, als glaubte er kein Wort von dem, was Kawassa-Kauli scheinbar bereitwillig ausplauderte. Noch etwas fiel mir auf, worauf ich mir vorerst keinen Reim machen konnte: Im Boden, dicht bei den Hütten, befanden sich überall tiefe

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Löcher. Manche von ihnen waren etwa zwei Yards tief, andere noch tiefer. Ich fragte Pickens, ob diese Löcher vielleicht dazu dienten, ihre Toten aufzunehmen, aber er schüttelte den Kopf. �Nein, hier gelten andere Bestattungsrituale, und direkt bei den Hütten wird niemand beigesetzt. Ich weiß nicht, wofür sie gut sind, aber zur Vorratshaltung dienen sie auch nicht.� Kawassa-Kauli ließ uns bedienen und verwöhnen. Ich aß zum ersten Mal in meinem Leben Elefantenfleisch und trank dazu ein süßes Zeug, das sich nicht definieren ließ, aber erfrischend schmeckte. Kawassa-Kauli betrachtete beim Essen die Stoffe, die der Master mitgebracht hatte. Er schmatzte laut und fürchterlich, und aß solche Mengen, daß mir angst und bange wurde. Er verdrückte gut und gern das Dreifache von dem, was Zebulon und ich schafften, und es schien ihn nicht im mindesten zu stören. Einmal erschienen fünf Schwarze, die vier große Elefantenzähne brachten, und sie vor eine der weit entfernten Hütten legten. Kawassa-Kauli lachte sein fettes, zufriedenes Lachen, als er das Elfenbein sah. Das hatte ihm wahrscheinlich auch seinen Namen Elfenbeinkönig eingetragen, denn darauf war er geradezu versessen. Vielleicht trieben die Schwarzen untereinander lebhaften Handel mit Elfenbein, oder kauften dafür Frauen und Rinder, wie es oft üblich war. Pickens sah sich das Elfenbein an und kniff fortwährend die Augen zusammen. �Eigenartig�, murmelte er, �das Zeug ist ja so glatt poliert wie das, was wir an Bord haben. Und sauber abgeschnitten ist es an den Enden auch noch.� Pickens gab sich sehr verwundert darüber, aber China-Harry versuchte seine Bedenken zu zerstreuen. �Zwei Elefanten haben sie erlegt, folglich haben sie auch vier Stoßzähne erbeutet�, sagte er. �Wann sie die Elefanten erlegt haben, weiß ich nicht, aber es kann ein paar Tage her sein. Inzwischen haben sie die Zähne bearbeitet.� �Jaja, mir erscheint das alles recht merkwürdig. Wenn man die Elefanten vor ein paar Tagen erlegte, dann würde das Fleisch bei dieser Bruthitze längst ungenießbar sein, mein lieber Harry.� �Allerdings�, gab Harry kleinlaut zu. Die Schwarzen lachten und schwatzten unterdessen munter weiter, bis der schwergewichtige Kawassa sich erhob und mit seiner fetten Hand Ruhe gebot. Alles schwieg plötzlich.

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�Jetzt bumbum, Master�, sagte er, auf die Kanonen deutend. �Wir haben viel Pulver da, und auch viel Kugeln. Wir haben alles, was man für bumbum braucht.� �Ihr wißt nur nicht, wie die Kanonen funktionieren�, sagte Flanagan mit frostiger Stimme. �Ja, wir wissen nicht�, strahlte der Dicke, �du wirst es uns jetzt zeigen, Master.� Jetzt also ließ er die Katze aus dem Sack, blieb aber immer noch sehr freundlich und voll guter Laune. �Weshalb wollt ihr das lernen?� fragte Flanagan ablehnend. In Kawassas Augen trat ein fast träumerischer Ausdruck, gleichzeitig aber auch ein fanatischer Glanz. �Kawassa-Kauli wird Krieg machen gegen andere Dörfer�, sagte er ungeniert. �Ich will König von allen Küsten sein, vom ganzen Land. Du wirst uns jetzt zeigen, Master, du und deine Leute.� Flanagan blieb immer kühl, überlegen und unnahbar. Jetzt aber war er verunsichert und merkte, daß der Dicke ihn nur als Mittel zum Zweck benutzen wollte. Krieg wollte er beginnen, und sieh zum unumschränkten Herrscher aufspielen. �Weshalb haben die anderen Engländer euch das nicht gezeigt?� wollte der Master wissen. Der Dicke grinste jetzt verschlagen und ungeniert. �Du wirst Kanonen laden, Master, und in den Regenwald schießen. Man soll bumbum von Kawassa-Kauli ganz weit hören, bis alle Angst kriegen und weglaufen.� Flanagans Frage hatte der hinterhältige Kerl also nicht beantwortet. Er hatte uns die ganze Zeit über etwas vorgelogen und hatte nichts weiter im Sinn, als den Umgang mit den Kanonen zu lernen. Pickens war ziemlich entsetzt über die Wandlung. �Der Kerl hat das hier gestrandete Schiff ausgeplündert, und es dann in Brand gesteckt�, behauptete er. �Ein paar Landsleute werden sie gefangen genommen haben, um von ihnen den Umgang mit den Kanonen zu erlernen. Und die haben ihre Kenntnisse nicht weitergegeben, weil sie genau wußten, was ihnen anschließend blühen würde. Jetzt werden mir die Zusammenhänge schon klarer. Der Kerl hat uns nach Strich und Faden angelogen und hintergangen.� �Und die Engländer hat er umbringen lassen�, warf Mister Finn ein, �nachdem sie sich lange Zeit weigerten. Vielleicht ist ihnen auch die

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Flucht gelungen, wir werden das nie erfahren. Daß er ihnen ein Boot gebaut hat, ist eine Lüge.� Ich stellte mir vor, wie dieser Freßsack von seinen vielen Kriegern die Kanonen durch das Land rollen ließ und erbarmungslos alles zusammenschoß, was sich ihm in den Weg stellte. Aber ich stellte mir auch noch etwas anderes vor, und genau dieselben Gedanken las ich auch hinter des Masters Stirn. Wenn wir ihm das Geheimnis verrieten, waren wir erledigt. Wenn er es kannte, würde er uns umbringen lassen, das stand mit Sicherheit fest. Er würde sich dann in den Besitz der �King Charles� bringen, um noch mehr Kanonen zu erhalten. Was das in der Hand dieses unberechenbaren Schwarzen bedeutete, war gar nicht auszudenken. Flanagan stand hochaufgerichtet vor dem dicken Despot. Kawassa überragte ihn um mehr als einen Kopf und war dreifach so dick und massig. �Ich sagte, du wirst Kanonen laden�, wiederholte der Dicke, diesmal mit lauter Donnerstimme. �Und ich sagte, du wirst damit feuern, Master, damit ich und meine Krieger es lernen.� Die Lage spitzte sich immer mehr zu und wurde mit jedem Augenblick brenzliger. In Flanagans Gesicht zuckte ein Muskel. Er war längst nicht mehr so ruhig, wie er sich gab. Er wußte genau, in welch übler Klemme wir jetzt steckten, aber noch weigerte er sich, um zu sehen, wie weit der Dicke wohl reizen würde. �Ich werde keine Kanonen laden�, sagte er mit fester Stimme. �Der Krieg soll nicht überall hingetragen werden und unschuldige Menschen töten. Du bist an dieser Küste und in diesem Land König, und alle bringen dir Respekt entgegen. Weshalb gibst du dich nicht damit zufrieden?� Kawassa-Kauli rollte wild mit den Augen. Es sah aus, als wollte er sich auf den Master stürzen. �Das geht dich nichts an�, brüllte er mit Donnerstimme. �Du hast auch Kanonen auf deinem Schiff und bringst damit Krieg in andere Länder.� �Das stimmt nicht�, erwiderte Flanagan scharf. �Wir haben die Kanonen zur eigenen Verteidigung gegen Piraten und ähnliches Gesindel. Wir bringen keinen Krieg.� �Ihr raubt Schwarze und verkauft sie als Sklaven�, schrie Kawassa anklagend, �ihr kommt mit Schiffen an die Küsten und nehmt die Männer mit. Und wenn sie nicht wollen, dann tötet ihr sie.�

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�Das tun einige�, gab der Master zu, �aber das sind Lumpen und Halunken. Wir führen friedliche Fracht und treiben Handel.� Der Dicke trat einen Schritt vor und drohte uns allen mit der Faust. �Ihr werdet mir das zeigen�, schrie er wild und unbeherrscht, �oder ihr werdet alle sterben. Und jetzt fordere ich dich zum letzten Mal auf, Master: Nimm ein paar von deinen Leuten und lade die Kanonen.� �Ich will nicht, daß unschuldiges Blut vergossen wird. Ihr habt genügend Speere und Bogen, ihr braucht keine Kanonen, denn sie würden euch doch nur Unheil bringen.� Kawassa-Kaulis Schädel lief noch dunkler an. Sein krauser Bart zitterte vor Wut. Dann klatschte er befehlend in die Hände. Zebulon und ich waren schon aufgesprungen, um uns bei einem Angriff entsprechend zu verteidigen. Auch einige andere sprangen auf. Aber es war zu spät. Mindestens hundertfünfzig wild entschlossene Krieger griffen zu ihren Speeren und Bogen und richteten die Waffen unter lautem Gebrüll auf uns. Sie kreisten uns von allen Seiten ein. Weitere Krieger erschienen aus den Hütten. Auf meine Brust richtete sich ein scharfer Speer. Ein Schwarzer mit einem Bogen zielte ebenfalls auf mich. Den anderen erging es genauso wie mir. Die Übermacht war zu groß. Wir konnten uns nicht zur Wehr setzen, wir hatten keine Waffen und nur einige von uns trugen Entermesser. Master Flanagan war gleich von vier oder fünf Kriegern umgeben, die ihre scharfen Speere direkt an seinen Hals setzten. Ich erwartete jeden Augenblick, daß der hinterhältige Dicke den Befehl geben würde, uns umzubringen. Ich sah, daß es Zebulon juckte draufloszuschlagen, und auch ich hätte mich am liebsten auf die Kerle gestürzt. Aber wir hatten noch soviel Verstand, daß wir uns nicht wehrten, sonst wäre unser Schicksal wohl augenblicklich besiegelt gewesen. �Keine Gegenwehr�, rief der Master. �Wir haben nicht die geringste Chance.� �Siehst du, Master�, höhnte der Dicke triumphierend, �jetzt seid ihr meine Gefangenen. Ihr habt gesehen, was passiert, wenn man mir nicht gehorcht. Aber ich werde die Kenntnisse aus jedem von euch herausprügeln lassen, solange bis der erste deiner Männer tot ist. Du wirst es mir verraten, Master.� Flanagan blickte den Dicken angewidert und verächtlich an. Er gab keine Antwort.

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Kawassa-Kauli lachte laut. Sein massiger Körper zuckte und bebte, und es schüttelte ihn an allen Gliedern. Sein unheimliches Lachen war bis weit in den Regenwald zu hören. �Vorwärts jetzt mit euch!� brüllte der Elfenbeinkönig. Dann sagte er zu den Kriegern etwas in der Landessprache, danach wandte er sich wieder uns zu. �Wenn ihr erst in den Löchern steckt, werdet ihr alles tun, was ich verlange, wirklich alles. Kawassa wird euch kleine Ameisen in die Löcher schicken, und die werden euch zerfressen. Ihr werdet unter erbärmlichen Schmerzen sterben.� Ich traute diesem Kerl alles zu, auch daß er uns lange piesacken und martern würde, aber ich stellte mir auch ganz nüchtern die Frage, ob unser aller Leben das aufwog. Irgendwann mußte Flanagan einsehen, daß es wichtiger war, dem Dicken seine Forderungen zu erfüllen, als das Leben aller Leute zu riskieren. Andererseits, so sagte ich mir, hatten wir unser Leben schon so gut wie verloren, denn wir würden hier nicht mehr lebend herauskommen. Vielleicht hatte Flanagan mit seiner Sturheit doch recht. Die Schwarzen trieben uns jetzt auf Kawassas Befehl über den Platz, auf dem noch das Feuer brannte, über dem das Fleisch hing. Die Feier hatte wirklich nicht lange gedauert, und war auch keineswegs fröhlich verlaufen. �Jetzt weiß ich wenigstens, wozu die Löcher im Boden dienen�, sagte Pickens sarkastisch. �Ist doch prächtig, wenn man für alles eine Erklärung findet.� Ich konnte seinen Galgenhumor nicht teilen. Außerdem drückte die Spitze eines Speers gegen meine Kehle, und dem grinsenden Schwarzen gefiel es, immer stärker gegen meinen Hals zu drücken. Aber Pickens hatte schon immer Galgenhumor bewiesen. �Dem Master wird schon etwas einfallen�, meinte er optimistisch. �Bis zum Äußersten wird er sicher nicht gehen.� �Wir haben so oder so nichts mehr zu verlieren�, hörte ich Finn sagen. �Weshalb diesem Hund noch die Genugtuung lassen, damit er große Kriege führen kann.� Mehr konnten wir nicht sprechen, denn jetzt wurden wir erbarmungslos vorangetrieben. �In die Löcher mit euch!� befahl der Dicke. �Wer nicht hineinspringt, bezahlt es mit seinem Leben.� Mister Finn wurde in die Grube gedrückt. Gleich darauf sah ich auch den Master und ein paar andere verschwinden. Dann drückte mir die

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Speerspitze immer härter ins Kreuz, und ich sprang ebenfalls in die tiefe Grube. Sie war so tief, daß ich mich mit den Händen gerade noch hätte herausziehen können. Aber oben hielten die Schwarzen Wache und paßten scharf auf, daß sich keiner rührte. Ich stand in dem Erdloch und starrte die Wand an. Es war so eng, daß ich gerade noch die Arme leicht anwinkeln konnte. Mehr Bewegungsfreiheit hatte ich nicht. Jetzt waren wir wirklich samt und sonders Gefangene des Elfenbeinkönigs und hatten keine Aussicht mehr, dieser Falle jemals zu entrinnen. Dann fiel mir mein junger Freund Howard ein, ebenso wie Jonny, die beide noch in Freiheit waren. Aber was konnten sie tun, überlegte ich bitter. Sie konnten gegen etliche hundert Krieger überhaupt nichts ausrichten. Ihnen würde nur das hilflose Zuschauen bleiben, denn auch mit dem Schiff konnten sie nichts mehr anfangen. Feine Kerle, dachte ich, die schon so manche Schlacht geschlagen hatten, doch jetzt war auch ihr Schicksal besiegelt. Früher oder später mußten auch sie Kawassa-Kauli in die Hände fallen. Das einzige was sie noch tun konnten, war, die Flucht in einer der Jollen anzutreten und von hier zu verschwinden. Selbst mit der Jolle kamen sie nicht weit. Nein, unsere Lage schien hoffnungslos zu sein, selbst wenn man kein Pessimist war. Und zu allem Überfluß begann der Dicke jetzt, uns zu verhöhnen und alle Foltern und Qualen zu schildern, die uns noch bevorstanden, ehe wir elend in diesen Löchern krepieren würden. Ende der Tagebuchaufzeichnungen des Jeremias Bunk.

* Bisher hatten wir noch nicht viel kapiert, was auf der Lichtung alles vorging. Daher lauschten wir angestrengt, um wenigstens die Worte des Elfenbeinkönigs zu verstehen, denn seltsamerweise fluchte und drohte er in seinem miesen Englisch ganz offensichtlich dem Erdboden. Natürlich ergab das nicht den geringsten Sinn, doch der Fettwanst war so seltsam, daß ich mich kaum noch über ihn wunderte. �Verstehst du ein Wort von dem Geschwafel?� fragte Jonny. �Wenn du die Klappe hältst, verstehe ich vielleicht etwas.�

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Jonny schwieg, und weil ich aus dem Gemurmel und Gefluche immer noch nicht schlau wurde, sah ich mir die Umgebung noch etwas genauer an. Die Krieger standen abwartend da und starrten auf ihren Herrn und Meister. Einige hielten Speere in der Hand, ein paar andere ihre langen Bogen. Auch sie starrten zum Erdboden und lauschten den Worten des Dicken, obwohl sie kaum Englisch verstanden. �Das ist irgendein so blödes Ritual, wie es der Medizinmann aufführte�, meinte Jonny. Als ich ihm keine Antwort gab, schwieg er wieder, fast beleidigt, wie mir schien. Dann vernahmen wir Kawassa-Kaulis Stimme etwas deutlicher. �Entscheide dich endlich, Master, sonst lasse ich ein paar der Löcher einfach zuschütten. Deine Leute werden jämmerlich ersticken.� �Verdammt�, entfuhr es mir, als direkt aus der Erde eine Stimme etwas sagte. Sie klang sehr dumpf, gehörte aber zweifellos dem Master. Nur was er sagte, war nicht zu verstehen. �Um Himmelswillen�, raunte ich Jonny zu, �der Kerl hat alle unsere Leute in Erdlöcher gesteckt und will sie zuschaufeln lassen, wenn der Master sich nicht endlich entscheidet.� �Ja, ich habe es gehört�, sagte Jonny, �das ist ja unglaublich. Aber wozu, verflucht noch mal, soll er sich denn entscheiden?� Jonny traf den Nagel genau auf den Kopf, obwohl er es anfangs nur vermutete. �Das hängt vielleicht mit den Kanonen zusammen�, sagte er aufgeregt. �Der Kerl will doch dauernd sein bumbum veranstalten.� So ganz langsam ging mir ein Licht auf. Die Vermutung wurde zur Gewißheit, als Kawassa-Kauli wieder verlangte, Flanagan solle ihm jetzt endlich die Funktion der Kanonen erklären und zeigen. Jetzt wurde mir auch bewußt, in welch riesengroßer Gefahr wir alle schwebten. Wir saßen in der Zwickmühle, denn die weiteren Gedankengänge waren ganz einfach und logisch. Hatte er das �bumbum� erst einmal begriffen, dann würde er den Teufel tun, unsere Leute wieder freizulassen. Er würde sie beseitigen, um sich auch die Kanonen der �King Charles� unter den Nagel reißen zu können. Was er mit den Geschützen wollte, war ebenfalls nicht schwer zu erraten. Das war mit einem Satz erklärt. Er versprach sich dadurch mehr Macht und wollte Krieg gegen andere Stämme führen, um sie zu unterwerfen.

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�Was können wir jetzt bloß tun?� fragte Jonny. �Immer noch einen klaren Kopf behalten und abwarten, Jonny. Noch ist es ja nicht soweit. Vielleicht läßt der Master sich breitschlagen und tut ihm den Gefallen.� �Glaube ich kaum. Der ist doch stur bis in die Knochen, ist der, und gibt dem fetten Bimbo bestimmt nicht nach.� �Abwarten, Jonny.� �Du gehst mir auf den Sack, Mann, mit deinem Abwarten. Handeln müssen wir, weiter nichts.� �Wir können nicht gegen hunderte von Kriegern antreten�, entgegnete ich. �Wir werden es gleich sehen. Und außerdem habe ich da schon einen ganz bestimmten Plan. Hoffentlich hat der Fettsack genügend Schießpulver gehortet.� Jonny sagte nichts mehr. Das Abwarten behagte ihm nicht, ich sah es an seinem verkniffenen Mund. Jonny sah dann immer so aus, als hätte er in faule Zitronen gebissen. Einer der Krieger nahm auf Kawassas Anweisung seinen Speer, trat an eins der Löcher, die wir immer noch nicht sahen und stieß die Spitze leicht hinein. Ein dumpfer Schmerzensschrei war zu hören, dem ein saftiger Fluch folgte. �Das war El Pomado�, sagte ich, �jedenfalls hörte sich das so an.� Da rief der Master etwas. Kawassa-Kauli sprang grinsend von seinem Thronsessel, als hätte ihn eine Natter gebissen. Sofort schnauzte er zwei Krieger an, die vor einem Loch stehen blieben und sich bückten. Quasi aus dem Erdboden wuchsen zwei Hände, die sich nach oben reckten. Die beiden Krieger hievten den Master aus dem Erdloch und stellten ihn schwungvoll auf die Beine. Flanagans Gesicht war verschmiert. Aber der Blick seiner Augen war so kalt und frostig, wie wir ihn lange nicht mehr gesehen hatten. Er beherrschte sich nur noch sehr mühsam. �Weißt du, was ein Ehrenwort ist?� fuhr er den Dicken an. �Ja, ich weiß, Master, ein Versprechen.� �Gut�, sagte Flanagan, �ich weiß nicht, ob ich dir trauen kann. Aber ich will dir die Funktion der Kanonen erklären. Allerdings nur unter der Bedingung, daß meine Leute ihre Freiheit wieder erhalten. Wenn du mir dein Ehrenwort darauf gibst, zeigen wir es dir.� Der Dicke gab ihm radebrechend und breit grinsend sein Ehrenwort, das soviel Wert war wie eine Handvoll Taubendreck. Ich sollte mich darin auch nicht getäuscht haben, denn der hinterhältige Halunke nahm

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es nicht so genau und legte alles auf seine Art aus. �Jetzt bin ich aber gespannt�, sagte Jonny. �Flanagan hat doch irgendetwas vor.� �Klar, er versucht, die Leute zu retten und vor dem Schlimmsten zu bewahren.� �Das wird ihm nichts nutzen.� Als nächsten hievten die Krieger unseren Stückmeister und Waffen-Experten aus dem Erdloch. Kawassa-Kauli führte die beiden Männer zu den Culverinen hinüber und gab ein paar anderen schnelle Anweisungen. Gebannt beobachteten wir, wie zwei weitere Schwarze in einer der Hütten verschwanden. Als sie zurückkehrten, trugen sie zwei Fäßchen mit sich, die vermutlich Schießpulver enthielten. Ich merkte mir sehr genau, wo die Hütte stand, denn wenn da zwei Fäßchen Pulver herausgeholt wurden, gab es sicher noch mehr. Aus einer anderen Hütte brachten sie Eisenkugeln. �Die haben das englische Schiff ausgenommen und die Leute umgebracht�, hauchte Jonny, �weil die ihnen den Umgang mit den Kanonen nicht beigebracht haben, sonst wüßten sie es ja.� �Merke dir gut, wo die Pulverhütten stehen�, schärfte ich ihm ein, ohne auf die näheren Umstände einzugehen. �Das ist für uns ein Ansatzpunkt, ein Hebel, an dem wir bei einer günstigen Gelegenheit einmal drehen können.� Die Krieger verschwanden wieder, während der Master und Jim Corcoran die Culverinen in Augenschein nahmen. Als sie zurückkehrten, brachten sie Wischer, Ansetzer und Schaufeln mit und warfen alles auf einen Haufen. Wir hörten Flanagans Stimme über die Lichtung schallen. Er sprach absichtlich etwas lauter, damit die anderen, die nichts sahen, wenigstens informiert waren. Zuvor aber lachte er verächtlich. �Das ist Dreck, aber keine Geschütze�, sagte er verächtlich. �Die sind ja von innen gar nicht geputzt.� Offensichtlich halte er sich mit Corcoran abgesprochen, denn der Waffenmeister hieb sogleich in dieselbe Kerbe. �Diese beiden kann man nicht mehr abfeuern�, erklärte er, �sie würden beim Feuern explodieren.� Kawassa-Kauli geriet ein wenig aus der Fassung. �Lüge�, schrie er, �ihr wollt nur nicht. Ich weiß, daß sie funktionieren. Auf dem Schiff haben sie noch bumbum gemacht.� �Und wie lange ist das her?�

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�Viele Sonnenaufgänge. Aber sie sind noch gut.� �Wenn du davon überzeugt bist, dann zeigen wir es dir.� Flanagans Stimme troff vor Hohn. Der Fettsack ließ sich nicht beirren. In seinen Augen stand zwar leichte Besorgnis, doch er schien nicht so recht zu wissen, was er nun glauben sollte. Er trat ganz nahe heran und sah begierig zu, wie die beiden Männer an den Kanonen hantierten. Sie taten es so umständlich, daß der Dicke fast verzweifelte. Corcoran ließ sich Wasser bringen, tauchte den Wischer in eine Kalebasse von kürbisgroßer Gestalt und reinigte das Rohr. Unterdessen öffnete Flanagan das Pulverfaß und legte die Schaufel bereit. Bis die Kugel endlich im Rohr steckte, verging mehr als eine Viertelstunde. Aus unserer Sicht konnten wir alle Handgriffe deutlich erkennen. Ich wunderte mich immer mehr, wie geheimnisvoll und umständlich sre vorgingen, um dem Dicken das Lernen zu erschweren. Er quatschte auch ständig dazwischen und stellte neugierige Fragen. In Jonnys Gesicht las ich hinterhältige Schadenfreude, als Corcoran auf Geheiß des Masters Pulver einfüllte. Immer wieder maß er ab, schüttete etwas zurück, nahm erneut eine Schaufel und hantierte fast wie ein Hexenmeister. Kawassa-Kauli würde eine recht üble Überraschung erleben, denn erstens waren die Kanonen nicht durch Brooktaue gesichert, die den harten Rückstoß abfingen, und zweitens war die Pulvermenge so reichlich bemessen, daß die Culverine explodieren mußte. Hin und wieder nahmen wir auf der �King Charles� auch schon mal die doppelte Menge Schießpulver, doch das war immer mit einem gewissen Risiko verbunden. Daß man aber die dreifache Menge nahm, war reiner Wahnsinn. Der Master hatte aber seine Gründe dafür. Als alles bereit war, steckte Corcoran gewöhnliche Lunten in die Zündlöcher, die einige Zeit brauchten, um das Zündkraut zu erreichen. Es blieb jedenfalls genügend Zeit, damit sich alle in Sicherheit bringen konnten. Flanagan sah den neugierigen Dicken hart an. �Wenn die Funken knistern, müssen alle in Deckung gehen. Die Kanonen sind schon sehr alt und verbraucht, sie werden ganz sicher auseinander fliegen.� �Lüge�, sagte der Dicke, �ich habe gesehen. Alles ist in Ordnung. Du mußt in den Wald schießen, Master.�

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�Das tun wir ja auch. Aber geht trotzdem in Deckung.� Kawassa warf ihm einen äußerst mißtrauischen Blick zu. Er wollte zu seinem Thronsessel zurück, doch als er sah, daß der Master und Jim Corcoran die Lunten entzündeten, schien er der Sache nicht mehr so recht zu trauen, denn die beiden sprangen einfach in ihre Löcher zurück und verschwanden. Da verschwand auch der Dicke. Watschelnd lief der unglaublich fette Mann auf den Wald zu und verbarg seine Körperfülle mehr schlecht als recht hinter einem riesigen Baum. Aber er sah doch neugierig zu den Kanonen hinüber. Dort zischten und knisterten jetzt die beiden Lunten. Funken sprühten, das Zischen wurde lauter. Gebannt sah der Dicke zu, wie sich das Feuer in schlängelnden Linien weiterfraß, bis es das Zündloch erreichte. Dann herrschte für zwei Lidschläge lang Ruhe. Auf Kawassas Gesicht malte sich Enttäuschung, doch die dauerte nicht lange. Er sollte voll und ganz auf seine Kosten kommen. Die Kanone, die von rechts in den Regenwald zeigte, verwandelte sich übergangslos in einen hellen Feuerball. Zuerst schlug eine riesige lange Flamme aus ihr. Dann wurde die Flamme grellgelb. Ein Knall folgte, der eine harte Druckwelle vor sich herschob. Es krachte so laut und bestialisch, daß ich den Kopf unwillkürlich tiefer hielt. Die hölzerne Lafette drehte sich wie rasend einmal um ihre Achse, dann verging alles in heller Glut, und in den Regenwald hagelte es nach allen Seiten harte Brocken. In diesem Augenblick geschah mit der zweiten Culverine das gleiche. Auch sie spie einen mächtigen Feuerstrahl aus, drehte sich auf der Lafette wie irre und gab ein Donnern von sich, das meilenweit zu hören sein mußte. Dann zerplatzte das Rohr. Erneut hagelte knallend, donnernd und brüllend ein Gewitter in den Dschungel. Schon als die erste Kanone zerbarst und in einem wilden Trümmerregen explodierte, rannten Schwarze aus den Hütten. Sie schrien und tobten, gerieten in Panik und rannten in ihrer Angst in den Regenwald hinein. Ein paar andere versteckten sich zitternd hinter den Hütten, aus denen jetzt das Geschrei der Frauen und Kinder drang. Über der Lichtung hing eine Wolke aus Pulverqualm, die bis zu uns herüberwehte. Kawassa-Kauli hockte immer noch hinter seinem Baum. Sein Gesicht hatte die Farbe gewechselt und war aschgrau geworden. Aus unserer Deckung heraus sahen wir, daß er zitterte, wie ein riesiger Berg aus Gelee, den jemand heftig angestoßen hatte. Dann trat er vorsichtig

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hinter dem Baum hervor und näherte sich der Lichtung, über der immer noch zäh der Rauch hing. Er stand da und starrte auf die Überreste zweier Kanonen. Von der einen war nur noch das Bodenstück zu sehen. Die Lafette war rußgeschwärzt und mindestens zehn Yards zurückgefahren, wobei sie sich auch noch im Kreis gedreht hatte. Die andere war ebenfalls zerfetzt. Scharfkantige Splitter aus Bronze lagen herum. Von der Lafette hatte der Druck der Explosion die Räder weggefetzt. Der Rest, ein riesiger langer Splitter, war zur Seite gekippt und lag auf dem Boden. Aus den Metalltrümmern quoll noch ein wenig Rauch. Kawassa-Kauli starrte die Überreste verständnislos an. Dann brüllte er laut nach seinen Kriegern. Aber denen saß der Schreck immer noch in den Knochen, und sie näherten sich trotz des Gebrülls nur sehr langsam und überaus vorsichtig. Auf seinen Befehl hin holten sie Flanagan und den Stückmeister wieder aus ihren Erdlöchern. �Ich habe dich gewarnt�, sagte der Master, um dem Dicken gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen. �Aber du wolltest es ja nicht glauben. Diese Kanonen sind vom Regen, der Sonne und vom Wind zerfressen. Sie halten nicht mehr viel aus. Das Pulver kann die Kugel nicht mehr aus dem Rohr treiben, und deshalb explodiert das Rohr.� Kawassa hatte aus dieser Lehre keine Rückschlüsse gezogen. Er schüttelte ärgerlich, aber immer noch erschreckt, den Schädel. �Ich habe noch zwölf Kanonen�, sagte er stur wie ein Büffel. �Alle sind nicht kaputt. Du wirst daneben stehen bleiben, Master, wenn die nächste abgefeuert wird. Ich glaube, vielleicht wird sie dann nicht so schnell explodieren.� �Ein gerissener Halunke�, sagte Jonny, �der kann ja direkt denken. Jetzt wird Flanagan wohl nichts anderes übrig bleiben, um dem Fettwanst Rollenschwoof beizubringen.� �Ja, das scheint mir auch so. Der Dicke ist wesentlich gerissener und durchtriebener als ich dachte.� Während Kawassa-Kauli herumpalaverte und darauf bestand, die anderen Kanonen ebenfalls auszuprobieren, merkte ich mir genau die Hütten, ihre Standorte, in welchen Frauen mit Kindern, und in welchen nur Männer und Krieger hausten. Ich hatte mittlerweile schon herausgefunden, daß einige Hütten nur der Lagerung von Lebensmitteln dienten. In einer anderen befanden sich Gerätschaften,

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in der einen Pulver, der nächsten Kugeln, und so ging das fort. Auch Kleine Hölle prägte sich alles sehr genau ein. �Tagsüber können wir gar nichts unternehmen�, sagte ich. �Also bleibt uns nur die Nacht. Und auch dann muß alles sehr schnell gehen, denn wir werden unsere Leute nicht einmal warnen können. Wenn die Schwarzen merken, was hier passiert, haben wir gleich einige hundert von ihnen auf dem Hals, und es wird uns dann sehr schwer fallen, rechtzeitig das Schiff zu erreichen und abzulegen.� �Wovon quasselst du eigentlich?� fragte Jonny leise, �noch ist die Reparatur nicht beendet. Wir können gar nicht ins Wasser. Und dann ist da noch etwas, mein Lieber, nämlich das Thronboot von diesem Knacker. Damit werden sie uns sofort den Weg verlegen und uns von See her in die Zange nehmen.� �Das werden wir eben verhindern. Paß auf, Jonny: Wir werden versuchen, heute nacht die Hütte in die Luft zu jagen, in der sich das Pulver befindet. Dann bricht hier eine Panik aus, und unsere Leute werden zum Schiff rennen.� �Und die Bimbos hinterher�, kommentierte er trocken. �Ganz sicher nicht alle. Aber jetzt mal der Reihe nach: Zunächst werde ich versuchen, ein paar Worte mit dem Master zu wechseln, damit er weiß, daß wir etwas unternehmen. Die Schwarzen sind alle so eifrig bei der Sache, daß mir das gelingen kann. Danach kehren wir zurück und versenken das Boot. Anschließend kehren wir an Bord zurück, um ein paar Planken von innen über das Leck zu nageln. Danach geht es zur nächtlichen Aktion. Auf dem Boot unten ist nur ein einziger Wächter.� Jonny grinste über beide Ohren. So ein Unternehmen war genau nach seinem Geschmack. Da mußten immer die Fetzen fliegen. Er war auch sofort einverstanden. �Sieh dich nur vor�, raunte er mir noch zu. �Wenn die dich erwischen, verarbeiten sie uns zu Hackfleisch. Der Dicke ist sowieso bis an die Halskrause geladen.� �Bleibst du solange hier in Deckung?� �Selbstverständlich. Im übrigen hast du ganz verteufelt gute Ideen, rnein Sohn.� �Danke für das Kompliment, Papi.� Ich pirschte vorsichtig zurück, immer die Augen auf die Krieger gerichtet, die sich nach und nach eingefunden hatten. Sie waren immer noch verängstigt, aber jetzt sahen sie schon wieder neugierig zu, wie die anderen Kanonen herumgedreht und überprüft wurden.

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Kawassa-Kauli ließ weitere Pulverfässer holen. Sie schienen über einen beträchtlichen Vorrat zu verfügen. Im Schutz des Dschungels arbeitete ich mich immer weiter vor, bis ich weiter hinten einen Bogen schlug, der mich in die Richtung der Kanonen brachte. Dort hantierten auch der Master und Corcoran. Niemand suchte den Dschungel ab. Ein paar Wachen standen bei den Löchern und gaben auf die Gefangenen acht. Kawassa war damit beschäftigt, in die Rohre zu glotzen, weil Corcoran behauptete, sie seien nicht sauber und müßten erst gewischt werden. Dann sah ich Flanagan dicht vor mir. Seine Blicke gingen immer wieder am Dschungelrand entlang, als suche er etwas. Ich ging das Risiko ein, mich auf dem Bauch liegend noch weiter vorzuschieben, bis ich ihn zwei Yards vor mir sah. Weiter konnte ich nicht vor, ohne entdeckt zu werden. �Heute nacht, Sir�, sagte ich leise, �wir sprengen die Pulverhütte in die Luft.� Er blieb wie angewurzelt stehen. Ich sah ihn nur im Profil. Nicht weit von ihm hantierte ein Schwarzer ungeschickt mit dem Wischer, auf den Kawassa-Kauli ungeduldig einredete, als wollte er ihn verhexen. Ich sah Flanagan aber nicken und wußte, daß er meine Worte verstanden hatte. �Vorher dichten wir das Leck ab und versenken das Boot�, flüsterte ich weiter. �Dann müssen alle blitzschnell an Bord.� Ich konnte dem Master schlecht sagen, was er zu tun hatte, aber wir waren nun einmal die einzigen, die noch etwas zur Rettung der anderen tun konnten. Und ich konnte jetzt nicht das Für und Wider abwägen und debattieren. Flanagan mußte die Initiative schon uns allein überlassen � und er tat es auch gern, das wußte ich. Er gab keine Antwort, dafür räusperte er sich ein paar Mal die Kehle frei. Das bedeutete für mich, daß er alles verstanden hatte. Er sah auch nicht zu der Stelle hin, an der ich lag. Nachdem er sich geräuspert hatte, tat er so als sei nichts gewesen. Die anderen merkten auch nichts, bis auf Jim Corcoran, dessen Gesichtsausdruck etwas nachdenklich wurde. Ungesehen huschte ich wieder zurück und erreichte kurze Zeit später unser Versteck. �Alles klar?� fragte Jonny gleich, �hast du mit ihm ein paar Worte wechseln können? Du warst überhaupt nicht zu bemerken, so angestrengt ich auch gesucht habe.�

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�Ich konnte ihm nur flüstern, was wir vorhaben. Er gab natürlich keine Antwort.� �Glaubst du, er hat alles verstanden?� �Ganz sicher. Er räusperte sich und nickte auch einmal.� �Dann begeben wir uns feierlich auf den Rückzug�, meinte Jonny. �Jetzt kann er ihnen ja beibringen, wie die Dinger funktionieren.� Lautlos pirschten wir durch den Dschungel zurück. Der Schwarze befand sich immer noch auf dem Boot, war aber ganz zappelig vor Nervosität, denn er hatte natürlich das gewaltige Donnern aus dem Dschungel vernommen. Am liebsten hätte er wohl seinen Platz verlassen um nachzusehen, doch das traute er sich nicht. Neben ihm lag ein langer mit bunten Bändern umwickelter Speer. Pfeil und Bogen hatte er auf eine der Duchten gelegt. �Den Burschen kaufen wir uns jetzt blitzartig�, sagte Jonny, �der darf erst gar kein großes Geschrei veranstalten, sonst hören uns womöglich die anderen.� Genau in diesem Augenblick hörten wir es wieder donnern. Dumpf grollend fegte der Donner bis über die See. Flanagan wollte wohl offenbar unseren Rückzug decken, indem er jetzt die Culverinen abfeuerte. Der Schwarze reagierte wie besessen. Er tat einen Satz, verdrehte die Augen und griff nach seinem Speer. Dabei bückte er sich immer wieder, als könnte er durch den dichten Wald etwas erkennen. Wir rannten los, so schnell wir konnten, genau auf das Boot zu, denn wir mußten ein Stück ohne Deckung zurücklegen. Als der Schwarze uns sah, wurden seine Augen noch größer. Dann hatte er seinen Schreck wohl überwunden, packte den Speer noch fester und schleuderte ihn nach uns. Ich duckte mich schnell und ging in die Knie, denn das blitzende Ding flog direkt auf mich zu. Noch im Laufen riß Jonny sein Messer heraus und enterte mit einem gewaltigen Satz das Boot. Der Speer sauste mir so dicht am Schädel vorbei, daß ich noch den Luftzug fühlte, mit dem er meine Haare streifte. Aufrecht stehend, hätte er wahrscheinlich genau mein Herz durchbohrt. Als ich ins Boot sprang, hauchte der Schwarze bereits sein Leben aus. �Beinahe hätte er mich erwischt�, keuchte ich. Der Schwarze lag jetzt im schmalen Mittelgang des Bootes. Wir sahen uns hastig nach allen Seiten um, aber wir hatten keine Zeugen.

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�Wird verdammt schwierig, das Ding zu versenken�, meinte ich. �Wir könnten die Planken mit dem Speer durchbohren.� �Haha�, machte Jonny, �wer wird denn das schöne Ding versenken! Ich habe eine viel bessere Idee. Aber zuerst kippen wir den Burschen über Bord.� Der Schwarze verschwand außenbords und ging sofort unter. Jonny kappte mit dem Messer die Leine, die um einen Stein gelegt war, setzte sich auf die Ducht und griff nach einem Riemen. �Los, los, Mann, wir pullen das Ding zum Schiff. Die Kerle haben uns das Elfenbein geklaut, also gehört uns als Ausgleich das elfenbeinerne Sesselchen. Sieht doch prachtvoll aus, und ist sicher eine Menge wert. An Bord hievten wir den Thron hoch und versenkten das Boot. Wer wird denn auf so schöne Sachen verzichten.� Ich sah ihn sprachlos an. Das war wieder einmal typisch Jonny. Wir stießen das Boot ab und legten uns in die Riemen. Es war unglaublich schwer, das Langboot zu zweit zu pullen, aber nachdem es einmal in Fahrt war, ging es doch ganz gut. Während wir uns die Arme aus dem Leib pullten, quatschte Jonny ungerührt über das nette Sesselchen, das ihm ausnehmend gut zu gefallen schien. �Vielleicht gibt's dafür einen kleinen Benefiz von der Company�, meinte er. �Wer hat schließlich schon einen Thron aus Elfenbein und Schnitzwerk! Wenn die ihn nicht wollen, dann behalten wir ihn eben und spielen Kawassa-Kauli. Oder Pickens kann ihn sich aufs Achterdeck stellen und sich hineinsetzen. Er hat ja auch fast so einen dicken Wanst wie der Elfenbeinkönig.� Die �King Charles� lag verwaist am Strand, als wir mittschiffs anlegten. Immer noch war keiner der Krieger zu sehen. Sie waren auch nicht mehr zurückgekehrt, um weiteres Elfenbein zu klauen. Alle waren in ihrem Dorf versammelt. Wir schnitten die Tampen los, mit denen der Thronsessel an den Duchten festgebunden war, vertäuten das Boot und schlangen eine dünne Leine um den schweren Thron. Dann enterten wir auf, und Jonny begann an der Leine zu ziehen. �Laß doch das Ding jetzt in Ruhe�, fauchte ich ihn an. �Wir haben weiß Gott ganz andere Dinge zu tun.� �Wir können gar nichts unternehmen�, sagte er, �jedenfalls nicht vor der Dunkelheit. Also pack gefälligst mit an. Danach bohren wir den Kahn an und lassen ihn treiben. Dann ist der Dicke sein Flaggschiff los.� �Aber wir wollten das Leck abdichten, verdammt.� �Tun wir anschließend.�

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Mit dem Kerl war nicht zu reden. Er hatte es sich in den Schädel gesetzt, den Thron an Bord zu hieven, und davon hielt ihn nichts auf dieser Welt ab. Etwas später hatten wir das schwere Ding endlich schnaufend an Bord gezogen und stellten es neben den Laderaum auf die Gräting. �Prachtvoll�, sagte Jonny, �und jetzt zum Bug. Holz und Werkzeug liegen noch genug herum. Nein, erst versenken wir den Kahn.� Wir holten zwei Äxte, enterten ins Boot und hieben mit aller Kraft ein paar Löcher hinein. Der Boden zersplitterte und eine hohe Wasserfontäne stieg sprudelnd in die Höhe. Dann lösten wir den Tampen und stießen das Langboot Kawassa-Kaulis mit zwei kraftvollen Tritten vom Schiffsrumpf ab. Es trieb langsam davon. Die Fontäne sprudelte immer noch. Der Wassereinbruch begann stärker zu werden, das Boot sackte weiter ab. Etwa sechzig Yards von der �King Charles� entfernt, versank es mit einem protestierenden Blubbern in der See. Ein kleiner Wasserwirbel war das letzte, was wir sahen. �Das ist erledigt�, sagte Jonny, �von See her können sie uns den Weg nicht mehr verlegen. Jetzt wollen wir mal sehen, was wir am Bug ausrichten können.� Ich hatte schon erwähnt, daß nur noch zwei Planken eingezogen werden mußten, um der �King� fast die alte Stabilität wiedergeben zu können. Natürlich war auch das ein Provisorium, und was wir vorhatten, war -- genau genommen � reine Pfuscharbeit. Allerdings konnte sie uns vor dem Schlimmsten bewahren, wenn es darauf ankam. Wir sahen uns die schmalen Ritzen ausgiebig an und überlegten fieberhaft, wie wir sie provisorisch abdichten konnten. �Zuerst einmal müssen wir außen anfangen�, sagte Jonny. �Wir nageln ein paar alte Planken darüber und dichten alles mit Werg, Fasern und Tauresten ab. Danach hauen wir von innen ein paar starke Bretter auf die Stellen und dichten sie nochmals ab.� Unwillkürlich mußte ich grinsen. Wenn der Zimmermann gesehen hätte, was wir vorhaben, ich glaube, er hätte auf der Stelle graue Haare gekriegt. �Das halte ich auch für eine vernünftige Lösung�, sagte ich, denn mir fiel wirklich nichts Besseres ein. Theoretisch würde es halten, aber in der Praxis, wenn das Schiff belastet war, mußte fraglos ein Wassereinbruch erfolgen. Der mußte zwar nicht stark sein, aber ich war da ganz guter Dinge.

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Kupfernägel hatten wir genügend zur Verfügung. Jonny schlug vor, die Planken nicht zu zersägen, sondern in ihrer vollen Länge draufzunageln, weil der Zimmermann sie später vielleicht noch verwenden konnte. Dann gingen wir an die Arbeit. Es war jetzt später Nachmittag, und es ging auf den Abend zu. Als wir die erste Planke mit wuchtigen Hammerschlägen festnagelten, hörten wir aus der Ferne wieder das Feuern von Geschützen. Dumpf rollend drang der Donner an unsere Ohren. �Hoffentlich gibt der Alte ordentlich Zunder�, meinte Jonny, �sonst hören die Kerle noch unser Gehämmer.� �Das halte ich für ausgeschlossen, Jonny. Der Wind weht ablandig, die hören garantiert nichts.� Verbissen arbeiteten wir weiter, stopften Werg, altes Tauwerk und Segelfetzen zwischen die Planken und drückten das alles mit dem Kalfateisen hinein, bis es nicht mehr weiterging. �Der Kahn wird ein bißchen Suppen�, sagte Jonny abschätzend, �aber das Pflaster hält bestimmt eine Weile.� Noch einmal betrachteten wir fachmännisch unser Werk. Von außen gab es jetzt nichts mehr zu tun. Jetzt mußten wir innen weiterarbeiten und den Rest abdichten. Wir schleppten das Werkzeug an Bord, bis nichts mehr auf dem Sand lag und brachten alles an Bord, denn es würde eine sehr überstürzte Abreise werden, wenn Kawassa-Kauli erst einmal sein eigenes Schießpulver um die Ohren flog. In der Vorpiek entzündeten wir zwei Lampen, sahen vorher aber noch einmal nach, ob es irgendwelche undichten Stellen gab. �Wenn wir das Sonnenlicht nicht mehr sehen, dann muß das Leck dicht sein, Bonty. Jetzt klopfen wir hier noch ein paar Hölzchen rein, und dann können wir uns Schiffbaumeister nennen. Und dazu braucht ein Zimmermann nun etliche Tage � nicht zu fassen.� �Ich gehe mal an Deck, ob die Luft rein ist�, sagte ich. �Du hast ja nicht mehr viel zu tun. Aber ich werde inzwischen die Jolle auf Backbord vertäuen und über die Bordwände Tampen hängen. Außerdem sehe ich noch einmal nach den Drehbassen.� �Tu das, ich nagele weiter.� Ich hörte wie Jonny klopfte und hämmerte, als ich an Deck stand. Es hörte sich an, als seien mindestens fünf Leute an der Arbeit.

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Wieder sah ich mich vorsichtig nach allen Seiten um. Dann hörte ich es laut wummern. Die Kanonen feuerten wieder. Flanagan ging jetzt ziemlich zielstrebig vor. An Deck entzündete ich eine weitere Lampe und hängte sie in die unteren Webeleinen. Auch das war eine reine Vorsichtsmaßnahme, falls wir die Drehbassen einsetzen mußten. Dann konnten wir wenigstens gleich die Lunten entzünden. Jonny klopfte jetzt nicht mehr so schnell. Er hatte wohl den größten Teil der Hölzer schon vernagelt. Mein nächster Weg führte mich noch einmal zur Pulverkammer und zum Waffenmagazin. Dort schnitt ich mir von der großen Rolle unterschiedlich lange Lunten und Zündschnüre zurecht und stopfte alles in die Tasche. Dann fielen mir die kleinen Pulverfäßchen ein, die wir für ganz besondere Zwecke an Bord hatten. Sie waren extra präpariert, falls etwas gesprengt werden sollte. Die Fäßchen waren klein, man konnte sich zwei Stück unter einen Arm klemmen, aber ihre Wirkung war durch die zusätzliche Verdämmung sehr stark. Sie hatten kleine Löcher, in die man Lunten stecken konnte. Der Zeitpunkt der Explosion ließ sich ziemlich genau berechnen, denn ein Yard Lunte oder Glimmschnur, wie man sie auch nannte, brannte innerhalb einer Minute ab. Man konnte sie also nach Belieben hochgehen lassen. Jemand berührte plötzlich meinen Arm. Ich fuhr blitzschnell herum und schlug ebenso blitzschnell zu. �Idiot�, sagte Jonny, der gerade noch in Deckung gegangen war. �Ich bin fertig. Was tust du hier?� �Mann, du hast immer so eine nette Art an dir, einen zu erschrecken, daß es dich noch mal das Leben kostet.� Ich erklärte ihm, was ich vorhatte, und auch, daß wir drei oder vier der kleinen Fässer mitnehmen sollten. Wir konnten sie an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten hochjagen, und dadurch heillose Verwirrung oder Panik bei Kawassas Kriegern stiften. �Das ist gut�, sagte Jonny. �Wir laden auch noch ein paar Musketen und legen sie an Deck aus, damit alles griffbereit liegt. Das einzige Handicap ist der Scheißanker, aber zu zweit können wir das Schiff nun mal nicht ins tiefe Wasser bringen.� Wir stellten die Fäßchen am Niedergang auf und trugen etwa fünfundzwanzig geladene Musketen an Deck. Aber wir mußten sie in höllischer Eile wieder einsammeln, als ein heftiger Regenschauer über uns niederging.

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�Das Mistwetter kann uns noch alles versauen�, fluchte Jonny. Wir hockten da und warteten, bis der Schauer vorbei war. �Wir legen die Musketen unter die Persenning�, schlug ich vor. �Dann kann das Pulver nicht naß werden, und wir haben sie trotzdem griffbereit vor uns. Ein Wort zu den Leuten genügt.� �Gut, dann entwickeln wir jetzt unseren Schlachtplan. Wie hast du dir das vorgestellt? Wir müssen uns genau absprechen, sonst kostet uns ein kleiner Fehler den Hals.� �Nicht nur uns, Jonny. Ich habe mir gedacht, daß wir eins der Pulverfässer in die Hütte bringen, wo das andere Pulver lagert. Dazu nehmen wir die längste Lunte, weil ich nicht weiß, wie viel Pulver die Kerle überhaupt besitzen. Vorher lassen wir an anderen Stellen Fässer hochgehen, damit ordentliches Wuhling herrscht.� �Hoffentlich kommen wir an die Hütte ran�, meinte Jonny besorgt. �Vielleicht bewachen sie die wie ein Heiligtum.� �Dazu besteht gar kein Grund. Sie sind doch in dem Glauben, uns alle einkassiert zu haben. Wir werden bewacht und können nichts anstellen. In der Beziehung ist der Dicke recht einfältig, mag er auch sonst voller Hinterlist und Tücke sein.� Wir besprachen weitere Einzelheiten und warteten die Dunkelheit ab. Aus der Kombüse holten wir uns etwas zu essen und zu trinken. Die Lampe an Deck hatte ich heruntergeschraubt. Die Flamme war so klein, daß man sie kaum noch sah. �Wir sollten auch gleich noch die Spaken ins Bratspill stecken�, sagte Jonny, �das kostet später sonst alles unnütze Zeit.� Das taten wir auch gleich darauf und überprüften alles noch einmal ganz genau. Ich glaube, wir hatten auch nichts übersehen und gründliche Vorsorge getroffen. Wir konnten ganz zufrieden sein. Stunde um Stunde verstrich, und in unregelmäßigen Abständen hörten wir es donnern und knallen. �Jetzt muß der Fettsack ja bald wissen, wie Culverinen bedient werden�, meinte Jonny. �Hoffentlich hat der Alte sich nicht zu sehr damit beeilt. Denn wenn Kawassa das erst einmal kann, gebe ich keinen lausigen Copper mehr für das Leben der anderen.� �So schnell lernt der das nicht�, widersprach ich. �Der Master wird sich genügend Zeit nehmen, verlaß dich darauf. Einmal hatte es sich auch so angehört, als sei wieder ein Geschütz auseinander geflogen.� Nach einer Weile hielten wir das untätige Herumsitzen nicht mehr aus. Vom Regenwald drangen Laute zu uns herüber. Der Himmel war

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bewölkt, und der Mond ließ sich Zeit und schien nur hin und wieder einmal durch die Wolkenbänke. Es war immer noch schwül und heiß. �Es wird ungefähr zwei Stunden vor Mitternacht sein�, schätzte ich. �Gehen wir?� �Das fragst du noch!� Wir schnappten unsere Pulverfässer und entzündeten eine Lunte, die sich in einer kleinen Kupferschachtel verbergen ließ. In den Deckel waren kleine Löcher gestanzt, damit die Luft sich nicht verbrauchte. Die Lunte konnte auf diese Art stundenlang glimmen. Wie ein Geisterschiff lag die �King Charles� am Strand, einsam, verlassen und finster. Das Licht an Deck blakte etwas, doch als wir uns ein paar Yards entfernt hatten, war es nicht mehr zu sehen.

* Noch lange bevor wir die Lichtung erreichten, sahen wir schon das Feuer. Es flackerte hell und warf gespenstische Schatten. Das Wummern der Kanonen hatte aufgehört, und ich wußte nicht, ob das ein gutes oderschlechtes Zeichen war. Der Regenwald erwachte zum Leben, nachdem das Donnern verklungen war. Da zirpten Tausende von Zikaden, da pfiff und röhrte es, und einmal war auch ein fauchendes Geräusch zu hören. Im Schutz dieses nächtlichen Lärms konnten wir uns sogar flüsternd unterhalten, obwohl wir vorerst darauf verzichteten und uns so leise wie nur möglich anschlichen. Von der Lichtung drang Lärm herüber, aber vorerst sahen wir nur das wilde flackernde Feuer. Erst als wir fast unsere alte Position erreicht hatten, erkannten wir, daß Kawassa-Kauli offenbar ein Fest feierte. Immer noch hingen riesige Fleischstücke an den Stangen. Rings um die Lichtung verteilt, hockten an die vierzig Krieger auf dem Boden. Mitten unter ihnen saß Kawassa-Kauli fett und behäbig auf seinem thronartigen Sessel und ahnte nicht, was ihm noch bevorstand. Wir hielten suchend nach unseren Leuten Ausschau, doch die steckten vermutlich ausnahmslos in den Löchern. Im Schein des Feuers glänzten auch die Kanonenrohre. Insgesamt zählte ich jetzt noch elf Rohre. Folglich mußte es noch einen vorsätzlich herbeigeführten Rohrkrepierer gegeben haben. Die Schwarzen schnatterten wild durcheinander, und hin und wieder sagte auch der Dicke etwas. Aber von der Sprache verstanden wir nicht ein einziges Wort.

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Stumm beobachteten wir weiter, wie der Dicke sich Fleisch geben ließ und schmatzte. Er fraß schon wieder unglaubliche Mengen. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Ab und zu trank er laut schlürfend aus einer großen Kalebasse. Nach ein paar hastigen Worten sprangen zwei Krieger auf und gingen auf eins der Erdlöcher zu. Sie griffen hinein und zogen Master Flanagan heraus, dessen Gesicht rußgeschwärzt und dessen Uniform total verdreckt war. Die beiden Krieger stießen ihn mit ihren Speeren grinsend bis vor Kawassas großen Sessel. �Du bist ein guter Mann, Master�, sagte der Dicke höhnisch, �ich weiß jetzt alles über bumbum.� Er begann laut zu lachen, klatschte sich auf seine überdimensionalen Schenkel und brüllte so laut, daß es meilenweit zu hören war. Lange Zeit konnte er sich kaum beruhigen. �Kawassa-Kauli hat jetzt ein Schiff�, sagte er prustend, worauf die anderen, die die Sprache sowieso nicht verstanden, in lautes Gelächter ausbrachen, wohl weil ihr Herr und Meister lachte. �Ja, Kawassa-Kauli hat jetzt ein Schiff, und er hat auch sehr viel Kanonen, gute Kanonen. Kawassa-Kauli hat auch Elfenbein und Stoff, und was noch mehr im Bauch des Schiffes steckt. Ich bin jetzt ein reicher Mann. Was sagst du dazu, Master? Was sagst du auch dazu, daß ich sehr viele Gefangene habe?� Flanagan sah dem Dicken kalt in die funkelnden Augen. Kawassa begann wieder schauderhaft zu lachen, und prompt stimmte der ganze Hofstaat in das Lachen ein. �Ich möchte dich an ein Ehrenwort erinnern�, sagte der Master kalt, �obwohl ich mir denken kann, daß du es längst vergessen hast, und es auch vergeblich ist, daran zu appellieren.� �Was soll ich mit einem Ehrenwort�, meinte der Dicke wegwerfend. �Das ist nur ein Wort, mehr nicht. Und Worte werden viel geredet, bis die Sonne untergeht.� �Was hast du mit uns vor?� Flanagan drehte sich leicht zur Seite, konnte sich wegen der auf ihn gerichteten Speerspitzen jedoch kaum rühren. Aber ich glaubte zu sehen, daß er genau in unsere Richtung blickte. Daß er uns sah, war allerdings ausgeschlossen. Der Dicke ließ sich mit der Antwort Zeit. Dann sagte er, und es klang verdammt gleichgültig. �Ich brauche euch nicht mehr. Ich habe das, was ich wollte. Gefangene fressen zuviel und machen viele Umstände. Man muß sie immer

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bewachen. Meine Krieger werden euch töten und ins Meer werfen. Dann dürft ihr noch einmal auf meinem Boot fahren.� �Genau das hatte ich erwartet�, sagte der Master. �Aber hüte dich, Kawassa-Kauli, auf meinem Schiff gibt es Geister. Und die werden dir übel mitspielen.� Der Dicke verzog das Gesicht. Im Schein der flackernden Flammen sah sein Gesicht dämonisch aus. �Mein Zauberer wird sie vertreiben. Er hat schon den einen Geist vertrieben.� �Wird Zeit, daß wir mit unserem Zauber beginnen�, meinte Jonny grinsend. �Dieser Bastard kriegt es sonst fertig und bringt den Alten zuerst um.� �Ja, jetzt wird es wirklich Zeit. Alles klar, Jonny?� �Alles klar.� �Dann nichts wie los.� Wir schlichen lautlos weiter. Kawassa hielt immer noch seine Tiraden ab, lachte, schlug sich auf die Schenkel, und freute sich, daß er uns so prächtig aufs Kreuz gelegt hatte. Wir schlugen einen weiten Bogen durch den Dschungel, hielten die Pulverfässer dicht an unsere Körper gepreßt, und fanden uns schließlich in der Nähe der aufgebauten Culverinen wieder. Von hier aus war es nur ein Katzensprung bis zu der Hütte, in der das Pulver lagerte. Vorerst aber sahen wir nach, ob unsere Lunten in den Kupferdosen noch qualmten. Sie glimmten noch. Zwei Krieger warfen Holz in das Feuer, das hell und knisternd aufloderte. Dann erschien der Zauberer und begann vor Kawassa hin und her zu hüpfen. Meine größte Sorge war, daß man das Glimmen der Lunten sah. Ich hatte zwar extra solche gewählt, die nicht laut knisterten und nach allen Seiten Funken sprühten, aber dennoch konnte das Glimmen vielleicht bemerkt werden. Das erste Fäßchen placierten wir in der Nähe der Culverinen, die uns vorzüglichen Schutz boten. Durch das helle Feuer waren die Krieger auch etwas geblendet, und es fiel ihnen schwer, vom Hellen ins Dunkle zu blicken. Ich schlich zu der Hütte hinüber, während Jonny an einer anderen Stelle das Fäßchen deponierte. Niemand hatte mich gesehen. Die Tür bestand aus einer dick geflochtenen Matte und war nur angelehnt.

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Wie der Blitz huschte ich hinein. Mit den Händen tastete ich alles ab und stieß an aufgestapelte Fässer, die vermutlich alle Schießpulver enthielten. Mir wurde richtig mulmig dabei, wenn das hier in die Luft flog, würde es weitaus lauter knallen, als das Bersten der auseinander geflogenen Kanonen. Ich hielt die Lunte an die lange Schnur, blies sie einmal kurz an und huschte wieder hinaus. Auch jetzt wurde ich nicht entdeckt. Flanagan stand immer noch auf der Lichtung. Kawassa-Kauli redete höhnisch auf ihn ein. Der Master gab keine Antwort, nur hin und wieder verzogen sich seine Lippen, als würde er grinsen. Ob er etwas bemerkt hatte? Ich konnte mir das kaum vorstellen. Dieses versteckte Lächeln brachte den Dicken in Wut. Er traute dem Master nicht, fing an, laut herumzubrüllen. Weit vor mir im Regenwald war ein lautes Knacken zu hören. Sofort sprangen zwei der Krieger auf und griffen zu ihren Speeren. Dann starrten sie in den Dschungel und lauschten. Das Knacken mußte Jonny verursacht haben, aber das war jetzt unwichtig. Eins der Fässer mußte jeden Augenblick in die Luft fliegen, und dann war die erste Wuhling da. Ich hatte mich in der Zeit nicht verschätzt, denn ich war nur ein paar Yards weitergegangen, als es bei den Culverinen blutrot aufleuchtete. Eine gewaltige Feuersäule stieg in den Himmel. Gleichzeitig breitete sie sich unter nerventötendem Krachen explosionsartig nach allen Seiten aus. Für die anderen mußte das so aussehen, als seien ein paar der Geschütze explodiert. Die Krieger ließen ein derartiges Geschrei hören, daß es mir in den Ohren gellte. Sie waren buchstäblich kopflos und hatten keine Erklärung für den nächtlichen Zauber. Sie reagierten so, wie wir es schon erwartet hatten: Sie sprangen auf und rannten wild durcheinander, überhaupt nicht mehr in der Lage, auf den Dicken zu hören. Aber Kawassa-Kauli bot den allerschönsten Anblick, und den genoß ich geradezu. Als unvermittelt das Faß explodierte, stieß er einen heiseren Schrei aus, griff um sich und suchte Halt. Dabei vollführte er zappelnde Bewegungen, und prompt kippte der Sessel um. Der Dicke fiel wie eine Riesenqualle zu Boden und schrie. Leider konnte ich nicht mehr erkennen, denn jetzt wurde es auf der Lichtung lebendig. Aus einigen Hütten erschienen schreiende Frauen, die ihre Kinder im Arm hielten und einfach in den Dschungel rannten.

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Die Krieger rannten kreischend, brüllend und schreiend durcheinander, seit der Donnergeist erschienen war. Auch Kawassa brüllte und schrie, und dann hörte ich Flanagans Stimme. �Raus aus den Löchern, einer hilft dem anderen.� Seine Worte waren noch nicht richtig verhallt, als das zweite Faß in die Luft flog. Ein entsetzlicher Knall war zu hören. Eine unheimlich hohe Flammensäule schien direkt aus dem Erdboden zu brechen, und eine leichte Druckwelle fegte durch den Regenwald. Ich stieß mit Jonny zusammen und wäre fast gestürzt. �Wie lange haben wir noch für das andere Pulver?� fragte er. �Etwa eine knappe Minute. Aber dann wird es kritisch.� Ungeachtet der aufgescheuchten Krieger rannten wir jetzt keuchend quer über die Lichtung auf die Löcher zu, aus denen sich überall Hände reckten. Einer der wenigen, der allein heraussprang, war natürlich Pete Bird, die Katze. Sobald einer aus den Löchern heraus war, eilte er zum nächsten und zog seinen Kameraden heraus. Auf der Lichtung herrschte ein unvorstellbares Chaos. Immer noch stand die Feuersäule funkenstiebend in der Luft wie ein rache schnaubender Dämon. Zebulon und Jeremias waren ebenfalls draußen. Der Bibelmann zerrte gerade Pickens aus dem Loch und mußte sich ziemlich abquälen, denn unser Zweiter war ein bißchen im Erdreich eingeklemmt. Kawassa-Kauli kroch auf allen vieren davon und brüllte voller Angst nach seinen Kriegern. Ich zog El Pomado aus dem nächsten Loch. Im Widerschein des Feuers sah ich, daß er noch an der Schulter blutete. Dort hatte ihn der Speer getroffen. �Kannst du allein laufen?� �Klar�, brüllte er, �wohin?� �Zum Schiff, du Blödmann�, herrschte Jonny ihn an. Ich sah gerade, daß Flanagan sich wieder bückte und nach unserem Koch Gofredo griff. Dann sah ich aber auch noch etwas anderes, und dieses Bild taucht auch heute noch mitunter in meiner Erinnerung auf. Jonny konnte es einfach nicht lassen. Als der Dicke jammernd und brüllend über den Boden kroch, rannte Kleine Hölle die paar Yards hinüber und trat ihm so gewaltig in den dicken Hintern, daß Kawassa gequält aufschrie und vor Schreck der Länge nach zu Boden stürzte. Verdammt, wir hatten jetzt wirklich keine Zeit für derartige üble Scherze, denn jeden Augenblick konnte uns das gesamte Pulver um

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die Ohren fliegen. Dann brauchten wir gar nicht erst zu laufen, denn die Druckwelle würde uns bis zum Strand blasen, nach allem was hier so lagerte. Aber Kleine Hölle trat dem jammernden Dicken trotzdem noch einmal so kräftig in die Kehrseite wie er nur konnte. Später hatte er sich damit gebrüstet von Kawassa-Kauli als königlicher Arschtreter engagiert worden zu sein. �Wir müssen so schnell wie möglich weg, Sir�, rief ich Flanagan zu. �Ich habe eine Lunte in der Pulverhütte entzündet, und alles wird gleich hochgehen.� Flanagan wurde einer Antwort enthoben, denn nun ging das letzte unserer kleinen Pulverfäßchen hoch, und wir konnten für eine ganze Weile kaum noch etwas hören. Aber die Männer hatten alle längst begriffen. Sie rannten los, als sei der Teufel hinter ihnen her. Und einige der Teufel waren auch wirklich bereits hinter uns. Ein paar Schwarze kamen über die zweite Lichtung gerannt, brüllend, tobend und schreiend, als liefen sie Amok. Sie schwangen ihre Speere und warfen sie in das wüste Getümmel hinein. Aber als das Faß in die Luft flog, flohen sie wieder panikartig in den Regenwald, um sich darin zu verbergen. Flanagan, Finn und Pickens sorgten für einen schnellen Rückzug, oder besser gesagt, für eine schnelle Flucht. Der Feldscher Montesano rannte allen voran, gefolgt von Gofredo, die auf Italienisch ihre Flüche abließen, und die Schwarzen noch mehr verschreckten. Einige von ihnen rannten einfach mit uns mit. Der letzte Mann war vom Platz verschwunden. Auch Kawassa-Kauli hatte sich voller Angst in den Dschungel verkrochen. Wir, das heißt Jonny und ich, hatten jetzt den Anfang des Trampelpfades erreicht, da brach hinter uns die Hölle auf. Das Fäßchen hatte gezündet und detonierte jetzt ebenfalls unter bestialischer Geräuschentwicklung. Aber das war nur der Anfang vom Ende, denn gleich würde eine Kettenreaktion eintreten, die die anderen Fässer wie eine Epidemie ansteckte. Wir rannten, was wir konnten, immer schneller, immer hastiger. Von den Kriegern waren nur noch ein paar zu sehen. Sie schienen etwas zu ahnen, denn fast alle waren in den Dschungel geflüchtet. Dann barst die Erde, kaum daß die letzte Detonation verklungen war. Eine zweite folgte, noch gewaltiger, noch wilder, gleich darauf die dritte, vierte und fünfte.

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Über der Lichtung erhob sich brüllend eine Feuerwand, die immer höher in den nächtlichen Himmel stieg. Mir wurde angst und bange, als eine unglaubliche Druckwelle heranfegte. Es war, als hätte man die Pulverkammer eines großen Schiffes getroffen. Die Druckwelle fegte mich über den Trampelpfad. Jonny taumelte an mir vorbei, wurde von der Wucht aber ebenfalls umgerissen und landete hart auf dem Boden. Um uns her war alles taghell erleuchtet, als würden zwanzig Sonnen auf einmal am Himmel stehen. Da war ein unbeschreibliches Rauschen und Brüllen, da flogen die Hütten wie Kartenhäuser auseinander. Der gewaltige Druck, dem ein ungeheurer Sog folgte, blies sie einfach fort. Jonny brüllte mir etwas zu, doch ich sah nur, daß sich seine Lippen bewegten. Ich war so gut wie taub und verstand kein einziges Wort. Wir rafften uns auf und rannten den anderen nach. Als ich einmal zurückblickte, sah ich hoch über dem Regenwald einen schaurig-schönen Riesenpilz von orangefarbenen Strahlen, der langsam vom Wind auseinandergetrieben wurde. Das furchtbare Donnern und Brüllen war vorbei, nur eine wahnwitzige Hitzewelle streifte uns noch. Total ausgelaugt und erschöpft kamen wir unten am Strand an und rannten keuchend weiter. Ich weiß nicht einmal wie viel Zeit vergangen war, als wir die �King Charles� endlich vor uns sahen. Einige unserer Leute waren bereits aufgeentert. Über dem Regenwald stand immer noch ein fernes Gluten. Es war beträchtlich heller als der Mondschein, und es verblaßte nur sehr langsam. Erst nach einer Weile konnten wir wieder einen klaren Gedanken fassen, als wir endlich wieder an Deck standen. Flanagan und die anderen umstanden uns. Des Masters Gesicht war so rußgeschwärzt, daß er wie einer von Kawassas Kriegern aussah. �Junge, Junge�, sagte der sonst so arrogant und kühl wirkende Master erleichtert. �Was ihr da geleistet habt, ist einmalig. Der Dicke hätte uns alle umgebracht.� Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, aber Jonny hatte die Sprache schon wieder gefunden. �Wir haben auch das Leck abgedichtet, Sir, wenigstens provisorisch, und den Kahn haben wir ebenfalls versenkt. Unter der Persenning da drüben liegen schußbereite Musketen. Falls die Kerle hier aufkreuzen,

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können wir uns über den Anker zur Bucht verholen.� Die Männer umstanden uns und starrten uns an wie Wundertiere. �Was ist das denn?� fragte Pickens erstaunt und ging auf das matt im Mondlicht schillernde Gebilde zu. �Der Thron von Kawassa-Kauli aus dem Boot�, sagte ich. �Jonny hielt es für angebracht, ihn mitzunehmen, weil die Kerle uns vier große Zähne Elfenbein geklaut haben.� Jetzt wurden wir noch fassungsloser angeblickt, bis einer vor Lachen fast platzte. Diesmal war es Flanagan selber, der sich mit zuckendem Gesicht abwandte. �Ich danke euch�, sagte er, �wir werden darüber noch ausführlich reden, wenn es wieder hell ist. Es besteht die Möglichkeit, daß die Kerle ihren Schreck überwinden und racheschnaubend nach uns suchen. Wie steht es nun wirklich mit dem Leck?� �Wir haben es abgedichtet, Sir. Es hält provisorisch.� Costigan und Zebulon gingen nachsehen, um sich davon persönlich zu überzeugen, denn offenbar konnten sie sich das nicht vorstellen. Als sie zurückkehrten, war der Zimmermann verblüfft. �Wenn wir jetzt damit ins Wasser gehen�, sagte er, �wird es vielleicht ein wenig Suppen, aber das schafft ein Mann spielend mit einer Pumpe allein. Wir können ja dann an einem ruhigen Ort später noch einmal aufslippen.� �Dann versuchen wir es�, sagte der Master, �ich habe das Gefühl, als würden sie sich doch noch zusammenrotten.� Er sollte recht behalten. Als wir uns mit Hilfe des Bratspills über den Anker langsam aus der Bucht zogen und die �King� ächzend und knirschend vom Sand freikam, hörten wir Gebrüll und Geschrei. Aus den Mangroven tauchten Krieger auf, die ein unglaubliches wildes Geheul anstimmten. Jetzt kurz vor der Dämmerung war alles in gespenstisches Zwielicht getaucht. Die ersten Speere flogen. Pfeile wurden abgeschossen, und ein paarmal knallte es laut an der Bordwand. Aber zu dieser Zeit wurden bereits die ersten Segel gesetzt, denn der Anker war jetzt auf und nieder. Der ablandig wehende Wind drückte uns nun sanft aus der Bucht. Am Ufer heulten und schrien sie immer noch, schäumend vor Wut und Rache.

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Flanagan befahl, einen Siebzehnpfünder abzufeuern, ohne Ziel, einfach in den Regenwald hinein, damit nicht einer von uns durch herumschwirrende Pfeile getroffen wurde. Als die Culverine losdonnerte, und die Eisenkugel drüben in die Mangroven rauschte, verschwanden sie wie vom Erdboden verschluckt. Wir glitten jetzt unter Segeln schneller hinaus, und Costigan überprüfte erneut das notdürftig geflickte Loch in der Vorpiek. �Nur ein paar Tropfen Wasser�, sagte er verwundert. �Dicke See hält das natürlich nicht aus. Wie habt ihr das bloß geschafft?� �Was ist schon so ein Leck�, meinte Jonny schnoddrig, �sowas flicken wir doch mit links. Notfalls hätten wir wieder ein neues Schiff aus den Resten gebaut.� �Ja, das glaube ich auch fast�, erwiderte Costigan kläglich. Jonny und ich gingen aufs Achterdeck, wo wir dem Master genauer Bericht erstatteten. Dann erst machten wir uns frisch und gingen an die Arbeit, denn es gab noch eine Menge aufzuräumen. Die Ladung mußte auch wieder umgestaut werden. Erst draußen auf See, als für uns keine Gefahr mehr bestand und die Küste kleiner wurde, ließ der Master zur Stärkung und Feier des Tages ein Fäßchen Rum austeilen. Wir tranken das Zeug an Deck im Stehen, nur Jonny nicht. Der hockte sich mit der Muck in der Hand in den Thronsessel aus Elfenbein und grinste uns an. �Hmm, man fühlt sich nicht schlecht als kleiner König�, meinte er unbekümmert. �Wer, zum Teufel, huldigt mir denn nun?� �Wir können ja einen auslosen�, meinte ich. �Aber nenn dich nur nicht Kawassa-Kauli, der hat nämlich sein Pulver endgültig verschossen.� Alle lachten erleichtert. Als etwas später die Sonne aufging, war von dem Elfenbeinkönig und seinen Kriegern nichts mehr zu sehen. Wir gingen auf Westkurs.

E N D E


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