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Der Doppelgänger

Date post: 04-Jan-2017
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Wladimir Michanowski

Der Doppelgänger

VERLAG KULTUR

UND FORTSCHRITT BERLIN 1970

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Originaltitel: Двойники

Aus dem Russischen von Norbert Randow und Werner Tzschoppe

Gekürzte Fassung Umschlag und Illustrationen: Werner Ruhner

Verlag Kultur und Fortschritt. 108 Berlin. Glinkastrafjc 13-15

10/1970

Lizenz-Nr.: 3-285,169/70 Satz und Druck: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden

Frank Petermann
Schreibmaschinentext
Scanned by Manni Hesse 2007
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Die Wellen rollten aus weiter Ferne heran, als kämen sie hinter dem Horizont hervor, der im Schein der versinkenden Sonne aufleuchtete. Die winzige Insel erzitterte unter den Wel­len. An die einzige Palme gelehnt, die die traurige Landschaft belebte, blickte Arben in die Ferne. Der Wind zauste an seiner weiten grauen Joppe, bewegte die ewig grünen Palmenwedel und jagte davon über die Weiten des Atlantiks. Die Eintönig­keit der Wellen hatte etwas Beruhigendes an sich. Und so stand Arben auf dem felsigen Eiland und beobachtete die entfesselten Naturgewalten.

In den Tropen bricht die Nacht rasch herein. Noch vor einer Minute hätte man selbst kleingedruckten Zeitungstext ohne weiteres lesen können, nun aber krochen die Schatten wie Räuber hinter den Felsen hervor, fielen auf die Lagune, streck­ten sich und verschluckten einander, bis sie schließlich in eins zusammenflössen. Hinter dem Kap tauchte, kaum wahrnehm­bar, ein Kanu in der Dämmerung auf. Myriaden phospho­reszierender Punkte tanzten auf den Wellen, zerteilten sich und verschwanden. Jetzt war es vollends dunkel geworden.

Gut, daß es Sphärofilme gab, mit denen man wenigstens für eine Weile die Vergangenheit wiederbeleben konnte, sei es auch nur ein kleines Teilchen von ihr, ein Molekül. Was konnte schöner sein, als die Gegenwart zu vergessen, sich vollständig von ihr zu lösen - und wäre es auch nur für ein Stündchen - und an nichts, an gar nichts zu denken.

Der Monat der Seligkeit war zu Ende. Der eine Monat, auf den Newmore sich von vornherein festgelegt hatte. Viel­leicht hatte er sich geirrt und die Frist zu kurz angesetzt? Wohl kaum, Newmore irrte sich selten.

Übrigens war ja nichts Schreckliches geschehen. Man mufite nur vorsichtig sein. Wie hatte Newmore damals gesagt? »Aiwa ist dumm und leicht zu täuschen. Man darf ihn nur keine Minute lang vergessen - das ist der ganze Trick."

Nicht vergessen! Als könnte man Aiwa vergessen, wo doch das Leben auf dem Spiel stand!

Arben hatte sich nicht sofort mit dem ungewöhnlichen Vor-

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schlag Newmores einverstandeh erklärt. Er hatte lange ge­zögert und erst ja gesagt, als sein Leben unerträglich ge­worden war. In der von Arben geleiteten Abteilung glückte seit langem kein Versuch mehr. Arben war nervös, und alles fiel ihm aus den Händen. Von allen Seiten drangen Unan­nehmlichkeiten auf ihn ein, grofje und kleine. Er lieft einen teuren Integrator durchbrennen und war bald endgültig mit dem Chef zerstritten. Überhaupt stellte sich heraus, dafi der alte Wilnerton ihm gegenüber voreingenommen war. Arbens Freunde meinten, die meisten Unannehmlichkeiten habe er seinem eigenen schwierigen Charakter zuzuschreiben. Arben hatte in einem medizinischen Nachschlagewerk gelesen, dafi zerrüttete Nerven oftmals von einem schwierigen Charakter herrührten. Als er jedoch Newmore davon erzählte, zog der die Sache wie immer ins Lächerliche.

„Du traust den medizinischen Nachschlagewerken also mehr als den Ärzten?" fragte er Arben.

„Was ist denn Schlimmes dabei?" „Und kurierst dich mit Hilfe von Nachschlagewerken?" Arben nickte. „In diesem Falle riskierst du, an einem Druckfehler zu ster­

ben", erklärte Newmore lachend. „Ist doch einerlei, woran man stirbt!" meinte Arben achsel­

zuckend. Vielleicht hatten die Freunde recht, vielleicht aber auch die

Nachschlagewerke, im Grunde war das belanglos. Plötzlich klickte etwas im Automaten, und kurz darauf

schimmerte es gespenstisch in der Täfelung. Aus dem Dunkel traten Wände hervor. Arben schienen sie enger zusammen­gerückt zu sein als notwendig. Doch er wuftte, dafi das Zim­mer tatsächlich so klein war, ein Standardzimmer in einem kasernenähnlichen Standardhaus.

Weshalb sollte sich die Western Company allzusehr um ihre Angestellten sorgen!

Arben seufzte wie ein Schläfer, der plötzlich, ohne seinen Traum zu Ende träumen zu können, geweckt wurde; er drehte

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sich auf die andere Seite und sah auf die Uhr, obwohl er auch so wußte, dafi es halb elf war.

Er hatte bestimmt richtig daran getan, sich am frühen Mor­gen von der Direktion freigeben zu lassen und den ganzen Tag nicht aus dem Haus zu gehen. Das war auf jeden Fall un­gefährlicher, wenn man sich auch nicht jeden Tag freinehmen konnte. Bald würde der erste Tag seiner neuen Existenz vor­bei sein.

Die Zimmereinrichtung erinnerte in ihrer spartanischen Ein­fachheit an eine Raumschiffkabine vierter Klasse: Es gab nichts Überflüssiges darin. Ingenieur Arben war jedoch ganz zufrieden damit. Ein Klappbett, ein Schreibtisch, eine Zeichen­maschine und ein Sessel, was brauchte er mehr? Dafür hatte er aus dem grofjen Fenster - freilich dem einzigen - eine herr­liche Aussicht auf die Western-Besitzungen. Die Landschaft glich einem Bild, das Arben als Kind gesehen hatte. Es war wohl eine Illustration zu einem wissenschaftlich-phantastischen Roman aus jenen Tagen gewesen, als der Mensch noch nicht einmal den Mond betreten hatte. Der Künstler hatte sich be­müht, eine künftige Mondstadt darzustellen.

Die durchsichtigen Türme des kosmischen Funkdienstes, die bis in die Wolken ragten, wechselten mit bunten Kuppeln ab; Straften liefen nach verschiedenen Richtungen, umsäumt von leuchtenden Sicherheitslinien, und über den schmalen Trot-toiren hingen kybernetische Konstruktionen. Und dann das Versuchsfeld zur Erprobung der von der Western Company gezüchteten Eiweißsysteme! Früher einmal war es Arbens Lieblingsbeschäftigung gewesen, von seinem Fenster aus mit dem Fernrohr die Sprünge und Verrenkungen jener merk­würdigen Mißgestalten zu beobachten, obwohl er wußte, dafi die Direktion das gar nicht gern sah.

Eines Tages hatte Newmore Arben besucht. „Sieh mal, was für eine großartige Aussicht ich habe!" sagte

Arben, als Newmore ans Fenster trat. „Gefällt sie dir?" „Die Fieberphantasie eines verrückten Architekten", er­

widerte Newmore und zuckte die Achseln.

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Dennoch schaute Arben in seiner freien Zeit immer noch gern aus dem Fenster, allerdings ohne Fernrohr, denn das hatten die Sicherheitsbeamten längst konfisziert.

Er griff nach dem Vorhang, zog ihn aber nicht zurück. Lie­ber nicht! Eine Weile blieb er so stehen und blickte auf die gelbe, durchsichtige Plastfolie, mit der die Zimmerwände tape­ziert waren. Arben stand noch immer unter dem Eindruck des Sphärofilms, der vor zwei Sommern am Atlantik gedreht wor­den war, wo er damals seinen Urlaub verbracht hatte. Eine glückliche Zeit! Damals wußte er noch nicht, was Nerven sind.

Als sich Arben vom Fenster abwandte, erinnerte ihn das blinde Auge des Videofons daran, daß er Linda heute noch nicht gesehen hatte.

Sollte er sie anrufen? War es nicht schon zu spät? Arben zögerte, ging dann aber doch zum Apparat und

wählte die Nummer. Linda hatte seinen Anruf offenbar schon erwartet.

„Erstaunlich, daß du dich doch noch entschlossen hast, mich anzurufen."

„Ich hatte heute sehr viel zu tun", begann Arben unbestimmt. »Was denn?" fragte Linda finster. »In meiner Abteilung. Lauter Berechnungen." Er ver­

stummte. „Verstehe. Die Geheimnisse des Hofes von Madrid!" .Linda!" „Schon gut. Ich bin nicht scharf auf die Geheimnisse der

Western Company. Hast dich also trotzdem entschlossen, dich zu entschuldigen?"

»Ich sage dir doch, daß ich den ganzen Tag . . ." »Ja, ich hab's verstanden, du hattest zu tun. Wolltest du das

sagen?" Arben nickte. »Und du bist so übermüdet, du Ärmster, daß du mich nicht

erkannt hast, als du ganz dicht an mir vorbeigingst? Nicht ein­mal grüßen konntest du!" -

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„Du mußt etwas durcheinanderbringen, Linda. Ich bin heute überhaupt nicht draußen gewesen."

„Dich verwechsle ich wohl kaum mit jemand anderem, mein Lieber. Übrigens habe ich deine Launen satt. Einmal bist du zärtlich, dann wieder beleidigt und sagst eine ganze Woche kein Wort. Wenn es deswegen ist, weil ich vorgestern mit Newmore im Kino war, dann finde ich das einfach dumm.

„Was heißt hier dumm?" entgegnete Arben. „Laß die Wortklauberei", erboste sich Linda. „Dein Beneh­

men ist einfach dumm. Erstens hast du gewußt, daß er mich eingeladen hatte. Zweitens .. ."

„Du meine Güte, daran habe ich überhaupt nicht gedacht", unterbrach Arben sie.

„Du denkst überhaupt in letzter Zeit kaum noch an mich." Beide schwiegen. „Sehen wir uns morgen?" fragte Arben. „Nach fünf hab ich Zeit." „Ausgezeichnet. Also um sechs. An der alten Stelle", schlug

er vor. „Komm nicht zu spät", entgegnete sie und drohte ihm. „Im

Park spielt übrigens das Elektronenorchester."

Aus der Western Company gelangte Arben ohne Zwischen­fälle mit der U-Bahn bis zur sogenannten grünen Zone.

Er mochte diesen kümmerlichen, von der Stadtluft verpeste­ten Park. Hier hatte er viele schöne Stunden verbracht, wenn er sonntags mit Zufallspartnern Schach gespielt hatte. Um sie herum standen Schachbegeisterte, die sich gewöhnlich in zwei Parteien teilten; Wetten wurden abgeschlossen, kurz, es war wie beim Pferderennen. Auf diesem Fleckchen kamen inter­essante Typen zusammen: pensionierte Raumschiffkapitäne, denen ihr Beruf über alles ging, verkrachte Existenzen ohne bestimmte Beschäftigung, bummelnde Jugendliche und Leute, die ganz uneigennützig ins Schachspielen verliebt waren. Es gab auch nicht wenige, die von der Automatisierung erbar­mungslos aus der Bahn geworfen worden waren und denen

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nur eins geblieben war - sehr viel Freizeit. „Die Trümmer und der Abschaum der Großstadt", wie Newmore sagte, den Arben einmal mit hierhergeschleppt hatte.

Linda erwartete Arben am Eingang. Sie aß eilig ihr Eis zu Ende und hakte sich bei ihm ein.

Hier mit einer Dame zu erscheinen war nicht üblich, und so streifte Arben die Menge, die sich um die Spieler scharte, nur mit einem neidischen Blick.

Linda hing an seinem Arm und plapperte in einem fort. „Trotzdem bist du es gewesen", sagte sie, zum gestrigen

Videofongespräch zurückkehrend, „in der grauen Joppe -niemand außer dir trägt hier in der Stadt so eine. Aber un­wahrscheinlich bleich warst du. Bist du etwa krank?"

„Wirklich, Linda, ich bin gestern gar nicht draußen gewesen. Wo hast du mich denn gesehen?" fragte Arben etwas inkonse­quent, da ihm ein plötzlicher Verdacht gekommen war.

„Jetzt haben Sie sich ertappen lassen, Mister", spottete Linda.

Langsam näherten sie sich der Freilichtbühne, wo das Kon­zert für Elektroneninstrumente stattfinden sollte.

„Aus dem Warenhaus bin ich in den Automaten essen ge­gangen. In den neuen, an der Ecke der Zehnten Avenue, wo das .Panorama' ist."

Arben nickte. „Natürlich weißt du's!" bemerkte Linda. „Du bist ja direkt

auf mich zugekommen. Und hast mir noch so einen dreisten Blick zugeworfen. Ich wollte dich ansprechen, aber da warst du schon in der Menge verschwunden."

„Und wie war er angezogen? Der, den du getroffen hast?" „Wie du angezogen warst?" fragte Linda, das Du betonend.

„Ich habe es doch schon gesagt - wie immer." „Erinnere dich an alle Einzelheiten, das ist sehr wichtig." Linda dachte nach. „ „Ist dir nichts Besonderes aufgefallen?" drängte Arben. „Vielleicht die Schuhe . . . " „Was war mit den Schuhen?" fragte Arben lebhaft.

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„Sie hatten Saugknöpfe. Wie man sie im Raumschiff an­zieht, um bei Schwerelosigkeit nicht durch die Kajüte zu tau­meln."

„Hast du auch nichts verwechselt?" „Ganz bestimmt nicht", erwiderte Linda gekränkt. „Ich

wollte dich noch fragen, warum du dich so maskierst. Schließ­lich ist doch das Automatenrestaurant auf der Erde und nicht im Kosmos. Und ausgesehen hast du wie . . ." Linda suchte nach Worten. „Du warst so blaß, daß ich ganz betroffen war. Sagst du mir nun endlich, was das zu bedeuten hat?"

„Nichts", murmelte Arben. „Wenn du nicht reden willst, dann laß es bleiben", sagte

Linda und preßte die Lippen zusammen. Sie kamen noch rechtzeitig zum Konzert - gerade hatte es

zum dritten Male geklingelt.

Die Bühne bot einen ungewöhnlichen Anblick. Weder Musi­ker waren zu sehen noch Musikinstrumente, die sonst immer unter den Strahlen der künstlichen Beleuchtung blinkten. Mitten auf der Bühne stand ein Tischchen mit einem Ma­gnettongerät. Das war alles, abgesehen von den Verstärkern.

Der erste Akkord klang wie ein Seufzer. Menschen gab es in dem Tongemälde der zu den Sternen fliegenden Rakete nicht - das hatte Arben im Programm gelesen. Trotzdem wurde er den Gedanken nicht los, daß so nur ein lebendiges Geschöpf seufzen könne. Die eigenartige, schrille Melodie for­derte zunächst zum Protest heraus. Dann aber schien es Arben, als fliege er plötzlich durch den Weltraum. In seiner Jugend hatte er davon geträumt, Kapitän eines Raumschiffes zu wer­den. Der Traum war nicht in Erfüllung gegangen. Eine Kom­mission hatte herausgefunden, daß Arben zu empfindliche Nerven habe, und so konnte er nur ein technisches College besuchen. Einfacher Ingenieur in der mächtigen, weitver­zweigten Western Company - das war alles, wozu er es ge­bracht hatte.

Plötzlich, wie abgerissen, verstummte die Musik. Arben

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kehrte langsam in die Wirklichkeit zurück. Linda saß neben ihm, teilnahmslos und gelangweilt.

„Wir wären besser nicht hierhergegangen", sagte sie, müh­sam ein Gähnen unterdrückend. „Offen gesagt, ich habe von dieser Musik der Zukunft mehr erwartet. Was schaust du mich so an? Ein sinnloses Aneinanderreihen von Tönen und weiter nichts."

Langsam bewegten sie sich durchs Gedränge zum Ausgang. „Gib zu, dafi du auch nichts verstanden hast", flüsterte sie. Arben lächelte. „Newmore hat gesagt, dafi man Musik nur

bei aktiver Anteilnahme richtig verstehen kann. Wenn er Musik hört, so reichert er sie mit eigenen Bildern, schwierigen Gedanken und dergleichen an."

„Ich sehe, dafi dir der Umgang mit Newmore von Nutzen war", bemerkte Linda.

Arben blickte sich jetzt weniger oft um als vor dem Kon­zert. Das, was er innerlich am meisten gefürchtet hatte, war nicht eingetreten, und so lieft seine Angst allmählich nach.

Sie hatten die grüne Zone hinter sich gelassen und gelangten ins Labyrinth der Straßen, die so eng und staubig waren wie vor hundert Jahren.

„Ich möchte nicht mit der U-Bahn fahren, dort ist es mir zu schwül", sagte Linda, während ihr Finger über eine Spiegel­glasscheibe glitt. Umgeben von flimmernder Plastfolie, stand im Schaufenster ein Ungeheuer, das einen Skaphander an­probierte - eine Reklame der allgegenwärtigen Western Com­pany. „Ein wunderbarer Abend. Wollen wir nicht zu Fuß gehen?"

„Ich hab keine große Lust dazu", sagte Arben unbestimmt. Er erinnerte sich an die Worte seines Wohltäters Newmore, wonach er am meisten den freien Raum zu fürchten habe, und seine früheren Ängste überkamen ihn wieder.

„Dann nimm ein Taxi", sagte Linda, die wußte, daß im Augenblick keins frei war.

„Versuchen wir's!" Arbens Stimme klang heiter. Sie gingen zur Haltestelle, wo bereits viele Leute standen.

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Jede Sekunde rollten, lautlos auf Luftkissen gleitend, blit­zende Autos heran. Doch die Wagen konnten die Wartenden nicht alle aufnehmen. Immer mehr Leute stellten sich an.

Arben betrachtete die Schlange und begab sich dann lässig und selbstbewußt nach vorn. Linda blieb einige Schritte zu­rück. Sie war auf einen Skandal gefaßt, doch nichts dergleichen geschah. Die Leute machten Arben ruhig Platz, und schon hielt vor ihnen ein Taxi.

„Wer ist der nächste?" fragte der Selbstfahrer automatisch, während sich die Tür öffnete.

Sie stiegen ein. „Ich habe gar nicht gewußt, daß du hypnotisieren kannst",

sagte Linda. „Wie sich herausstellt, ist das nicht schwierig. Übrigens

habe ich gar nicht hypnotisiert. Ich war mir lediglich sicher, daß ich ein Taxi nehme."

Genau an der angegebenen Stelle hielt der Wagen. Arben zählte einige Geldstücke ab und steckte sie in den Zahlschlitz; erst danach öffnete sich die Tür.

„Euer Gnaden werden immer geheimnisvoller", sagte Linda. Sie glaubte fest an Hypnose, weswegen sie sich über das Kunst­stück Arbens nicht allzusehr wunderte. „Die gestrige Begeg­nung halte ich für einen netten Scherz."

An der Haustür drehte sich Linda noch einmal um und lächelte Arben zu.

Nach einem Blick auf sein dünnes Pistolenportemonnaie, das mit Münzen schoß, lief Arben rasch zur nächsten U-Bahn-Station. Jetzt konnte er sich endlich seinen unfrohen Gedanken überlassen. Wen hatte Linda gestern getroffen? Sollte das wirklich Aiwa gewesen sein?

Im Hausflur herrschte trübes Halbdunkel. Der Eingang des alten Hauses wurde von einem einzigen Lämpchen nur spär­lich erleuchtet. Als Linda die Treppe hinaufstieg, drehte sie sich plötzlich unter dem Zwang eines unerklärlichen Gefühls um. Von unten folgte ihr eine Gestalt, deren Umrisse sich im Halbdunkel verloren. Linda schaute angestrengt hin und er-

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kannte Arben, von dem sie sich eben erst getrennt hatte. Er war bis zur Ecke gegangen und dort im U-Bahn-Schacht ver­schwunden; das hätte sie beschwören können. Jetzt aber folgte er ihr auf der Treppe. Er sah seltsam aus - genau wie gestern, als sie ihn im Speiselokal getroffen hatte. Linda wollte etwas sagen, doch die Stimme gehorchte ihr nicht. Arben kam mit teilnahmslosem Blick und bleichen Wangen die Treppe her­auf. Linda erstarrte. Die Gestalt kam geradewegs auf sie zu.

„Arben! Was ist geschehen?" flüsterte sie endlich, als nur noch zehn Stufen zwischen ihnen lagen.

Ohne zu antworten, ging Arben weiter, einen Fuß vor den anderen setzend, wie eine aufgezogene Puppe.

Linda trat zur Seite, und Arben ging an ihr vorbei; dann machte er plötzlich eine scharfe Wendung und verschwand. Linda schien es, als wäre er durch die Wand gegangen. Viel-

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leicht hatte er auch eine Tür geöffnet. Nein, hier war keine Tür, nur die abgeschabte, von Feuchtigkeit zerfressene Wand des Treppenhauses. Mit dem Finger berührte sie einen großen grauen Fleck. Dann preßte sie die Faust vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien.

In ihrem fünfundzwanzigjährigen Leben hatte Linda nie etwas Ähnliches erlebt. Erschüttert blieb sie noch lange auf dem Treppenabsatz stehen und verlor sich in Rätseln.

Anfangs hatte Newmores Vorschlag Arben zum Lachen ge­bracht.

„Du willst mich wohl zum Narren halten?" sagte er. Trotz seiner Jugend war Newmore bei allen Physikern

wegen seiner umwerfenden Ideen bekannt. Ehrgeizig und be­gabt, hatte er sich rasch unter seinen Kollegen hervorgetan. Arben wußte, daß sein Freund Autorität genoß. Was Newmore ihm jedoch an jenem Abend vorschlug . . .

»Entscheide dich", sagte Newmore und schob den vollen Aschenbecher zur Seite. „Du wirst eine von allen Komplexen befreite Persönlichkeit sein."

„Um welchen Preis?" „Kein Preis ist zu hoch für ein solches Glück." „Nehmen wir einmal an, ich sei einverstanden. Wieviel Zeit

braucht man, um Aiwa so einzustimmen, wie du sagst?" „Ich glaube, ich schaffe es in einem Monat. Heute schon

könnte ich damit anfangen." „Gesetzt den Fall, alles verläuft so, wie du sagst. . ." Arben

zögerte. „Wenn Aiwa mich aber trotzdem findet?" „Aiwa ist dumm, vergiß das nicht. Sein logisches Denk­

schema ist primitiv. Übrigens kann nicht einmal von einem Schema die Rede sein, sondern lediglich von einer Resonanz­einstimmung. Deshalb kannst du ihm leicht ausweichen. Ver­suche, stets ausgeglichener Stimmung zu sein, dann stumpft Alwas Gefühl ab."

„Aber wenn wir uns doch einmal begegnen?" meinte Arben leise.

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„Etwas mußt du schließlich bezahlen für das, was du er hältst."

Arben dachte nach. Seine Phantasie gaukelte ihm verlockende Bilder vor. New­

mores Anerbieten versprach ihm ein paradiesisches Leben im Vergleich zu seinem jetzigen. Arbens zerrüttete Nerven wür­den sich in Stahlseile verwandeln. Das hatte Newmore ver­sprochen, und Arben glaubte ihm.

„Und wie sieht das alles vom Standpunkt des Physikers aus?" fragte Arben. „Versuche nicht, mich hinters Licht zu füh­ren. Als Ingenieur verstehe ich auch einiges."

„Eine exakte Theorie habe ich noch nicht entwickelt. Aber das ist letzten Endes gar nicht so wichtig. Es geht, kurz ge­sagt, darum, daß sich in deinen Nervenzellen, den Neuronen, wie bei jedem Neurastheniker, sehr heftige und stabile Bio­ströme gebildet haben. Bislang war es unmöglich, sie nach­zuweisen, so gering sind sie. Mir ist es gelungen. Du mußt gebremst werden, die Ströme, die deine Energie paralysieren, müssen ausgeschaltet werden."

„Ist das möglich?" „Mein Aiwa besteht, wie ich dir erzählt habe, aus Anti­

materie. Es ist mir gelungen, dieses System aus jenen Anti­teilchen zu konstruieren, die im Beschleuniger von Brook-haven gewonnen worden sind. Alwas Dichte ist minimal. Grob gesagt, er besteht fast nur aus einem Vakuum. Etwa wie eine dünne Nebelwolke."

„Zeigst du mir Aiwa?" „Nur, wenn du dich einverstanden erklärst, ihm deine Män­

gel abzutreten." „Wir reden nun schon den ganzen Abend, aber für mich

liegt vieles noch in dem gleichen Nebel, aus dem dein Aiwa gemacht ist. Warum kann er zum Beispiel nicht mit dem ersten besten Passanten auf der Straße zusammenstoßen und zerstrah-len?"

„Sehr einfach: Aiwa ist von einem Schutzfeld umgeben", er­klärte Newmore, einen Rauchring blasend.

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.Warum muß ich ihm dann ausweichen?" Arben betonte das Ich.

.Du - das ist etwas anderes. Aiwa wird dein Doppelgänger sein, genauer - dein Antidoppelgänger. Das heißt. . . Hast du mal gesehen, wie ein Magnet Eisen anzieht? Genauso wirst du Aiwa anziehen. Das Schutzfeld verschwindet, wenn sich einer von euch dem anderen nähert, es verflüchtigt sich. Da ist nichts zu machen." Newmore breitete die Arme aus.

Der Ingenieur ließ den Kopf hängen. „Du hast nichts zu befürchten, Arben!" rief Newmore.

„Schließlich ist Aiwa kein Mensch, kein Verfolger, kein Feind und so weiter. Er ist nichts weiter als ein Wölkchen, das einen unbewußten Drang nach dir verspürt. Aiwa übernimmt deine ganze Unausgeglichenheit. Er wird dein Sancho Pansa sein, dein treuer Schildknappe, auf dessen schwankende Schultern du das Gepäck legst, das deinen Geist knechtet. Aiwa ist ein Schwamm, der . . . "

„Kann man ihn denn nicht einsperren?" warf Arben ein. .Dann brauchte ich keine zufällige Begegnung zu fürchten."

„Das wäre dasselbe, als sperrte man dich ein", erklärte New­more. „In dem Raum, in dem du dich bewegen kannst, hat auch Aiwa das Recht, sich frei fortzubewegen. Wenn Aiwa in eine Zelle gesperrt wird, kannst auch du dich nur in einem Raum bewegen, der nicht größer ist als diese Zelle. Alles andere wäre für dich eine verbotene Zone. Nur wenn Aiwa die ganze Stadt offensteht, dann steht sie auch dir offen."

Arben hüstelte. „Wie stellst du dir das übrigens praktisch vor, Aiwa in eine

Zelle zu sperren?" fragte Newmore. .Genauso, wie man Verbrecher ins Gefängnis sperrt." „Da muß ich dich enttäuschen. Aiwa mit seiner geringen

Dichte kann durch Wände hindurchgehen. Nein, nicht durch jede Wand", fügte er hinzu, als er Arbens abwehrende Geste bemerkte. .Ich gebe dir ein paar ionisierte Plastfolien, mit denen du die Wände deines Zimmers bekleben kannst. Na, und im Freien . . ."

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„Ich hab's!" sagte Arben, und sein Gesicht strahlte. „Ich lasse mir einen Anzug aus Plast anfertigen." Er sah Newmore an und verstummte.

Newmore schüttelte langsam den Kopf. „Ich weift, Plast ist durchsichtig", fuhr Arben unsicher fort,

„aber das ist nicht weiter schlimm. Schlimmstenfalls könnte man auch ein Anzugfutter aus Plast machen."

„Daraus wird nichts, Arben", sagte Newmore, und aus seiner Stimme hörte Arben deutlich Bedauern heraus. „Plast besitzt sein Schutzvermögen nur, wenn er in einen ganz bestimmten festen Zustand gebracht wird. Einen Anzug kann man daraus nicht machen. Im besten Falle einen steifen Skaphander, wie ihn in alten Zeiten die Tiefseetaucher anhatten."

„Man könnte aber ein Futter herstellen aus lauter kleinen Platten, die man miteinander verbindet."

„Plast kann man nicht zerkleinern, weil jede Platte im Grunde ein einheitliches Kettenmolekül darstellt."

„Na und? Ein Molekül kann man spalten." „Aber so begreif doch endlich!" rief Newmore unwillig.

„Wie oft soll ich es noch wiederholen? Für alles muß gezahlt werden. Nichts auf dieser Welt ist umsonst."

Zweifellos wäre Newmore bereit gewesen, den unerhörten Versuch an sich selbst auszuprobieren, wenn sich der Alpha­rhythmus seines Großhirns für diesen Zweck geeignet hätte. Newmore hatte sich schon des öfteren furchtlos gezeigt, nicht nur gegen andere, sondern auch gegen sich selbst. Wenn eine Sache erst einmal bis zum Experiment gediehen war, dann war er ganz besessen von seiner Idee, und keinerlei Überlegungen konnten ihn dann noch zurückhalten. Hatte er im Verlaufe seiner nach außen hin glänzenden, in Wirklichkeit aber sehr schweren Karriere sein eigenes Leben nicht oftmals aufs Spiel gesetzt? Selbstverständlich aus freien Stücken. Der Erfolg zeigte sich immer erst später. Die Hauptsache war jetzt, ein Modell zu schaffen, das alle menschlichen Mängel in sich auf­saugen konnte.

Das war überaus schwierig. Hoffentlich wurde er damit zu-

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nächst wenigstens im Prinzip fertig. Danach würde er über­legen, wie er den Glücklichen außer Gefahr brächte, der durch seinen ziellos umherschweifenden Doppelgänger von allen Plagen befreit worden war. Mit anderen Worten, wie er den Preis für das Glück herabsetzen könnte.

Newmore trat auf Arben zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Du hast eine einmalige Chance", sagte er leidenschaftlich. „Du wärst der letzte Idiot, schlügest du sie aus."

»Vielleicht suchst du dir doch jemand anders?" meinte Arben unsicher.

„Aufjer dir ist niemand dazu geeignet", beharrte Newmore kopfschüttelnd. „Weißt du, was Bioresonanz ist? Ein überaus seltenes Zusammentreffen, das unter mehreren Millionen, wenn nicht gar Milliarden Fällen nur ein einziges Mal vor­kommt. Und daß deine Nerven zerrüttet sind, ist ebenfalls von Vorteil: Von dir kann man leicht Bioaufzeichnungen machen. Aber wenn du nicht willst - es muß nicht sein."

»Gut, ich bin einverstanden", stimmte Arben mit dem Mut der Verzweiflung zu.

„Warum nicht gleich so? Gehen wir." Sie durchquerten das Labor und blieben vor einer schmalen

Panzerplatte stehen, die fast eins war mit der Wand und Arben an die Tür eines Safes erinnerte.

„Für Aiwa sind das alles Bagatellen." Newmore klopfte gegen die gewölbte Oberfläche. „Er geht durch Stahl wie durch Butter. Da kein anderer Raum da war, mußte vorläufig das Lager für radiologische Instrumente leergeräumt werden. Je weniger Menschen ihn jetzt sehen, um so besser."

„Und wenn er wegläuft?" Arben berührte die Tür und merkte, wie kalt das Metall war.

„Er läuft nicht weg. Ich hab dir doch gesagt, daß ich etwas gefunden habe, was ihn zügelt - ionisierten Plast. Eine Folie daraus ist für ihn ein unüberwindliches Hindernis. Deswegen habe ich von innen alles mit so einer Folie beklebt. Du wirst es selbst sehen. Komm, tritt ein, hab keine Angst. Oder fürch-

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est du zu explodieren? Aiwa und du, ihr seid euch noch fremd, und vorläufig bist du ihm gleichgültig."

Arben betrat hinter Newmore das kleine, fensterlose Zim­mer. Die Wände waren gleichmäßig beleuchtet - die durch­sichtige gelbe Plastfolie absorbierte nicht die geringste Hellig­keit. Arben bemerkte, dafi kein einziger Gegenstand im Zim­mer einen Schatten warf. Rasch blickte er sich um. Eine un­verständliche Apparatur war mit Leitungen von Sendeanlagen bedeckt wie ein alter Kahn mit Wasserpflanzen. Auf einem Dreifuß stand ein alter Katodenoszillograph. Aus einem Nickelhahn an der Wand tropfte Wasser in ein Waschbecken. Daneben hing an einem Nagel ein Handtuch. Arben betrach­tete alles sehr aufmerksam, konnte Aiwa jedoch nicht ent­decken.

„Sieh nur genau hin", sagte Newmore und deutete auf die gegenüberliegende Ecke.

Erst jetzt bemerkte Arben einen seltsamen, halbdurchsichti­gen Gegenstand, eine Art vertikale Wolke in Menschen­größe.

„Ein gewöhnliches Kyberschema", warf Newmore lässig hin, „nur auf der Basis von Antimaterie. Hab keine Angst, Aiwa ist von einem Schutzfeld umgeben."

Das Wölkchen erinnerte entfernt an eine menschliche Ge­stalt. Kaum sichtbare Arme hingen willenlos am Rumpf her­ab, der Kopf war geneigt. Durch den Körper hindurch war deutlich die Zimmerwand zu sehen.

„Eine gewöhnliche Imitation menschlicher Formen, nichts weiter", erklärte Newmore. „Ein Tribut an die Konvention. Ich hätte Aiwa ebensogut eine andere Gestalt geben können. In dieser Form aber wird er es leichter haben, in der Menge unterzutauchen; er muß ja durch die Straften gehen, damit du nicht deine Bewegungsfreiheit einbüßt."

Dem aufgeregten Arben kam es vor, als zucke das Wölk­chen jedesmal zusammen, wenn Newmore den Namen Aiwa aussprach. Doch wahrscheinlich schien ihm das nur so.

„So hätte ich ihn mir nicht vorgestellt", sagte Arben leise.

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„Der Doppelgänger sollte wohl so aussehen wie das Origi­nal?" meinte Newmore verständnisvoll. Er drehte den Wasser­hahn fest zu und erklärte: „Aiwa wird dir ähnlich v/erden, so­bald ihr biologischen Funkkontakt aufnehmt. In einem Monat, wenn er sozusagen auf die Welt kommt, wird man euch nicht mehr voneinander unterscheiden können."

„Aber er ist doch durchsichtig." „Kleinigkeit. Ich statte ihn mit einer sichtbaren Oberfläche

aus, und er bekommt einen erstklassigen Maßanzug. Selbst­verständlich wird das nur ein Lichteffekt sein. Noch besser aber wäre es, ihn genauso wie dich anzuziehen. Von der Joppe bis zu den zerknautschten Hosen."

„Wie kann sich Aiwa fortbewegen?" „Mit jeder beliebigen Geschwindigkeit. Selbstverständlich

ohne die Einsteinsche Lichtkonstante zu überschreiten. Ein Auto oder ein Flugzeug zum Beispiel könnte er leicht über­holen."

„Wenn Aiwa auf der Straße ein Auto überholt, lenkt er so­fort die Aufmerksamkeit auf sich", meinte Arben besorgt.

„Schlaukopf", sagte Newmore und klopfte ihm auf die Schul­ter. „Daran habe ich auch schon gedacht. Wir versehen deinen Bruder mit einem Geschwindigkeitsbegrenzer, damit er nicht so auffällt. Ich glaube, drei Meilen in der Stunde sind genug, nicht wahr?"

„Sogar mehr als genug", erwiderte Arben, dem das Wort „Bruder" nicht gefiel, trocken. Ein todbringender Bruder war doch eine recht zweifelhafte Errungenschaft. Was aber konnte man machen, wenn sich Newmores verführerisches Projekt ohne Bruder Aiwa nicht realisieren ließ?

„Zu sehr begrenzen darf man die Geschwindigkeit Alwas auch nicht. Schließlich wird dir automatisch die gleiche Be­grenzung auferlegt. Ich habe noch etwas anderes bedacht", fuhr Newmore fort. „Wenn sich Aiwa durch die Straßen be­wegt, wird er mit seinen Beinen Schritte imitieren, um sich durch nichts von anderen Fußgängern zu unterscheiden."

„Das hat wenig Sinn. Was ist, wenn er sich plötzlich in die

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Lüfte erhebt und trotz seiner Schrittbewegungen über dem Bürgersteig oder sogar über den Dächern dahinfliegt?"

„Du hast wahrhaftig die Weisheit mit Löffeln gegessen!" spöttelte Newmore. „Ich werde an Alwas Schuhe Spezialsaug­knöpfe anbringen, damit er sich nicht von der sündigen Erde löst. Übrigens sind diese Saugknöpfe Versuchsmuster von dei­ner unvergleichlichen Western Company. Ziemlich gute sogar. Sie halten Belastungen bis zu einer Tonne aus, wiegen aber keine viertel Unze. Du begreifst sicherlich, daß ich sie Alwas Erfordernissen anpassen mußte - Schuhe und Saugknöpfe be­stehen ebenfalls aus Antimaterie."

Im Zimmer wurde es still. „Sieh ihn dir an, sieh genau hin", brach Newmore das

Schweigen. „Du wirst Aiwa nie wiedersehen, es sei denn durch deine eigene Schuld."

Arben, der ohnehin kein Auge von dem erstaunlichen Wölk­chen gelassen hatte, blickte jetzt Newmore an, der jedoch nichts weiter hinzufügte.

Als sie endlich fortgingen, veränderte sich die menschen­ähnliche halbdurchsichtige Wolke nicht im geringsten.

„Warum sagst du, ich würde Aiwa nie wiedersehen?" fragte Arben, als sie wieder im Labor angelangt waren. „Ich muß ihn doch, wie du selbst sagst, noch einen ganzen Monat lang ausbilden. Du hast zwar nicht recht erklärt, was das bedeu­tet . . ."

„Vielleicht sollte man besser sagen, du hast meine Erklärun­gen nicht recht verstanden?"

„Von mir aus auch so", stimmte Arben zu. „Wie denn soll­ten Lehrer und Schüler einander nicht zu Gesicht bekommen?"

„Aiwa genügt es, wenn du dich nicht weiter als zwanzig Meilen von ihm entfernst, das heißt, wenn du die Stadt nicht verläßt. Sobald ich Alwas Empfänger auf deine Frequenz schalte, verwandelt sich Ingenieur Arben für ihn in eine mäch­tige Funkstation, genauer, in eine Kolonie von Radiozellen, die alle lautstark auf ihrer Welle funken. Dein Bruder wird mühelos aus der Ferne alle Informationen kollationieren, die

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in deinen Zellen aufgezeichnet sind. Du kannst inzwischen ruhig deinen Angelegenheiten nachgehen. Ich betone ruhig, so ruhig wie nie zuvor. Denn sobald Aiwa eingeschaltet wird, glaubst du, eine schwere Last abgeworfen zu haben. Aiwa nimmt, wie ich es versprochen habe, allmählich deine ganze nervliche Anspannung von dir. Hast du dich mal im Spiegel überzeugt, was jetzt schon aus dir geworden ist?"

»Wozu brauchst du eigentlich mein Einverständnis? Du wärst doch ausgezeichnet ohne das ausgekommen."

»Du irrst", erwiderte Newmore. »Für mich ist es äußerst wichtig, daß du keinen inneren Widerstand leistest. Das würde nämlich den Prozeß der Informationskollationierung entstellen und trüben."

Sie gingen zur Tür. »Ich zerlege dein Wesen gewissermaßen in zwei Teile", sagte

Newmore zum Abschied. „In zwei Hälften. Die bessere Hälfte lasse ich dir. Die schlechtere projiziere ich auf Aiwa. Er wird deine Unausgeglichenheit übernehmen, deine ewige Nervosität und deine unmotivierten Zornesausbrüche - übrigens kennst du dich vorläufig noch besser als ich und kannst meine Auf­zählung mühelos vervollständigen. Alles, was du sehnlichst loswerden möchtest, geht auf Aiwa über. Du wirst das Leben in vollen Zügen genießen. Wenn du dich ins Bett legst, wirst du augenblicklich einschlafen, und dein Schlaf wird so tief sein wie der Marianengraben. Natürlich mußt du dafür einen Preis zahlen. Zwar wirst du herrlich und in Freuden leben, aber vielleicht nicht so ganz . . . Doch geht es darum? Aiwa, taub, blind und ohne Geruchssinn, wird inzwischen durch die Straßen irren und dich, seinen Antipoden, suchen. Wenn er seine end­gültige Form angenommen hat und äußerlich genauso aussieht wie du, verstärkt sich sein Schutzfeld - dafür kann ich sorgen. Deshalb werden deine Funksignale kaum durch den Magnet­panzer in sein Inneres dringen. Du kannst ruhig leben und brauchst nichts zu befürchten. Wenn du aber deinen Lebens­rhythmus verletzt, dich aufregst oder für etwas begeisterst, dann strahlst du intensivere Signale aus als zuvor, und Aiwa

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kann sie auffangen. Dann wird es ihm nicht schwerfallen, dich zu finden, das mufit du verstehen. Und noch eins", Newmore sah Arben müde an, „wenn Aiwa frei durch die Straften spa­ziert, ist es nicht ausgeschlossen, dafi er deinen Bekannten häufiger begegnet als anderen Leuten: Sie wirken auf ihn in gewisser Hinsicht als Köder, weil jeder deiner Bekannten deine Biowellen empfängt und sie wieder ausstrahlt, so wie der Mond fremdes Licht reflektiert."

„Also ist auch für sie . . . " „Nein", unterbrach ihn Newmore, „für sie ist die Begegnung

mit Aiwa völlig ungefährlich - er wird nur auf dich ein­gestimmt sein."

Spät am Abend verließ Arben Newmore. Vom Regen ge­waschen, glänzte der Bürgersteig wie ein schwarzer Spiegel. Nur ab und an kamen Passanten vorüber, die sich am feuchten Geländer festhielten. Sie waren in Regenmäntel gehüllt und sahen in dem spärlichen Licht der Straßenlaternen alle gleich aus. Arben betrat nicht das Förderband; bis zur U-Bahn-Sta­tion wollte er laufen. Er schritt vorsichtig aus, als trüge er ein gefülltes Gefäß auf dem Kopf und fürchte sich, etwas zu ver­schütten. Er wußte, daß Newmore den Dechiffrator sofort ein­geschaltet hatte, nachdem er das Labor verlassen hatte, und daß jetzt seine, Arbens, Erb- und sonstige Informationen wie ein dünnes Rinnsal in Alwas Biogedächtnis einströmten. Arben reckte sich in den Schultern. Er fühlte sich heute besser als in den letzten Tagen.

„Es sieht so aus, als spaltete ich mich schon in einen Plus-und einen Minuspol", murmelte er vor sich hin.

Seit einiger Zeit erkannten die Mitarbeiter Arben. kaum wie­der. Dabei hatte er sich äußerlich gar nicht sehr verändert, nur sein Gang war fester geworden, und er lief nicht mehr so gebückt.

Die Arbeit ging ihm flott von der Hand. Er konnte ohne fremde Hilfe die kompliziertesten Berechnungen anstellen, wie sie nicht einmal die „Universal" hätte lösen können. Außerdem

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konstruierte er in seiner Abteilung eine Analogieapparatur, auf die der Auftraggeber - die Polizeiverwaltung - schon über ein Jahr vergeblich gewartet hatte. Die Polizeiverwaltung war übrigens ein wichtiger Kunde der Western Company. War es da verwunderlich, dafi eines Tages der Chef selbst über die Erfolge von Arbens Abteilung sprach? Der alte Wilnerton war so gerührt, dafi er Arben eine Prämie in Höhe eines Drei­monatsgehaltes überreichte.

Dabei wufite niemand, dafi Arben in tausend Ängsten schwebte, dafi er ein Einsiedlerleben führte (übrigens war er auch früher nicht gerade gesellig gewesen) und seine Zimmer­wände aus irgendeinem Grunde sorgfältig mit billigem Plast tapeziert hatte.

An jenem Abend, als sich Arben nach dem Elektronenkon­zert von Linda verabschiedet hatte, kam er sehr niedergedrückt nach Hause. Allem Anschein nach hatte sich Linda nicht geirrt. Sie war Aiwa begegnet. Newmore hatte also seine Arbeit be­endet und Aiwa freigelassen. Was würde nun werden? Wie sollte Arben die Begegnung mit seinem negativen Pol ver­meiden? Ständig in seinem Zimmer hocken? Alle Labors der Abteilung mit ionisiertem Plast tapezieren lassen? Wie sollte er das begründen? Nein, so hatte er sich seine Zukunft nicht vorgestellt.

Gleich nachdem Arben aus dem Konzert nach Hause gekom­men war, hatte er das Videofon ausgeschaltet und seitdem nicht wieder benutzt. So fühlte er sich ruhiger. Linda würde be­stimmt auf einem Rendezvous bestehen.

Schlafen konnte er neuerdings sehr gut. Dafür ging er mög­lichst selten auf die Strafte, nur im äußersten Notfall. Bis jetzt hatte Aiwa ihn unbehelligt gelassen, von der Begegnung mit Linda abgesehen. Trotzdem hatte sich Arben das „Leben ohne Nerven" völlig anders vorgestellt. Eines Abends steckte er in Gedanken den Stecker des Videofons in die Dose. Der Bild­schirm leuchtete plötzlich auf wie ein riesiges Auge. Wer konnte ihn um diese Zeit anrufen? Kurz darauf sah Arben Lindas erregtes Gesicht.

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«Arben, ich rufe dich jeden Tag an. Aber niemand antwor­tet. Was ist geschehen? Wir haben uns schon eine Woche lang nicht getroffen."

»Ich hab zu tun", antwortete Arben unwillig. Zwei Wünsche bekämpften sich in seinem Innern; einerseits hätte er am lieb­sten allem entsagt, was ihn aufregen konnte, und friedlich da­hingelebt. Newmore hatte gesagt, mit völlig entspannten Ner­ven könne man älter werden als Methusalem. Andererseits aber hätte er gern auf ein derartiges Dahinvegetieren gepfiffen und das Leben in vollen Zügen genossen. In solchen Minuten kam es ihm vor, als sei Aiwa nicht erst seit sieben Tagen in der Stadt, sondern schon wer weiß wie lange. Mochte er auch noch so alt werden - was für einen Sinn hatte das, wenn es so weiterging?

„Sag mir, Arben, wohin bist du gegangen, als wir uns nach dem Konzert verabschiedet hatten?"

„Zur U-Bahn, ich bin gleich nach Hause gefahren." „Du bist krank, Arben. Du bist ernstlich krank und weißt es

selbst nicht." „Was habe ich denn, Doktor Linda?" „Laß die Scherze", Lindas Gesicht kam näher, wurde größer

und nahm fast den ganzen Bildschirm ein. »An jenem Abend hast du dir nur eingebildet, du führest mit der U-Bahn fort. In Wirklichkeit bist du mir ins Haus gefolgt, bist die Treppe hinaufgestiegen . . . "

„Und dann?" »Du warst so geistesabwesend. Als ob du schliefest." Arben begriff. „Was habe ich denn getan?" Die Frage klang abgehackt und

scharf. „Ich blieb auf dem Treppenabsatz stehen, doch du hast nichts

um dich herum wahrgenommen, obwohl deine Augen offen waren. Du bist direkt auf mich zugekommen."

„Und?" „Ich bin zur Seite getreten - und du bist an mir vorüber­

gegangen."

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«Und ich habe dich nicht beachtet?" .Nein", flüsterte Linda. .Ich muß ohnmächtig geworden sein.

Für einige Augenblicke wenigstens. Als ich wieder zu mir kam, warst du nicht mehr da. Wahrscheinlich bist du die Treppe hinuntergelaufen."

.Ein wunderlicher Traum", sagte Arben und versuchte zu lächeln.

.Wenn's doch nur ein Traum gewesen wäre! Anfangs glaubte ich, du hättest dir einen Scherz mit mir erlaubt. Doch dann wurde mir klar, daß du krank bist. In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich habe dich mehrmals angerufen, aber das Videofon hat nicht geantwortet. Am nächsten Tag kamst du nicht. Und dich zu besuchen, das weißt du selbst, ist sinnlos. Eher kommt man ins Paradies als auf das Gelände der Western Company. Wir haben uns schon so viele Tage nicht gesehen. Fast wäre der Bildschirm durchgebrannt, bis ich jetzt endlich... Und dann noch etwas. Eine komische Sache. Du scheinst die Kontrolle über dich verloren zu haben und nicht mehr zu wis­sen, was du anziehst. Zum Konzert hattest du Saugknöpfe an den Schuhen, als ob du dich auf eine interplanetarische Reise begeben wolltest. Doch das Allermerkwürdigste habe ich gar nicht gleich bemerkt, sondern erst, als du zurückkamst und mich auf der Treppe einholtest. Du trugst Schwerelosigkeits­stiefel - überhaupt hast du dich sehr seltsam benommen. Mach dich also fertig", schloß Linda. „Wir fahren zum Arzt. Zu einem Bekannten von mir, er wohnt in der Nähe des Hafens." - „Nicht nötig, Linda."

„Widersprich nicht, es muß sein!" „Ich brauche keinen Arzt." „Und wenn sich das wiederholt? Am besten, wir treffen uns

und sprechen darüber", schlug Linda vor. „Na, dann nächste Woche", begann Arben unsicher. „Nein, jetzt gleich. An der alten Stelle im Park." „Gut, ich komme", entgegnete Arben zu seiner eigenen Über­

raschung. Er eilte durch den langen Korridor, verließ das Werk-

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gelände und trat auf den Boulevard, auf dem hin und wieder ein Auto vorbeifuhr.

„Endlich!" Lindas Stimme klang erregt. „Ich habe zum Glück gleich ein Taxi bekommen", sagte er. „Warum siehst du dich um? Hier ist niemand aufjer uns "

Sie gingen langsam zu einer Laube, deren Umrisse von wei­tem zu erkennen waren.

Er legte seinen Arm um ihre Schultern und spürte, wie sie sich vertrauensvoll an ihn schmiegte.

„Arben, als ich dich neulich auf der Treppe sah, war mir so schrecklich zumute wie nie zuvor."

Arben wufjte nicht, wie er Linda sagen sollte, was er sich vorgenommen hatte. Doch es mußte sein, und je eher, um so besser. Schließlich war er gekommen, um Schluß zu machen.

„Linda." „Was, Liebster?" „Wir können uns nicht mehr sehen." Sie blieb stehen, als wäre sie auf ein unsichtbares Hindernis

gestoßen, dann wich sie ein paar Schritte zurück. „Ich verstehe. Du . . ." „Gar nichts verstehst du, Linda", sagte Arben verzweifelt

und schaute sich abermals um. Dieser einsame Winkel des Parks, der auch am Tage kaum besucht war, lag jetzt völlig menschenleer da. Arben kam es vor, als sehe er ein phospho­reszierendes Leuchten vor sich. Sollte er fliehen? Zu spät, Aiwa würde ihn einholen. Arbens Muskeln waren vor Angst wie gelähmt. Nein, das war nur ein Baumstamm, der in der Dunkelheit hell schimmerte. Arben schöpfte Atem.

Er ergriff Lindas Hand. Linda folgte ihm widerspruchslos. Die schmale Mondsichel leuchtete nur schwach. Arben trat

in den gezackten Schatten, den die geschnitzte Wand der Laube warf. Die Bank aus Plast war kalt und feucht vom nächtlichen Tau.

„Hör auf, in Rätseln zu sprechen." Lindas Stimme klang müde. „Sag schon, hast du eine andere?"

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„Ich habe nur dich", beteuerte Arben. „Warum sagst du dann, wir können uns nicht mehr sehen?

Weil du krank bist?" Arben antwortete nicht. Linda nahm sein Schweigen als Be­

jahung und fuhr fort: „Du Dummkopf! Ich habe es doch längst bemerkt, vor mehr als einem Monat. Damals wußte ich nur nicht, was dir fehlt. Anfangs schrieb ich alles deiner Launen­haftigkeit zu, später glaubte ich, du wolltest dich über mich lustig machen. Erst an jenem Abend, nach dem Konzert, wurde mir klar, daß du ernstlich krank bist, selber aber nichts davon weißt." Das Mädchen streckte ihre Hand aus, als wolle sie die Mondstrahlen auffangen. „Laß nur, Arben, uns fällt schon etwas ein. Nein, Arben, nein!" schrie sie plötzlich auf. „Hör auf, dich ständig umzusehen!"

Arben wollte etwas sagen, doch Linda kam ihm zuvor: „Überwinde dich. Zwing dich einfach, nicht zurückzublicken. Fang mit dem Einfachsten an. Du mußt deine Nerven fest in der Gewalt haben", sagte sie mit wichtiger Miene. „Du wirst bestimmt gesund, und dann ist alles wieder in Ordnung. Heutzutage lassen sich schon alle Nervenkrankheiten aus­kurieren."

Als sie die Laube verließen, hatte sich die schmale Mond­sichel merklich dem Horizont zugeneigt.

„Gib mir dein Wort, daß du dich ärztlich behandeln läßt", forderte Linda ihn auf.

Arben war voller Unruhe. Er hatte nicht vermutet, daß es so schwer sein würde, sich von Linda zu trennen. Das Zusam­mengehörigkeitsgefühl war doch stärker, als er angenommen hatte. Dennoch mußte er diese letzte Bindung lösen, um New-mores Anforderungen zu genügen. /•

Das verspätete Pärchen hatte Glück: Als es den Park ver­ließ, kam gerade ein freies Taxi vorüber.

Die Stadt lag in einem nervösen, unruhigen Schlaf. Manche Fenster waren erleuchtet. Dahinter wohnten vermutlich Men­schen, die über Gebühr von Sorgen bedrückt wurden. Arben lehnte sich mit einem Gefühl der Überlegenheit ins weiche

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Polster zurück. Nein, er war nicht wie die anderen. Er fürch­tete, Aiwa zu begegnen, weiter hatte er keine Sorgen.

„Um Gottes willen, schon so spät", murmelte Linda besorgt, als der Selbstfahrer den Wagen vor ihrem Haus abbremste. Arben bezahlte, sie sprang hinaus, sagte eilig „Bis Morgen" und verschwand im Eingang. In diesem Augenblick sah Arben eine männliche Gestalt um die Hausecke biegen. Der späte Fußgänger schritt schnell aus. Den Kopf hielt er gesenkt, und seine Schritte waren völlig lautlos. Als er in den gelben Licht­kreis der Laterne trat, erkannte Arben seinen Doppelgänger Aiwa.

Ein Glück, daß Linda schon ins Haus gegangen ist, war der erste Gedanke, der ihm kam.

Von einer merkwürdigen Erstarrung befallen, war Arben auf das Schlimmste gefaßt. Aiwa blickte jedoch nicht zum Auto herüber, sondern schritt auf das Haus zu, in dem Linda kurz zuvor verschwunden war.

Bleib stehen! schrie Arben in Gedanken. Aiwa verlangsamte tatsächlich seine Schritte und blieb vor

dem Eingang stehen, als gehorche er dem Befehl. Dann wandte er sich wie im Schlaf langsam dem Auto zu. Sein Gesicht ge­riet für einen Augenblick ins Scheinwerferlicht. Zwischen Aiwa und Arben lagen nur noch einige Dutzend Schritte.

„Fahren wir", befahl Arben, wieder zu sich gekommen. Das Auto blieb unbeweglich stehen. Inzwischen kam Aiwa Schritt für Schritt näher. „Los doch!" schrie Arben und schlug mit der Faust auf das

Armaturenbrett. Der Selbstfahrer ließ sich dadurch nicht beeindrucken. Noch zwei, drei große Schritte . . . Hinausspringen? Kraftvoll stieß Arben mit der Schulter

gegen die Tür. Der Schmerz ernüchterte ihn augenblicklich. Natürlich! Wie konnte ihm das nur entfallen sein? Die An­zahlung! Er holte eine Handvoll Münzen aus der Tasche und steckte sie ungezählt in den Schlitz. Das Relais klickte, und an der Wand flammte das Bereitschaftslämpchen auf.

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„Mit Vollgas voraus!" stieß Arben keuchend hervor und wurde auch schon in den Sitz zurückgedrückt. Blitzschnell sauste der Wagen durch die alte Strafte, wie durch ein Wun­der die Ecken der häßlichen vorsintflutlichen Häuser meidend, und bog dann in einen Boulevard ein. Die Punktlichter entlang der Chaussee flogen vorüber und verloren sich in der Nacht.

Arben bemerkte gerade noch, wie Aiwa versuchte, hinter dem Wagen herzulaufen; er schwebte jedoch nur durch die Luft, wobei seine Beine wie bei einem Hampelmann strampel­ten und kaum das Pflaster berührten. Bald verschwand die zappelnde Gestalt hinter einer Kurve.

Ein Glück, daß Newmore den Geschwindigkeitsbegrenzer eingebaut hat. Und ein Glück, daß ich im Auto sitze, dachte Arben.

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Seit einiger Zeit ging Arben kaum noch zu Fuß, obwohl er einst ein eifriger Anhänger dieser überholten Fortbewegungs­methode gewesen war. Selbst eine Entfernung von hundert Yards legte er lieber im Auto als zu Fuß zurück. Kürzlich hatte er sich das letzte Modell des „Besan" gekauft.

Natürlich klatschten die Mitarbeiter sehr über die rasche Karriere des Ingenieurs. Allerdings ohne das geringste An­zeichen von Neid. .Eigentlich ist er kein übler Kerl", sagten jetzt Leute, die ihn noch vor einem Monat nicht hatten aus­stehen können.

Äußerlich war er derselbe geblieben, es schien aber, als habe ihn jemand mit einem neuen, großzügigen und fein­fühligen Gemüt ausgestattet. War Arben früher sehr jähzornig und streitsüchtig gewesen, so war er jetzt nachgiebig und gütig. Das stellten - welch seltener Zufall - sämtliche Mit­arbeiter fest.

Die Arbeit ging Arben gut von der Hand. Seine mathemati­schen Berechnungen waren fehlerlos. Was er auch anpackte -alles glückte ihm. Selbst bei den kompliziertesten Experimen­ten erkannte er sofort das Wesentliche, nahm die Hauptlast auf seine Schultern und überließ seinen Untergebenen die weniger wichtigen Details. Der Chef vertraute seinem neuen Günstling voll und ganz und verzieh ihm jede Marotte - zum Beispiel, daß er alle Wände der Abteilung mit gelbem Plast tapeziert hatte.

Manch einer war der Meinung, daß das alles nicht ohne Hypnose möglich gewesen sei. Einige glaubten sogar ernst­haft an eine geheimnisvolle Strahlungskraft Arbens.

Niemand hingegen wußte, daß Arbens Glück nur äußerlich war, daß er niemals sein Zimmer verließ, sein Videofon ab­geschaltet hatte und daß Lindas verzweifelte Anrufe ohne Antwort blieben.

.Das ist aber ein Zusammentreffen!" rief Newmore wenig erbaut. Ihm kam nichts ungelegener als eine Begegnung mit Arben, und er hatte alles getan, um sie zu vermeiden.

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„Ja, wirklich", sagte Arben, gezwungen lächelnd, und drückte dem Physiker die kalte Hand.

Er hatte vier Stunden lang an der Ecke des Gebäudes ge­wartet, das als Gehirnzentrum des Konzerns bezeichnet wurde. Es war nicht sehr angenehm gewesen, die ganze Zeit im Auto zu sitzen. Die Heizung funktionierte nicht, und er war völlig erstarrt; auszusteigen aber hatte er nicht gewagt. Aiwa war in letzter Zeit verteufelt feinfühlig geworden. Das Auto war innen mit Plast beklebt. Arben hatte Spezialglas mit den gleichen Schutzeigenschaften, wie sie der Plast ,besaß, entwik-kelt und fühlte sich jetzt im Auto sicher.

Daß Newmore in diesem Hause aus und ein ging, hatte Arben zufällig erfahren: Der Chef hatte am Vorabend beiläufig erwähnt, dafi der Physiker Newmore Zutritt zu den höchsten Kreisen habe, da man sich dort für eine seiner neuen Erfin­dungen interessiere.

Arben hatte Newmore schon seit langem aufsuchen wollen, ihn aber nie erreichen können. Niemand von Arbens Bekann­ten wußte, wo er wohnte und wo er sich aufhielt.

Was würden wohl die Kollegen denken, wenn sie sähen, wie sich der stolze, selbstbewußte Arben erschrocken nach allen Seiten umblickte!

In Gedanken versunken, hätte Arben Newmore fast über­sehen. Das tropfenförmige Gefährt schwebte auf einem Luft­kissen bis zum Eingangsportal. Erst als sich der schwarze Torpedo zischend auf dem Asphalt niederließ, besann sich Arben. Er sprang aus dem Wagen und war mit drei großen Schritten bei Newmore. Der Physiker wollte gerade die ge­panzerte Tür hinter sich schließen, als Arben hinter einer hohen Säule hervortrat.

Arbens Miene verriet Newmore, daß ihm ein unliebsames Gespräch bevorstand. Trotzdem versuchte er auszuweichen: „Ich habe eine wichtige Besprechung. Vielleicht verabreden wir uns für einen geeigneteren Zeitpunkt?"

„Wer weiß, wann so ein Zeitpunkt kommt. Ich kann nicht länger warten. Und du bist sehr schwer zu erreichen."

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„Gut", entschied Newmore. „Ich habe ein paar Minuten Zeit." Er sah besorgt auf die Uhr. „Aber hier ist es doch wohl ungünstig."

Arben stand gespannt neben ihm. Es schien, als wolle er sich an Newmore festkrallen, falls dieser versuchen sollte zu entwischen.

„Zwei Häuser weiter ist ein nettes kleines Restaurant. Gehen wir."

Der Physiker nahm Arben freundschaftlich beim Arm. Arben schritt rasch aus, bemüht, nicht über den offenen

Platz zu gehen. „Wie hast du mich denn gefunden?" fragte Newmore, als

sie sich an ein Tischchen setzten. „Ich fuhr gerade hier vorbei", warf Arben lässig hin, „da

sah ich dich." Newmores Blick glitt flüchtig über Arbens Gesicht, das vom

Frost ganz blau war, doch er sagte nichts. „Wie verhält sich Aiwa?" fragte er. „Ich hoffe, er be­

unruhigt dich nicht allzusehr?" „Deshalb habe ich dich ja gesucht", entgegnete Arben etwas

inkonsequent. „Erinnerst du dich an unsere Abmachung? Das Experiment

dauert ein Jahr; eine Verlängerung ist möglich, eine Ver­kürzung keinesfalls. Jetzt sind aber erst zwei Monate ver­gangen."

„Heute ist der vierundsechzigste Tag." „Das ändert nichts an der Sache. Begreif doch, ich habe mein

ganzes Vermögen in dieses Projekt gesteckt. Wenn der Versuch abgebrochen wird, ist alles verloren. Was ist denn dabei für dich so schlecht? Du bist ein anderer Mensch geworden, hast dich von vielen Scherereien befreit und dafür nicht einen ein­zigen Pfennig gezahlt."

„Aiwa verhält sich sehr eigenartig", bemerkte Arben mit einer ratlosen Geste. „Kannst du mir übrigens erklären, warum er Linda anfangs stärker beachtet hat als seine biologische andere Hälfte?"

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„Wie das?" fragte Newmore interessiert und schob sein Glas zur Seite.

Arben erzählte. Newmore fragte nach Einzelheiten und wurde nachdenklich.

„Sollte sich Aiwa tatsächlich nicht so entwickeln, wie ich angenommen habe?" dachte er laut. „Nein. Es liegt an etwas anderem." Er schlug auf den Tisch, dafi die Flasche hoch­sprang. „Verstehst du, Linda denkt zuviel an dich. Mehr als du selber."

Arben blickte beunruhigt in Newmores finsteres Gesicht. „Gut", sagte der Physiker. Anscheinend hatte er einen Ent­

schluß gefaßt. „Was willst du von mir?" „Newmore, laß alles so wie früher werden." Der Physiker schwieg. „Ich nehme sogar alle meine früheren Mängel in Kauf",

versuchte Arben zu scherzen. „Wie stellst du dir das vor?" fragte Newmore in eisigem

Ton. „Töte ihn!" „Du urteilst wie ein kleines Kind", erwiderte Newmore

achselzuckend. „Ich habe dir doch bei der Unterzeichnung des Kontraktes erklärt, dafi Alwas Vernichtung, wenn ihr erst einmal Doppelgänger geworden seid, dasselbe bedeutet, als verbrenne die Hälfte deiner Körperzellen. Du würdest daran zugrunde gehen."

Arben ließ den Kopf hängen. „Du brauchst nur die elementarste Vorsicht walten zu las­

sen, und alles ist in Ordnung", fuhr Newmore fort. „Aiwa verfolgt mich. Ich kann so nicht weiterleben." „Du hättest ja nicht einzuwilligen brauchen." „Ich habe nicht gewußt, daß es so kommen würde." Newmore sah auf die Uhr. „Newmore, Übertrag die gesamte Information von ihm auf

mich zurück", fuhr Arben hastig fort. „Ich ersetze dir den Verlust, ganz gleich, wie hoch er ist. Mein Leben lang will ich für dich arbeiten."

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„Dann geht Aiwa zugrunde", erwiderte der Physiker kopf­schüttelnd.

„Du kannst ja einen anderen herstellen." „Einen zweiten Aiwa kann ich nicht herstellen." Newmore

erhob sich. „Ach so!" Arben lief rot an vor Wut. „Dann will ich dir

sagen, du Strolch, dafi ich dich entlarven werde! Dein Ver­suchskaninchen soll dich teuer zu stehen kommen."

„Beruhige dich", sagte Newmore und setzte sich wieder. Die Gäste an den Nachbartischchen wurden aufmerksam. „Schlufi jetzt! Du hast genug auf mich eingeredet. Wie

könnte ich mich übrigens aufregen? Du hast ja meine Nerven in Stahl verwandelt!"

„Sei kein Esel! Wenn du Aiwa beschwörst, wird es dir schlecht ergehen!"

„Newmore. Bei unserer Freundschaft! Warum willst du dei­nen Palast ausgerechnet auf meinen Knochen aufbauen?"

„Du bist verrückt. Reden wir weiter, wenn du wieder ver­nünftig bist." Newmore erhob sich.

Mit einer blitzschnellen Bewegung warf Arben den Tisch um und verkrallte sich in Newmores Kehle. Das Klirren der zer­brechenden Gläser vermischte sich mit den Schreien der Gäste. Ein Kellner eilte mit erstarrtem Lächeln durch den Saal auf die Raufenden zu. Newmore gelang es zwar, Arbens Finger von seiner Kehle zu lösen, aber seine Kraft und Geschicklich­keit reichten nicht aus, den Ingenieur abzuschütteln. Arben hatte sich auf ihn geworfen und drückte ihn zu Boden.

„Tust du, was ich will?" fragte er ruhig, ohne die Leute ringsum zu beachten.

„Lafi los", krächzte Newmore. „Wo bleibt die Polizei?" lieft sich eine hysterische Frauen­

stimme vernehmen. „Er bringt ihn noch um. Helft doch, Männer!"

Aber niemand traute sich, dem am Boden Liegenden beizu­stehen. Alle blickten ängstlich auf den athletischen Arben und verzogen sich langsam.

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„Siehst du? Sie haben Angst! Nun", Arben umklammerte erneut die Kehle seines Gegners, „ich habe dir genug Zeit zum Nachdenken gegeben."

„Gut", sagte Newmore plötzlich. „Hol dich der Teufel! Ich versetze dich in deinen früheren Zustand. Aiwa wird beerdigt."

„Was für Garantien gibst du mir?" „Mein Ehrenwort", sagte Newmore. „Laß mich los. Ich bin

ohnehin in deiner Hand." Arben bezahlte bei dem entsetzten Ober, und sie gingen in

die Vorhalle. Newmore hinkte leicht. „Hierher!" Arben zeigte auf ein Eckchen hinter einer stau­

bigen Palme. „Wir könnten schon morgen anfangen", sagte Newmore,

ohne seinen Gesprächspartner anzusehen. „Hast du dein Auto mit Plast tapeziert?"

„Natürlich." „Am besten, du kommst morgen zu mir." „Zu dir dringt man nichttlurch, mein Lieber." „Ich gebe dir einen Passierschein." Newmore zog einen

schmalen Block aus der Tasche, schrieb ein paar Zeilen, riß das Blatt ab und reichte es Arben. Arben las den Text auf­merksam und nickte befriedigt. In einer Ecke des Zettels prangte ein Monogramm, das, wie er wußte, fast jede Tür öffnete.

„Trink heute nicht", sagte Newmore und sah zu, wie Arben das Blatt zusammenfaltete. „Und morgen früh ebenfalls nicht."

„Auch kein Wasser?" „Ich meine Whisky", erklärte Newmore. „Das tue ich schon zwei Monate nicht mehr. Ich weiß kaum

noch, wie er schmeckt." „Früher warst du ihm ganz schön verfallen." „Er reizt mich nicht mehr. Ich habe überhaupt keine Wünsche

mehr, alles, was ich tue, kostet mich große Willenskraft." „Bis morgen also!" „Halt, wirst du dich auch nicht aus dem Staube machen?

Irgendwohin auf den Kontinent, wenn der Wind günstig ist?"

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„Ich fahre nicht weg, hab keine Angst", versicherte New­more, und Arben wufite, daß der Physiker nicht log.

In Hochstimmung verließ er das Restaurant. Bis zum Auto sah er sich nicht ein einziges Mal um. Er hätte am liebsten seinen Schritt verlangsamt und das Schicksal auf die Probe gestellt.

Der Wagen fuhr scharf an. Arben schaltete den Selbstfahrer aus und setzte sich ans Lenkrad. Morgen früh würde die Wand verschwinden, die ihn von seinen Mitmenschen trennte.

Gedankenverloren steuerte Arben den Wagen, ohne auf die Straßen zu achten. Verkehrsopfer waren nicht zu befürchten. Arbens Rolle als Chauffeur bestand bestenfalls im Drehen des beinahe zum Requisit gewordenen Lenkrades. Früher war man der Meinung gewesen, Autos sollten wenigstens innerhalb der Stadt von Menschenhand bedient werden. So war es einst gewesen. Jetzt aber wurde jeder Wagen automatisch gesteuert. Ein Lokator tastete die Straße nach eventuellen Hindernissen ab - nach einem Auto, das aus einer Nebengasse kam, oder nach einer Katze, die die Straße überquerte; sobald ein solches Hindernis auftauchte, trat das Bremssystem in Tätig­keit.

Arben hatte zwar den Selbstfahrer ausgeschaltet, doch das besagte nicht viel. Er hatte dem Autopiloten das Ziel der Fahrt angeben müssen und konnte nun den Weg dorthin nach eige­nem Ermessen wählen, das war alles. Die Geschwindigkeit des Wagens, die Fahrbahn und dergleichen wurden von einer elektronischen Installation festgelegt. Dadurch war der Straßenverkehr absolut ungefährlich geworden. Wenn es ein Fußgänger eilig hatte, so war das seine Sache. Ebenso, wenn er sich zu einem wichtigen Rendezvous verspätete. Dem Infraauge oblag es, selbst die geringste Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe zu vermeiden.

Eine Straße löste die andere ab, neue Kuppelgebäude, die beinahe schwerelos durch die Luft zu segeln schienen, wechselten mit alten Steinkästen. Arben bemerkte nichts von alledem. Er stand noch ganz unter dem Eindruck seiner Be-

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gegnung mit Newmore. Der Sieg war ihm schwergefallen. Natürlich war es auch für Newmore nicht leicht, sich von Aiwa zu trennen, in den er soviel investiert hatte. Wenn Arben seine Information von ihm zurückbekäme, würde Aiwa zugrunde gehen, das wäre unvermeidlich.

Bedauerlich für Newmore. Doch warum sollte Arben sein Leben aufs Spiel setzen?

Einige Strafjenzüge vor dem Warenhaus „Alles für alle" bremste Arben. Der „Besan" rollte an den Bürgersteig heran und blieb stehen. Der Arbeitstag ging zu Ende, und die Strafte war voller Menschen. Arben traute sich nicht, den Wagen zu verlassen. Wie leicht konnte sich Aiwa in der Menge ver­borgen halten und bis zum letzten Augenblick unbemerkt bleiben.

Arbens frühere Ängste kehrten zurück. In jedem Vorüber­gehenden glaubte er Aiwa zu erkennen. Es wäre dumm, wenn er jetzt noch, kurz vor seiner Befreiung, sterben müßte. Jeder Schritt, den er zu Fuß zurücklegte, konnte der letzte sein. Plötzlich sah Arben ein bekanntes Gesicht - ein Mädchen in Dienstkleidung mit dem Firmenzeichen „AFA" am Ärmel. „AFA" bedeutete „Alles für alle". Im vorigen Jahr hatte Linda einmal im Park auf ein lachendes Mädchen gezeigt, das mit einem Matrosen auf einer Bank saß, und gesagt: „Das ist eine Kollegin von mir. Sie arbeitet bei uns in der Abteilung."

Das Mädchen warf einen flüchtigen Blick auf den „Besan" und ging vorüber. Arben trommelte verzweifelt an das dicke Fensterglas, bis sich das Mädchen umdrehte. Sollte er sie gemeint haben? Mit einem Achselzucken wollte sie ihren Weg fortsetzen, aber im letzten Augenblick fiel ihr der flehende Gesichtsausdruck des Mannes im Auto auf. Sie trat an den „Besan" heran und blickte verwundert auf den Unbekannten, der ihr Zeichen machte.

„Sind Sie aus der Parfümabteilung?" schrie Arben durch das dicke Glas.

Das Mädchen nickte. „Arbeitet Linda Lown mit Ihnen zusammen?"

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Sie zeigte auf ihre Ohren, dann auf die Tür und bedeutete ihm, sie doch zu öffnen.

„Linda!" schrie Arben von neuem, als habe er ihre Gesten nicht bemerkt.

Das Mädchen nickte. Es gelang Arben, ihr seine Bitte ver­ständlich zu machen.

»Sie hat einen strengen Vorgesetzten. Man wird sie kaum vor Arbeitsschluß gehen lassen", las ihr Arben von den Lip­pen ab.

„Sagen Sie ihr nur, daß ich da bin", bat er. Das Mädchen eilte ins Warenhaus. Bevor sie auf das Förder­

band trat, das von der Tür ins Innere des Gebäudes lief, sah sie sich noch einmal nach dem seltsamen Mann um.

Arben bekam plötzlich Herzklopfen. Es war ein Gefühl, das er gar nicht mehr gewohnt war.

Da sah er Linda aus der Tür des Warenhauses kommen. Das Häubchen mit der Firmenmarke war verrutscht und gab eine rotblonde Locke frei.

Nach einigen Schritten blickte sich Linda ratlos um. Schließ­lich bemerkte sie Arben und eilte auf ihn zu. Der teure Wagen setzte sie offenbar in Erstaunen. Arben öffnete die Tür und half Linda beim Einsteigen. Dann schlug er die Tür hastig wieder zu.

Sie wechselten zunächst einige nichtssagende Worte, als hätten sie sich erst gestern zum letzten Male gesehen.

„Meine Kollegin behauptet, bei dir stimme etwas nicht." Linda tippte sich mit dem Finger an die Stirn und lächelte.

„Vielleicht hat sie recht", entgegnete Arben ernst. „Verzeih", sagte Linda verlegen. „Ich habe das nur so da-

hingesagt. Wie geht es dir jetzt?" „Besser. Viel besser." Linda strahlte bei diesen Worten. „Bist du beim Arzt ge­

wesen? Das ist gut", fuhr sie fort, ohne eine Antwort abzu­warten. „Was hat er dir verordnet?"

„Ach, alles Mögliche." „Aber du befolgst es doch?"

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»Selbstverständlich. Übrigens hört morgen die Behandlung auf."

Arben war Linda dankbar, daß sie nicht weiterforschte. Er hatte sich ein paar Sätze zu seiner Rechtfertigung ausgedacht und war froh, daß er sie nicht benötigte.

„Wohin wollen wir?" fragte er, während er den Selbstfahrer einschaltete.

„Hinaus aus der Stadt, an die frische Luft", schlug Linda vor. „Zu weit", erwiderte Arben und schüttelte den Kopf. „Na dann, wohin du willst." Arben fühlte sich Linda gegenüber immer noch schuldig. Er

blickte verstohlen auf ihr feingezeichnetes Profil, das im Schein der abendlichen Neonlampen leuchtete. Sie hatte den Arm aufs Lenkrad gelegt und dachte über etwas nach. Arben verspürte plötzlich den Wunsch, seine Wange an ihr schmales Handgelenk zu legen.

„Kleine Zigeunerin", sagte er leise. Linda errötete. „Der ganze Abend gehört uns. Wir können nach Herzens­

lust spazierenfahren", setzte Arben hinzu. „Später essen wir dann irgendwo zu Abend, was hältst du vom Italienischen Restaurant? Dort soll es unvergleichliche Spaghetti mit Käse geben." Er klopfte sich vielsagend auf die Tasche.

„Arben, wo hast du das Geld her? Und wem gehört das Auto?"

„Mir. Genauer gesagt - uns." „Aber früher . . ."

, „Reg dich nicht auf", unterbrach Arben sie, „ich habe es durch ehrliche Arbeit erworben. Im letzten Monat habe ich viel verdient." Er blickte auf die vorüberjagenden bunten Kup­peln - das Auto fuhr die Hauptstraße entlang. Dann sagte er:

^ „In gewisser Weise hängt das mit meiner Krankheit zu­sammen."

„Warst du so hoch versichert?" fragte Linda verwundert. „Das ist es nicht. Weißt du, die Krankheit hatte so etwas

wie eine Erhöhung der Denkfähigkeit zur Folge. Kurzum, der

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Topf kocht jetzt besser. Und die Western Company ist nicht knauserig. Nun überlege ich: Vielleicht hätte ich mich gar nicht auskurieren lassen sollen?"

»Red keinen Unsinn", erwiderte Linda ärgerlich. „Wie kannst du nur so etwas sagen?"

„Es war nur ein Scherz, kleine Zigeunerin." „Schöner Scherz." Arben schlug auf gut Glück irgendeine Richtung ein. Der

Wagen verstand seine Sache. Elegant und akkurat legte er Kilometer um Kilometer zurück.

„Wie gut, dafi deine Behandlung morgen abgeschlossen wird. Was das Geld betrifft. . . darauf können wir verzichten. Und so ein Spielzeug hier", sie strich über das himbeerfarbene Polster des Wagens, „läßt mich auch gleichgültig. Verschwinde nur nicht wieder! Wenn wir uns noch einmal trennen . . ."

„Laß uns von hier wegziehen", sagte Arben. „Weit, weit fort."

„An die Küste." „Meinetwegen an die Küste", stimmte Arben zu. „Ich suche

mir irgendwo Arbeit in einer Autoreparaturwerkstatt. Als Mechaniker, Autoschlosser oder sonst was."

Linda riß erstaunt die Augen auf. „Ich bin nämlich nicht sicher, was bei der morgigen Pro­

zedur herauskommt", erklärte Arben. Linda nickte stumm. Die Stadt hinter den Wagenfenstern erschien durchsichtig

und irreal. Fast wie ein Traumbild oder eine Fata Morgana. Man brauchte nur aufzuwachen - und schon würde alles ver­schwinden.

„In einer Woche könnten wir wegfahren." Arben bog in eine enge hohlwegartige Gasse ein,

„Von mir aus schon morgen. Mich hält hier nichts mehr." Linda verstummte. An ihren Mundwinkeln bildeten sich zwei Falten. Arben begriff, daß ihr Leben auch nicht so leicht und einfach war, wie es einem Außenstehenden scheinen mochte. Aber sie war mutig und beklagte sich niemals.

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.Morgen wird es nicht gehen. Ich muß noch einige Dinge in Ordnung bringen", sagte Arben.

.Hat das auch mit deiner Behandlung zu tun?" Er nickte schweigend. Über Newmore sprachen sie wie auf Verabredung nicht, und

Arben war ganz froh darüber. Linda hätte nicht in Worte fassen können, was in ihr vor­

ging. Eine seltsame Behandlung mußte das sein, wenn danach glänzende geistige Fähigkeiten verblaßten und der Patient zu einem gewöhnlichen Durchschnittsbürger wurde. Vielleicht war Genialität nichts anderes als eine psychische Mißbildung? Wo­her sollte man wissen, was ein Genie letzten Endes von anderen Menschen unterschied? Keine klar umrissenen Ge­danken, sondern nur die Schatten solcher Gedanken gingen Linda durch den Kopf; sie hätte ihnen kaum Ausdruck ver­leihen können.

„Ein paar Tage werde ich noch sehr beschäftigt sein", sagte Arben und berührte in seiner Tasche den zusammengefalteten Passierschein.

„Ich verstehe. Das macht nichts, dann fahren wir eben spä­ter. Mehr zum Frühling hin."

Der Wagen bremste scharf. Eine Horde kleiner Kinder sprang hinter der stumpfen Nase des „Besan" hervor. Natürlich be­stand gar keine Gefahr - alle Geschwindigkeiten und Impulse waren bereits berechnet worden, als der Wagen in diese Straße einbog.

„Sag mal, denkst du eigentlich oft an mich?" fragte Arben unerwartet.

„Sicher öfter, als du es verdienst." „Denk nicht soviel an mich", bat Arben ernsthaft. „Bescheidenheit ziert den Menschen." „Ich scherze nicht. Denk nicht an mich, erinnere dich nicht

so oft an mich. Wenigstens in den nächsten Tagen." „Warum denn nicht?" fragte Linda, verwundert über die

ungewöhnliche Bitte. „Ist es dir unangenehm, daß ich an dich denke?"

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„Ich kann dir jetzt nicht erklären, warum. Später . . . wenn wir zusammen sein werden. Wollen wir essen fahren?"

„Ich hab gar keine Lust mehr." „Ich eigentlich auch nicht", gestand Arben. „Wo soll ich dich

hinbringen? Zurück ins Warenhaus?" „Du bist wirklich einmalig. Dort sind doch längst die

Elektronenwächter eingeschaltet, und durch die Abteilungen laufen Wolfshunde."

„Ach ja, die Wolfshunde. Wohin beliebt es Ihnen dann?" fragte Arben, die metallene Stimme des Selbstfahrers nach­ahmend. ;

„Ich möchte nach Hause. Es ist schon spät." Arben wählte auf dem Armaturenbrett die erforderlichen

Koordinaten, schaltete den Selbstfahrer ein und rückte vom Lenkrad fort.

„Früher hast du mich immer mit dem Taxi nach Hause ge­bracht", sagte Linda, als der Wagen stehenblieb. „Und jetzt hast du einen eigenen ,Besan'."

Arben blickte angespannt durch das Seitenfenster, als suche er jemand.

„Kein schlechtes Pferdchen. Ich habe eine Bitte, Arben: Wenn wir das nächste Mal einen Ausflug vor die Stadt machen, dann bring den Wagen auf Höchstgeschwindigkeit. Ja?"

Arben nickte, ohne vom Fenster wegzusehen. Aber die Straße war wie leer gefegt. Dieses Monstrum gehört ins Museum, dachte er beim Anblick einer vorsintflutlichen Laterne. Sie schwankte im Wind und warf einen trüben Licht­schein auf die Erde. Welke Blätter gerieten in den Lichtkreis und verschwanden wieder. Es war sehr kalt, früher oder spä­ter würde es zu schneien beginnen.

„Ein wunderbarer Wagen. So einen habe ich noch nie ge­sehen", sagte Linda.

„Gefällt er dir?" fragte Arben und wandte sich vom Fenster ab.

„Mit einer Einschränkung: Wozu ist er innen mit Plast tapeziert?" Sie berührte die glänzende, glatte Folie. „Und so

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ein greller Farbton! Was hat sich der Konstrukteur bloß dabei gedacht?"

„Ja, die Farbgebung ist mißlungen", gab Arben zu. „Vielleicht machen wir die Folie ab?" Linda streckte die

Hand aus, als wolle sie den Plast abreißen. „Halt! Du kennst die anderen Wagen dieses Typs noch

nicht. Vielleicht ist das jetzt modern?" „Auf jeden Fall ist es häßlich", erwiderte Linda achselzuk-

kend. Die Wagenscheinwerfer warfen ein breites Lichtbündel auf

die Straße. Arben blendete ab, und das Bündel verwandelte sich in einen Strahl, der müde auf den Asphalt fiel.

„Ich gehe", sagte Linda, nachdem sie Arben eine Weile ab­wartend angeblickt hatte.

Arben öffnete den Schlag und stieg als erster aus. „Ich begleite dich", sagte er. „Endlich hast du dich durchgerungen, nicht mehr so geheim­

nisvoll zu tun", bemerkte Linda fröhlich und nahm seinen Arm.

„Darüber solltest du lieber . . . " Arbens Miene verfinsterte sich.

Lindas Absätze klapperten laut. Arben ging neben ihr, be­müht, nicht vorauszueilen. Er verstand selbst nicht, was ihn getrieben hatte, das Auto zu verlassen. Vielleicht der Wunsch, noch ein wenig mit Linda zusammen zu sein? Oder das Be­streben, sich wieder als normaler Mensch zu fühlen, der sich vor den eigenen Wünschen nicht zu verstecken braucht? Bis zur Tür und zurück, sagte sich Arben.

Zwei riesige Schatten überquerten die Straße und kletterten die gegenüberliegende Hauswand empor, wo sie mit dem dunklen Dach verschmolzen. Der eine war schlank, der andere kräftig und breitschultrig.

„Schau, unsere Schatten wollen sich nicht trennen", sagte Linda und verlangsamte den Schritt. Ihre Augen glänzten. „Wenn wir von hier fortgehen, bleiben sie zurück. Immer werden sie zusammen sein."

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.Gute Nacht", sagte Arben, als sie vor der Haustür ange­langt waren.

.Wann sehen wir uns wieder?"

.Ich hoffe, bald." „Ich werde warten." „Wir telefonieren miteinander." Linda rief ihm noch etwas zu, winkte und verschwand hin­

ter der Treppenbiegung. Arben hatte noch keine drei Schritte zurückgelegt, als sich

eine Gestalt lautlos von der Wand löste und ihm entgegen­kam. Sie schien aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Nicht einmal das Laub raschelte unter ihren Füßen. So konnte sich nur Aiwa fortbewegen. Die Gestalt kam langsam und unab­wendbar näher wie das Schicksal selbst. Arben indes war weder abergläubisch noch Fatalist. Nun, da er Aiwa begegnet war, überkam ihn plötzlich die Ruhe, die Newmore ihm ver­sprochen hatte, als er ihn zu dem unerhörten Experiment überredete. Seine Gedanken arbeiteten so scharf wie beim Staatsexamen. Aiwa konnte nicht schneller laufen als drei Mei­len in der Stunde. Das war gut. Aber auch Arbens Geschwin­digkeit war begrenzt. Das war weniger gut. Bedeutend schlechter jedoch war, daß sich Aiwa in einer vorteilhafteren Lage befand. Er kam auf Arben zu und schnitt ihm den Weg zum Wagen ab. Alwas Manövrierfähigkeit überraschte Arben. Als ob jemand über Funk sein Tun lenkte, blitzte ein Gedanke in ihm auf, doch er verfolgte ihn nicht weiter.

Die Rettung lag dort, im Wagen, den er eigenhändig mit ionisiertem Plast tapeziert hatte. Aber wie zu ihm gelangen? Arben lief, so schnell er konnte, um Zeit herauszuschlagen. Als er jedoch versuchte, seine Schritte noch mehr zu beschleu­nigen, stieß er mit der Brust gegen einen federnden Wider­stand. Das eigene Bremsfeld war unerbittlich. „Schneller, schneller", rief er sich zu.

Er erinnerte sich, daß Newmore ihm gesagt hatte, er brauchte nur vorsichtig zu sein und jede Berührung mit Aiwa zu vermeiden. Dann habe er nichts zu befürchten. Und weiter

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hatte Newmore behauptet, er, Arben, sei ein Glückspilz und würde alle Sorgen und Fehler für nichts und wieder nichts los. Später würden die Menschen dafür bezahlen müssen. Natürlich würde das zunächst nur für Leute mit großen Portemonnaies erschwinglich sein, dann aber . . .

.Du willst also die Produktion auf Fließband umstellen?" hatte Arben gefragt. • .Ich hoffe. Zu dem Zweck muß ich Aiwa nur noch verbilli­

gen und standardisieren. Das erste Exemplar hat mich un­wahrscheinlich viel gekostet. Später aber . .. kurzum, du wirst dann nicht mehr allein sein."

.Was denn, hast du schon damit begonnen?" fragte Arben, der die Verschlossenheit seines Freundes gut kannte.

.Leider noch nicht", entgegnete Newmore kopfschüttelnd.

.Fehlt dir das Geld?"

.Geld ist das wenigste", sagte Newmore mit einer gering­schätzigen Handbewegung. .Die Geldsäcke, die nach einem ruhigen Leben trachten, würden mir jeden Kredit einräumen. Urteile selbst: An Stelle all dieser Modekurorte, Hydroheil-stätten und des ganzen anderen dilettantischen Unsinns biete ich eine Radikalkur. Bislang sind Nervenkrankheiten noch nicht restlos heilbar."

.Das ist doch wohl . . .", begann Arben zweifelnd.

.Es war nicht möglich und ist auch heute noch problematisch, streite nicht. Bestenfalls schlägt die Krankheit nach innen, was noch schlimmer ist. Und wie heilt man denn? Aufs Gerate­wohl! Ich befreie den Kranken von seinem Leiden, beseitige es ganz und gar. Worin es besteht, weiß ich nicht, und es interessiert mich, offen gestanden, auch wenig. Ich wische das Leiden einfach weg, wie man mit einem Lappen die Kreide­schrift von der Schultafel wischt."

Arben wußte, daß Newmore gern prahlte, und nahm seine Worte über die unbegrenzten Kredite der Geldsäcke kritisch auf. Woher sollte er wissen, daß die Behauptung des Mode­physikers diesmal der Wahrheit entsprach? Laut sagte er: „Wenn du so leicht zu Geld kommen kannst, was hindert dich

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dann daran, einen Aiwa Nummer zwei, Nummer drei und so weiter zu schaffen?"

„Dazu brauche ich dringend Informationen über die Wechselbeziehungen eines gewissen Ingenieurs Arben mit Aiwa Nummer eins. Ohne sie kann ich nicht weitermachen", hatte Newmore abschließend gesagt.

Arben schaute sich um. Aiwa war dicht hinter ihm. Als sei er durch einen unsichtbaren Faden an Arben gefesselt. Sobald der Ingenieur einen Schritt zur Seite tat, ahmte Aiwa gehorsam die Bewegung nach. Arben ging und ging und schaute sieb dabei von Zeit zu Zeit um. Die ihm sattsam bekannte gebückte Gestalt schritt eifrig hinter ihm her. Ihr Gesicht hatte er un­zählige Male im Spiegel erblickt. Ich laufe vor mir selbst davon, dachte er. Ist es aber möglich, sich selbst zu entfliehen? Dieser Gedanke ließ ihn nicht los.

Der Wagen blieb in einiger Entfernung zurück. Schwarz und ölig glänzte er im Licht der schwankenden Laterne; der dolchartige Strahl des mittleren Scheinwerfers lag kraftlos auf den schmutzigen quadratischen Pflastersteinen, in die der Asphalt hier überging. Und keine Menschenseele weit und brei t . . .

Mit jedem Schritt entfernte sich Arben weiter von dem ret­tenden plastgeschützten Wagen. Zu ihm hinüberzulaufen würde einen Zusammenstoß mit Aiwa bedeuten. Die Förder­bänder der Bürgersteige waren bereits abgeschaltet. Die ein­zige Hoffnung war die Untergrundbahn.

Nie hätte Arben geglaubt, daß die Straße, in der Linda wohnte, so lang war.

Vielleicht kam es ihm auch nur deshalb so vor, weil er in letzter Zeit wenig gelaufen war.

Er fröstelte und verfiel instinktiv in einen leichten Trab, aber sofort traf ihn ein Widerstand so heftig ins Gesicht, daß er keuchend stehenblieb. Diese Pause kostete ihn drei, vier kostbare Yards. Der Abstand wurde kürzer, und Aiwa war, als er aus der Dunkelheit in das Licht einer Laterne trat, bereits deutlich zu erkennen. Er ist bleich wie der Tod, dachte Arben.

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Kein Wunder, daß Linda so erschrocken war, als sie ihm be­gegnete. Offensichtlich ist Newmore ein Fehler unterlaufen.

Nur gut, daß die Straße gerade war, denn jede Biegung kam Aiwa zugute, der die Ecken abschneiden konnte. Stei­nerne Wände stellten für diese leichte menschenähnliche Wolke kein Hindernis dar.

So könnte man endlos laufen . . . Seine Kräfte - das wußte Arben - würden jedoch bald versiegen. Er war eingesperrt in den steinernen Dschungel der Stadt, den Schlüssel aber hielt der listige Newmore versteckt.

Arbens Herz schlug langsam, und jeder Schlag fand in sei­nem Innern einen schmerzhaften Widerhall. So schlecht hatte sich Arben lange nicht gefühlt. Es verstrich eine Weile, bis er darauf kam, was da vor sich ging. Er war erregt, so erregt wie noch nie in den letzten beiden Monaten. Auch darin hatte Newmore ihn betrogen!

Arben tat alles, um wieder ruhig zu werden: Seine Er­regung konnte dem Verfolger nur Vorschub leisten. Aiwa war in den letzten Minuten merklich aufgelebt. Seine Beine in den Stiefeln mit den Saugknöpfen bewegten sich rascher; den stie­ren Blick auf Arben geheftet, streckte er einmal sogar den Arm aus, als wollte er die ihm entgleitende zweite Hälfte seines Ichs ergreifen.

Arben hatte den Eindruck, als dauerte die Verfolgung schon sehr lange. Eine ganze Ewigkeit lief er bereits durch diese entsetzlich schweigsame Straße (vor Müdigkeit konnte er kaum noch die Beine bewegen), und ein Knäuel von Sorgen und Kränkungen verfolgte ihn, denen er nicht entfliehen, vor denen er sich nirgends verstecken konnte.

Vor ihm schimmerte undeutlich ein großer Buchstabe auf der Kuppel der U-Bahn-Station. Der Buchstabe leuchtete in der frostigen Nebelluft, und darüber strahlten in gleichgültigem Glanz die Sterne.

Endlich hatte Arben die Station erreicht. Sein Selbstgefühl kehrte zurück. Gleich würde er durch die schmale Tür schlüp­fen, eine Münze in den Automaten stecken, und das schwer-

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fällige Drehkreuz würde ihm den Weg zur Rolltreppe frei­geben, die zu den Zügen hinunterführte.

Arben verspürte plötzlich so etwas wie Mitleid mit Aiwa; er kam ihm fast wie ein beseeltes Wesen vor und nicht wie ein künstliches, materielles Gebilde, das ihn, Arben, imitierte. Ihm war zumute, als habe er den gutmütigen Aiwa betrogen und überlistet, und er wurde das Gefühl nicht los, dafi er einen Blinden auf eine belebte Straße geführt und mitten auf der Fahrbahn im Stich gelassen habe. Eine merkwürdige Ge­schichte! Er bedauerte Aiwa wie einen jüngeren Bruder, wie einen Teil seines eigenen Ichs, wenn es auch nicht der bessere war. Und verhielt es sich denn nicht tatsächlich so?

Da war die Untergrundbahn. Arben kam es verdächtig vor, daß niemand am Eingang zu sehen war. Gewöhnlich wärmten sich selbst in tiefster Nacht wenigstens zwei, drei Obdachlose an dem warmen Luftstrom, der aus den Türen drang. Arben spürte bereits die trockene Wärme, die einen kaum merklichen Geruch nach Motorenöl und etwas Süßlichem, Unangenehmem ausströmte.

Vier Granitstufen . . . Arben stieß gegen die Tür. Geschlos­sen! Mit aller Kraft stieß er noch einmal mit der Schulter dagegen, obwohl er sehr gut wußte, daß es nutzlos war, dann schlug er mit der Faust gegen den eiskalten Plast. Die blutig geschlagene Hand ließ ihn wieder zu sich kommen. Instand­setzungsarbeiten, oder was? Doch war das jetzt von Bedeu­tung? Plötzlich erblickte er einen kleinen, schief an eine Säule geklebten Zettel: „Bis vier Uhr geschlossen. Die nächste U-Bahn-Station . . . " Arben spuckte aus und machte kehrt. Die nächste U-Bahn-Station interessierte ihn nicht. Um sie zu er­reichen, hätte er abbiegen müssen, in diesem Falle aber wären seine Rettungschancen gleich Null gewesen. Nur durch einen Wettlauf in der Geraden konnte er noch hoffen, seinem Ver­folger zu entrinnen.

Aiwa kam unaufhaltsam näher. Jetzt betrug seine Ge­schwindigkeit genau drei Meilen in der Stunde, die mittlere Geschwindigkeit eines gewöhnlichen Fußgängers. Arben kam

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es sogar vor, als hätten sich Alwas Wangen gerötet. Aber das lag sicher nur an der nächtlichen Strafjenbeleuchtung.

Im Bruchteil einer Sekunde nahm er erstaunlich viele Details wahr. Kam das nicht dem Umstand gleich, daß ein Streichholz vor dem Verlöschen heller aufleuchtet?

Arben lehnte sich willenlos an die Säule. Ein dummes Ende. Aber war denn nicht die ganze Idee mit Aiwa äußerst dumm? Was konnte er tun, jetzt nahte die Strafe. Wie hatte Newmore gesagt? Für alles im Leben muß man bezahlen. Wenn nicht mit Geld, dann mit dem eigenen Blut. Das ist ein unabänderliches Gesetz.

Aiwa betrat die erste Stufe. Ja, er betrat sie - so hätte jeder unbeteiligte Beobachter gesagt. Dieser Illusion gab sich auch Arben hin. Er wußte sehr gut, daß Aiwa, wenn er auf eine Erhöhung stieß, einfach aufsteigen konnte, wie Dampf über einem kochenden Teekessel; seine Beine waren lediglich dazu da, um Schritte nachzuahmen. Dabei gestatteten es ihm die Saugknöpfe nicht, sich von der Erde loszureißen und allzu hoch aufzusteigen.

In Arbens Kopf arbeitete es. Wie klar seine Gedanken waren! Was hätte er noch alles für die Western Company und die ganze Menschheit tun können! In drei Sekunden aber würde dieses gemächlich einherschreitende Subjekt bei ihm sein, und damit nähme alles sein Ende. Aiwa ging durch Granit wie eine Gerte durch nassen Lehm. Er würde die U-Bahn-Kup­pel durchschreiten und seelenruhig bei ihm anlangen. Arben wich zurück und strich mit der Hand über die gewölbte Wand der Kuppel, die aus rhombenförmigen Platten zusammenge­setzt war. Sie fühlten sich kalt und glitschig an wie Eisplatten. Sollte das seine letzte Empfindung auf dieser Welt sein?

Aiwa ging vornübergebeugt, wie jemand, der gegen den Wind ankämpft. In diesem Augenblick bemerkte Arben, daß die Verkleidungsplatten aus Plast waren.

Er preßte sich mit dem Rücken gegen die Wand und breitete die Arme aus. Aiwa.kam die Stufen empor und näherte sich langsam seinem Doppelgänger. Plötzlich löste sich Arben von

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der Wand, mit der er eins zu sein schien, und schritt um die Kuppel herum. Das Bild erinnerte an einen Zeitlupenfilm. Wäre der Film schneller gelaufen, hätte der Zuschauer Zeuge einer verzweifelten Verfolgungsjagd werden können, bei der es um Leben und Tod ging. Aber es war kein Film, und es gab auch keinen Zuschauer in dieser stummen Szene.

Als hätte Aiwa das erwartet, folgte er seiner anderen Hälfte, die hinter der Kuppel verschwunden war, mit unver­änderter Geschwindigkeit. Wie eine Wolke glitt er an der plastverkleideten Wand entlang, ohne durch sie hindurch­gehen zu können und damit der sich hinziehenden Jagd ein­fach ein Ende zu machen.

Ein paar Minuten waren Arben geschenkt worden. Ein paar Minuten, nicht mehr. Bei der Jagd rings um die Kuppel schien Aiwa ihm überlegen zu sein. Natürlich drohte dem Verfolgten, solange der Verfolger ihm nur mit der gleichen Geschwindig­keit nachsetzte, keine Gefahr, aber das konnte nur so lange währen, wie seine Kräfte nicht erschöpft waren und er nicht umfiel. Wie lange würde diese Galgenfrist dauern?

Arben wagte nicht, sich umzudrehen. Er glaubte, im Nacken bereits einen keuchenden Atem zu spüren, obwohl Aiwa gar nicht atmete. Es waren seine eigenen Nerven. Konnte er sicher sein, dafi seine gesunden Nerven - ein Geschenk Newmores -in letzter Minute, kurz vor dem Finale, nicht doch plötzlich versagten?

Sie liefen mehrmals um die Kuppel der U-Bahn-Station her­um. Nur Arbens Schritte hallten durch die nächtliche Stille -Aiwa bewegte sich lautlos.

Plötzlich tauchte ein Betrunkener auf, der schwankend um eine Ecke kam und das ungewöhnliche Schauspiel mit erlebte. Verständnisvoll pfiff er durch die Zähne: .Ich sehe schon alles doppelt! Hol's der Teufel!" Seine versoffene Stimme klang verzweifelt. .Lieber schon den geschwänzten Teufel als diese Gemeinheit! He, Freundchen!" rief er plötzlich, .du bist nur einmal da, das weifi ich ganz genau, warum spielst du solche Possen?"

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Er schüttelte den Kopf, spuckte aus und torkelte weiter die Straße entlang.

.Zu allem Übel ist die U-Bahn auch noch geschlossen", ver­nahm Arben, dessen Sinne hellwach waren.

Wie durch ein Wunder entrann er der ausgestreckten, schwach leuchtenden, fleischlosen Hand Alwas. Seine Joppe begann zu qualmen und fing Feuer. Es roch widerlich nach verbrannter Wolle. Im Laufen warf Arben das glosende Kleidungsstück von sich. Wie sehr beneidete er jetzt den be­trunkenen Zecher, der sich taumelnd durch die Straßen schleppte.

Die Beine zitterten Arben bereits, während er immer noch um die Kuppel herumlief und einen verzweifelten Blick auf die verschwommene Perspektive der langen geraden Straße warf, durch die er vor zwanzig Minuten hierhergeflüchtet war. Ganz am anderen Ende konnte er den schmalen Strahl des mittleren Wagen Scheinwerfers mehr erraten, als daß er ihn wirklich sah. Plötzlich durchzuckte ein einfacher, sonnenklarer Gedanke sein getrübtes Bewußtsein. Er brauchte doch nur wie­der in die Straße einzubiegen und zu seinem .Besan" zurück­zulaufen. Aiwa würde ihm natürlich folgen, aber das war schon nicht mehr so schlimm. Bei gerader Strecke, noch dazu auf eine relativ kurze Entfernung, würde Aiwa ihn schwerlich ein­holen.

Ein verzweifelter Satz - und schon hatte sich Arben von der schützenden Kuppel gelöst und lief die Straße entlang auf . sein verlassenes Auto zu. Er achtete darauf, nicht mit den Armen zu schlenkern, um Aiwa nicht zu berühren, der ihm fast auf dem Fuße folgte.

Jeder Schritt brachte Arben der Rettung näher. Der .Besan" stand dort, wo er ihn verlassen hatte, um Linda bis vors Haus zu begleiten. Wahrscheinlich schlief sie schon.

Er würde einige Zeit benötigen, um den Schlag zu öffnen. Dann mußte er einsteigen und die Tür wieder schließen, da­mit Aiwa nicht etwa auch noch hineinhuschte. Noch fünfzehn . . . zehn . . . zwei Schritte. Arben riß die Tür auf, sprang hin-

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ein und sank zu Boden. Er hörte ein Geräusch, als platze eine Stoffbahn, und eine weifte Stichflamme erhellte alles rings­um. Arben verspürte im Nacken einen heftigen Schmerz, der sich in heifien Wellen über seinen ganzen Körper ausbreitete. Die Feder hatte jedoch exakt funktioniert, und die Tür war sofort hinter ihm zugeschlagen.

Als Arben wieder zu sich kam, stöhnte er leise. Er glaubte, der Kopf müftte ihm zerspringen. Sein abgestorbener Körper war wie ein Sack voll Watte. Auf die Hände gestützt, blickte er durch die vordere Scheibe und fuhr entsetzt zurück. Ein Gespenst starrte ihn durch die Scheibe an. Aiwa hatte sich den Platz ausgesucht, von dem aus der Abstand zu Arben am geringsten war. Sein bleiches Gesicht ähnelte einer Maske, die Arme hielten den Kühler umfaftt. Geduldig hockte er da und wartete, bis sein Opfer herauskäme.

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Arben atmete tief auf, war er doch einer großen Gefahr ent­ronnen. Dann drückte er mit dem Finger eine Ecke der Plast­verkleidung wieder gegen die Kabinenwand.

Nach einer kurzen Ruhepause betätigte er den Anlasser. Der Wagen fuhr an. Alwas Gesicht glitt langsam von der Windschutzscheibe. Sein Körper sank vom Kühler herab.

Als Arben den Wagen wendete, sah er sich um. Alwas Ge­stalt, von der Laterne schwach beleuchtet, war bald verschwun­den.

Erleichtert zündete sich Arben eine Zigarette an. Sein Nak-ken schmerzte bei jeder Bewegung.

Er lehnte sich in den Sitz des „Besan" zurück und ließ seinen Blick über die dunklen Massive der schlafenden Häuser glei­ten. Nur hier und da war die Kuppel eines Nachtklubs er­leuchtet.

Endlich hatte der Wagen das Zentrum passiert. Hier, am Stadtrand, waren die Häuser niedriger, die Beleuchtung schlechter. Bald begann das Territorium der Western Com­pany. Ich muß mich hinlegen, damit ich morgen gut ausgeruht bin, dachte Arben.

Zwei Monate hatte Aiwa die ihm auferlegte Mission er­füllt, indem er Arben alle Sorgen und seelischen Nöte ab­nahm. Seine Verfolgungswut wurde jedoch immer unerträg­licher. Wer mochte daran schuld sein? Arben selbst, weil er nicht alle Instruktionen Newmores erfüllt hatte? Oder war Aiwa eine unausgereifte Konstruktion? Wahrscheinlich hatte Newmore seine Schöpfung in Umlauf gesetzt, um einige noch ungeklärte Probleme der Biokontakte zu klären und dann zur Serienproduktion und zum Geldscheffeln bei seinen reichen Kunden überzugehen.

Er wird andere genauso täuschen wie mich, dachte Arben, als er den Wagen in die Garage stellte. Ihm macht das nichts aus, wenn es nur Geld bringt. Newmore verkauft Illusionen. Sobald ich von Aiwa erlöst bin, werde ich eine Presseerklärung abgeben . . .

Er verließ die Garage, blieb ruhig stehen und genoß die

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nächtliche Kälte. Von Aiwa war zunächst nichts zu befürchten, wahrscheinlich irrte er irgendwo im Zentrum umher.

Der Nacken schmerzte in der Kälte nicht mehr so sehr. Als Arben schon ganz durchgefroren war, kam er wieder zu sich. Morgen gehe ich zum Arzt. Ich sage einfach, ich hätte mich verbrannt, dachte er, als er seine Zimmertür hinter sich schloß.

Am nächsten Morgen war der Schmerz fast vergangen, so daß er keinen Arzt aufzusuchen brauchte. Er schaltete das Videofon ein. Die hübsche Sekretärin blickte hastig zur Seite, als sie den Ingenieur erkannte; sie hatte es immer noch nicht gelernt, seinem Blick standzuhalten.

„Ich komme heute nicht in die Abteilung", erklärte Arben ruhig. „Ich fahre zu Newmore. Wir haben etwas zu bespre­chen."

„Zu Newmore?" fragte sie zurück. „Er hat bereits hier an­gerufen."

Seltsam, dachte Arben. „Dr. Newmore hat ein wichtiges Anliegen an Sie. Er bat,

Sie nicht aufzuhalten." Rührend, wie besorgt er um mich ist, dachte Arben grin­

send, als er den Apparat ausschaltete. Wo mochte Aiwa jetzt stecken. Ob er während der Nacht

hierhergefunden hatte? Vielleicht irrte er auch noch ziellos durch die Straßen und hatte die Orientierung verloren? Woher sollte der Ärmste wissen, daß er nur noch ganz kurze Zeit zu leben hatte? Töten würde ihn - welche Ironie des Schick­sals! - sein Schöpfer selbst. Bald würde Arben in seinen alten Zustand zurückkehren, und Aiwa würde verschwinden, sich auflösen, wieder in seine Bestandteile zerfallen. Arben war gespannt, wie das wohl vor sich gehen würde - als langsamer Prozeß oder in Form eines Feuerwerks? Er könnte Newmore fragen. Doch lieber nicht: Ein Gespräch über dieses Thema würde dem Physiker bestimmt nicht angenehm sein.

Arben bemühte sich, den Kopf nicht zu wenden. Doch auch der Schmerz im Nacken beeinträchtigte nicht seine gute Stim­mung.

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Mit dem Morgengrauen waren die nächtlichen Angstgefühle verschwunden, und Arben gewann seine Selbstsicherheit zu­rück. Vielleicht sollte er gar nicht zu Newmore fahren, son­dern alles so lassen, wie es war? Aber nein. Die nächtliche Jagd durch die menschenleeren Strafjen stand ihm noch zu deutlich vor Augen. Wenn die U-Bahn-Kuppel nicht gewesen wäre, wie hätte er Aiwa dann überlisten sollen? Ein schreck­licher Gedanke . . .

Der Wagen passierte das Polytheater und fuhr über eine Brücke, die den östlichen und westlichen Teil der Stadt mit­einander verband. Der Selbstfahrer chauffierte den Wagen auf kürzestem Wege zu dem angegebenen Ort. Die leuchtende Punktierung auf der Stereokarte zeigte an, dafi er bereits mehr als die Hälfte der Wegstrecke zurückgelegt hatte.

Newmore wird mich schon erwarten, dachte Arben, als er durch das Brückengeländer auf die schwerfälligen, bleigrauen Wellen des Flusses sah.

Je länger die punktierte Linie auf dem Armaturenbrett wurde, um so mehr wuchs Arbens Unruhe. Es machte ihn nervös, daß Newmore die Verabredung im Biozentrum an­gesetzt hatte. Arben war einige Male dort gewesen und wußte, daß für Autos die Einfahrt verboten war. Er mußte also zu Fuß hineingehen. Am Eingang würde er das kleine Notizblatt mit Newmores Handschrift vorzeigen. Das Elektronengehirn in der Pförtnerloge würde sofort und fehlerlos die Echtheit des Passierscheins feststellen und das Fotoelement aufleuchten lassen. Dann erst würde die Drehtür den Weg zu Newmore freigeben. Sollte Aiwa auch dort eindringen, dann würden sie alle gemeinsam zugrunde gehen. Man konnte nur hoffen, daß der schlaue Newmore auch daran gedacht hatte. Wahr­scheinlich hatte er sich auf den gefährlichen Besuch schon vor­bereitet und die Wände des Labors mit Schutzplast tapeziert.

Newmore betrat das Labor und ließ sich mißmutig auf einen Stuhl nieder. Der Versuch, der so glänzend begonnen hatte, mußte also abgebrochen werden. Aiwa, seine Schöpfung,

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würde zugrunde gehen, würde in seine Bestandteile zerfallen und verschwinden.

Wie viele schlaflose Nächte, wie viele Hoffnungen und nicht zuletzt wieviel Geld hatte er in Aiwa investiert! Alles das würde zunichte werden.

Arben, dieser Dummkopf, verzichtete auf sein Glück und verdächtigte ihn obendrein noch des Betruges. Newmore hätte weiß Gott gern mit Arben getauscht, brächte er nur die Vor­aussetzungen für den Versuch mit. War es nicht verführerisch, alle seine Sorgen und Kränkungen loszuwerden, indem man sie einfach einem Doppelgänger auflud? Und er hatte nicht wenig Ärger, wenn es auch so scheinen mochte, als sei er ein vom Schicksal verhätscheltes Glückskind, dem alles gelang. Nur wenige wußten, welche Mühe jeder Schritt auf dem Pfade der Erkenntnis kostete.

Newmore stützte seinen Kopf in die Hände und blickte auf das Schaltpult, an dessen Rand ein kaum wahrnehmbarer Sprung zu sehen war. * Hier hatte Arben gestanden, als er sich dazu durchrang, seine psychischen Leiden auf Aiwa zu übertragen. Es war, als ob es gestern gewesen wäre . . .

Das Experiment verlief normal. Die Apparaturen auf dem Pult - Newmore verglich ihre Daten täglich - zeigten an, daß Aiwa die Toleranzwerte nicht überschritt.

Warum war Arben nur so aufgebracht? Sollte es selbst Aiwa nicht gelingen, den armen Kerl vollständig zu heilen?

Newmore faßte sich vorsichtig an die Kehle. Nach der wider­lichen Szene im Restaurant war er sehr ärgerlich auf Arben gewesen. Das dauerte indes nicht lange. Zu Newmores eige­ner Verwunderung verging sein Zorn rasch. Dafür stellte sich Mitleid ein und die Vorahnung eines Unglücks, die von Arbens verworrener Schilderung seiner Abenteuer mit Aiwa genährt wurde. Was sollte geschehen, wenn an Arbens Behauptungen etwas Wahres war? Es würde bedeuten, daß sich ein Fehler in Newmores Berechnungen eingeschlichen hätte und Aiwa sich nicht ganz so verhielt, wie er angenommen hatte. Aber

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Aiwa war dumm wie vierzigtausend Roboter, und man konnte ihn leicht täuschen.

Jetzt war es allerdings zu spät herauszufinden, wer im Recht und wer im Unrecht war. Aiwa würde zugrunde gehen, da­mit Arben in seinen früheren Zustand zurückversetzt werden konnte - einen in der Tat wenig beneidenswerten Zustand.

Newmore ging ans Pult und drückte auf den Signalknopf. Wo mochte sich Aiwa jetzt aufhalten? Schweifte er ziellos durch die Straßen, in der Hoffnung, Arben zu begegnen? Oder hatte er sich irgendwo versteckt und lauerte dort auf seine andere Hälfte? Ein Hinterhalt - das war es, was der arme Teufel Arben am meisten fürchtete. Vielleicht befand sich Aiwa auch an einem gänzlich unpassenden Ort, im Museum zum Beispiel oder in dem exklusiven Klub der Pythagoreer, den Arben nicht betreten durfte. Vielleicht war er auch ganz woanders - schließlich stand ihm jede Tür offen, genauer ge­sagt, er brauchte gar keine Tür.

Für Arbens zahlreiche Bekannten mußte es ja in der Tat verwirrend sein, wenn der Doppelgänger stumm an ihnen vor­überging, ohne sie zu erkennen.

Gleich würde sich klären, wo Aiwa zur Zeit steckte. In wenigen Sekunden würde er auf das Funksignal reagieren, und seine Antwort würde zwei Zahlen enthalten - die Koor­dinaten seines Aufenthaltsortes. Kannte man sie, so ließ sich auf der Stereokarte der Stadt mühelos feststellen, wo die schlechtere Hälfte Arbens herumstromerte.

Die Zeit verging, das Kontaktsignal aber flammte nicht auf. Merkwürdig. Das hatte es früher nie gegeben, Aiwa hatte jedesmal gehorsam Verbindung aufgenommen.

War es eine Störung? Ein Fehler in der Apparatur? Fünf Minuten später hatte sich Newmore vergewissert, daß alle Geräteblöcke in Ordnung waren. Und schon verwandelte sich seine unbestimmte Befürchtung in Gewißheit.

Aiwa, das künstlich aus zahlreichen Antiteilchen zusammen­gesetzte willenlose Phantom in Menschengestalt, war außer Kontrolle geraten! Gestern noch seinem Schöpfer gehorchend.

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hatte es sich heute aus seinem Griff befreit und irrte in der riesigen Stadt umher, ungefährlich für alle aufjer für einen . . .

Die Sache war kompliziert geworden. Es blieb nur zu hof­fen, daß in der Nacht nichts passierte; morgen, wenn Arben käme, würde Newmore Aiwa einfangen können, wozu er mäch­tige Magnetfallen benutzen würde. Arben würde der beste Köder für Aiwa sein.

Er mußte ihn unbedingt anrufen und warnen. Sollte Arben mit seinem Wagen ruhig bis an das Hauptportal heranfahren. Newmore würde ihn in Empfang nehmen. Arben brauchte nur eine kleine Strecke zu Fuß zurückzulegen. Hier im Labor würde er sicher sein - dafür wollte Newmore sorgen.

Er trat ans Fenster. In dieser verrückten Welt war alles widersinnig, sogar das Wetter. Wieder taute es, dabei hatte vor ein paar Stunden, als er mit Arben verhandelte, noch Frost geherrscht. Das Fenster war mit Rauhreif bedeckt.

Newmores Laboratorium befand sich in einer der oberen Etagen, und das Panorama der Stadt, das sich jenseits der Mauer hinzog, lag wie auf der flachen Hand vor ihm. Bei klarem Wetter konnte man sehr weit blicken, jetzt behinder­ten Regen und Schnee die Sicht. Fußgänger waren kaum zu entdecken. Um sie zu erkennen, hätte man außerdem das Fenster blank reiben und angestrengt hinsehen müssen; von hier oben wirkten die Menschen wie kleine Käfer.

Auf dem Platz vor dem Haupteingang des Werkgeländes wurde der Asphalt ausgebessert. Newmore stutzte. Eine Ma­schine, die von oben aussah wie ein Walfisch, der einen Was­serstrahl emporspritzte, bewegte sich langsam im Kreis; hin­ter ihr erschien das glänzende Band einer neuen Straßendecke. Wozu mußten die Straßenarbeiter ausgerechnet heute den ganzen Platz umwühlen, zu einer so unpassenden Zeit? Rich­tig, in Kürze stand ja ein Feiertag bevor.

„Western Company!" rief Newmore in die Membrane des Videofons. Aber der Bildschirm blieb dunkel. Newmore rieb sich die Stirn, auf die ihm plötzlich der Schweiß getreten war. Hatten sich denn alle Mächte gegen Arben verschworen?

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Newmore schob den roten Nonius nervös hin und her. „Ich höre", ertönte plötzlich die melodische Stimme einer

Blondine. „Ich kann keine Verbindung mit der Western Company be­

kommen", sagte Newmore. „Gut, daß wenigstens das Aus­kunftszentrum antwortet!"

„Regen Sie sich nicht auf! Die Leitung ist zeitweilig ge­stört!"

„Wird es lange dauern?" „Morgen früh wird sie wieder in Ordnung sein. Auf dem

Platz werden Reparatur- und Aufschließungsarbeiten durch­geführt."

„Sagen Sie, was soll dieses alberne Pflaster auf dem Platz?" fragte Newmore aufgebracht.

„Verzeihen Sie, ich kann hier nicht über die Anordnungen der städtischen Behörden diskutieren", sagte die Blondine kalt.

Der Bildschirm erlosch. Newmore verlor seine gewohnte Ruhe. Es hatte immer den

Anschein gehabt, als könne ihn nichts erschüttern. Weit in der Ferne segelte langsam eine Wolke dahin. Die Bäume am Ufer betrachteten gleichmütig ihre Spiegelbilder auf der ruhi­gen Wasserfläche. Käme ein Wind auf, wäre die Ruhe dahin! Und dort im Wasser würde sich eine ganze Welt plötzlich in ein Chaos verwandeln.

So war auch in Newmores Welt ein Chaos ausgebrochen. Die Formeln waren zwar unendlich kompliziert, doch änderte das etwas an ihrer Richtigkeit? Sie stimmten. Was aber war dann los? Warum benahm sich Aiwa so unverständlich?

Nein, er war kein Mystiker. Es gab keine Folgen ohne Ur­sachen, wie es keinen Rauch ohne Feuer gab. Wo lag dann der Irrtum, wenn sich an den physikalischen Grundlagen seiner Konstruktion nicht rütteln ließ?

Plötzlich kam Newmore ein Gedanke, und er blieb mitten im Labor stehen. So mußte es sein! Wahrscheinlich ließ sich kein Mensch mechanisch in Gut und Böse, in Fehler und Tu­genden einteilen. Erst alle Eigenschaften zusammengenommen

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bildeten jenen geheimnisvollen Organismus, den man eine Persönlichkeit nennt.

Jedes x-beliebige Ding stellt eine Einheit dar, die man nicht ungestraft verletzen kann. Das beginnt schon mit dem Atom. Zerlegt man es in Elektronen und Protonen, so ver­schwindet es. Die Teilung als solche zerstört es bereits.

Vor allem mußte er die Magnetfalle in Ordnung bringen. Außerdem mußte eins der Zimmer mit Schutzplast tapeziert werden, dort würde Arben so lange wohnen, bis Aiwa, durch den Köder angelockt, in der Falle wäre.

Jetzt kam es darauf an, Aiwa zu fangen. Dann würde New­more schon herausfinden, was geschehen war, und das ein­heitliche Ganze, das sich Ingenieur Arben nannte, aus beiden Hälften wieder zusammensetzen können.

Der „Besan" bremste so scharf, daß Arben fast mit der Nase gegen die Windschutzscheibe geprallt wäre. Der abgeklungene Schmerz im Nacken brachte sich sofort wieder in Erinnerung. Arben blickte durch das Fenster und fluchte. Der Platz vor dem Eingang des Biozentrums war umzäunt. „Durchfahrt vor­übergehend gesperrt", verkündete eine Tafel. Mit einem Ruck öffnete Arben die Tür und sprang aus dem Wagen. Heute schien es noch kälter zu sein als gestern. Die eisige Oberfläche des Platzes glänzte trocken. Seltsam, dachte Arben. Schon beim ersten Schritt rutschte er aus und wäre beinahe hingefallen. Er strich über die harte, dicke Fläche, und ihm ging ein Licht auf. Künstliches Eis, dachte er. Was soll das? Und warum hat man dazu nicht gewöhnliches Wasser genommen? Ach ja, die Tem­peratur hatte gestern bei null Grad gelegen, Wasser wäre nicht gefroren . . .

Der Platz war fast menschenleer. Nur am Rande bewegten sich einzelne Fußgänger. Dort war es wahrscheinlich nicht so glatt. Arben entschloß sich dennoch, den Platz auf kürzestem Wege zu überqueren.

In Gedanken versunken, bemerkte er nicht, wie sich vom Denkmal, das sich in der Mitte des Platzes erhob, eine Ge-

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stalt löste und ihm entgegenkam. Als er sie entdeckte, war es bereits zu spät.

Ihm entgegen kam sein Doppelgänger - Aiwa. Der rechte Zeitpunkt war verpaßt. Außerdem konnte sich

Arben auf der glatten Fläche nicht frei bewegen. Was Aiwa betraf, so war es für ihn belanglos, ob er Eis oder Asphalt unter sich hatte: Die Saugknöpfe an seinen Stiefeln waren so be­schaffen, daß sie an jeder beliebigen Materie gleich gut hafte­ten ; was hingegen seine Beweglichkeit betraf . . . Änderte es etwas an der Stärke des Windes, ob er über Wüste, Steppe oder Dschungel hinwegfuhr?

Arben wollte trotzdem versuchen, der Begegnung auszu­weichen, blieb aber sofort wieder stehen. Es war sinnlos. So ging er seinem gespenstischen Doppelgänger entgegen. Wie konnte Aiwa nur wissen, daß ich heute morgen auf diesem Platz sein würde? Besitzt er etwa telepathische Eigenschaften? Das war das letzte, was Arben denken konnte.

Die Explosion klang gedämpft. Dort, wo sie erfolgt war, erhob sich sogleich ein graubrauner Rauchpilz mittleren Aus­maßes. Der Platz, vor einer Minute noch fast menschenleer, belebte sich plötzlich.

Die seltsam geformte Wolke, die eine große Menschen­menge angelockt hatte, stieg zu einer hohen Säule empor, die sich nach oben hin verbreiterte und verteilte.

„Ich habe alles von Anfang an gesehen", sagte jemand. „Er kam daher wie aus einer Bar. Auf dem Platz schien die Sonne, und trotzdem war dort Eis. Ich sehe - der Mann geht über den Platz. Genauer gesagt, er geht nicht, er gleitet - fast wäre er hingefallen. Da kommt hinter dem Denkmal ein anderer hervor. Ich traue meinen Augen nicht: beide sehen sich ähnlich wie Zwillingsbrüder . . ."

In der Menge wurde verständnisvoll gelächelt. Der Zeuge war selber gerade aus einer Bar gekommen.

„Laßt mich doch aussprechen", rief der Erzähler und ver­suchte, die Aufmerksamkeit noch einmal auf sich zu lenken. „Sie gingen einander entgegen. Langsam, ohne sich zu be-

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eilen. Wie Brüder. Derjenige, der hinter dem Denkmal her­vorgekommen war, streckte dem anderen sogar die Hand ent­gegen. Gleich, denke ich, werden sie sich umarmen. Die hatten sich aber kaum berührt, als es auch schon knallte . . . "

„Und die beiden, wo sind sie geblieben?" fragte eine alte Frau in schwarzem Kleid.

„Ich weift nicht, ich habe sie nicht mehr gesehen. Meiner Meinung nach sind sie verschwunden", sagte der Erzähler ratlos.

Während die Debatte immer hitziger wurde, kam plötzlich ein bleicher Mann aus dem Tor und steuerte auf die Menge zu. Der Lärm verstummte.

„Das ist Newmore." Ein Flüstern ging durch die Menge. Den berühmten Physiker kannten viele vom Sehen.

Der Kreis öffnete sich, und Newmore ging zu der grau­braunen Rauchsäule, die bereits merklich heller geworden war. Er zog einen Strahlungsmesser aus der Tasche und hielt ihn in den Rauch. Erst jetzt wurde den Passanten die Gefahr der Strahlung bewufit. Die Menge löste sich auf, die vorderen stolperten und traten den hinter ihnen Stehenden auf die Füfie.

Newmore sah auf die Skala des Dosimeters und schüttelte besorgt den Kopf.

„Wissen Sie, was hier los ist?" erkundigte sich ein junger Mann, der eine Sportjacke trug.

„Sind hier wirklich unterirdische Rohrleitungen?" fragte je­mand aus der Menge.

„Sie haben recht", warf Newmore mürrisch hin, ohne auf­zublicken. „Eine unterirdische Verbindungslinie ist geplatzt."

„Na, was habe ich gesagt!" Newmore rifj ein kleines Päckchen auf und streute ein

weifies Pulver in den Rauch. Jetzt löste er sich rasch auf, und nach einer Minute war die graubraune Säule verflogen. An ihrer Stelle zeigte sich ein tiefer Trichter, auf dessen Grund eine dunkle, ölige Flüssigkeit glänzte.

Die Mutigsten blickten hinein und spürten einen gewittrigen Ozonduft.

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.Wem sein Leben lieb ist, den bitte ich, den Platz zu ver­lassen", sagte Newmore laut.

Die Gaffer gingen langsam auseinander, vorsichtig auf der glatten Fläche balancierend. Der Platz verödete. Nur einer blieb zurück - der berühmte Physiker Newmore.

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Nachbemerkung

Nur einer blieb zurück - der berühmte Physiker Newmore. Er ist, wie auch sein Gegenspieler, nur eine erdachte Figur in einer phantastischen Erzählung, die das gefährliche Tun gewissenloser Forscher in einem von kapitalistischem Gewinn­streben geprägten Lande brandmarken soll.

Newmore befreit sein Versuchsobjekt Arben von „lästigen Charaktereigenschaften" und zerstört damit Arbens Persön­lichkeit, degradiert ihn zu einem scheinbar tadellos funktio­nierenden Roboter, der auch den letzten Kontakt zu seiner Umwelt noch verliert und schließlich zugrunde geht. Die Erfindung des Physikers Newmore knüpft zwar in ihrem Kern an reale Forschungsziele der Biologie an; zum Wohle der Menschheit angewandt, könnten diese zum Beispiel da­zu beitragen, Geisteskrankheiten zu heilen. Die phantastische Zuspitzung in unserer Erzählung ließe sich jedoch niemals, auch mit den kompliziertesten Apparaten nicht, verwirklichen, denn die Eigenschaften eines Menschen, seine positiven und negativen, lassen sich nicht aussondern, der Mensch als Per­sönlichkeit ist unteilbar.

Wirklichkeitsnah bleibt diese phantastische Geschichte den­noch mit ihrem gesellschaftlichen Hintergrund: Nur in einem System, das nicht nach dem Nutzen für die Allgemeinheit fragt, in dem Skrupellosigkeit und Gewalt herrschen, kann jede wis­senschaftliche Erkenntnis zum Schaden für die Menschheit ver­wandt werden, wenn das den Interessen rücksichtsloser Macht­haber entspricht.

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Frank Petermann
Schreibmaschinentext
Scanned by Manni Hesse

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