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Das Unheil von Wailing Rocks

Date post: 04-Jan-2017
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Ein eisiger Wind fegte über den Berg. Trotz ihrer Umhänge aus Bärenfell drängten sich die Mitglieder des Stammes vor der Höhle eng aneinan- der, um sich gegenseitig zu wärmen. Sie warteten auf das Erscheinen des Priesters, der in der Höhle war. In der vordersten Reihe stand das Mädchen Sana. Zwei der stärksten Krieger hielten sie fest. Nur in ein Gewand aus Hirschleder gehüllt, stand sie im knöcheltiefen Schnee. Ihre Augen waren blicklos, fast so, als habe ihr Geist ihren Körper verlassen. A'den, der Krieger an ihrer rechten Seite, schaute sie forschend an. Wo- hin war ihr Geist gegangen ? A'den kannte Sana, seit sie Kinder gewesen waren. Und schon da- mals hatten sie gewußt, daß dieser Tag kommen würde, denn sie war für Mogar auserwählt worden, als sie gerade erst fünf Jahre alt war. A'den erinnerte sich noch, wie sie tagelang herzzerreißend geweint hatte, er erinnerte sich an ihr kleines, schmales Gesicht, tränenüber- strömt und gezeichnet von dem Wissen um das, was sie erwartete. Er erinnerte sich auch daran, wie er selbst geweint hatte, allein in der Nacht, wenn niemand ihn sehen oder hören konnte, denn ein Krieger weint nicht. Auch nicht um eine Freundin, die sterben muß. Sie hatten nicht darüber gesprochen, weder damals noch später. Ir- gendwann, es mag einen Monat nach der Ankündigung des Opfers ge- wesen sein, hatte Sana aufgehört zu weinen. Ernst und still war sie ge- worden. In dieser Zeit hatte A'den angefangen, sie zu lieben, und die Stärke seiner Liebe war mit ihm gewachsen. Er drückte Sanas Arm, doch sie ließ nicht erkennen, ob sie es gespürt hatte. Plötzlich trat der Priester mit seinem Stab aus der Höhle. Sein schwarzes Haar wehte im Wind. Ein Raunen ging durch die Menge. Würde Mogar das Opfer annehmen? Langsam ging der Priester auf Sana zu. Seine stechenden schwarzen Augen glänzten fiebrig. Erzog ein Messer aus seinem Gürtel, nahm es in beide Hände und hielt es vor ihr Gesicht. Sie blinzelte nicht einmal. Der Priester steckte das Messer wieder in den Gürtel und nickte den Kriegern zu, die das Mädchen hielten. Sie traten vor. Vor dem Höhlen-
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Ein eisiger Wind fegte über den Berg. Trotz ihrer Umhänge aus Bärenfell drängten sich die Mitglieder des Stammes vor der Höhle eng aneinan­der, um sich gegenseitig zu wärmen. Sie warteten auf das Erscheinen des Priesters, der in der Höhle war. In der vordersten Reihe stand das Mädchen Sana. Zwei der stärksten Krieger hielten sie fest. Nur in ein Gewand aus Hirschleder gehüllt, stand sie im knöcheltiefen Schnee. Ihre Augen waren blicklos, fast so, als habe ihr Geist ihren Körper verlassen. A'den, der Krieger an ihrer rechten Seite, schaute sie forschend an. Wo­hin war ihr Geist gegangen ?

A'den kannte Sana, seit sie Kinder gewesen waren. Und schon da­mals hatten sie gewußt, daß dieser Tag kommen würde, denn sie war für Mogar auserwählt worden, als sie gerade erst fünf Jahre alt war. A'den erinnerte sich noch, wie sie tagelang herzzerreißend geweint hatte, er erinnerte sich an ihr kleines, schmales Gesicht, tränenüber­strömt und gezeichnet von dem Wissen um das, was sie erwartete. Er erinnerte sich auch daran, wie er selbst geweint hatte, allein in der Nacht, wenn niemand ihn sehen oder hören konnte, denn ein Krieger weint nicht. Auch nicht um eine Freundin, die sterben muß.

Sie hatten nicht darüber gesprochen, weder damals noch später. Ir­gendwann, es mag einen Monat nach der Ankündigung des Opfers ge­wesen sein, hatte Sana aufgehört zu weinen. Ernst und still war sie ge­worden. In dieser Zeit hatte A'den angefangen, sie zu lieben, und die Stärke seiner Liebe war mit ihm gewachsen.

Er drückte Sanas Arm, doch sie ließ nicht erkennen, ob sie es gespürt hatte.

Plötzlich trat der Priester mit seinem Stab aus der Höhle. Sein schwarzes Haar wehte im Wind. Ein Raunen ging durch die Menge. Würde Mogar das Opfer annehmen?

Langsam ging der Priester auf Sana zu. Seine stechenden schwarzen Augen glänzten fiebrig. Erzog ein Messer aus seinem Gürtel, nahm es in beide Hände und hielt es vor ihr Gesicht. Sie blinzelte nicht einmal.

Der Priester steckte das Messer wieder in den Gürtel und nickte den Kriegern zu, die das Mädchen hielten. Sie traten vor. Vor dem Höhlen-

eingang waren zwei schulterhohe Holzpfähle in den Boden getrieben worden. Mit Lederschnüren banden A'den und sein Kamerad Janas Arme an die Pfähle.

Auf ein Zeichen des Priesters hin gingen Ä den und der andere Krieger zu den übrigen Stammesmitgliedern zurück. Der Priester hob die Arme. „Mogar!"rief er. „Mogar, komm und hole, was dein ist!"

Unruhe breitete sich unter den Angehörigen des Stammes aus. Der Priester wandte sich um und machte ihnen Zeichen. „Mogar!" rief er wie­der, „Mogar! Mogar!"

Sie nahmen den Ruf auf. „Mo-gar! Mo-gar!" Er wurde zu einem kraft­vollen, rhythmischen Singsang. Lauter und lauter erscholl der Ruf, bis er zu einem mächtigen Dröhnen wurde, das das Heulen des Windes über­tönte und als Echo von den Hügeln zurückkam.

Auch A'den wurde mitgerissen von der magischen Kraft, die von der Gruppe ausging. Zunächst hatte er noch versucht, sich dagegen zu weh­ren, doch bald merkte er, wie die Worte gegen seinen Willen aus seinem Mund kamen. „Mogar! Mo-gar! Mo-gar!"

An der Spitze des Stammes stand der Priester. Er hatte sich die Klei­der vom Leib gerissen und hielt das Messer über den Kopf. „Mo-gar!" schrie er. „Mo-gar! Mo-gar!"

Plötzlich begann die Erde zu beben. Der heulende Sturm legte sich von einem Augenblick zum nächsten. An seine Erteile trat ein neuer, anders­artiger Wind. Er blies aus dem Höhleneingang und trug den Geruch des Todes mit sich.

Die Mitglieder des Stammes schrien auf, nur der Priester sang weiter wie besessen. J'ana hing kraftlos in ihren Fesseln,

Und dann war Mogar da. Aus dem Höhleninneren brach ein Brüllen hervor, gefolgt von dem Entsetzensschrei des Stammes. Im selben Au­genblick erschien der riesige, häßliche Kopf in der Felsöffnung.

Jetzt endlich erwachte J'ana aus ihrer Teilnahmslosigkeit. Sie warf den Kopf zurück und schrie. Nie würde A'den diesen Schrei vergessen. Das riesige Maul öffnete sich. Ein Schatten fiel über die Angehörigen des Stammes. Alle drehten sich um und rannten davon. A'den mit ihnen. J'ana und der Priester blieben allein bei Mogar zurück.

Die Menschen liefen den Hügel hinunter, stolperten und fielen, einer trat auf den anderen auf der panischen Flucht vor dem, was sie aus dem Schoß der Erde heraufbeschworen hatten.

Hinter ihnen schrie J'ana noch immer. Und dann war es still.

1. KAPITEL

„Dennis, bist du fertig?" Die Stimme seiner Mutter riß Dennis Haie aus seinen Tagträumen. Er

stöhnte, da er nur zu gut wußte, was hinter ihrer Frage steckte. Sie wollte wissen, ob er sein dunkelblaues Jackett und die Krawat te an­hatte.

„Fast", rief er zurück. Er stand auf dem Treppenabsatz vor ihrem neuen Haus und schaute die Straße hinunter auf den Platz, der das Herz der kleinen Stadt Ashton im Staat Vermont bildete. Hinter dem Platz la­gen mehrere große weiße Häuser mit grünen Fensterläden. Seit über 200 Jahren waren sie schon da. Rechts und links von der Rasenfläche standen zwei für Neu-England typische Kirchen, weiß verputzt mit ho­hem, spitzem Turm. Was Dennis sah, war schon fast unerträglich kit­schig, wie aus einem Bilderbuch.

Wieder seufzte Dennis. Es half alles nichts. Er mußte die Krawat te umbinden. Also drehte er sich um und ging ins Haus. Rasch lief er die Treppe zu seinem Zimmer hinauf, wo vom Auspacken noch alles wild durcheinanderlag. Er zog das Sweatshirt aus und wühlte in einem Berg Klamotten nach dem Jackett und einer Krawat te.

Dennis war mit seinen Eltern erst vor drei Tagen nach Ashton gekom­men. Seine Eltern hatten sich riesig gefreut, als sie das große alte Haus fanden, so kurz nachdem sein Vater sich entschlossen hatte, am College von Ashton die Stelle als Leiter der neugegründeten Abteilung für Com­puterwissenschaften anzunehmen,

Dennis wäre viel lieber in Connecticut geblieben, in der Großstadt, wo er geboren und aufgewachsen war, doch seine Mutter war begeistert von der Vorstellung, auf dem Land zu leben.

„Meilenweit weg von dem Irrsinnsverkehr", sagte sie immer. Als Dennis so vor dem Spiegel stand urld sich die Krawat te umband,

überkam ihn plötzlich das Heimweh. Am nächsten Tag würde die Schule anfangen. Er hatte sich auf das letzte Schuljahr zusammen mit seinen Freunden gefreut. Jetzt war er der Neue, und das war absolut kein Grund, sich zu freuen.

Während er das Jackett anzog, überlegte er, wie die Jungen und Mäd­chen in Ashton wohl waren. Wenigstens ist die regionale High School

hier, dachte er. Die Schüler aus den umliegenden Ortschaften gingen alle in Ashton zur Schule. Und dann gab es ja auch noch die abgelegenen Straßen, wo er nach Herzenslust laufen konnte, ohne auf den Verkehr achten zu müssen. Und nur ein paar Minuten von einem Skigebiet ent­fernt zu wohnen, hatte ohne Zweifel seine Vorteile. Er strich sich eine blonde Locke aus der Stirn. Vielleicht war der Umzug nach Ashton doch nicht so schlimm. Seine Eltern war te ten schon an der Haustür auf ihn.,

„Hier, Den", sagte sein Vater und gab ihm die Wagenschlüssel, „du fährst."

„He, danke, Dad!" IVIai nicht darum bitten zu müssön, war eine ange­nehme Überraschung.

Nach einer kurzen Fahrt durch die Außenbezirke der Stadt erreichten sie ein großes, rustikales Gebäude, das früher einmal eine Scheune ge­wesen sein mußte. „The Farmer's Restaurant" stand auf einem Schild über der Tür.

„Wie hübsch es hier ist!" rief Mrs. Hale, als sie das Restaurant betraten. Dennis mußte zugeben, daß es innen wahrhaft ig nicht nach einer

Scheune aussah. Der große, hohe Raum war anheimelnd gemütlich und elegant zugleich. In dem aus Natursteinen gemauerten Kamin brannte ein herrliches Feuer. Dennis lächelte, als er das Summen der Klima­anlage bemerkte. Anscheinend ließen sich die Leute die sogenannte „Atmosphäre" einiges kosten.

Der Besitzer, ein großer, stattl icher Mann, begrüßte sie freundlich. „Ich bin Will Horrigan", stellte er sich vor. „Ich kann mich nicht erinnern, Sie hier schon einmal gesehen zu haben. Sind Sie auf der Durchreise?"

„Nein, wi r wohnen seit drei Tagen hier, „erwiderte Mr. Haie lächelnd. „Ich bin Scott Haie, das ist meine Frau Cheryl und mein Sohn Dennis. Da ich von meinen Kollegen am College schon so viel über Ihr Restaurant gehört habe, wollte ich es mal ausprobieren."

„Das ist schön. Und herzlich willkommen in Ashton." Mr. Horrigan wandte sich an eine freundliche Frau von ungefähr vier-

zig Jahren, die zu ihnen getreten war, während sie geredet hatten. „Das ist meine Frau Grace. Sie ist der eigentliche Chef hier."

Grace Horrigan lächelte. Nachdem ihr Mann sie mit den Haies bekannt gemacht hatte, führte sie die Gäste zu einem Tisch beim Kamin. „Ich hoffe, es gefällt Ihnen bei uns", sagte sie, während sie jedem eine Spei­sekarte reichte. „Unsere Tochter Janet arbeitet heute abend hier. Sie wird Ihre Bestellung aufnehmen. Am besten, Sie stellen sich selbst vor." Bei diesen Worten blinzelte sie Dennis zu.

Kurz darauf kam ein schlankes Mädchen an den Tisch. Sie hatte rotes,

nicht zu bändigendes Haar und die blauesten Augen, die Dennis je gese­hen hatte. Er mupte sich beherrschen, um sie nicht regelrecht anzustar­ren. Ob alle Mädchen in Ashton so hübsch sind? schoß es ihm durch den Kopf.

„Hallo", sagte das Mädchen. „Ich bin Janet." Beim Lächein zeigte sich ein Grübchen am rechten Mundwinkel. Dennis war fasziniert.

„Mein Vater hat mir gesagt, ich soll mich heute abend ganz besonders um Sie kümmern." An Dennis gewandt, fuhr Janet fort : „Du gehst be~ ,. st immt aufs College hier/4

Daß sie ihn für einen Studenten hielt, schmeichelte Dennis. „Äh, nein. Das heißt, ich hoffe." Verflixt, weshalb machte ihn dieses Mädchen nur so verlegen? „Jetzt hab ich erst mal noch ein Jahr High School vor mir."

Janet strahlte ihn an. „Super. Ich hab auch noch zwei Jahre. Freust du dich auf die Schule? Sie fängt morgen an."

„Ich weiß, ich hab mich am Freitag angemeldet." Während Janetund Dennis sich unterhielten, hattenMr. undMrs.Hale

die Speisekarte studiert. Als Mr. Haie sich nun räusperte, wurde Janet rot. „Tut mir leid. Haben Sie schon gewählt?"

Mr. Haie lächelte und nickte seiner Frau zu. Janet schaute plötzlich sehr professionell aus, und Dennis überflog rasch die Speisekarte.

Nachdem Janet die Bestellungen aufgenommen hatte und mit dem Zettel in die Küche gegangen war, schaute Scott Haie seinen Sohn an und meinte: „Sie ist ausgesprochen hübsch."

Dennis, der Janet mit unverhohlener Bewunderung nachgeschaut hatte, wurde rot. , Ja. Viel zu hübsch. Wahrscheinlich geht sie schonfest mit irgendeinem Typ vom College." Er seufzte. „Ich wünschte, ich müßte nicht wieder neu anfangen, Freunde zu suchen/'

Dennis genoß das Essen und die Tatsache, daß er dabei Janet beobach­ten konnte, wenn sie zu den anderen Tischen ging. Als die Haies mit dem Essen fert ig waren, kam sie an ihren Tisch und fragte, ob jemand einen Nachtisch haben wollte. Mr. und Mrs, Haie bestellten Kaffee.

„Ich komme bald um vor Durst", sagte Janet zu Dennis. „Wollen wir uns eine Cola genehmigen, während deine Eltern ihren Kaff eetrinken?"

„Geh nur", meinte sein Vater. Dennis stand auf und folgte Janet in die Küche. An der Tür zögerte er

kurz, doch sie nahm seinen Arm und sagte: „Ist schon okay. Komm ruhig rein,"

Während Janet zwei Gläser mit Eis und Cola füllte, schaute sichDennis in der Küche um. Die Stoßzeit war wohl vorbei, es war nur noch ein Koch da. Ein paar junge Männer in weißen Hosen und T-Shirts spülten ab. Sie sahen aus wie College-Studenten, die sich hierein bißchen Geld verdien-

ten. irgendwie war Dennis eifersüchtig auf sie, weif sie in der Nähe von Janet arbeiten durften. Jetzt mach aber mal einen Punkt! sagte er sich. Du kennst das Mädchen doch erst seit einer Stunde!

„Hier, nimm." Janet drückte ihm ein Glas in die Hand. „Laß uns nach draußen gehen. Es ist so heiß hier. Außerdem sehe ich an den Wochen­enden genug von der Küche."

Sie dirigierte ihn zu einer Tür, die auf einen kleinen Balkon führte. Obwohl es fast dunkel war, war der Blick auf die Berge, die sich hinter

dem Restaurant erstreckten, atemberaubend. Seite an Seite genossen Dennis und Janet die Aussicht.

Nach ein paar Minuten rieb sich Janet die Arme. „Für September ist es ganz schön kalt", meinte sie. „Wahrscheinlich wird der Winter früh kom­men."

Dennis zog sein Jackett aus. „Hier", sagte er und legte es Janet über die Schultern, „nimm das."

Zuerst wollte sie protestieren, dann sah sie ihn an, lächelte und zog das Jackett enger um sich. „Danke. Eigentlich hab ich nichts gegen die Kälte, weil dann die Skisaison früher anfängt."

„Du fährst Ski?" fragte Dennis begeistert. „Klar. In Vermont fährt jeder Ski." „Wollen wir mal zusammen fahren?" „Gern. Aber da hier wirklich jeder Ski fährt, fahren wir meist in der

Gruppe." „Ach so." Enttäuscht biß Dennis sich auf die Lippen. In diesem Augenblick kam Janets Mutter auf den Balkon. „Hier seid ihr", rief sie. „Ich hab euch schon überall gesucht. Deine El­

tern wollen gehen, Dennis." „Ich komme sofort." Seiner Stimme war deutlich anzuhören, wie we­

nig Lust er dazu hatte. Mrs. Horrigan lächelte. „So eilig ist es nun auch wieder nicht., Will ver­

sucht gerade, sie zu einer zweiten Tasse Kaffee zu überreden, und nor­malerweise gelingt ihm so was immer." Sie blinzelte Dennis zu, bevor sie in die Küche zurückging.

„Meine Mutter ist echt super", meinte Janet. „Wenn sie nur nicht im­mer so direkt wäre."

Dennis lachte. „Dasselbe Problem hab ich mit meinem Vater. Ich sag mir dann immer, daß er es im Grund ja nur gut meint. Sehen wir uns mor­gen in der Schule?"

„Sicher", erwiderte Janet, während sie Dennis das Jackett zurückgab. „Die High School hier ist nicht so groß. Wahrscheinlich hast du bis zur Mit­tagspause schon alles und jeden gesehen/Treibst du irgendeinen Sport, abgesehen vom Skilauf en?"

„Macht ihr Geländelauf an der Schule?4' „Na klar. Das gibt's bei uns schon seit Jahren. Die Schulleitung war bis

vor einem Jahr zu knausrig, um eine Bahn anzulegen, da blieb den Läu­fern nichts anderes übrig, als durchs Gelände zu rennen/ '

„Hört-sich nach massiver Konkurrenz an", meinte Dennis. „Du schaffst das schon." Janet lächelte ihr Grübchenlächeln, und er

wünschte , seine Eitern würden noch einen Eimer voll Kaffee trinken.

Eine schmale Gestalt, die im Schatten der Büsche unterhalb des Bal­kons ges tanden ha t te , drehte sich um und, ging davon. Sie schlüpfte fast lautlos durch die Hecken. Ab und zu warf sie einen kurzen Blick zurück zum Baikon. Haß stand in den dunklen Augen.

Als Dennis am nächsten Morgen durch die Gänge der High School ging, ließ er den Blick suchend über all die fremden Gesichter gleiten, in der Hoffnung, Jane t zu sehen. Er fühlte sich verloren in einem Meer von Fremden.

Es läutete bereits zur dritten Stunde, und noch immer keine Spur von ihr. Mit einem leisen Seufzer blieb Dennis s tehen. Er war vor der Tür zu dem Klassenzimmer angelangt, in dem sein nächster Kurs stat tfand.

Beim Betre ten des Raumes wurde er fast von einem entgegenkom­menden Schüler über den Haufen gerannt, der murmelte: „Ach du liebe Zeit, ich dachte, hier sei Sozialkunde."

Die Klasse lachte, und der Englischlehrer meinte: „Ich glaube nicht, daß ich irgendwelche Ähnlichkeit mit Miß Guilford habe."

Geräuschlos schlüpfte Dennis auf einen Platz in der letzten Reihe. Nachdem es in der Klasse wieder still geworden war, stellte der Lehrer sich vor: „Mein Name ist Irving. Ich habe schon viele eurer älteren Ge­schwister unterrichtet und sogar die Eltern von einigen unter euch." Er ließ den Blick über die Bankreihen gleiten. „Es gibt also keine Tricks, die ich nicht schon kenne. Ihr vergeudet nur eure Zeit, wenn ihr euch über­legt, wie ihr hier durchkommen wollt, ohne die vorgeschriebene Lektüre zu lesen und sämtliche Tes t s mitzumachen."

Dennis merkte , wie seine Gedanken abschweiften zu Janet , bis er das Wort „Klassenaufsatz" hörte. Jetzt war es wohl besser , aufzupassen.

Als das allgemeine Stöhnen abgeklungen war, sprach Mr. Irving wei­ter : „Regt auch nicht auf, es gibt keine Noten dafür.. Ich will nur eure grauen Zellen nach der langen Sommerpause wieder aktivieren."

Dennis schaute sich um. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Gangs, saß ein Junge mit schwarzem Haar und dunklen Augen. Er war

auf eigenart ige Weisen schön. Obwohl es in dem Klassenzimmer ziemlich w a r m war , schien ihm das nichts auszumachen» Er w i r k t e f r isch und al­les andere als gestreßt. Voll konzentr ier t sah er den Lehrer an.

„Ihr habt zehn Minuten Zeit, um e twas über euren Lieblingsautor zu schreiben. Erk lär t einfach, weshalb euch.sein Werk gefäl l t / '

Nervös spielte Dennis mit seinem Kugelschreiber. E r füh l te sich außer­s tande, irgend e t w a s über irgend jemanden zu schreiben — ausgenom­men Janet. Als er sah, w ie die anderen alle eifrig schrieben, wu rde er noch nervöser. Wer ist mein Lieblingsautor? überlegte er. Dann, schrieb er drauflos.

Viel zu f rüh sagte Mr. Irving auch schon: „Die Zeit ist um", und f ing an, die B lä t te r einzusammeln.

Während zwei Schüler auf seine Anweisung hin Bücher ver te i l ten, überf log er die Aufsätze. Etwa, in der Mi t te des Stapels zog er ein B la t t heraus, um es genauer anzuschauen. Danach legte er es beiseite und b lä t te r te wei ter . Kurz bevor er den ganzen Stapel durchgesehen ha t te , zog er noch einmal ein B la t t heraus, schaute kurz darauf und lächelte.

„Nun, Adrian", meinte er, „dein Ruf ist dir vorausgeei l t . Aber es sieht so aus, als hä t tes t du Konkurrenz bekommen. Dieses Jahr ist noch ein Horror-Freak in der Klasse. Und nicht nur das, er schreibt auch einen ausgezeichneten Stil, ganz w ie du,"

Dennis wu rde rot . Er ha t te über Edgar Allan Poe geschrieben. Meinte Mr. Irving e t w a ihn?

„Allerdings gibt es einen erheblichen Unterschied. Während du dich über Lovecraf t ausgelassen hast - ' ein in meinen Augen eher dr i t tk lassi-ger Au to r — hat Dennis Edgar Allan Poe gewähl t . Eis könnte ganz inte­ressant werden , w e n n ihr beide die Gründe für eure Wahl einmal in ei-

j

nem of fenen Rededuell vo r der Klasse darlegt." „Gern", sagte der gutaussehende Junge, der auf der anderen Saite

des Gangs neben Dennis saß. „Kriegen w i r Ex t rapunkte dafür?" Fast hä t te Dennis gelacht. Adrians A n t w o r t w a r frech,.aber es sah so

aus, als wol le der Lehrer sie beide gegeneinander aufhetzen. Deshalb dachte Dennis, daß Mr.. Irving die Retourkutsche verdient ha t te .

„Sicher", e rw ider te der Lehrer knapp. „Darüber reden w i r nächste Woche."

Dennis sah zu Adr ian hinüber. Das glat te schwarze Haar umrahmte ein scharfkant iges, fas t habichtähnliches Gesicht. Plötzlich drehte Adr ian 'den Kopf und schaute Dennis an. Unter dem stechenden Blick der schwarzen Augen wurde es diesem ganz unbehaglich. Der Anf lug ei-nes Lächelns gl i t t über Adrians schmale Lippen.

Nach der Stunde t ippte Dennis Adrian auf die Schulter und s t reck te i h m

dann die Hand hin. „Ich bin Dennis Haie", stellte er sich vor. „Wie es aus­sieht, werden wir uns bald eine Redeschlacht liefern."

Adrian nickte. „Adrian Furolle", sagte er, machte jedoch keine Anstal­ten, die ausgestreckte Hand zu ergreifen. Nach einem peinlichen Augen­blick ließ Dennis sie sinken.

„Bist du tatsächlich ein Horror-Freak?" wollte Adrian wissen. „Klar, ich bin wahnsinnig . . ." Adrian schnitt ihm das Wort ab. „Sehr interessant. Wir müssen mal

miteinander reden." Damit drehte er sich um und ging davon. Dennis schäumte vor Wut. So hatte ihn noch niemand abblitzen las­

sen. Wer war dieser Adrian Furolle eigentlich? Er beschloß, Janet nach ihm zu fragen, sobald er sie fand. Falls er sie überhaupt fand.

„Hi, Fremder. Suchst du jemanden?" fragte in diesem Moment eine Stimme hinter ihm.

„Janet! Ich hab dich den ganzen Morgen über gesucht. Du hast gesagt, die Schule sei so klein, daß wir uns auf jeden Fall finden würden."

„Na bitte, wir haben uns doch gefunden." Dennis grinste. „Hast du Lust, mit mir zu essen?" fragte Janet. „Dann lernst du auch

gleich ein paar von meinen Freunden kennen." „Gute Idee!" Janet zeigte Dennis die Cafeteria. Sie holten sich jeder ein Sandwich

und gingen dann zu einem Tisch, wo bereits einige Mädchen und Jungen saßen. Es freute Dennis, daß sie ihn sofort in ihren Kreis aufnahmen, selbst wenn sie ihn zunächst mal nur ausfragten. Als sie hörten, daß er den Computer seines Vaters benutzen durfte, wurden sie ganz heiß.

„Echt?" Laura, offenbar die engste Freundin von Janet, konnte es kaum fassen. „Ihr habt so ein Ding zu Hause?"

,,,Na ja, mein Vater ist Dozent für Computerwissenschaften am Col­lege", antwor tete Dennis. „Er braucht einen Computer von Berufs we­gen."

^Wahnsinn!" Nach dem Mittagessen fühlte Dennis sich entschieden besser als am

Morgen. Vielleicht wa r es doch nicht so schwer, neue Freunde zu finden. „Ich will nach dem Unterricht mal sehen, ob sie mich beim Geländelauf

in die Mannschaft aufnehmen", meinte er, als er zusammen mit Janet die Cafeteria verließ.

,,Dann sehen wir uns ja. Ich hab in der letzten Stunde Gymnastik, also unmittelbar vorher."

Nach der Schule ging Dennis gleich zum Sportgelände, von wo aus an diesem Tag ein Trainingslauf starten sollte. Eigentlich war es nur eine

Formsache, denn die Schule w a r so klein, daß jeder, der beim Gelände­lauf mi tmachen wol l te , auch in die Mannschaft aufgenommen wurde . Doch Dennis wol l te nicht nur mit laufen, er wol l te seinen fes ten Platz in der Schulmannschaft.

Mi t einem lockeren Dauerlauf begann er seine Äufwärrnübungen. Bald vergaß er alles andere und konzentr ier te sich nur noch aufs Lau­fen , bis plötzlich jemand seinen Namen rief. Als er sich umschaute, sah er, daß Janet mi t wenigen Metern Abstand hinter ihm lief. Sie sah irre aus, selbst in dem verwaschenen grauen Trainingsanzug. .

„Auf geht 's!" Lächelnd preschte sie an ihm vorbei . „Wir wol len mal se­hen, w e r schneller ist."

„He, weshalb hast du es denn so eilig?4' r ief er, als er neben ihr wa r . Sie lachte. „Du hä t tes t nicht gedacht, daß ich auch laufen kann, was?

T u t mir leid, w e n n du dich je tz t ein bißchen auf den A r m genommen fühlst . Es ärger t mich nur immer, daß die Jungs hier nur sich selber sport l iche Leistungen zutrauen. Mädchen zählen für die gar nicht."

Auch Dennis lachte. „Ist schon okay. Ich w a r nur überrascht, das ist alles."

S tumm drehten sie nach eineinhalb Runden und s toppten dann, um noch ein paar Drehübungen zu machen. Dabei f rag te Dennis: „Du, Janet, kennst du einen Adr ian hier? Er ist groß, dunkelhaarig . . ."

„. . . und ausgesprochen gutaussehend. Außerdem arrogant , t o ta l ve rdreh t und absolut hoffnungslos. Puh!"

„Wieso ,puh'?" Janet ha t te auf der Stelle gejoggt. Einen Augenblick lang hielt sie inhe.

„So richtig erk lären kann ich es auch nicht, aber er ist i rgendwie selt­sam. Er w o h n t bei seiner Tante im ,Hillbrook\ ihr gehört das Restau­rant ." Sie schaute Dennis an. „Ich hoffe, du hast nicht vor , dich mit ihm und seiner Clique näher einzulassen."

Dennis setz te sich ins Gras. „Wieso?" „Ach, weißt du, sie machen lauter komische Sachen, Fantasy-Spiele

und so w a s . Nur t un sie so, als sei es echt, Sie haben einen Geheimclub, der sich oben in den Hügeln t r i f f t . "

„Hör t sich gut an", meinte Dennis. „Fantasy-Spiele sind okay." „Solang man sie nicht zu ernst n immt. Ich für mein Teil spiele lieber

Tennis. Komm, w i r wol len noch ein paar Runden drehen, bevor es be i d i r e rns t w i rd . "

Sie w a r e n gerade einmal halb um die B a h n herum, als Janet Dennis' mi t dem Ellbogen anstieß. „Wenn man vom Teufel spricht . . . " Dabei w ies sie mi t dem Kinn zur Tribüne.

Adr ian Furolle saß auf den Zuschauerbänken, den Blick s tar r auf Janet und Dennis ger ichtet .

2. KAPITEL

„Poes Stil ist zweifellos besser. Doch er ist oberflächlich. Er ist nie zum wirklichen Kern vorgestoßen, weiß gar nicht, was Horror, also das Böse an sich, überhaupt ist."

Dennis schaute Adrian an. Dessen Worte verlangten ihm Respekt ab, gleichzeitig merkte er, wie er langsam wütend wurde. Drei Wochen wa­ren vergangen, seit Mr. Irving vorgeschlagen hatte, daß sie in einer offe­nen Diskussion vor der Klasse die Verdienste der beiden Schriftsteller Poe und Lovecraft einander gegenübersteilen sollten. Während der letz­ten beiden Wochen hatte Denis sich auf diese Diskussion vorbereitet, hatte Zitate von Krit ikern gesammelt und sich Stichworte zu den wich­tigsten Stellen in Poes Büchern aufgeschrieben. Seine Hauptargumente hatte er seinen Eltern vorgetragen. Und jetzt in der Diskussion konnte er durchaus mithalten. Trotzdem hatte er das ungute Gefühl, daß Adrian dabei war, Hackfleisch aus ihm zu machen.

Die Diskussion näherte sich dem Ende. „Lovecraft schrieb Geschichten, keine Literatur." Dieses Zitat hatte

Dennis bei seinen Vorbereitungsarbeiten gefunden. „Die Geschichten sind zwar aufregend, entsprechen jedoch in keiner Weise der Realität. Sie sind wie Fernsehshows, interessant, aber bedeutungslos."

Adrian lächelte. „Lovecraft war in seiner Beschreibung des Bösen rea­listisch wie kein zweiter, da er um die eine, letztgültige Wahrheit wußte: das Hingezogensein des Menschen zum ursprünglich Bösen. Und er war einer der wenigen Autoren, die den Mut hatten, diese Wahrheit öffent­lich zu bekennen. In manchen Erzählungen ist sie nur versteckt enthal­ten , doch sie ist immer da."

Man merkte, wie Adrian richtig in Fahrt kam. „Niemand wagt zuzuge­ben, was im Grund alle wissen: daß nämlich das Böse eine genauso große Anziehungskraft auf uns ausübt wie das Gute. Sie sind die beiden Urkräfte des Universums. Das Böse ist — auf seine Ar t — so rein und iustvoll wie irgend etwas Paradiesisches."

Er ließ den Blick über die Klasse wandern. Seine Augen leuchteten, er hatte alle in seinen Bann gezogen. „Lovecraft wußte um die uralten Kräfte des Bösen im Inneren der Erde. Er wußte, daß sie zeitweilig schlafen, manchmal jahrhundertelang. Aber sie kommen immer zurück,

da der Mensch von Natur aus ihr Opfer ist. Und sie sind von Natur aus seine Meister."

Mit einem Blick auf Dennis beendete er seinen Vortrag. „Das ist alles, was ich zu sagen habe."

Dennis nickte und schaute zu Mr. Irving, in der Hoffnung, dieser würde die Diskussion als beendet erklären. Es gab nichts, was er den letzten Worten Adrians hätte entgegenstellen können. Erleichtert sah er, daß der Lehrer sich erhob.

„Gut gemacht, meine Herren", lobte Mr. Irving. „Ich hoffe, daß dies den Maßstab gesetzt hat für zukünftige Diskussionen dieser Ar t . Die Argu­mente lagen auf einem sehr hohen Niveau, auch wenn sie manchmal et­was wei t hergeholt waren." Mit gerunzelter Stirn sah er zu Adrian hin­über. Dieser schien von dem Kommentar gänzlich unbeeindruckt.

Adrian und Dennis setzten sich wieder auf ihre Plätze, und noch wäh­rend der Lehrer die Hausaufgaben gab, läutete es zum Ende der Stunde.

„Ich möchte mit dir reden"* sagte Adrian. Dennis war sich nicht sicher, ob er das auch wollte. Er hatte nicht ver­

gessen, wie Adrian ihn am ersten Schultag hatte abblitzen lassen. Au­ßerdem hatte dieser in den drei Wochen, die seither vergangen waren, nicht ein einziges Wort mit Dennis gesprochen. Aber er wollte nicht nachtragend sein. Deshalb nickte er.

„Okay. Wann?"

Das ist typisch, dachte Dennis. Laut sagte er: „Also gut. Was gibt's?" „Ich würde dich gern mit ein paar von meinen Freunden bekannt ma­

chen. Du würdest gut in unseren Fantasy-Klub passen, denke ich. Du kennst dich doch aus mit Fantasy-Rollenspielen?"

„Klar. Allerdings habe ich noch kaum Gelegenheit gehabt zum Spielen. Aber Spaß macht es bestimmt, da bin ich sicher."

„Gut. Wir haben ein paar Varianten, die die ganze Sache in meinen Au­gen noch interessanter machen. Komm doch am Freitag mit. Ich hole dich nach der Schule ab und zeig dir unseren Versammlungsplatz."

Für Dennis kam diöse Einladung etwas plötzlich. Er wußte nicht, was er sagen sollte, doch Adrian war te te auch gar nicht erst auf eine Ant­wor t , sondern war schon verschwunden.

Ungläubig schüttelte Dennis den Kopf. Janet hat recht, dachte er, die­ser Typ ist ganz schön verdreht.

Was sie nicht gesagt hatte, war, daß er irgendwie auch unheimlich in­teressant war. Fantasy-Spiele hatten Dennis schon immer begeistert, doch an seiner alten Schule hatte er es nicht geschafft, genügend Leute für eine richtige Spielgruppe zusammenzutrommeln.

„Hi, Dennis. Wie ich gehört häb, hast du zusammen mit Mister ,groß,

dunkel und verdreht* im Englischkurs für einigen Wirbel gesorgt." Dennis drehte sich um. „Janet! Du kommst genau richtig. Ich könnte

im Moment nämlich ein bißchen moralische Unterstützung gebrauchen." „Wieso brauchst du moralische Unterstützung?'1 fragte Janet. „Ich hab

gehört, du wars t super." „Danke. Aber ich hatte eher das Gefühl, daß Adrian mich glattweg

überrollt hat." „Ich hab gerade mit Alan und Marsha gesprochen. Wie sie sagten, war

Adrian echt gut, aber auch wieder so verdreht, daß kein Mensch kapiert hat, was er eigentlich wollte. Du seist ruhig und sachlich geblieben, meinten sie, und es sei alles sehr logisch gewesen. Aber jetzt was ande­res: Wie sieht es mit dem Computer-Schnellkurs aus, den du mir ver­sprochen hast?"

„Das geht klar. Du brauchst mir nur zu sagen, wann du Zeit hast." „Gleich heute nach der Schule?" „Du hast Glück. Normalerweise habe ich dienstags ja Training, aber

heute ist unser Trainer auf irgendeiner Konferenz. Das heißt, ich hab Zeit für dich,"

Auf dem Weg zum Haus der Haies sagte Janet zu Dennis: „Es ist schön hier, findest du nicht auch? Ich bin hier geboren und hab nie woanders gewohnt. Und auch wenn ich später mal viel reisen möchte, weiß ich docn, oap ich immer wieder nach Ashton zurückkommen werde."

„Ich bin ja erst seit ein paar Wochen hier", antwortete Dennis, „aber ich würde schon sagen, daß es sich in Ashton gut leben läßt." Er nahm ihre Hand, und sie gingen Hand in Hand weiter. „Ich fühl mich hier schon fast wie zu Hause."

: Janet lächelte ihn an. „Das freut mich." Als die beiden wenig später in die Küche der Haies kamen, rief Dennis'

Mutter: „Janet! Was für eine nette Überraschung." „Hallo, Mrs. Haie. Dennis will mir ein paar Computerspiele beibringen." „Prima." Mrs. Haie lächelte verschmitzt. „Hoffentlich bist du bald so­

wei t , daß du ihn beim einen oder anderen Spiel schlägst. Sein Väter und ich schaffen das nämlich nicht." Sie stellte einen Teller mit frischgebak-kenen Keksen auf auf den Tisch. , ,Hm, die riechen aber gut", sagte Janet.

„Greif zu. Dennis, gibst du Janet ein Glas Saft." „Können wir das mitnehmen?" fragte Dennis, während er den Saft

aus dem Kühlschrank holte. „Wir wollten gleich anfangen." „Klar. Paß aber auf, daß keine Krümel ins Laufwerk kommen." Dennis verdrehte die Augen und schenkte Janet ein Glas Orangensaft

ein. „Komm, Ich führe dich ins Allerheiligste."

Sie folgte ihm über den Flur in ein Zimmer voller Gewehre. „Du lieber Himmel, was ist das denn? Bereitet ihr eine Revolution vor?"

Dennis lachte. „Nein, das ist ein Hobby von meinem Vater. Eines sei­ner vielen Hobbys. Er ist ein echter Waffen-Freak und sammelt alles, was auch nur im entferntesten nach Donnerbüchsen aussieht. In dem Schrank da drüben sind auch ein paar Granaten."

Vorsichtig t ra t Janet einen Schritt näher. „Das kannst du dir alles ein andermal anschauen", meinte Dennis. „Im

Augenblick gibt es Wichtigeres." Er öffnete die Tür zu einem kleinen Er-kerzimer. „Ich muß die Vorhänge zumachen, sonst sind die Grafiken auf dem Bildschirm so schlecht zu erkennen."

Nachdem er die Vorhänge zugezogen hatte, rückte er einen Stuhl an den Schreibtisch, auf dem der Computer stand, „Dad und ich haben ge­stern abend erst gespielt. Es ist also alles bereit. Aber ich will dir trotz­dem ein paar Basics erklären."

In den nächsten paar Minuten erläuterte Dennis, was Floppy Disks und Joysticks sind, während Janet Kekse fut ter te und jede seiner Be­wegungen mit ihren großen blauen Augen verfolgte.

„Jetzt paß auf", sagte er schließlich und drückte auf eine Taste. Plötzlich wurde es auf dem Bildschirm lebendig. Raumschiffe erschie­

nen, Kometen, Planeten. Überall blitzte und sprühte es. „Wow! Was hast du gemacht?" „Ich hab das Gerät nur eingeschaltet. Die Diskette sagt dem Compu­

ter, was er zu tun hat. Das Spiel hier heißt ,Der intergalaktische Krieg4." Schnell waren beide so vert ieft in das Spiel, daß sie jeglichen Zeitbegriff verloren. Janet war ganz erstaunt, als Mrs. Hale den Kopf durch die Tür steckte und fragte, ob sie mit ihnen zu Abend essen wolle.

„Wie spät ist es denn?" fragte Janet zurück.

„Himmel! Und ich hab Mom gesagt, es wird nicht spät. Vielen Dank für die Einladung, Mrs. Haie, aber heute geht es leider nicht."

„Dann eben ein andermal. Dennis kann dich ja nach Hause fahren." „Ich hätte nie gedacht, daß Computer-Spiele so interessant sein könn­

ten", meinte Janet wenig später im Auto. „Früher hielt ich die Typen, die den ganzen Tag Pac-Man spielen, für gehirnamputiert."

„Sind sie auch, wenn sie wirklich nichts anderes machen." Dennis fuhr aus der Einfahrt. „Alles mit Maß und Ziel, sagt mein Vater immer. Ich bin mal gespannt, wie es ist, in einem Fantasy-Spiel mitzumachen."

Erschrocken sah ihn Janet an. „Du willst dich doch nicht e twa mit Ad­rian und seiner Clique einlassen?"

„Warum nicht?" Dennis wußte nicht, wie er Janets heftige Reaktion deuten sollte.

„Kennst du Adrian denn überhaupt?" fragte sie. „Weißt du, daß seine Eltern bei einem Unfall ums Leben kamen, als er noch sehr klein war , und daß er von seiner Tante aufgezogen wurde? Daß er ständig einen Haufen Geld ha t ? Daß niemand in Ashton es gern sieht, wenn sein Sohn oder seine Tochter e t w a s mit ihm zu tun hat?"

„Nein, das wußte ich nicht", gab Dennis zu. „Aber für mich ist das kein Grund, ihn zu schneiden. Er tu t mir eher leid."

J ane t s Augen wurden immer größer. „Du ers tauns t mich, Dennis Haie. Du bist mit Sicherheit der einzige in der ganzen Schule, dem Adrian Fu-rolle leid tu t . Bitte laß dich nicht mit ihm ein."

Dennis fühlte sich in die Ecke gedrängt. Er ha t t e Adrian schon zuge­sagt , am Freitag mitzukommen. „Versprechen kann ich nichts", meinte er deshalb ausweichend, „aber ich werd 's mir überlegen."

Ein paar Minuten spä ter waren sie bei Jane t s Haus angelangt. „Sehen wir uns morgen?" fragte Dennis. „Klaro. Und danke für den Super-Nachmittag!" ;

Am Freitagnachmittag machte Dennis auf dem Heimweg von der Schule einen weiten Bogen um Jane t s Haus. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, da er Geheimnistuerei haßte. Ihm waren Ehrlichkeit und Offenheit seinen Freunden gegenüber immer sehr wichtig gewesen . Aber Jane t empfand Adrian gegenüber eine unheimlich s ta rke Abneigung.

Punkt halb vier fuhr Adrian in einem schwarzen Jeep die Auffahrt der Haies hinauf.

„Gehört der dir?" fragte Dennis, als er sich auf den Beifahrersitz schwang. Fas t im selben Augenblick preschte der Wagen auch schon wieder davon.

Ja. Ein bes se re s Auto gibt es nicht. Es klebt praktisch an der Straße. Deshalb hab ich meine Tante auch überredet, mir einen zu kaufen,"

„Deine Tante?" „Ja. Sie ist mein Vormund. Meine Eltern sind tot . Ich wohne mit ihr im

?Hillbrook\ Das Restaurant gehört ihr." „Oh, das tu t mir Seid. Das mit deinen Eltern, mein ich." In Adrians Stimme lag keinerlei Traurigkeit. Er sprach sehr nüchtern.

„Ich w a r fast noch ein Baby damals." Dann wechsel te er abrupt das Thema. „Du bist dir hoffentlich darüber im klaren, w a s das bedeutet , wenn die Clique dich okay findet und wir dich fragen, ob du in unseren Klub eintreten willst. Du zählst dann zu den wenigen auserwählten Per­sonen an der High School, die einem exklusiven Zirkel angehören."

Dennis warf Adrian einen raschen Blick zu, um zu sehen, ob dieser sich

über ihn lustig machte . Doch dessen dunkle Augen waren unverwandt auf die Straße gerichtet, und er lächelte nicht. -

„Unterschätze dieses Privileg nicht". „Wie heißt das Spiel, das ihr gerade spielt?" „Die große Jagd", an twor te t e Adrian ernst, „Du wirst beizeiten mehr

darüber erfahren ~ möglicherweise. Es ist so ähnlich wie ,Die Höhle des Ungeheuers*. Das Spiel kennst du ja sicher/1

„Ja, "kenn ich", erwiderte Dennis. Natürlich kannte er „Die Höhle des Ungeheuers". An seiner alten Schule ha t ten es ein paar Jungen gespielt, und die hat ten die ganze Sache auch sehr ernst genommen. Ais alter Fan von Science fiction — und Horrorgeschichten ha t te ihn der Gedanke, einmal selbst mitzuspielen, schon immer gereizt. Doch von seinen Freunden in Connecticut ha t te sich keiner für Fantasy-Rollenspiele in­teressiert:.

Je tz t sollte er seine Chance bekommen — falls die Gruppe ihn akzep­tierte. Nur; wollte er überhaupt zu Adrians Clique gehören?

„Wohin fahren wir?" „Zu Waiiing Rocks.— den heulenden Felsen. Nie gehört?" „Trotzdem wunder t es mich, daß dich noch niemand davor gewarnt

hat, zu den Felsen hinaufzugehen. Normalerweise ist das das ers te , w a s Neuzugezogene hier zu hören kriegen/4

„Warum?" Dennis Neugier wuchs von Sekunde zu Sekunde. „Wie weit ist es noch bis dahin?"

„Nicht mehr weit. Wir haben uns den Platz ausgesucht , weil außer uns nie jemand hinkommt. Dort sind wir ungestört." Nach einem raschen Seitenblick auf Dennis fuhr er fort: „Die Leute sagen, der Platz sei ver­hext. Aber für unsere Zwecke ist er optimal."

Plötzlich bog er von der Straße ab auf einen von tiefen Furchen durch­zogenen Feldweg. „Halt dich fest!" rief er.

Eine Weife fuhren sie schweigend weiter, bis sie zu einem offenen Lie­ferwagen kamen, der am Wegrand abgestellt war.

„Die anderen sind schon da", erklärte Adrian. Nach ein paar hundert Metern hügelaufwärts hielt er an. „Weiter kön­

nen wir nicht fahren. Den Rest müssen wir zu Fuß machen/9 Er deu te te auf eine große Reisetasche auf dem Rücksitz. „Bring die mit."

Seine herrische Art ärger te Dennis, doch er war entschlossen, sich die Laune nicht verderben zu lassen. Zuerst wollte er mehr über Adrian und das Spiel erfahren. . '

Die Tasche wa r ziemlich schwer. „Was ist denn da drin?" wollte er wis­sen, als sie nebeneinander durch den Waid gingen.

„Ach, bloß unsere Umhänge und sonst noch ein paar Sachen, die wir für das Spiel brauchen/8

Die beiden Jungen klet ter ten über Felsen, stiegen über abgebrochene Äste und gingen über einen dicken Teppich aus welken Blättern und Kie­fernnadeln. Dennis fiel auf, daß die Bäume alle recht niedrig und ver­krüppelt waren . Trotzdem ließen sie die Sonne kaum durch. Keine Ka­ninchen hoppelten über den Weg, und kein einziges Eichhörnchen huschte die S tämme hinauf. Überhaupt war nichts zu hören von den üb­lichen Geräuschen. Dennis packte plötzlich eine unerklärliche Angst.

Nach ein paar Minuten blieb Adrian plötzlich s tehen und verkündete: „Hinter der Wegbiegung hängt ein elender Verräter von G'nath. Wir ha­ben den Kerl erwischt und ihn seiner gerechten Strafe zugeführt. Ein lausiger Tod, gehängt zu werden. Erschrick nicht." Er machte Dennis ein Zeichen, vor ihm um einen riesigen Felsbiock herumzugehen.

Trotz der Warnung blieb Dennis nach zwei Schritten wie angewurzelt s tehen. Ihm bot sich ein schauerlicher Anblick.

An dem verkrüppelten Ast einer Kiefer baumelte ein Mann. Die Hände waren ihm aur dem Rücken zusammengebunden worden. Seine Kleider hingen in Fetzen an ihm hierunter. Das Gesicht w a r tief dunkelrot, fast schon schwarz. Eine dunkelrote Zunge hing aus dem offenen Mund. Die Augen waren weit aufgerissen und s tar r auf Dennis gerichtet.

Dennis blieb fast das Herz s tehen. Er schrie auf, machte blindlings ei­nen Schritt zurück und stolperte dabei über einen Stein. Als er sich wie­der aufgerappelt ha t te , wa r sein e rs te r Gedanke, davonzulaufen, und zwar so schnell wie möglich. Sein zweiter war, die Polizei holen, Hilfe ho­len, irgend e t w a s tun. Doch bevor er sich umdrehen und weglaufen konnte, w a r Adrian an seiner Seite. Mit einer Hand packte er ihn fest am Arm, mit der anderen zeigte er auf den Gehängten.

„Sprich, Verräter!" rief er. „Erzähle unserem edlen Freund, welchen Verbrechens du dich schuldig gemacht hast!"

Ein röchelnder, krächzender Laut kam aus dem Mund der Leiche, Den­nis s tanden buchstäblich die Haare zu Berge, als sie anfing zu sprechen.

„Ich habe G'nath verra ten. Ich betrog meine Mitbrüder im Tal von Mid-ron auf der Suche nach dem großen Edelstein, der auf dem Grund der Erde liegt."

Mit angehaltenem Atem lauschte Dennis. „Sie haben mich gehängt als Warnung für alle, die dieses heilige Tal be­

treten." Adrian ließ Dennis' Arm los und sag te ruhig: „Komm, hilf mir, ihn abzu­

schneiden." Er ging hinüber zu dem Baum, an dem die Leiche sacht im Wind hin und her schwang. Mit einer einzigen raschen Bewegung griff er hinter den Baumstamm, zog an dem Strick und löste den Knoten.

Der leblose Körper fiel auf den Boden und rollte Dennis direkt vor die Füße. Dann se tz te die Leiche sich auf und grinste ihn an.

3.KAPITEL

Dennis stand da wie vorn Donner gerührt und schaute auf die „Leiche", die vor ihm auf dem Boden saß und grinste. Er wußte nicht, ob er lachen oder wütend werden sollte,

Adrian nahm ihn am Arm. „Darf ich dir Pete Woodward vorstellen?" fragte er.

„Du bist mir ganz: schön auf den Leim gegangen, was?" Pete lachte, während er sich die Fesseln von den Händen streifte und den Kopf aus der Schlinge zog. „Wir wollten dich standesgemäß willkommen heißen."

„Wir bemühen uns immer, alles so realistisch wie möglich zu machen", ergänzte Adrian. „So macht es mehr Spaß, findest du nicht auch?"

Dennis nickte. Er beobachtete Pete, der gerade sein Hemd ausgezo­gen hatte. Um seinen Brustkorb lief ein zweites Seil unter den Achseln durch. Es war auf dem Rücken geknotet. Ein Ende hatte hinten aus dem Hemdkragen herausgeschaut und war an die Schlinge geknüpft gewe­sen. Das hatte den „Gehängten" so echt wirken lassen.

Lachend ließ Dennis sich auf einem Baumstumpf fallen. Schließlich sah er auf und sagte: „Ihr seid wirklich unglaublich! Das war in dieser Art das Verrückteste, was ich je gesehen hab."

„Adrian ist Experte in solchen Sachen", erwiderte Pete. Er versuchte gerade, sich die schwarzrote Farbe vom Gesicht zu wischen. „Hat's tat­sächlich echt ausgesehen?"

„Und ob. Ihr habt.mich ganz schön reingelegt. Aber du hast auch Ner­ven. Ich weiß nicht,, ob ich so was machen könnte. Wahrscheinlich müßte ich ständig daran denken, was wohl passieren würde, wenn sich der Knoten vorn Halteseil irgendwie löst."

Ein Schatten huschte über Adrians Gesicht. „Kommt, gehen wir rauf zu den Felsen, damit Dennis sieht, wo der eigentliche Schauplatz unse­res Spiels ist." Damit nahm er Dennis wieder am Arm und führte ihn weg von dem Galgenbaum.

.Nach ungefähr 300 Metern kamen sie zu einer Lichtung. „Hier sind wir", verkündete Adrian. „Die Wailing Rocks."

Dennis schaute sich um. Einen verhexten Platz hatte er sich eigentlich anders vorgestellt,' obwohl er schon etwas Unheimliches hatte. Alle Bäume und Pflanzen ringsum waren abgestorben. Es war fast so, als

habe vo r langer Zeit einmal ein. schreckliches Feuer gewü te t , von dem sich die Natur nicht w ieder erholt ha t te .

Au f der Lichtung hockten drei Jungen in dunklen Kapuzenumhängen. Als Dennis, Adrian und Pete aus dem Wald heraust ra ten, s tanden sie auf.

„Meine Herren", sagte Adrian feierlich, „das ist Dennis Haie, der mögli­cherweise bald unserem Club angehören w i rd . Dennis, das ist Bob Schu­macher." Er zeigte auf einen e t w a s untersetz ten blonden Jungen, dann auf einen kleinen draht igen, der Dennis angrinste, „Mike Haskell. Und das ist Brad Turner." Brad, mittelgroß und nicht gerade schlank, hob die Hand Gruß.

„Hallo. Freut mich, euch kennenzulernen", sagte Dennis und stel l te beim Händeschütteln beruhigt fes t , daß die drei Jungen anscheinend ziemlich normal w a r e n . Zumindest schienen sie die Sache nicht ganz so erns t zu nehmen wie Adr ian.

„Hast du schon mal ,Die Höhle des Ungeheuers* gespielt?" wol l te Mike Haskell w issen.

„Nein, aber ich habe eine Menge Computerspiele dieser A r t und kenn mich ein bißchen aus mi t Science f ict ion and Fantasy."

„Heißt das, du hast einen eigenen Computer?" f rag te Brad ungläubig. „Na ja , eigentlich gehör t er meinem Vater , aber ich kann ihn benutzen,

w a n n immer ich möchte. " „Wow!" Mark sah ihn neidisch an. „Meinst du, w i r könnten auch mal

..."

„Okay, Leute", unterbrach ihn Adr ian. „Wir sind hier, um ,Die große Jagd` zu spielen, und nicht, um über Computer zu reden."

Er schaute von einem zum andern. „Gehe ich richtig in der Annahme, daß ihr alle e inverstanden seid, wenn Dennis unserem Club be i t r i t t?" Ohne eine A n t w o r t abzuwar ten , wand te er sich an Dennis und f rag te : „Dennis, schwörs t du, über das, w a s w i r hier t un , äußerstes Sti l lschwei­

g e n z u wahren?" „Schon, aber vorher hä t te ich gern gewußt, w o r u m es überhaupt

geht ." Dennis w a r e t w a s skept isch. „Oh, keine Angst , w i r t u n nichts Illegales, falls du das meinst. Wir ma­

chen einfach nur — Rollenspiele." „Dann ist es okay." „Gut. Und w a s häl ts t du von dem Platz? Genau die r icht ige A tmo­

sphäre, f indest du nicht auch? Die anderen wol l ten zuerst nicht so recht , aber j e tz t gefäll t es ihnen hier."

Die Jungen nickten zust immend, w e n n auch ohne allzu große Begei­s terung .

Dennis schaute sich um, Dabei fiel ihm eine schmale Öffnung zwischen

zwei Felsblöcken auf, welche die Lichtung auf einer Seite begrenzten. Adrian war seinem Blick gefolgt. „Wie ich sehe, hast du unsere Höhle

entdeckt. Du hast gute Augen. Komm mit." Er drehte sich um, doch dann fiel ihm noch etwas ein. „Zuerst müssen wir unsere Kultgewänder anlegen."

Damit griff er in die Reisetasche und zog einen langen dunkelblauen Umhang heraus wie den, den die anderen Jungen trugen. Er reichte ihn Dennis, griff noch einmal hinein und brachte einen schwarzen, mit Silber­fäden bestickten Umhang zum Vorschein. Den zog er sich selbst über, schlug die Kapuze hoch - und war plötzlich wie verwandelt.

Dennis kam er vor wie ein Priester aus längst vergangenen Zeiten. Er schaute an seinem eigenen Umhang hinunter und fragte sich, wer ihn wohl entworfen hatte. „Ich hab nicht gedacht, daß Rollenspiele so auf­wendig sind", sagte er.

„Wir versuchen eben immer, alles möglichst realistisch zu machen", antwortete Adrian. „Aber jetzt komm und trete ein in die heilige Halle von Rothenor, dem Hüter uralter, verborgener Geheimnisse. Komm und sieh das Tor zum Unbekannten." Er gab Dennis eine große Taschen­lampe. Die anderen Jungen zogen ebenfalls Taschenlampen unter ihren Umhängen hervor.

Da sie beide groß waren, mußten Dennis und Adrian halb durch die nied­rige Öffnung im Fels kriechen. Die dunkle Höhle selbst war geräumiger, so daß sie sich wieder aufrichten konnten. Im Licht der Taschenlampen versuchte Dennis, sich in dem großen Raum zu orientieren.

„Wow!" sagte er schließlich. „Das ist ja Wahnsinn!" Die Höhle war hoch und rund mit einem Durchmesser von ungefähr-

acht Metern. Die Wände gingen etwa zwei Meter senkrecht hoch, bevor) sie sich zur Mitte wölbten, um eine Kuppel zu bilden, deren Mittelpunkt sich in der Dunkelheit fast verlor.

Dennis ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe über die Hände glei­ten und entdeckte seltsame Zeichnungen. Sie erinnerten ihn an die Ab-bildungen von Höhlenmalereien in seinem Geschichtsbuch. Er trat nä-her, um sie genauer betrachten zu können - und wünschte, er hätte es nicht getan. Häßliche Monster mit langen Greifarmen und hervorquellen-den Augen starrten ihn an. Angewidert schaute er weg.

„Wie gefällt dir das hier?" fragte Adrian. Er hatte den Lichtstrahl sei­ner Taschenlampe auf den Boden gerichtet. i

Im Mittelpunkt eines Kreises aus groben, seltsamen Ornamenten wa-ren bizarre Einkerbungen zu sehen. Als Dennis genauer hinschaute,? würgte es ihn beinah. So etwas Abstoßendes hatte er noch nie gese­hen. Es erschreckte ihn und machte ihn gleichzeitig aggressiv.

Er versuchte, die widerstreitenden Gefühle zu unterdrücken, und un­tersuchte das in den Boden geritzte Bild genauer. Es zeigte ein Wesen mit einem schlangenähniich aufgerollten Körper. Der Kopf war hoch aufgerichtet, bereit zum Angriff. Doch da hörte die Ähnlichkeit mit einer Schlange auch schon auf. Stat t mit feinen Schuppen war die Unterseite des Bauches mit mehreren überlappenden Platten bedeckt wie bei einer Languste. Auf der Stirn saß ein einzelnes, riesiges Auge, und darunter klaffte ein Maul voll scharfer Zähne. Wirklich erschreckend war der Kreis von Fangarmen dicht unter dem Kopf, Man hatte den Eindruck, als würden sie einen jeden Augenblick packen.

„Woher kommt das?" fragte Dennis. Er hatte eine richtige Gänsehaut. „Das sind alte indianische Zeichnungen. Diese hier soll angeblich ein un­

irdisches Wesen darstellen, eine Ar t Überbleibsel aus der Eiszeit. Es ist alles ziemlich kompliziert. Die Einzelheiten erzähl ich dir ein andermal." Adrian schaute auf seine Armbanduhr. „Zu viel mehr als der Einfüh­rungszeremonie werden wir heute nicht kommen. Die Galgengeschichte hat doch mehr Zeit in Anspruch genommen, als ich dachte."

Er machte den fünf Jungens Zeichen, sich in einem engen Kreis um ihn herum aufzustellen. Während er zwei Kerzen aus der Reisetasche holte, verkündete er in feierlichem Ton: „Ich, Statthalter der Höhle und Gru-henwächter, rufe die Höhlengeister und Bewohner der Grube an. Mö­gen sie dich als ihren treuen Diener beschützen."

„Wovon redet er eigentlich?" fragte Dennis im Flüsterton Pete Wood­ward. „Was sollen die Geister und die Grube? Ich dachte, er sei lediglich der Höhlenmeister."

„Oh, Adrian spielt das Spiel auf seine Weise", antwortete Pete. Er schaute zu Adrian auf, der gerade die Kerzen auf den Boden stellte. „Ir­gendwo ist es verrückt — aber nie langweilig."

„Ruhe!" befahl Adrian. Er kniete sich vor das Wesen in dem Kreis. „Macht die Taschenlampe aus."

Im Schein der Kerzen wi rk te die Höhle noch unheimlicher. In dem flak-kernden Licht schienen sich die Tiere an den Wänden zu bewegen. Die Jungen in den langen Umhängen schienen aus einer anderen Zeit zu stammen. Dennis konnte fast spüren, wie die Jahrhunderte sich ver­flüchtigten. Jetzt wußte er auch, weshalb die Jungen von diesem Rollen­spiel so angetan waren.

Adrian breitete die Arme aus, legte die Hände auf den Kreis und beugte sich vor, bis seine Stirn den Boden berührte. „Ihr Götter von Lla-nor und M'dab!" rief er. „Gefürchteter Rothenor, Hüter der Tore zwi­schen den Welten, höre mich!"

Dann senkte er die Stimme zu einem Flüsterton. „Wir, deine Diener, erweisen der großen Schlange Mogar unsere Hochachtung, Vernichter

der Erde, Wächter über die schwarzen Schächte und die verborgenen Wege. Wir schwören dir ewige Treue."

„Er ist wieder weggetreten", murmelte Bob Schumacher. „So was hab ich noch nie von ihm gehört." Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.

Dennis wandte sich wieder Adrian zu. Dieser legte die Fingerspitzen in ein paar Einkerbungen neben dem Bild des Schlangenmonsters. Was er vor sich hinmurmelte, wa r nicht zu verstehen.

Plötzlich hob er den Kopf und befahl: „Der Bittsteller möge an den Al­tar t re ten."

Brad schob Denis vorwärts. „Er meint dich." Mit einer knappen Kopfbewegung wies Adrian Dennis an, sich hinzu­

knien.. Dieser zögerte kurz, dann kniete er sich Adrian gegenüber in den Kreis. Sein Magen krampfte sich zusammen, und einen Augenblick lang spürte er den dringenden Wunsch, aufzustehen und aus der Höhle hin­auszulaufen.

Ruhig Blut, sagte er sich. Wenn dir die Sache nicht benagt, kannst du später immer noch aussteigen. Mach dich jetzt nicht lächerlich.

„Wir suchen das Auge Mogars, einen riesigen Edelstein, gestohlen vor vielen Jahrhunderten vom Altar des schwarzen Gottes. Da wir auf unse­rer Jagd nach dem Stein der Hilfe des Bittstellers bedürfen, muß der Bittsteller zuerst Mogars Hilfe erflehen."

Adrian schaute Dennis in die Augen. Dieser wollte sich zuerst abwen­den, doch dann riß er sich zusammen und hielt dem Blick stand.

„Leg deine Hand auf das Bild. Spüre seine Kraft. Spüre, wie die Kraf t auf dich übergeht. Berühre es und spüre es!"

Dennis legte die Handfläche auf die Einkerbungen. Eine seltsame Kälte breitete sich in seiner Hand aus. Fast hätte er sie zurückgezogen, doch dann sah er, daß Adrian ihn scharf beobachtete. Vielleicht ist das wieder einer seiner Tricks, dachte er und zwang sich, die Hand auf dem Boden liegenzulassen.

„Spür die Kraft!44 rief Adrian. „Spür den Hunger Mogars! Wir müssen ihm den Edelstein zurückgeben."

Während Dennis die Hand auf den Boden drückte, schossen ihm Ge­danken und Bilder durch den Kopf, die er nicht kontrollieren konnte. Es war, als sei er besessen. Er hatte das Gefühl, von einer unsichtbaren, magnetischen Kraft hinuntergezogen zu werden in ein riesiges Höhlenla­byrinth.

Unter größter Willensanstrengung zog Dennis die Hand zurück, und das Gefühl verschwand. Er schrak auf. Adrian beobachtete ihn lä­chelnd. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, und er hatte den Eindruck, als wisse Adrian fast genau, was in seinem Kopf vorging.

„Du has t die Kraft gespürt", s ag te Adrian. Es w a r keine Frage, son­dern eine Feststellung. Die dunklen Augen blitzten im Schein der Kerzen.

Dennis rieb sich die Hände, sie waren immer noch kalt. „Die Einführungszeremonie ist vorüber", verkündete Adrian, blies die

Kerzen aus und s tand auf. „Dennis, du bist nun einer von uns."

Eines s tand fest, das Wet ter war für diese Jahreszeit viel zu kalt. Den­nis w a r froh, daß er seinen warmen Trainingsanzug angezogen ha t te , bevor er am Samstagnachmit tag zu seinem Geländelauf ges ta r t e t war . Er schaute sich um. Die Landschaft w a r zweifellos wunderschön. Wie geschaffen für solche Läufe. Und die kalte Luft s tör te ihn nicht.

Die „Einführungszeremonie" vom Tag zuvor ha t t e ihn ziemlich fertig­gemacht. Beim Laufen bekam er immer einen klaren Kopf, und er hoffte, daß es auch diesmal der Fall sein würde.

Plötzlich stellte er fest, daß ihm das Gelände ringsum ver t raut war . Klar, dachte er, hier sind wir ges tern abend längsgefahren. War er

rein zufällig hier gelandet, oder ha t t e sein Unterbewußtsein ihn hierher geführt? Obgleich ihm nicht wohl war bei dem Gedanken, beschloß er, zu den Wailing Rocks hinaufzulaufen, um sie noch einmal in aller Ruhe zu untersuchen.

In einem nicht zu schnellen Tempo folgte er der Straße, bis er zu dem schmalen Weg kam, der durch den Wald direkt zu den Wailing Rocks führte. In dem hohen Laub zu laufen, wurde wegen der darunter verbor­genen Wurzeln und Steine bald unmöglich. Er kam nur noch langsam voran. Hinter dem ers ten großen Felsblock fand er auch den Pfad zu der Lichtung wieder. Der Wald schien noch stiller und unheimlicher, die Bäume noch verkrüppelter als am Tag vorher. Als er kurz hinübersah zu der Kiefer, an der die „Leiche" gehangen ha t te , mußte er grinsen. Der Trick w a r nicht schlecht gewesen .

Dann ließ er den Wald hinter sich und t r a t auf die Lichtung. Sie ha t t e die Form eines Hufeisens. Seltsam geformte Felsbrocken lagen ver­streut auf dem Platz wie Murmeln, die einem längst vergessenen Riesen

gehört hat ten . Der Stein wa r von Granitadern durchzogen. Ein flaches Felsstück wa r auf der Oberseite mit eingekerbten Symbolen übersät . Die Stille und Abgeschiedenheit machten Dennis zu schaffen, doch seine Neugier w a r größer, und so blieb er.

Selbst an einem so klaren Tag wie heute kommt kaum Sonne hierher, dachte er, während er sich auf einen Felsblock se tz te und sich umsah. Der Wind frischte auf, alles schien von einer Kälte überzogen. Dennis war, als höre er ein leises Summen aus der Richtung, wo die Höhle lag.

Als er sich dahin umdrehte, fiel sein Blick sofort auf den Eingang der Höhle. Und da bemerkte er etwas, das ihm vorher nicht aufgefallen war.

Von der Stelle, an der er saß, war die Öffnung kaum zu sehen. Eine ganze Weile starr te er hinüber. Er sah aus, als habe jemand einen gan­zen Berg Felsbrocken davorgeschoben, um den Höhleneingang zu schließen oder zu verbergen oder sonstwas.

Dennis schauderte, ob von dem letzten Wind oder weil er allein an die­sem unheimlichen Platz saß, wußte er nicht zu sagen.

Entschlossen sprang er auf und machte sich auf den Weg zurück durch den Wald, Von Erkundungsgängen hatte er vorerst genug. Jetzt: wollte er laufen, und zwar noch ein ganzes Stück.

Ais Dennis wieder auf der Straße war, fiel ihm auf, wieviel wärmer es hier unten war im Vergleich zu der Lichtung bei den Felsen. Er begann zu laufen und merkte bald, wie sein Kreislauf in Schwung kam und sein Kopf klarer wurde. Schon nach wenigen Minuten dachte er nicht mehr an die Wailing Rocks.

Da er plötzlich großen Durst hatte, sah er sich nach einem Bach oder einer Quelle um. Dabei entdeckte er in einiger Entfernung auf der linken Seite der Straße ein Haus und beschloß, hinzugehen und um ein Glas Wasser zu bitten.

Die Farm sah unbewohnt und heruntergekommen aus. Einer der Torflü­gel knarrte erbärmlich und brach fast aus den Angeln, als Dennis ihn auf-

„Hallo", rief er. „Ist jemand da?" Er war ziemlich erschöpft» Erst jetzt fiel ihm auf, wie tief die Sonne schon stand. Eigentlich hätte er sich schleunigst auf den Heimweg machen"sollen, doch sein Durst war so groß, daß er über den Hof zur Haustür ging.

Er wollte gerade klopfen, als er hinter sich eine brummige Stimme fra­gen hörte: „Was willst du hier, Junge?"

„Oh!" entfuhr es Dennis. Erschrocken drehte er sich um. Vor ihm stand ein weißhaariger alter Mann in Arbeitskleidung und mit einer spek-kigen Baseballmütze auf dem Kopf. In der Hand hielt er eine verdreckte' Schaufel. Mit gerunzelter Stirn schaute er Dennis mißtrauisch an,

„Ich hab dich gefragt, was du hier willst, Junge. Bist: du taub?" „Nein, nein. Ich wollte Sie nur um ein Glas Wasser bitten." Dennis ve r -

suchte ein Lächeln. „Wasser? Das kannst du haben, denke ich. Komm hier entlang", sagte

der Mann und deutete auf die Rückseite des Hauses. „Dachte schon, du willst für was sammeln. Geld hab ich nämlich keins übrig."

Er führte Dennis ein paar ausgetretene Stufen hinauf. „Geh schon rein

in die Küche und hol dir w a s zu trinken. Ich bring die Schaufel hier weg" In der Küche fand Dennis ein Glas und füllte es mit Wasser aus dem

Hahn. Er ha t t e gerade den ers ten Schluck getrunken, da kam der alte Mann herein.

„Das bes te Wasser weit und breit. Mein Großvater hat den Brunnen selbst gegraben." Er zog sich einen Stuhl heran und se tz te sich. „Hab dich nie in der Gegend gesehen."

„Wir wohnen auch noch nicht lange hier. Ich bin Dennis Hale." „Frisch hergezogen, wie? Was macht dein Vater? Dachte immer, die

jungen Leute ziehen weg von kleinen Städten wie Ashton, und ihr zieht her."

„Mein Vater ist Dozent am College." „College-Lehrer, hm." Der alte Mann schnaubte. „Hab nie w a s mit dem

College am Hut gehabt, brauch kein College als Farmer. Wir Starks sind schon fast 200 Jahre auf diesem Grund und Boden." Unvermittelt s t reck te er die Hand aus . „Cal Stark, mein Name. Wie bist du hergekom­men? Ich hab kein Auto und kein Fahrrad gesehen. Was machs t du hier?"

„Ich bin gelaufen." „Gelaufen? Ist w e r hinter dir her?" fragte Stark mißtrauisch. „Nein, nein. Sie haben mich falsch verstanden." Dennis mußte ein La­

chen unterdrücken. „Ich bin einfach nur gelaufen, als Sport." Ange­s t rengt überlegte er, wie er dem Mann seine Lauferei erklären könne, „ich bin in der Schulmannschaft für Geländelauf und hab ein bißchen trai­niert."

„Ach so. Die Art von Laufen." Mit einem lauernden Blick fuhr Stark fort: „Wo bist du rumgelaufen? Es gibt bloß Berge hier."

„Oh, ich w a r oben an einem Platz, der Wailing Rocks heißt. Da hab ich mich ein bißchen hingesetzt und ausgeruht." Daß er mit Adrian und sei­nen Freunden am Tag zuvor schon einmal dagewesen war , sag te er na­türlich nicht.

Mr. Stark wurde blaß. Kerzengerade saß er plötzlich auf seinem Stuhl. „Was suchst du an einem Ort wie dem da?" Wieder runzelte er die Stirn. „Wenn dein Dad ein College-Lehrer ist, müßte er eigentlich wissen, daß er dich da nicht rauf lassen darf." Er machte eine Pause, bevor er fort­fuhr: „Weißt du, warum sie heulende Felsen heißen? Jede Wette , du weißt es nicht. Sie heißen so wegen der Töne, die von da kommen. Böse Geister gibt's da. Arg böse."

Ein Schauer überlief Dennis. Der alte Mann lehnte sich wieder zurück und kicherte. „Na ja, wahrscheinlich bist du alt genug, um mit den rnei-s ten Geistern fertig zu werden, aber bei denen oben in den Bergen weiß ich nicht recht."

„Hm . . ." machte Dennis. „Du mußt mächtig aufpassen, wohin du trittst. Da oben gibt's 'ne

Menge Höhlen und Löcher im Boden. Du könntest reinfallen, und keiner wird dich finden. In hundert Jahren nicht — wenn dann überhaupt noch was zu finden war."

Um endlich auf ein anderes Thema zu kommen, fragte Dennis: „Leben Sie allein hier, Mr. Stark?" In der Küche war ein schreckliches Durchein­ander, und außer ihnen beiden schien niemand im Haus zu sein.

„Natürlich leb ich allein. Oder hast du hier noch jemand anderen gese­hen außer mir?" Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr der alte Mann fort: „Nenn mich Cal, Kein Grund, formell zu sein."

„Okay, Cal. Aber jetzt muß ich weiter. Meine Mutter reagiert ziemlich sauer, wenn ich bis zum Abendessen nicht daheim bin: Danke auch für die Erfrischung, die» hat gutgetan."

Als Dennis sich zur Tür wandte, stand der alte Mann auf und kam ihn nach. „Sag deiner Ma einen schönen Gruß und daß sie stolz sein kann auf ihren Sohn. Nur macht er Sachen, die er nicht machen sollte. Zu den Wai-ling Rocks gehen, zum Beispiel. Und sag ihr, sie soll vorbeikommen, wenn sie Eier und Schinken braucht. Der beste in der ganzen Gegend. Und billig dazu."

Er schaute zum Himmel hinauf. „Der hundertjährige Kalender sagt, daß wir einen strengen Winter kriegen. Ich weiß das auch ohne Kalen­der. Das spür ich in den Knochen."

Der alte Mann hatte Dennis bis an die Straße begleitet. Plötzlich blieb er stehen und. sah hinauf zu den Bergen, von denen Dennis gekommen war. „Was ist?" fragte Dennis. .

„Pssst." Cal legte den Finger an die Lippen. Mit angehaltenem Atem stand Dennis neben dem alten Mann und

wartete. Und dann hörte er es. Der Wind brachte ein hohles, unheim­liches Stöhnen mit. Es klang unendlich traurig. Dennis spürte, wie sich die Härchen im Nacken aufstellten. Das Stöhnen wurde lauter. Cal packte ihn an der Schulter.

„Jahrelang hab ich das nicht mehr gehört", sagte er. „Was ist es?" fragte Dennis, obwohl er die Antwort im voraus wußte. „Die Wailing Rocks." Immer lauter würde das Jammern und Stöhnen, bis Dennis es kaum

noch aushielt. „Aufhören!" schrie er. Der Schrei kam als Echo von den Bergen zurück: . . . hören . . . hören

, . . hören. Und das Heulen hörte tatsächlich auf. Cal sah den Jungen von der Seite her an. „Komm, ich fahr dich nach

Hause. Es wird schon dunkel."

4. KAPITEL

„Oh, Dennis, ich würde am Freitag unheimlich gern mit dir ins Kino ge­hen, aber ich muß arbeiten."

Dennis seufzte. Es war Dienstag, und er ha t t e geglaubt, das sei früh genug, um mit Jane t eine Verabredung fürs Wochenende zu treffen.

„Wie ist es mit Samstag? Arbeitest du da auch?*8

Einen Augenblick lang überlegte Janet , dann strahlte sie. „Nein, da hat Mom mir freigegeben."

„Also, wie sieht's aus? Hast du Lust?" „Hab ich." Lächelnd nahm Dennis ihre Hand und zog Janet in Richtung Cafeteria.

„Stinkt dir die Arbeit im Restaurant nicht manchmal?" fragte er. „Doch, manchmal schon. Aber ich halte es einfach für meine Pflicht,

mitzuhelfen. Mom und Dad arbeiten beide sehr hart, ich käme mir richtig schäbig vor, wenn ich sie hängenlassen würde. Außerdem sollen wir ei­nen s t rengen Winter kriegen. Das heißt, die Skisaison wird lang, und das wiederum bedeutet , daß ich 'ne Menge für Liftkarten brauche,"

Sie lächelte ihr Grübchenlächeln, das Dennis so sehr mochte, „ich kann's kaum abwarten."

Sie hat ten sich gerade mit ihren Tabletts an einen freien Tisch ge­setzt , als Adrian Furolle auftauchte, „Ich möchte dich kurz sprechen, Dennis", s ag te er.

„Hat das nicht Zeit? Ich bin jetzt beschäftigt." „Oh, natürlich", an twor t e t e Adrian übertrieben höflich, drehte sich um

und ging weg. Keine Frage, er w a r wütend.

- Was soll's? dachte Dennis. Nur weil ich in seinem Klub bin, hat er noch lange kein Recht, über mich zu bestimmen.

Jane t warf ihm einen besorgten Blick zu. „Willst du dich doch mit ihm einlassen?" fragte sie. „Ich laß mich auf gar nichts ein", wa r Dennis' ausweichende Antwort. „Dennis, bitte. Ich weiß, das hört sich komisch an, aber er hat e t w a s

an sich, das mich fix und fertig macht. Ich kann's nicht erklären. Es ist wie das Gefühl, das man manchmal hat, wenn man ein Zimmer betritt

und ganz sicher ist, daß man schon mal da war." „Dejä vu", meinte Dennis. „Nenn es, wie du willst. Das Gefühl hab ich jedenfalls bei Adrian. Als sei

ich ihm in einem früheren Leben schon mal begegnet. Und es war keine schöne Begegnung."

„Ich paß auf", versprach Dennis.

„Dennis! Dennis, für dich!" Langsam kam Dennis zu sich. Das war vielleicht ein seltsamer Traum

gewesen. Er rieb sich die Augen und schaute auf die Uhr. Es war Sams­tagmorgen. Wer wollte ihn so früh schon sprechen?

„Dennis?" „Sekunde, Mom, ich komme." Ächzend hievte er sich aus dem Bett

und stolperte zum Telefon im Flur. „Hallo?" „Dennis? Hier ist Adrian, ich hab was Wichtiges mit Dir zu bespre­

chen!" „Am Samstagmorgen um acht?" Adrian überging den Einwand einfach. „Ich habe dich zum Ersten

Astrologen und Assistenten des Meisters ernannt und möchte ein paar Änderungen in der Spieldimension mit dir besprechen. Kannst du in einer Stunde zu mir kommen?"

„Erstens schlafe ich noch, und zweitens hab ich keine Ahnung von Astrologie", erklärte Dennis ärgerlich.

„Dann wach endlich auf. Wir sehen uns in einer Stunde." Damit hängte Adrian ein. Dennis stand im Flur und schaute ungläubig

auf den Hörer in seiner Hand. Hätte ich bloß auf Janet gehört, dachte er. Möglich, daß Adrian nicht)

ganz so verdreht ist, wie sie meint, aber wer mich Samstag morgens um acht anruft, kann nicht alle Tassen im Schrank haben.

Langsam ging er in sein Zimmer zurück und ließ sich aufs Bett fallen. Bald merkte er, daß er nicht mehr einschlafen konnte, und das ärgerte ihn. Erster Astrologe. Hm. Hörte sich gar nicht so schlecht an. Erfragte sich, ob Adrian wußte, daß man Horoskope über den Computer erstellen konnte.

Die Neugier hat te ihn gepackt. Seufzend stand er auf, zog sich an und ging in die Küche.

„Morgen, Dennis", begrüßte sein Vater ihn. „Die Pfannkuchen sind, gleich fertig."

Mr. Hale stand am Küchentresen und rührte begeistert in einer Schüs-

sei mit Teig. Kochen gehörte ebenfalls zu seinen Hobbys. „Morgen, D a d , sag te Dennis. „Wo ist Mom?" „Die ist, kurz nachdem du den Anruf bekommen hast , verschwunden.

Sie muß irgend e t w a s machen für den Klub, dem sie sich angeschlossen hat." Dennis' Vater s t eck te den Finger in den Teig und probierte. Ein ge­nießerisches Lächeln ging über sein Gesicht. „Es ist schön, daß sie so schnell Kontakt gefunden hat. Ich hab mir für heute auch eine Menge vorgenommen. Will Horrigan möchte sich meine Waffensammlung anse­hen, und da soll jedes einzelne Stück glänzen, bis er kommt. Was has t du vor?"

Dennis zuckte mit den Schultern. „Ich will nachher gleich rüber zu Ad­rian FuroIIe. Kann ich den Wagen haben?"

Es ents tand eine kurze Pause, dann meint sein Vater: „Okay." „Heute abend auch?" fragte Dennis vorsichtig. „Ich hab eine Verabre­

dung mit Janet." Mr. Haie seufzte. „Das Los der Väter von heute. Wenn deine Kinder

groß werden, heißt das nicht, ein Erwachsener mehr im Haus, sondern ein Auto weniger." Er lächelte Dennis an. „Klar kannst du ihn haben. Aber fahr vorsichtig."

„Tu ich immer."

Helen Woodbridge, Adrians Tante , s tand im Vorraum des Gasthauses , als Dennis dort ankam. Geistesabwesend zeigte sie auf eine breite Treppe. „Adrian ist in seinem Zimmer", sag te sie. „Zweiter Stock, dritte Tür rech ts . "

Damit verschwand sie in der Gasts tube, gefolgt von zwei Frauen in weißen Schürzen.

Rasch lief Dennis die Treppe hinauf und klopfte an Adrians Tür. Sie wurde sofort geöffnet, fast so, als habe Adrian direkt dahinter gestan­den und hur auf ihn gewar te t .

„Komm rein. Schön, daß du pünktlich bist." Dennis wollte ihm gerade sagen, daß er zuerst gar nicht ha t t e kom­

men wollen, da fiel sein Blick auf ein paar äußerst merkwürdige Gegen­s tände in dem Zimmer.

Heiliger Strohsack! dachte er. Was ist bloß los mit dem Typ? Auf dem Schreibtisch s tand ein ausgestopfter Vogel mit mörderisch

langem Schnabel, der auf eine ausgestopfte Maus einzuhacken schien. Daneben lag ein Totenkopf. Von einem Haken in der Decke hing ein Ske­lett, und auf dem Fensters ims lag auf gerollt eine ausgestopfte Schlange mit entblößten Giftzähnen. Es sah aus, als wolle sie jeden Augenblick zu­beißen. Pos ter und Karten mit Pentagrammen und anderen okkulten Symbolen schmückten die Wände, und dazwischen hing eine ganze Kol-

fektion gefährlich aussehender Schwerter und Degen. „Kriegst du bei dem ganzen Zeug hier keine Alpträume?" fragte Dennis

schließlich. „Überhaupt nicht. Ich jab jedes einzelne Stück mit Bedacht ausge­

sucht. Jedes erfüllt einen ganz bestimmten Zweck." Adrian nahm die Schlange in die Hand. „Die gehört zu meinen Lieblingsstücken. Meine El­tern haben sie aus Kolumbien mitgebracht, als ich klein war." Mit einem hintergründigen Lächeln sah er Dennis an, während der die Schlange streichelte. „Sag bloß nicht, daß dich die Sachen hier erschrecken. Von einem Poe-Fan hätte ich etwas mehr Begeisterung erwartet ."

„Es ist nicht gerade mein Stil, sagen wir mal so. Aber jedem das Seine." Dennis ging im Zimmer herum und betrachtete die einzelnen Stücke genauer. „Was sagt denn deine Tante dazu?" fragte er und holte ein Einmachglas mit Spinnen vom Regal.

„Die kommt hier nicht rein, und die Kellnerinnen auch nicht." Wieder lä­chelte Adrian. „Nachdem ich sie einmal so richtig erschreckt hab, brauch ich jetzt nicht mal mehr die Tür abzuschließen. Außerdem ist meine Tante so beschäftigt mit dem Restaurant und allem Drum und Dran. Die weiß nicht mal, daß ich hier bin."

Es kam Dennis so vor, als läge eine Spur Bitterkeit in Adrians Worten. „Deshalb kann ich auch machen, was ich will", fuhr Adrian fort , holte

den Totenschädel vom Schreibtisch und schaute ihn fast liebevoll an. Schweigend beobachtete Dennis ihn. Adrian schien völlig vergessen

zu haben, daß er da war. „Das hier sind alles'Symbole für,die Welt jenseits des menschlichen

Verstandes", erklärte Adrian, während er den Totenkopf auf den Tisch zurücklegte. „Lovecraft wußte um diese Welt, eine Welt jenseits von Zeit und Raum."

Llnvermittelt drehte er sich um und schaute Dennis an. „Eine Welt, in der fremde Wesen herrschen, und der Mensch nichts gilt — absolut nichts." Das letzte Wort hatte er fast gezischt. Er ging durchs Zimmer zu

••Dir U M ' u r

der Wand, an der die Degen hingen, nahm einen aus der Scheide und prüfte die Spitze am Finger. „Damit hat man Jungfrauen geopfert." Seine Augen glänzten. „Es gibt Zeiten, da muß man den Hunger der Al­ten stillen, den'Hunger der Geister, die in eisiger Tiefe wohnen . . . "

Dennis fühlte sich immer unwohler in seiner Haut. Noch nie war ihm je­mand begegnet, der Fantasy-Spiele so ernst nahm. Er fragte sich ge­rade, worauf Adrian eigentlich hinauswolle, als dieser sagte: „Deshalb möchte ich dem Spiel eine neue Richtung geben. Die Zeit, wo der Hunger der Alten gestillt werden muß, ist nah. Als Erster Astrologe ist es an dir, die Sterne zu befragen und mir zu sagen, wann es soweit ist."

Erleichtert atmete Dennis auf. Dann war das alles nur die Einleitung

gewesen zu der neuen Spielart, die Adrian einführen wollte. Hervorra­gend inszeniert, das mußte Dennis zugeben.

„Ich werde mich jetzt zurückziehen und sehen, w a s die Sterne zu die­ser Angelegenheit zu sagen haben", verkündete Dennis feierlich. „Meine Zaubermaschine" - normalerweise Computer genannt, fügte er in Ge­danken hinzu — „wird mir dabei helfen. Sobald wie möglich werde ich dir Bericht erstatten.4 '

Adrian lächelte. Seine dunklen Augen blitzten. „Ich bin sehr angetan von deinem Vorschlag. Vielleicht ist heute abend schon die richtige Zeit."

Die Verabredung mit Jane t fiel Dennis ein. „Ich brauche mehr Zeit, Mei­ster . Solche Berechnungen sind schwierig. Zuerst muß der Hunger der Maschine gestillt werden. Ich muß sie mit Informationen füttern, bevor sie meine Fragen beantworte t ."

Die Art, wie Dennis seine Rolle spielte, gefiel Adrian. Seine Stimme nahm einen verschwörerischen Ton an, als er sich jetzt zu Dennis hin­überbeugte und sag te : „Du sollst es als e r s te r wissen. Die große Jagd bekommt eine andere Dimension. Ich ha t t e eine Vision. Es ist nicht mehr der Edelstein, auch ,Auge des Mogar' genannt, dem wir nachspüren. Mit diesem Opfer beginnt die Suche nach Mogar selbst!"

Verständnislos schaute Dennis ihn an. Noch wußte er nicht genügend über das Spiel, daß es ihn gekümmert hä t te , ob sie nun hinter Mogars Auge oder hinter Mogar selbst her waren.

Wenn Adrian die Spielregeln ändern wollte und die anderen damit ein­vers tanden waren, sollte es ihm recht sein.

Adrian wand te sich um. „Es ist offensichtlich, daß du die Bedeutung dieser Suche noch nicht vers tehs t . Aber du wirst es bald vers tehen, Er-s t e r Astrologe." Als er sich wieder zu Dennis hindrehte, ha t ten seine Au-gen einen fast fiebrigen Glanz. „Du wirst sehen."

Janet bürs te te ihr wildes rotes Haar und überlegte dabei, ob sie eine Bluse oder den hellen Mohairpulli zu der neuen Jeans anziehen sollte. Sie hielt sich beides vor dem Spiegel vor und entschied sich schließlich für den Pullover.

Obwohl sie Dennis noch gar nicht so lange kannte, bedeute te er ihr doch schon sehr viel. Während sie sich fertig machte , fragte sie sich, was sie eigentlich am liebsten an. ihm mochte. Er sah gut aus, w a r groß

ein Segen, denn sie w a r einen Meter siebzig —, und er war intelligent und erns t — aber nicht zu ernst .

Wenn sie ihn bei dem ers ten Besuch im Restaurant nicht zu einer Cola eingeladen hä t te , hä t ten sie sich vielleicht nie kennengelernt, und das

wäre ewig schade gewesen. So wie er aussah, stand die halbe Schule auf ihn, und sie hätte wahrscheinlich nie eine Chance gehabt.

Geistesabwesend steckte sie sich das Haar mit Spangen zurück. Dann fiel ihr ein, daß Dennis einmal gesagt hatte, er finde es schöner, wenn sie das Haar offen trug. Also entfernte sie die Spangen rasch wie­der. Noch ein paar Bürstenstriche, ein bißchen Rouge auf die Wangen, und fert ig war sie. Dennis hatte am Nachmittag angerufen, und sie hat­ten beschlossen, in die Sieben-Uhr-Vorstellung zu gehen. Jetzt war es viertel nach sechs. In einer Viertelstunde würde er kommen.

Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. War der Mohairpullover nicht zu edel fürs Kino? Vielleicht sollte sie lieber ein Sweatshirt anziehen, das war sportlicher, und sie hatte den Eindruck, Dennis stand auf sportliche Mädchen.

Doch bevor sie sich noch einmal umziehen konnte, hörte sie die Tür-giocke.

„Du siehst super aus", sagte Dennis, als sie die Tür öffnete. „Der Pulli ist toll."

„Deiner gefällt mir auch." Sie grinste. Auf dem Weg zu Dennis Wagen erklärte Janet: „Übrigens, falls du es

noch nicht gehört haben solltest: In Ashton zahlt jeder für sich selbst. Das hat sich bewährt, denn so kann jeder das tun und bestellen, was er will und was er sich leisten kann. Ich halte das für die beste Lösung. Du auch?"

Inzwischen waren sie beim Auto angekommen und stiegen ein. Dennis nickte. „Ja, das macht die Sache für beide Seiten leichter. Was hat Ash­ton denn außer dem Kino noch zu bieten?"

„Es gibt noch Schulfeten, aber meist hocken wir einfach bei irgend-wem zu Hause, hören Musik und tanzen ein bißchen. Im Winter ist es auch schön, einfach nur am offenen Kamin zu sitzen und gar nichts zu tun."

Als Dennis das Auto auf dem Parkplatz hinter dem Kino abstellte, sah er Adrians scharzen Jeep. Janet hatte ihn ebenfalls bereits entdeckt. „Wie ich sehe, ist der Verdrehte auch da", meinte sie.

Erst im Foyer des Kinos merkte Janet, welchen Film sie sehen wür­den. „Wenn ich das gewußt hätte!" rief sie. „Ein amerikanischer Werwolf in London. Das hört sich ja grausig an."

Dennis nahm ihre Hand. „Halb so schlimm. Ich habe den Film schon fünfmal gesehen. Er ist irre."

„Irre, meinst du? Darunter verstehe ich aber was anderes." Nachdem sie die Eintr i t tskarten gekauft, hatten, holten sie sich noch eine Tüte Popcorn und zwei Dosen Cola. Dann gingen sie den Gang hinunter bis zur allerersten Reihe.

„Witzig, daß du auch gern vorn sitzt", sag te Janet . • „So hab ich das Gefühl, selber in Aktion zu sein", gab Dennis zu. „Auf dieses Gefühl könnte ich bei solchen Filmen locker verzichten." „Halt meine Hand, wenn du Angst hast." „Wie großmütig du bist. Besten Dank!" Sie schnitt ihm eine Grimasse

und kuschelte sich dann in ihren Sitz. Langsam gingen die Lichter im Kino, aus . Der Film begann.

Als Jane t und Dennis nach dem Kino mit ein paar anderen Jungen und Mädchen von der High School in der Pizzeria zusammensaßen, mußte Ja­net zugeben, daß sie an diesem Abend zum erstenmal einen Gruselfilm genossen ha t te .

Dann erzählte sie allen von Dennis' Computer und den Spielen, die er ihr beigebracht ha t te .

„Hey, Dennis", meinte einer der Jungen am Tisch, „hier haben sie ,Astro-Katastrophe\ Wie wär ' s mit. einem Spiel?"

„Gern. Ich will nur e rs t meine Pizza essen, bevor sie ganz kalt ist." Er schnitt ein großes Stück ab und s teckte es in den Mund.

Einen Augenblick spä te r kamen Adrian, Mike und Brad in die Pizzeria. Sie se tz ten sich in eine Nische. Als Adrian Dennis sah, s tu tz te er, dann nickte er.

Dennis s tand auf, um die drei Neuankömmlinge zu begrüßen. Außer ihm kümmerte sich keiner um sie.

. Je tz t ve rs tehe ich, weshalb der Ers te Astrologe die Zeit für ein Tref­fen heute abend nicht günstig fand", sag te Adrian kühl. Sein Tonfall schien die anderen zu irritieren. Sie vermieden es , Dennis anzuschauen.

„Jetzt'halt aber mal die Luft an, Adrian. Das hier ha t te ich schon lange vorher ausgemacht . Außerdem hab ich dir doch gesagt , daß ich den Computer e r s t mit den nötigen Informationen füttern muß, wenn ich ein gescheites Ergebnis haben will. Das geht schließlich nicht von allein, ich muß das auch ers t nachlesen. Und ich frage mich, ob die ganze Sache überhaupt den Aufwand w e r t i s t . . . "

Adrians Augen sprühten Funken. „Vielleicht hä t ten wir dich doch nicht in den Klub aufnehmen sollen."

„Vielleicht", erwiderte Dennis. „Aber falls es dich'interessiert: ich hab last den ganzen Nachmittag an dem Programm gearbeitet, und wie es aussieht, ist morgen ein günstiger Tag."

Mißtrauisch schaute Adrian ihn an. „Du has t es wirklich über den Com­puter gemacht?"

„Ja. Wie gesagt , es hat. mich fast den ganzen Nachmittag gekoste t . Das nächstemal geht es schneller. Je tz t ist ja alles . . . "

Adrian ließ ihn nicht ausreden. „Gute Arbeit. Hervorragend, ich hol

dich um halb acht ab. Alles andere ist fert ig, ich hab nur noch auf deine Entscheidung gewartet ."

„Okay. Aber jetzt muß ich jemanden bei .Astro-Katastrophe' schlagen. Wir seh'n uns morgen abend."

Als Dennis zu Janet an den Tisch zurückging, schaute sie ihn fragend an. Bestimmt hätte sie gern gewußt, worüber er mit Adrian gesprochen hatte, doch das wollte er lieber für sich behalten.

„Er ist wirklich nicht so schlimm, wie du denkst", begann er. „Ich hab doch gar nichts gesagt." Dennis lächelte. „Manchmal hab ich aber das Gefühl, ich muß ihn in

Schutz nehmen." „Das ist deine Sache. Sag bloß später nicht, ich hätte dich nicht ge­

warnt ." „Hey, Dennis", rief Alan, „Wie ist das nun mit dem Spiel, das du mir ver­

sprochen hast?" „Okay, aber nur eine Minute." Aus der einen Minute wurden zehn, und bald war eine halbe Stunde

um. Eine Menge Leute standen um Dennis und Alan herum und schau­ten ihnen zu. Schließlich ging auch Janet zu ihnen hinüber. „Meinst du nicht, daß es langsam genug ist, Superman? Du hast ohnehin schon sämtliche Rekorde gebrochen."

Dennis sah auf die Uhr. Das Spiel hatte ihn so in seinen Bann gezogen, daß er die Zeit darüber völlig vergessen hatte. „Heiliger Strohsack! Schon so spät. Wenn wir uns jetzt nicht beeilen, kommst du zu spät nach Hause, und dann hab ich's bei deinen Eltern womöglich für immer ver­siebt."

Janet lachte. „Auf fünf Minuten kommt's nicht an, aber du hast recht, wir sollten trotzdem gehen."

Während er seine Jacke anzog, sah sich Dennis noch einmal in der Piz-zeria um. Adrian und die beiden anderen Klubmitglieder waren bereits gegangen.

Wenig später saß er mit Janet im Auto seines Vaters. Sie räusperte * sich. „Okay, ich wollte die Sache vor den anderen nicht ansprechen, aber wie kommt's, daß du so freundlich bist zu Adrian und seiner Cli­que?"

„Moment mal, ich bin zu allen freundlich", meinte Dennis ausweichend. „In meinen Augen war das ein bißchen mehr als nur Freundlichkeit. Er

war kaum zur Tür herein, da wars t du auch schon bei ihm." „Du hast gewonnen. Ich bekenne mich schuldig. Adrian hat mich ge­

fragt, ob ich in seinen Klub eintreten will. Er hat mich sogar mit zu dem Ort genommen, wo sie die Rollenspiele machen. Wailing Rocks heißt er."

„Da tref fen sie sich?" rief Janet. „Daß sie in die Berge gehen, wußte

ich, aber zu den Wailing Rocks! Das hätte ich nicht gedacht." „Was ist damit?" „Da geht man einfach nicht hin. Niemand tu t das, zumindest niemand,

den ich kenne. Fürchterliche Dinge sind dort schon passiert." „Zum Beispiel." „Ach, so genau weiß ich das auch nicht. Man redet nicht darüber. Hör

zu, Dennis, wenn du mir nicht glaubst, geh in die Bücherei und hol dir ein Buch über die Geschichte von Ashton. Oder noch besser: geh zu einem Mann namens Cal Stark. Das ist ein alter Farmer, der hier ganz in der Nähe wohnt. Er kann dir alles darüber sagen."

Cal Stark stand im Hof und sah sich aufmerksam um, Irgend etwas hatte seine Tiere aufgeschreckt. In der einen Hand hielt er eine Ta­schenlampe, in der anderen eine geladene Schrotflinte. Es war schon öf­ters vorgekommen, daß junge Leute ihm einen Streich gespielt hatten. In letzter Zeit hatte er zwar Ruhe vor ihnen gehabt, doch daß der Friede nicht ewig dauern würde, war ihm klargewesen.

Er lauschte. Vom hinteren Ende der Scheune kam ein Geräusch. Die Schweine grunzten und quiekten ungewöhnlich laut, und die Hühner gackerten aufgeregt. Vielleicht war es nur ein Fuchs.

Cal wollte es nicht zugeben, nicht einmal vor sich selbst, doch er I loffte, ein Fuchs möge der Störenfried sein.

Nach ein paar Minuten hatten die Tiere sich wieder beruhigt. Cals Auf-tauchen hatte den Eindringling anscheinend vertrieben. Was allerdings r licht bedeutete, daß er nicht wiederkommen konnte.

Fröstelnd zog Cal die abgewetzte Jacke enger um die Schultern. Für «'ine Oktobernacht war es ausgesprochen kalt. Er ging zum Haus zu-i uck. In letzter Zeit hatte er öfter daran gedacht, in die Stadt zu ziehen, wo er nicht so isoliert wäre. Doch hier auf der Farm hatte er sein ganzes l eben verbracht. Jetzt noch woanders hinzuziehen, brachte er nicht übersieh.

Trotzdem wünschte er sich Gesellschaft. Der junge Hale zum Beispiel, DER da neulich mal hereingeschneit war, hatte ihm gefallen. Sich mit ihm zu unterhalten, hatte gutgetan.

Langsann stieg Cal die Treppe hinauf, zog sich aus und legte sich ins Bett. Die alte Flinte lehnte er in Reichweite an die Wand. Für alle Fälle.

Zwei Stunden später saß er wieder aufrecht im Bett . Etwas hatte ihn aus. dem Tief schlaf gerissen.

Was war passiert? In der Scheune schien der Teufel los zu sein. Mit einem Satz sprang Cal aus dem Bett , schlüpfte in ein Paar alte

Schuhe und griff nach der Schrotflinte. Es dauerte eine Weile, bis er die Taschenlampe gefunden hatte. Er stürzte die Treppe hinunter.

Vor Kälte zitternd lief Cal über den Hof. Rauhreif überzog den Boden. Im Schein der Taschenlampe sah er den dunklen Streifen, wo kein Frost mehr war. Er folgte ihm in die Scheune hinein zu dem Hühnerstall. Ein Schrei entschlüpfte ihm.

In einer Blutlache lag der Hahn - ohne Kopf. Cal wirbelte herum, als erwarte er, den Mörder hinter sich zu finden. Niemand war zu sehen. Das steigerte nur seine Wut und Angst.

Jetzt zit terte er nicht mehr vor Kälte, sondern vor Zorn. Das war kein Fuchs gewesen. Der Hahn war abgeschlachtet worden. Jemand hatte ihm den Kopf abgehackt.

Cal hob den Kopf und schaute über die Felder und den Wald nach Nor­den, Er riß die geballte Faust hoch und stieß einen gellenden Schrei aus. Rasende Wut und blanker Horror lagen in dem Schrei, der sekundenlang als Echo von den Bergen zurückkam.

In dem Wald in der Nähe von Cals Farm zog eine hochgewachsene Ge­stalt einen blutbefleckten Umhang aus und rollte ihn zu einem kleinen Bündel zusammen. Sie zog die ebenfalls blutigen Handschuhe aus und drückte sie in das Bündel. Dann holte sie eine Plastiktüte aus der Ta­sche und stopfte die blutigen Sachen hinein. In diesem Augenblick zerriß ein unmenschlicher Schrei die Stille des Waldes.

Der Hochgewachsene verzog keine Miene. Nur die dunklen Augen glänzten.

Durch die Bäume hindurch sah er, wie in dem Haus Licht anging. Er nahm den Sack auf, der vor ihm auf dem Boden gelegen hatte, und lief hinunter zur Straße, wo hinter einer Baumgruppe ein Jeep geparkt war. Er stieg ein, legte den Sack vor dem Beifahrersitz auf den Boden und verstaute die Plastiktüte unter seinem eigenen Sitz. Dann löste er die Handbremse und ließ den Wagen geräuschlos den Hügel hinunterrollen.

5. KAPITEL

„Junge, ist das eine Kälte", sagte Dennis, als er sich am Sonntagabend in Adrians Jeep schwang. Mike und Bob saßen mit ihren Taschen auf der Rückbank. Zwischen ihnen auf dem Boden lag eine große Plastiktüte. „Wo sind Brad und Pete?"

„Wir t ref fen sie im Wald", antwortete Adrian. Dennis schnüffelte angewidert. „Irgendwas stinkt hier. Ist einer von

euch über einen Misthaufen gestiefelt und hat anschließend vergessen, sich die Schuhe abzuputzen?"

Adrian kicherte. „Das ist komisch, Dennis, komischer, als du glaubst." Irrit iert sah Dennis ihn an. „Was soll das heißen?" Adrian schaute stur geradeaus. Er schien sich ganz auf die Straße zu

konzentrieren. Für Dennis W a r das nicht weiter verwunderlich. Inzwi­schen war er Adrians vieldeutige Bemerkungen gewöhnt. Er steckte den Kopf aus dem Fenster, um frische Luft einzuatmen.

Erbarmungslos jagte Adrian den Jeep über die holprige Straße und brachte ihn an dem gewohnten Platz mit einer Vollbremsung zum Ste­hen. Dann drehte er sich auf seinem Sitz um. „Bob, du nimmst die Pla­st iktüte, Mike und Dennis, ihr bringt die anderen Taschen." Ohne eine Antwor t abzuwarten, stieg er aus und marschierte in Richtung Wailing Rocks.

Die drei Jungen schauten sich an. Adrian schien irgendwie fiebrig er-regt, fast noch stärker als sonst gefesselt von dem Spiel.

Bob zuckte mit den Schultern. „Gehen wir", sagte er und nahm die Pla-stiktüte, wie ihm befohlen worden war. „Kommt, Jungs."

Mit jedem Schritt den Hügel hinauf schien es kälter zu werden. Nach-dem Dennis seinen Parka zugeknöpft hatte, war f er sich eine der Reise-taschen über die Schulter. Vor sich sah er den Schein von Adrians Ta-schenlampe, und er ließ seine eigene Taschenlampe über die Umgebung wandem. „Wenn jemand zufällig von unten hier heraufschauen würde, kamen wir ihm wahrscheinlich ziemlich gespenstisch vor. Mit ein bißchen Fantasie könnte man unsere Taschenlampen für die Bordlichter eines Raumschiffs halten."

Mike lachte. „Vielleicht sollten wir als nächstes ein Weltraumspiel ma-chen. Ich werd Adrian mal fragen, ob er eines kennt."

Als die drei Jungen auf die Lichtung t raten, war teten dort Adrian, Brad und Pete auf sie. Nachdem alle ihren Umhang übergezogen hatten, befahl Adrian ihnen, sich im Kreis um ihn herum aufzustellen. Dennis spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Im Kreis der anderen Jungen, alle angetan mit den langen Roben, fühlte er sich zurückver­setzt in eine längst vergangene Zeit. Man konnte gegen Adrian sagen, was man wollte, er war ein ausgezeichneter Spielleiter.

„Ich hatte eine Vision", begann Adrian. „Unsere Jagd gilt nicht mehr dem großen Edelstein, Auge des Mogar genannt/ ' Der Reihe nach schaute er die Jungen an. „In ihrer neuen Dimension ist sie von ungleich größerer Bedeutung - und weitaus gefährlicher. Jetzt sind wi r auf der Suche nach Mogar selbst, Mogar, dem gefürchteten Urwesen aus einer Zeit, als die ersten .Menschen die Erde besiedelten.48 Seine Stimme wurde zu einem Flüstern. Die Jungen mußten sich anstrengen, um ihn bei dem Rauschen des Windes noch zu verstehen. „Mogar, die große Schlange, die alle verschlingt, das Böse selbst, das immer noch mit Gott um die Seelen der Menschen ringt/8

Feierlich fuhr er for t : „Wir müssen ein Opfer bringen, damit er uns ein Zeichen gibt. Der Erste Astrologe hat festgestellt, daß heute abend die Sterne günstig stehen."

„Vernichten wi r Mogar, wenn wir ihn gefunden haben?" wollte Bob Schumacher wissen.

Adrians Stimme klang wie das Zischen einer Schlange. „Idiot! Niemand kann Mogar vernichten. Wir werden ihm huldigen/8

Aus den Falten seines Umhanges brachte er eine Totenschädel-Maske zum Vorschein und zog sie sich über den Kopf. Während er die Maske zurechtrückte, ging er über die Lichtung zum Eingang der Höhle.

„Folgt dem Meister", befahl er.

Bob nahm die Plastiktüte und ging als erster hinein. Die anderen folgten. Auf ein Zeichen von Adrian hin legte Bob die Tüte neben die Zeichnung auf dem Boden. Dann richtete Adrian seine Taschenlampe auf die hin­tere Höhlen wand.

Überrascht bemerkte Dennis das kreisrunde Loch im Boden, das ihm vorher nie aufgefallen war.

Adrian breitete die Arme über der Öffnung aus, „Großer Mogar", rief er, „damit du zum Menschen kommen kannst, opfern wir dir das Tier." Er kam zurück, nahm die Plastiktüte und t rug sie zu dem Loch. Mit dem Rücken zu den anderen zog er etwas aus der Tüte heraus. Einen blut­verkrusteten Hahnenkopf. Rasch war f er den Kopf in das Loch. Einen Augenblick lang lauschte er, dann wandte er sich zu den anderen um. „Es ist vollbracht", sagte er feierlich.

„Was jetzt?" wollte Pe te wissen, „Wir sind es nicht wer t , dem großen Mogar von Angesicht zu Ange­

sicht zu begegnen. Er wird uns ein Zeichen geben, wenn er bereit ist für das nächs te Opfer."

„Soli das heißen, du hast uns heute hier raufkommen lassen, bloß um e twas in das Loch zu schmeißen?" fragte Mike.

„Ruhe!" donnerte Adrian. Mit der Totenkopfmaske vor dem Gesicht und der Kapuze über dem Kopf sah er fremd und bedrohlich aus. Es schien fast, als sei er selbst gar nicht mehr da, als sei e t w a s Böses an seine Stelle ge t re ten . Keiner sprach mehr ein Wort.

Stumm kniete Adrian sich vor die bizarre Zeichnung auf den Boden. Den anderen gab er ein Zeichen, es ihm nachzutun. Er murmelte e twas , das sie nicht vers tanden, und hieß sie dann, wieder aufstehen. Auch er erhob sich, zog die Maske vom Gesicht und lächelte. Seine Augen glänz­ten fiebrig.

„Wir können uns freuen", sag te er, „der große Mogar wird uns ein Zei­chen geben."

„Mensch, Adrian", meinte Pe te vorsichtig, „ich wußte gar nicht, daß bei unserem Spiel auch Opfer und sowas vorkommen."

Brad wurde deutlicher. „Wie steilst du dir das in Zukunft überhaupt vor? Willst du jetzt bloß noch Zeug hier rauf schleppen, wenn es diesem Mogar einfällt, daß er Hunger haben könnte, oder geht die richtige Jagd endlich wei ter?"

Der Blick, den Adrian Brad zuwarf, sprach eine deutliche Sprache. Brad wurde blaß. „Sei vorsichtig und beleidige nicht den großen Mogar", sag te Adrian,

Dann lächelte er. „Wir sind in eine neue Phase unseres Spiels eingetre-ten. Von nun an s tehen wir im Dienst dessen, der in den eisigen Höhlen unter diesem Berg wohnt. Dieses Wesen wird wiederkommen und die Menschheit daran erinnern, daß sie im Grunde böse ist. Wir s tehen im Dienst des großen Mogar, des Bösen an sich."

Dennis fühlte sich äußerst unwohl. Die Sache mit dem ursprünglich Bösen ha t ten sie in der Diskussion vor der Klasse zur Genüge erörtert , Damals h a t t e Adrian niemanden überzeugen können, doch jetzt ha t t e Dennis das Gefühl, als seien die anderen Jungen bereit zu glauben, Adrian wisse mehr als sie.

„Mann!" Unverholene Bewunderung lag in Bobs Stimme. „Das wird ganz schön aufregend. Fantasie hast du, Adr ian, das muß man dir las-

sen."

,,Ja", s t immte Brad ihm zu. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie man sich das alles ausdenken kann. Aber eins s teh t fest: Du kannst einem richtig

Angst machen." Er lachte nervös.

Ohne auf die Bemerkungen einzugehen, begann Adrian in der Höhle herumzuwandern, wobei er unverständliche Worte vor sich hinmur­melte. Plötzlich erhob sich ein kalter Wind. Er schien vom hinteren Ende der Höhle zu kommen.Die Temperatur sank spürbar. Ein fauler Verwe­sungsgeruch erfüllte die Luft.

Brad War der erste, der hustend und würgend zum Ausgang lief. Die anderen folgten ihm auf den Fersen.

„Verräter!" schrie Adrian. „Kommt zurück! Mogar hat uns ein Zeichen gegeben, daß er unser Opfer annimmt!"

Draußen atmeten die Jungen gierig die frische Luft ein. Endlich er­schien auch Adrian im Höhleneingang. Er schrie und schimpfte immer noch. „Verrat! Verrat am großen Mogar, Euch alle wird ein Fluch tref­fen!"

Irritiert schauten die fünf Jungen ihn an. Im stillen fragte sich jeder, ob Adrian immer noch bloß eine Rolle spielte oder ob er jetzt tatsächlich den Verstand verloren hatte.

Dennis war der erste, der e twas sagte. „Okay, Adrian. Vielleicht hat dir der Gestank da drin wirklich nichts ausgemacht, aber du kannst nicht erwarten, daß normale Leute sowas aushalten." Er hielt inne. Adrian schaute ihn an wie in Trance, als sehe er ihn zum erstenmal. Dann blin­zelte er ein paarmal, schüttelte den Kopf und zog die Kapuze zurück.

„Ihr habt euch doch nicht erschrocken, oder?" fragte er mit einem höh­nischen Grinsen. „Selbst dich hat's gepackt, Dennis. Hab ich recht? Aber ich hab dir gesagt, daß wir alles so realistisch machen wie irgend mög­lich."

Jetzt war es an Dennis, zu blinzeln und den Kopf zu schütteln. Ungläu­big starrte er Adrian an. Dann dreht er sich um und machte Sich auf den Weg zu dem Jeep.

„Ich hab gestern abend versucht, dich anzurufen", sagte Dennis. „Meine Mutter hat te plötzlich das dringende Bedürfnis, vom Schluß­

verkauf zu profitieren", erzählte Janet. „Wir haben stundenlang das ge­samte Einkaufszentrum unsicher gemacht." Sie lächelte. „Wart's ab, bis du mein neues Kleid siehst."

„Wirst du es mir bald vorführen?" „Ich denke schon. Ende der Woche sag ich dir noch mehr dazu." „Was soll das heißen?" Jetzt lächelte sie ihr Grübchenlächeln. „Gedulde dich noch ein paar

Tage. Du erfährst es früh genug." „Hey, Dennis!"

Dennis drehte sich um, um zu sehen, wer nach ihm rief. Es w a r P e t e Wood ward.

„Ich hab einen Auftrag für dich", sag te er, als er an ihren Tisch kam. „Hättest du Lust, meine Semesterarbei t in Englisch auf deinem Compu­te r zu schreiben? Du has t doch ein Textverarbeitungsprogramm, oder?"

„Klar", meinte Dennis. „Wann brauchst du's?" „Irgendwann nächste Woche. Das genaue Datum weiß ich im Moment

nicht mehr. Der alte Irving hat mir angedroht, bei allem, w a s ich abgebe, von vornherein 20 Punkte abzuziehen, weil er meine Handschrift nicht lesen kann."

„Dann werden ihm die Augen aus dem Kopf fallen, wenn er deine nächste Arbeit sieht." Dennis biß genüßlich in sein Thunfisch-Sandwich.

„Was verlangst du für die Schreiberei, Dennis?" erkundigte sich Jane t s Freundin Laura.

„Wie wär ' s mit 75 Cents pro Seite?" fragte Dennis nach kurzem Über­legen.

„Nicht schlecht." Hastig fügte Dennis hinzu: „Es muß allerdings so geschrieben sein, daß

ich es lesen kann." Er wand te sich wieder an Pe te . „Ich hab keinen Bock, ers t mal stundenlang irgendwelche Hieroglyphen zu entziffern."

„Okay", meinte Pe te . „Aber du has t doch bestimmt besse re Augen als der alte Irving."

„Du solltest einen Anschlag am Schwarzen Bret t machen." Der Vor-schlag kam von Janet . „Jede Wette , daß du dich dann vor Aufträgen bald nicht mehr re t ten kannst."

„Eine prima Idee." Der Vorschlag gefiel Dennis ganz gut. Auf diese Art und Weise konnte er sich ein bißchen Geld verdienen, bevor die Skisai-son anfing.

Daß sein Anschlag am Schwarzen Bret t allerdings so. große Beach-tung finden würde, hä t t e er sich nicht t räumen lassen. Viele Schüler und sogar einige Lehrer sprachen ihn darauf an. Bis Dienstag ha t t e er be-reits die e rs ten Aufträge, und zwei davon waren brandeilig. Dennis machte sich sofort an die Arbeit. Darüber vergaß er ganz, daß er Adrian versprochen hat te ,noch einmal die Sterne zu befragen, wann der näch-

ste günstige Tag für ein wei teres Opfer sei. Nach der Englischstude am Donnerstag tippte ihm Adrian auf die

Schulter und fragte: „Hat unser Ers ter Astrologe vergessen, daß er die Sterne befragen und uns sagen wollte, wann wir dem großen Mogar wieder opfern sollen?"

„Diese Woche w a r so viel los, ich bin einfach nicht dazu gekommen", antwortete Dennis entschuldigend.

„So, du bist einfach nicht dazu gekommen", wiederholte Adrian sarka­stisch. „Zu so etwas Wichtigem kommst du nicht."

„Jetzt halt aber mal die Luft an, Adrian." Dennis wurde sauer. „Du tus t ja so, als ginge es um Leben und Tod, dabei ist es doch nur ein Spiel."

Adrians Augen glühten, als er Dennis ansah, und plötzlich hatte dieser dasselbe Gefühl wie damals in der Höhle, als er vor der Zeichnung auf dem Boden kniete. Irgend etwas nahm Besitz von seinem Bewußtsein, etwas, auf das er keinen Einfluß hatte.

Dann sagte Adrian düster: „Ein Spiel, Dennis? Den Hunger des großen Mogar mit einem entsprechenden Opfer zu stillen, kann eine Sache von-Leben und Tod sein. Leben für die einen, Tod für die andern. Ich würde ihn nicht enttäuschen wollen - und seinen Hunger zu spüren bekom­men."

Zuerst konnte Dennis nicht glauben, daß Adrian es ernst meinte, doch dessen Blick und der Ton seiner Stimme belehrten ihn eines Besseren. Er lachte unsicher. „Okay, okay, ich werd mich gleich dransetzen. Wenn du ein Zeichen der Sterne willst, sollst du eines haben."

„Wann kannst du mir Bescheid sagen?" fragte Adrian. „Es muß so früh wie möglich sein."

„Näachste Woche?" „Morgen. Am Sonntagabend müssen wir uns treffen, um dem großen

Mogar zu huldigen." Dennis sah ihn an. „Am Sonntag?" „Ich hol dich um sieben ab."

Plötzlich konzentrierte sich Adrian auf etwas hinter Dennis. Dieser drehte sich um und sah Janet, die offensichtlich darauf war te te , daß er das Gespräch mit Adrian beendete.

„Hallo, Dennis", sagte sie und nickte Adrian kurz zu. „Hast du einen Au­genblick Zeit? Ich möchte dich was fragen."

„Klar." Rasch verabschiedete er sich von Adrian. Dann nahm er Janets Hand und ging mit ihr den Gang hinunter.

„Was gibt's, Janet? Du siehst aus, als hättest du das große Los gezo­gen." Ihre Augen blitzten. „Soll ich dir was verraten? Ich hab am Sonntag Geburtstag, und Mom hat mir erlaubt, im Restaurant eine Party zu ge­ben. Ist das nicht super?"

Dennis wandte das Gesicht ab, damit sie ihm die Enttäuschung und Verwirrung nicht ansah. Fröhlich erzählte sie weiter: „Mom hat gesagt, ich darf vier Pärchen einladen, und dich natürlich. Kommst du? Ich würde mich wirklich sehr freuen. Ich darf mir aussuchen, was es zum Essen geben soll. Roastbeef wäre nicht schlecht." Sie schaute ihn prü­fend an.

„Du magst doch Roastbeef, oder? Und der Chefkoch macht extra für mich eine Geburtstagstorte!"

Schließlich merkte sie, daß Dennis ihre Begeisterung nicht teilte,und blieb irrit iert stehen. „Wa ist los, Dennis? Hab ich was Falsches gesagt? Du machst so ein miesepetriges Gesicht,"

„Nein, du hast nichts Falsches gesagt." Ihre Stimme klang enttäuscht. „Du hast keine Zeit am Sonntag. Du

hast schon was anderes vor. Ich weiß ja, daß es knapp ist, aber Mom und Dad konnten mir erst gestern abend sagen, ob es am Sonntag geht oder nicht." Sie ließ Dennis' Hand los und drehte sich um.

Dennis holte t ief Luft. Dann schüttelte er den Kopf und sagte: „Hey, Janet, das hört sich toll an. Um nichts in der Welt würde ich mir die Party entgehen lassen."

Dabei klangen ihm Adrians Worte in den Ohren: „Eine Sache von Leben und Tod. Leben für die einen, Tod für die andern." Und er fragte sich, was damit wohl gemeint sein könnte. Was sollte er bloß machen? Er konnte Janet unmöglich enttäuschen, andererseits hatte er ein bißchen Angst davor, Adrian zu verärgern und am Sonntag nicht zu dem Treffen zu gehen. Die Entscheidung war schwierig, und er hatte kaum eine Se­kunde Zeit zum Nachdenken.

Rasch legte er den Arm um Janets Schulter. „Du, hab ich nicht gesagt, daß ich mir die Party auf keinen Fall entgehen lassen will? Ich werd nur . . . ich meine, nichts ist wichtiger als dein Geburtstag." Er drückte sie an sich. „Wann soll ich dich abholen?"

„Um sieben", antwor tete sie glücklich. Hand in Hand gingen sie weiter den Gang hinunter. „Einen Augenblick lang hab ich tatsächlich gedacht, du könntest nicht kommen, weil du andere Pläne hast." Vor einer Tür am Ende des Flures blieb sie stehen. „Hier muß ich rein. Ich hab jetzt Ge­schichte. Bis später."

„Bis später." Dennis fragte sich, wie er Adrian die veränderte Sachlage beibringen

sollte. Mir w i rd schon was einfallen, dachte er. Vielleicht können wir das Treffen auf Montag verschieben.

6. KAPITEL

Als Adrian am nächsten Morgen auf Dennis zukam, war dieser gewapp­net. Die Lösung des Problems war so einfach gewesen, daß Dennis sich gefragt hatte, weshalb er nicht gleich darauf gekommen war.

„Hast du das Horoskop erstellt?" wollte Adrian wissen. „Ja", antwortete Dennis ernst. „Nach meinen Berechnungen ist Montag der beste Tag für Opfer. Für

Sonntag stehen die Sterne höchst ungünstig. Es sieht sogar so aus, als ob ein Treffen am Sonntag eine Katastrophe auslösen könnte."

Adrian schaute Dennis mißtrauisch ab. „Bist du sicher?" Ohne mit der Wimper zu zucken, antwortete Dennis: „Wenn du meinen

Berechnungen nicht traust, mußt du dir einen anderen Astrologen su­chen."

Sofort lenkte Adran ein, „Nein, nein, ich vertraue dir. Wir hatten nur schon alles für Sonntag vorbereitet. Aber deine Berechnungen geben natürlich den Ausschlag."

„Gut", sagte Dennis. „Die Zeichen der Sterne kann man nicht ernst ge­nug nehmen." So ganz wohl war ihm allerdings nicht bei der Sache, doch dann versuchte er, seine Entscheidung zu rechtfertigen, indem er sich sagte, daß Adrian ihn bestimmt auch schon ausgetrickst hatte, und das nicht nur einmal. In diesem Augenblick kam Janet zu den beiden herüber.

„Hi, Dennis", rief sie und nahm seinen Arm. „Es ist alles fertig für Sonn­tagabend."

Daß Dennis nicht allein war, merkte sie erst im nächsten Augenblick. „Oh, hallo, Adrian", grüßte sie kühl.

Adrian nickte wortlos. Sie wandte sich wieder an Dennis. „Kommst du mit in die Cafeteria?" Ihre Stimme klang gereizt.

„Sicher. Bis später, Adrian." Adrian griff nach Dennis' Arm. „Ich würde dich gern noch eine Minute

sprechen", sagter in eisigem Tonfall. Und an Janet gewandt, fügte er hinzu: „Das heißt, falls du nichts dagegen hast."

Verblüfft registrierte Dennis, wie Adrian es fertigbrachte, ausgespro­chen höflich zu sein und trotzdem beleidigend.

„Natürlich nicht", erwiderte Janet von oben herab, drehte sich um und ging davon.

Dennis sah ihr nach. „Jan . . ." „Wir sehen uns beim Mittagessen." Damit war sie verschwunden. „Mußte das sein?" fuhr Dennis Adrian an. Dieser konnte sich kaum beherrschen. Seine Augen sprühten vor

Wut. „Ob das sein mußte oder nicht, spielte hier keine Rolle. Ich weiß jetzt , weshalb die Sterne den Sonntag für ungünstig hielten. Und ich warne dich, Dennis Haie. Hüte dich vor der Rache des großen Mogar!"

Dennis spürte, wie es ihm bei Adrians Worten und dessen bohrendem Blick eiskalt den Rücken hinunterlief. Unwillkürlich t ra t er einen Schritt zurück.

„Hör zu, Adrian, ich nehme das Spiel genauso ernst wie du." „Das bezweifle ich stark", erwiderte Adrian. „Wie auch immer, der

Montag wurde festgesetzt. Am Montag tref fen wir uns. Ich habe keine Beweise für einen Verrat, nur einen Verdacht. Und ich warne dich noch einmal. Ein langer, kalter Winter steht uns bevor, und der große Mogar wird kein Erbarmen haben mit denen, die seinen Hunger nicht ernst neh­men. Treue ihm gegegnüber kommt vor allem anderen, wenn wir das Wissen und die Macht erlangen wollen, die nur er uns geben kann."

Nach diesen Worten ließ er Dennis stehen und ging davon.

Irrit iert schaute Dennis Adrian nach. Adrian tu t ja so, als gäbe es diesen Mogar tatsächlich, schoß es ihm durch den Kopf. Und was soll das Ge­rede von „Wissen" und „Macht"?

Gerade als er die Zahlenkombination an seinem Schließfach eingestellt hat te, kam Pete angelaufen. „Hey, Dennis, wie ich gehört habe, t ref fen wir uns am Sonntag wieder oben bei den Felsen. Wenn ich nur wüßte, was Adrian diesmal vorhat."

„Ich hab gerade mit ihm gesprochen", sagte Dennis, während er die Tür seines Schließfaches öffnete. Er legte sein Notizbuch in das untere Fach und holte einen Pullover aus dem oberen. „Wir haben das Treffen auf Montag verschoben. Hoffentlich ist das okay für dich."

„Sicher. Solange es okay ist für Adrian." Ein erstaunter Ausdruck t ra t auf Petes Gesicht. „Wie hast du das geschafft?"

„Was geschafft?" „Daß es auf Montag verschoben wurde? Von uns läßt er sich nichts sa­

gen. Wenn er einmal eine Entscheidung getroffen hat, läßt er sich nicht mehr davon abbringen."

„Ach, halb so schlimm." Dennis' Stimme klang gedämpft, weil er sich gerade den braunweißgestreiften Pullover über den Kopf zog. „Maß muß ihn nur zu nehmen wissen." Er steckte die Arme in die Pulloverärmel. „Es ist schon ganz schon frisch hier. Wenn das so weitergeht, können wir noch vor Halloween skifahren."

„Adrian sagt, das wird der kälteste Winter seit 1816. Das hat er an­scheinend irgendwo gelesen."

„Janet wird sich jedenfalls freuen, wenn sie das hört." Im stillen fragte er sich, ob Janet überhaupt noch mit ihm reden würde. Sie saß in der Ca­feteria und war te te bestimmt schon ungeduldig auf ihn.

„Meinst du Janet Horrigan?" wollte Pete wissen. „Das ist eine Super­Frau, echt." Mit gesenkter Stimme fuhr er for t : „Sag's nicht weiter, aber ich glaube, Adrian wollte sich letzten Sommer an Janet ranmachen. Sie hat ihn abblitzen lassen. Ich an deiner Stelle würde vor Adrian nicht un­bedingt damit angeben, daß du mit ihr gehst."

„Danke", sagte Dennis. „Ich werd's mir merken. Aber jetzt muß ich los. Wir sehen uns später."

Hoffentlich war ich nicht zu bestimmt, dachte Janet, als sie sich am Sonntagabend für die Party fert ig machte. Ich kann nicht für Dennis entscheiden.

Wenn er sich mit Adrian und diesen Typen tref fen will, ist das seine Sache.

Sie ging zum Schrank und holte das Kleid heraus, das ihre Mutter ihr bei ihrem gemeinsamen Einkaufsbummel gekauft hatte. Gerade als sie hineinschlüpfte, läutete das Telefon.

„Hallo?" Den Hörer zwischen Schulter und Kinn geklemmt, versuchte sie, den Reißverschluß an ihrem Kleid zu schließen.

Keine Antwor t , nur ein leises Weinen und Heulen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sollte das ein übler Scherz sein?

„Was soll das?" fragte sie. „Ich finde das absolut nicht witzig." Heftiges Atmen übertönte das Weinen. Siedendheiß fiel es Janet ein,

daß ihre Eltern beide schon im Restaurant waren. Sie war ganz allein im Haus.

Ihre Hände begannen zu zittern. Rasch legte sie den Hörer auf. Sobald sie sich einigermaßen beruhigt hatte, wählte sie Dennis' Nummer.

Als er sich meldet, kam sie sich plötzlich sehr kindisch vor. Wie hatte sie sich bloß von einem Anruf, der wahrscheinlich nicht mal ihr gegolten hatte, so erschrecken lassen können? So ruhig wie möglich sagte sie: „Ich bin fast fert ig, Dennis. Kannst du nicht ein bißchen eher kommen?"

„Klar." Am Klang ihrer Stimme merkte er, daß etwas nicht st immte. „Ist alles okay, Janet?"

„Sicher. Ich dachte nur, es sei vielleicht gut, ein wenig früher dazu sein."

„In einer Viertelstunde bin ich bei dir." Kaum hatte Janet den letzten Tupfer Rouge aufgelegt, da hörte sie

auch schon einen Wagen die Einfahrt heraufkommen. Noch einmal mit

der Bürste durchs Haar — fertig. Erwartungsvoll lief sie die Treppe hin­unter, um die Haustür zu öffnen.

MWow!" Dennis riß die Augen auf, als er sie sah. „Du siehst super aus!" Er zog die Hand hinter dem Rücken hervor und brachte eine kleine, durchsichtige Schachtel mit einer Rose darin zum Vorschein. „Pour vous", sag te er auf französisch. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburts-t a g .

„O Dennis", flüsterte sie. „Meine e r s t e Rose. Wie schön." „Gefällt sie dir wirklich? Die Verkäuferin sagte , eine rote Rose paßt im­

mer, egal welche Farbe dein Kleid hat." „Gefallen ist gar kein Aussdruck! Ich finde sie wunderschön!" stür­

misch warf Jane t ihm die Arme um den Hals. „Hm", machte Dennis, als sie ihn wieder losließ, „das nächstemal bring

ich eine ganze Wagenladung voll." J ane t lachte. „Wie kalt ist e s ? Muß ich meine Daunenjacke drüberzie-

hen?" „Ich würd's dir raten. Es ist eisig. Sicher fängt's bald an zu schneien." „Super! Ich kann's kaum erwarten." Mit glänzenden Augen schaute sie

ihn an. Das ist der schönste Tag in meinem Leben, dachte sie.

Die Par ty w a r ein Riesenerfolg. J ane t s Freunde verputzten platten­weise Roastbeef und Pommes frites. Als die Gebur ts tags tor te mit sechzehn brennenden Kerzen darauf in den Saal getragen wurde, knip­s te jemand das Licht aus, und Gäste und Restaurantangestel i te sangen gemeinsam „Happy birthday to you". Jane t strahlte. Am liebsten hä t t e Dennis sie den ganzen Abend angeschaut .

Erst kurz bevor sie nach Hause gehen wollten, fiel Janet der se l tsame Anruf wieder ein. Auf Dennis' Frage, ob er ihr die Jacke holen solle, meinte sie: „Ich glaube, ich w a r t e lieber auf Mom und Dad. Macht des dir w a s aus?"

Damit ha t t e er nicht gerechnet . „Naja, eigentlich ha t te ich gehofft, wir hä t t en noch ein paar Minuten für uns allein heute abend. Ich hab such ein Geschenk für dich, aber das wollte ich dir e rs t geben, wenn wir

allein sind." „Du has t mir doch schon die Rose geschenkt." „Weiß ich. Trotzdem hab ich noch w a s für dich. E twas , das nicht in ein

oder zwei Tagen verwelkt ist." J ane t nahm seine Hand. „Ach, Dennis, das ist lieb. Vielleicht kannst du

es mir morgen nach der Schule geben." Er zuckte mit den Schultern. So ha t t e er sich das Ende der Par ty nicht

vorgestellt. Schon als er das kleine goldene Herzchen an der Ket te für Janet gekauft ha t t e , ha t t e er sich auf den Augenblick gefreut, an dem

er es ihr geben würde. Und jetzt mußte er noch einen ganzen Tag war­ten. Wie es morgen laufen würde, wußte er noch nicht. Das kam darauf an, wann Adrian ihn abholen wollte. Vielleicht würde Dennis gar keine Zeit haben, ihr das Geschenk zu überreichen.

Dennis sah so enttäuscht aus, daß Janet fast schwach wurde. Sie könnte ja alle Lichter im Haus brennen lassen und war ten, bis ihre Eltern kämen. Ihre Angst war jedoch größer, als sie sich eingestehen wollte. Zum erstenmal in ihrem Leben wollte sie nicht alleine daheim herumsit­zen, und sie haßte es, von anderen abhängig zu sein. Das ganze war wirklich ein bißchen blöd, zu blöd, um Dennis davon zu erzählen. Trotz­dem konnte sie das gespenstische Weinen nicht vergessen. Und das schwere Atmen . . .

„Ich war te morgen nach der Schule auf dich, dann können wir zusam­men nach Hause gehen. Okay?" sagte sie schließlich.

Dennis seufzte und lächelte sie an. „Okay. Dann bis morgen." Nachdem er sich bei ihren Eltern noch einmal bedankt und sich verab­

schiedet hatte, brachte Janet ihn zur Tür. Er küßte sie ganz leicht auf die Lippen. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Prinzessin. Wir seh'n uns morgen."

Sonntagabend. Adrian Furolle lümmelte sich in einem dick gepolsterten Sessel, die Augen halb geschlossen und die langen Beine weit von sich gestreckt. Seinem Gesichtsaudruck nach hätte man meinen können, er schliefe, doch Adrian war hellwach. Konzentriert lauschte er den Tönen aus dem kleinen Kassettenrecorder neben sich. Die Kassette hatte er bei den Wailing Rocks aufgenommen, andern Abend nach Dennis' Auf­nahme in die Gruppe.

Er war allein da oben gewesen. Der Wind war über die Felsen gefegt, und plötzlich hatte er über dem Heulen des Windes dieses seltsame Wei­nen gehört. Da er die Geschichte kannte, die man sich über diese Ge­gend erzählte, hatte ihn das zunächst etwas erschreckt. Er konnte nicht glauben, daß er tatsächlich das legendäre Heulen hörte, das zu dem Mythos um die „Heulenden Felsen" gehörte. Aber - wenn dieses Heulen tatsächlich die Stimme Mogars war? Wenn das uralte, gefürch­te te Ungeheuer wirklich unter den Felsen lag und darauf war te te , be­freit zu werden? In diesem Augenblick war Adrian klargeworden, daß er dem Spiel eine andere Richtung geben mußte.

In seiner Fantasie überschlugen sich die Ereignisse. Er rannte zu sei­nem Jeep, um den Kassettenrecorder zu holen. Wenn er das Heulen auf­nahm und seinen Freunden vorspielte, mußten sie das Spiel ernst neh-

men. Er konnte den Recorder unter seinem Umhang verstecken und das mysteriöse Jammern jederzeit ablaufen lassen.

„Adrian, du bist ein Genie", sagte er zu sich selbst, während er so da­saß und die Kassette zum x-tenmal hörte.

Als sie zu Ende war, stand er auf und suchte in seinen Bücherregalen nach einem ganz bestimmten Titel. Er hatte das Buch erst kürzlich auf einem Flohmarkt gekauft, genau einen Tag, nachdem er die Kassette aufgenommen hatte. Es war ganz vergilbt und hatte wahrscheinlich die letzten hundert Jahre unbeachtet auf irgendeinem Dachboden gelegen. '

„Ein kurzer Abriß über die Geschichte Ashtons in Vermont", lautete der Titel des Buches, und es war im Mai 1820 gedruckt worden, vier Jahre nach der Katastrophe von 1816. In der Einleitung hieß es, es han­dele sich um „eine Beschreibung des schrecklichen Unglücks, das in dem ungewöhnlich kalten Winter von 1816 über die braven Bürger von Ash-ton hereinbrach."

Bei seiner neuesten Errungenschaft hatte er sofort gewußt, daß es sich um eine echte Rarität handelte. Die meisten Leute in der Gegend hielten die Legende von den „Heulenden Felsen" für ein Märchen. Jetzt glaubte Adrian, die Wahrheit darüber in Händen zu halten, was in jenem eiskalten Winter geschehen war. Das Buch bestätigte ihm, daß er die richtige Entscheidung getroffen hatte, als er aus der Jagd nach dem Edelstein die Suche nach Mogar selbst gemacht hatte.

Die Legende erzählte von einem Ungeheuer, einem Überbleibsel aus der Eiszeit, das in den vereisten Höhlen tief im Innern des Berges wohnte. Es hieß, die große Schlange Mogar — so wurde das Ungeheuer genannt — verlasse ihre Höhle nur bei extrem niedrigen Temperaturen. Doch wenn sie sich auf der Erde zeige, verschlinge sie alles Lebendige in einem Umkreis von mehreren Meilen.

Die Ureinwohner der Gegend hatten das Ungeheuer über Jahrhun­derte hinweg mit Opfergaben befriedigt, sowohl mit Tieropfern als auch mit Menschenopfern. Für sie war Mogar der ursprüngliche Geist des Bösen und Herr über alle anderen bösen Geister gewesen.

Bis zum Jahr 1816 war die Legende fast in Vergessenheit geraten. Doch als dann plötzlich Menschen und Tiere spurlos verschwanden, er­innerte man sich wieder an die alte Geschichte von dem Ungeheuer im Berg. Die Ereignisse dieses schrecklichen Winters waren, so stand es in dem Buch, Stück für Stück rekonstruiert worden nach dem, was die Leute gesehen und gehört hatten. Der Autor war Student in New Ha-ven im Staat Connecticut gewesen, als die Katastrophe sich ereignete.

Adrian holte sich aus dem „kurzen Abriß über die Geschichte Ashtons" nun neue Ideen für das Rollenspiel bei den Wailing Rocks. Der Gedanke, ninem Urwesen zu huldigen, reizte ihn wei t mehr als die Suche nach ei-

nem Edelstein. Plötzlich fiel ihm Dennis ein, und er runzelte die Stirn. Kein Grup­

penmitglied hatte seine Autor i tät je angezweifelt. Nun kam ausgerech­net das jüngste Mitglied daher und sagte ihn, er müsse das Datum für ein Treffen verschieben. Er war sich nicht sicher, doch er hatte sehr stark das Gefühl, daß diese Verschiebung nichts zu tun hat te mit den astrologischen Berechnungen, die Dennis auf seinem Computer ange­stellt hat te - wenn er überhaupt welche angestellt hatte.

Offensichtlich hatte Dennis noch nicht begriffen, daß Adrian es war, der sämtliche Entscheidungen für die Gruppe traf. Das mußte er ihm noch beibringen. Dann fiel ihm ein, daß Dennis an diesem Abend zu einer Party ging. Mit Janet. Ein grausames Lächeln spielte um Adrians Lippen. Er holte das Telefonbuch von Ashton und blätterte darin herum. Bevor er wählte, schaltete er den Kassettenrecorder ein und stellte ihn neben das Telefon.

Später zog er seine Jacke an und schlich sich aus dem Haus. In der Ta­sche hatte er ein Stück Fleisch von seinem Abendessen, und im Gürtel steckte eine Keule. Eine große Plastiktüte t rug er in der Hand. Laut Den­nis war der nächste Tag günstig für ein Opfer an Mogar. Vielleicht st immte das, vielleicht war es auch nur so dahingesagt. In jedem Fall würde Mogars Hunger gestillt werden.

Geräuschlos bewegte sich Adrian durch die Straßen der Stadt. Es war kalt, doch das störte ihn nicht. Im Gegenteil, es freute ihn. Sehr sogar. Das war ein gutes Zeichen. Ein eisiger Wind zerzauste ihm das kohl­schwarze Haar.

Gerade als er dachte, er müsse seinen Jeep holen und wieder hinaus­fahren zu Cal, sah er in einem Haus ein erleuchtetes Fenster.

„Okay, okay", sagte eine müde Stimme, „noch einmal. Aber das war's dann auch. Du kommst zurück und bleibst die Nacht über im Haus." Die Tür wurde aufgeschlossen, und alles war wieder dunkel.

Adrian versteckte sich hinter einem Busch. Kein Mond war am Him­mel zu sehen. Nur eine Straßenlampe, fast zwanzig Meter weiter an der Ecke, verbreitete ein schwaches Licht.

Er schnalzte leise mit der Zunge. Der Hund schnüffelte neugierig und kam langsam auf Adrians Versteck zu. Dieser hielt das Fleisch in der ausgestreckten Hand. Wie erwartet waren die Gelüste des Tieres stär­ker als die angeborene Vorsicht. „So ist's gut", f lüsterte Adrian. „Guter Hund, lieber Kerl."

Die Keule sauste herab. Es gab nur einen dumpfen Schlag. Adrian war schon an der Straßenecke, als die Tür des Hauses wieder geöffnet wurde.

7. KAPITEL

Dennis eilte am Montag nach der Schule zu seinem Schließfach. Ein paar Minuten vorher ha t t e Adrian ihm gesagt , daß er ihn um halb vier abholen würde. Dennis mußte sich also beeilen, wenn er Jane t nach Hause brin­gen, ihr das Geschenk geben und dann möglichst vor Adrian bei sich zu Hause sein wollte. Zum Glück w a r t e t e Jane t schon bei seinem Schließ­fach auf ihn.

„Komm", sag te er, als er seine Jacke aus dem Fach zog und nach sei­nen Büchern griff. „Gehen wir."

Normalerweise gingen sie beide ziemlich schnell, doch an diesem Tag ha t t e Jane t Schwierigkeiten, mit ihm Schritt zu halten.

„Warum rennst du denn so?" fragte sie atemlos. „Ich hab noch eine Menge Arbeit und muß so schnell wie möglich nach

Hause." Doch am Fuß des Hügels, in der Nähe des Rathauses , blieb Den­nis unter einem Baum s tehen und legte seine Bücher auf den Boden.

„Was ist jetzt los? Ich dachte , du hä t t e s t es so eilig . . ." „Stimmt auch. Aber ein Grund, weshalb ich so gerannt bin, w a r der,

daß ich noch ein bißchen Zeit haben wollte, um dir dein Geschenk richtig zu überreichen." Er griff in seine Jackentasche und brachte eine kleine Schachtel zum Vorschein. „Hier". Damit nahm er ihre Hand und legte ihr die Schachtel auf die Handfläche. „Zu deinem Geburtstag."

Aufgeregt riß Janet das Papier auf und öffnete die Schachtel. „Oh, ist das schön", rief sie, als sie das kleine Herz an der feinen Goldkette sah. „Ich möchte die Ket te gleich ummachen. Hilfst du mir?" Sie knöpfte ihre Jacke auf und drehte sich um, und Dennis legte ihr das Kettchen um den Hals und machte den Verschluß im Nacken zu. Dann wand te sie sich ihm wieder zu.

Dennis schaute ihr ein paar Sekunden lang in die Augen, bevor er sie auf die Stirn küßte. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Janet . Ich hoffe, wir können noch viele Geburts tage zusammen feiern."

„Danke, Dennis. Das hoffe ich auch", sag te sie und b e t a s t e t e das Herzchen an ihrem Hals. Sie lächelte. „Das ist das schönste Geschenk, das du mir machen konntest ."

Dennis nahm seine Bücher vom Boden auf und stopfte das Geschenk­papier in seine Tasche. „Komm", sag te er und s t reckte die Hand aus. „Ist

das nicht komisch? Ich kenn dich noch gar nicht lange, und schon hab ich dir mein Herz geschenkt."

Den Rest des Nachhausewegs legten sie fast schweigend zurück. Als sie bei Janets Haus ankamen, fragte sie: „Möchtest du noch mit rein­kommen?"

„Heut hab ich keine Zeit. Können wir es auf ein andermal verschie­ben?"

„Klar." Von der Haustür aus sah sie ihm nach, wie er die Straße hinun­terlief. Immer noch strahlend griff sie wieder nach dem Herzchen. Dann ging sie ins Haus, um das Geschenk ihrer Mutter zu zeigen.

Dennis erreichte das Haus im selben Augenblick, als der Jeep die Straße heruntergebraust kam. „Ich komme sofort!" rief er Adrian zu. Dann lief er ins Haus, war f seine Bücher auf den Tisch, schnappte sich was zu es­sen und war auch schon wieder draußen.

„Brrr, ist das kalt", sagte er, als er in den Jeep kletterte. „Warum hat mir niemand gesagt, daß in Vermont der Winter schon im Oktober be­ginnt?" Er gab Adrian einen Umschlag. „Hier ist der Ausdruck deines Bio­rhythmus, um den du mich gebeten hast."

Adrian steckte den Umschlag ein. „Danke. Ich hab dir schon ein paar­mal gesagt, w i r würden einen frühen Winter kriegen - und einen kalten. Du hörst mir nur nie zu!"

Bald hatte der Jeep die Landstraße außerhalb der Stadt erreicht. „Was liegt heute an?" wollte Mike wissen, während sie über die

Schlaglöcher holperten. „Wart's ab." Adrian lächelte hintergründig. Er spürte deutlich den Kas­

settenrecorder, den er unter seinem Hemd verborgen hatte. Bei dem Gedanken daran, wie die anderen reagieren würden, wenn er ihnen die Kassette in der Höhle vorspielte, hätte er am liebsten laut gelacht. .

Die Lichtung kam Dennis diesmal noch einsamer und unheimlicher vor als sonst. Ein feuchtkalter Nebel hing in der Luft. Brad und Pete warte­ten bereits. Sie saßen auf großen Felsblöcken und zit terten vor Kälte.

Verfl ixt, dachte Dennis, als er sich umschaute, es ist noch nicht mal vier Uhr. Aber hier oben könnte man meinen, es sei schon Nacht.

Rasch schlüpften die Jungen in ihre Umhänge und folgten Adrian in die Höhle. Während sie einer nach dem anderen eintraten, schienen die tanzenden Lichtkegel ihrer Taschenlampen die Zeichnungen an den Wänden zum Leben zu erwecken. Dennis sah sich um. Nichts hatte sich verändert. Die Luft war schal wie immer, doch zum Glück hat te sich der erbärmliche Gestank verzogen.

Adrian stellte die Kerzen zu beiden Seiten des in den Boden geritzten Bildes auf. Dann wandte er sich an die anderen.

„Wir sind nun schon eine ganze Zeitlang auf der Suche. Zuerst suchten wir nach einem großen Edelstein, dann nach einem großmächtigen We­sen. Wir sind dem Ziel unserer Suche schon sehr nah." Mit funkelnden Augen schaute er in die Runde. „Bereitet euch darauf vor, die Macht des großen Mogar zu spüren!"

Bei diesen Worten kniete er nieder und zündete die Kerzen an. „Macht eure Taschenlampen aus", befahl er.

Die Jungen gehorchten. Bob Schumacher hüstelte nervös. „Ruhe", sagte Adrian scharf. Er breitete die Arme aus und beugte den

Kopf, so daß er direkt in das Auge auf dem Boden sehen konnte. „Ihr Götter von Llanor und M'dab, erhabener Rothenor, der du das Tor zwi­schen den Welten bewachst, helft uns bei unserer Suche nach dem gro­ßen Mogar, dem Erdenvernichter, Hüter der schwarzen Höhlen und der verborgenen Wege und aller Schätze unter der Erde. Laßt uns ihn fin­den, damit er sein Wissen und seine Macht mit uns teile, mit uns, die wir ihm ewige Treue schwören."

Während Adrian sprach, begannen die Kerzenflammen wild zu flak­kern.

Dennis starr te auf das in den Boden eingeritzte Bild des Monsters, und ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Im Licht der Kerzen schienen sich die Tentakel zu bewegen, jeder einzeln, jeder lebendig. Fasziniert beobachtete er das Schauspiel, bis er fast hypnotisiert war. Ein Teil von ihm erkannte, daß er Gefahr lief, hinabgezogen zu werden in diese dunkle, unbekannte Welt.

Abrupt hörte Adrian mit seiner Beschwörung auf und wandte sich an die Jungen. „Es wird Zeit, daß wir dem großen Mogar opfern."

Dennis schüttelte den Kopf und blinzelte. Er versuchte, wieder zu sich selbst zu finden, sich von dieser fremden Macht zu befreien, die Besitz ergreifen wollte von seinem Bewußtsein. Unter großer Anstrengung konzentrierte er sich auf das, was Adrian ta t . Dabei vermied er es, die Tentakel oder das Auge noch einmal anzuschauen.

Wie beim letzten Treffen nahm Adrian wieder seine Plastiktüte und ging damit zum hinteren Ende der Höhle, wo er den Inhalt der Tüte in das dunkle Loch kippte. Als er sich den anderen zuwandte, war sein Blick leer, wie in Trance. Die Hände hatte er in den Falten seines Um­hangs verborgen.

Gespannt beobachteten ihn die Jungen. Was würde er sich als näch­stes einfallen lassen? Plötzlich legte Adrian den Kopf zur Seite, als lau­sche er. Von weither kam ein Heulen und Jammern.

Dennis war wie gelähmt vor Angst. Die Geräusche wurden lauter, ka­men näher.

Aus der Opfergrube stieg ein kräuselnder Nebel auf. Er schien menschliche Formen anzunehmen, die immer näher rückten. Mensch­liche Gestalten, schreiend vor Schmerz und Angst. Sie rannten, stolper­ten, als würden sie verfolgt. Eisiger Wind blies aus dem Loch. Die Kerzen erloschen. In der plötzlichen Dunkelheit war kein Laut zu hören außer dem Jammern. Dennis glaubte, das Herz würde ihm aus der Brust sprin­gen, während er den klagenden Geisterstimmen lauschte. Eisige Finger schienen an seinen Haaren und an seinem Umhang zu zerren.

So plötzlich, wie er sich erhoben hatte, legte sich der Wind auch wie­der, und es wurde still.

Bevor irgendjemand etwas sagen konnte, befahl Adrian: „Keiner be­wegt sich!" Sie hörten, wie er nach seiner Taschenlampe suchte. Im nächsten Augenblick knipste er sie an.

„Was war das?" fragte Bob mit klappernden Zähnen. „Was war was?" fragte Adrian zurück, ohne jemanden anzuschauen. Verwi r r t blickte Bob zu den anderen hinüber, dann kratzte er sich am

Kopf. „Ich weiß nicht, was es ist, aber irgend etwas gefällt mir nicht an der

Sache", sagte Mike. „Ich gehe." Adrian sah ihn an, und Dennis merkte, daß er nur mit Mühe das Lachen

unterdrückte. „Eine gute Vorstellung, was?" fragte er. Einen Augenblick lang konnte es keiner glauben. Dann stießen alle fast

gleichzeitig einen Seufzer der Erleichterung aus. „Gut? Es war die beste bis jetzt! Wie hast-du das gemacht?" rief Pete.

Die anderen lachten und schlugen sich gegenseitig auf den Rücken. Nur Dennis nicht. Er beobachtete Adrian genau. Täuschte er sich, oder stand Angst in diesen dunklen Augen?

Adrian wandte sich ihm zu. „Was sagst du dazu, Astrologe? Haben deine Sterne dir für heute keine Überraschung vorausgesagt?"

Ohne auf die sarkastische Bemerkung einzugehen, meinte Dennis: „Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gese­hen hätte." Und im stillen fragte er sich, ob die anderen wohl ahnten, worauf sie sich eingelassen hatten.

Sie verließen die Höhle. Auf der Lichtung zogen sie die Umhänge aus. Es war immer noch Tag. Irritiert sah Dennis auf seine Uhr. Ihm kam es vor, als sei er Stunden in def Höhle gewesen, doch es waren erst knapp sechzig Minuten vergangen, seit Adrian ihn zu Hause abgeholt hatte. Es würde gerade noch reichen, heimzulaufen, bevor es dunkel wurde. Beim Laufen würde sein Kopf hoffentlich wieder klar werden. Außerdem wollte er noch jemanden besuchen.

Er sag te nichts, bis sie die Straße erreichten, die zu Cals Farm führte. Dann verkündete er: „Das letzte Stück laufe ich. Ich muß in Form blei­ben. Danke fürs Mitnehmen, Adrian. Bis morgen." Bevor die anderen noch e t w a s darauf erwidern konnten, wa r er schon auf dem Weg.

Adrian se tz te Mike und Bob zu Hause ab. Sobald er allein im Wagen war , holte er den Kasset tenrecorder aus der Reisetasche. Er schal tete ihn ein. Nichts t a t sich.

Mit zitternden Händen öffnete er den Deckel und schaute hinein. Un­gläubiges Entsetzen brei tete sich auf seinem Gesicht aus.

Am Sonntagabend ha t t e er die Reinigungskassette durchlaufen las­sen, damit auch ja nichts schiefging. Er ha t t e vergessen, die richtige Kasse t t e wieder einzulegen. Der Recorder w a r leer.

Während Dennis die Straße entlanglief, dachte er über das, w a s in der Höhle vorgefallen war , nach. Bei Tageslicht konnte man sich schwer vorstellen, daß es den grausigen Ort überhaupt gab. Doch Adrians Rol­lenspiel und die sel tsamen Ereignisse wuchsen sich für Dennis zu einem riesigen, unlösbaren Rätsel aus, und er wa r entschlossen, soviel wie ir­gend möglich von Cal Stark zu erfahren. Sicher wußte Cal mehr als die meisten Leute in der Gegend. Hatten seine Vorfahren nicht schon vor zweihundert Jahren hier gelebt? . Bald kam er zu dem Zaun, der die Farm begrenzte. Er sah Cal vor dem

Haus aus seinem alten Lieferwagen steigen. „Cal! Cal Stark!" rief Dennis. „Warten Sie!" Der alte Mann bescha t t e t e die Augen mit der Hand und runzelte die

Stirn. Seine Augen w a r e n nicht mehr die besten, doch eine Brille kam für ihn nicht in Frage. Als Dennis näher kam, erkannte Cal ihn und winkte. Mit einem herzlichen Händeschütteln begrüßte er Dennis.

„Schön, dich zu sehen, Junge. Vor w a s Säufst du denn heute davon?" Dennis lachte. „Komm rein und trink ein Glas Quellwasser. Du has t bestimmt Durst. Cal ging voran in die Küche, wo immer noch dasselbe Durcheinander

herrschte . „Setz dich", s ag te er und wies auf einen Stuhl. Wenn er lächelte, konnte man sehen, daß er kaum noch Zähne im

Mund ha t t e . Nachdem er ein Glas mit Wasser gefüllt und es Dennis ge­geben ha t t e , se tz te er sich auf den anderen Stuhl. „Warst du in letzter Zeit mal wieder oben bei den Wailing Rocks?" erkundigte er sich leicht­hin.

Dennis zögerte einen Moment, bevor er an twor te te . „Hm . . . J a . Und um ehrlich zu sein, Cal, genau darüber wollte ich mit Ihnen reden. Die Ge-

schichte der Gegend hier interessiert mich. Und es gäbe ein gutes Thema ab für meinen Engiischaufsatz". Er grinste. „Vielleicht springt so­gar eine eins dabei raus, wenn Sie mir die nötigen Informationen geben können."

„Ich denke schon, daß ich dir ein paar Fragen beantworten kann", meinte Cal. „Worüber willst du denn gern schreiben?"

„Erinnern Sie sich noch an unser letztes Gespräch? Ais Sie mir sagten, ich soll von den Felsen wegbleiben?"

„Natürlich erinnere ich mich, Junge. Und ich wünschte, du würdest hö­ren auf das, was ich dir sage." Ein finsterer Ausdruck t ra t auf sein Ge­sicht.

„Ich würde gern etwas über die alten Legenden erfahren", sagte Den­nis ruhig.

Cal schaute zum Fenster hinaus, als er zu erzählen begann. „Großva­ter wollte nicht, daß einer von uns zu den Wailing Rocks raufgeht. Er wußte ein paar ziemlich üble Geschichten, die er gehört hatte, als er zu­erst hierherkam." Er zog eine Grimasse und schüttelte den Kopf.

„Sind Sie je oben gewesen? Haben Sie die Höhle gesehen mit den selt­samen Zeichnungen auf dem Boden?" wollte Dennis wissen.

Cal schaute ihn lange an. „Ich denke,, jeder richtige Junge aus Ashton und Umgebung muß mindestens einmal hinauf. Gefallen hat's mir dort al­lerdings nicht. Es war feucht und kalt, selbst mitten im Sommer. Und es hat gestunken." Einen Augenblick schien es, als würde er sich in seinen Erinnerungen verlieren. „Ich bin später nie mehr dort gewesen", fügte er nach einer Weile hinzu.

„Können Sie mir nicht ein paar von den Geschichten erzählen, die Sie von Ihrem Großvater gehört haben?"

Der alte Mann nahm die speckige Baseballmütze ab, kratzte sich am Kopf und setzte die Mütze wieder auf. „Warum eigentlich nicht? Wenn du was drüber schreiben willst, kann es nicht schaden, wenn du auch die Tatsachen kennst."

Cal räusperte sich. „Vor langer, langer Zeit, lange bevor der weiße Mann in dieses Land kam, lebten Heiden in diesen Bergen, die eine riesige . . . Kreatur verehrten. Man sagt, sie habe ausgesehen wie eine Schlange, nur daß sie bloß ein einziges großes Auge mitten auf dem Kopf hatte, und darunter wuchsen diese komischen Fangarme wie bei einem Tin-, tenfisch. Das Ungeheuer benutzte die Arme, um sich Sachen ins Maul zu stopfen."

Cal machte eine Pause, um zu sehen, wie Dennis reagierte. Als er keine Spur von Spott auf dem Gesicht des Jungen erkennen konnte, fuhr er fort .

„Und es ha t t e einen Panzer, keinen weichen wie eine Schlange oder ein Käfer. Wenn man den alten Indianererzählungen glaubt, sind Speere und Pfeile glatt davon abgeprallt. Nur die Tentakel waren nicht gepan­zert." Mit zusammengekniffenen Augen fragte er Dennis: „Ist das das richtige Wort für die Fangarme, Junge? Tentakel?"

Dennis nickte. Er bekam eine Gänsehaut. Cal beschrieb haargenau das Wesen, dessen Bild in den Höhlenboden eingeritzt war .

„Sie glaubten, daß diese Schlange, oder wie immer du sie nennen willst, das ursprünglich Böse war, das die Seelen der Menschen raubt. Für sie wa r es so eine Art Teufel. Jedenfalls opferten sie ihm. Meistens Tiere, manchmal auch junge Mädchen. Um das Ungeheuer ruhig zu hal­ten."

Wieder machte Cal eine Pause und rieb sich das Kinn, bevor er weiter­sprach. „Im Winter 1816 passier te e twas , das die Leute, vor allem die In­dianer, wieder an die alten Geschichten denken ließ. Es w a r ein bitter­kalter Winter, und er hat früh angefangen. Schon im Oktober soll der er­s t e Schnee gefallen sein. In der Nähe der Felsen verschwanden plötzlich Tiere und Menschen. Die Indianer bekamen es mit der Angst zu tun. Sie sprachen von einem uralten bösen Geist, der zurückgekommen sei und sich die Menschen hole. Der Geist sei wahrscheinlich wütend, sagten sie, weil ihn jahrhundertelang niemand beachte t habe. Und er wohne in einer Höhle tief unten im Berg, sagten sie."

Der alte Mann schaute Dennis mit einem schiefen Lächeln an. „Weißt du jetzt , weshalb ich säe Märchen nenne, diese Geschichten? Solang ich lebe, hab ich nichts Lächerlicheres gehört."

„Ich finde sie sehr interessant", erwiderte 'Dennis. Äußerlich w a r er ganz ruhig, doch es kos te te ihn viel Mühe, seine Aufregung zu verber­gen. Ob Adrian das alles wußte? Bestimmt. Der ha t t e sicher alles dar­über gelesen, w a s er bloß in die Finger kriegen konnte.

„Also, wie ich gesag t habe, als plötzlich Menschen und Tiere ver­schwanden, wollen die Leute oben bei den Felsen e t w a s gesehen ha­ben, das sich dort bei Dunkelheit beweg te und herumkroch. Es w a r et­w a s so Schreckliches, daß die Indianer nicht darüber reden wollten."

„Und?" drängte Dennis, als Cal schwieg. „Seltsam", fuhr der alte Mann nachdenklich fort, „ich glaube, niemand

erinnerte sich an die alten heidnischen Bräuche, bis die Leute einer nach dem anderen verschwanden. Dann e rs t hörte man hier und da e t w a s von den Indianern — sofern sie bereit waren zu reden,"

Langsam kam Cal in Fahrt. Dennis saß buchstäblich auf der Stuhlkante und hör te gespannt zu.

„Das meiste haben sie wohl für sich behalten, nehme ich an. Schließlich wurde auf der Farm neben dieser hier eine ganze Familie ausgelöscht.

Sie verschwanden eines Nachts einfach vom Erdboden mitsamt dem Vieh. Das Haus sah aus, als sei ein Bulldozer drübergewalzt. Das hat den Ausschlag gegeben, vermute ich. Die Männer aus dem Dorf kamen eines Nachts herauf. Mit Fackeln und Walfisehöl gingen sie bis zu der Lichtung vor der Höhle und brannten alles ringsum nieder. Es heißt, das Feuer sei hell wie der Tag und glühend wie die Sonne gewesen."

Er stand auf und holte sich ein Glas Wasser. „Völlig ausgetrocknet", erklärte er. „ich hab seit Jahren nicht mehr so viel geredet."

Nachdem Cal das Glas ausgetrunken hatte, setzt er sich wieder hin und erzählte weiter. „Die meisten von denen, die oben waren und den Platz abgebrannt haben, sind innerhalb der nächsten paar Jahre von hier weggezogen. Irgendwas scheint in dieser Nacht mit ihnen passiert zu sein, Sie fühlten sich hier nicht mehr wohl. Die anderen, die geblieben sind, wollten nicht viel darüber reden."

„Macht es Ihnen nichts aus, so dicht dabei zu wohnen?" fragte Dennis. „Ach du liebe Zeit! Denkst du vielleicht, ich glaube das alles, was ich dir

erzählt hab?" Cal schnaubte verächtlich. „Du hast mich danach gefragt, und ich hab dir die Geschichte erzählt, aber ich hab nicht gesagt, daß ich glaube, daß da oben wirklich ein Ungeheuer ist."

„Warum haben Sie mich denn vor den Wailing Rocks gewarnt, als ich das,erste Mal hier war, wenn Sie keine von den Geschichten glauben?"

Plötzlich wurde Cals Gesicht rot. Er sprang auf und stapfte durch die Küche. „Hör zu, Junge", sagte er schließlich, „ich hab noch eine Menge Arbeit. Das Beste ist, du gehst jetzt."

Dennis erhob sich ebenfalls. „Bitte, Mr. Stark, ich wollte Sie nicht ver­ärgern. Ich bin nur neugierig. Vielen Dank, daß Sie sich die Zeit genom­men haben, mir das alles zu erzählen."

Cals Ärger war verraucht. „Ich mag dich, Junge", sagte er. „Du woll­test etwas über die Wailing Rocks wissen, und ich hab dir alles erzählt, was ich als Junge gehört hab. Klar, auch ich war einmal da oben, aber in all meinen fünfundsiebzig Jahren hab ich mich nicht ein einziges Mal mit heidnischen Bräuchen und so w a s befaßt. Man sagt, da oben hausen Geister. Ich hab noch nie einen Geist gesehen. Vielleicht sind die Ge­schichten wahr, vielleicht auch nicht. Ich weiß nur eins: Wenn du mein Sohn oder mein Enkel wärs t , wollte ich nicht, daß du dich da oben rum­treibst. Ganz bestimmt nicht!" setzte er nachdrücklich hinzu.

Als Dennis zur Tür ging, schaute Cal zum Fenster hinaus und sah, daß es schon dunkel geworden war. „Komm, Junge", sagte er und zeigte auf den Lieferwagen im Hof. „Du kannst jetzt nicht mehr nach Hause laufen. Hier draußen gibt's keine Straßenlampen. Ich fahr dich heim."

Verblüfft folgte Dennis dem alten Mann zu dessen Wagen.

8. KAPITEL

„Bist du okay, Dennis?" fragte Mrs. Hale, nachdem sie eine Weile beob­achtet hatte, wie ihr Sohn das Essen auf dem Teller hin und her schob.

„Klar, Mom," Dennis schaute nicht auf. „Was hast du denn heute nachmittag gemacht?" „Nicht viel. Ich bin ein Stück die Landstraße entlanggelaufen." Wenig­

stens war es nicht gelogen. „Hat dich nicht ein Lieferwagen heimgefahren? Wem gehört der?"

fragte sein Vater neugierig. Abrupt schob Dennis seinen Stuhl zurück und stand auf. „Könnt ihr mich nicht in Frieden lassen?" brüllte er und lief aus dem'

Zimmer. Seine Eltern schauten sich entgeistert an. „Vielleicht hatte er Streit mit Janet", sagte seine Mutter schließlich.

„Du weißt doch, wie Jungen in diesem Alter sind." Mr. Haie seufzte. „Vielleicht hast du recht. Und vielleicht behandeln

wir ihn immer noch wie einen kleinen Jungen, wenn wir ihn mit Fragen löchern. Es fällt mir einfach schwer, zu glauben, daß er bald achtzehn wird."

Von dem Telefon im oberen Stockwerk aus rief Dennis sofort Adrian an. „Hör zu, ich muß dich heut abend noch sprechen."

„Was gibt's?" „Ich hab da ein paar Fragen zu dem verrückten Platz oben in den Fel­

sen." „Komm rüber", sagte Adrian. „Könntest du mich abholen? Ich hab gerade Ärger mit meinen Eltern

und will unter keinen Umständen um den Wagen bitten." Dennis wußte, daß Adrian niemanden um irgend etwas bitten mußte, und für einen Au­genblick beneidete er ihn um seine Freiheit.

„Okay. In einer Viertelstunde bin ich bei dir. Warte draußen auf mich." Nachdem Dennis aufgelegt hatte, holte er ein Buch vom Bücherregal.

Er blätterte es durch, bog bei ein paar Seiten die Ecken um und nahm es dann mit in sein Zimmer.

Dort ging er nervös auf und ab und dachte über das nach, was er in den letzten Stunden erlebt hatte. Die Sache in der Höhle hatte ihn mitge­nommen. Er war sich immer noch nicht darüber im klaren, ob es Wirk-

lichkeit gewesen war, oder ob er sich alles nur eingebildet hatte. Das, was ihm Cal Stark dann von dem prähistorischen Monster erzählt hatte, wa r auch nicht gerade sehr beruhigend gewesen. Der einzige, mit dem er über all das reden konnte, war Adrian.

Dennis zog seine Jacke an und verließ leise das Haus. Er brauchte nicht lange auf Adrian zu war ten.

„Fahr ein Stück die Straße runter. Ich will nicht, daß meine Eitern den Jeep hier sehen."

„Gab's Ärger?" fragte Adrian mitfühlend. „Muß ganz schön nerven, wenn man ständig jemandem Rechenschaft darüber ablegen muß, was man tu t und wohin man geht."

„Das ist es nicht. Heut war nur einfach ein verrückter Tag. Zu viel ist passiert, was ich nicht verstehe."

„Hier." Adrian drückte ihm ein Buch in die Hand. „Lies das. Aber paß gut drauf auf. Ich glaube nicht, daß es hier irgendwo ein zweites Exem­plar davon gibt."

Mit zusammengezogenen Brauen las Dennis den Titel: „Heidnische Le­genden aus dem Nordosten". Auf der ersten Seite stand der Name des Autors, eines französischen Priesters, und das Erscheinungsjahr, 1795. Dennis schüttelte den Kopf und wollte Adrian das Buch zurückgeben. „Von der Sorte hatte ich heute schon genug. Mehr verkrafteich nicht."

„Komm, hab dich nicht so. Lies es." Ein lauernder Unterton lag in Adrians Stimme. „Ich dachte, du stehst auf Horrorgeschichten."

Nicht im wirklichen Leben, dachte Dennis. Mit einem Seitenblick auf Adrian schlug er das Buch an der mit einem Lesezeichen markierten Stelle auf. Der Name „Mogar" sprang ihm gleich mehrfach in die Augen. Während er ein paar Seiten weiterblätterte, bemerkte er in einem, wie er hoffte, unverfänglichen Ton: „Übrigens, ich war heut nachmittag noch auf der Farm von Cal Stark."

Adrian zuckte unmerklich zusammen. „Was hat er dir erzählt?" Er grin­ste. „Du weißt ja , daß er nicht mehr alle Tassen im Schrank hat."

„Nein, das wußte ich nicht. Und ich glaube auch nicht, daß es st immt. Aber egal, ich wollte von ihm erfahren, was er über die Wailing Rocks weiß. Schließlich kamen seine Vorfahren bereits vor zweihundert Jahren hierher. Da hab ich mir gedacht, daß er eigentlich eine ganze Menge über Ashton wissen müßte."

„Und? Hast du was erfahren?" „O ja. Er sagt, daß die gruselige Zeichnung auf dem Boden der

Höhle . . . " „Er war in der Höhle?" fragte Adrian scharf. „Klar. Er meint, jeder, der hier wohnt, war mindestens einmal im Le-

ben oben. Aber w a s ich sagen wollte: Vor hundert oder gar tausend Jah­ren haben die Leute das Wesen verehrt . Und nicht nur das, sie haben ihm auch geopfert. Sie hielten das Ungeheuer für das ursprünglich Böse. Cal glaubt, es sei ihr Teufel gewesen.

„Das ursprünglich Böse, damit kann er recht haben", meinte Adrian. „Übrigens, wie hat dir die Show gefallen, die ich heute nachmittag insze­niert habe? Nicht schlecht, w a s ? Viele meiner Ideen hab ich aus alten Büchern wie diesem hier."

„Aber ich hab den eisigen Wind echt gespürt, und den Gestank neulich hab ich wirklich gerochen!" rief Dennis. „Und dann diese schrecklichen Geräusche! Mir läuft's jetzt noch kalt den Rücken runter. Wie has t du das alles bloß gemacht?"

Mit einem selbstzufriedenen Lächeln erklärte Adrian: „Was würdes t du zu einem Tonband sagen mit den Geräuschen drauf? Den Gestank has t du ja schon im Auto gerochen, als wir hochfuhren. Da waren nur zwei dicke Plastiktüten drum herum, deshalb war ' s nicht ganz so schlimm wie in der Höhle."

„Wo ist das Tonband? Ich würd's gern noch mal hören." „In meinem Zimmer. Wenn du das nächstemal vorbeikommst, spiel ich

dir's vor." „Und wie has t du das mit dem Nebel gemacht? Daß er menschliche

Formen angenommen hat, mein ich?" Adrian lächelte. „Das ist das Allerbeste. Damit hab ich nichts zu tun.

Von einem best immten Punkt ab hat dir nämlich deine Fantasie einen Streich gespielt. Zuerst wußte ich gar nicht, wovon ihr eigentlich redet."

Du lügst, dachte Dennis. Er wußte es instinktiv. Warum Adrian ihn an­log, w a r ihm allerdings schleierhaft. Deshalb beschloß er, Adrians Spiel mitzuspielen.

„Die Show w a r super, Adrian, das muß dir der Neid lassen. Wissen die anderen das alles?"

„Bist du verrückt? Das erzähl ich nur dir, weil du wahrscheinlich ohne­hin darauf gekommen wärs t . Außerdem kann es sein, daß ich bei ein paar neuen Effekten deine Hilfe brauche. Ich denke, wir geben ein gutes Team ab."

„Hast du mir deshalb das Buch gebracht?" erkundigte sich Dennis. „Hör mal, wir könnten doch eine Quarzlampe mit hinaufnehmen und den Res t der Höhle auskundschaften."

„Hab ich schon gemacht", erwiderte Adrian rasch, „es gibt nichts In­t e r e s s a n t e s mehr. Bloß ein paar Nischen und Spalten. Ich war ziemlich ent täuscht ."

Dennis h a t t e seine Zweifel. „Bist du sicher, daß du auch nichts überse­hen has t?"

„Ganz sicher," Der Ton in Adrians Stimme machte ganz deutlich, daß das Thema für ihn abgeschlossen war. „Ich nehme an, es gibt irgendwo einen Gang durch den Berg, der auf der anderen Seite herauskommt. Wenn da der Wind durchpfeift, entstehen die schauerlichen Geräusche."

Dennis nickte. „Das leuchtet mir ein. Was ist mit den Opfergaben?4* „Was soll damit sein?" fragte Adrian Säuernd. „Na ja, was hat test du in denPlastiktüten?" „Ach, allerhand Zeug, Abfälle aus dem Restaurant, die ich mir zusam­

mensuche, damit ich was in das Loch werfen kann." Wieder nickte Dennis. „Und Mogar? Wie paßt der dazu?" „Was meinst du?" fragte Adrian scharf. Dennis stellte ihm entschieden

zu viele Fragen. „Ich hab seinen Namen in dem Buch gelesen", antwortete Dennis ha­

stig. Er wollte nicht zu neugierig erscheinen. „Der große Mogar ist nur Teil des Rollenspiels, oder?"

„Möglicherweise änderst du deine Meinung über ihn, wenn du erst das Buch gelesen hast. Geräuscheffekte sind eine Sache, aber in dem unge­wöhnlich kalten Winter von 1816 ist tatsächlich e twas Schreckliches passiert, und nach dem hunderjährigen Kalender sollen wir dieses Jahr den härtesten Winter seit langem kriegen."

„Soll das heißen, du glaubst echt an das Zeug?" fragte Dennis ungläu­big. „Also, bei dir blick ich langsam überhaupt nicht mehr durch» Zuerst willst du mir einreden, daß du uns in der Höhle was vorgespielt hast» und jetzt könnte man fast meinen, dieser Mogar würde für dich wirklich exi­stieren." Er schüttelte den Kopf.

„Wenn du das betreffende Kapitel gelesen hast, reden wir wieder drü­ber", sagte Adrian, während er rückwärts in die Auffahrt zu Dennis Haus einbog.

„Okay. Und danke, daß du rübergekommen bist." Dennis stieg aus und ging aufs Haus zu. ,

„Je, Dennis", rief Adrian ihm leise nach. „Denk dran, das bleibt zwi­schen uns beiden."

„Versteht sich." In Gedanken fügte Dennis hinzu: Oder glaubst du, ich will, daß mich die Leute für so verdreht halten wie dich?

In der Diele zog Dennis erst mal seine Jacke aus, dann ging er zu sei­nen Eltern ins Wohnzimmer. „Entschuldige, Mom." Er gab seiner Mutter einen Kuß auf die Wange. „Und du auch, Dad. Ich hab vorhin einfach die Nerven verloren. Aber ich hab einen harten Tag hinter mir und bin ziem­lich geschafft."

„Ist schon okay, Dennis", sagte sein Vater und schaute von seinem Buch auf. „Mußt du noch Hausaufgaben machen?"

„ Ich mach mich gleich dran. Gute Nacht."

In seinem Zimmer machte Dennis es sich auf seinem Bet t bequem und schlug das Buch auf.

Nachdem er die ers ten paar Sätze gelesen ha t te , erinnerte er sich plötzlich wieder daran, wie unwohl er sich jedesmal gefühlt ha t t e , wenn er in die Nähe der in den Höhlenboden eingeritzten Malerei gekommen war . Als er sie das erstemal berührt ha t te , war ihm gewesen, als ziehe e t w a s an ihm und wolle ihn willenlos und gefügig machen. Beim zweiten­mal wa r er fast in Trance gefallen, als er das Auge und die Tentakel an­s t a r r t e .

Ein Schauer lief ihm über den Rücken, und er fragte sich, ob es das flackernde Kerzenlicht gewesen war oder Adrians Beschwörungen oder die groteske Zeichnung, die ihm so zugesetzt ha t t e — oder w a r es e t w a s anderes gewesen? E twas so Schreckliches, daß nicht einmal das ges tö r t e s t e Hirn es sich vorstellen konnte?

Am liebsten hä t t e er Adrians Buch in die Ecke geworfen, doch die Neugier hinderte ihn daran, und er begann wieder zu lesen. Er mußte herausfinden, w a s hinter dem grausigen Wesen s teckte , das der große Mogar genannt wurde.

Etliche Stunden spä te r klappte Dennis das Buch zu und ließ sich aufs Bet t fallen. Geis tesabwesend s ta r r t e er an die Decke. Unten im Wohn­zimmer schlug die Uhr Zwei.

Das Buch w a r eine t rockene, sachliche Wiedergabe indianischer Le­genden. Obwohl es schrecklich langweilig geschrieben war, ha t t e Den­nis nicht aufhören können zu lesen.

Die Indianer ha t ten dem französischen Priester von Ungeheuern er­zählt, die auf der Erde lebten, bevor der Große Geist die Sonne erschuf. Die Beschreibung dieser Ungeheuer paßte haargenau auf die Zeichnung in der Höhle.

Diese Kreaturen, die in einer Kälteperiode ents tanden waren, ver­mehrten sich rasch während der „Großen Kälte", wie die Indianer die Eis­zeit in ihren Legenden nennen. Als diese Zeit zu Ende ging, s tarben die Wesen aus, alle bis auf eines. Dieses eine überlebte, weil es sich in eisige Höhlen im Erdinnern zurückzog. Dort schläft es , nach dem Glauben der Indianer, bis es auf der Erde wieder kalt genug ist, daß es zurückkom­men kann, w a s höchstens einmal alle hundert Jahre der Fall ist.

Den Legenden zufolge lebten die Stämme dieser Gegend in ständiger Angst vor einem ungewöhnlich kalten Winter, der den großen Mogar aufwecken könnte.

Die Geschichte ging noch weiter. Für die Indianer war dieses Wesen nicht einfach ein wildes Tier. Sie glaubten, daß es mit den Menschen über das Unterbewußtsein Kontakt aufnehmen könne, daß es seine Op­fer hypnotisierte, wie eine Schlange das Kaninchen hypnotisiert, und

Opfer verlange, um seinen Hunger zu stillen. Dennis ließ das Buch sinken und schloß die Augen. Er sah die Zeich­

nung an den Höhlenwänden so deutlich vor sich, als stünde er direkt da­vor. Dann rief er sich noch einmal ins Gedächtnis, was Cal Stark ihm über die Katastrophe von 1816 erzählt hatte. Das Buch war zwanzig Jahre vorher geschrieben worden. Irgendwie mußten Tatsachen und Legende sich in den Köpfen der Leute von Ashton vermischt haben. Es müßte eine absolut logische Erklärung geben für das, was damals pas­siert war.

Natürlich hatten sich nach einiger Zeit alle wieder beruhigt, und die Sa­che war in Vergessenheit geraten. Bis Adrian sie wieder ausgrub und zur Grundlage eines Rollenspiels machte, das inzwischen seltsam wirk­lichkeitsnah geworden war.

Das war das nächste Rätsel. Wieviel von all dem glaubte Adrian tat ­sächlich? Er hatte um die Legende von Mogar ein Fantasy-Rolienspiel entworfen. Aber glaubte er wirklich, daß es ein solches Wesen gegeben hatte, daß es im Winter 1816 auf die Erde gekommen war und soviel Un­heil angerichtet hatte?

Und glaubte er auch, Mogar würde in diesem Jahr wiederkommen, weil ein ungewöhnlich kalter Winter vorausgesagt worden war?

Wenn ja - weshalb wollte er ganz bewußt auf die Jagd nach diesem Wesen gehen? Und welche „Opfer" plante er, um Mogars Hunger zu stil­len?

Dennis seufzte. Anstat t Klarheit in die Angelegenheit zu bringen, hatte ihn das Buch nur noch mehr verwirr t . Er hatte mehr Fragen - und mehr Zweifel — denn je.

Vielleicht hatte Janet doch recht gehabt. Vielleicht sollte er Adrian sa­gen, daß er keine Lust mehr hatte, bei dem Spiel mitzumachen.

Doch Dennis wußte, er würde das nicht fertigbringen. Solange auch nur die geringste Chance bestand, daß Mogar tatsächlich existierte und möglicherweise zurückkommen könnte, würde Dennis wei ter mitspie­len. Es war viel zu aufregend, um jetzt aufzuhören. Seine Neugier würde, das nicht zulassen.

Dennis gab Adrian das Buch am nächsten Morgen vor der Englisch­stunde zurück.

„Und?" fragte Adrian und schaute ihn scharf an. Dennis zögerte. Schließlich sagte er: „ich hab mir die halbe Nacht da­

mit um die Ohren geschlagen. Die Idee, auf dieser Legende ein Rollen­spiel aufzubauen, war super."

„Ich hab gehof f t , daß du so denken würdes t " , meinte Adr ian lächelnd. Dann senkte er die St imme. „Können w i r uns nach deinem Training heute nachmi t tag t re f fen? Ich würde gern ein paar neue Ideen mi t dir durchsprechen.14

Dennis schüt te l te den Kopf. „Tut mir leid, Adr ian, heute geht 's nicht. Ich hab zu Hause drei Au f t räge liegen und hab versprochen, sie alle bis zum Ende der Woche zu erledigen.48

Es wa r , als w ü r d e Adr ian einen Vorhang zuziehen. Das vorüberge­hende Gefühl der Nähe w a r wieder w e g . „Wann hast du denn mal Zeit?44

erkundigte er sich kühl. „Als ich dich zu meinem Par tner machte , ging ich eigentl ich davon aus, daß das Spiel von j e t z t ab auch für dich absoluten Vor rang vo r allem anderen hat.44

„Vorrang haben im Augenblick die drei Arbei ten, die ich versprochen habe zu tippen.44 Um nicht gar zu unkameradschaft l ich dazustehen, lenkte Dennis ein. „Laß mich die Aufsätze noch fer t ig machen. Dann w e r d e ich darauf achten, daß nichts mehr dazwischenkommt.44

„Auch Janet nicht?44 f rag te Adr ian scharf. Dennis zögerte. Bald wü rde die Hal loween-Party in der Schule stei­

gen, und er wol l te mi t Janet hingehen. Er schaute Adr ian an und sagte in unmißverständl ichem Ton : „Die Samstagabende gehören mir.44

Am Abend rief Dennis Janet an, um sie zu f ragen, ob sie mi t ihm zu der Hal loween-Party gehen wol le.

Ihre St imme klang niedergeschlagen. „Oh, Dennis, ich hab die ganze Zeit gewar te t , daß du mich f ragst , aber wahrscheinl ich ha t tes t du zuviel zu t u n . Jetzt hat Lee Phillips mich gefragt , und ich hab ja gesagt.44

Dennis spür te einen Stich in der Brust . Er konnte es einfach nicht glau­ben.

„Tut mir leid44, fuhr Janet fo r t , „ich dachte, du würdes t nicht hingehen und hä t tes t deshalb noch nichts gesag t . . ."

„Ist schon okay, Janet. Es ist meine Schuld. Ich hä t te f rüher den Mund aufmachen sollen.44

„Du, Dennis, sie haben Schnee vorausgesagt fürs Wochenende. Hast du schon gehört?44

„Was?44 rief er. „So ungewöhnl ich ist das nicht. Wir haben schon ö f ter im Oktober

Schnee gehabt. Aber w ie sieht's aus? Hast du am Samstagmorgen Lust zum Ski fahren, falls die Wet ter f rösche recht behalten?44

„Und ob ich Lust hab!44

„Super! Dann können w i r nur noch hof fen, daß die Vorhersage auch stimmt.44

Eine Weile s tand Dennis noch da und s ta r r te den Hörer an. Dann legte

er auf. Schnee im Oktober. Wieviel wußte Adrian Furoile? Dennis ging nach unten in das Zimmer, in dem der Computer stand. Er

schaltete ihn ein und war te te , bis das Gerät betriebsbereit war. Dann holte er ein Zusatzgerät aus dem Schreibtisch, schloß es an den Compu­ter an und legte es daneben. Auf dem Tisch stand das Telefon. Er hob den Hörer ab urtd wählte die Nummer auf dem Papierstreifen, den sein Vater auf die Unterseite des Apparats geklebt hatte.

Bei dem Zusatzgerät handelte es sich um ein Modul oder einen Aku­stik-Koppler. Damit konnte er per Telefon von einer Datenbank Infor­mationen abrufen. Noch wußte er nicht, wie er den Anruf erklären sollte, wenn die nächste Telefonrechnung kam. Aber mit dem Geld, das er mit der Schreiberei für seine Schulkameraden verdiente, konnte er es ja bezahlen.

Ein leiser Piepton sagte ihm, daß die Verbindung hergestellt war. Er gab einen Befehl ein und war te te . Ein Surren ertönte, dann erschien die Information auf dem Bildschirm.

Beim Lesen wurden seine Augen immer größer. Er gab einen neuen Befehl ein. Mit dem gleichen Surrton verschwanden die Daten auf dem Bildschirm, und neue erschienen. Ungläubig las er, was da stand.

Eine halbe Stunde später schaltete Dennis den Computer aus. Ihm schwirrte der Kopf.

Den ganzen Abend über war er sehr schweigsam.

9. KAPITEL

Am Mittwochmorgen w a r t e t e Dennis vor der Schule auf Pe te Wood­ward.

„Hallo, Dennis, w a s gibt's?" „Hast du eine Minute Zeit?" „Klar." Pe te sah Dennis prüfend an. „Ist was?" „Ach, ich weiß nicht recht. Ich muß nur mal mit jemanden außer Adrian

über das Spiel reden/ ' Pe t e nickte. „Seh weiß, w a s du meinst. Mir hat 's in letzter Zeit auch ein

bißchen zugesetzt." Beide gingen ein Stück über den Schulhof, um in Ruhe reden zu kön­

nen. „Wie lange kennst du Adrian schon?" fragte Dennis. Pe t e überlegte. „Seit dem Kindergarten. Er war schon immer ein biß­

chen verdreht", fügte er mit einem verlegenen Lachen hinzu. „Du kannst dir nicht vorstellen, w a s der alles angeschleppt hat, um Aufmerksam­keit zu erregen."

„Vielleicht doch." Dennis dachte an Adrians Zimmer. „Und wie w a r er sons t früher?"

„Irgendwie anders als die anderen. Er ha t te schon immer eine Wahn­sinnsphantasie. Manchmal erzählte er uns aus seinem früheren Leben, und das wa r lange, bevor einer von uns e t w a s von Reinkarnation gehört ha t t e . Er ha t t e ständig irgendwelche Freunde, die nur in seiner Einbil­dung existierten, und berichtete uns von Ungeheuern, die er in seinen Träumen gesehen hä t t e . Weil er immer so tolle Geschichten erzählte, w a r er eine Zeitlang sehr beliebt in der Klasse, doch dann haben die Jun­gen angefangen, sich für andere Dinge zu interessieren, und ihn mehr oder weniger links liegen lassen. Inzwischen sind es nur noch wenige, die überhaupt mit ihm reden."

„Was meinst du — wie ernst nimmt Adrian das Rollenspie!?" Pe te schaute ihn unsicher an. „Worauf willst du hinaus?" „Wie erns t nimmst du es?" konter te Dennis. „Für mich ist es Spaß", verteidigte sich Pete , „mehr nicht." „Für Adrian auch?" „Nein." Pe te w a r sauer. „Hör zu, Dennis, Adrian ist ein bißchen ver-

dreht, aber ich mag ihn. Wir sind schon jahrelang be f reunde t . . . " „ich mag ihn auch", unterbrach Dennis, „aber ich versuche mir darüber

klarzuwerden, in was wir uns da reinmanövrieren." „Wie meinst du das?" „Ich hab gestern abend mal ein bißchen nachgeforscht. Hat Adrian

euch gesagt, daß diese ganze Mogar-Geschichte auf indianischen Legen­den basiert? Und nicht nur indianische. In der Chronik von Ashton steht, daß dieser Mogar im Winter 1816 wirklich erschienen ist."

„Na und? Jede Stadt hat ein paar Gruselgeschichten aufzuweisen." „Möglich. Aber ich hab noch weiter nachgeforscht. Der Winter von

1816 war tatsächlich der kälteste seit Menschengedenken. Zumindest hier im Nordosten. Noch lange hinterher sprachen die Leute vom Winter von ,achtzehnhundertundsechzehn\"

So"3" „Ja, so. Und insofern passen die Geschichten von Mogar und die Tat­

sache, daß "1816 tatsächlich der härteste Winter seit Urzeiten war, zu­sammen." Dennis schaute Pete eindringlich an. „Wieweit hat Adrian euch eingeweiht? Hat er euch gesagt, daß Mogar ein Wesen aus der Eis­zeit ist, das nur auf der Erde erscheint, wenn dort Stein und Bein gefro­ren sind?"

Pete schüttelte den Kopf. „So sagen es jedenfalls die Legenden. Aber ich hab noch eine wichtige

Information für dich. Dieselben Voraussetzungen, die den Winter von 1816 zu dem Jahrhundertwinter gemacht haben, der er war, scheinen auch für dieses Jahr zuzutreffen. Einige sehr angesehene Wissenschaft­licher gehen davon aus, daß wir den kältesten Winter seit über 100 Jah­ren kriegen."

„Was willst du damit sagen?" fragte Pete scharf. „Gar nichts. Ich versuche nur herauszufinden, auf was wir uns da ein­

lassen." Nach der Englischstunde sprach Dennis Adrian an. „Wollen wir uns

heute nach der Schule treffen?" fragte er. Er wollte unbedingt mit Adrian reden, um noch ein paar Informationen aus ihm herauszuholen.

„Nein. Wir brauchen uns in nächster Zeit nicht zu sehen." Der abwe­sende Ausdruck in Adrians Augen beunruhigte Dennis. Auch wenn er Adrian nicht sonderlich mochte, machte er sich doch langsam Gedanken über dessen Geisteszustand.

„Aber gestern . . . " „Ich hab gesagt, wir brauchen uns in nächster Zeit nicht zu sehen",

fuhr Adrian ihn wütend an. Seine Augen blitzten, als er sich umdrehte und den Flur hinuntermarschierte.

„Wow", hörte Dennis jemanden hinter sich sagen. „Seine verdrehte

Exzellenz hat heute aber äußerst schlechte Laune, was?" Er drehte sich um. „Komm, Janet, laß ihn doch in Ruhe." „Du willst dir wohl einen Heiligenschein verdienen, wie? Aber.komm,

laß uns zum Mittagessen gehen. Dabei können wir uns überlegen, wie wir das am Samstag mit dem Skifahren machen.

„Falls es überhaupt Schnee gibt", gab Dennis zu bedenken. „Mach dir darüber keine Gedanken. Es wird schneien, das spür Ich/'

Arn Freitagmorgen war es hell und klar und fast unnatürlich warm, Das war 's dann wohl mit dem Skifahren, dachte Dennis. Und mit Mo-

gar. Er fragte sich, was Adrian machte. Und damit stand er nicht allein da, die ganze Gruppe fragte sich das. Sie war te ten ständig darauf, daß er das nächste Treffen einberief, doch jedesmal, wenn ihp jemand dar­auf ansprach, meinte er, die Zeit sei noch nicht reif.

Na ja , dachte Dennis, vielleicht ist. das Spiel zu Ende. Bis jetzt hat's Spaß gemacht. Er seufzte. Es war seltsam. Immer wieder hatte er sich überlegt, ob er aus der Gruppe aussteigen solle. Doch jetzt , wo es so aussah, als würde sie ohnehin auseinandergehen, wußte er, daß ihm die Treffen sehr fehlen würden. Er hatte die prickelnde Aufregung irgend­wie genossen.

Adrian erschien an diesem Tag nicht in der Schule. Ohne ihn schienen die anderen Gruppenmitglieder aufgeschmissen. Dennis war froh» daß er'sich für den Samstag mit Janet verabredet hatte. Morgens wollten sie skifahren und abends ins Kino. So konnte er sich wenigstens auf et­was freuen.

Nach der Schule stürmte er nach Hause, schnappte sich ein Stück Käse und eine Handvoll Kräcker und setzte sich an den Computer, um die nächsten Aufträge zu erledigen.-Das Geschäft lief gut, doch an die­sem Tag war er schrecklich unkonzentriert und konnte nicht ruhig sit­zenbleiben."

„Warum läufst du nicht ein paar Meilen?" fragte seine Mutter, nach­dem er zum drittenmal in die Küche marschierte und den Kühlschrank öffnete, ohne etwas herauszunehmen. „Vielleicht siehst du anschlie­ßend klarer."

„Keine schlechte Idee", meinte Dennis. Das Training würde nicht scha­den, und er wußte, daß er danach immer ruhiger war. Also zog er seinen Trainingsanzug an und machte sich auf den Weg.

Nach ungefährt einer Viertelstunde merkte er, daß er in Richtung Wäi-ling Rocks lief. Ein Zufall war das nicht. Er hatte diesen Weg eingeschla­gen — ob bewußt oder unbewußt, spielte keine Rolle.

Und plötzlich wußte er auch, weshalb. Er hatte das ganz merkwürdige Gefühl, daß Cal in Schwierigkeiten war, daß er Dennis irgendwie brauchte. Er beschleunigte sein Tempo und lief in Richtung Farm.

Eine halbe Stunde später blieb er stehen und sah sich irritiert um. War er an der Farm vqrbeigelaufen? Auf der richtigen Straße war er, das stand fest. Er zuckte mit den Schultern. Schon früher war es ihm manchmal so gegangen, daß er beim Laufen gar nicht mehr mitbekom­men hatte, was um ihn herum geschah. Er mußte an der Farm vorbeige­t rabt sein, ohne sie zu sehen.

Also machte er kehrt und rannt den Weg wieder zurück. Das ungute Gefühl verstärkte sich. Es wurde immer, bedrückender, je näher er dem Feldweg kam, der zu Cal Starks Farm führte.

Irgend etwas st immte nicht. Im nächsten Moment blieb Dennis wie angewurzelt stehen. Ein Schrei

entfuhr ihm. Er hatte die Zufahrt zur Farm erreicht. Aber es gab keine Farm mehr. Fassunglos starr te Dennis auf die Stelle, wo sie hätte sein sollen. Es

war, als sei ein Tornado über das Gelände gefegt. Das Haus und die Ställe waren plattgewalzt. Bretter, Steine und Möbelstücke lagen über den ganzen Hof verstreut. Eine tödliche Stille lag über dem Platz. Keines der Tiere war zu sehen.

Wo war Cal? Dennis machte einen Schritt vorwärts. Da drehte der Wind und t rug

ihm einen unerträglichen Gestank zu. Dennis schluckte hart. Derselbe Gestank war aus dem Loch in der Höhle gekommen.

Dennis hielt sich das Oberteil des Trainingsanzugs vor Mund und Nase und kämpfte gegen die Übelkeit an. Dann lief er los. Vielleicht war Cal ir­gendwo zwischen den Trümmern eingeklemmt. Möglicherweise war er im Keller. Er mußte sehen, ob der alte Mann Hilfe brauchte.

Der Gestank war nicht auszuhalten. Trotzdem ging Dennis weiter. Von dem alten Mann war keine Spur zu sehen. Zuerst schaute Dennis

im Keller nach. Kein Cal. Vorsichtig sah er sich um. Wer oder was konnte eine solche Verwüstung angerichtet haben? Er ging langsam um das herum, was von dem Haus noch übrig war.

Als er um die Ecke bog, stockte er. Starr vor Entsetzen stand er einen Augenblick lang mit wei t aufgerissenen Augen da. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und lief davon, weg von der verwüsteten Farm.

Es hatte angefangen zu schneien. Dennis saß neben einem Polizeibeam­ten im Wagen und beobachtete, wie die großen, weichen Flocken immer dichter fielen, bis aus dem Herbstwind ein eisiger Schneesturm gewor­den war.

„Ich weiß wirklich nicht, warum ich noch nicht nach Florida gezogen bin", sagte der Polizist. Er mußte die Augen zusammenkneifen, um die Straße vor sich zu sehen. Ein zweifelnder Blick t ra f Dennis. „Ich hoffe in deinem Interessee, daß an der Geschichte was dran ist, Junge. In die­sem Sauwetter durch die Gegend zu fahren, macht nämlich keinen Spaß."

Dennis schwieg. Es hatte lange genug gedauert, bis er den Leiter der Polizeistation davon überzeugt hatte, daß es besser sei, jemanden zu Cals Farm hinaufzuschicken. Er hatte den Fehler begangen, sofort zur Polizei zu laufen, verschwitzt und geschockt, wie er war, um die ganze Geschichte ohne Punkt und Komma herauszusprudeln. Sie hatte sich of­fenbar so verrückt angehört, daß ihm zunächst kein Mensch geglaubt hat te. Einer der Beamten hatte sogar vorgeschlagen, ihn in die Tüte bla­sen zu lassen, um festzustellen, ob er getrunken hatte.

Als Dennis das begriffenhatte, zwang er sich so wei t zur Ruhe, daß er ihre Fragen beantworten konnte. Allerdings sagte er nicht alles, was er gesehen hatte. Das war so unwahrscheinlich, so absolut irrwitzig, daß sie es ihm doch nicht abgenommen hätten.

Schließlich hatte er sie wenigstens so weit , daß sie ihm glaubten, daß auf der Stark-Farm etwas nicht in Ordnung war, und sie beschlossen, ei­nen Beamten mit ihm hinauf zuschicken.

„Ich glaube, wir müssen jetzt hier rechts ab", sagte der Polizist ge­rade. Er starr te angestrengt durch die Windschutzscheibe. Die Flocken fielen immer noch gleichmäßig und ununterbrochen, doch weniger dicht als vorher. „Aha, da ist die Straße. Ich war schon jahrelang nicht mehr hier oben auf Cals Farm. Was soll passiert sein, hast du gesagt?"

„Warten Sie's ab." Dennis wollte sich nicht noch einmal lächerlich ma­chen. „Halt. Hier ist die Zufahrt."

„Das ist doch nicht Cals Farm", erwiderte der Polizist. „Hier ist ja wei t und breit kein Haus."

Mit Dennis' Beherrschung war es vorbei. „Das versuche ich Ihnen ja die ganze Zeit klarzumachen!"

Sie bogen in die Auffahrt ein. „Du bleibst hier", befahl der Polizist, doch Dennis stieg gleichzeitig mit ihm aus dem Wagen. Der Mann sagte nichts mehr. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck ungläubigen Staunens, als er sich auf dem Hof umschaute. „Was zum Teufel ist hier los?" fragte er. „Warum hast du uns nicht gesagt, daß die ganze Farm nur noch ein Trümmerhaufen ist?"

„Ich hab's versucht", erwiderte Dennis einfach. Mit dem Fuß drehte der Polizist ein loses Bret t um. Fast drei Zentime­

ter Schnee lagen bereits darauf. Irgend etwas irrit ierte Dennis. Und plötzlich wußte er, was es war.

Der Gestank war weg. Das muß am Schnee liegen, der alles zudeckt, dachte er. Trotzdem

war er wieder völlig durcheinander. Da er angenommen hatte, daß nie­mand ihm glauben würde, hat te er nichts von dem Geruch gesagt. Das wird die Polizei früh genug feststellen, hatte er gedacht.

Mit einem Satz war er bei der Ecke, wo die Grundmauern noch stan­den.

„He, wo willst du hin?" Dennis ging um die Mauerreste herum und blieb abrupt stehen, um

nach dem zu suchen, was er vorher gesehen hatte. Es war hoffnungs­los. Der Schnee hatte alles zugedeckt.

Entmutigt ging er zurück zu dem Polizeiauto. Vielleicht hatte er es sich doch nur eingebildet. Jetzt würde er es nie mit Sicherheit wissen.

Doch als er das erstemal da gestanden hatte, hätte er schwören kön­nen, daß eine Spur auf dem Boden war - wie von einem schweren Kör­per - und Abdrücke, die nur von suchend ausgestreckten Tentakeln stammen konnten.

„Dennis, Dennis!" Mr, Hale rüttelte seinen Sohn an der Schulter. „Ein Freund von dir ist

da. Er scheint ziemlich durcheinander. Ich hab ihm gesagt, daß du schläfst."

Mit einem Ruck setzte Dennis sich auf. „Ist es Adrian?" „Nein. Er heißt Pete." Dennis seufzte. Noch am Abend vorher, gleich nachdem er nach

Hause gekommen war, hatte er versucht, Adrian zu erreichen. Niemand im Restaurant hatte gewußt, wo er war. nach dem ganzen Hickhack auf dem Polizeirevier und dem mühsamen Versuch, seinen Eltern alles zu er­klären, war er dann zu müde gewesen, um noch einmal anzurufen. Wie ein Stein war er ins Bett gesunken und sofort eingeschlafen.

Im Traum hatte ihn der große Mogar verfolgt. Die halbe Nacht hatte er von einem Opferzeremoniell geträumt, bei dem ein primitiver Stamm dem hungrigen Ungeheuer ein junges Mädchen übergab. Und in seinem Traum hat te Dennis erkannt, daß Mogar nicht nach Menschenfleisch hungerte, sondern nach der Seele des Menschen.

Ein Schauer lief ihm über den Rücken. „Dennis?" „Was? Oh, Entschuldigung, Dad. Sag Pete, ich komm sofort runter." Nachdem sein Vater gegangen war, dachte Dennis noch einmal voll

Dankbarkeit daran, wie verständnisvoll seine Eitern am Abend vorher

gewesen waren. Sie hatten gemerkt, wie erschöpft er war, und hatten nur in groben Zügen wissen wollen, was passiert war.

Die Polizei hatte sofort alle möglichen Vermutungen angestellt, ange­fangen von einem schlimmen Tornado bis hin zu einer Explosion. Plötz­lich erinnerte sich Dennis wieder, daß einer der Beamten etwas gesagt hatte, was ihn sehr beunruhigt hatte. Er nahm sich vor, das später nachzuprüfen.

Auf der Treppe machte er die letzten Knöpfe seines Hemdes zu. Seine Mutter saß vor einer Tasse Kaffe am Küchentisch. Ein sorgenvoller Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. „Bist du okay, Dennis?"

„Klar", sagte er, „nur noch ein bißchen müde. Wo ist Pete?" „Im Wohnzimmer. Ich hab ihn gefragt, ob er mit uns frühstücken will,

aber er meinte, er habe schon gegessen." Pete saß auf der Couch. Als Dennis ins Wohnzimmer kam, schaute er

auf. Erschrocken blieb Dennis stehen. Pete sah total verändert aus, ir­gendwie völlig fert ig.

„Ich muß mit dir reden", sagte Pete. „Okay." „Unter vier Augen." Dennis sah sich demonstrativ um. „Hier ist niemand außer mir." Pete schüttelte den Kopf. „Ich will nicht, daß deine Eltern was mitkrie­

gen." „Dann komm mit nach draußen." Dennis und Pete liefen um das Haus

herum zur hinteren Terrasse. Gut zwanzig Zentimeter Schnee lagen be­reits, und es schneite immer noch leicht.

„Die ganze Stadt spricht von dem Unglück auf Cal Starks Farm", be­gann Pete.

„Das hab ich erwar tet . In einer Kleinstadt machen solche Neuigkeiten schnell die Runde."

„Okay. Ich höre. Wer oder was hat's getan?" Dennis schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Was meinst

du denn?" Pete wandte sich ab. „Keine Ahnung. Es klingt bescheuert, aber. . ." „Nein, so bescheuert ist das gar nicht", meinte Dennis, „mär ist nämlich

derselbe Gedanke gekommen. Es ergibt überhaupt keinen Sinn, und trotzdem will es mir nicht aus dem Kopf. Da war dieser Gestank. . ."

Pete wurde blaß. „Hast du mit Adrian gesprochen?" fragte er. „Nein. Ich hab gestern abend noch versucht, ihn anzurufen, aber er

war nicht da." „Ich weiß. Er war überhaupt nicht zu Hause. Oder er hat sich rein- und

wieder rausgeschlichen, ohne daß ihn jemand gesehen hat. Möglich war das. Im Augenblick weiß jedenfalls niemand, wo er ist."

Die Frage nach Adrian hatte in Dennis Kopf etwas anderes ausgelöst, „Hör zu", sagte er, „als ich gestern abend bei der Polizei war, erzählte je­mand, Cal habe vor einigen Wochen angerufen und gemeldet, daß je­mand in seinem Stall war und einen Hahn getötet hat. Er sagte, der Be­treffende habe dem Tier den Kopf abgehackt. Glaubst du . . . " Er stockte. „Nein, das ist zu ekelhaft. So weit würde nicht mal er gehen."

Petes Gesichtsausdruck nach zu schließen, war er in diesem Punkt nicht so sicher.

„ich glaube, wir sollten zu den Felsen raufgehen", schlug Dennis vor. „Wozu?" „Keine Ahnung. Ich hab nur so ein Gefühl, wir sollten da mal nachse­

hen." „Ich will auch mit." Dennis fuhr herum. „Janet! Wo kommst du denn her?" „Deine Mutter sagte, du seist hier. Wir wollten skifahren heute mor­

gen, erinnerst du dich? Außerdem wollte ich wissen, wie's dir geht. Ich hab gehört, was du gestern abend mitgemacht hast."

„Ich bin okay", erwiderte Dennis. „Gut. Dann können wir jetzt zu den Felsen hinauf." „He, Moment mal, Janet. . ." „Geschenkt. Ich hab die Faxen dicke von eurem Macho-Gehabe und

diesen Spielchen unter lauter Männern da oben in den Felsen. Wenn du irgendwelche Schwierigkeiten hast, will ich mit dir da hoch."

Er schaute Pete an. Dieser zuckte bloß mit den Schultern. „Okay", sagte Dennis, „dann kommm mit."

Der Schnee glitzerte in der Sonne und ließ die Lichtung seltsam hell und rein erscheinen. Pete parkte den Wagen, und sie stiegen zu den Felsen hinauf. „Ich hab's mir hier schlimmer vorgestellt", sagte Janet.

Als sie den Eingang zur Höhle erreichten, warfen sich die beiden Jun­gen einen kurzen Blick zu. Sollten sie hineingehen? Dennis nickte.

Gebückt gingen die drei in die Höhle hinein. Dennis hatte von zu Hause eine Quarzlampe mitgebracht, die er nun einschaltete. Der Effekt war umwerfend. Es war das erstemal, daß er oder Pete das Innere der Höhle richtig sahen.

Janet zog hörbar die Luft ein. „Was ist das?" rief sie. „Indianische Zeichnungen", erklärte Pete. „Früher war hier wohl mal

eine Opferstätte oder so was." Gleichzeitig fasziniert und abgestoßen von den Zeichnungen, ging Ja-

net dicht an die Höhlenwand heran, um sie genau zu betrachten. Als sie sich nach Dennis umschaute, lag ein beunruhigter Ausdruck auf ihrem Gesicht. ,,Ich hab wieder dieses Gefühl, über das wir schon mal gespro-

chen haben. Das, wo man-glaubt, schon mal an dem Ort gewesen zu sein."

„De ja vu", sag te Dennis. ,;Ja, das ist es." Langsam drehte Janet sich um. „Ich mag die Höhle

nicht." Da fiel ihr Blick auf die Zeichnung auf dem Boden, und sie stieß ei­nen kleinen Schrei aus .

„Das ist Mogar", erklärte Pe te leichthin. Jane t sah Dennis an. „Komm, laß uns gehen." „Einen Augenblick noch. Ich muß noch w a s nachschauen." Er ging zu

dem Loch am hinteren Ende der Höhle, in das Adrian die Opfergaben ge­worfen ha t te . Zögernd beugte er sich darüber und richtete den Strahl der Quarzlampe hinein.

Auf alles mögliche w a r er gefaßt gewesen, nur nicht auf das, w a s er sah.

Die Grube wa r leer. Was immer Adrian auch hineingeworfen ha t te , es wa r verschwunden.

Dennis ging zu den anderen zurück. „He, w a s macht ihr da?" rief er. Jane t und Pe te durchquerten gerade die Höhle. „Ich will hier ein biß­

chen auskundschaften." Jane t s Stimme klang fremd. .Mit ein paar Schritten war Dennis bei ihr. „Hier gibt's nichts auszu­

kundschaften." „Nein? Und 'was ist'dann das hier?" Janet zeigte auf einen Tunnel,' der

ins Dunkel führte. Also ha t t e Adrian sie alle angelogen. „Ich glaube nicht . . . " Zu spät . Jane t war schon in den Tunnel ge­

schlüpft:.

„Komm", rief sie. „Echt sehenswert ." Dennis und Pe t e folgten ihr. Nach e t w a fünf Metern s tanden sie in ei­

ner zweiten Höhle. Der Gestank dort wa r unerträglich.

„A'den!" „Was?" Sie drehte sich zu ihm um. „Der Meister war te t . " „Janet!" Dennis packte Jane t an den Schultern und schüttel te sie. „Ja­

net!" Ihr Kopf fiel kraftlos auf ihre Brust. Als sie ihn wieder hob, lag ein selt­

s amer Ausdruck in ihren Augen. „Bring mich nach Haus, Dennis."

10. KAPITEL

Es war Mittwochabend. Adrian Furolle saß in seinem Zimmer und streichelte nachdenklich die ausgestopfte Schlange auf seinem Schoß. Immer wieder mußte er an Cal Stark denken. In der Schule sagten alle, so etwas sei in Ashton noch nie passiert. Aber das lag nur daran, daß sich niemand mehr an den Winter von 1816 erinnerte, als Menschen und Tiere spurlos verschwanden, und Farmhäuser und Stallungen dem Erd­boden gleichgemacht wurden wie durch einen unerwarteten Tornado.

Adrian erhob sich und ging im Zimmer auf und ab. Dabei dachte er über das Rollenspiel nach, das er auf den indianischen Legenden aufgebaut

Plötzlich blieb er stehen. Es war mehr als Fantasy, das wußte er jetzt ganz sicher. Er hatte es schon immer gewußt, nur hatte er es nicht zu­geben wollen. Irgend etwas an dem Spiel war von tief innen aus ihm ge­kommen. Es war keine Erfindung. Es war Erinnerung!

Erschöpft ließ er sich in den Sessel fallen. Hatten die konstruierten Zeremonien, die blutigen Opfer tatsächlich ein schlafendes Wesen ge­weckt , es aus seiner eisigen Behausung unter dem Berg herausge­lockt?

Oder war die Kreatur von allein aufgewacht, weil ein strenger Winter bevorstand, und hatte sie Adrian zu ihrem Werkzeug auserkoren?

Kalter Schweiß brach auf seiner Stirn aus. Was Cal Stark passiert war, war anderen vor ihm passiert. Würde es sich wiederholen?

Adrian schloß die Augen und stöhnte. Es schien, als könne er an nichts anderes mehr denken als an das Spiel - an das Spiel und an den großen Mogar. Tag und Nacht, wach oder schlafend, spukte ihm das Unge­heuer im Kopf herum. Er hatte sogar das Gefühl, als beobachte es ihn, als wache es über ihn mit diesem riesigen, glühenden Auge. Manchmal glaubte ehe ihn hinauf zu der Höhle.

In letzter Zeit ging er oft hinauf. Allein. Solange er mit den anderen Jungen dort war und eine Show insze­

nierte mit Umhängen und Kerzen, hatte er die Sache unter Kontrolle. Doch ohne die anderen stand er da oben an der Tür zu einer anderen Welt, zu einer Welt voll Dunkelheit, Angst und Schmerz. Der Welt des ur­sprünglich Bösen.

In der Höhle war es jetzt immer kalt, und es stank, daß einem übel werden konnte. Anfangs hatte er noch gedacht, es sei reine Neugier, die ihn dort hielt, wenn er vor der gespenstisch leuchtenden Zeichnung auf dem Boden stand. Dann hatte er die Stimme gehört,

„Blut", f lüsterte es in seinem Kopf, „warmes Blut." Danach hatte er mit den Opfern angefangen. Adrian rutschte t iefer in seinen Sessel. Wer ist dieser Mogar? über­

legte er ärgerlich. Wer glaubt er eigentlich, daß er ist? Die An twor t kam unerwartet und erschreckte ihn. Er ist mein Meister und war es seit Tausenden von Jahren. Mit der flachen Hand schlug Adrian sich an die Schläfen. Die Träume.

Er hatte sie gehabt, seit er ein kleiner Junge war. Die Träume von den Opfergaben eines primitiven Stammes an einen primitiven Gott.

Er ließ den Kopf gegen die Rückenlehne des Sessels fallen. Müde. Wie müde er war . . .

Plötzlich fand sich Adrian auf der Straße zu Cal Starks Farrn wieder. Er wußte nicht, wie er dahin gekommen war, doch er wußte, daß der eisige Wind, der an seinem Haar und an den Kleidern zerrte, und der Gestank, der in der Luft lag, Wirklichkeit waren. Das war kein Traum mehr.

Er hörte wilde Schreie und das Brüllen der Tiere. Dann war alles totensti l l . Er ging näher an die Farm heran und beobachtete mit klopfendem

Herzen, wie etwas Dunkles und Großes das alte Haus in Trümmer legte. Die Fenster wurden aus. den Mauern gerissen und mit solcher Kraft weggeschleudert, daß die Glassplitter bis zur Straße flogen und zu Adrians Füßen landeten. Schwere Batken segelten durch die Luft wie Streichhölzer und zerbarsten beim Aufprall auf den Boden. Die Erde bebte, riesige alte Eichen wurden entwurzelt und Felsbrocken aus dem Weg des Ungeheuers geräumt.

•mir nur b«F

Plötzlich erschien Cal. Blindlings rannte er durch die Trümmer. Vergeblich versuchte er, einem Fangarm auszuweichen. Adrian hielt den Atem an, als der alte Mann stolperte und hinfiel. Die Tentakel grif­fen nach ihm . . .

Ein Schrei erschütterte die Luft. Dann war es still. Adrian stand wie angewurzelt, sein Herz raste, er konnte sich nicht rühren. Die Dunkel­heit und Stille drohten ihn zu ersticken.

Dann hörte er das schreckliche Geräusch. Etwas kam über den von Trümmern übersähten Boden gekrochen. Es kam auf ihn zu, und er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Die Angst lag wie ein eisernes Band um seine Brust, er konnte kaum atmen. Langsam, einer nach dem' anderen, erschienen die Fangarme. Sich streckend und suchend glitten

sie über den Boden. Und dann erschien das Auge, das Auge des großen Mogar.

Die Tentakel erreichten Adrian und legten sich sanft, fast zärtlich um ihn, einer nach dem anderen.

Er erschauerte unter der vertrauten Berührung. Eine Berührung so alt wie die Erinnerung.

Schließlich hörte er die Stimme in seinem Kopf, ganz leise. „Blut. Menschenblut Adrian öffnete die Augen. Er zit terte, und seine Hände waren feucht

und kalt. Die Schlange und das Buch lagen auf dem Boden neben seinem Sessel. Er ging zur Tür und drehte den Thermostat höher. Dann stellte er sich ans Fenster.Er bewegte sich wie in Trance. Draußen war es dun­kel. Das Licht der Straßenlampen fiel auf frischen Schnee.

Langsam wurde ihm bewußt, was er gerade gesehen hatte, wie ein Film, der mit halber Geschwindigkeit ablief. Entsetzt erkannte er, daß er soeben Zeuge der Zerstörung von Cal Starks Farm gewesen war. So hatte es sich zugetragen — vor sechs Tagen.

Er schüttelte den Kopf. Erinnerungen tauchten auf an die Stunden, die Tage und Nächte, die er in der Höhle bei den Wailing Rocks zuge­bracht hatte.

Andere, ältere Erinnerungen folgten. Mit blicklosen Augen starr te Adrian aus dem Fenster. Es gab nichts zu befürchten. Er war jetzt , was er immer gewesen war.

Der Hohepriester Mogars.

Dennis klopfte den Schnee von den Schuhen und ging ins Haus. Das war ein fantastischer Vormit tag gewesen. So viel Spaß hatte er beim Skifah­ren noch nie gehabt. Eine Zeitlang hatte er darüber sogar alles verges­sen, was ihm während der letzten Wochen so zugesetzt hatte.

Er seufzte. Jetzt, wo er zu Hause war, stürmten auch die Sorgen wie­der auf ihn ein. Rasch zog er die Stiefel aus und stellte sie auf die Matte neben der Tür. Warum konnte er nicht einfach so tun, als sei nichts ge­wesen, und zur Tagesordnung. übergehen? Zumindest war nun alles vorbei.

ODER e twa nicht? Er nahm sich einen Apfel aus der Schale auf dem Kü-chentisch und ging ins Wohnzimmer. Dort ließ er sich in einen Sessel fal-len und versuchte zum x-tenmal, Klarheit in die ganze Angelegenheit zu

bringen

Cal war verschwunden. Das war das eine. Man hatte keine Spur von ihm gefunden, doch schien es schlichtweg

ausgeschlossen, daß jemand eine solche Katastrophe überlebt haben könnte.

Den Polizeiangaben zufolge war ein schrecklicher Tornado Ursache des Unglücks. Untermauert wurde dieses Theorie von der breiten Schneise, die durch den Wald führte. Bäume waren entwurzelt und um­geknickt worden.

Wie gern hätte Dennis an diese Erklärung geglaubt. Doch irgend et­was sagte ihm, daß die Schneise auch von etwas anderem geschlagen worden sein könnte - von einem riesigen, schleichenden Ungeheuer. Natürlich war das lächerlich. Trotzdem konnte er den Gedanken nicht abschütteln.

Und dann war da auch noch Adrian. Der schien seit kurzem die meiste Zeit über in einer anderen Welt zu leben. Soweit Dennis es beurteilen konnte, hat te er das Rollenspiel beendet. Es waren keine Treffen mehr einberaumt worden, und immer, wenn ihn jemand darauf ansprach, wechselte er einfach das Thema.

Doch das war noch nicht alles. Er war anders als früher, irgendwie verändert, ruhiger. Zu seiner eigenen Überraschung stellte Dennis fest, daß er gern mehr Zeit mit Adrian verbracht hätte. Adrian schien jedoch nicht interessiert.

Und dann war da noch Janet. Sie war die ganze Woche über zerstreut und fast abweisend gewesen — eigentlich seit dieser Geschichte in der Höhle am letzten Samstag.

Nachdem Dennis den letzten Bissen von seinem Apfel geschluckt hatte, stieß er hörbar die Luft aus. War es wirklich vorbei? Oder würde noch etwas nachkommen?

Er stand auf und war f das Kernhaus des Apfels in den Papierkorb. Ge­nug gebrütet. Jetzt mußte er sich für die Schulparty fert ig machen, auch wenn er allein ging.

Kritisch betrachtete sich Janet im Spiegel. Das schwarze Hexenkostüm sah gar nicht übel aus. Sie griff nach der schwarzen Perücke ihrer Mut­ter und stülpte sie sich über das rote Haar.

Was für ein Unterschied! Das hätte sie nie für möglich gehalten. Nur die hellen Augenbrauen paßten jetzt nicht mehr zu ihrem Gesicht. Mit ei­nem schwarzen Brauenstift zog sie den Bogen nach, dann lächelte sie. Jetzt st immte die Sache wieder.

„Meine Güte, Janet, du siehst ja zum Fürchten aus!" Janet fuhr herum. „Mom! Hast du mich erschreckt!" Ihre Mutter kam ins Zimmer. „Das hab ich vorausgesehen. Du wars t ja

völlig vertieft in deinen Anblick. Eigentlich wollte ich nur fragen, wie es beim Skifahren war/4

„Super. Du hättest Dennis sehen sollen. Er fährt wirklich gut. Zuerst hat te ich Angst, daß er mit den anderen nicht mithalten könnte, doch er hat alle in den Schatten gestellt."

„Das freut mich. Er ist wirklich ein netter Junge." Janet seufzte. „Das ist er. Wenn ich nur mit ihm zu der Halloween-

Party gehen könnte.1' „Ich hab dir doch gesagt» du hast dich viel zu früh festgelegt . . ." Als

Grace Horrigan den Gesichtsausdruck ihrer Tochter sah, hielt sie inne. „Tut mir leid, Janet. Das hätte ich dir wohl nicht noch extra zu sagen brauchen."

Janet zuckte mit den Schultern. „Nun ja, vielleicht ist ihm das fürs nächstemal eine Lehre." Sie zupfte ein bißchen an der Perücke herum, dann sah sie ihre Mutter an. „Du glaubst doch nicht, daß er jemand an­ders gefragt hat, oder?"

„Möglich wäre es. Aber ich bin sicher, er wäre lieber mit dir zusam­men."

Das beruhigte Janet e twas. „Hier, mach mir das bitte um." Damit gab sie ihrer Mutter die Kette mit dem kleinen Herzchen.

„Eigentlich paßt das ja nicht zu deinem Aufzug", gab Mrs. Horrigan zu bedenken. „Was stellst du denn überhaupt dar?"

„Einen weiblichen Vampir. Sieht man das nicht?" „So etwas Ähnliches hab ich mir schon gedacht. Warte, ich will mal

was ausprobieren." Sie nahm eine Puderdose und begann an Janets Gesicht zu arbeiten.

Wie immer, wenn sie sich stark konzentrierte, lugte die Zungenspitze zwischen den Lippen hervor.

„Fertig. Jetzt schau dich mal an." Janet drehte sich zum Spiegel um und stieß einen kleinen Schrei aus.

„Wie hast du das gemacht?" Mrs. Horrigan lächelte. „Auch eine Mutter hat so ihre Tricks auf La­

ger." Eingehend betrachtete Janet ihr Spiegelbild. Ihre Mutter hat te ihr die

Haut bleich geschminkt und die Augen mit viel Schwarz herausgehoben. Zusammen mit den knallroten Lippen und den dunklen Schatten unter den Wangenknochen sah sie aus wie eine wandelnde Leiche. Trotzdem wirkte das Ganze noch irgendwie edel.

„Du wirst sie doch nicht so aus dem Haus lassen?" Mr. Horrigan stand in der Tür und begutachtete das Werk seiner Frau.

,,Daddy!"

Er grinste. „War doch bloß Spaß. Aber du mußt zugeben, ein wenig pro

vokativ ist es schon. Für Halloween ist es wohl genau das Richtige, ob­wohl du absolut nicht mehr aussiehst wie mein süßes kleines Mädchen."

„Komm, Willy", sagte Mrs. Horrigan und nahm seinen Arm. „Geh'n wir, damit sie sich in Ruhe fert ig machen kann."

Eine Zeitlang stand Janet noch da und starr te auf die Tür, durch die ihre Eltern verschwunden waren. Sie kam sich auch nicht mehr vor wie Daddys süßes kleines Mädchen. Nicht nach den Ereignissen der letzten Wochen. Nachdenklich setzte sie sich auf die Bettkante und versuchte, nicht zum erstenmal, Klarheit in die ganze Sache zu bringen.

Sie hätte ihrer Mutter gern von dem Vorfall in der Höhle erzählt, doch bisher hatte sie einfach nicht den Mut aufgebracht, ihr zu sagen, daß sie da oben gewesen war.

Und obwohl sich der Wirbel um die Vorfälle auf Cal Starks Farm inzwi­schen gelegt hatte, wußte sie, daß sie Dennis immer noch sehr beschäf­t igten.

Was sie am meisten berührte, war ihr eigenes, unerklärliches Hinge­zogensein zu Adrian Furolle. Bislang hatte sie ihn nicht im mindesten at­t rakt iv gefunden, und plötzlich stellte sie fest, daß ihre Gedanken immer öfter zu ihm wanderten. Adrian hatte sich immer so ekelhaft selbstsi­cher gegeben, wie das oft bei Menschen der Fall ist, die im Grunde ge­nommen schrecklich unsicher sind. In der letzten Woche hatte sich dies allerdings geändert.

Er versuchte nicht mehr, die Leute zu beeindrucken. Er beeindruckte, ohne daß er etwas dazutat.

Was sich an ihm verändert hatte, konnte Janet nicht genau sagen. Sie spürte nur eine Kraft in ihm, die es früher nicht gegeben hatte. Und fast gegen ihren Willen fühlte sie sich davon angezogen.

Was war nur los mit ihr? Der seitsame Traum fiel ihr ein, den sie in der vergangenen Nacht ge­

habt hatte. Etwas Schlimmeres hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht geträumt. Trotzdem konnte sie sich nicht mehr genau daran erin­nern. Sie wußte nur noch, daß etwas Abscheuliches hinter ihr her gewe­sen war und daß sie geschrien und geschrien hatte, bis plötzlich alles schwarz wurde.

„Janet! Lee ist da." Die Stimme ihrer Mutter riß sie aus ihren Gedanken. Mit dem schwar­

zen Schal ihrer Großmutter in der Hand ging Janet die Treppe hinunter.

Die Turnhalle war bereits brechend voll, als Janet und Lee ankamen. Das Dekorationsteam hatte gute Arbeit geleistet. Die Halle war mit

schwarzen Kreppapierstrei fen und handgemachten Spinnweben ge­schmückt . Da die Lampen ebenfalls mit schwarzem Kreppapier umge­hüllt waren» w i r k t e das Ganze richtig schön gruselig.

„Dennis ist auch da", f lüster te Laura, als Janet sich suchend um­schaute. „Allein."

Janet lächelte. Das ha t te sie gehoff t . Lee gegenüber ha t te sie ein rieh-h u ' t o n t / I M /

t ig schlechtes Gewissen, weil sie immer nur an Dennis dachte. Nein, das s t immte nicht. Sie dachte an Dennis und Adr ian. V e r w i r r t

schüt te l te sie den Kopf.' Langsam wurde es kompliziert. Nach dem ers ten Tanz kam Dennis' zu Lee und Janet herüber. Er t r ug

ein schwarzes Cape und w a r als Vampir geschminkt. Man hä t te meinen können, er und Janet hä t ten sich mit den Kostümen abgesprochen.

„Ihr beide paßt gut zusammen", stel l te Laura fest . Stirnrunzelnd schaute Lee zu, w ie Dennis mi t Janet davontanzte. Plötzlich ging ein Raunen durch die Turnhal le. „Was ist los?" f rag te Janet. Dennis stel l te sich auf die Zehenspitzen. Ein Schat ten huschte über

sein Gesicht. „Adrian ist gekommen." Er nahm Janets Hand und ging in Richtung Tür. Von den anderen

wußte er, daß Adr ian noch nie auf einer Schulfete gewesen war . Selt­sam, daß er ausgerechnet heute hier auf tauchte.

Noch sel tsamer w a r der Aufzug, in dem Adrian erschienen wa r . Er t r u g einen Umhang, den er bei dem Spiel immer angehabt ha t te . Eine kleine Gruppe Schüler ha t te sich um ihn versammel t .

Irgend e t w a s ist anders an ihm, dachte Dennis. Ich weiß nicht, w a s es ist, aber er ist veränder t ,

„Hey, Adr ian, w a s stel lst du denn dar?" wol l te Laura wissen. Adr ian schaute sie an. „Ich bin Priester einer alten Religion", erk lär te

er feierl ich. Groß-und gutausschend, wie er war , paßte er ausgezeichnet in diese

Rolle. Schon immer ha t te er er eine besondere Ausstrahlung gehabt. Bisher w a r sie allerdings durch seine überhebliche A r t geschmälert wor ­den. An diesem Abend w a r er ernst , aber nicht überheblich. Die Schüler spür ten die. Veränderung und drängten sich um ihn.

Er ließ den Bück über die Menge schwei fen, bis er Janet entdeckt . „Schenkst du mir den nächsten Tanz?" f rag te er feierlich.

„Gern", sagte sie. Die Musik begann w ieder zu spielen. Adr ian nahm Janets Hand, dann

tanzten s ie davon. , , Ich kann`s nicht glauben", meinte Pete, der neben Dennis s tand. „Das

ist e infach nicht der Adrian, den w i r kennen."

„Ich weiß." Eine'Welle der Eifersucht überkam Dennis. Plötzlich s tand Lee'Phillips auf der anderen Seite neben ihm. „Schlimm

genug, daß du dich dazwischengedrängt hast.» aber das ist zuviel." Für ei­nen Augenblick fragte sich Dennis, ob Lee Zoff machen wollte, doch im Grunde genommen wa r es ihm egal. Er machte sich zu viele Gedanken über das, w a s da zwischen Jane t und Adrian ablief, als daß er sich auch noch um Lee hä t t e kümmern können. Sollte er doch Zoff machen, das wa r vielleicht nicht einmal das Dümmste.

Im Laufes des Abends wander te Jane t abwechselnd Den­nis, zu Adrian, als sei sie ein ein Dreieck geket te t , von dem die Jungen die Spitzen bildeten. Immer, wenn sie mit Lee tanzte , war Dennis an Adrians Seite.

Doch Adrian ließ sich auf keine Gespräche ein. Ein nickte bloß und brummte vor sich hin, wenn Dennis ihn e t w a s fragte.

Dann endlich w a r Geisterstunde. Der riesige Gong am vorderen Ende der Turnhalle er tönte , und alles

versammel te sich auf der anderen Seite, um zu hören, welche Kostüme einen Preis bekommen hat ten.

Dennis sah sich um. Er ha t t e die leise Hoffnung, daß er und Jane t als das Paar ausgewählt worden waren, das am bes ten zusammenpaßte. Er reckte sich auf die Zehenspitzen.

Wo mochte sie bloß sein? Jane t w a r nirgends zu sehen.

Jane t w a r mit Adrian zusammen und fragte sich zum x-tenmal, w a s ihn so anziehend und aufregend machte .

„Glaubst du an Wiedergeburt?" fragte er unvermittelt. „Was?" Die Frage kam so unerwar te t , daß Jane t glaubte, sich verhört

zu haben. „Hältst du es für möglich, daß wir früher schon einmal gelebt haben?"

wiederholte Adrian seine Frage, Offensichtlich meinte er es ernst . Jane t dachte nach. „Ich weiß nicht",

s ag t e sie schließlich. „Manchmal kann ich es mir vorstellen. Manchmal kann ich es mir für mich vorstellen."

„Komm mit raus zu meinem Jeep. Ich will dir w a s zeigen." „Später. Erst will ich hören, w e r einen Preis für sein Kostüm gewon­

nen hat." Adrian sah ihr direkt in die Augen. „Jetzt", sag te er leise. „Es ist wich­

tig, daß du jetzt kommst." J ane t spürte , wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. „Nein." Adrians Augen schienen sich in ihre zu bohren. „Okay", sag te sie. „Ich

komme mit."

Er nahm ihre Hand und führte sie hinaus in die Vorhalle. Sie fragte sich, was er ihr wohl so Wichtiges zeigen wolle.

„Laß mich rasch meinen Mantel holen." Einen Augenblick später standen sie vor dem Jeep. Es schneite. „Steig ein", forderte Adrian sie auf. Janet klet terte in den Wagn. Adrian stieg auf der Fahrerseite ein und ließ den Motor an. „Adrian! Was machst du?" „Ich hab dir doch gesagt, daß ich dir etwas zeigen will." „Ich dachte, du meinst hier im Wagen. Adrian. Adrian."

„Hast du Janet gesehen, Pete?" Pete schüttelte den Kopf. „Das letztemal, als ich sie gesehen hab, hat

sie mit Adrian getanzt. Wo sie jetzt steckt, weiß ich nicht." Allmählich geriet Dennis in Panik. Weder Janet noch Adrian waren in

der Turnhalle. Trotzdem konnte er sich nicht vorstellen, daß Janet mit Adrian weggegangen war.

Dennis ging hinaus in die Vorhalle. Da war Janet auch nicht. Eine eisige Hand schien nach seinem Herzen zu greifen. Er stürzte hinaus in die Sonne, gerade noch rechtzeitig, um Adrian in seinen Jeep steigen zu se­hen. Dann hörte er, wie der Motor angelassen wurde.

„Hey!" schrie er und rannte auf den Jeep zu. „Hey, warte!" Zu spät. Der Wagen schoß aus der Parklücke und hinaus auf die

Straße. Eine ganze Schneefontäne wurde dabei aufgewirbelt. Dennis sah dem Wagen hinterher, wie er in der Dunkelheit ver­

schwand. Ein kalter Wind kam auf. Die Schneeflocken fielen dichter.

11. KAPITEL

Dennis rannte zu seinem Wagen. Möglich, daß er bloß irrsinnig eifersüch­t ig war. Möglich, daß er sich lächerlich machte. Doch das mußte er in Kauf nehmen. Denn irgend etwas sagte ihm, daß Janet nicht freiwillig mit Adrian gegangen war. Er mußte irgendeinen Einfluß auf sie haben, dem sie sich nicht entziehen konnte.

Dennis drehte den Zündschlüssel um. Der Motor sprang nicht an. Flu­chend versuchte er es noch einmal und war te te dann, bis er warm wurde. Jede Sekunde erschien ihm wie eine Ewigkeit.

Er stellte die Scheibenwischer an, um den frischgefallenen Schnee von der Windschutzsscheibe zu fegen. Die Worte des Radiosprechers, die er auf der Fahrt zur Turnhalle im Autoradio gehört hatte, schossen ihm durch den Kopf. „Der schlimmste Winter seit über einhundertfünfzig Jahren . . ." Es würde der schlimmste Winter seit 1816 werden!

Aber das war doch idiotisch. Durch das Fantasy-Rollenspiel konnten sie das Ungeheuer doch nicht aufgeweckt haben, wenn es überhaupt ei­nes gab. Doch dann wurde Dennis klar, daß es keine Rolle spielte, ob sie diesen Mogar tatsächlich gerufen hatten oder nicht, solange Adrian an die Möglichkeit glaubte. Während ihrer letzten Treffen hatte er ganz schön verrückt dahergeredet, bevor er sich dann in sich selbst zurück­gezogen hatte.

Ein anderer Satz kam Dennis in den Sinn, einer, den Adrian gesagt hatte, und es überlief ihn eiskalt, als er sich jetzt wieder daran erinnerte. Adrian hatte davon gesprochen, daß eine Jungfrau geopfert werden m ü s s e . . . . '

Das war unmöglich. Nicht einmal Adrian . . . Dennis umklammerte das Steuerrad. Was, um alles in der Welt, ging tatsächlich in Adrians Kopf vor? Wenn er wirklich glaubte, sie könnten Mogar aus seiner Höhle her­vorlocken, war er zu allem fähig. Dennis fiel wieder ein, was der Polizist über den geschlachteten Hahn auf Cal Starks Farm gesagt hatte, und er mußte an die geheimnisvollen „Opfergaben" denken, die Adrian in das Loch der Höhle geworfen hatte, ohne sie den anderen vorher zu zeigen. Es schüttelte ihn bei dem Gedanken, daß die Grube leer gewesen war, als er hineingeschaut hatte.

Sei nicht albern, sagte er sich. Das kann alle möglichen Gründe haben.

Doch tief im Innern wußte er, daß nur einer in Frage kam - Mogar. Dennis gab Vollgas. Okay. Angenommen, das Schlimmste t raf zu. Was

sollte er dann machen? Ein dri t ter Satz ging ihm durch den Kopf, eine Bemerkung von Cal

Stark, als er erzählte, wie die Leute 1816 versuchten, Mogar in seine Höhle zurückzudrängen: „Das Feuer war hell wie der Tag und heiß wie die Sonne." Plötzlich wußte Dennis, was er zu tun hatte.

Noch einmal versuchte er, rückwärts a' 's der Parklücke herauszufah­ren. Die Räder drehten durch. Fluchend schaltete er in den ersteaGang, in den zweiten, dann wieder zurück und wieder vor, bis die Räder endlich griffen. Mit Vollgas raste er nach Hause.

Er wußte nicht, ob er erleichtert sein sollte, weil seine Eltern noch nicht zurück waren. Sein Vater hätte ihm sicher helfen können. Doch wie hätte er ihn davon überzeugen können, daß er seine Hilfe brauchte?

Mit einem Satz sprang er aus dem Wagen, rannte in die Garage und holte das Brecheisen. Dann stürmte er zu der Waffensammlung seines Vaters. Ohne Rücksicht auf den Schaden, den er anrichtete, brach er die verschlossene Schranktür auf. Die sauber beschrifteten Gewehre und Pistolen interessierten ihn nicht. Mit sicherem Griff langte er nach den beiden Phosphorgranaten. Wie sie funktionierten, hatte ihm sein Vater oft genug erklärt. Sie verursachten einen unlöschbaren Feuertep­pich über mehrere hundert Quadratmeter.

Eigentlich sollten diese Granaten entschärft und völlig ungefährlich sein, doch einem alten Freund hatte Mr. Haie einmal anvertraut, daß eine davon einsatzbereit sei, obwohl die Zündung wahrscheinlich nicht mehr funktionierte.

Aus der Küche holte Dennis anschließend das große Messer, das seine Mutter immer zum Fleischschneiden benutzte. Dann stieg er wieder in den Wagen, bereit, allem entgegenzutreten, was da kommen mochte.

Ganz flüchtig dachte er an die Möglichkeit, daß er Adrian und Janet auch einfach beim Schmusen auf irgendeinem versteckten Parkplatz entdecken könnte. Dann würde er ganz schön blöd dastehen. Aber lie­ber blöd dastehen, als feststeilen müssen, daß seine Befürchtungen be­rechtigt waren.

Adrian brachte den Wagen zum Stehen. Erschrocken merkte Janet, daß sie genau da parkten, wo auch Dennis das Auto abgestellt hatte, als er sie zu den Wailing Rocks mitgenommen hatte.

Was ging hier vor? Sie wollte Adrian bitten, umzudrehen und sie zur Schule zurückzufahren, doch es war ihr unmöglich, die Worte herauszu­bringen.

„Steig aus1', sagte Adrian kurz angebunden.

Jane t rührte sich nicht. „Steig aus!" schrie er. Säe wand te sich ihm zu. Tränen liefen ihr über

die Wangen. Bitte, wollte sie sagen, kehr um. Bring mich nach Hause. Kein Ton kam aus ihrem Mund.

Sie öffnete die Wagentür. Dann stand sie im Schnee. Bitte, Dennis, komm und hol mich. Hol mich, bevor . . . Sie konnte den

Gedanken nicht zu Ende denken, denn Adrian t r a t neben sie und packte sie am Arm. Nun richtete sie ihre ganze Konzentration darauf, nicht zu stolpern und hinzufallen, während Adrian sie hinter sich herzog, den schneebedeckten Pfad hinauf, der zu den Wailing Rocks führte.

Die Straße war vereist und rutschig. Dennis ha t t e alle Mühe, den Wagen einigermaßen in der Spur zu halten, als er in die Berge hinauffuhr.

Der Wind wurde s tärker . Wenn die Karre doch bloß Vierradantrieb hä t t e wie Adrians Jeep! Hoffentlich schaffte er es überhaupt bis zudem Parkplatz.

Als er zu der Stelle kam, wo er in den Feldweg einbiegen mußte, dros­selte er die Geschwindigkeit fast bis zum Schrittempo.

Der Schnee fiel so dicht, daß er kaum noch die Straße erkennen konnte. Langsam kroch der Wagen in Richtung Parkplatz. Dabei hol­per te er über die unter dem Schnee verborgenen Furchen und Stein­brocken. Für Geländefahrten dieser Art wa r er wahrhaftig nicht ge­macht . Plötzlich blieb das rechte Vorderrad in einem tiefen Schlagloch hängen.

Der Wagen wa r nicht mehr von der Stelle zu bringen. „Verdammt!" rief Dennis. Er versuchte es wieder abwechselnd mit

Vor- und Zurückfahren. Nichts t a t sich. Da zog er den Zündschlüssel ab, griff sich die Granaten und das Messer und stapfte entschlossen die schneebedeckte Straße hinauf.

Jane t schluchzte leise, während sie hinter Adrian herstolperte. Sie ver­suchte sich einzureden, das Ganze sei ein Alptraum, bis sie voll Entset­zen erkannte , daß es tatsächlich ihr Alptraum war. Davon ha t t e sie in der Nacht zuvor ge t räumt — daß sie hinaufgeführt wurde zu der Höhle, wo ihr irgend e t w a s Schlimmes bevorstand. An das, w a s sie dort erwar­t e t e , mochte sie gar nicht denken. Erneut stolperte sie.

Adrian ve rs tä rk te den Griff um ihren Arm, bis sie vor Schmerz laut h ä t t e schreien können. Doch die Kehle w a r ihr wie zugeschnürt. Erbar­mungslos zerr te Adrian sie weiter.

Als sie die Höhle erreicht hat ten, wies er mit der Taschenlampe den Eingang. „Nach dir."

Ein Schauer überlief Janet. ihr Magen k rampf te sich vo r Angs t zusam­men. .Adr ian", f lüs te r te sie. „B i t te . . . "

Er legte ihr die Hand auf die Schulter und zwang sie, sich zu bücken. „Geh rein!"

Janet gehorchte, im Schein von Adrians Taschenlampe erkannte sie die scheußliche Zeichnung in der Mi t te der Höhle wieder.

Wort los füh r te Adr ian sie zu dem Bild und zwang sie, sich davor hinzu­knien. Dann stel l te er -zwei Kerzen auf und kniete sich ebenfalls hin. Nach einer Weile s tand er wieder auf und zog ein Seil aus seinem Um­hang. Mi t stechenden Augen sah er Janet an. „Gib mir deine Hände."

„Nein, Adr ian. Nein!" „Deine Hände." Sie wol l te sich we igern , wol l te den Blick abwenden. Es w a r ihr nicht

möglich. „Du weißt , w a s geschehen muß", sagte Adr ian ruhig. „Du weißt , Mo-

gar ist hungrig, und sein Hunger muß gesti l l t werden . Du weißt das, wei l du es schon einmal er lebt hast."

Janet w a r f verzwei fe l t den Kopf hin und her. Tränen s t römten ihr übers Gesicht.

Nachdem Adr ian ihr die Hände und Füße gebunden ha t te , s t immte er einen monotonen Singsang an.

Nach einem anstrengenden Marsch durch den eisigen Wind und t ie fen Schnee erreichte Dennis Adrians Jeep. Dann ha t te er also doch recht gehabt. Er biß die Zähne zusammen und kämpf te sich we i te r den schma­len Pfad hinauf. Der Sturm wu rde mit j edem Augenblick s tärker . Dennis mußte höllisch aufpassen, daß er nicht v o m Weg abkam. Ein paarmal ru tschte er aus und fiel in den Schnee. Er z i t te r te vor Käl te.

Endlich kam er zu der Lichtung. Fast im selben Moment st ieg ihm der Gestank in die Nase. Ihn ihm k rampf te sich alles zusammen. War er zu spät gekommen? Ha t te Adr ian das Ungeheuer schon aus seiner Höhle gelockt? Ha t te er ihm Janet angeboten, um seinen Hunger zu stil len?

Mit einem Wutschrei s türz te Dennis zum Höhleneingang und t r a t ein. Janet w a r noch da.

„Idiot!" schrie Adr ian. „Weißt du, w a s du tus t? " In seinem Umhang sah er wirk l ich aus w ie der Hohepriester einer al ten Religion. .

„Weißt du es?" f rag te Dennis zurück, während er langsam auf Adr ian zuging.

Dennis' Auf tauchen r iß Janet aus dem tranceähnl ichen Zustand, in dem sie s.ich befand, seit Adr ian sie aus der Turnhalle geführ t ha t te . , ,Dennis!" schrie sie. „Bring mich von hier weg ! "

Als Dennis zu ihr hinübergehen wol l te , drohte Adr ian: „Keinen Schr i t t

weiter. Die Opferzeremonie darf nicht unterbrochen werden." Dennis hör te nicht auf ihn. „Du bist krank", sag te er. Da stieß Adrian einen wilden Schrei aus . Mit einem einzigen Sprung

w a r er bei Dennis und klammerte sich an ihm fest. Sie s türzten zu Bo­den. Ineinander verkeilt wälzten sie sich hin und her.

„Dennis!" schrie Janet . „Das Messer!" Dennis packte Adrians Handgelenk. Die Spitze des Messers das

Adrian hielt, w a r nur noch Zentimeter von Dennis' Brust entfernt. Für ei­nen Moment trafen sich ihre Blicke.

„Du has t mich nie verstanden", zischte Adrian. „Du has t das Spiel nie erns t genommen."

Das Messer näher te sich Dennis's Brust. Zwar war Dennis s tärker als Adrian und in besserer Kondition, doch Adrian ha t te die Kraft eines Gei­s teskranken. In seinen Augen stand blanker Haß. „Niemand darf die Rückkehr des Meisters verhindern!" schrie er.

„Dennis!" Das wa r wieder Janet . „Dennis, er kommt!" Beide Jungen wandten den Blick in ihre Richtung. In dem Augenblick

konnte Dennis Adrian abschütteln. Aus dem schmalen Durchgang, den Janet entdeckt ha t te , als sie zum

erstenmal in der Höhle war , kam ein langer Arm, der sich suchend vor­w ä r t s t a s t e t e .

In der Höhle war es eiskalt geworden. Ein Gestank, schlimmer als al­les, w a s Dennis je gerochen ha t te , erfüllte den Raum.

Klirrend fiel das Messer zu Boden. „Meister!" schrie Adrian. Ein zweiter Arm erschien in dem Durchgang. Auch Jane t schrie. „Dennis, Dennis! Schneid meine Fesseln durch!" Dennis griff in seine Jacke, um das Messer herauszuholen, das er von

zu Hause mitgebracht ha t te . Als Adrian dies sah, wollte er ihm sofort wieder in den Arm fallen, doch Dennis wa r schneller. Er zog das Messer, und Adrian blieb s tehen.

„Dennis!" Der e r s t e Fangarm ha t t e Janet erreicht und legte sich nun um ihren

Arm. Mit einem Satz war Dennis bei ihr. Mit beiden Händen hob er das Messer über den Kopf, ließ es heruntersausen und zer t rennte den Ten­takel. Das abget rennte Ende des Arms fiel auf den Boden, wo es hin-und herzuckte wie eine Schlange.

Plötzlich wa r die ganze Höhle voller Tentakel. Tastend und suchend kamen sie aus dem Durchgang. In hektischer Wut hackte Dennis nach ihnen, um sie von Jane t fernzuhalten, die vor Angst zit terte.

Und dann er tön te dieses mahlende, klagende Geräusch, gefolgt von einem Kratzen wie Fels gegen Fels.

„Du solltest besse r damit aufhören", befahl eine ver t rau te Stimme.

Dennis sah auf.

Der alte Mann s tand am Anfang des Ganges. Die Augen waren bück-IBM* taj*' OauP

los, die Haut schmutzverkrustet ; das Haar zerzaust. „Mogar ist zornig", säg te Cal. Um ihn herum waber ten die Tentakel. Dennis ergriff die Gelegenheit, um Jane t s Fesseln durchzuschneiden.

„Geh raus", flüsterte er. „Sofort." Sie straffte die Schultern. „Ich geh nicht ohne dich." Dann war keine Zeit mehr zum Denken. Ein ohrenbetäubendes Brüllen

erhob sich. Die Tentakel schlugen wie Dreschflegel durch die Luft. Cal fiel vornüber auf den Boden.

Und dann erschien Mogar. „Meister!" rief Adrian. Jane t begann zu schreien.

Im Durchgang wa r ein einzelnes, riesiges, hervorquellendes Auge zu se­hen. Das Kratzen wurde lauter. Mit einem Ruck fuhr der Kopf in die Höhle.

Fassungslos s t a r r t e Dennis ihn an. Nicht einmal in den schlimmsten Alpträumen ha t t e er ihn sich so groß vorgestellt.

„Meister!" rief Adrian wieder. Dennis mußte alle Willenskraft aufbieten» um nicht ebenfalls auf die

Knie zu sinken. Mogars Stimme flüsterte in seinem Kopf: „Gib mir das Mädchen, Gib mir das Mädchen, und du wirst viel von mir bekommen. Wissen, h/lacht. . ."

Ein Bild nach dem anderen zog an Dennis' geistigem Auge vorbei. Bil­der von dem, w a s Mogar alles für ihn tun würde.

„Nein!" schrie Dennis laut. Der riesige Körper wälzte sich in die Höhle. Das Auge allein war so

groß wie Cal. Dieser ha t te sich wieder erhoben und s tand da wie eine

Dennis griff in seine Manteltasche und holte die e r s te Granate heraus. Er riß an der Zündung und zielte auf Mogar.

Die Granate prallte an der Membran des Auges ab. „Dummkopf, höhnte die Stimme in Dennis' Kopf. Die Tentakel begannen ihn zu umschlingen. Zunächst hackte Dennis

noch in wilder Verzweiflung danach, doch es waren zu viele. Sie waren zu stark, zu schnell. Er konnte sie nicht aufhalten.

„Cal!" rief er. „Cal, hilf mir!" Der alte Mann blinzelte. Dennis zog die zweite Granate aus der Jak-

kentasche. Ein Tentakel legte sich um seinen Arm. Die Granate fiel zu Bo-den.

„Reiß die Zündung!" schrie Dennis verzweifelt. Janet bückte sich nach der Granate. Sofort war sie von vier Tentakeln

umschlungen. Die Arme wurden an ihren Körper gepreßt. Dabei fiel ihr die Granate aus der Hand und rollte Cal direkt vor die Füße.

„Cal! Um Gottes willen,' hilf uns!" „Der Meister . . ." Cal blinzelte. „Der Meister . . ." Plötzlich schienen seine Augen klarer zu werden. Er richtete den Blick

auf die Granate. Dann bückte er sich, um sie aufzuheben. Im selben Au­genblick ließ das Ungeheuer von Dennis ab. Es zog die Tentakel zurück und schlang sie um Cal. Zu spät. Der alte Mann hatte die Zündung geris­sen.'Eine Sekunde, bevor ihm die Arme an die Seiten gepreßt wurden, war f er die Granate unter Mogars unförmigen Leib.

Dennis war te te verzweifelt. Nichts geschah. Die Stimme in seinem Kopf f lüsterte: „Dumm, so dumm. Wie kannst

du nur glauben . . ." Und dann brach die Hölle los. Die Granate explodierte. Die Höhle er­

bebte unter einem Schrei, wie Dennis in seinem ganzen Leben noch kei­nen gehört hatte. Er hatte das Gefühl, als würde ihm der Schädel zer­t rümmert . Mogar litt Qualen, und diese Qualen übertrug er auf Dennis.

„Meister!" schrie Adrian. „Meister! Meister!" Feuer breitete sich in der Höhle aus. Daß die vier Menschen noch leb­

ten» verdankten sie nur der Tatsache, daß die Granate unter Mogars Körper losgegangen war. Die Druckwelle hatte Cal gegen die Höhle­wand geschleudert, wo der er besinnungslos zusammengesackt war.

Tentakel zuckten und streckten sich nach allen Richtungen aus. Die Luft war erfüllt von unmenschlichem Geheul.

„Komm!" rief Dennis, „wir müssen hier raus." Er zog Janet vom Boden hoch und schob sie zum Höhlenausgang. Dann packte er Cal und zerrte auch diesen in Richtung Ausgang.

Das andere Ende der Höhle war inzwischen ein flammendes Inferno. Phosphor quoll unter Mogars Körper hervor. In der Mitte der Höhle stand Adrian und schrie immer nur: „Meister, Meister . . . "

Cal rappelte sich auf. „Ist gut, Junge. Ich bin wieder okay." Als Dennis sah, daß der alte Mann es allein zum Ausgang schaffen

würde, drehte er sich noch einmal um. Adrians Augen waren glasig. Für Dennis stand fest, daß er den Ver­

stand verloren hatte. Mit einem gezielten Faustschlag streckte Dennis Adrian zu Boden und zerrte ihn dann aus der Höhle. Auf der Lichtung kam Adrian wieder zu sich.

„Meister!" schrie er, schüttelte Dennis' Hände ab und stürzte in die Höhle zurück. Dennis wollte ihm schon nachlaufen, als ein letztes, ge-

waitiges Brüllen aus der Felsöffnung drang. Er hörte, wie Mogars riesi­ger Leib gegen die Höhlen wände krachte. Mit einem ohrenbetäubenden Donnern stürzte die Höhle in sich zusammen.

Es hatte aufgehört zu schneien. Dennis, Janet und Cal standen dicht bei­einander, um sich gegen den eisigen Wind zu schützen. Trotzdem zit­te r te sie vor Kälte.

Angstvoll starrten sie auf den verschütteten Höhleneingang. Wie mächtig war Mogar? Jeden Augenblick fürchteten sie, der häßliche Kopf könne durch den Fels brechen.

Doch Mogar war to t . Und ebenso Adrian. Dennis nahm Cals Arm. „Sind Sie okay?" Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht recht. Ich kann dir

nicht sagen, was passiert ist, nachdem diese Kreatur meine Farm zer­stör t hat," Dann wurde er blaß. „Das heißt, vielleicht könnte ich es, aber ich will nicht."

Offensichtlich stiegen in dem alten Mann Erinnerungen auf an etwas unvorstellbar Schreckliches. Kein Mensch sollte je damit konfrontiert werden.

Dennis zog Janet an sich. „Und wie ist es mit dir, Janet?" Sie legte ihm die Arme um den Hals. „In mir dreht sich noch alles, aber

das geht vorbei." Erschöpft lehnte sie den Kopf an seine Schulter. „Wahrscheinlich weißt du nicht, was es bedeutet, wenn einem jemand das Leben gerettet hat, oder?"

„Nein. Was denn?" „Das gerettete Leben gehört auf ewig dem Retter." Dennis schaute sie an. Um ihren Mund spielte das Grübchenlächeln,

das ihn vom ersten Augenblick an fasziniert hatte. „Einverstanden." Er drückte Janet noch enger an sich. „Einverstan­

den. So soll es sein."

E N D E -


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