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Das Subjekt in der messianischen Zeit

Date post: 07-Jul-2018
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  • 8/19/2019 Das Subjekt in der messianischen Zeit

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    Das Subjekt in der messianischen Zeit

    Erläuterungen und Vertiefungen aus und zu Agambens „Die Zeit, die bleibt “ 

    Chris Oliver Schulz,

    2016

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    INHALT 

    Vorwort 1

    Paulus, Apostel und Jesus Messias 4

    Teilung und Rest - außerordentliche Dialektik & operative Zeit 10

    Der Gebrauch der Sprache - nomos und pistis  16

    Bruch und Übergang, die Geste  18

    Symptome abendländischer Kultur 20

    „Von den Gesetzen“  24

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    Vorwort

    Giorgio Agambens homo sacer  Projekt erstreckt sich über viele Bücher, über viele Jahre und

    nur einige seien hier genannt: Ein wichtiges Werk stellt wohl Was von Auschwitz bleibt  (Quel

    che resta di Auschwitz. L’archivio  e il testimone) 

    dar, in dem u.a das Lager als Paradigmaabendländischer Kultur beschrieben wird. Richtungsweisend hierfür ist durchaus der erste Band

     Homo Sacer –  souveräne Macht und das nackte Leben (Homo Sacer: Il potere soverano e la

    vita nuda), welches in der Thematik der Biopolitik mündet.  Herrschaft und Herrlichkeit   ( Il

     Regno e la Gloria. Per una genealogia teologica dell’economia e del governo) befragt die

    Geschichte der christlichen Theologie, die Problematik von Sein und  Praxis, Herrschaft und

    Regierung(spraxis) und so kommt er zu den betriebswirtschaftlichen Wurzeln, die sich in

    christlicher Theologie finden ließen. Abseits von diesem Projekt finden sich viele Bücher,

     beispielsweise können die kurzen Essays in den Profanierungen ( Profanazioni) durchaus als

    Begleitwerk gelesen werden. 

    Hier nun wird vor allem  Die Zeit, die bleibt –  ein Kommentar zum Römerbrief (Il tempo che

    resta. Un commento alla Lettera ai romani) im Mittelpunkt stehen. Die Zeit, die bleibt  widmet

    sich der Figur des Paulus, seinen Briefen, der Frage nach dem Messianischen. Für Agamben ist

    Paulus relevant, da er wohl eine Art Schwellenfigur darstellt, ähnlich dem homo sacer , eine,

    die jeder (weltlichen) Bedeutung entzogen ist. Nur hier ist es Paulus selbst, der jene Aufhebungfordert oder ankündigt. Im Neuen Testament finden sich 14 Briefe die Paulus zugeschrieben

    werden und in 13 erscheint er auch selbst als Verfasser. Für Agamben finden sich in den Briefen

    Möglichkeiten, abendländische Kultur zu reflektieren und seine (inhaltsreiche) Art des

    Schreibens erinnert an diejenige Foucaults, so knüpft sein Schreiben an dessen an, vielmehr

    fügt es die Ebene der Religion hinzu. Das Thema der Religion/en ist ein komplexes und wie

    schnell klar wird, durchzogen von Problematiken der Übersetzung und Einbettung. An ein paar

    Beispielen werden diese verdeutlicht werden. Es wird vorwiegend Agambens Übersetzung

    (genauer: die seinigen, die wiederum ins Deutsche übertragen wurden) verwendet; die zentralen

    Passagen werden aus der Nestle-Aland Bibel zitiert, er bezieht sich auf die zuletzt 1962

    durchgesehene Ausgabe von 18981. Fallweise wird auf deutsche Übersetzungen der Luther

    Bibel und weitere zurückgegriffen, allerdings vor allem, um Vergleiche zu ermöglichen2.

    Manches Mal erscheint es auch fragwürdig, inwieweit Agamben Passagen aus der Bibel

    interpretiert und für Neulinge im Bereich der Bibelkunde ist es schwer, Kontexte zu verorten.

    Es wird hier nun aber Agambens Vorgehen Vertrauen geschenkt. Am Ende von  Die Zeit, die

    1 Die hier verwendete Edition (wenn nicht anders angemerkt) ist die 28., aus dem Jahr 20122 https://www.bibelwissenschaft.de/startseite/ und http://www.bibel-online.net/ 

    https://www.bibelwissenschaft.de/startseite/https://www.bibelwissenschaft.de/startseite/http://www.bibel-online.net/http://www.bibel-online.net/http://www.bibel-online.net/http://www.bibel-online.net/https://www.bibelwissenschaft.de/startseite/

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    bleibt   erklärt er seine Vorgehensweise, indem er einerseits betont, dass ein Zitat den

    ursprünglichen Kontext immer unterbricht: „Einen Text zitieren, schließt ein: seinen

    Zusammenhang unterbrechen“3. Gleichermaßen betont er aber den historischen Index, den

     jeder Text trage: Benjamins Prinzip „setzt voraus, daß jedes Werk und jeder Text einen

    historischen Index in sich tragen, der nicht nur ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Epoche

    anzeigt, sondern auch besagt, daß sie an einem bestimmten historischen Augenblick in diesem

    Sinn ihre Lesbarkeit erlangen“4. Es verbleibt nach der Lektüre ein Gefühl, das Thema nicht voll

    erschlossen zu haben, aber vielleicht geht es auch gerade nicht darum.

    Bei Paulus, dessen Figur in Die Zeit, die bleibt zentral ist, gebe es keine moralische Absicht5 

    und manche schlagen vor, zwischen der Erfahrungswelt einer urchristlichen und der der

    kirchlichen Gemeinschaft zu unterscheiden6. Für manche bedeutet Religion per se Aberglaube

    und Mythos, woran sich ein Fortschritt hin zum logos erstrecke7. Angesichts der Arten und

    Weisen, wie das Thema Religion oftmals verhandelt wird, ist es nun überaus wichtig, genau

    diese Vorurteile und Vorannahmen fallen zu lassen. Es wird sonst kaum möglich sein, ein

    Gefühl für diese Zeit, in der die Zeit knapp zu werden schien, zu bekommen; eine Zeit, in der

    es ebenso um Teilungen durch Gesetze geht, also auch um Teilungen des Subjekts (und dessen

    Verhältnis zu Welt), wie es heute (mehr denn je?) der Fall ist. Es erscheint naheliegend, dies

    auch in den Termen Symbolisches, Reales und Imaginäres zu denken und vielleicht anzudeuten,

    dass wir uns in unserer gesellschaftlichen Entwicklung weniger im Symbolischen, sondern eher

    im Imaginären befinden, trotz oder gerade aufgrund des Anspruchs des Fortschritts, der

    Wissenschaftlichkeit; denn was in Frage stehen wird, ist die Weise des Gebrauchs der Dinge,

    der Wissenschaft, der Gesetze, der Beziehungen, des Politischen. Dies wiederum führt zurück

    zu Agambens Form der fundamentalen Gesellschaftskritik, die das Projekt homo sacer  

    darstellen soll.

    Wie schon angedeutet, sind die Texte Paulus zentral und somit die Erfahrung des

    3 Giorgio Agamben, 2006: Die Zeit, die bleibt, S.154 (im Folgenden Die Zeit…) und W. Benjamin: GSII, 2, S. 5364 Ebd. S. 160 und W.Benjamin, GS V,1 S.578 „Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf dasGegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangne wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin dasGewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit andern Worten: Bild ist dieDialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche ist, istdie des Gewesenen zum Jetzt eine dialektische“5 Nach Harnack hätte erst die griechische Philosophie die christliche Religion dogmatisiert, nach Heidegger aberliege die eigentliche Problematik des Dogmas im Sinne der religiösen Explikation im Urchristentum vgl. GA 60,S.76 Vgl. z.B. Heidegger GA 60, S.76 und 79; Pierfrancesco Stagi (2009): S.228f; Benjamin GW II, S.132f7

     Vgl. Heidegger, der zu dieser Gegenüberstellung des Irrationalen und Rationalen schreibt: „Dieses Begriffspaarist völlig auszuschalten […] Alles, was man von dem für die Vernunft unauflöslichen Rest sagt, der bei allerReligion bestehen soll, ist lediglich ästhetisches Spiel mit unverstandenen Dingen“ GA 60, S.79 Außerdem liegtdiesem Gedanke die Idee der Linearität der Zeit zugrunde, welche inzwischen in Frage gestellt wird

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    Messianischen. „Die messianische Berufung ist die Widerrufung jeder Berufung“ 8  schreibt

    Agamben, sich beziehend auf 1 Kor, 7,29-329 und kommt so zu einem zentralen Begriffsgefüge:

     Als-ob-nicht | ὡς μὴ (hos me), das nicht, wie er betont, im Sinne Vaihingers (Als-ob) gelesen

    werden dürfe, sondern als eine Art Spannungserzeuger 10. Es baut sich eine Distanz zur Welt

    der Repräsentationen auf. Für Paulus liege hier der einzig mögliche Gebrauch weltlicher

    Zustände, der eine Enteignung darstelle, die keine neue Identität gründe (2 Kor 5,17)11. Die

    Paulinische klēsis ist vielmehr eine Theorie über die Beziehung zwischen dem Messianischen

    und dem Subjekt, die ein für allemal mit dessen Ansprüchen auf Identität und Eigentum

    abrechne und so ist auch in diesem Sinne das, was nicht ist ( ta me onta), stärker als das, was

    ist12. Nochmals werden die Richtungen dieser Arbeit deutlich: Identität, ebenso und somit die

    Beziehung des Menschen zu(r) Welt. Begriffe wie Gesetz, also das Verhältnis nomos und pistis 

    werden überaus wichtig werden. Es wird zunächst sinnvoll sein, einige Begriffe überhaupt zuerläutern, daher wird zu einem großen Teil das Buch selbst vorgestellt werden. Es soll so gut

    als möglich nachvollziehbar gemacht werden, wie und warum sich für ihn im Paulinischen

    Ansätze für eine fundamentale Kritik an unserer Gesellschaft finden lassen sollen und fruchtbar

    gemacht werden können. Ergibt sich mit Agamben die Möglichkeit, durch diese alten Passagen

    einen neuen Blick auf unser Heute zu werfen?

    8 Agamben: Die Zeit…, S. 349 Ebd., S. 34: 29 Τοῦτο δέ φημι, ἀδελφοί, ὁ καιρὸς συνεσταλμένος· τὸ λοιπόν, ἵνα καὶ οἱ ἔχοντες γυναῖκας ὡςμὴ ἔχοντες ὦσιν 30 καὶ οἱ κλαίοντες ὡς μὴ κλαίοντες καὶ οἱ χαίροντες ὡς μὴ χαίροντες καὶ οἱ ἀγοράζοντες ὡςμὴ κατέχοντες, 31 καὶ οἱ χρώμενοι τὸν κόσμον ὡς μὴ καταχρώμενοι· παράγει γὰρ τὸ σχῆμα τοῦ κόσμουτούτου. 32 Θέλω δὲ ὑμᾶς ἀμερίμνους εἶναι. ὁ ἄγαμος μεριμνᾷ τὰ τοῦ κυρίου, πῶς ἀρέσῃ τῷ κυρίῳ· Diedeutsche Fassung auf S. 5 hier im Text10 Vgl. Agamben, Die Zeit…, S. 35 und Heidegger GA 60 S. 121 11 Ebd. S. 3712 Vgl. ebd. S. 53

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    Paulus, Apostel und Jesus Messias

    Wohl endet Tod des Lebens Not,Doch schauert Leben vor dem Tod.Das Leben sieht die dunkle Hand,

    Den hellen Kelch nicht, den sie bot.

    So schauert vor der Lieb' ein Herz,Als wie von Untergang bedroht.

    Denn wo die Lieb' erwachet, stirbtDas Ich, der dunkele Despot.

    Du laß ihn sterben in der Nacht,Und atme frei im Morgenrot13 

    Worauf der Titel des Kapitels anspielt ist einerseits die Figur Paulus als Apostel selbst, der

    Begriff der Berufung und dessen Glauben, der sich im Begriffspaar Jesus Messias ausdrückt,

    denn Messias sei bei Paulus kein Prädikat, „und dies ist der Glaube des Paulus: eine Erfahrung

    des Seins jenseits sowohl der Existenz als auch der Essenz, jenseits sowohl des Subjekts als

    auch des Prädikats“14. Für Agamben ist diese Weise des Seins auch jene, die sich in der Liebe

    ereignet, denn sie knüpfe nicht an Prädikaten eines Subjekts an15. Die Welt des Glaubens sei

    keine Welt der Prädikate, der Existenzen und Essenzen, sondern eine Welt von untrennbaren

    Ereignissen, in der ich nicht urteile […] vielmehr werde ich verschoben und disloziert im

    Schnee-weiß-Sein und im Sonne-warm Sein, ebenso mit dem Messias, der in mir lebt16. Die

    Fragen, die Paulus angetrieben hätten, seien die nach der Struktur der messianischen Zeit, was

    es überhaupt bedeute  im  Messias zu leben und er befinde sich im Kampf einerseits die

    christliche Lebenserfahrung zu behaupten und so vielleicht ebenfalls mit sich selbst, denn in

    einer christlichen Erfahrung und Faktizität gebe es keinerlei Garanten für Sicherheit17. Der

    Begriff der Berufung (κλῆσις  | klēsis)  führt an diesen Punkt, der eine neue messianische

    Ordnung mit sich bringe, jedoch immer auch eine Aufhebung, im Sinne davon, dass die

    Seinsweise dieser Welt vergehe18. Relevant hierfür ist die Stelle 1 Kor 7,20-23:“Jeder bleibe in

    der Berufung, in die er berufen wurde. Als Sklave wurdest du berufen? Kümmere dich nicht

    darum! Aber auch wenn du frei werden kannst, brauche um so mehr! Denn wer im Herrn alsSklave berufen wurde, ist Freigelassener des Herrn. Ebenso ist, wer als Freier berufen wurde,

    13 Maulana Dschalal al-Din Mohammad Rumi: Aus Rumis Diwan:  Fünfzehnte Ghasele 14 Agamben: Die Zeit…, S. 143 15 „Die Liebe ist großmütig, die Liebe kann gebrauchen, sie ist nicht eifersüchtig, sie prahlt nicht, sie bläht sichnicht auf, sie ist nicht unanständig, sie sucht nicht das Eigene, sie wird nicht zornig, sie rechnet nicht das Böse,sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber mit der Wahrheit. Alles überdeckt sie, allesglaubt sie, alles hofft sie, alles erträgt sie“ (aus Hohelied der Liebe, 1 Kor 13, 4-7 Übersetzung von Agamben);16 Ebd. S. 144 Dies verweist auf eine Aufhebung von Subjekt-Objekt-Konstellationen und somit eine Aufhebungtotaler, souveräner Positionen („Ich“) und stellt somit eine Öffnung des Subjekts dar, für den Rest, für das

    Verdrängte, für das, was jenseits von Identität und Eigentum bleibt.17 Ebd., S. 105 und vgl. Heidegger: GA 60, S.7218 Vgl. Die Zeit…, S. 24 und 34f (parágei gar to schema tou kosmou toutou)

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    Sklave des Messias“19. Sklave bezeichne hier eine Verwandlung aller juristischen Zustände,

    (die politische Sphäre) „die deswegen nicht einfach abgeschafft werden“ und der messianische

    Ruf stelle das zentrale Ereignis für Paulus, sowie für die Menschheit dar 20. Scheinbar

    fälschlicherweise wurde in der κλῆσις der Moment einer Erwartung gedeutet, als bedeute die

    christliche Lebenserfahrung ein Warten-auf, worauf der Begriff der Eschatologie verweist,

     jedoch lehnen u.a. Agamben und Heidegger diese Lesart ab, wie sie beispielsweise auch bei

    Weber (1920) zu finden sei21. Hier zeigt sich ein Problem, Berufung im Sinne auf einen

    weltlichen Beruf zu lesen, es scheint einen Bedeutungsübergang von der religiösen Berufung

    zum Beruf (eine Verschiebung ins Weltliche, im Sinne einer Aneignung vielleicht) gegeben zu

    haben, für Agamben ist dies Resultat eines semantischen Verständnisproblems und er schlägt

    eine Deutung vor, die der oben angeführten nahekommt22. Es handelt sich also um keine

    eschatologische Indifferenz, die weltliche Berufung anzuerkennen, in Hinblick auf einkommendes Ende, sondern vielmehr um eine innere Verschiebung „jedes einzelnen weltlichen

    Zustands […] Die messianische Berufung hat keinen spezifischen Inhalt“, die Berufung im

     paulinischen Sinne beschreibe eine stillstehende Dialektik, sie könne sich also mit dem

    Rechtszustand „Beruf“ vermischen23. Jedoch handelt es immer gleichermaßen um eine

    Widerrufung, die Einwilligung in sie stelle gleichermaßen ihre Widerrufung dar 24.

    Agamben widmet sich auch einer Namensanalyse des Paulus, der zunächst Sha´ul, Saoulos (wie

    es in der Septuaginta geschrieben wird) hieß. Die Berufung scheint den Übernamen, das signum 

    Paulus in dem Moment einzuführen, in dem er die Berufung auf sich nehme: Saulos ho kai

     Paulos (Apostelgeschichte 13,9), das ho kai entspreche dem Lateinischen qui et   („der auch

    heißt“)25. Ferner stelle die Veränderung im Namen (Metonomasie) eine Bewegung vom Großen

    ins Kleinste dar, so sich Paulus auch selbst als den kleinsten der Apostel bezeichne (1 Kor

    15,9)26. Vielmehr realisiere die Metonomasie das Messianische Prinzip, „wonach in den Tagen

    19 Ebd. S. 24; Nestle Aland:20 ἕκαστος ἐν τῇ κλήσει ᾗ ἐκλήθη, ἐν ταύτῃ μενέτω. 21 δοῦλος ἐκλήθης, μή σοιμελέτω· ἀλλ’ εἰ καὶ δύνασαι ἐλεύθερος γενέσθαι, μᾶλλον χρῆσαι. 22 ὁ γὰρ ἐν κυρίῳ κληθεὶς δοῦλοςἀπελεύθερος κυρίου ἐστίν, ὁμοίως ὁ ἐλεύθερος κληθεὶς δοῦλός ἐστιν Χριστοῦ. 23 τιμῆς ἠγοράσθητε· μὴ γίνεσθε δοῦλοι ἀνθρώπων. 20 Vgl. ebd. S. 24f21 Vgl. ebd. S. 31, 34; Heidegger GA 60,S.115 (aus diesem „theoretisch-disziplinmäßigen“ Sinne sei Paulus nichtzu verstehen) und ebd. S. 114.Vgl. auch “ Klaus Koenen, Lexikoneintrag zu Eschatologie (AT) aufwww.Bibelwissenschaft.de, in dem der Moment des Wartens-auf artikuliert wird: Man erwartet nicht das Endeder Zeit, sondern eine Wende der Zeit, die zur Vollendung der Schöpfung führt; keine andere Welt, sonderndiese Welt anders“. Eschatologie: ta és-chata ‚die äußersten Dinge‘, ‚die letzten Dinge‘ und  lógos ‚Lehre‘ 22 Vgl. ebd. S. 3323 Vgl. ebda24 Vgl. ebd. S. 3425 Vgl. ebd., S. 18 und 2026 Vgl. ebd. S. 20

    http://www.bibelwissenschaft.de/http://www.bibelwissenschaft.de/

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    Was die Kaufenden als ob nicht Behaltende und die die Welt nutzenden als ob nicht Nutzende

     betrifft, handelt es sich für Agamben um einen Verweis auf die Definition von Eigentum

    (dominium) im römischen Recht, dem Paulus den messianischen usus gegenüberstelle und dies

    spielt wohl auf eine grundlegende Gegenüberstellung an, besitzen und gebrauchen, denn für

    Paulus, wie schon angedeutet, liege der einzig mögliche Gebrauch weltlicher Zustände nicht

    im Besitz und er bricht geradezu mit dieser Form der Ordnung, denn die messianische Berufung

    konstituiere weder Recht noch Identität, vielmehr sei sie allgemeine Potenz, die man gebrauche,

    ohne je Inhaber zu sein30. Eine Parallele findet sich bei Benjamin, für den der Kapitalismus „die

    Zelebrierung eines Kultes sans rêve et sans merci“ ist. „Es gibt da keinen ‚Wochentag‘, keinen

    Tag, der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pompes […] 

    wäre“31. Es findet sich sozusagen in kapitalistischen, oder auch neoliberalen Lebensformen

    keinen Rest, keinen Bruch, keine Leerstellen, alles befindet sich im Modus der Kapitalisierung,der Verzweckung32.

    Als Ergänzung zum Thema der Identität im Sinne des Eigentums, des Sich-Besitzens kann der

    Text das ‚spezielle‘ Sein gelesen werden, in dem die Begriffe speziell und persönlich verhandelt

    werden. Der Begriff species33 führt einerseits zur Unterteilung und Fixierung (z.B.  Ich), aber

    ebenso davon weg. Das Person-Sein fange die species ein und verankere es in einer Substanz,

    um eine Identifizierung möglich zu machen34. Ausgehend vom Begriff des Bildes, welches

     jeden Augenblick neu gezeugt werde, je nach Bewegung oder Anwesenheit dessen, der es

     betrachte und dessen Ausmaße nie messbar seien, sondern nur  dessen äußerer Schein, kommt

    Agamben zum Subjekt, denn was in einem Subjekt sei, habe die Form eines äußeren Scheins,

    einer Geste, es sei die  species eines Dings. Es ist nun der Ort des Spiegels, in dem uns klar

    werde, daß wir zwar ein Bild haben, aber gleichermaßen davon getrennt sind, vielmehr dass

    wir davon getrennt werden können und dass uns somit unsere species oder imago nicht gehört.

    Ein interessantes Beispiel ist vielleicht das Zuhören, denn wir tendieren dazu, „alles was wir

    hören, in Verbindung zu uns selbst zu hören“35. Das hängt mit dem Person-Sein zusammen

    (Identität), dem Sich-Besitzen, denn in dieser Art des Hörens versuchen wir uns mit der anderen

    30 Vgl. ebd. S. 37 31 Walter Benjamin, 1991[1921]: Kapitalismus als Religion, S. 10132 Das volle Ausmaß wird beispielsweise im Atlas der Globalisierung, 2015 deutlich, hg von le mondediplomatique33 Agamben, 2005: Das ‚spezielle‘ Sein in: Profanierungen, S.54f: Begriffsdefinitionen im Lauf der Zeit: Speciesim Sinne zunächst der mittelalterlichen Definition , intentio, also der Absicht eines jeden Wesens, sichmitzuteilen, das Begehren am eigenen Sein festzuhalten, („Im Bild fallen Sein und Begehren zusammen“), dasspezielle Sein dann im Sinne des Antlitzes der Menschheit. Dann s pecious als schön und später als unwahr,scheinbar; noch später dann Spezies als Prinzip einer Einordnung34 Agamben, 2005, S. 55 35 Bruce Fink, 2013: Grundlagen der psychoanalytischer Technik, S. 15

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    Person zu identifizieren, somit sei unsere Art zuzuhören zu einem Großteil auf uns selbst

    konzentriert und schließlich heißt das, dass wir die Andersheit des anderen übersehen oder gar

    zurückweisen36.

    Eine weitere interessante Parallele ergibt sich mit der Philosophie und Praxis des Yoga, die sich

    u.a. ebenso mit dem scheinbaren Wissen über Wesen befasst, denn es gehe um die Art von

    Wissen, „das kein richtiges Wissen ist“37. Die Normen von heute, die wir akzeptieren, seien

    lediglich die Handlungen von Gestern und diese verursachen eine Festlegung in unseren

    Handlungen. Diese Festlegungen (in unserem Handeln und  Wahrnehmen, genannt  संार   |

    saṃskāra) seien der Grund, weshalb unser Geist „wie von einem Film bedeckt wird“38.

    Agamben betont nun die Pause, die zwischen der Wahrnehmung und dem Erkennen des

    (eigenen) Bildes stattfindet, denn diese Pause bedeute, nicht mit seiner  species 

    zusammenzufallen, sie garantiert, sich verkennen zu können und eben dies öffne den Raum für

    Liebe39. Species also als das, was sich dem Blick anbiete und mitteile, als das, was sichtbar

    mache und aber auch dazu verleitet, in einer Substanz, einem spezifischen Unterschied fixiert

    zu sein. Genau das führe zur Konstruktion von Identität, wohl dazu zu meinen, Herr über seine

     species zu sein. Dieses Herr-sein-über bedeute schlicht „daß man nicht mehr lieben kann“40.

    Entscheidend bleibt, dass  speziell sein hier ein Wesen, ein Gesicht, eine Geste, ein Ereignis

    meine, das allen anderen ähnelt, indem es nicht einem ähnlich ist, denn letzteres verweise aufden persönlichen Besitz, Eigentum und Eifersucht41. Steht nun der Begriff des Seins gänzlich

    in Frage oder steht eine Forderung nach einem anderen Gebrauch im Raum?

    Das messianische Als-ob-nicht  ist anders als das Als-ob zu betrachten, es meint nicht, so zu tun

    als ob es Gott (der mich rettet) gäbe, Wissen um, oder eine Wahrheit, sondern zielt vielleicht

    vielmehr auf das eigentliche Wesen des Menschen, der „von sich aus nichts ist“ und gewöhnlich

    könne er nur sein, indem er so handele, als ob er etwas anderes wäre, „als er ist (oder besser,

    nicht ist)“42. Die Ankunft des Messias bedeutet(e), dass alle Dinge, also auch das Subjekt, vom

     Als-ob-nicht   eingenommen werden „und mit einer einzigen Geste zugleich berufen und

    widerrufen sind. Es gibt kein Subjekt mehr das schaut und das sich an einem gewissen Punkt

    dazu entscheiden könnte, so zu tun als ob  […] Die messianische Berufung disloziert und

    36 Ebd., S. 15f37 T.K.V. Desikachar, 2009: Yoga - Tradition und Erfahrung, S. 1838 Ebda.39 Vgl. Agamben, 2005, S. 53f

    40 Ebd. S. 54f41 Vgl. ebd., S.56f42 Vgl. Die Zeit…, S. 47f (Agamben bezieht sich hier u.a. auf Jules de Gaultiers Le Bovarisme)

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    annulliert zuallererst das Subjekt“ (Gal 2,20)43. Agamben vergleicht es mit Kafkas Von den

    Gleichnissen, in dem das Subjekt, das im Gleichnis bleiben will, verliere und wiederum jenes

    innerhalb der messianischen Berufung, das kein  Als-ob kenne , nicht mehr über Gleichnisse

    verfüge, denn es wisse, dass es nun wirklich in einer Welt ohne Gott leben muss und dass es

    dieses Ohne-Gott-Sein nicht verdecken dürfe44.

    Ein Gefühl völliger Aufhebung weltlicher Zustände verbleibt, die wiederum aber an der Welt

    anknüpfen, an einer anderen Welt. Wiederum scheint es so, dass wir heute völlig in einer Welt

    der Repräsentationen leben, in der gilt, was scheinbar ist, seien es Nationalitäten, oder die

    Repräsentationen und Identifizierungen der Geschlechter, oder der Klassen etc. Eine Ordnung

    vielmehr des Imaginären, als des Symbolischen45. Wobei selbst diese eine Struktur birgt, in der

    es nach wie vor um Bedeutungen und deren Repräsentationen geht und vielleicht kommt man,

    Paulus (oder Agambens Ausführungen) folgend, vielmehr zu einer Ordnung, die auf das Reale

    verweist?

    Heidegger schreibt von einer Aneignung des Vollzugsmäßigen, die Art des christlichen Lebens

    sei also nicht von weltlichen Verhältnissen und ihrem Inhalt bestimmt , sondern von der Art und

    Weise, in der sie erlebt und in ihrer eigenen Uneigentlichkeit angeeignet würden46. Dies

    verweist auch auf den Übergang der alten (weltliche Gebote und Gesetze) zur neuen Schöpfung,

    2 Kor 5,17„

    Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen,siehe,  Neues ist geworden“.  Wobei Paulus keine moralische Neuerung meine. Wie schon

    angedeutet, geht es um keine ethische Absicht, in der Paulus z.B. die alte Welt als moralisch

    verworfen ablehnen würde (wie ihn Nietzsche interpretierte, als einen des Ressentiments, der

    die Macht wolle, der die christliche Lebenspraxis mit einer moralischen Lehre überdeckt

    habe47). Die Verkündigung enthalte vielmehr eine kosmologische Absicht, eine eschatologische

    Umwandlung der Welt, die das Ende des anwesenden αἰών | aiōn fordere48. Es scheint geradezu

    eine revolutionäre Bewegung gewesen zu sein; es war die Zeit der Gebote (Moses) und der

    43 Ebd. S. 5344 Ebd. S. 5445 In einer symbolischen Ordnung ist niemand Inhaber einer Repräsentation, da sich diese in steterVerschiebung befinden, alles immer etwas anderes bedeuten kann (Grundzug, die die menschliche Sprache mitsich bringt). Eine paulinische symbolische Ordnung wäre jedoch nicht mehr binär strukturiert, denn dieseStruktur bringt das Entweder-Oder mit seinen Identifizierungen zum Vorschein, man ist z.B. entweder Frauoder Mann. Jedoch folgt man hier einer neurotischen Logik, vgl. Fink, 2013, S. 206. Eine messianische Ordnungnun Agamben interpretierend, setzt solche Strukturen außer Kraft. Das führt oftmals zu Diskussionen den‚Untergang der Zivilisation‘ betreffend, das erinnert an jene, die vom Untergang der Welt schrieben (vgl. hier S.6f)46

     Heidegger GA 60, S. 4547 Vgl. Stagi 2007: Der faktische Gott, S. 228 (siehe Nietzsche 1888, Der Antichrist, „Der frohen Botschaft  folgteauf dem Fuß die allerschlimmste, die des Paulus […]“) 48 Stagi, S. 227

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    folgenden Ankunft des Messias (Jesus), die Zeit der Juden und Nichtjuden, Griechen und/oder

    Heiden, also auch eine Zeit, in der die Völker geteilt waren.

    Am Rande: Die Thematik der Teilung (der Völker) führt im Grunde direkt in den Bereich der

    Ökonomie und es sei jene, die einen Diskurs der Moral produziere, den „der besten Teilung,

    Aufteilung, Verteilung“  und somit befindet man sich auch im Bereich des Besitzes und

    Besitzers, dem, der die Verfügungsgewalt innehabe49. Ähnliche Ansätze finden sich auch in

     Herrschaft und Herrlichkeit .

    Teilung und Rest - außerordentliche Dialektik & operative Zeit 

    Die Form der Zeit, um die es hier geht und in der ein Christ scheinbar verharren solle, ist eine

    Art Einschub, der sich, wie bei der Berufung, aufhebt, denn die christliche Lebenserfahrung

    lasse das Leben fließen, wolle vielmehr noch, diesen Fluss intensivieren50. So geht es hier also

    um kein Künftiges, das direkt erwartet werden könne, die Botschaft bringt kein Datum mit sich,

    keine weltlichen Koordinaten, denn eben diese sind ja in Aufhebung begriffen. Der technische

    Begriff für die messianische Zeit, die Jetztzeit, lautet en tō nyn kairō | τῷ  νῦν καιρῷ51. Diese

    Formulierung taucht auf in Röm 11, 1-26 und es sei jene Stelle, in der Paulus in die

    erschöpfende Teilung der Juden/Nichtjuden, Beschnittenen/Unbeschnittenen, von denen die

    einen im Gesetz seien, die anderen nicht, einen Rest (λεῖμμα | leimma) einführe, den Begriff

    des Nicht-Nichtjuden im Sinne einer Ausnahme52. Die Teilung, die Paulus zunächst vollzieht

    ist jene „nach dem Fleische ( sarx) und nach dem Hauch ( pneuma)“, sie zeuge davon, dass sich

    auch das Gesetz teile, „denn derjenige, der durch das Gesetz geteilt wird, sieht in seinen

    Gliedern ‚ein anderes Gesetz‘, das mit ‚dem Gesetz des Lebenshauchs‘ (Röm 7,23 ) im Streit

    liegt“53. Die Teilung zwischen Fleisch und Hauch unterwandert sozusagen die zwischen Juden

    und Nichtjuden.

    Ein kurzer Gedanke zu den politischen Implikationen, die die Teilung der Völker, in Völker

    49 Gerald Raunig, 2015: Dividuum, S. 31f (auch hier finden sich Verweise auf das römische Recht, die römischeRechtssprechung, vgl. S.7 hier)50 Stagi, S. 23451 En: inmitten, unter zwischen, in Gegenwart von / in, an, binnen, während, im Verlauf / vermittelst, durch tó:das, deshalb nýn: jetzt, soeben, nun, unter solchen Umständen .. / der jetzige, gegenwärtige / nun aber, so aberkairô: richtiges Maß, richtiges Verhältnis, rechter Zeitpunkt, günstiger Augenblick, passende Zeit, Zeit, (auchNutzen, Vorteil); Langenscheidt Wörterbuch, 199352 Agamben, Die Zeit…, S. 118 53 Ebd., S. 61f (verfolgt man diese Passagen in Röm, könnte man meinen, Paulus hadere mit dem Gesetz desGeistes und dem des Körpers, die sich widersprechen würden, jedoch als er darum bittet, ihn vom Dorn seines

    Fleisches zu befreien 2 Kor 12,9, wird ihm geantwortet hê gar dýnamis en astheneía teleítai ; „die Potenz wirdin der Schwäche vollendet“, S.155 Das macht vlt. nochmals deutlich, dass es sich hier um keine moralisierendeBotschaft im Sinne einer ‚guten Sitte‘, der Unterdrückung oder ähnlichem handelt.

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    mit sich bringt. Nationen repräsentieren ein vermeintlich Ganzes und für Agamben impliziert

    dies eine Fiktion, die darin bestehe „daß die Nativität unmittelbar Nation wird, so daß es

    zwischen den beiden Begriffen keinen Abstand geben kann“54. So stellt für ihn die historische

    Funktion der Erklärung der Menschenrechte im Eigentlichen die Einschreibung des natürlichen

    Lebens (Nativität) in die juridisch-politische Ordnung des Nationalstaates dar 55. Ein Gedanke,

    der die Brisanz und Aktualität des Paulinischen deutlich machen kann. Ähnliches lässt sich

    vielleicht über die Teilung hier nun sagen, die vom Messianischen unterwandert wurde und

    wieder einen Abstand zwischen/die Aufhebung von Nativität und Nation einführt.

    Zurück in die Zeit, die noch bleibt: Agamben schreibt von einer intuitionistischen Logik, die

    über die Opposition von A und Nicht-A hinausgeht, denn Paulus führe einen Rest56, im Sinne

    eines Dritten ein, „den man weder als jüdisch noch als nicht-jüdisch definieren kann, den Nicht-

     Nichtjuden. Als Beispiel dient Agamben hier die Geschichte vom Schnitt des Apelles. Hierbei

    gibt Protogenes eine so feine Linie vor, als das sie nicht von einem menschlichen Stift zu sein

    scheint, aber Apelles teilt sie wiederum in eine noch feinere Linie57. Ähnlich verhält es sich

    wohl mit dem Gesetz, das nicht von Menschen gemacht zu sein  scheint , aber nun doch

    nochmals geteilt wird und dadurch sozusagen relativ wird. Denn die Teilung, die die Gruppe

    der Juden bedingt, wird nochmals unterteilt in sichtbare (nach dem Fleisch) und unsichtbare

    (nach dem Hauch),  „Denn nicht alle aus Israel sind Israel“ (Röm 9,6) und somit wird die

    scheinbar erschöpfende Teilung der Mengen Juden und Nicht-Juden aufgehoben, da jene nun

    „nicht-alle“ seien58. Es bleibt also auf beiden Seiten ein Rest, „den man weder als jüdisch noch

    als nicht-jüdisch definieren kann, nämlich den Nicht-Nichtjuden, d.h. denjenigen, der im Gesetz

    des Messias lebt“59.

    Den Fond des Juden und des Griechen bildet nicht der universelle Mensch oder der Christ, weder als Prinzipnoch als Zweck: Es gibt da nur einen Rest, es gibt da nur die Unmöglichkeit für den Juden und den Griechen,mit sich selbst identisch zu sein. Die messianische Berufung trennt jede kl ḗ  sis von sich selbst, sie erzeugt inihr eine Spannung zu sich selbst, ohne ihr einen Identität zu geben: Jude als ob nicht  Jude, Grieche als ob

    nicht  Grieche

    60

    .Das alles bedeutet auch, dass man bei Paulus nicht von einem Universalismus im Sinne von

    54 Giorgio Agamben, 2015: Homo Sacer – Die souveräne Macht und das nackte Leben, S. 13755 Ebd., S. 13656 Vgl. Die Zeit…, S. 70: er verweist auch auf eine Analogie zwischen dem messianischen Rest und demmarxschen Begriff des Proletariat, welches nicht mit sich identisch sei und einen notwendigen Überschussbezüglich der staatlichen und sozialen Dialektik der Stände darstelle, da es „das Unrecht schlechthin erlittenhat“, ebenso denkt er an das, was Deleuze minoritäres Volk  nennt. Hieran anknüpfend lässt sich vielleicht auchvon jenen sprechen, die nicht domestiziert sind, nicht vergemeinschaftet leben, wobei dies nicht jedeMöglichkeit ihrer Verkettung diskreditieren müsse, vgl. Raunig, 2015, S. 10057

     Vgl. ebd., S. 6258 Vgl. ebd., S. 62f59 Ebd., S. 61 und 6360 Ebd., S. 65

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    einem höchsten Prinzip sprechen könne, dessen unterste Grenze das Individuelle darstelle, denn

    im Sinne des Messianischen gibt es „weder Anfang noch Ende: Es gibt da nur den Schnitt des

    Appelles, die Teilung der Teilung - und, dann, einen Rest“61. Auch Gott stellt nicht unbedingt

    das höchste (weltliche) Prinzip dar, denn das Leben des Menschen im Sinne des Als ob nicht  

    hieße auch, zu begreifen,

    daß er nun, mit den Worten Bonhoeffers, wirklich in einer Welt ohne Gott leben muß und daß er in keinerWeise dieses Ohne-Gott-Sein der Welt verdecken darf, daß der Gott, der ihn rettet, der Gott ist, der ihnverläßt, daß die Rettung vor den Repräsentationen (vor dem Als-ob) nicht beanspruchen darf, auch noch denSchein der Rettung zu retten. Das messianische Subjekt betrachtet die Welt nicht, als ob sie gerettet wäre.Vielmehr betrachtet es die Rettung, indem es sich - mit den Worten Benjamins - im Unrettbaren verliert. Sokompliziert ist die Erfahrung der kl ḗ  sis, so schwierig ist es, im Ruf zu verharren62.

    Kafkas Von den Gleichnissen dient, wie schon erläutert, Agamben zur Veranschaulichung63,

    oder weist die Richtung seiner Lesart. Er sieht im Paulinischen eine völlige Aufhebung von

    Subjektivität, auch im Sinne der Aufhebung eines Ich-bin. Vielleicht, so meine Annahme, liegt

    schon in diesem Ausspruch (Ich bin), oder vielmehr Anspruch der Schein des Als-ob, das sich

    der Forderung nach Aufhebung gegenübersieht,  Als ob nicht . Das  Ich bin  verweist auf ein

    Subjekt, das sich nicht verkennen kann. Hier liegt auch der Verweis auf die Sprache, in der die

     bedeutenden Dinge tatsächlich nur in der Sprache selbst liegen und in keiner Refrenz, also nicht

    mehr die Idee darunterliegt, auf Wirklichkeit, auf ‘ein Ding‘ selbst verweisen zu können, da es,

    so die Annahme, dieses Ding an sich, also auch Ich an sich, nicht gibt, diese Unterscheidung

    ist außer Kraft, da diese ebenso eine Zäsur à la A und Nicht-A ist, die jene überhaupt bedingt.

    Jahrhunderte später schreibt Kant64  an Hume anknüpfend, dass das  Ding an sich  für uns

    erkenntnistheoretisch nicht erreichbar ist, sondern nur im transzendentalen Sinne gebraucht

    werden kann. Mit Paulus stünde, so eine Annahme, die Weise dieses Gebrauchs in Frage. Oder

    anders: im Sinne einer Außer-Kraft-Setzung würde sich diese Frage nicht mehr stellen, würde

     bedeutungslos, da der aufgeteilte Raum, in dem sich nun Repräsentationen nach dem Muster

    der von z.B. Kant eingeführten Grenze ergeben und aufteilen, hinfällig ist.

    Die vollzogene Teilung der Teilung und der aus ihr hervorgehende messianische Rest bilden

    mit dem Ganzen eine, wie Agamben schreibt, außerordentliche Dialektik. Das Ganze ( pas,

     panta) sei bei Paulus der eigentliche Ausdruck für das eschatologische telos65, dann wäre da

    61 Ebd., S. 6662 Ebd., S. 5463 vgl. ebda., derjenige, der in der messianischen Berufung bleibt, kenne kein Als-ob, verfüge nicht mehr überGleichnisse64 Siehe z.B. Immanuel Kant: Prolegomena §13, Meiner Verlag 2001, S. 4965

     u.a. Ziel, Ausgang, Grenze, Vollendung. Taubes habe beobachtet, dass der 1. Korintherbrief wie eine Fuge(Flucht) um den Begriff pas gebaut sei, vgl. Die Zeit…, S. 68. Das verweist vielleicht auf einen anderen Gebrauchder Sprache, der sich sicherlich sehr vom heutigen unterscheidet. Vielleicht war der Abstand zur Sprache einviel größerer, während wir heute sozusagen tatsächlich ‚in der Sprache sind‘. 

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    der Teil (meros), „der die profane Welt, die Zeit unter dem Gesetz definiert“66. Dann gibt es

    noch den Rest, der weniger Gegenstand der Rettung sei, sondern vielmehr das, was sie möglich

    mache. Diese Rettung bezieht sich auf die geteilten Völker, auf Israel: die Verkleinerung

    Israels, die es als ‚Teil‘ und als Rest konfiguriere, habe sich über die Rettung der ethnê67 , der

     Nichtjuden, ereignet und gehe seiner Vollzahl als das Ganze voran, „da am Ende, wenn das

     plérôma68  der Völker eingetreten sein wird, ganz Israel gerettet werden wird“69. Agamben

    schließt, dass der Rest einen Überschuss des Ganzen gegenüber dem Teil und des Teils

    gegenüber dem Ganzen darstelle, „der wie eine sehr spezielle seteriologische Maschine

    funktioniert“70. Diese nun erläuterte „seteriologische Dialektik“ werde klar durch Röm 11,11-

    26, welche nun zitiert wird, um Agambens Vorgehensweise zu obigen Interpretationen und

    Schlüssen nachvollziehbarer zu machen oder vielmehr als einfache Demonstration seiner

    Lesart:

    11Ich sage nun: Nicht schwankten sie fielen? Nicht geschehe es! Aber durch ihren Fehltritt die Rettung [istgekommen zu] den Völkern, zum Eifersüchtig-Machen sie. 12Wenn dann der Fehltritt [der] Reichtum derWelt [war] und die Verminderung ihrer [der] Reichtum der Völker, um so mehr die Fülle ihrer. 13Euch dannsage ich den Völkern. Insofern also bin ich der Völker Gesandter, den Dienst meiner ehre ich, 14wenn icheifersüchtig machen werde meiner das Fleisch und retten werde einige von ihnen. 15Wenn denn dieVerlassenheit von ihnen Versöhnung der Welt [gewesen ist], was [wird sein][ihre] Aufnahme wenn nicht[das] Leben von [den] Toten? 16Wenn dann die Erstlingsgabe heilig [ist], [so] auch der Teig; und wenn dieWurzel heilig [ist], [so] auch die Zweige. 15Nicht nämlich will ich, [daß] ihr nicht wißt, Brüder, dasGeheimnis dieses, damit nicht ihr seid für euch selbst klug: daß Verhärtung zum Teil Israel widerfahren, bisdaß die Fülle der Völker eingetreten sei, 26und so ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht: Es wird

    kommen aus Zion der Rettende, er wird ausstoßen [die] Gottlosigkeiten aus Jakob71

     

    Der Rest kann ebenso in zeitlichen Dimensionen auftauchen und er existiert lediglich in der

    messianischen Zeit, und in der Jetztzeit, die einzig reale Zeit, gibt es nur den Rest. Sie steht der

    chronologischen, bürgerlichen Zeit gegenüber oder wird vielmehr von ihr durchzogen. Die

    messianische Zeit kann wie eine messianische Zäsur verstanden werden, im Sinne des Schnitts

    des Apelles, der „die Teilung der Zeit selbst teilt“72. Sie ist die operative Zeit, die in der

    chronologischen Zeit73 dränge, die diese im Innern bearbeite und verwandelt - in diesem Sinne:

    66 Ebd., S. 6867 Bezeichnet Nichtjuden, Ioudaíoi  die Juden. Das Konzept „Volk“ sei in der Bibel immer schon geteilt: am (Israel) und goj  (die gojim sind die anderen Völker); in der Septuaginta wird am mit laos und gojim mit ethnêübersetzt. Agamben merkt hier an, dass die Septuaginta nicht auf den griechischen Begriff demos für Volkzurückgreif e und das deutlich werde, dass der Begriff Volk immer schon geteilt sei und von „einem originärtheologisch-politischen Grabenbruch durchzogen wird“ S. 60 68 πλήρωμα: Erfüllung, Errichtung, Vollkommenheit, Fülle, Summe 69 Ebd. S. 6970 Ebda.71 Ebd., S. 188f (Anhang)72 Ebd., S. 7673 Diese folgt der Idee der Linearität von Zeit, sie kann als profane, oder bürgerliche Zeit definiert werden.Interessanterweise steht die Idee der Linearität der bürgerlichen Zeit in Frage, siehe dazu z.B. Vesselin Petkov,2013: From Illusions to Reality: Time, Spacetime and the Nature of Reality , S.13ff. Bergson kritisiert dieseVorstellung von Zeit ebenso, in z.B. Materie und Gedächtnis

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     Die Zeit, die uns bleibt , oder im Sinne Guillaumes: “die Zeit, die wir benötigen, um unsere

    Zeitdarstellung zu beenden, zu vollenden“ 74. Agamben unterscheidet die messianische Zeit als

     jene, „die wir selbst sind“ und die chronologische Zeit als jene, „in der  wir sind“75. Jene also

    der messianischen Zeit, seien nicht ohnmächtige Zuschauer ihrer selbst, da dieses Selbst bereits

    widerrufen ist, denn die messianische Zeit ist die des  Als-ob-nicht , die Zeit, in der wir nicht

    über Gleichnisse verfügen (müssen, wollen). „Der chronos ist das, in dem es kairós gibt, und

    der kairós  ist das, in dem es wenig chronos gibt“  lautet für Agamben eine gelungene

    Darstellung dieser Beziehung; kairós sei im Grunde ergriffener chronos76. Somit stelle

    wiederum die messianische Welt eben unsere profane Welt dar, mit einer kleinen Entstellung,

    einem kleinen Unterschied, dem „das ich meinen Bruch mit der chronologischen Zeit ergriffen

    habe77. Eine messianische Erfahrung verläuft zwischen einem Schon und einem Noch- nicht ,

    denn die Rettung (Jesus Ankunft und Auferstehung) sei schon vollendet, aber „gleichwohlimpliziert sie für ihre wirkliche Vollendung eine weitere Zeit“78. Der Begriff der Parousie |

    παρουσία ist hier zentral, die einerseits den Übergang von einem Zeitalter (Äon | αιών) zum

    nächsten markiere und somit aber der chronologischen Zeit hinzugefügt werden könnte (das

    wäre ein Beispiel für eine Bewegung des  Als-ob) und das erwartet werden kann, aber im

    messianischen Sinne ist sie vielmehr „die Zeit, die zwischen diesen beiden Zeiten“79 verläuft,

    die übrig bleibt und unaufhörlich die profane Zeit bearbeitet, um eine Öffnung zu ermöglichen.

    Verstehen lassen sich diese Bewegungen auch mit den Begriffen des Glatten und desGekerbten80. Der glatte Raum ist jener, in dem metrische Orientierungspunkte aufgehoben,

    sozusagen wiederrufen sind und im gekerbten Raum sind wir sesshaft, es ist ein begrenzter

    Raum, da das Glatte hier gekerbt ist, wie z.B. durch die chronologische Zeit. Die grundlegende

    Unterscheidung ist jene, das im Gekerbten die Linien den Punkten untergeordnet werden und

    im Glatten die Punkte den Linien, d.h. auch, dass man die beiden Begriffe nicht stringent in

    Opposition versetzen kann, da der eine immer den anderen bearbeitet. „Im gekerbten Raum

    wird eine Oberfläche geschlossen, und entsprechend den festgelegten Intervallen, nach den

    festgesetzten Einschnitten teilt man sie wieder auf“; beim Glatten wird man in  einem offenen

    74 Vgl. ebd. S. 81; die operative Zeit  im Sinne Gustave Guillaumes: Da wir über keine Anschauung der Zeitverfügen, greifen wir auf räumliche Konzeptionen zurück (Bild-Zeit), und die Zeit, die der Denkvorgang für diesebenötige, nennt er operative Zeit, die wiederum einen Abstand, eine Verspätung erzeuge. Genau dieserVorgang kann aber nicht wiedergegeben werden, taucht in keiner Darstellung des Denkens auf.75 Ebd., S. 8176 Ebd., S. 82f (die gelungene Darstellung entstammt dem Corpus Hippocratium)77 Ebda.78 Ebd., S. 8379

     Ebd., S. 7680 Gilles Deleuze und Felíx Guattari, 1992: Tausend Plateaus, S. 658ff

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    Raum verteilt“81. Dem glatten Raum kommt die Eigenschaft der Öffnung, der Offenheit zu,

    aber im Sinne der Umorganisation des Gekerbten. Es wird noch eine dritte Form von Raum

    genannt, der durchlöcherte Raum und vielleicht ist es jener, der hier am ehesten zur Debatte

    steht, wenn man das Messianische mehr als Loch-Machen versteht, das keine Umorganisation

    von Punkten und Linien hinterlässt. “Man sollte niemals glauben, daß ein glatter Raum genügt,

    um uns zu retten“82.

    Abschließend zu diesem Kapitel lässt sich nun noch(einmal) eine scheinbar gängige

    Verwechslung klären, Apostel und Visionär, Messianismus und Apokalypse: Häufig würde die

    messianische Zeit mit der eschatologischen verwechselt und somit die zusammengedrängte Zeit

    mit der des Endes83, denn den Apostel interessiere nicht der letzte Tag, sondern die Zeit, die

    zusammengedrängt sei und zu enden beginne84. Diese Missverständnisse scheinen neben

    grundlegenden Interpretations- und Übersetzungsproblemen auch mit dem der Modernisierung

    und Säkularisierung zusammenzufallen, vielleicht da hier eine religiöse Thematik eingeebnet

    wird („das Spezifisch Messianische wird undenkbar“) zugunsten eines weltlichen

    Verständnisses im Sinne einer Aneignung85, die wiederum einer Widerrufung, Aufhebung

    entgegenwirkt.

    81 Ebd., S. 66682 Ebd., S. 69383 Vgl. Die Zeit…, S. 84: „Das Ende der Zeit ist […] eine Bild-Zeit, die auf der homogenen Linie der Chronologieden letzten Punkt bezeichnet […] Kant muß an eine Zeit diese Art gedacht haben, als er in Das Ende der Zeit  voneiner widernatürlichen und verkehrten Konzeption vom Ende der Zeit sprach“.  84 Vgl. ebd., S. 7585 Vgl. ebd., S. 75f

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    Der Gebrauch der Sprache; nomos und pistis 

    Der Glaube sei zunächst oder vor allem in der Erfahrung eines Wortes (vgl. Röm 10,17 und 1

    Kor 14), aber welches ist das richtige Verhältnis zum Wort des Glaubens? To rêma tês písteôs86,

    siehe Röm 10, 6-1087

    . Dies ist ein Verweis auf den Gebrauch der Sprache, nah beim Wort bleiben, die Treue halten, Vertrauen; wie schon beschrieben, es handelt sich um eine

    Lebenswelt jenseits der Prädikate, der Existenzen und Essenzen, die vielleicht das Vertrauen

    im Sinne der Nähe zum Wort durchkreuzen, Hierarchien erzeugen und Gewissheit suggerieren.

    „Bei Paulus verläuft aber die Korrespondenz nicht zwischen verschiedenen Wörtern oder

    zwischen Wörtern und Fakten, sondern sozusagen im Wort selbst, zwischen Mund und Herz“88.

    Auch hier finden wir einen Bruch, ein Loch, das in die Sprache, vielmehr in den Gebrauch

    derselben gemacht wird, denn der denotative Charakter des Gesprochenen wird außer Kraft

    gesetzt. „Das Wort des Glaubens zu erfahren bedeutet daher nicht, den denotativen Charakter

    des Wortes, seine Referenz auf die Dinge zu erfahren“ und somit ist dies auch eine Erfahrung

    des freien Gebrauchs, „ohne sich im Dogma zu schließen“89. Genau diese Referenzen stehen

    im Allgemeinen in Frage, denn die Beziehung der Referenz (auch die Zeit ist eine Referenz) zu

    den Dingen überschreibt jene mit einer Form von Identität, überführt sie in den Bereich der

     Nutzbarmachung, der Aneignung. Das Sprechen, das verkündet, überführt diese Erfahrung ins

    Innere und rückt wiederum die Sprache nah an das Tun, dem Sprechen selbst, dass seine

    Legitimation nicht außerhalb, durch Referenzen auf was auch immer, finden kann, sondern nur

    in dem Moment des Sprechens selbst, insofern das „Wort nahe ist, daß es in der Korrespondenz

    zwischen Mund und Herz gespannt ist“90. Agamben geht mit seinen Gedanken in Richtung

    Linguistik, um eben diese zu verdeutlichen oder auch abzugrenzen und schreibt hier nun vom

    Perfomativen der Sprache im Sinne Austins, bei dem die Wertigkeit zwischen wahr und falsch

    außer Kraft gesetzt ist, da die Bedeutung einer Aussage mit der Realität zusammenfalle, im

    86

     To rêma (ῥῆμα: Wort, Ausdruck, Rede, Satz, Botschaft,..) tês písteôs [πίστις | pistis 

    ] Vertrauen, Glauben,Treue, Überzeugung, Gelöbnis, aber auch Kredit, Vertrag, Bündnis, Glaubwürdigkeit87 5 Μωϋσῆς γὰρ γράφει [ὅτι] τὴν δικαιοσύνην τὴν ἐκ (τοῦ) νόμου {ὅτι} ὁ ποιήσας {αὐτὰ} ἄνθρωπος ζήσεται ἐναὐτοῖς [bei Agamben αὐtῇ]. 6 ἡ δὲ ἐκ πίστεως δικαιοσύνη οὕτως λέγει· μὴ εἴπῃς ἐν τῇ καρδίᾳ σου· τίςἀναβήσεται εἰς τὸν οὐρανόν; τοῦτ’ ἔστιν Χριστὸν καταγαγεῖν· 7 ἤ· τίς καταβήσεται εἰς τὴν ἄβυσσον; τοῦτ’ἔστιν Χριστὸν ἐκ νεκρῶν ἀναγαγεῖν. 8 ἀλλὰ τί λέγει; ἐγγύς σου τὸ ῥῆμά ἐστιν ἐν τῷ στόματί σου καὶ ἐν τῇ καρδίᾳ σου, τοῦτ’ ἔστιν τὸ ῥῆμα τῆς πίστεως ὃ κηρύσσομεν. Die eckigen Klammern verweisen auf die Ausgabeim Anhang von die Die Zeit…, die mit {} markieren die Stellen, jene die ebenda ausgelassen sind, da NA 28 undAgambens Edition differieren. Nun seine Übersetzung, Anhang S.184f: 5 Moses nämlich schreibt, daß dieGerechtigkeit die aus [dem] Gesetz: Der gemacht habende Mensch wird leben in ihr. 6 Die aber aus [dem]Glauben Gerechtigkeit so sagt: Nicht sage in dem Herzen deiner: Wer wird steigen zu dem Himmel? Das ist,[den] Messias herabholen […Auslassung von mir] 8 Aber was sagt sie? Nahe bei dir das Wort ist, in dem Mund

    deiner und in dem Herzen deiner, das ist das Wort des Glaubens das wir verkünden88 Ebd., S. 145f89 Ebd., S. 146 und S. 15190 Ebda.

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    Aussprechen selbst, es stelle diese im Sprechen her 91. Jedoch wird er später schreiben, dass das

    Wort des Glaubens reine Potenz bleibe und weder „mit einer denotativen Proposition noch mit

    dem performativen Wert einer Äußerung zusammenfällt“92. Des Weiteren denkt er an Foucault

    und den Begriff des Geständnisses, die „Formen der Wahrsagung“, wobei nicht so sehr der

    Inhalt der Aussage wichtig sei, vielmehr das Aussprechen des Wahren selbst, das Subjekt binde

    sich an die eigene Wahrheit die „so seine Beziehung zu den anderen und zu sich selbst

    verändert“93. Agamben unterscheidet nun zwischen dem Performativen des Schwurs und dem

    der Buße, denn in dem Zwischenraum dieser beiden finde sich die messianische Erfahrung des

    Wortes, der Sprache. Das Wort des Glaubens gehe bei Paulus auf eine Ebene jenseits der

    denotativen Beziehung zwischen Sprache und Welt94,

    auf einen ursprünglicheren Rang des Wortes […] Jede Offenbarung ist immer zuallererst Offenbarung der

    Sprache selbst, Erfahrung eines reinen Ereignisses des Wortes, das jede Bedeutung überschreitet undgleichwohl von zwei entgegengesetzten Spannungen belebt ist: Die erste wird von Paulus nomos genannt.Der nomos versucht den Überschuß zu begrenzen, indem er ihn nach Vorschriften und semantischen Inhaltenartikuliert. Die zweite Spannung hingegen fällt mit der  pistis zusammen, und ist darauf gerichtet, denÜberschuß jenseits jeder bestimmten Bedeutung offenzuhalten95 

    So ist es das Messianische, das die im nomos übertragene Potenz in verbindliche Vorschriften

    und Verheißungen in Werke nicht einfach negiere, sondern sie de-aktiviere, unwirksam mache

    (katargéin) und sie der (reinen) Potenz in Form von Untätigkeit und Unwirksamkeit

    zurückgebe96. Laut Agamben beziehe sich der Begriff der katargéin auf ein hebräische Verb,

    das sich wiederum auf die Sabbatruhe bezog und dies sei kein Zufall, dass sich die

    Auswirkungen des Messianischen auf die Werke des Gesetzes in einem Verb mitklingen, das

    die Suspendierung der Werke am Sabbat bezeichne97. Dieses Untätig-sein-können  verläuft

    vielleicht parallel zum Sich-verkennen-können und so sind wir wieder auf einer Ebene jenseits

    der Ansprüche auf Identität und Eigentum, vielmehr nun auch jenseits von Tätigkeit und

    Wirken im Sinne der Zwecke und Mittel, die im alltäglichen Tätig-Sein implizit sind.

    91 Ebd., S. 14792 Ebd., S. 152 (Agamben bezieht sich auf einen Kommentar Origenes zu Röm 10,9f)93 Ebd., S. 14994 Interessant auch Agambens Gedanke, „daß die denotative Beziehung zwischen Sprache und Welt ganzeinfach das Resultat eines Bruchs mit der ursprünglich magisch-performativen Beziehung zwischen Wort undDing ist“, ebda. Dieser Bruch bringt ein Austrocknen, eine Erstarrung der Beziehung des Menschen zu sich undzu Welt mit sich, wie auf folgender Seite angeführt95 Ebd., S. 15096 Vgl. ebd., S. 111 und 1 Kor 15,24; Röm 10,4; 2 Kor 3,12-13 und vgl. S. 113 „Die messianische katárgêsis schafftnicht einfach ab, sondern bewahrt auf und vollendet“. Was hier angedeutet ist, ist das Spiel mit der Oppositionvon dýnamis und enérgeia, S. 110f und vgl 2 Kor 12,9 auf das hier nun nicht eingegangen wird97 Vgl. ebd., S.109f. und Röm 7,5f: „Denn als wir im Fleische waren, wirkten die Leidenschaften der Sünden, die

    durch das Gesetz sind, in unseren Gliedern, um dem Tode Frucht zu bringen. Jetzt aber sind wir von demGesetz losgemacht, da wir dem gestorben sind, in welchem wir festgehalten wurden, so daß wir dienen in demNeuen des Geistes und nicht in dem Alten des Buchstabens.

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     Nomos steht für die geschriebenen Gesetze, nomos stellt, allgemeiner formuliert, die Sphäre des

    A oder Nicht-A dar, die der Unter- und Einteilungen im Sinne der Idee der teilenden Ordnung.

    Für Agamben stellen die beiden Sphären98 in ihrem Wechselspiel ein fundamentales Verhältnis

    von Gesellschaft dar (man denke hier wieder an das Glatte und das Gekerbte), jedoch ist seine

    Aussicht pessimistisch, wenn auch realistisch:

    Wie die Geschichte der Kirche - aber auch der societas humana in ihrer Gesamtheit - deutlich zeigt, ist dieDialektik dieser beiden Erfahrungen des Wortes grundlegend. Wenn die zweite Art - wie es fatalerweisegeschieht und wie es heute wieder zu geschehen scheint - unwichtig wird und ausschließlich das Wort desnomos herrscht, wenn das perfomativum fidei gänzlich vom performativum sacramenti verdeckt wird, dannwird das Gesetz selbst starr, verkümmert die Beziehung unter den Menschen und verliert jede Gnade und

     jede Vitalität99.

    Bruch und Übergang, die Geste

    100  

    Die Menschheit hat ihre Gesten und alle Natürlichkeit verloren,

    im selben Moment versucht sie sie wieder einzufangen und bringt sie jedoch zum Erstarren

    101

    .

    Eine Geste sei etwas innerhalb der Sphäre des Tuns, wo nun aber unterschieden werden kann

    zwischen hervorbringen und ausführen; in einer Geste bringe man weder etwas hervor, noch

    führe man etwas aus, sondern man übernehme etwas und trage es und somit eröffne die Geste

    die Sphäre des ethos102. Relevant für Agamben ist, dass die Geste die falsche Alternative

    zwischen Mittel und Zweck unterwandere, da sie sich außerhalb der Mittelbarkeit und

    98 Hier sind nun eher zwei verschiedene Arten von nomos gemeint (denn die messianische Bewegung, wieschon gesagt, schafft das eine nicht einfach ab, sondern transformiert es durch Einführung von etwas gänzlichanderem, so muss nicht unbedingt, auch wenn es so scheint, von einer dritten Alternativen die Rede sein, denndieses Dritte würde sich wiederum von der Logik des nomos ableiten, sich daneben platzieren, anstatt derAußer-Kraft-Setzung, vgl. auch S. 108f: Das messianische Gesetz ist das Gesetz des Glaubens und nicht einfachdie Negation des Gesetzes, „es geht vielmehr darum, der normativen Vorstellung vom Gesetz mit einernichtnormativen Vorstellung zu begegnen“ 99 Ebd., S. 150f100 Illustration: Ausschnitt aus dem Film Course Jambes Seules; Étienne-Jules Marey 1893 101 Vgl. Giorgio Agamben, 2006: Mittel ohne Zweck, S.50 (Man denke nur an naturhistorische Museen, in denendas Leben seiner Vitalität beraubt ist, um in konservierter Form betrachtet werden zu können. Im Namen derWissenschaft, im Namen der Bildung sind die Dinge der Welt aufgereiht und aufgebahrt)102 Vgl. ebd., S. 53

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    Verzweckung bewege103. „Für ein Verständnis der Geste ist deshalb nichts irreführender als die

    Vorstellung einer Sphäre von Mitteln, die auf einen Zweck gerichtet sind (beispielsweise der

    Gang als Mittel, den Körper von A nach B zu verlagern) und daneben […] eine Sphäre der

    Geste als Bewegung, die ihren Zweck in sich selbst hat (zum Beispiel der Tanz als ästhetische

    Dimension)“104. Eine Aufhebung von Mittel und Zweck, eine Art Entzweckung erscheint

     befremdlich, sind diese Begriffe doch eng an den Menschen als handlungsfähig gebunden.

     Noch befremdlicher wird es, wenn man nun an die Sphäre der Sprache denkt und überlegt, wie

    ein Gebrauch von Sprache möglich sein könnte, jenseits der Konstellationen von Zweck und

    Mittel, Referenzen und dem Denotativen (ein Beispiel könnte das Gedicht sein, oder Gesang,

    in dem nicht mehr so sehr der gesungene Text selbst relevant ist, sondern der Moment des

    Singens selbst, die Bewegungen der Töne, die in einem Chor beispielsweise wie Wellen

    ineinander übergehen). In der Geste lebe eine reine Mittelbarkeit ohne Zweck und z.B. seien inder Pantomime die auf die vertrautesten Zwecke gerichteten Gesten dargestellt, blieben jedoch

    in der Schwebe einer reinen Mittelbarkeit (milieu pur )105. Am Rande ein anderer

    Gedankengang: Die Verfasstheit des Menschen im Rahmen der Begriffe Materie und Geist.

    Deren Zusammenspiel wurde bereits angedeutet. Sehr häufig sind es allein die Kategorien des

    Geistes, die jene der Materie (Körper) beurteilen (Nativität und Nation, z.B.), so kommt es,

    dass wir bei einer Bewegung von einem Vorankommen von A nach B sprechen, wobei wir

    mehr oder weniger unfähig sind, Bewegtheit als solche (als Geste) zu denken. „DieEinbildungskraft kann nicht umhin, die Ruhe für der Bewegtheit vorausliegend zu halten, weil

    wir es in der Praxis bevorzugend, stillstehende Gegenstände zu manipulieren“106. Die

    menschliche Psychophysiologie erkennen können, hieße im Gehirn, oder allgemeiner im

    Körper, Gedanken oder vielmehr Bewusstsein erfassen zu können. Folgt man Bergson würden

    wir bei der Erfahrung des Bewusstseins als solchem aber lediglich nur insofern aufgeklärt

    werden, wie wir es „über ein Theaterstück durch das Kommen und Gehen der Schauspieler auf

    der Bühne wären“107. Die Bewegungen der Schauspieler sagen also mehr oder weniger etwas

    über das Stück aus, meist sehr wenig, jedoch fast alles, wenn es sich um eine Pantomime

    handele108. Wieder wird deutlich, dass der Sphäre der reinen Mittelbarkeit, dem was aus ihr

    stammt, sozusagen kein Vertrauen geschenkt wird. Dominant ist eine Ordnung der Aneignung,

    der Mittel und Zwecke, der Blicke auf die Repräsentationen und dazu erdachten Referenzen.

    103 Vgl. ebd. S. 54104 Vgl. ebda.105 Vgl. ebd. S. 55106

     Henri Bergson, 2015[1896]: Materie und Gedächtnis, S. XXI (Vorwort Rémi Brague, vgl. S. 269 ebenda).107 Ebd. S. 8108 Vgl. ebd. S. 9

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    Menschen, viele Menschen, die zivilisierten Menschen, welche Zäsur man nun auch immer

    setzen will, sind, in diesem Sinne, kaum mehr fähig, sich zu verkennen und zwar zugunsten des

    Glaubens zu wissen. Um sich zu wissen, um die Dinge der Welt zu wissen. Ein Wortspiel, das

    auch darauf verweist, dass man vielleicht tatsächlich sagen kann, die Wissenschaft habe die

    Religion (im klerikalen Sinne) ersetzt .

    Symptome abendländischer Kultur; abschließende und offene Gedanken

     Nun noch einige Überlegungen, die zugegeben, knapp ausgeführt sein werden. Gesetze haben

    die Funktion zu teilen und zu trennen109 und nun lässt sich hier ein anderes Zitat anfügen, denn

    wiederum sei das Prinzip der Teilung und Trennung der Kern der Zwangsneurose110. Es wird

    nun keine klinische Untersuchung folgen, diese Anmerkungen sollen lediglich die Verbindung

    zwischen phantasmatischer Struktur des Subjekts und der der Formation von Gesetzen

    andeuten, die also weniger mit der ‚der‘ Ordnung im Sinne einer scheinbaren alternativlosen

     Notwendigkeit zu tun haben. Noch offen ist die Frage nach dem Verweis des Messianischen

    auf eine reale oder symbolische Ordnung. Wie schon angedeutet, müsste das Symbolische

    umdefiniert werden, wenn es nicht als Option in diesem Kontext nun hinfällig ist, denn es gilt

    zumeist als das, was einen Menschen formt, ihn in gesellschaftlich vorgegebene Bahnen

    lenke111. Jedoch impliziert das Symbolische immer schon einen Rest, genauer „die Gegenwart

    des Realen“, also jene Dinge, die sich einer Symbolisierung entziehen112

    . Das Imaginärewiederum gilt den Objekten: imaginären Objekte wie z.B. das Ich. Das daraus folgende

    Selbstbild und die Beziehungen, die zwischen Menschen verlaufen, seien eher im Imaginären

    angesiedelt, zwischen „Ichs“ und zwar anhand der Teilung in gleich oder verschieden. Gerade

    aber diese Teilung impliziere immer schon symbolische Momente (Nationen, Eltern,

    Generationen, etc.)113 und so kann man unsere Form von Kultur, in der sich Menschen, etwas

    überspitzt formuliert, lediglich entlang der Raster Alter, Klasse, Geschlecht, etc. begegnen, als

    imaginär-symbolische Struktur denken und vielleicht sind es die Formen des Imaginären, diedie des Symbolischen überdecken.  Allerdings ist das Imaginäre das notwendige Dritte, das

    Reales und Symbolisches überhaupt zusammenhalte114, insofern bedingen sich alle drei

    Register und die Frage nach dem Verweis auf das eine oder andere Register ist im Grunde

    hinfällig. Wie schon angemerkt, müsste man das Symbolische in seiner Struktur verändern, um

    109 Vgl. Agamben, Die Zeit…, S. 59 110 vgl. Chasseguet-Smirgel, 1989, S. 174111 Fink, S. 83 er betont hier allerdings, einer freudianischen Interpretation im Sinne des sog. Realitätsprinzips

    Vorzug zu leisten112 Ebd., S. 47 und 54113 Ebd., S. 114114 Vgl. Jacques Lacan Seminar XXII, RSI, S. 6 (private Übersetzung von

     

    Max Kleiner, Lacan Archiv Bregenz)

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    es als Boden für die messianische klēsis denken zu können. Durch die Aufhebung der Identität

     beispielsweise wird jedoch fraglich, inwieweit die Idee, den Menschen anhand von den drei

    Registern zu denken, überhaupt noch relevant sein würde (da diese Register in Summe Identität

    stiften). Eine Frage, vielleicht ähnlich der, was nach der Neurose kommen mag, jenseits dieser

    Verfasstheit, mit ihrer Entweder-Oder Logik, Teilungen und Gesetzen.

    Zum Thema ‚der Religion‘ aus psychoanalytischer Sicht lässt sich etwas mehr sagen.

    Manchmal wird davon ausgegangen, dass in der Religion das verdeckt würde, was nicht gehe.

    Sie sei etwas, das leugne, dass es keinen personalen Anderen gäbe. Religion könne so aber auch

    als Symptom betrachtet werden115. Wie inzwischen hoffentlich dargelegt, teilt uns Paulus das

    Gegenteil von dem hier nun Angenommenen mit, wenn Sie sich erinnern, dass Gott - sozusagen

    im weltlichen Sinne - tot ist, das wir ohne ihn auf dieser Welt sind und dieses Ohne-Gott-Sein

    nicht verschleiern dürfen. Man denke hier an Nietzsches „Gott ist tot“116. Dessen Aussage

    allerdings nicht zwangsläufig eine „Formel des Unglaubens“ umfasse, sondern vielmehr eine

    „Besinnung, die dem nachdenk t, was mit der Wahrheit der übersinnlichen Welt und mit ihrem

    Verhältnis zum Wesen des Menschen schon geschehen ist“117. Jedoch ist dieses

    ‚ Nietzschewort‘ etwas, das oftmals als Atheismus im Sinne der Aufklärung per se gedeutet

    wurde und wird. Jedoch stellt sich hier wieder die Frage nach dem Gebrauch der Dinge. Solche

    Interpretationen verweisen auf eine gewisse Ideologie, vermeintliche Aufklärung und die oft

    damit verbundenen vulgäratheistischen Formationen, die, so nun die Behauptung, Nietzsches

    Aussagen für sich verzwecken118. Nietzsches Kritik an der Moral, die er am aufkeimenden

    Christentum festmacht, lässt sich durchaus aufrechthalten, wenn man den Begriff Christentum

    nicht derart allgemein fasst119. Raunig liest die Entwicklung des Christentums im ‚üblichen‘

    Sinne, wenn er den Übergang des Alten Testaments mit der Ankunft Jesu als Erfüllung der

    115 Vgl. Ulrike Schneider-Harpprecht, 2000: Mit Symptomen leben: eine andere Perspektive der PsychoanalyseJacques Lacans - mit Blick auf Theologie und Kirche, S.84f und Jacques Lacans Vortrag (1974): Der Triumph der

    Religion (erschienen bei Turia + Kant), wie der Titel anmutet, gesteht Lacan der Religion die Bildung einesSymptoms im Grunde zu, eine Bildung also, die ein Subjekt überhaupt lebensfähig macht, jedoch so Crockett,triumphiere die Religion auch über das ‚Liberale‘ im Sinne der Aufklärung und es sei ein Zeichen für LacansPessimismus. Crockett verwendet Religion und Theologie synonym wie es scheint, unterscheidet jedochTheologie als Ideologie davon und es sei letztere, die triumphiere (vgl. Clayton Crockett, 2015: The Triumph ofTheology, S. 250f). Damit wären wir wieder im Bereich des Gebrauchs der Dinge116„Gott ist tot“ meine wohl vor allem die abendländische (platonische) Metaphysik, so Heidegger: „dieübersinnliche Welt ist ohne wirkende Kraft. Sie spendet kein Leben […] Der Nihilismus, ‚unheimlichster allerGäste‘, steht vor der Tür“ (GA V, S. 217) 117 Ebd., S. 219118 Interessant auch eine Überlegung Crocketts, 2015, S. 258 „because the acknowledgment that God isunconscious here means that atheism itself is jouis-sans, without joy“ 119

     Sicherlich gibt es Menschen, die sich Christen nennen, z.B. an eine weltlicheklēsis

     glauben und diewiederum die Völker sozusagen geteilt denken, in die der Christen und die der Nicht-Christen, oder man denkean die Vergangenheit der Kirche, den Zwang zu Glauben, usw. Jedoch fällt all dies in den Bereich derVerzweckung, der hier durchwegs in Kritik steht.

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    (alten) Gebote liest, er schreibt auch von einem Neubeginn, jedoch nicht von einer Außer-Kraft-

    Setzung dieser, vielmehr sieht er im Neubeginn eine radikale Zuspitzung der alten Ordnung120.

    Ein Problem ist vielleicht die Lesart: es ist ein Ich, das jene Stellen liest, sie quasi wörtlich

    nimmt und einen womöglich anderen, historischen Index, der auf einen völlig anderen

    Gebrauch verweist, außer Acht lässt. Der Kern seiner Kritik läuft auf die Logik des

    Bekenntnisses, der Beichte hinaus und deutet darin einerseits den Moment der Unterwerfung,

    mit dem aber ebenso eine Selbsterhöhung einhergehe. Dies sei erklärbar durch eine Tendenz,

    das Begehren des Subjekts zur Selbstzerteilung, da es sich so als Individuum angerufen fühle121.

    Es ist Nietzsche, für den Moral die Selbstzerteilung des Menschen ist und sicherlich hatte er

    nicht unrecht, jedoch lässt sich die Tendenz zur Teilung, wie schon angedeutet, vielmehr mit

    Ökonomie und dem (staatlichen) Recht in Verbindung bringen und Moral schlussendlich mit

    diesen Diskursen in Verbindung setzen. In Menschliches, Allzumenschliches zeigt sich der Kernin Nietzsches Kritik, der „den moralischen Menschen allzu menschlich als immer

    gleichbleibendes, sichres Maß der Dinge ins Zentrum stellt“122. Eine fundamentale Kritik an

    dem, was wir heute Anthropozentrismus nennen. Sind genau jene Dinge, die diesen Zentrismus

     bedingen im Messianischen nicht aufgehoben, außer Kraft gesetzt?

     Nun noch zurück zu den begonnenen Gedanken zur Religion als Symptom: Wenn man nun den

    Blickwinkel hinsichtlich der Annahme ‚Gott als imaginäre Funktion‘, geradezu als Vaterfigur

    etwas dreht, kann man an Freuds Totem und Tabu  denken, in dem er den sogen.

    Urhordenmythos präsentiert, in dem es der Vater der Horde war, der sterben musste, damit

    Raum für etwas Symbolisches entstehen konnte. Denn die Söhne (allgemeiner gesprochen: Die

    Kinder, die Nachkommenschaft) sind es nun, die eine Art Bündnis (symbolisch) eingehen

    müssen, da der Vater, als Dreh- und Angelpunkt und absoluter Eigentümer, als alleiniger

    Verwalter, tot ist. Im Grunde ein entscheidender Gedanke, der oftmals, so meine Behauptung,

    verfehlt wird, wenn von Seiten der PsychoanalytikerInnen die Notwendigkeit des Namen-des

    Vaters123, dessen Installation gefordert wird (es liegt hier eigentlich ein Verweis auf eine

    imaginäre Funktion, sie sich im Symbolischen realisieren soll, die Löcher des Realen im

    Symbolischen sozusagen auffüllen soll und wird vielleicht dann als symbolische Funktion

    interpretiert, oder imaginiert). Selbst wenn es sich hierbei um eine strukturelle Funktion

    handelt, die eine symbiotische, mehr oder weniger reale Verbindung aufteilen soll (Triade), ist

    120 Raunig, 2015, S. 107121 Ebd., S. 108, 115122 Ebd., S. 108, Nietzsche, MA, I.1.2123 Ich denke vor allem an die Diskussionen um die „vaterlose Gesellschaft“ und die damit verbundenen Sorgenum die Zivilisation.

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    hier dennoch meist eine Personifizierung im Spiel, es ist ein Vater gemeint und man möchte

    ihnen geradezu antworten: Der Vater und dessen Funktion als aufteilendes Element im Sinne

    einer oikonomia, sie ist schon lange nicht mehr, war es sozusagen nie. Es sind insofern jene,

    die das verdecken, was nicht geht und verweisen im Grunde auf ihre eigene Struktur, denn

    Lacans These „lautete nicht, dass es Symptome gibt trotz des „guten“ Gesetzes NdV  [Namen

    des Vaters], sondern das der NdV selbst nur ein mögliches Symptom unter anderen in der Wahl

    des Neurotikers ist“124. Ein Gedanke aus einer anderen Ecke führt den Begriff der Identität mit

    dem des Vaters und dessen Stammlinie nahe, denn die „Frage nach dem Gesicht hinter den

    Masken, nach der Identität hinter den vielen Schichten ist eine Wiederholung des Begehrens

    nach dem Vater hinter dem Sohn“125. Im Grunde sehr ähnliche Debatten um die Funktion des

    Vaters kennen wir aus bereits vergangenen Jahrhunderten.

    All diese Bedenken und Fragen nach der Gesellschaft, nach den Frauen und Männern, nach den

    In- und Ausländern, nach der Wissenschaft, der Religion, nach dem Individuellen, nach der

    Zivilisation, nach der Kultur und was diese alles mit sich bringen mag, diese Fragen stellen sich

    nun überhaupt nicht mehr, folgt man dem, was hier als Messianisches vorgestellt wurde. Denn

    all diese Fragen, die damit folgenden Identifizierungen, Zäsuren und Behauptungen verweisen

    auf ein ‚falsches Wissen‘, das sich im Grunde im nur Scheinbaren ansiedelt.

    Abschließend sei nun noch eine Passage aus Gibrans „Der Prophet“  zitiert, welche

    möglicherweise einen Eindruck zum Thema des Gesetzes, im Sinne des nomos und der pistis 

    vermittelt und der Beziehung der Menschen dazu.

    124 Gen. Morel, 2007: Das Symptom, das Phantasma und die Pathologien des Gesetzes, S. 65 und z.B. J. LacanSeminar XXII, Sitzung vom 11. Februar, 1978125 Raunig, 2015, S. 14 (der Begriff Vater kann im Sinne irgendeiner vermeintlichen Autorität gelesen werden,

    dem Element, welches verwaltet und besitzt. Raunig verweist hier auf den in seiner Lesart impliziten Anspruch,ohne Anfang zu sein, im Sinne einer natürliche Autorität, anarchos und dieser Anspruch knüpft an die Berufungauf Stammlinien an)

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    Von den Gesetzen 

    Dann sagte ein Rechtsgelehrter: Aber wie ist es mit unseren Gesetzen, Meister?

    Und er antwortete: Es freut euch, Gesetze zu erlassen,

    Doch mehr freut es euch, sie zu brechen. Wie Kinder, die am Meer spielen und mit Ausdauer

    Sandburgen bauen um sie dann lachend zu zerstören.Aber während ihr eure Sandburgen baut, bringt der Ozean mehr Sand an den Strand,

    Und wenn ihr sie zerstört, lacht der Ozean mit euch.

    Wahrhaftig, der Ozean lacht immer mit den Unschuldigen.

    Aber was ist mit jenen, für die das Leben kein Ozean ist

    und für die von Menschen gemachte Gesetze keine Sandburgen sind,

    Sondern für die das Leben ein Fels ist und das Gesetz ein Meißel, mit dem sie es gern nach ihrem

    Ebenbild formen möchten? Was mit dem Krüppel, der die Tänzer hasst? Was mit dem Ochsen, der

    sein Joch liebt und den Elch und das Wild des Waldes für streunende und heimatlose Wesen hält? Wasmit der alten Schlange, die ihre Haut nicht abstreifen kann und alle anderen nackt und schamlos

    nennt? Und was mit dem, der früh zum Hochzeitsfest kommt und dann übersättigt und müde seines

    Weges geht und sagt, dass alle Feste Gesetzesübertretungen seien und alle Feiernden Gesetzesbrecher?

    Was soll ich von jenen sagen, außer dass auch sie im Sonnenlicht stehen, aber mit dem Rücken zu

    Sonne?

    Sie sehen nur ihre Schatten, und ihre Schatten sind ihre Gesetze.

    Und was ist ihnen die Sonne anderes als etwas, das Schatten wirft?

    Und was heißt, die Gesetze anzuerkennen anderes als sich zu bücken und ihre Schatten auf der Erde

    nachzuzeichnen? Aber ihr, die ihr mit dem Angesicht zur Sonne geht,

    welche auf die Erde gezeichneten Bilder können euch halten?

    Ihr, die mit dem Wind reist, welcher Wetterhahn soll für euch den Weg weisen?

    Welches Menschengesetz soll euch binden, wenn ihr euer Joch zerbrecht, aber an niemandes

    Gefängnistür rüttelt? Welche Gesetze sollt ihr fürchten, wenn ihr tanzt, aber über niemandes eiserne

    Ketten stolpert? Und wer soll euch vor Gericht stellen, wenn ihr euer Gewand herunterreißt, aber es

    niemanden an den Weg legt?

    Leute von Orphales, ihr könnt die Trommel dämpfen und die Saiten der Leier lockern, doch wer soll

    der Lerche befehlen, nicht zu singen?126 

    126 Khalil Gibran, 2003 [1923]: Der Prophet, S. 44f

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    Literaturverzeichnis

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     Real , James Clarke & Co, 2015

    Bruce Fink: Grundlagen in der psychoanalytischen Technik, Verlag Turia + Kant, Wien, 2015

    Maulana Dschalal al-Din Mohammad Rumi: Aus Rumis Diwan,http://gutenberg.spiegel.de/buch/aus-rumis-diwan-6829/1 zuletzt abgerufen am 6.02.2016

    Geneviève Morel: Das Symptom, das Phantasma und die Pathologien des Gesetzes, in: RISSZeitschrift für Psychoanalyse. Freud Lacan, Nr. 65, Klinische Strukturen, Verlag Turia +Kant, Wien, 2007

    Gerald Raunig: Dividuum, transversal texts, Wien, Linz, 2015

    Gilles Deleuze und Felíx Guattari: Tausend Plateaus - Kapitalismus und Schizophrenie,

    Merve Verlag, Berlin, 1992

    Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt - Ein Kommentar zum Römerbrief, Suhrkamp Verlag,Frankfurt a.M. 2006

    Giorgio Agamben: Homo Sacer - die souveräne Macht und das nackte Leben, SuhrkampVerlag, Frankfurt a.M., 2015

    Giorgio Agamben: Mittel ohne Zweck, Diaphanes Verlag, Zürich, 2006

    Giorgio Agamben: Profanierungen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 2007

    Jacques Lacan: Seminar XXII, RSI, private Übersetzung von Max Kleiner, Lacan ArchivBregenz

    Janine Chasseguet-Smirgel: Anatomie der menschlichen Perversion, Deutsche VerlagsAnstalt, Stuttgart, 1989

    Khalil Gibran: Der Prophet, Patmos Verlag, Ostfildern, 2003

    Langenscheidt Wörterbuch, Hermann Menge, unter Berücksichtigung des NT überarbeitete

    Ausgabe von K.H. Schäfer und B. Zimmermann, 1993Martin Heidegger: Holzwege, Gesamtausgabe V, 1935 – 1946, Vittorio Klostermann,Frankfurt a.M., 1994

    Martin Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens, Gesamtausgabe II. Abteilung:Vorlesungen 1919 –  1944, Band 60, Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M., 1995

    Pierfrancesco Stagi: Der faktische Gott, Verlag Königshausen & Neumann, 2007

    T.K.V. Desikachar: Yoga - Tradition und Erfahrung, Die Praxis des Yoga nach dem Sutra desPatañjali, Verlag Via Nova, Petersberg, 2009

    Ulrike Schneider-Harpprecht: Mit Symptomen leben: eine andere Perspektive derPsychoanalyse Jacques Lacans - mit Blick auf Theologie und Kirche, Lit Verlag, Münster,2000

    http://gutenberg.spiegel.de/buch/aus-rumis-diwan-6829/1http://gutenberg.spiegel.de/buch/aus-rumis-diwan-6829/1http://gutenberg.spiegel.de/buch/aus-rumis-diwan-6829/1

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    Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion [Fragment], in: Gesammelte Schriften, Bd. VIHrsg.: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991


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