Das SEO-Konzept als Grundlage einer bedarfsorientierten
Behandlung und BetreuungFachtagung „Teilhabe – bedingungslos?“,
Potsdam, 04.05.2018
Andrea Majdandzic Rehabilitationspädagogin M.A.
Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und PsychosomatikBerliner Behandlungszentrum für Menschen mit geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung
Evangelisches KrankenhausKönigin Elisabeth Herzberge
gGmbH
Menschen mit IM
Körperliche Entwicklung
KognitiveEntwicklung
EmotionaleEntwicklung
Emotionale Entwicklung ist abhängig von:
1. Neurobilogie (biologische Reifung des Gehirns àWeiterentwicklung psychischer Funktionen)
2. Umgebungsfaktoren (wechselseitige Interaktions– und Lernprozesse im sozialen Kontext à Ausdifferenzierung)
Diagnostische Abklärung von Verhaltensstörungen
Verhaltensauffälligkeit, Problemverhalten; Herausforderndes Verhalten,
z.B. Aggression
Körperliche Erkrankung?z.B. Epilepsie, Gastritis.
Wenn nein, dann:
Psychische Störung?z.B. Depression, Schizophrenie.
Wenn nein, dann:
Verhaltensstörung F7x.1
Intelligenz-minderung?z.B. kognitive
Über- oder Unter-
forderung
Emotionale Entwicklungs-
störung?z.B.
Verzögerung, unebenes Profil
Tiefgreifende Entwicklungs-
störung?z.B. Autismus
Verhaltens-phänotyp?
z.B. genetisches Syndrom
Soziales Problem?
z.B. Arbeitsplatz-verlust,
umfeldassoziiert
Emotionale Entwicklung
• Neugeborene: undifferenzierte, positive oder negative Emotionen (Erregung/Entspannung)
• 2. Lebensmonat: soziales Lächeln
• 1. Lebensjahr: Ausbildung von Basisemotionen (Ärger, Angst, Trauer, Freude)
• 2. Lebensjahr: Eifersucht
• 3. Lebensjahr: Benennen von Ursachen für Basisemotionen möglich
• 4. Lebensjahr: komplexe Emotionen (Schuldgefühle, Empathie)
• Grundschulalter: Ausdifferenzierung von Emotionen (Scham, Stolz, Verlegenheit), negative Grundgefühle erden erkannt (Ärger, Angst, Trauer)
Emotionale Entwicklung und geistige Behinderung
• Menschen mit geistiger Behinderung durchlaufen die gleichen Entwicklungsphasen wie Menschen ohne Behinderung, allerdings läuft die Entwicklung verzögert oder unvollständig ab
• Unterschiedliche Hirnregionen und Regelkreise sind für einzelne kognitive und emotionale Fähigkeiten verantwortlich
• IQ ≠ emotionaler Entwicklungsstand !!!!!!!
Der Mensch
Körperliche Entwicklung:
Mitte 20
Intellektuelle Entwicklung:
6-9 Jahre
Emotionale Entwicklung:
1 Jahr
Kognitive, emotionale und körperliche Fähigkeiten sind nicht immer auf dem gleichen Entwicklungsstand.
Allein vom IQ kann nicht auf den Reifungsgrad der emotionalen Persönlichkeitsanteile geschlossen werden.
Berücksichtigung der jeweiligen emotionalen Grundbedürfnisseà entwicklungsbedingt entstandene Verhaltensstörungen verstehenàProblemverhalten abbauenàWeiterentwicklung der
Persönlichkeit anstoßen
Ursachen emotionaler Entwicklungsverzögerungen
• Autismusspektrumstörung
• Genetisches Syndrom
• Hirnerkrankungen
• Umgebungsfaktoren (z.B. Traumata, problematisches Entwicklungsmilieu, Missverständnisse...)
• ...
Ursachen emotionaler Entwicklungsverzögerungen
• Autismusspektrumstörung
• Genetisches Syndrom
• Hirnerkrankungen
• Umgebungsfaktoren (z.B. Traumata, problematisches Entwicklungsmilieu, Missverständnisse...)
• ...
Wird der emotionale Entwicklungsstand von der Umgebung nicht berücksichtigt, treten Verhaltensstörungen auf.
Ein niedriger emotionaler Entwicklungsstand kann zu schweren Verhaltensstörungen führen.
Das gezeigte Problemverhalten entspricht dem Verhaltensrepertoire der jeweiligen emotionalen Entwicklungsstufe.
Die Bedeutung des emotionalen Entwicklungsstandes scheint noch wichtiger zu sein als der Schweregrad der geistigen Behinderung.
Untersuchte Entwicklungsbereiche
Entwicklungsbereiche1. Umgang mit dem eigenen Körper
2. Umgang mit anderen Personen
3. Selbst-Fremd-Differenzierung
4. Objektpermanenz und Trennungsangst
5. Ängste
6. Umgang mit Gleichaltrigen
7. Umgang mit Dingen
8. Verbale Kommunikation
9. Affektdifferenzierung
10. Aggressionsregulation
Entwicklungsphasen
SEO-Phase Emotionales Referenzalter1 Erste Adaption 0 – 6 Monate
2 Erste Sozialisation 6 – 18 Monate
3 Erste Individuation 18 – 36 Monate
4 Erste Identifikation 3 – 7 Jahre
5 Beginnendes Realitätsbewusstsein mindestens 7 – 12 Jahre
Beispiel
Bereich Phase 1 Phase 2 Phase 3 Phase 4 Phase 5Umgang mit Gleichrangigen
Kein Interesse an Gleichrangigen.
Kann mit Gleichrangigenbeschäftigt sein, wenn die Bezugsperson anwesend ist.
Spielt für sich in der Nähe von Gleichrangigen.
Kann mit anderen kreativ zusammen spielen.
Kann mit Gleichrangigen konstruktiv zusammen-arbeiten
Kann mit Gleichrangigen beschäftigt sein, wenn das Spiel Spaß macht.
Kann im Umgang mit Gleichrangigen dominierend sein.
Stellt Familiensituationen im Spiel mit Anderennach.
Kompetitive Beschäftigung mit Gleichrangigen.
Kann im Spiel mit Gleichrangigen Bezugsbetreuer imitieren.
Will im Umgang mit Gleichrangigen den eigenen Willen durchsetzen.
Schließt Freundschaften.
Will von Gleichrangigenakzeptiert werden.
Auswertung
7-12 J. - Realitätsbewusstsein
3-7 J. – erste Identifikation
18-36 M. – erste Individuation
6-18 M. – erste Sozialisation
0-6 M. – erste Adaption
Umgang mit d
em eigenen Körper
Umgang mit a
nderen Personen
Selbst-Fremd-Diffe
renzierung
Objektperm
anenz und Trennungsa
ngst
Ängste
Umgang mit G
leichaltri
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Umgang mit D
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Verbale Kommunikatio
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Affektd
ifferenzie
rung
Aggressionsre
gulation
Emotionales Entwicklungsstand:SEO-Phase 26-18 Monate
Entwicklungsphasen, alter, -schritte und -zieleemotionale Entwicklungs-phase
Emotionales Referenzalter
KognitivesFunktionsniveau bei Erwachsenen mit IM
Entwicklungsschritte Entwicklungsziele
1. Erste Adaption
0-6 Monate Schwerste IM (F73) Integration von sensorischen Stimuli und äußeren Strukturen (Ort, Mensch und Zeit)
Integration und Koordination äußerer und innerer Reize, Regulation körperlicher Grundbedürfnisse
2. Erste Sozialisation
6-18 Monate Schwerste IM (F73) soziale Bindungen, Bildung einer Vertrauensbasis, Urvertrauen
Sicherheit, Objektpermanenz, Erkunden der Umgebung, Körperschema
3. Erste Individuation
18-36 Monate Schwer –schwerste IM (F72-F73)
Ich-Du Differenzierung, sichere Objektpermanenz, Kommunikationsfähigkeit bei räumlichem Abstand, Persönlichkeitsaufbau
Abgrenzung von der nächsten Bezugsperson, Erkennen und Äußern des eigenen Willens
4. Erste Identifikation
3-7 Jahre Mittelgradige –schwere IM (F71-F72)
Ich-Bildung, Ich-Zentriertheit, Lernen aus Erfahrung
Theory of Mind, Beschäftigen/Interagieren mit Gleichrangigen, Zusammenspiel, Unterscheidung zwischen Realität und Phantasie
5. Beginnendes Realitäts-bewusstsein
Mindestens7-12 Jahre
Leichte –mittelgradige IM (F70-F71)
Ich-Differenzierung, moralisches Ich, Realitätsbewusstsein, logisches Denken
Moralisches Handeln, Einschätzen der eigenen Fähigkeiten, logisches Denken
Pädagogische AnsätzeEntwicklungs-phase
Entwicklungsschritte/pädagogische Ansätze
SEO 1(Adaption)
Reize verarbeiten: Lebt im Hier und Jetzt und ist damit beschäftigt, alle Reize zu verarbeiten, die auf ihn einströmenGrundbedürfnisse befriedigen (Essen, Trinken, Kontakt, Schmerzen, Ruhe), Wohlfühlen sicherstellen, Snoezelen, Massagen, Musik, Gerüche (Bad), Schaukeln, Situationen ungeteilter Aufmerksamkeit...
Versteht keine Regeln, Begleiter sorgt für Vermeidung von Aggressionen
SEO 2(Sozialisation)
Soziale Bindung/Körperschema: Intensive Beziehung zum Personal (gibt ihm Sicherheit), lernt was er mit einem Körper machen kann, entdeckt die Welt, lernt, dass das was er tut eine Reaktion hervorruftGezielte 1:1 Kontakte anbieten, in Sichtweite bleiben, Kurzkontakte, Zerreißen, Matschen, Rieseln, Malen, Snoezelen, Berührungen, Sandweste zum Körperfühlen, bei Aggression mgl. nicht Kontakt abbrechen
Versteht nur durch Personen gesetzte Regeln, Begleiter sorgt für Vermeidung von Aggressionen
SEO 3(Individuation)
Symbiose-Autonomie-Konflikt: Entdeckt den eigenen Willen und will diesen durchsetzen, andererseits verunsichert, wenn man ihm/ihr „böse“ istZuwendung und Struktur, Klarheit im Team, Lob, Verantwortung übergeben, einfache Piktogrammpläne, einfache Verstärkerpläne, unmittelbare Belohnung, Kompromisse – keinen Machtkampf eingehen, selbst Entscheidungen treffen lassen
Versteht einfache Regeln, testet diese aus, braucht dafür Klarheit beim Begleiter, der für die Regel steht
Pädagogische Ansätze
Entwicklungs-phase
Entwicklungsschritte/pädagogische Ansätze
SEO 4(Identifikation)
ICH-Bildung: Sucht nach einer Identität (Mann/Frau, Fähigkeiten, Schwächen...)Regeln besprechen, Aufgaben übergeben, begleitete Peer Group, Empathie fördern, gezielte Gesprächsangebote (Gefühlswahrnehmung, Wer bin ich?, Nähe-Distanz...), kreative Angebote, Körperbild erstellen, realistische Rückmeldungen geben, Regeln für Sexualität und Körperlichkeit erarbeiten
Versteht Regeln, profitiert von bildlicher Darstellung, Begleiter vermittelt Regeln im Gespräch
SEO 5(Realitäts-bewusstsein)
ICH-Differenzierung: Sucht nach eigener Rolle in einer Gruppe von GleichrangigenSelbstständigkeit fördern, selbstständige Lebensführung möglich, komplexere kreative Angebote, Mitbestimmung, Bildungsangebote, Aufklärungsthemen Sexualität und Sucht, Peer Group
Kann Regeln aus sich heraus befolgen (hat Empathie), braucht Begleitung in Krisen oder bei großen Veränderungen
Fallbeispiel (aus Sappok & Zepperitz, 2016, „Das Alter der Gefühle“)
Fr. B. lebte in einer vollstationären Einrichtung der Eingliederungshilfe. Die 26-jährige Frau mit mittelgradiger IM suchte viel Kontakt zu Betreuungspersonen. Siekonnte in einfacher Sprache gut verbal kommunizieren, verstand einfacheZusammenhänge und war eine freundliche Person solange man sich ihr widmete. Esgelang ihr schlecht, ihre Bedürfnisse zurückzustellen, zu warten oder dieNichterfüllung von Wünschen auszuhalten. In der Kontaktaufnahme war sie eherstereotyp, fragte immer das Gleiche, hatte meist keine wirklichen oder sogarwidersprüchliche Anliegen, so dass eine Erfüllung ihrer Wünsche oft auch nichtmöglich war. Bei Nichtbeachtung oder Begrenzung reagierte sie dann mit lautemSchreien und Weinen. Da sie die Bedürfnisse der anderen Mitbewohner nichtrespektierte, in Zimmer lief und Mitbewohner weckte, war das Zusammenleben mitihr schwierig. Dieses Verhalten zeigte sich auch beim stationären Aufenthalt. Fr. B.konnte sich nahezu nicht allein beschäftigen, hatte eine Konzentrationsspanne vonnur wenigen Sekunden und lief motorisch unruhig über den Stationsflur.
Fallbeispiel
Medizinische Behandlung:
• Keine somatischen Beschwerden• ADHS nach probatorischem Behandlungsversuch mit Methylphenidat ausgeschlossen
Pädagogischer Ansatz:Mittelgradige IM
(Referenzalter 6-9 Jahre)
SEO 3(Referenzalter 18-36 Monate)
!!! DISKREPANZ !!!
Fallbeispiel SEO 3
“SEO 3-typische“ Verhaltensweisen:
• Agiert egozentrisch• Sucht ständig Kontakt zum Betreuungspersonal (permanentes Einfordern von Hilfe)• Kaum Interesse an Mitpatienten (Eifersucht)• Erregungszustände bei Einschränkung des Willens• Übergangsobjekt (Zeitschriften und Prospekte) à wird zur Kontaktaufnahme genutzt• Bei Ablehnung starke Verlustängste und verstärktes „Klammerverhalten“
vs.
Herausfordernder Wunsch nach Kontakt(kindliches Bedürfnis)
Recht auf Selbstbestimmung(erwachsener Mensch)
Fallbeispiel SEO 3
Pädagogisches Betreuungskonzept:
Ziele: 1. emotionale Sicherheit schaffen2. Autonomie und Eigenbeschäftigung ausbauen
Zuneigung und Struktur
Ø Intensive 1:1 Betreuung (Interessen + Verantwortung)à nach den Mahlzeiten Tisch abwischen + unmittelbare Belohnung mit Zeitschrift oder Prospekt
Ø Tagesplan mit Beschäftigungsangeboten + Foto des täglichen Ansprechpartners(Verteilung auf wechselnde Mitarbeiter)
Ø Zusätzliches Beschäftigungsangebot außerhalb der Station (2. Milieu)
Fallbeispiel SEO 3
• Visualisierung der Wartezeiten mithilfe von Time Timer
• Erarbeiten von einfachen Regeln des Miteinanders (an Betreuungsperson gebunden, da noch nicht internalisiert)
à Stopp-Schild + Time Timer
• Intensive Betreuung bei Anbahnung von Eigenbeschäftigung und Autonomieà eigenständiges Auswählen von Materialien und Beschäftigungà Beschäftigung an reizarmen und strukturierten Arbeitsplatzà stetige Reduktion der Betreuung
• regelmäßige Kurzkontakte unabhängig vom Verhalten
Fazit
+ Schnell zu vermitteln
+ In der Praxis gut anwendbar
+ Hilfreich für Fallbesprechungen
+ Überblick für bedürfnisgerechte Alltagsbetreuung
+ Informationen über Stärken und Schwächen
+ Grundlage für gezielte Angeboten und gemeinsame Haltungen
- Nicht validiert
Ausblick
• SEO = Grundeinstellung gegenüber Menschen mit geistiger Behinderung
• Erarbeitung einer neuen Version (Scale of Emotional Development –Short; SEED) à aktuelle läuft die Validierungsstudie
Ausblick im Kontext des neuen Bundesteilhabegesetzes
Ziele: • Mehr Selbstbestimmung• Besser am Arbeitsleben teilhaben• Genau die Unterstützung erhalten, die aufgrund der bestehenden
Behinderung gebraucht wird• Kosten der Eingliederungshilfe kontrollieren
„BEDARF“ à alle Aspekte berücksichtig?
Literatur
Sappok, T. & Zepperitz, S. (2016). Das Alter der Gefühle. Über die Bedeutung der emotionalen Entwicklung bei geistiger Behinderung. Bern: Hogrefe.
Došen, A. (2010). Psychische Störungen, Verhaltensprobleme und intellektuelle Behinderung. Ein integrativer Ansatz für Kinder und Erwachsene. Bern: Hogrefe.
Senkel, B. (2002). Du bist ein weiter Baum. Entwicklungschancen für geistig behinderte Menschen durch Beziehung. München: C.H. Beck