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Das Recht im Denken der Sophistik () || I. Protagoras

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I. Protagoras 1. Der Homo-Mensura-Satz a) Der Homo-Mensura-Satz und seine ethische Bedeutung Da nach dem platonischen Theaitetos (167c, 172a) der sog. Homo- Mensura-Satz des Protagoras 1 (VS 80 B 1) auch Fragen nach Recht und Unrecht ber hrt, empfiehlt es sich, eine Untersuchung der Rechtsauffassung des Abderiten mit dem HMS zu beginnen. Er ist bei Sext. Emp. adv. math.VIl 60 folgenderma en berliefert: πάντων χρημάτων μέτρον εστίν άνθρωπος, των μεν όντων ως εστίν, των δε ουκ όντων ως ουκ εστίν. Der Mensch ist das Ma aller ,Dinge 1 (χρήματα), der seienden, da sie sind, der nicht seienden, da sie nicht sind 2 '. Ebenfalls vollst ndig und mit nur marginalen Unterschieden findet sich der Satz bei Platon Theaet. 152a, Sextus Empiricus Pyrrh. l 216 und Diogenes Laertios IX 5l 3 . Ohne den zweiten Teil (των μεν ...) berliefern ihn Plat. Krat. 386a und Arist. Met. XI 6, 1062bl2ff. Arist. Met. X l, 1053a35ff. bietet eine Paraphrase, in der der Begriff χρήματα und der zweite Teil fehlen. Hermeias Irris 9 ist sekund r, weil ungenau, und damit als Quelle ohne besondere Bedeutung. In welcher Schrift des Protagoras dieser Satz urspr nglich stand, kann man nicht mit letzter Sicherheit entscheiden. Nach Sext. adv. math. ΥΠ 60 leitete der HMS die Schrift ,Die niederwerfenden Reden* (ot καταβάλλοντες) ein, nach Plat. Theaet. 161c die Schrift .Wahrheit' ('Αλήθεια). Da einiges darauf deutet, da Protagoras ( hnlich wie Gorgias VS 82 B 3) sich gegen die eleatische Schule wandte 4 , mag Αλήθεια 1 Im folgenden HMS genannt. 2 Diese bersetzung gilt nur vorl ufig und damit unter Vorbehalt. 3 Plat. Theaet. 152a bringt μη statt ουκ, Diog. Laert. IX 51 ist vermutlich von Plat. Theaet. abh ngig, Sext. Emp. Pyrrh. I 216 ersetzt, vielleicht in Abh ngigkeit von Plat. Krat. 386a, χρήματα durch πράγματα. 4 Heinimann 1945, 116f„ Lesky 3 1971, 392 Brought to you by | St. Petersburg State University Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 11/4/13 1:59 PM
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I. Protagoras

1. Der Homo-Mensura-Satz

a) Der Homo-Mensura-Satz und seine ethische Bedeutung

Da nach dem platonischen Theaitetos (167c, 172a) der sog. Homo-Mensura-Satz des Protagoras1 (VS 80 B 1) auch Fragen nach Recht undUnrecht ber hrt, empfiehlt es sich, eine Untersuchung derRechtsauffassung des Abderiten mit dem HMS zu beginnen. Er ist bei Sext.Emp. adv. math.VIl 60 folgenderma en berliefert:

πάντων χρημάτων μέτρον εστίν άνθρωπος, των μενόντων ως εστίν, των δε ουκ όντων ως ουκ εστίν.Der Mensch ist das Ma aller ,Dinge1 (χρήματα), derseienden, da sie sind, der nicht seienden, da sie nichtsind2'.

Ebenfalls vollst ndig und mit nur marginalen Unterschieden findet sichder Satz bei Platon Theaet. 152a, Sextus Empiricus Pyrrh. l 216 undDiogenes Laertios IX 5l3.

Ohne den zweiten Teil (των μεν ...) berliefern ihn Plat. Krat. 386a undArist. Met. XI 6, 1062bl2ff. Arist. Met. X l, 1053a35ff. bietet eineParaphrase, in der der Begriff χρήματα und der zweite Teil fehlen.Hermeias Irris 9 ist sekund r, weil ungenau, und damit als Quelle ohnebesondere Bedeutung.

In welcher Schrift des Protagoras dieser Satz urspr nglich stand, kannman nicht mit letzter Sicherheit entscheiden. Nach Sext. adv. math. ΥΠ 60leitete der HMS die Schrift ,Die niederwerfenden Reden* (otκαταβάλλοντες) ein, nach Plat. Theaet. 161c die Schrift .Wahrheit'('Αλήθεια). Da einiges darauf deutet, da Protagoras ( hnlich wie GorgiasVS 82 B 3) sich gegen die eleatische Schule wandte4, mag Αλήθεια

1 Im folgenden HMS genannt.2 Diese bersetzung gilt nur vorl ufig und damit unter Vorbehalt.3 Plat. Theaet. 152a bringt μη statt ουκ, Diog. Laert. IX 51 ist vermutlich von

Plat. Theaet. abh ngig, Sext. Emp. Pyrrh. I 216 ersetzt, vielleicht in Abh ngigkeit vonPlat. Krat. 386a, χρήματα durch πράγματα.

4 Heinimann 1945, 116f„ Lesky 31971, 392

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Protagoras 13

wahrscheinlicher sein5. Es ist allerdings grunds tzlich fraglich, obProtagoras bereits Buchtitel kannte6, oder ob die berlieferten Titel nichtvielmehr blo i n h a l t l i c h e Reflexe sind. Doch h ngt die Bedeutungdes HMS nicht von der Kl rung dieser eher technischen Frage ab.

Von den inhaltlichen Problemen7, die der HMS stellt, lassen sich zweiohne gro e Schwierigkeiten l sen:1. Die Frage, ob ως mit ,wie' oder ,da ' zu bersetzen sei, kann manmittels Prot. frg. B 4 entscheiden, wo ως eindeutig ,da ' bedeutet8.2. Da sich ein μέτρον nur an bereits vorhandene Dinge anlegen l t, kannder Sinn des Satzes nicht der sein, da das S e i n der χρήματα von demMenschen abh ngt bzw. begr ndet wird: Ein Ma setzt stets das zuBemessende als existent voraus9.

5 Porphyries bezeugt, Protagoras habe sich mit einer angeblich Περί του δντοςbetitelten Schrift gegen die Eleaten gewandt (B 2); m glicherweise handelt es sich dabeium dieselbe Schrift, die andernorts teils αλήθεια, teils οι καταβάλλοντες genannt wird.

6 Vgl. Heitsch 1969 (1976), 298f.7 Einen aktuellen berblick ber die Forschungslage bietet B. Huss, Gymnasium

103 (3) 1996, 229-51; zuvor Neumann 1938 (1976), 257-70; vgl. auch Neumann 1938(1976), 257ff.

8 So bereits Gomperz 1890, 27, ders. I 21903, 362f. und H. Gomperz 1912, 204;vgl. zudem Guthrie III1969, 189f.; anders z.B. Ueding 1995, 21.

9 Nestle 21942, 271; Buchheim 1986, 52-6 beruft sich auf die Verwendungsweisevon μέτρον in der fr hen griechischen Literatur und hebt (49) unter Berufung auf H 471(μέτρον μέθυος) und δ 389 bzw. κ 539 (μέτρα κελεύθου) f r den HMS die Trennungzwischen Ma und Gemessenem auf, indem er μέτρον als „Vollma " deutet: In ihm seienalle Dinge „als sie selbst aufgenommen", „um diese Dinge zu sein" (52). Doch bleibtzum einen zu bedenken, da diese Bedeutung von μέτρον, auch wenn sie in der fr henEpik und Lyrik h ufiger zu finden ist, die Bedeutung .Ma stab' f r Protagoras keineswegsausschlie t, zumal auch dieser Sinn sich bereits in der homerischen Epik findet (vgl. M422) und Protagoras die Abstraktionsf higkeit der Eleaten durchaus zugetraut werden darf.Zum anderen geht auch Buchheim mit seiner Deutung des HMS de facto von nichtsanderem als einem gegebenen Ding und seiner Erscheinung aus, weil er den HMS auf dieAussage reduziert, alle Dinge seien Erscheinungen, gleichzeitig aber bestreitet (54), daf r Protagoras „alles, was uns erscheint ... dadurch, da es uns erscheint, auch einseiendes Ding" werde, und sogar feststellt, die Dinge „sind s c h o n (hervorgeh, v.Verf.) in ihm" (sc. dem Ma ). Offenkundig gesteht auch Buchheim mit seinerph nomenologischen Deutung den Dingen eine Existenz zu, die nicht von dem Menschenverursacht wird. Und wenn Buchheim, um gerade diese Trennung zwischen Ding undErscheinung zu vermeiden, behauptet (55), in der Theorie des Protagoras gebe es keineWelt, die u n a b h n g i g von bzw. v o r jeder Erscheinung existiere, so folgtdaraus nicht, da sein HMS sich mit der Trennung von Ding und Eigenschaft nichtbegreifen lie e. Buchheims Annahme, in der T h e o r i e des Protagoras gebe es

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14 Protagoras

Beide Deutungen werden von Plat. Theaet. 152a6ff. unterst tzt:... ο ία μεν έκαστα έμοι φαίνεται, τ ο ι α ύ τ α μενεστίν έμοί, ο ί α δε σοί, τ ο ι α ύ τ α δέαύ σοί.... wie beschaffen eine jede Sache mir erscheint, sobeschaffen ist sie auch f r mich, wie beschaffen sie dir(erscheint), so ist sie auch f r dich.

Da Platons οία (wie beschaffen) keinesfalls mit ως (auf welche Weise)gleichgesetzt werden kann, hat Platon ως offensichtlich als ,da 'verstanden10. Zugleich erhellt diese Formulierung, da es darauf ankommt,als ein wie B e s c h a f f e n e s eine bereits v o r h a n d e n e Sache(έκαστα) einem Menschen erscheint11. berhaupt ziehen die antikenBesprechungen des HMS (insbes. bei Platon) nie die Existenz gegebenerχρήματα in Zweifel, sondern sie besprechen (wie die jeweiligen Beispielezeigen) Qualit ten wie ,warm - kalt', ,s - bitter', .gerecht - ungerecht'und »schlecht* - ,gut'12.

Weniger leicht lassen sich die Fragen entscheiden,1. ob άνθρωπος den einzelnen Menschen oder den Menschen als solchenbezeichnet, und ob Protagoras sich berhaupt dieses Unterschiedes bewu twar, und2. was χρήματα bedeutet.

Zu 1: Die meisten der antiken Zeugnisse deuten άνθρωπος als deneinzelnen Menschen13, wie z.B. Platon Theaet. 152c:

eine solche Welt nicht, bedarf vielmehr der Pr zisierung: Protagoras b e f a t sich nurmit der Welt, insofern sie erscheint, behauptet aber nicht, da nur das, was erscheint,wirkliche existiere. Wie vielmehr das G tterfragment B 4 zeigt, l t sich nach Protagoraszwar nur von dem, was erscheint, mit S i c h e r h e i t behaupten, da es existiert,jedoch dem, was nicht erscheint (wie z.B. den G ttern), die Existenz keineswegsabsprechen.

10 So bereits v. Fritz 1957, 914.11 In dem 152b folgenden .Windbeispiel' wird der Wind eindeutig als gegeben

vorausgesetzt: άρ'ούκ ενίοτε π ν έ ο ν τ ο ς ά ν ε μ ο υ τ ο υ α ΰ τ ο ΰ ό μενημών ριγοΐ, ό δ'ού. (ριγοΐ nach BTYW)

12 Gegen Nestles Argument (21942, 271), der Mensch k nne nicht das Ma f r dieExistenz einer Sache sein, da ein μέτρον ein Gegebenes voraussetze, wendet Guthrie III1969, 191 ein: „according to a philosophy of esse est percipi he can." Dazu s.u. Anm.19.

13 Uneindeutig formuliert sind Arist. Mei.l052a35ff., Herrn. Irris. 9 und Diog.Laert. IX 51; da letzterer sich aber eindeutig auf Plat. Theait. bezieht, kann er wohl kaumals Beleg f r die Auffassung gelten, άνθρωπος meine den Menschen als solchen.

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Protagoras 15

οία γαρ αισθάνεται έ κ α σ τ ο ς , τοιαύταέ κ ά σ τ φ και κινδυνεύει είναι14.Wie Beschaffenes jeder wahrnimmt, so scheint es ihmauch zu sein.

Es wird sich im weiteren Verlauf der Untersuchung zeigen, ob mandiese Auffassung uneingeschr nkt bernehmen kann15.

Zu 2: Den berlegungen zur Bedeutung von χρήματα m chte ichvoranschicken, da der HMS zun chsta) s u b j e k t i v (S) verstanden werden kann: Alle Vorstellungen16 sindals Vorstellungen wahr, bleiben aber nur Vorstellungen; ber dieWirklichkeit als solche sagen sie nichts aus (z.B. Ich empfinde einen Windals kalt; der Wind als solcher existiert zwar, ist aber weder warm noch kalt;seine K lte existiert nur f r mich).b) o b j e k t i v (O) verstanden werden kann: Allen Vorstellungenentspricht jeweils ein tats chlich Gegebenes (Der Wind als solcher ist kaltund warm, der eine empfindet seine K lte, der andere seine W rme17).c) es in beiden F llen m glich ist, χρήματα im HMS entweder mit denEigenschaften (warm, kalt) gleichzusetzen (Sl, l), oder18 mit den Dingen

14 Ebenso Plat. Kral. 386c, Arist. Met. 1062bl4f., Sext. Emp. Pyrrh. I 216.15 Dieser Deutung schlie en sich seit Zeller I 2 61920, 1358f. die meisten

Gelehrten an: z.B. Capelle 51968, 327 AI; Guthrie III 1969,188f.; Kerferd 1981, 86 h ltdiese Frage sogar f r zugunsten der individuellen Deutung entschieden und damit nichtmehr f r diskussionswUrdig. Gomperz 1890, 27f., ders. I ^1903, 362, hingegen hat sichzugunsten der Auffassung ausgesprochen, der Mensch als solcher sei gemeint, v. Fritz1957, 915 wiederum bem ht sich nachzuweisen, der HMS meine die gesamteMenschheit, gehe aber von dem einzelnen aus. Doch auch die Auffassung, Protagoraskenne eine derartige Unterscheidung nicht, hat ihre Vertreter gefunden (angef hrt z.B. beiGuthrie III 1969, 18).

16 Wie aus Plat. Theaet. 167c und 172a hervorgeht, fallen auch Fragen nach Rechtund Unrecht unter den HMS. Es ist daher angebracht, den HMS nicht nur auf sinnlicheWahrnehmungen, sondern auf .Vorstellungen' im allgemeinen Sinne zu beziehen.

17 Vgl. Kerferd 1981, 8618 W. Kranz: Die griechische Philosophie, ND Birsfelden-Basel o.J., S.96 versucht,

das Problem zu umgehen mit „Aller Wesenheiten Ma ist der (einzelne) Mensch ...", weilχρήματα sowohl Dinge als auch Eigenschaften bezeichnen k nne. Diese M glichkeit istzu vage und l st die im folgenden besprochenen Schwierigkeiten nicht.

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16 Protagoras

(Wind) als Tr gern dieser Eigenschaften (S2, O2); im letzteren Fall19 trenntman zwischen Ding und Eigenschaft20.

19 Koch 1970, 36 nimmt eine auf Sext. Emp. Pyrrh. I 218 gest tzte vermittelndePosition ein: „Die Summe aller (subjektiven, der Verf.) Erscheinungen stellt das Seiendein seiner objektiven G nze dar." Sextus selbst deutet Protagoras im Licht herakliteischerBewegungslehren (vgl. auch Ueberweg/Praechter 121926, 117), die er wohl inAbh ngigkeit von Plat. Theaet. 152cff. auf den HMS anwendet. Da aber Platon dieherakliteische Bewegungslehre 152c8-10 als .geheime Lehre' des Protagoras apostrophiert(d.h. als eine Lehre, die sich nicht in seinen Schriften findet) und loOdSff. ausdr cklichzwischen Herakliteern und Protagoras trennt (κατά μεν ... Ήράκλεντον ... . κατά δεΠροταγόραν), bleibt zweifelhaft, ob der historische Protagoras wirklich die herakliteischeBewegungslehre vertreten hat. Nat rlich bleibt dar ber hinaus zu bedenken, da diegenannte Bewegungslehre nicht notwendig von Heraklit selbst, sondern m glicherweisenur von seinen Nachfolgern in der von Platon referierten Form vertreten wurde.

Kerferd 1981, 86, f hrt in der Nachfolge von Taylor 31929, 326 als weitere Spielartder subjektiven Deutung an: „There is no one wind at all, but two private winds, mywind which is cold and your wind which is not". Dieses Beispiel widerspricht derFormulierung von Plat. Theaet. 152b πνέοντος άνεμου του αύτοΰ. Zudem w re nachdieser Deutung der Mensch die U r s a c h e, nicht das Ma der Dinge, hinge doch dieExistenz eines solchen Windes davon ab, ob jemand ihn wahrnimmt oder nicht. Da dieseAnnahme sich weder widerspruchslos zu dem Begriff μέτρον noch zu Plat. Theaet. 152bf gt, da beide den Wind als etwas Existierendes voraussetzen, kann sie in diesemZusammenhang unber cksichtigt bleiben.

Zu Guthries Einwand gegen Nestle (s.o. Anm. 12) l t sich Folgendes bemerken: Dieantiken Besprechungen setzen einerseits die Sache stets als gegeben voraus, andererseitsfragen sie nur nach Eigenschaften (ποιότητες) - was Guthrie selbst zugibt (a.O. S. 192: „... all the examples given by Plato and Aristotle are of p r o p e r t i e s ora t t r i b u t e s " (hervorgehoben v. Verf.) - und engen folglich die Deutung μέτρον =Ma stab f r die Existenz von χρήματα auf die weiter unten angef hrte Version dero b j e k t i v e n Deutung des HMS ein, die die χρήματα mit tats chlich gegebenenποιότητες gleichsetzt ( l) (bei einer subjektiven Deutung, die ποιότητες mit χρήματαgleichsetzt, w re der Mensch U r s a c h e , nicht Ma der χρήματα [Sl, s.o.]; deshalbscheidet diese Deutung aus). Die objektive Deutung dagegen ist als solche (unabh ngigdavon, ob man χρήματα mit ποιότητες gleichsetzt) unhaltbar (s.u.). Folglich ist Nestlegegen Guthrie zuzustimmen.

20 Die folgenden Deutungen bertragen die sp testens seit Platon g ngigeUnterscheidung zwischen einer Sache und ihrer Eigenschaft auf den HMS. Es ist zwarfraglich, ob Protagoras selbst b e g r i f f l i c h zwischen beiden trennte, doch lassensich die Implikationen des HMS nur dann pr zise darstellen, wenn man die genannteUnterscheidung auch auf ihn anwendet. So gelangt beispielsweise Buchheims Deutungdes HMS (1986, 43-79), die „nichts anderes als die Wiederherstellung seines einfachenSinnes" (77) beabsichtigt, und sich ihm gerade nicht von Platon, sondern von dergriechischen Lyrik her zu n hern versucht, zu d e n s e l b e n philosophischen Fragenund Ergebnissen wie die Deutungen, die auf die genannte Unterscheidung zwischen Dingund Eigenschaft sowie Messendem und zu Bemessendem nicht verzichten:

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Protagoras 17

Bereits die antiken Zeugnisse beantworten die Frage nach der Bedeutungder χρήματα auf verschiedene Weise: Die einen legen nahe, die χρήματαseien d ie s u b j e k t i v e n W a h r n e h m u n g e n bzw.M e i n u n g e n der Menschen (wobei es nicht m glich ist, dieseDeutungen von vornherein S l oder S2 zuzuordnen) so z.B. Plat. Theaet.152a ... ως οία μεν έκαστα έμοί φ α ί ν ε τ α ι τοιαύτα μεν εστίν έμοί.... 166d ... δτι τφ μεν άλλα εστί και φ α ί ν ε τ α ι , τφ δε άλλα ... (...da fiir den Einen das Eine ist und erscheint, f r den Anderes etwasAnderes). (So deutet auch Diog. Laert. IX 51 diese Passage, wenn erschreibt: έλεγε τε [sc. Protagoras] μηδέν είναι ψυχήν παρά τάςαισθήσεις, καθά και Πλάτων φησίν εν Θεαιτέτφ ... [Protagoras sagte,da es keine Seele gebe unabh ngig von den Wahrnehmungen, undentsprechend sagt Platon im Theaietos ...]), Plat. Krat. 386a ... ως άραοία μεν αν έμοί φ α ί ν η τ α ι τα πράγματα, τοιαύτα μεν εστίν έμοί ...(... da also, wie beschaffen die Dinge (πράγματα) mir erscheinen, sie soauch f r mich sind ...), und Sext. Emp. adv. math. VII 60 ... έπεί φησιν

1. Wenn er von einer „wahren Inflation" der Wahrheit bei Protagoras spricht (53), sobedeutet das nichts anderes, als da nach dem HMS alle Vorstellungen gleicherma enwahr sind, und es nicht m glich, ist wahre Vorstellungen von weniger wahren oder garfalschen zu unterscheiden. Da Buchheim damit dem HMS eine .Entwertung' der Wahrheitvorwirft, deutet er ihn de facto als Ausdruck einer blo von Mensch zu Mensch subjektivg ltigen Wahrheit.2. Wenn man darauf χρήματα - wie Buchheim (53) erw gt - in Anlehnung anAnaxagoras VS 59 B l u. 4 als Qualit ten versteht, ergibt sich andererseits dieo b j e k t i v e Deutung l, nach der die Summe aller Empfindungen der Summe allerQualit ten entspricht. Allerdings legt Buchheim sich nicht auf diese Deutung fest - diezudem seinem Vorwurf von der Inflation der Wahrheit widerspr che (dazu s.u.) -, sondernerkl rt (78), der HMS charakterisiere „alle χρήματα als Situationen", und Protagorasnehme, weil ihm „die F higkeit zur scharfen Unterscheidung von Qualit ten, Dingen,Sachverhalten und Relationen" fehle, „Zuflucht zum undifferenzierten Begriff desφαινόμενον". Doch abgesehen davon, da der Begriff φαινόμενον m glicherweise nurauf Plat. Theaet. 152a7 zur ckgeht, so sind doch in dem ebd. genannten Beispiel, dasBuchheim (78) als einziges auf den historischen Protagoras zur ckf hrt, selbst wennProtagoras jeweils nur eine Situationsbeschreibung bieten wollte wie „Wind-dem-Frierenden-kalt" und „Wind-dem-Frierenden-nicht kalt" (ebd.), de facto drei Elementevoneinander unterschieden: der Wind, der wahrnehmende Mensch und seine jeweiligeEmpfindung.

Angesichts dieser Umst nde ist es ratsam, die m glicherweise erst von Platon bewu tgetroffenen Unterscheidungen (s.o.) trotzdem bei der Deutung des HMS zuber cksichtigen.

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18 Protagoras

(sc. Protagoras) πάσας τάς φ α ν τ α σ ί α ς και τάς δ ό ξ α ς αληθείςύπάρχειν21. (... denn Protagoras sagt, da alle Vorstellungen undMeinungen wahr seien.)

Die anderen legen nahe, nach dem HMS erkenne jeder Menscho b j e k t i v e Q u a l i t ten (ποιότητες) ( l oder O2?), die in derwahrgenommenen Materie tats chlich vorhanden seien. So bemerktAristoteles Met. 1062bl4ff, Protagoras behaupte, da das, was einem jedenjeweils erscheine, tats chlich existiere. Daraus folge, da ein und dieselbeSache sei und nicht sei und schlecht und gut sei: ... ουδέν έτερον λέγων(sc. Protagoras) η το δοκούν έκάστω τοΰτο και ε ί ν α ι π α γ ί ω ς ,τούτου δε γιγνομένου το αυτό συμβαίνει και είναι και μη είναι, καικακόν και αγαθόν είναι... δια το ... μ ε τ ρ ο ν δ' είναι το φαινόμενονέκάστω. Wenn das, was jedem erscheint (φαινόμενον), ein Ma stab ist,kann es, wenn man die unmittelbar voraufgehenden Ausf hrungen desAristoteles ber cksichtigt (sc. da dasselbe ist und nicht ist und gut undschlecht ist), nur Ma stab f r die o b j e k t i v e E x i s t e n z derwahrgenommenen Eigenschaft sein. hnlich wirft Arist. Met. 1053a35ff.dem Protagoras vor, indem er den Wissenden oder den Wahrnehmenden alsMa stab nehme (ώσπερ αν εί τον επιστήμονα ειπών ή τοναίσθανόμενον), messe er die Wirklichkeit an dem Wissen bzw. derWahrnehmung, w hrend doch stattdessen Wissen und Wahrnehmung ander Wirklichkeit gemessen werden sollten. Daraus folgert er 1053b3f.ουδέν δη λέγων (sc. Protagoras) περιττόν φαίνεται τι λέγειν: Protagorassage im Grunde nichts. Sextus Empiricus f hrt in seiner herakliteischenDeutung des HMS Pyrrh. 1218 die unterschiedlichen Wahrnehmungen aufdie Wandelbarkeit des zugrundeliegenen Stofes, der ύλη, zur ck: λέγει δεκαι τους λόγους πάντων των φαινομένων ύποκεΐσθαι εν τη ύλη, ωςδ ύ ν α σ θ α ι την ΰλην όσον εφ' εαυτή π ά ν τ α ε ί ν α ι δσα πάσιφαίνεται. Es besteht dabei nicht notwendig ein Widerspruch zu adv. math.VII 60, denn die dort genannten Wahrnehmungen (φαντασίαι) k nneninsofern wahr (αληθείς) sein, als ihnen tats chliche Qualit ten in demWahrgenommenen entsprechen.

2l Zu diesen Quellen ist ein weiteres Zeugnis bei Didymos dem Blinden zu z hlen,das m glicherweise direkt auf Protagoras zur ckgeht; vgl. Gronewald 1968, l f.

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Protagoras 19

Beide Deutungen -die s u b j e k t i v e (S), der zufolge χρήματαPr dikate bezeichnen, die man einem Gegenstand aufgrund derWahrnehmung zuordnet, und die o b j e k t i v e (O), die wahrgenommeneQualit ten als in dem Gegenstand tats chlich enthalten deutet - haben auchin der neueren Forschung ihre Vertreter gefunden22. Beide Richtungenzweifeln nicht an der Existenz einer wahrgenommenen Sache. Es trennenzudem beide zwischen dem gegebenen , Et was' und dem Inhalt der Wahr-nehmung.

Ein Teil der neueren Forschung setzt jedoch die im HMS genanntenχρήματα mit dem Inhalt der Wahrnehmung bzw. der Eigenschaft gleich (S lbzw. l)23. Das eigentliche Substrat der Wahrnehmung, der Gegenstandselbst, w re bei solcher Auffassung im HMS berhaupt nicht genannt,sondern m te hinzu g e d a c h t werden24.

22 Untersteiners ph nomenologische Interpretation ist nur eine modifiziertesubjektive Deutung; vgl. Untersteiner I 21967, 77ff. Er beruft sich zum Nachweis derGleichheit von χρήματα und αισθήσεις auf Diog. Laert. IX 51 (a.O. 81f.), ohne zuber cksichtigen (wie seine verk rzte Zitierweise zeigt), da Diogenes an dieser Stelleseine eigene Deutung von Platons Besprechung im Theaitetos mitteilt und somit alsselbst ndiges Zeugnis nicht taugt. Andererseits beruht Untersteiners Deutung auf demMi verst ndnis von Sextus' o b j e k t i v e r Deutung (Pyrrh. I 218): ως δύ-v α σ θ α ι την ΰλην όσον εφ' εαυτή πάντα είναι όσα πάσι φαίνεται, die er (a.O. 79)wiedergibt mit „ ... la materia ... e tutto quello ehe essa s i r i v e l a a tutti" statt: „... die Materie ist (von sich aus) f h i g ... " etc. berblick ber die Positionen beiKerferdl981,87A3

23 Vgl. Nestle 21942, 270f. (subjektive Deutung): „Es ergibt sich also, da dieχρήματα im Satz des Protagoras keine konkreten Dinge sind, sondern Pr dikate, die manden Dingen auf Grund von Vorstellungen und Empfindungen zuschreibt."

24 v. Fritz 1957, 914 versucht diese Schwierigkeit, die er als solche erkennt, wiefolgt zu l sen: „Trotzdem bleibt die Ausdrucksweise des P., der von .Dingen' spricht, woer .Eigenschaften' meint, seltsam, bis man sich daran erinnert, da bei einigen derwichtigsten vorprotagoreischen Philosophen ... warm oder kalt nicht einfachEigenschaften oder ποιότητες von Dingen sind, sondern entweder die urspr nglichstenKr fte und M chte, die die Welt in Bewegung setzen, oder sogar die fundamentalstenConstituentien ..." Doch weder nannten die von v. Fritz angef hrten VorsokratikerAnaximander, Heraklit und Parmenides diese Elementarkr fte χρήματα, noch l t sich f rProtagoras unabh ngig vom HMS die Annahme von ποιότητες als selbst ndiger Kr ftebelegen. Da Anaxagoras VS 59 B 4 Qualit ten wie .trocken' und .feucht' χρήματαnennt, belegt diese Annahme nicht f r Protagoras. Zudem legen Platons Besprechung imTheait. und Arist. Met. 1062bl4ff. nahe, da es sich bei den ποιότητες auch um καλάund αγαθά handelte. Sp testens bei derartigen ποιότητες scheitert der Versuch, die Theseselbst ndiger χρήματα = ποιότητες auf Protagoras anzuwenden.

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20 Protagoras

Es ergibt sich aber f r die subjektive Deutung, wenigstens dann, wennnach ihr die χρήματα die blo wahrgenommenen Eigenschaften sind (Sl),eine Schwierigkeit: Es existieren diese χρήματα erst in dem Moment, indem ein Mensch (sie) empfindet. Der Mensch w re nicht μέτρον einergegebenen Sache, sondern - zwar nicht hinreichende - aber notwendigeB e d i n g u n g f r die χρήματα (nicht hinreichend deshalb, weil ja auchein Gegenstand vorhanden sein mu , der den Vorgang des Empfindensausl st). Eine subjektive Deutung des HMS sollte folglich nichtEmpfindung und χρήματα gleichsetzen (Sl), sondern zwischen beidentrennen (S2).

Die o.a. antiken Zeugnisse zwingen denn auch nicht dazu, beidemiteinander gleichzusetzen: Plat. Theaet. 152a6ff. besagt nur, da dieχρήματα so beschaffen (τοιαύτα) seien, wie beschaffen (οία) sie einemjeden erscheinen; ebenso l t sich 152c2 οία γαρ αισθάνεται έκαστοςdurch das Erg nzen von χρήματα verstehen als , ,a 1s wie b e s c h a f -f e n ein jeder die χρήματα wahrnimmt", - eine Annahme, die durch dieWortstellung von Plat. Krat. 386alf. ο ί α μεν αν έμοι φαίνηται τ άπ ρ ά γ μ α τ α best tigt wird. Mit gleichem Recht lassen sich αισθήσεις(Diog. Laert. IX 51) und φαντασίαι/δόξαι (Sext. Emp. adv. math. VII60) als von den χρήματα unabh ngige Wahrnehmungen und Vorstellungenverstehen.

Der o b j e k t i v e n Deutung steht unabh ngig davon, ob manausdr cklich die χρήματα im HMS mit den (tats chlich vorhandenen)ποιότητες gleichsetzt25 ( l), die Schwierigkeit entgegen, da nach ihr dievollst ndige Wahrheit einer Sache sich aus der Summe aller Empfindungenerg be. Legt man das von Platon Theaet. 166e gew hlte Beispiel zugrunde,m te sich nach der objektiven Deutung ein Gesunder eigentlich w nschen,krank zu sein, bliebe ihm doch sonst verborgen, wie bitter eine f r ihn s eSpeise sein kann, da er nicht in der Lage ist, diese in der betreffenden

25 v. Fritz 1957, 914, beruft sich ausdr cklich auf Plat. Theaet. 152a6ff., umgerade anhand der Bedeutung von οία zu zeigen, da die χρήματα die tats chlichexistierenden ποιότητες seien. Platons Formulierung e r s c h w e r t die Gleichsetzungvon χρήματα mit irgendwelchen Eigenschaften, seien sie subjektiv empfunden, seien sieobjektiv gegeben (s.o.).

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Speise tats chlich vorhandene Eigenschaft zu empfinden26. Ein ,Mehr' anWahrheitserkenntnis schlie t f r Protagoras jedoch Plat. Krat. 386c/d aus:... φρονήσεως ούσης και αφροσύνης μη πάνυ δυνατόν είναιΠρωταγόραν αληθή λέγειν, ουδέν γαρ αν που τη αλήθεια ό έτερος τουετέρου φρονιμότερος εϊη, εϊπερ α αν δοκη έκάστφ αληθή εσται. Weilnach Protagoras alle Wahrnehmungen und Vorstellungen gleicherma enwahr seien - so Sokrates/Platon -, k nne niemand einem anderen anWahrheitserkenntnis voraus sein (φρονιμώτερος), - wenn man Vernunft(wohl als Ma stab) voraussetzt (φρονήσεως ούσης). W re hingegen jedeVorstellung gleichzeitig eine Erkenntnis einer t a t s c h l i c h e nποιότης, w re die Wahrheit ber eine Sache die Summe aller m glichenVorstellungen, und derjenige, der m glichst viele verschiedene Vorstellun-gen h tte bzw. sich vorgestellt h tte, k me der Wahrheit ber die Sachezumindest n her, und selbst bei einer unendlichen Zahl m g cher Vorstel-lungen (mit jeweils objektivem Erkenntnisgewinn) h tte er gegen berdenjenigen, die weniger Eindr cke empfunden h tten, einen Vorsprung.Dagegen sind nach Plat. Krat. 386c/d alle Vorstellungen in ihremErkenntniswert gleicherma en wahr und ein Mehr an Wahrheitserkenntnisausgeschlossen, und keines der erhaltenen Zeugnisse bietet einenAnhaltspunkt, Gegenteiliges anzunehmen.

Somit scheint von allen bisher besprochenen Deutungen des HMS dieDeutung S2 vorl ufig die wahrscheinlichste zu sein: Jeder Menschempfindet Vorstellungen (z.B. kalt) von bereits unabh ngig von ihmexistierenden χρήματα (z.B. Wind). Zwar sind die χρήματα notwendige,wenn auch nicht hinreichende Ursache dieser Vorstellungen, doch sinddiese rein subjektiv und sagen ber die χρήματα selbst nichts und damitauch nicht mehr als die Vorstellungen anderer Menschen aus27. AlleVorstellungen sind aber gleicherma en wahr28. Doch unabh ngig davon,

26 Nach Plat. Theaet. 167aflff. (.Apologie* des Protagoras) ist vielmehr der Zustanddes Gesunden dem des Kranken vorzuziehen (s.u.)

27 S.o. Anm. 20. Insgesamt wird sie aber durch ein weiteres Fragment bei Didymosdem Blinden best tigt; dazu vgl. Gronewald 1968, 1.

28 In letzter Konsequenz folgt daraus, da alles Einbildung ist; Protagoras hat aberdiesem Agnostizismus insofern eine positive Wendung gegeben, als er offensichtlichnicht behauptet hat, alle Vorstellungen seien gleicherma en f a l s c h (vgl. Heitsch1969 (1976), 302). Immerhin leugnet er nicht die Existenz der gegebenen χρήματα (dazus.u.).

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da ber die Bedeutung des Begriffes ,χρήματα' aus dieser Deutung wenigerhellt, ergeben sich aus ihr zwei Schwierigkeiten:1. Wenn alle Vorstellungen gleicherma en wahr sind, ist auch dieVorstellung wahr, da nicht alle wahr sind: der HMS ist inkonsistent29.2. Wenn alle Vorstellungen gleicherma en wahr sind, und man zudember cksichtigt, da Protagoras es grunds tzlich f r m glich erachtete, berjede Sache zwei gegenteilige Aussagen zu treffen (disserere in utramquepartem^), so besteht ein Widerspruch zu Plat. Euthd. 286c, wonachProtagoras' Sch ler (und damit doch wohl auch er selbst) die M glichkeitdes Widerspruchs ausgeschlossen h tten31.

Die erste Schwierigkeit l t sich rein logisch nicht beseitigen, d.h. werdie Erkenntnis einer allgemeing ltigen Wahrheit als Bedingung voraussetzt,wird bei dem HMS in o.a. Deutung Unbehagen empfinden.Interessanterweise kn pft jedoch Plat. Krat. 386c/d den Vorwurf, der HMSdes Protagoras schlie e Unterschiede in der Wahrheitserkenntnis aus, an

29 Vgl. Demandt 1993, 57: „Diese Haltung birgt einen Selbstwiderspruch: wennalles Einbildung ist, dann ist auch diese selbst Einbildung." Das Argument derInkonsistenz, das beispielsweise in H sles auf K.O. Apel zur ckgehenden sog..Letztbegr ndungsbeweis' (Wer Wahrheit bestreitet, setzt sie selbst voraus) eine gro eRolle spielt (vgl. z.B. H sle 21994, 152ff. u.a.), und das H sle ebd. 223f. gegen GorgiasB 3 geltend macht, war schon in der Antike als περιτροπή bekannt: Arist. Met. 1062blff.st tzt mit ihm den ,Satz vom Widerspruch' und bereits vor ihm sollen Demokrit undPlaton es gegen den HMS angewandt haben (Sext. Emp. adv. math. VII 389/90).

Classen 1989, 19ff. insb. 27 versucht, dieses Problem zu umgehen, indem erχρήματα nur als konkret wahrnehmbare Dinge und Handlungen versteht und folgert, derHMS sei kein χρήμα und k nne deswegen nicht auf sich selbst angewandt werden. WennPlatons Theaitetos behaupte, was jeder πόλις gerecht erscheine, das sei f r sie auch inWahrheit gerecht (167c4-6, 172a2-4), so gehe diese Ausdehnung des Begriffes χρήματαauf δίκαια allein auf das Konto Platons (ebd. 19f.). Dagegen l t sich einwenden: 1.Platon l t gewisserma en den Protagoras selbst (sc. in seiner .Apologie') die δίκαια miteinbeziehen. 2. Fielen die Fragen nach Recht und Unrecht nicht unter die nach Auskunftdes HMS .relativen' Dinge, dann w re es m glich, objektiv g ltig zu bestimmen, wasgerecht ist - ein Anspruch, den Protagoras nach den erhaltenen Zeugnissen nie erhobenhat. Bezeichnenderweise ersetzt er ja gerade in der .Apologie' (167c) die Frage nach derGerechtigkeit durch die nach dem Nutzen. 3. Indem Classen bedenkenlos .actions' (ebd.27) zu den χρήματα z hlt, ffnet er selbst das Feld f r δόξαι, die ber die blo eSinneswahrnehmung hinausgehen, l t sich doch ein Ereignis schwerlich mit Begriffender sinnlichen Wahrnehmung wie .warm', .kalt' etc. als Ereignis begreifen. Der HMSlautet eben nicht πάντων αισθήσεων μέτρον άνθρωπος εστίν.

30 VS 80 Α 2031 Kerferdl981,88f.

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die Bedingung: φρονήσεως ούσης και αφροσύνης (... wenn es Vernunftund Unvernunft gibt [sc. als Mittel der Wahrheitserkenntnis]). Da keinesder anderen Zeugnisse des HMS diese Bedingung nennt, d rfte es sich umeinen Zusatz Platons handeln, den dieser in der Meinung u erte, derVorwurf, der HMS schlie e gesicherte Wahrheitserkenntnis aus, greife nurdann, wenn man φρόνησις (Vernunft) als Ma stab voraussetze.M glicherweise war Protagoras sich dieser Schwierigkeiten nicht bewu tund hatte ggf. andere Ziele und Prinzipien als die reine Wahrheitserkenntnisim Sinn. Zwar bleibt trotz dieses Umstandes das Paradoxon bestehen, da ,wer Wahrheitserkenntnis bestreitet, wenigstens f r diese Aussage Wahrheitbeansprucht, doch wenn es Protagoras auf etwas anderes als auf absoluteWahrheitserkenntnis angekommen sein sollte, lie e sich zumindestenserkl ren, weshalb er diesen Widerspruch nicht bemerkte oder gar in Kaufnahm. berdies hinderte die Gefahr des Selbstwiderspruches seinenZeitgenossen Gorgias ebensowenig, gleich drei inkonsistente S tzeaufzustellen (B 3)32.

Zur L sung der zweiten Schwierigkeit beruft sich Kerferd33 auf ein1941 entdecktes Zeugnis, das vermutlich Didymos dem Blindenzuzuschreiben ist, nach welchem der Protagorassch ler ProdikosWiderspruch f r ausgeschlossen erkl rte, da zwei gegens tzliche Mei-nungen niemals dieselbe, sondern zwei verschiedene Sachen betr fen.Bezogen auf Protagoras34 (so Kerferd) seien dann beispielsweise die zweientgegengesetzten u erungen, der gerade wehende Wind sei kalt bzw. seinicht kalt (Plat. Theaet. 152b), lediglich zwei verschiedene zugleich wahreλόγοι ber jeweils eine aktuelle Empfindung. Jede der beiden Personenbringe mit der Aussage „Ich friere, der Wind ist kalt" bzw.„Ich friere nicht,der Wind ist nicht kalt" nur ihre pers nliche Empfindung zum Ausdruck;

ber die Qualit t des Windes als solchen u ere sich keine von beiden.Folglich m ssen bei der Deutung des HMS zwei Ebenen unterschiedenwerden: a) die Ebene der Aussagen ber jeweilige pers nlicheEmpfindungen und b) die der gegebenen Sache selbst: Es werden zwei

32 Vgl. H sle 21994, 223f.33 Kerferd 1981, 89f.34 Da der HMS alle Aussagen und Vorstellungen f r gleicherma en wahr erkl rt, ist

die Annahme, Widerspruch sei unm glich auch f r Protagoras wahrscheinlich; vgl.Barnes 21982, 547.

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u erungen (kalt bzw. nicht kalt) getroffen ber eine gegebene Sache aufEbene b) (Wind), doch diese u erungen sind nur Aussagen auf Ebene a).Der Widerspruch ist nur ein verbaler Widerspruch, da die verschiedenenAussagen dem Wortlaut nach zwar ber dieselbe Sache ge u ert werden,aber nicht dieselbe Sache betreffen. Nach diesem Modell sind disserere inutramque partem und die Annahme, Widerspruch sei unm glich, durchausmiteinander vereinbar35. F r die bisherige Argumentation ist dieserGedanke insofern bedeutend, als er die o.a. These erh rtet, man m ssezwischen den gegebenen χρήματα (Ebene b) und den jeweiligenEmpfindungen/Vorstellungen (Ebene a) unterscheiden.

Um nun die Frage zu kl ren, was die χρήματα bedeuten, ist es hilfreich,die sog. »Apologie des Protagoras' aus Platons Theaitetos heranzuziehen36,insbesondere 166d-167d. Sokrates beabsichtigt, mit dieser ,Apologie' indie Rolle des Protagoras zu schl pfen, um darzulegen, wie der Sophist τοιςαύτοΰ (165e5) zu Hilfe k me. Da in Platons Theaitetos bis dahin nur derHMS und dessen sensualistische Implikationen in Rede standen, liegt esnahe, in der nun folgenden pseudoprotagoreischen Rede eine Verteidigungdes HMS zu sehen. So l t Sokrates nach Best tigung dessen, wasProtagoras ber die Wahrheit geschrieben habe (166d) - sc. da nach demHMS alle Empfindungen und Vorstellungen gleicherma en wahr seien -,diesen betonen, er kenne durchaus den άνήρ σοφός; der aber zeichne sichnicht durch wahrere Vorstellungen aus, sondern bewirke vielmehr, daderjenige, dem κακά erscheinen, stattdessen αγαθά empfinde. Drei sichanschlie ende Beispiele verdeutlichen diesen Gedanken:1. Wenn einem Kranken das, was f r den Gesunden s ist, bittererscheint, kommt es nicht darauf an, an des Kranken Verstand zu zweifelnund seine Empfindung f r falsch zu erkl ren (166e/167a), sondern einverst ndiger Mann (άνήρ σοφός, in diesem Falle der Arzt) verwandelt(etwa durch Arzneien) die schlechte Verfassung (έξις πονηρά) des

35 Die Zweizahl der ber eine Sache getroffenen Aussagen (disserere inut ram que partem) l t sich stets wahren, indem man bezogen auf eine Aussage A(z.B. „Ich friere; der Wind ist kalt.") jede andere Aussage nicht-A nennt.

36 Dieses Zeugnis verdient besondere Beachtung, weil es nach eigenem Bekundenim Geiste des Protagoras geschrieben sein soll (165e). Es sei allerdings daraufhingewiesen, da die im folgenden besprochene Deutung des HMS die voraufgegangenenEr rterungen nur erg nzen, nicht aber aufheben sollen.

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Protagoras 25

Kranken, die seine Empfindungen verursacht, in eine ,gute' (έξις χρηστή),die der des Gesunden gleicht.2. hnlich bewirkt (vgl. έμποιεΐν) der Landmann (γεωργός, als Arzt f rPflanzen) den schw chlichen Pflanzen anstelle von »schlechten'Empfindungen (πονηραί αισθήσεις) ,gute' (χρησται και ύγιειναίαισθήσεις τε και αληθείς, 167b/c).3. Die klugen Redner (σοφοί τε και αγαθοί ρήτορες) bewirken, da dieπόλεις diejenigen Dinge f r gerecht (δίκαια) halten, die ,gut' bzw. n tzlich(χρηστά) sind (167c).

Der σοφός άνήρ ist folglich f hig, das jeweils N tzliche (χρηστόν37)f r einen Organismus zu erkennen, sei dieser nun ein kranker Mensch, einePflanze oder eine πόλις. W hrend f r Protagoras alle Vorstellungens u b j e k t i v gleicherma en wahr sind, gibt es nicht nur Unterschiede imNutzen, sondern das im Einzelfall wahrhaft N tzliche ist o b j e k t i verkennbar. Offensichtlich hat Protagoras im Bereich der Erkenntnis dieWahrheit als Ma stab aufgegeben, daf r aber im Bereich des Nutzensbeibehalten38. Den sich daraus ergebenden Widerspruch hat offenbar auchPlaton selbst erkannt und ihn in Theaet. 169d ausgesprochen39. Man mag

37 Da χρηστός und πονηρός nicht etwa .moralisch gut' o.a. bzw. dessen Gegenteilbezeichnen, erhellt aus 167c: έπεί οία γ*αν εκάστη πόλει δίκαια και καλά δοκη, ταΰτακαι είναι αυτή, έως αν αυτά νομίζη. Es w re sonst unverst ndlich, weshalb Protagorasin demselben Zusammenhang f r die πόλεις νόμιμον und δίκαιον gleichsetzen undδίκαιον damit ohne moralische Bedeutung verwenden, χρηστός und πονηρός dagegendoch moralisch deuten sollte; vgl. dazu auch Nill 1985, 13: „In Protagoras' Apology inthe Theaetetus .Protagoras' does assert that some are wiser than others in seeing whatwould be a d v a n t a g e o u s (hervorgeh, v. Verf.) to the political community." ;ebenso Doling 1981, 112; anders Dietz 1976, 59.

38 Nach Koch 1970, 45 w nscht der Kranke die Wiederherstellung seinerGesundheit „nicht deswegen, weil er an dem .wahreren' Logos teilhaben m chte, sondernweil der Mehrzahl der Menschen ... die αϊσθησις κατά φύσιν erscheint." Der Krankestrebt nach dem Zustand des Gesunden, weil dieser der objektiv n tzlichere ist. Auch f rden σοφός des Protagoras ist - wie der Begriff χρηστός zeigt - eine Krankheit nicht dannvorzuziehen, wenn alle an ihr leiden.

Vlastos 1956 (1976), 286ff. deutet σοφός als „has the power to change men so thatthe result appears better to them", und versucht einen objektiven Ma stab aus Protagoras'Gerechtigkeitsauffassung zu gewinnen. Doch ist Gerechtigkeit f r Protagoras ebensosubjektiv wie jede Wahrnehmung und lediglich der Nutzen objektiv erkennbar.

39 Apelt 41920, 165 bemerkt dazu: „Der bergang von der subjektiven Wahrheitder Sinnesanschauung zu einer objektiven Beurteilung des Guten und N tzlichen (166df.)setzt f r das Urteil den Anspruch an allgemeine G ltigkeit (objektive Wahrheit) schon

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versucht sein, die o.a. Erkl rung f r Protagoras' Satz vom ausge-schlossenen Widerspruch auch auf diesen Zuammenhang anzuwenden mitder Annahme zweier verschiedener Wahrheiten, einer »Erkenntniswahrheit'und einer »NutzenWahrheit', und letzterer die χρησταί και ΰγιειναίαισθήσεις τε και α λ η θ ε ί ς (167c/d) zuzuordnen, doch scheint mir dies

berfl ssig zu sein. Ein solcher Widerspruch ist n mlich immerunvermeidbar, wenn man - wie Protagoras - andere Ma st be dem einerwahren Wesenserkenntnis von Gegebenem vorzieht (s.o.), denn jeder an-dere allgemeing ltige Ma stab mu als solcher trotzdem wahr sein. hnlichwie im Falle des Satzes .Absolute Wahrheit ist unm glich" (s.o.) hat mansich mit Inkonsistenz abzufinden.

Die drei oben angef hrten Beispiele aus der »Apologie* sind hingegennur scheinbar problematisch: Zun chst f llt auf, da im ersten Beispiel derάνήρ σοφός die έξις des Kranken χρηστή werden l t, im zweiten dieαισθήσεις der Pflanzen und im dritten sogar die Dinge selbst χρηστά sind,als handle es sich um drei verschiedene Sachverhalte. Es l t sich jedochjedes der Beispiele in eine den beiden brigen entsprechende Form setzen40:Ist, um mit dem ersten Beispiel zu beginnen, die έξις eines Krankenschlecht, dann meidet er Speisen, die n tzlich f r ihn w ren, weil sie ihmunangenehm bitter erscheinen. Wie der σοφός der πόλις dasjenige gerechterscheinen l t, was χρηστό ν ist, so mu er dem Kranken dasjenigeangenehm erscheinen lassen, was χρηστόν ist (l«3). Ebenso l t sich derUmstand, da eine πόλις nicht das f r δίκαιον h lt, was χρηστόν ist, aufihre schlechte Verfa theit (sc. auf ihre έξις πονηρά) zur ckfuhren (3~l)41.

voraus." Genau genommen setzt aber nicht der b e r g a n g zu einer objektivenBeurteilung von ,gut' und .n tzlich', sondern bereits die subjektive .Wahrheit' des HMSobjektive Wahrheit voraus, weil der HMS mit der Gleichstellung aller subjektivenEmpfindungen dem Satz .Absolute Wahrheit ist unm glich' entspricht, und damitverborgen wenigstens f r diesen Satz objektive Wahrheit beansprucht (s.o.). In Plat.Theaet. 166df. kommt zu diesem latenten Widerspruch der ganz offensichtlich bestehendeh i n z u , da Protagoras neben der „subjektiven Wahrheit der Sinnesanschuung" eineobjektive N u t z e n Wahrheit annimmt.

40 J. McDowell: Plato, Theaetetus, Oxford 1973, 166 f hrt dieses nicht mit letzterKonsequenz, sondern nur ansatzweise f r das Beispiel l und 3 durch, ohne den Hinweis,da sich j e d e s Beispiel jedem der beiden brigen angleichen l t.

41 Interessant ist die genaue Parallelit t von πόλις und Individuum: Wie dieEmpfindungen und Vorstellungen aller einzelnen Menschen wahr sind, sind die νόμιμαaller πόλεις gleicherma en δίκαια. Politische Begriffe verwendet Protagoras nicht anders

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Protagoras 27

Folglich sind auch die Wahrnehmungen (αισθήσεις) des Kranken, die ervon der betreffenden Speise hat, schlecht, und der σοφός hat diese durchαισθήσεις χρησταί zu ersetzen (1=2). Wenn schw ch che Pflanzen dieN hrstoffe, die ihnen n tzen, nicht aufnehmen, ist ihre έξις schlecht, undder σοφός mu sie χρηστή werden lassen (2=1) usw.

Platon/Sokrates lassen in diesem Zusammenhang Protagoras denWahrnehmungsvorgang in drei notwendig einander bedingende Bestand-teile zerlegen: έξις, αϊσθησις und die wahrgenommenen χρήματα.Oberstes Ziel ist nicht gr tm gliche Wahrheit, sondern der Nutzen; beiwahrhaftem Nutzen sind έξις, αϊσθησις und χρήματα χρηστά. Dochwelches Kriterium offenbart den wahren Nutzen? In Platons Protagoras334a-c f hrt Protagoras die Relativit t des Begriffes .Nutzen* vor: Nicht ansich k nnten die Dinge als n tzlich (ωφέλιμος) gelten, denn manches n tzenur manchen Tieren, nicht aber dem Menschen, anderes n tze demKranken, nicht aber dem Gesunden etc. Nutzen ist folglich stets Nutzenf r jemanden. Kriterium bzw. Ma stab f r das, was n tzlich ist, kann nurder- oder dasjenige sein, dem es n tzen soll42. Wenn Protagoras denNutzen zu einem entscheidbaren und wichtigen Prinzip erhebt, bedarf es(auch angesichts der oben angef hrten Beispiele l und 3) wohl keinesBeweises, da der Nutzen des Protagoras nur einem gilt: d e mM e n s chen4 3 .

als erkenntnistheoretische bei den einzelnen Menschen, πόλις gilt in diesemZusammenhang als eine Einheit. Da eine πόλις de facto ein Kollektiv darstellt, ist f rProtagoras in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung: Es kommt ihm darauf an, dieBedeutung des σοφός in der Politik darzustellen, und die besteht darin, angesichts der vonπόλις zu πόλις verschiedenen Rechtsauffassungen nicht die .richtige* zu erkennen, sondernder f r die jeweilige πόλις n tzlichen Rechtsauffassung aufzuhelfen. Anders Classen1989, 19, doch vermag er f r sich die Eindeutigkeit des Textes nur mit der Annahme zuumgehen, nicht Protagoras, sondern Platon habe den HMS auf den politischen Bereichausgedehnt; dazu s.o. Anm. 29.

42 Plat. Theaet. 179blf. nennt den σοφός als μέτρον, doch kann dieser das nur f rdie Wahrheitserkenntnis sein. Auch er bemi t den Nutzen nach demjenigen, dem esn tzen soll. Somit ersetzt nicht etwa der σοφός als brauchbareres Ma (Nestle 21942,270) den Menschen, sondern er zeichnet sich lediglich durch seine Bef higung aus, jeweilsden objektiven Nutzen zu erkennen.

43 Das erkl rt auch, weshalb Protagoras nicht „das Schwein oder den Affen" in denMittelpunkt seines HMS stellt; vgl. Sokrates' Einwand in Plat. Theaet. 161c5.

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Da die Apologie des Protagoras nach 165e5 (s.o.) offenbar den HMSerl utern soll, kann man wohl mit Recht die gerade aus ihr gewonnenenErgebnisse auf den HMS anwenden und sich so der Antwort auf die Fragen hern, was die χρήματα bedeuten: Deutet man diesen Begriff (vorl ufig)als »n tzliche Dinge'44, so ergibt sich: Der M e n s c h ist dasM a d e r n t z l i c h e n D i n g e , d e r e r d i e ( e s ) s i n d ,d a s i e ( e s ) s i n d , d e r e r d i e ( e s ) n i c h t s i n d ,d a s i e ( e s ) n i c h t s i n d .

Nat rlich bleibt dreierlei zu bedenken:1. Der Begriff χρήματα ist derartig vieldeutig45, da sich aus ihma l l e i n und aus seiner Verwendung im HMS nichts Bestimmtes ableitenl t.2. Nicht alle Dinge k nnen dem Menschen n tzlich sein. Ist die Deutung,n tzliche Dinge' nicht zu eng gefa t?3. Die zu Beginn untersuchten Zeugnisse legen eine s u b j e k t i v eDeutung des HMS nahe (S2), doch die soeben aus der .Apologie' inPlatons Theaitetos abgeleiteten berlegungen deuten ihn o b j e k t i v .

Zu 1: Die vielfachen Bedeutungsm glichkeiten des Begriffes χρήματαallein gebieten nicht, den HMS so weit zu fassen, da er all diesenM glichkeiten oder auch nur der allgemeinsten (,Ding von jeder denkbarenArt') gen gt. Entscheiden l t sich diese Frage nur, wenn man die antikenBesprechungen des HMS untersucht. So l t sich der o.a. vorl ufigenDeutung χρήματα = .n tzliche Dinge* zugute halten, da sie sich ausPlatons Theaitetos ergibt.

Zu 2: In der Tat kann χρήματα = n tzliche Dinge als zu eng gefa teDeutung nicht befriedigen. Dennoch sollte sie deswegen nicht v lligunber cksichtigt bleiben, sondern bedarf lediglich einer Erweiterung. Ausden o.a. Ausf hrungen ber die subjektive Deutung des HMS ergab sich,da die χρήματα unabh ngig vom Menschen gegebene Dinge sind(Deutung S2). Von dieser Mindestannahme l t sich eine Br cke schlagenzur Bedeutung .n tzliche Dinge' (die diese zudem - wie erforderlich -erweitert), wenn man Plat. Theaet. 152b und 159c/d bzw. 166e alsBeispiele zugrunde legt: Nach Theaet. 152b empfindet ein Mensch einen

44 Diese Bedeutung belegt Xen. Oec. 19.45 Vgl. Guthrie III 1969, 191

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Protagoras 29

gegebenen Wind nicht einfach als ,kalt', sondern er f r i e r t : άρ' ουκενίοτε πνέοντος ανέμου του αυτού ό μεν ημών ρ ι γ ο ΐ , ό δε ου;

hnlich h lt in Theaet. 166e der Kranke eine Speise f r u n a n g e n e h mb i t t e r (πικρός46), die dem Gesunden angenehm s erscheint. Weitentfernt davon, bestimmte Eigenschaften teilnahmslos zu registrieren,stehen die jeweiligen Personen in einer engeren Beziehung zu dengegebenen χρήματα47. Offensichtlich empfinden beide PersonenUnangenehmes, wo sie Angenehmes erwartet hatten, d.h. ihr Verh ltnis zuden χρήματα ist von der grunds tzlichen Erwartung bestimmt, da dieseeinen Zweck (sc. angenehme Empfindungen) erf llen sollen. hnlichordnete Protagoras in der »Apologie* die χρήματα dem Nutzen als demeigentlichen Zweck unter. Der Kranke bedarf dabei deswegen der rztlichenHilfe, weil er die ihm vorgesetzte Speise aufgrund seiner έξις πονηρά demfalschen Zweck unterordnet: ggf. verschm ht er sie als bitter, obwohl sieihm n tzen k nnte. Allgemein formuliert: Protagoras scheint das Verh ltnisdes Menschen zu den χρήματα von dem Bestreben bestimmt zu sehen, siejeweiligen Zwecken unterzuordnen, d.h., sie sich z u n u t z e zu machen.Die χρήματα sind gegebene οντά, mit denen der Mensch umgeht und die erdabei als Mensch seinen Zwecken unterordnet: sie sind die p o t e n t i e l ln t z l i c h e n D i n g e , die G e b r a u c h s d i n g e48.

^ In s mtlichen im LSJ aufgef hrten Bedeutungen bezeichnet πικρός eine f r denMenschen unangenehme Empfindung; selbst in seiner Grundbedeutung .scharf, spitz' (Δ118 πικρός όϊστός) ist diese Eigenschaft h chstens f r eine Seite der K mpfenden.angenehm', besser .n tzlich*. Deshalb ist die bersetzung .unangenehm bitter'gerechtfertigt.

47 Vgl. Versenyi 1962 (1976), 294ff.; Versenyi st tzt sich allerdings einerseitsberwiegend auf die etymologische Verwandtschaft von χρήματα - χράομαι, die allein

keinen hinreichenden Beweis liefert, andererseits hebt er hervor, da χρήματα die Dingebezeichnet, insofern sie zum Menschen in Beziehung stehen. Da aber χρήματα in j e d e rBedeutung in irgendeiner Beziehung zum Menschen stehen (vgl. Guthrie III 1969, 191),erhellt daraus nichts ber die Bedeutung von χρήματα. Entscheidend ist, da die Dingenicht in irgendeiner Beziehung zum Menschen stehen, sondern er sie ,abzweckt'. Versenyijedoch sieht in Platons Theaitetos (obwohl Theaet. 166eff. die .Abzweckung' f rProtagoras erkennen l t) nur ein Zeugnis f r „theory of sense perception", die er f r „un-Protagorean" h lt (a.O. 291).

48 Nestle 21942, 271 (ihm folgt M ller 1976, 248) leitete noch vor Versenyi dieseBedeutung aus der etymologischen Verwandtschaft von χρήματα und χρήσθαι ab: „Dennχρήμα ist ein πράγμα, φ χρήταί τις." (Eigenartigerweise deutet er χρήματα als blo esubjektive Eigenschaften der Dinge, wohingegen er noch 81978 (71931), 15 die

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30 Protagoras

Dieses Verst ndnis ist offen f r die Annahme, der Mensch sehe in denihn umgebenden οντά das Material f r seine Zwecke: So sehe der eine ineinem Baum nur den Lieferanten von Fr chten, ein anderer ein potentiellesM belst ck, ein dritter ein Schiff oder Werkzeug etc.49 Zwar sprechen dieantiken Zeugnisse diese Interpretationsweise nicht aus, doch wie eng sie mitder in diesen Zeugnissen berwiegend er rterten Relativit t wahrer

konkreten Dinge nicht ausschlo ). Da sich aus dieser Verwandtschaft a l l e i n einederartige Folgerung nicht hinreichend begr nden l t, zeigen Sext. Emp. Pyrrh. I 216 undPlat. Krat. 386a, indem sie χρήματα durch πράγματα ersetzen. Beide Zeugnisse sprechenaber auch nicht unbedingt gegen die o.a. Deutung, weil sie den HMS ausschlie lich unterdem Thema .Wahrheitserkenntnis' untersuchen und folglich ebensogut οντά schreibenk nnten. Zudem mag Platon aus Gr nden der variatio πράγματα als Synonym zu denunmittelbar zuvor genannten χρήματα verwandt haben und Sextus von Platon Krat.abh ngig sein. Arist. Met. 1053a36 hat lediglich πάντων, entweder a), weil der Text vonAristoteles nicht vollst ndig ausformuliert wurde, oder b), weil auch er ebd. nur derWahrheitsfrage nachgeht, oder c) weil χρημάτων ausgefallen ist.

Buchheim 1986, 43ff., insb. 52-6 u. 77-9 scheut zwar eine pr zise Definition desBegriffes χρήματα, doch versteht er die in Rede stehenden Dinge als solche, die „denMenschen belangen und angehen" (54 u. 55f. Anm. 40 mit Parallelen aus dervorsophistischen Literatur). Auch wenn Buchheims Verst ndnis von χρήματα zwischen.Qualit ten' (53), .Erscheinungen' („Die Dinge sind Erscheinungen, 54) und .Situationen'(„Der HMS charakterisiert alle χρήματα als Situationen", 78) oszilliert, so ist all seinenVorschl gen eines gemeinsam: Sie setzen die .Dinge' des HMS stets in Beziehung zudem Menschen. Entsprechend schlie t Buchheim nach frg. B 4 die G tter von denχρήματα aus (54 u. 78). Hinter Buchheims Vorschl gen ist somit eine Auffassungerkennbar, die χρήματα als Inbegriff all dessen versteht, womit der Mensch umgeht, bzw.was im Bereich seiner Handlungsf higkeit liegt. Indem er schlie lich folgert, der Menschdefiniere die jeweiligen Situationen mit und sei zu „sophistischem Aktivismus"gezwungen (78), scheint er von der Bestimmung, die χρήματα seien die.Gebrauchsdinge', nicht weit entfernt zu sein; allerdings geht Buchheim nicht auf diegerade in der .Apologie' des HMS (Plat. Theaet. 166aff.) ausgesprochene Nutzenlehre einund r umt deshalb dem - nach seiner Ansicht zum Aktivismus nur gezwungenenMenschen - eine zu passive Rolle ein.

Nebenbei sei noch bemerkt, da es nicht unproblematisch ist, die χρήματα mitSituationen gleichzusetzen, wie Buchheim 1986, 78 das zu tun scheint, denn in einerSituation wie - um Buchheims eigenes Beispiel zu verwenden - „Wind-dem-Frierenden-kalt" ist der jeweilige Mensch stets notwendige Voraussetzung und Bestandteil dieserSituation. Tr fe die Gleichung χρήμα = Situation zu, dann w re der Mensch dem HMSzufolge paradoxerweise das Ma seiner selbst. Stattdessen m chte Protagoras wohl nichtmehr sagen, als da die Dinge auf den Menschen als solchen und als einzelnenausgerichtet sind und ihm zur Verf gung stehen.

49 Vgl. H. Arendt, Vita activa, M nchen 61989, 144f.; Arendt hebt allerdings nurdiesen Gesichtspunkt hervor und er rtert nicht die notwendig ebenfall mit dem HMSverbundene Frage nach der Wahrheitserkenntnis.

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Protagoras 31

Erkenntnis zusammenhängt, zeigt folgende Überlegung: Wenn dem einender Wind kalt erscheint, dem anderen nicht, so ist damit über den Wind alssolchen ebensowenig gesagt wie wenn sich jemand den Wind alspotentiellen Energieträger zunutze macht. Auch ein gegebener Baum bleibtgleichermaßen unberührt davon, ob ihn der eine für groß, der andere fürklein hält, oder ob ihn jemand lediglich als Holzlieferanten ansieht. Andersformuliert: Wenn Menschen mit gegebenen umgehen (als ),um sie sich in irgendeiner Weise zunutze zu machen, führt dieser Umgangsie trotzdem auch zu Vorstellungen über diese wie ,groß - klein',,blau - grau', ,warm - kalt',,bitter - süß' etc., die mit dem Nutzen nichtsoder nur wenig zu tun haben, gleichzeitig aber ebenso nichts über die Dingeselbst aussagen. Doch gerade an solche unabhängig vom Nutzenempfundenen Eigenschaften knüpft sich die für Platon und Aristotelesinteressante Frage, ob und wie Wahrheitserkenntnis möglich ist.Infolgedessen tritt bei ihnen Protagoras als .Relativist der Wahrheit' in denVorder-, als ,Utilitarist' in den Hintergrund (wiewohl er in PlatonsTheaitetos noch hinreichend erkennbar bleibt).

Was aber sind die ,Gebrauchsdinge'? Es kann sich dabei nicht um allesExistente, sondern nur um diejenigen unabhängig vom Menschengegebenen Dinge handeln, die im Bereich seiner Wirkungsmöglichkeitenliegen: Nach frg. B 4 sind aus Protagoras' Sicht Aussagen über Götter nichtmöglich, weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind, noch über ihreGestalt. Zumindest muß er aber ihre Existenz für m ö g l i c h gehaltenhaben. Zugleich räumt er damit ein, daß möglicherweise,Dinge' existieren,für die der Mensch in keiner Weise ein darstellen kann, es sei denndafür, daß sie keine .Gebrauchsdinge' sind. sind nicht a l l eexistenten , sondern nur die, die in den Umkreis menschlichenHandlens fallen. Sie sind aber nicht notwendig auf Gegenständebeschränkt, sondern können durchaus auch Ereignisse umfassen50.

Zu 3: Aus den vorauf gegangenen Argumenten stellt sich der HMS wiefolgt dar: Der M e n s c h i s t das Maß a l l e rG e b r a u c h s d i n g e ( p o t e n t i e l l n ü t z l i c h e n D i n g e ) ,d e r e r , d i e ( e s ) s i n d , d a ß s i e ( e s ) s i n d , d e r e r ,d i e ( e s ) n i c h t s i n d , d a ß s i e ( e s ) n i c h t s i n d .

50 Vgl. Buchheim 1986, 54 u. 78.

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Ihm zufolge ist der Mensch das Kriterium, anhand dessen sichentscheiden l t, ob eine Sache ein χρήμα (ein .Brauchbares') ist, bzw. obein χρήμα existiert51. Stehen Dinge zum Gebrauch/Umgang zurVerf gung, gen gt das, um sie als χρήματα zu bezeichnen. Sind sie demMenschen wirklich n tzlich, dann sind sie χρήματα in dem besonderen o.a.Sinne (,Apologie' aus dem Theaitetos). Indem der Mensch mit den inseinem Wirkungsbereich befindlichen οντά umgeht, ordnet er sie seinenZwecken unter. Dabei sind manche seiner Vorstellungen eindeutigzweckbezogen (angenehm, Werkzeug), manche sind es weniger oder garnicht (einfache Sachaussagen wie hart, farbig etc.). All diese sind alsVorstellungen gleicherma en wahr, sagen aber ber das gegebene δ νnichts. Der Mensch ist das Ma daf r, da sie χρήματα sind, insofern sieals potentiell oder tats chlich zweckdienlich seinem Handeln zur Verf gungstehen; er ist das Ma daf r, da sie es nicht sind, insofern sie sich a) nichtin der beabsichtigten Weise ,abzwecken' oder b) gar nicht verwendenlassen, sei es, da sie ihm schaden bzw. wenigstens nicht n tzen, sei es,da sie au erhalb seines individuellen Wirkungskreises bzw. gar dem des

51 Nach Charles H. Kahn, The Greek Verb ,to be' and the Concept of Being,Foundations of Language 2, 1966, 250, wird in der griechischen Literatur vor Platon dasVerb είναι berwiegend pr dikativ verstanden als ,to be so',,to be the case' oder ,to betrue'. F r den HMS k nnte damit eher die Deutung gelten, .da sie e s sind'. Doch ist es,wenn man χρήματα als ,zum Gebrauch zu Verf gung stehende Dinge' deutet, ohnehinunerheblich, ob man είναι im HMS als Vollverb (da sie e x i s t i e r e n) oder Kopulamit elliptischem Pr dikatsnomen (da sie e s sind, sc, Gebrauchsdinge) wiedergibt. Esmacht auch keinen Unterschied, ob man als Beispiel f r die o.a. objektive Deutung O2anf hrt „Der Mensch ist das Ma des Kalten, da es existiert" oder „... des Kalten, da eskalt ist", weil in beiden F llen, das Kalte objektiv gegeben ist. Die objektiven Deutungen

l und O2 scheitern daran, da der HMS ein Mehr an Wahrheitserkenntnis au er inFragen des Nutzens nicht gestattet. Nimmt man χρήματα dagegen als ,zum Gebrauch zurVerf gung stehende Dinge', ist eine objektive Deutung m glich. D a die Dinge zumGebrauch zur Verf gung stehen, ist objektiv gegeben und der Mensch ist der Ma stab,anhand dessen sich dieses entscheiden l t; als w a s sie jedoch verwandt werden, dash ngt allein vom Menschen ab und sagt ber die sonstigen Qualit ten der χρήματα alssolcher nichts. Eine logische Schwierigkeit scheint darin zu bestehen, da man, wennman Dinge, die keine χρήματα sind (z.B. G tter), in diesen Satz einsetzt, diese im erstenTeil des Satzes als χρήματα voraussetzt: Der Mensch ist das Ma aller χρήματα, ... der(es) nicht seienden (z.B. G tter), da sie (es) nicht sind. Dieses Paradoxon liegt in derStruktur des Satzes begr ndet und ergibt sich bei jeder Deutung, weil es grunds tzlichunm glich ist, Ma stab f r etwas zu sein, was (es) nicht ist. In diesem Paradoxon erweistsich der HMS erneut als inkonsistent, womit man sich wohl abfinden mu (s.o.).

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Menschen berhaupt liegen. Beispielsweise ist der Mensch hinsichtlich derG tter Ma daf r, da sie keine χρήματα sind - ως ουκ εστίν -, weil sie injedem Falle au erhalb seines Wirkungskreises liegen; Fr chte sind,insofern sie wohlschmeckend und n hrend sind, χρήματα, als Werkzeugaber ου χρήματα.

Bei der Deutung des HMS bleibt somit zu bedenken, da Protagoras aufder einen Seite absolute Wahrheitserkenntnis ber das eigentliche Wesengegebener χρήματα f r unm glich erachtet bzw. alle Vorstellungen alsVorstellungen f r gleicherma en wahr erkl rt, er aber auf der anderen Seiteeinen objektiv erkennbaren Nutzen annimmt. Daraus ergeben sich zweiverschiedene Bedeutungen des HMS, die einander nicht widersprechen,weil sie zwei verschiedene Sachverhalte betreffen:1. Die s u b j e k t i v e Deutung, die zwischen χρήματα und ποιότητεςtrennt (S2). Alle Vorstellungen der Menschen ber die χρήματα sind alsVorstellungen wahr, sagen aber ber die χρήματα an sich nichts. DieVorstellungen sehen in den Dingen Eigenschaften, die einerseits - soweitm glich - danach bemessen werden, ob sie angenehm bzw. n tzlich sind,andererseits aber auch ,nutzenindifferent' sein k nnen. Es gibt in dieserDeutung keinen σοφός.2. Die o b j e k t i v e Deutung, nach der es einen f r den Menschenberhaupt und einen f r jeden einzelnen Menschen objektiv g ltigen Nutzen

gibt, dessen μέτρον der (einzelne) Mensch darstellt. Den nach ihmbemessenen Nutzen erhalten die Dinge nur durch dessen Umgang mit ihnen(χρήσις). Die Nutzenvorstellungen von l (die sich nat rlich ebenfalls erstim Gebrauch zeigen) k nnen diesen wahren Nutzen verfehlen; der σοφόςaber ist in der Lage, den wahren Nutzen zu erkennen.

Damit gilt f r den HMS, was Protagoras ber alle anderen Dingeebenfalls lehrte: disserere in utramque partem (sc. subjektiv - objektiv) beizugleich ausgeschlossenem Widerspruch.

Kommen wir nun auf die zu Beginn gestellte Frage nach dem Sinn vonάνθρωπος zur ck: In welchem Sinne der HMS άνθρωπος verwendet,d rfte sich aus den bisherigen Ausf hrungen ergeben: Im Vordergrundsteht der e i n z e l n e Mensch (έκαστος z.B. Plat. Krat. 386dl). PlatonsBesprechungen w hlen denn auch zur Illustration des HMS ausnahmslos

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Beispiele, ber die e i n z e l n e Menschen tats chlich geteilter Meinungsein k nnen. Wie es aber neben dem f r den einzelnen speziell g ltigenNutzen auch einen f r alle Menschen g ltigen Nutzen gibt, so darf man f rProtagoras auch Vorstellungen ansetzen, die unter den Menschen alsGattungswesen unbestritten sind (z.B. ein wolkenloser Himmel ist blau52),und f r die zwar jeder Mensch als Mensch (im Unterschied zum Tier) einμέτρον darstellt, die aber dennoch ebensowenig ber das tats chlicheWesen der χρήματα aussagen wie die individuell verschiedenenVorstellungen. Zudem erlaubt Plat. Theaet. 167c, auf den gemeinsamenNutzen einer politischen Gemeinschaft (πόλις) zu schlie en. »Mensch*bezeichnet im HMS folglich den Menschen in allen seinenErscheinungsformen: den einzelnen Menschen, den Menschen berhaupt(als Gattung) und auch den politischen Menschen53.

Diese Vielschichtigkeit des HMS mag befremden; leicht ist manversucht, sich mit einer einfachen Deutung zu begn gen. Wenn er aber alsprogrammatischer und provozierender Satz tats chlich eine wichtige Schriftdes Protagoras e i n l e i t e t e (Sext. Emp. adv. math. VII 60; Plat.Theaet.l6lc), so mag das ein Hinweis darauf sein, da er in dieser Schriftunter verschiedenen Aspekten herangezogen wurde.

b) M gliche Parallelstellen

Die erkenntnistheoretische Bedeutung des HMS ist in antikenZeugnissen hinreichend bezeugt. Auch der Gedanke des die Dinge inseinem Sinne abzweckenden homo technicus ist in der Literatur des 5.Jh.nachweisbar54. Im folgenden gilt es deshalb, Textstellen zu besprechen, diedie Bedeutung von χρήματα als .Gebrauchsdinge' sowie die darausabgeleitete Nutzenlehre f r den HMS unterst tzen:

1. Xen. Oec. l 9 belegt f r χρήματα die Bedeutung ,n tzliche Dinge':Σύ άρα, ως εοικε, τα μεν ώφελοΰντα χρήματα ήγιτί, τα δε βλάπτοντα ου

52 Individuelle Unterschiede, z.B. Grad der Bl ue, sind bei diesen Empfindungenaber immer noch m glich.

53 Vgl. Wolf II 1952, 21f., C. Grawe in: J. Ritter (Hrsg.): Hist. W rterb. d.Philos., Basel 1971ff., III 1176, Huss 1996, 248f.

54 Vgl. Soph. Ant. 332ff.

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χρήματα. Direkt im Anschlu daran (I 10) spielt Xenophon auf dieetymologische Verwandtschaft von χρήσθαι und χρήματα an: Ταύτα άραοντά τφ μεν έπισταμένφ χρήσθαι αυτών έκάστοις χρήματα εστί, τφ δεμη έπισταμένφ (sc. χρήσθαι) ου χρήματα. Wenn jemand bestimmte Dingerichtig zu gebrauchen wei , sind sie f r ihn χρήματα. XenophonsWortspiel zeigt zum einen den Zusammenhang zwischen Nutzen undGebrauch, zum anderen, da einem gebildeten Griechen des 5./4.Jh. dieetymologische Verwandtschaft von χρήσθαι und χρήματα bewu t war.M glicherweise verwendet auch Plat. Theaet. 167bff. den Begriff χρηστόςaus diesem Grunde.

Da diese Passage streng genommen f r χρήματα (anscheinend auchnur im Plural) lediglich die Bedeutung . r i c h t i g angewandte Dinge',»n tzliche Dinge' belegt, mindert ihren Aussagewert insofern, als sie alleinkeinen hinreichenden Beleg f r die Auffassung darstellt, χρήματα im HMSseien die .Gebrauchsdinge' im allgemeinen Sinne. Immerhin zeigt sie aberden Zusammenhang zwischen Anwendung und Nutzen, denn ,n tzlicheDinge' sind in jedem Fall »gebrauchte Dinge'. In der allgemeinenBedeutung des HMS55 kommt die Bedeutung von χρήματα als»angewandte Dinge' bzw. »potentiell n tzliche Dinge' der ,xenophon-tischen' zumindest nahe; in der speziellen Deutung, die sich aus der,Apologie' in Platons Theaitetos ergibt, wenn der σοφός erkannt hat, wasjeweils χρηστός ist, l t sich χρήματα in den HMS genau in der ,xeno-phontischen' Bedeutung .n tzliche Dinge' einsetzen. Der Plural bei Xeno-phon widerspricht der Anwendung auf den HMS nicht.

2. Euripides verbindet in frg.!9N2 (Aiolos) τί δ' αίσχρόν, ην μη τοΐσιχρωμένοις δοκη; ethischen Relativismus durchaus im Sinne von Protagoras(Was sch ndlich ist, h ngt von den jeweiligen einzelnen Menschen ab.) mitdem Begriff χρήσθαι, als wolle er damit auf den HMS anspielen. Der Wertdieser Parallele h ngt von der Bedeutung von χρωμένοις ab: Deutet man esals ,den jeweils mit einer Sache Umgehenden' (Dat.), so hat man eineinhaltlich treffende bersetzung, die allerdings deswegen schwerf llig ist,weil ein dem griechischen χρήσθαι entsprechendes quivalent im

55 Spezielle Bedeutung des HMS: „Der Mensch ist das Ma aller n tzlichenDinge", allgemeine Bedeutung: „Der Mensch ist das Ma aller potentiell n tzlichenDinge (= Gebrauchsdinge).

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Deutschen fehlt. Das dem Sinn n chststehende .umgehen mit' l t sichnicht absolut verwenden, andere im Deutschen absolut verwendbareBegriffe sind inhaltlich nicht treffend56. Man ist gezwungen, χρωμένοιςentweder ungenau zu bersetzen, oder zu umschreiben, indem manfrg.!9N2 etwa folgenderma en wiedergibt: „Was ist sch ndlich, wenn esnicht denen so scheint, die umgehen (sc. mit einer Sache/einemUmstand/einemMenschen in einer bestimmten Absicht)." Da sich keinBeleg findet, der den absoluten Gebrauch von χρήσθοα in dieser Bedeutungbeweist, mu man wohl davon ausgehen, da in den voraufgegangenenVersen das entsprechende DatObj. o.a. gestanden hat. Euripides h tte danneinen zuvor genannten bestimmten Fall (umgehen mit A) durch Weglassendes Objektes erweitert zu .umgehen mit x', wobei f r x Verschiedenes

56 Nestle 21942, 272 bersetzt Frg. 19 N2 mit „ ... wenn es nicht dem Brauch sogilt", um die etymologische Verwandtschaft zu χρήματα zu betonen, Capelle ^1968, 332mit „ ... wenn's dem T ter nicht so scheint", und G.A. Seeck mit „den Betroffenen"(Euripides: S mtl. Trag. u. Frg., ed. G.A.Seeck VI, M nchen 1981, 12). DieseUnterschiede verdeutlichen, wo die Schwierigkeit liegt. ,Tun' bzw. .T ter' w re eineinhaltlich treffende bersetzung, ist aber als Bedeutung f r χρήσθαι nur in derVerbindung mit πράγμα o.a. belegt, z.B. Hyp. Eux. 11 τοιούτφ πράγματι ου κέχρησαι.Die im LSJ aufgef hrten Beispiele f r absoluten Gebrauch von χρήσθαι helfen auchnicht weiter: 1. Ψ 834 mu man als Objekt zu χρεωμένος die v.826 genannteWurfscheibe (σόλος αΰτοχόωνος) erg nzen 2. Xen. Kyr. IV 3,23 χρώνται Πέρσαι ούτωbelegt die Bedeutung .gewohnt sein', allerdings auch nicht bei absolutem Gebrauch,sondern in Verbindung mit einem Adverb. Zudem ergibt χρήσθαι = .gewohnt sein' inFrg. 19 N2 keinen rechten Sinn, weil es ein bei einer Gruppe von Menschen generellgleiches Verhalten bezeichnet, in Frg. 19 N2 aber angesichts des Relativismus individuellv e r s c h i e d e n e Handlungen gemeint sein m ssen. Auch m te zu .gewohnt sein'das, was man zu tun gewohnt ist, im Zusammenhang genannt sein. In beiden im LSJaufgef hrten Stellen wird χρήσθαι somit nur s c h e i n b a r absolut gebraucht. AuchPlat. Prof. 321c2/3 (nicht im LSJ), wo die Ratlosigkeit des Epimetheus angesichts desnoch .unbegabten' Menschen in die Worte gefa t wird: και ήπόρει ότι χρήσαιτο, hilfttrotz anderslautender bersetzungen nicht weiter: Wer z.B. mit Taylor 21991, 13bersetzt „and he was at a loss what t o d o " , dem obliegt die Pflicht, diese Bedeutung

f r χρήσθαι anderswo eindeutig zu belegen. Die bersetzung „und er wu te nicht, was ermit ihm (sc. dem Menschengeschlecht) anfangen sollte" bereitet keine Schwierigkeiten(so auch z.B. Platon, S mtl.Werke, bers. Rufener / Einl. Gigon, M nchen/Z rich 1974,I S.203; Platon. Saemmtliche (sie) Werke, bers. M ller / Einl. Steinhart, Leipzig 1850,I S.448), weil sie inhaltlich trifft, sich leicht grammatisch erkl ren l t, indem man zuχρήσθαι aus ανθρώπων γένος (321c2) αύτφ erg nzt, und keines weiteren Beweisesbedarf. Offenbar verwendet auch Plat. Prot. 321clf. χρήσθαι nur scheinbar absolut.

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Protagoras 37

eingesetzt werden kann. Ein solches Vorgehen pa t gut zu diesem wie eineSentenz formulierten Vers.

3. Isokrates spielt Panath. 223/4 eindeutig auf den Nutzenrelativismusvon Plat. Prot. 334a-c und wohl auch auf den HMS an: ... οΰχ αϊ φύσειςαϊ των πραγμάτων ούτε ώφελοΰσιν ούτε βλάπτουσιν ημάς, αλλ' ... αϊτων ανθρώπων χρήσεις και πράξεις απάντων ήμΐν αϊτιαι τωνσυμβαινόντων είσίν. Der Umgang mit den Dingen (χρήσις) und dasHandeln entscheiden, ob eine Sache n tzlich ist oder nicht. Er f hrt fort(224): γνοίη 6' αν τις εκείθεν τα γαρ αυτά πανταχή και μηδαμήδιαφέροντα τοις μεν ωφέλιμα, τοις δε βλαβερά γίγνεται. Dinge, die anund f r sich unver nderlich sind, werden bzw. sind f r die einen n tzlich,f r die anderen sch dlich (sc. durch den Umgang mit ihnen). Isokratesfolgert das aus dem Umstand, da unm glich die gegebenen Dinge (οντά)neben ihrer eigentlichen φύσις (ihrem Wesen) zugleich eine diesem Wesenentgegengesetzte φύσις haben k nnen: καίτοι την μεν φύσιν εχεινεκαστον των όντων την έ ν α ν τ ί α ν α υ τ ή ν α ύ τ η και μη τηναυτήν ουκ εΰκολόν εστίν.

Protagoras selbst l t zwar die φύσις der Dinge au er acht, doch - seies, da die Dinge als solche ihn nicht interessieren, sei es, da er sie f runerkennbar h lt, - das, was gegeben ist, bleibt in Protagoras' Lehre vondem menschlichen Handeln ebenso unber hrt wie die φύσις των όντων beiIsokrates. Isokrates bernimmt zwar nicht den Relativismus des Protagorasin seiner allgemeinen Form, aber im Bereich der Nutzenlehre macht er -ebenso wie der HMS nach der ausgef hrten Deutung - das, was f rjemanden n tzlich ist, vom Handeln (πράξις) und dem Umgang desMenschen mit den Dingen (χρήσις) abh ngig. In dieser Hinsicht bleibt derMensch auch f r Isokrates das Ma der Dinge.

4. Nach Demokrit B 175 geben die G tter den Menschen alles Gute(τάγαθά πάντα), w hrend f r alles Schlechte und Sch dliche der Menschwegen seiner Blindheit (τυφλότης) und Unkenntnis (άγνωμοσύνη) selbstverantwortlich ist. Dem Menschen offenbaren die Dinge nicht von sich ausihren Nutzen, sondern erst durch den richtigen Umgang mit ihnen (B 173):άνθρώποισι κακά εξ αγαθών φύεται, έπήν τις τάγαθά μη 'πιστήταιποδηγετεΐν μηδέ όχεΐν εύπόρως. ου δίκαιον εν κακοΐσι τα τοιάδεκρίνειν, αλλ' εν άγαθοΐσι ων ... Β 172 erl utert diesen Gedanken mit

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einem Beispiel: Woraus uns Menschen das Gute erwachse, daraus erlangenwir auch das ble (άφ'ών ήμΐν τάγαθά γίγνεται, από των αυτών τούτωνκαι τα κακά έπαυρισκοίμεθ' αν). Tiefes Wasser (ύδωρ βαθύ) sei zwar f rvieles n tzlich (είς πολλά χρήσιμον), aber man k nne darin auch ertrinken(κίνδυνος γαρ άποπνιγήναι). Dagegen helfe Schwimmunterricht (μηχανή... νήχεσθαι διδάσκειν).

Ob eine Sache wirklich n tzt, das h ngt allein davon ab, ob ein Menschsie sich durch richtigen Gebrauch zunutze macht. Wenn nach Demokrit - imUnterschied zu Protagoras - die αγαθά bereits von den G ttern her gut undn tzlich (χρήσιμος) sind, so bedeutet das f r den Menschen de facto nichtsanderes, als da sie f r ihn lediglich p o t e n t i e l l n tzlich sind.Wirklich n tzen k nnen sie nur bei richtigem Gebrauch (B 173), und dieserist erst m g ch, wenn der Mensch nicht mehr in Blindheit (τυφλότης) undUnverstand (άγνωμοσύνη / B 175) befangen ist, d.h. wenn ein andereroder der betreffende selbst - in Protagoras' Worten aus Platons Theaitetos -als άνήρ σοφός das wahrhaft N tzliche erkennt.

Demokrits in B 172/3 und B 175 ge u erte Gedanken stimmen in zweiPunkten mit denen des Protagoras berein:I . F r den M e n s c h e n sind die Dinge nicht an sich, so wie sie ihmvorliegen, n tzlich (nach Dem. B 172 χρήσιμος), sondern werden es f rihn erst durch seinen Umgang mit ihnen.2. Der Einsichtige (σοφός) vermag diesen Nutzen objektiv zu erkennen.

Im Unterschied zu Protagoras sind nach Demokrit die Dinge bereits ansich αγαθά57, doch der Mensch vermag sie sich erst mit Hilfe der Einsichtzunutze zu machen. Andernfalls m i braucht er sie. Protagoras nimmtnach der o.a. Deutung Dinge an, die an sich weder n tzlich noch sch dlichsind, aber als Gebrauchsdinge nutz b a r sind. Ein Mi brauch w re f rProtagoras unm glich. Nach Demokrit ,entlockt' der Mensch mit Hilfe

57 Nestle 21942, 202 bersieht diesen Umstand und deutet B 172/3 mit „Gut undschlimm sind berhaupt keine objektiven Eigenschaften der Dinge, sondern diese werdennur so oder so je nach dem Gebrauch, den man von ihnen macht." Damit legt erDemokrits Nutzenlehre exakt so aus, wie die des Protagoras gedeutet werden sollte,wendet diese Deutung aber in keinster Weise auf Protagoras an. Demokrit l t sichdennoch, auch wenn er den Nutzen in die Dinge verlegt, deswegen mit Protagorasvergleichen, weil er ebenfalls annimmt, da die Dinge f r den M e n s c h e nnicht von vornherein n tzlich sind; vgl. Nill 1985, 80.

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Protagoras 39

seiner Einsicht den Dingen den Nutzen, nach Protagoras ergibt sich derNutzen aus der Situation, da die Dinge zum Gebrauch bereit liegen. BeideThesen laufen aber auf dasselbe hinaus: Erst der einsichtige Umgang mitden Dingen l t diese f r den Menschen n tzlich werden. Solange er ihnentatenlos gegen bersteht, sind sie f r ihn lediglich p o t e n t i e l l n tzlich.

5. Im Zusammenhang mit der Frage, wie eine neu zu gr ndende Kolonierichtig und wohlgeordnet eingerichtet werden kann, verwendet Plat. Leg.716c den HMS als Deus-Mensura-Satz (DMS): ό δη θεός ήμΐν πάντωνχρημάτων μέτρον αν εϊη μάλιστα, και πολύ μάλλον η πού τις, ωςφασιν, άνθρωπος. Nach leg. 713e-714a kommt es bei einer derartigenGr ndung darauf an, die am Anfang der Geschichte gegebene urspr ng-liche g ttliche Herrschaft nun, in sp terer Zeit, durch Besinnung auf dasG ttliche im Menschen (νους) nachzuahmen. Da eine derartige Staats-gr ndung dem h chsten Zweck irdischen menschlichen Tuns dient, denευδαίμων βίος, das gl ckliche Leben, zu verwirklichen, bedarf es einesh chsten Ma stabes. Es gilt, „die Gesetzgebung auf die Erkenntnis desG ttlichen, die Geltung der Gesetze auf Gott als das Ma aller Dinge"58 zugr nden, und dazu mu der Mensch σώφρων und damit dem Gott hnlichwerden: Ziel ist die όμοίωσις des Menschen an den Gott (716c/d). Folg chist der Gott ein zielsetzendes μέτρον, auf das sich alle χρήματαzweckbestimmt ausrichten. Gott ist insofern zielsetzend, als er als Zweckder χρήματα ihre Vervollkommnung bestimmt59. F r den Menschenbedeutet dies, den ευδαίμων βίος im Rahmen der ,gro en Ordnung'6^ zuverwirklichen f r eine Gemeinschaft, die nach Platon leg. 831 a Vorrang hatvor dem einzelnen Menschen^1.

58 Gaiser 1963, 28059 Nestle engt mit seiner Wiedergabe, Gott sei das Ma aller Werte (21942, 277),

die Bedeutung von χρήματα zu sehr ein. Nat rlich ist Gott unm glich Ma daf r, da sieGebrauchsdinge sind, doch indem sie mit Gott als dem Garanten h chster Werte bemessenwerden, werden sie zweckhaft ausgerichtet. Durch diese Ausrichtung e r h a l t e n dieχρήματα erst ihren Wert.

60 Nach Friedl nder III 31975, 394f. hat Protagoras f r Platon f r alle „aufl sendenBestrebungen" gestanden. Diese „Wirrnis" stehe der .gro en Ordnung* entgegen, in diejeder „eingeordnet" sei, der Gott „lieb" sei. In diesen Ausf hrungen Friedl nders ist diezweckhafte Ausrichtung aller Dinge auf Gott erkennbar.

61 Nach leg. 831a f gt der Tod weniger guter M nner (z.B. bei einem Wettkampf)der πόλις-Gemeinschaft keinen Schaden zu, weil andere ebenso treffliche M nner.nachwachsen' (ετέρους πάλιν ου χείρους φύσεσθαι).

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40 Protagoras

Der DMS spielt dann am sinnvollsten auf den HMS an, wenn im HMSder Mensch ebenso wie Gott im DMS ein zwecksetzendes μέτρον darstelltund die χρήματα damit auf sich bzw. seinen Nutzen62 als Zweckausrichtet. F r den HMS bedeutet dies, da der Begriff,χρήματα' einemZweck untergeordnete Dinge bezeichnet. Ist der Mensch ihr μέτρον, sindsie seine .Gebrauchs-' bzw. .potentiell n tzlichen Dinge'. Er ordnet diegegebenen Dinge als χρήματα nur seinen eigenen individuellen oderzumindest rein menschlichen Zwecken unter und entfernt sie damit vonihrem Wesen: Statt als gegebenes Naturereignis, als , Wind', erscheint ihmder Wind nur kalt oder nicht kalt, d.h. der Mensch beurteilt ihn nur danach,ob er ihn frieren l t oder nicht. Bestimmung des Windes in der »gro enOrdnung' ist es aber nicht, jemanden frieren zu lassen, sondern,vollkommen ,Wind' zu sein.

Auch ist der Mensch kein Ma f r eine verbindliche Wahrheit (vgl. S2).Deshalb mu f r Platon der Mensch als μέτρον πάντων χρημάτων geradedort denkbar ungeeignet sein, wo es darum geht, im Zusammenhang miteiner Staatsgr ndung ber die όμοίωσις θεφ als h chstes Ziel denευδαίμων βίος zu verwirklichen. So gesehen stellt der DMS dieUmkehrung des HMS dar.

Da Platon die menschliche Gemeinschaft dem einzelnen berordnet (vgl.831 a) und der DMS generell den HMS ,auf den Kopf stellt, mag daszudem als Best tigung der Annahme gelten, der HMS bezeichne prim r deneinzelnen Menschen. Aber auch wenn dieser Schlu erlaubt ist, l t er dieanderen o.a. Bedeutungen von άνθρωπος (Gattungswesen und politischesWesen) allenfalls in den Hintergrund treten - generell ausschlie en tut er sienicht.

Beispielhaft zeigt Platons Umkehrung des HMS sein Verh ltnis zu denSophisten: Gaisers Bemerkung, die erbezogen auf den Prometheus-Mythosu ert, gilt nicht weniger f r das Verh ltnis zwischen DMS und HMS: „ ...

Platon [wertet] auch hier die Gedanken des Sophisten (sc. Protagoras) als

62 Gott im DMS ist nat rlich (anders als der Mensch im HMS) nicht insofern einμέτρον πάντων χρημάτων, als die χρήματα ihm n t z e n sollen. Vielmehr setzt er alsInbegriff von Vollkommenheit ihnen die Vervollkommnung ihres eigenen Wesens zumZiel. Der Mensch des HMS hingegen kann die Dinge nur auf sich und seinen Nutzenabzwecken. Gemeinsam ist aber beiden S tzen, da die χρήματα auf einen Zweckausgerichtet werden.

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vorl ufige Ann herung an die Wahrheit..., [bezieht] sie aber auf echtereGr nde ... Gef hrlich sind die sophistischen Ansichten nach platonischerAuffassung insofern, als sie zur Verabsolutierung untergeordneterPositionen verleiten und die wirklich m a gebenden (hervorgeh, v. Verf.)Normen verdecken."63

In j ngerer Zeit neigen manche Gelehrte dazu64, den HMS als Beleg f rdie demokratische Grundeinstellung des Protagoras zu deuten, weil er dasUrteil jedes Individuums als gleicherma en berechtigt ansehe. Doch ist nachProtagoras gerade in politischen Fragen der σοφός gefragt, weil er dengr tm glichen Nutzen f r die πόλις erkennt. Deshalb besteht nach denbisherigen Ausf hrungen die ethische Bedeutung des HMS nicht darin, dasdemokratische Prinzip philosophisch begr ndet zu haben; vielmehr erhebter mit der Unterordnung der Dinge unter die Zwecke des Menschen dieN tzlichkeit zum Prinzip und stellt den Menschen in den Mittelpunkt allenPhilosophierens. Die Besprechung der sog. »gro en Rede' in PlatonsProtagoras wird zeigen, ob Protagoras' Ethik und Rechtsauffassungtats chlich auf diesem Prinzip fu t.

2. Die sog. »gro e Rede' des Protagoras (Plat. Prot. 320c-328d)

a) Die »gro e Rede'

Diogenes Laertios (IX 55) f hrt unter den Schriften des Protagoras zweiTitel auf (Περί της εν αρχή καταστάσεως und Περί πολιτείας), diebezeugen, da Protagoras sich mit Fragen der Kultur- und der Staatslehrebefa t hat65. Auch wenn sich daraus weder entscheiden l t, ob diese Titel

63 Gaiser 1962, 22364 Vgl. Buchheims dictum von der „Inflation der Wahrheit" (Buchheim 1986, 53)

und Huss 1996, 248.65 Diese Titel m gen zwar auf Platon selbst zur ckgehen, doch da sie Begriffe

enthalten, die auch f r die Zeit der Sophistik bezeugt sind (z.B. κατάστασις) oder sogarim Mythos selbst erw hnt werden (αρχή), sind sie dieser Begriffswelt wenigstenssachkundig nachempfunden und deswegen nicht ohne Beweiswert; vgl. E. Norden:Agnostos Theos, Leipzig 1923, 371 f.

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tats chlich auf Protagoras zur ckgehen, noch ob Platon einer dieserSchriften die Vorlage zur sog. .gro en Rede' f r seinen Dialog Protagorasentnommen hat, so kann Diogenes Laertios doch wenigstens als Zeugedaf r dienen, da sich Protagoras berhaupt mit solchen Fragenauseinandergesetzt hat66, was wiederum die Annahme unterst tzt, die sog..gro e Rede' in Platons Dialog Protagoras enthalte in wesentlichen Z genden historischen Protagoras67.

In diesem Dialog erhebt Protagoras den Anspruch, ,Wohlberatenheit inprivaten und ffentlichen Angelegenheiten' (ευβουλία περί των οικείων ...και περί των της πόλεως [318e5-319al]) zu lehren. Dem h lt Sokratesentgegen, diese Kunst (im Text πολιτική τέχνη genannt [319a4]) sei auszwei Gr nden nicht lehrbar:1. W hrend die Athener in Fachfragen nur die entsprechenden Fachleute inder Volksversammlung anh rten, lie en sie in politischen Angelegenheitenjeden zu Wort kommen.2. Treffliche Staatsm nner wie Perikles vertrauten ihre S hne in allenerlernbaren F chern entsprechenden Fachlehrern an, aber in der Staatskunstlie en sie sie weder von anderen unterweisen, noch erz gen sie sie selbst.Offenbar sei die αρετή nicht lehrbar, und Protagoras solle seinen Anspruchbegr nden (319a3-320cl).

Dieser Aufforderung kommt Protagoras mit seiner .gro en Rede' nach;diese Rede besteht im wesentlichen aus einem Mythos (320c8-322d5) undeinem ausf hrlicheren λόγος (322d5-328d2). Protagoras beabsichtigt mitihr, die Bedeutung der πολιτική τέχνη (und damit seines Faches) zubeweisen, begr ndet mit dem Mythos aber auch ihre Bedeutung68. Um das

66 Allerdings sei einschr nkend bemerkt, da wenigstens der Titel Περί της ...καταστάσεως aus Platon herausgesponnen sein kann.

67 Zur Frage, ob der Mythos im wesentlichen auf den historischen Protagoraszur ckgeht, vgl. zuletzt Manuwald 1996, Wegen der engen Verflechtung mit dem Mythosist auch der λόγος - wenigstens inhaltlich - als dem historischen Protagoras nachgebildetanzusehen. Die Wortwahl mag im einzelnen platonisch sein, insbesondere dort, woTugendbegriffe genannt werden (z.B. 323al-2, 325al u.a.). Den Mythos h lt f r imwesentlichen platonisch J.P. Maguire: Protagoras ... or Plato? II: The Protagoras,Phronesis 22,1977, 128-39; dazu treffend Manuwald 1996,109f., Anm. 15.

68 Nach 320b8f. und 328d3ff. ist das erkl rte Ziel des Protagoras, lediglich dieLehrbarkeit der πολιτική αρετή zu beweisen. Da jedoch der im wesentlichen auf denhistorischen Protagoras zur ckgehende Mythos deren Bedeutung nachweist, ist esangebracht, darin das erkl rte Ziel des h i s t o r i s c h e n Protagoras zu sehen. Zudem

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Verst ndnis der folgenden Ausf hrungen zu erleichtern, seien beide Teile -Mythos und λόγος - kurz referiert:

Nach dem Mythos bildeten die G tter im Inneren der Erde aus Erde undFeuer eigenschaftslose Urformen der Tiere und des Menschen. Epimetheus- gemeinsam mit seinem Bruder Prometheus beauftragt, diese Urformenmit Eigenschaften auszustatten - w nschte, das allein zu tun, und verliehallen Tieren F higkeiten nach den Prinzipien von Nutzen und Gleich-gewicht: So verlieh er z.B. den einen St rke ohne Schnelligkeit, denanderen Schnelligkeit ohne St rke, gab den schwachen Tieren reiche, denstarken geringe Nachkommenschaft, sch tzte sie gegen Witterung und gabihnen jeweils angemessene Nahrung. Er verga jedoch, f r den MenschenEigenschaften aufzuheben. Prometheus versuchte, diesem Mangel abzu-helfen, indem er Hephaistos und Athene die έντεχνος σοφία und das Feuerstahl und beides dem Menschen schenkte. Obwohl Prometheus ihnen auchnoch die πολιτική σοφία69, die sich bei Zeus auf dem Olymp befand,geben wollte, gelang ihm dies nicht, denn er konnte den Olymp nicht mehr(οΰκέτι) betreten (321d6).

Die immerhin mit der έντεχνος σοφία begabten Menschen entwickeltennun zwar G tterverehrung, Sprache (und diese schnell [ταχύ]) undlebensnotwendige Fertigkeiten, doch sie wurden, weil sie einzeln(σποράδην) lebten, von den ihnen in allem berlegenen Tieren gefressenund konnten sich gegen diese auch nicht gemeinsam wehren, weil alleVersuche, zusammenzufinden und St dte zu gr nden, damit endeten, dasie einander schadeten. Aus Furcht, das Menschengeschlecht k nnteg nzlich zugrunde gehen, beauftragte Zeus den Hermes, den Menschen

ist es nicht abwegig, wenn ein Lehrer eines Faches nicht nur von dessen Lehrbarkeit,sondern auch von dessen Bedeutung berzeugt ist und - wenn auch unaufgefordert -letztere ebenfalls zeigt. M glicherweise hebt Platon selbst mit R cksicht auf den weiterenFortgang des Dialogs bewu t nur das ihm wichtige Thema hervor.

°9 Wegen der Parallelit t την μεν ... την δε ... (321d5) empfiehlt es sich, hinterπολιτική den Begriff σοφία zu erg nzen. Sihvola 1989, 87 erg nzt σοφία kommentarlos.Gagarin/Woodruff 1995, 177 umgehen dieses Problem, indem sie την δε πολιτικήν ουκεΐχεν umschreiben mit: „but they did not know how to form cities." Nestle ^1978, 95erg nzt aus 319a4 τέχνη und als Alternative αρετή. Dem Sinn tut diese Erg nzung keinenAbbruch, doch liegt σοφία wegen des unmittelbaren sprachlichen Zusammenhangs n her.

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αιδώς und δίκη, R cksichts- und Rechtsempfinden, zu bringen, diese abernicht individuell verschieden zu verteilen, wie die einzelnen τέχναι verteiltseien, sondern so, da alle an ihnen teilhaben sollten. Wer dazu nicht f higsei, der solle - so Zeus - eliminiert werden.

Der sich anschlie ende λόγος folgert zun chst (322d5-323c2) aus demMythos, da die Athener in Fragen des Zusammenlebens zu Recht jedenB rger f r kompetent halten, und f hrt zudem aus, weshalb auch in denAugen der Athener die ,politische Tugend' (πολιτική αρετή) lehrbar sei(323c3-324dl). Anschlie end behauptet er, da besonders dieStaatsm nner (324d2-325c4) und berhaupt alle Menschen (325c5-326e5)ihre Kinder in Sachen πολιτική αρετή unterweisen, und erkl rt zudem, auswelchem Grund die S hne trefflicher Staatsm nner oft mi raten (326e6-327c4). Zum Abschlu (327c4-328c2) bemerkt Protagoras, selbst dasungerechteste Mitglied einer menschlichen Gemeinschaft bertreffe jeden,Wilden' an πολιτική αρετή, und er bekr ftigt (328a4-c2) seinenAnspruch, Lehrer der πολιτική αρετή zu sein. In einem Nachsatz, der nichtmehr der eigentlichen »gro en Rede' angeh rt (328c3-d2), fa t erzusammen, was seiner Ansicht nach Mythos und λόγος zu leistenvermochten: Beide h tten die Lehrbarkeit der αρετή bewiesen und zudemgezeigt, weshalb die S hne bedeutender M nner ihren V tern oft nichtgleichk men.

Zur Interpretation im einzelnen sei zun chst eine Eigent mlichkeit desMythos betrachtet: Eigenartigerweise verteilt der Mythos die Entwicklungdes Menschengeschlechts auf zwei Stufen: Zu Beginn der ersten Stufeerhalten die Menschen von Prometheus die έντεχνος σοφία und entwickelndarauf zwar Religion, Sprache und lebensnotwendige Fertigkeiten, bleibenaber unf hig, in Gemeinschaften zu leben; zu Beginn der zweiten Stufeerhalten sie als Gabe von Zeus αιδώς und δίκη und sind fortan f hig, inGemeinschaften zu leben. Erkl rungsbed rftig ist dabei, ob Protagorastats chlich beide Entwicklungen zeitlich voneinander trennen wollte70, oder

70 Diese Ansicht verfechten die meisten Gelehrten, z.B. Bitterauf 1909, 509,Menzel 1922/23, 27, Uxkull-Gyllenband 1924, 17, Nestle 21942, 283f., Ryffel 1949,30f., Kerferd 1953, 42, ders. 1981, 140ff., Guthrie 1957 88f., ders. III 1969, 65f.,Untersteiner 21967, 101, Isnardi Parente 1977, 5, Kahn 1981, 103, Hubbard/Karnofsky1982, 95 (denn sie halten die Stufenfolge nicht f r .fragw rdig'), Dreher 1983, 12ff.,Nam 1985, 45f. (bei ihm geraten die Stufen sogar insofern durcheinander, als er die

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ob er Zusammengeh riges nur k nstlich auseinanderzog71, etwa, um dieBedeutung der πολιτική τέχνη zu unterstreichen.

Vergleicht man beide Stufen miteinander, so fallen zun chst dreiprinzipielle Gemeinsamkeiten zwischen der έντεχνος σοφία und πολιτικήτέχνη bzw. αίδώς/δίκη auf:1. Beide werden den Menschen von G ttern geschenkt; letztere sind zwarals Gabe des Zeus von gr erer Bedeutung, doch ist die έντεχνος σοφίαals Prometheusgabe um nichts weniger eine Gottesgabe.2. Beide sind lebensnotwendig: Von der έντεχνος σοφία hei t es 321d4ausdr cklich, sie diene dem ( ber-)Leben (περί τον βίον σοφία)72;ebenso l t Zeus den Menschen αιδώς und δίκη berbringen, weil erf rchtet, sie k nnten zugrunde gehen (322cl)7^.3. Beide sind allen Menschen gemeinsam: Von der πολιτική τέχνη bzw.αίδώς/δίκη wird das ausdr cklich gesagt (322d2). Die έντεχνος σοφίαwird gem 321dlff. anscheinend nur dem Menschen als solchem undnicht ausdr cklich jedem einzelnen gegeben; da jedoch vor Zeus' Eingreifendie Menschen zwar einzeln leben (σποράδην)74, aber trotzdem berSprache, Kleidung, Behausung etc. verf gen (322a5-8), habenoffensichtlich alle an der έντεχνος σοφία teil.

Sprache mit den Gesetzen zu einer Kulturstufe zusammenfa t, obwohl der Text zwischenbeiden ausdr cklich trennt), Coby 1987, 55ff, Taylor 21991, 80f. Manche beschr nkensich darauf, den Mythos zu paraphrasieren, ohne auf die Frage nach der Stufenabfolgeeinzugehen: so Dupreel 1948, 32ff., Goldberg 1983, 18, Naddaf 1992, 308ff.

71 Vgl. Jaeger I 1934, 379, D ring 1981, 110, Manuwald 1996, 113, Anm. 23;Vlastos 1956 (1976), 273f. betont zwar die unhistorische Darstellung des Mythos, erkl rtdessen Stufenfolge jedoch nicht als fiktiv. Sihvola, 99 will den Mythos zwar nichthistorisch deuten, trennt aber dennoch chronologisch zwischen der technischen und derpolitisch gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen (s.u.).

72 Vgl. auch 321e3f.: εκ τούτου εΰπορία μεν άνθρώπφ του βίου γίγνεται7^ Ζευς ούν δείσας περί τφ γένει ημών μη άπόλοιτο πάν, Έρμήν πέμπει άγοντα

εις ανθρώπους αίδω τε και δίκην. Sihvola 1989, 107, versucht zu differenzieren mit derThese „the important technical discoveries ... are sufficient for gaining livelihood, not...for the survival of humankind". Entscheidend ist aber doch nur, da die Menschen -unabh ngig davon, ob sie einzeln oder in Gemeinschaften leben - weder ohne έντεχνοςσοφία noch ohne πολιτική σοφία bzw. τέχνη berleben k nnen.

74 Da αιδώς und δίκη die notwendige Bedingung nicht nur f r die politische,sondern f r j e d e Form menschlicher Gemeinschaft darstellen (s.u.), bezeichnetσποράδην die tats chliche Vereinzelung des Menschen. Vgl. aber Anm. 85.

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Diese Gemeinsamkeiten scheinen mir ein erstes Indiz f r dieZusammengeh rigkeit der beiden Stufen zu sein. Dagegen ergeben sichUngereimtheiten, wenn man beide Stufen trennt und als tats chlichezeitliche Abfolge deutet: Es fragt sich, ob der Mensch Religion und Spracheentwickeln kann (322a3ff.), ohne bereits in einer Gemeinschaft zu leben75.Der Text des Mythos bem ht sich, hinsichtlich der Religion dieseSchwierigkeit zu umgehen, indem er deren Entwicklung hinreichend damiterkl rt, da der Mensch durch die Begabung mit der έντεχνος σοφία amG ttlichen teil habe (322a3)76. Somit scheint es nicht mehr n tig zu sein,die Entwicklung religi ser Br uche als gemeinschaftliche Leistung zuerkl ren. Die Sprachentwicklung wird im Text (322a5f.) auf dieArtikulation der Stimme und die Begriffsbildung beschr nkt77 .Eigenartigerweise verl uft diese Entwicklung - nach den Worten desMythos - nicht nur bemerkenswert rasch (ταχύ)78, es bleibt zudemunerw hnt, da Sprache der gegenseitigen Verst ndigung dient7^.

75 Vlastos 1956 (1976), 274 Anm. 11 erkl rt die (im Mythos) zeitliche Priorit t derReligion vor der πολιτική τέχνη als „compliment to the divine .givers'"; doch bedarfvielmehr die Verz gerung der πολιτική τέχνη der Erkl rung.

Sihvola deutet diese Passage des Mythos w rtlich: Die Religion werde wegen derN he bestimmter kultischer Br uche zum Feuer als erste Errungenschaft genannt, habesich als „pre-linguistic divine attitudes" vor der Sprache entwickelt (Sihvola 1989, 122)und habe zun chst in „pre-political worship" bestanden; den Ursprung der Sprache deuteProtagoras nicht als „social process", sondern ordne sie „technical equipment" zu (a.O.109). Andererseits warnt Sihvola selbst davor, den Mythos als „account of the historicalorigins of the characteristic human capabilities" aufzufassen. Der Mythos dient imwesentlichen dazu, die Bedeutung der πολτική σοφία bzw. αρετή zu zeigen, indem erhypothetisch beschreibt, in welche Lage die Menschen gerieten, wenn sie zwar allekulturellen Fertigkeiten erw rben, aber nicht in Gemeinschaften leben k nnten. Nur umdieser rein fiktiven Konstruktion willen l t Protagoras sogar Religion und Sprache ausέντεχνος σοφία entstehen. Da er im Unterschied zu anderen antiken Autoren Religionund Sprache nicht als Leistung einer Gemeinschaft deutet, daf r gibt es keinen Beleg.

7o 322a3: θείας μετέσχε μοίρας77 322a5f.: έπειτα φωνήν και ονόματα ταχύ διηθρώσατο τη τέχνη78 Vgl. Manuwald 1996, 115f. u. Anm. 31; hnlich Sihvola 1989, 99.7^ Die bei Diodor (I 8) berlieferte Kulturentstehungslehre spricht in auffallender

hnlichkeit zu Plat. Prot. 322a6 von φωνή und διαρθροΰν τάς λέξεις (Ι 8,3), f hrt dannaber fort: και προς αλλήλους τιθέντας σύμβολα περί εκάστου των υποκειμένωνγνώριμον σφίσιν. Isokrates Nie. 6 setzt nicht nur die Entstehung der Sprache an denAnfang der Kultur- und Gesellschaftsentwicklung, sondern sieht sie als Mittelgegenseitiger Verst ndigung: έγγενομένου δ' ήμΐν του πείθειν αλλήλους και δηλοΰνπρος ημάς αυτούς περί ων αν βουληθώμεν ... An anderer Stelle (Paneg. 32) bezeichnet

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Offensichtlich bem ht sich der Text, m glichst unauff llig die Entwicklungmenschlicher Kulturg ter so zu beschreiben, als seien sie als Erfindungeneinzelner Menschen denkbar und als setzten sie nicht vielmehr einemenschliche Gemeinschaft schon voraus.

Noch auff lliger ist der Widerspruch, der dem Gespr ch zwischenHermes und Zeus zugrunde liegt: Hermes fragt Zeus, ob er αιδώς und δίκηso verteilen solle, wie die einzelnen τέχναι verteilt seien - da beispiels-weise einer Arzt sei f r viele (322c5f.) -, oder ob er sie an alle verteilensolle. Die damit im Mythos noch vor der Verteilung von αιδώς und δίκηangenommene Arbeitsteilung setzt jedoch eine menschliche Gemeinschaftbereits voraus, d.h. sie w re ohne αιδώς und δίκη berhaupt nicht denk-bar80.

Diese Widerspr che l sen sich dann, wenn man die zeitliche Abfolgezweier Entwicklungsstufen, die der Mythos bietet, nicht als tats chlichechronologische Entwicklung deutet, sondern sie als k nstliche Trennungerkl rt, die Protagoras vornahm, um die Bedeutung der πολτική τέχνη zuunterstreichen und αιδώς und δίκη als Gabe des h chsten olympischenGottes gegen alle rein technischen Fertigkeiten abzuheben. Mit dieserAnnahme lassen sich nicht nur die genannten Ungereimtheiten erkl ren,sondern weitere Schwierigkeiten vermeiden: Wer an einer tats chlichenzeitlichen Abfolge zweier Entwicklungsstufen festh lt, sieht sichm glicherweise gezwungen, in dem 322b5 geschilderten Versuch derMenschen, sich ohne αιδώς und δίκη durch St dtegr ndung vor den Tierenund sonstigen u eren Gefahren zu sch tzen81 vorpolitische Siedlungs-

er wie selbstverst ndlich die kulturelle Entwicklung als Gemeinschaftsleistung(συνεπορίσαντο). Somit ist es unwahrscheinlich, da Protagoras Religion und Spracheetc. tats chlich als Leistungen einzelner Menschen verstand; vielmehr beabsichtigte er, dieπολιτική τέχνη hervorzuheben.

80 Dreher 1983, 109 Anm. 38 versucht diesen Widerspruch u.a mit der Annahme zuerkl ren, Platon habe den Mythos des Protagoras verk rzt dargestellt und „entsprechendeVermittlungsschritte des Originals ausgelassen". Doch l t sich dieses Problem mitkeiner noch so gro en Zahl ausgelassener bergangsstufen erkl ren, denn sobaldarbeitsteilige Verh ltnisse auftr ten, k nnten diese in jedem Falle nur aufgrund von αιδώςund δίκη entstehen. Coby 1987, 57 scheint darin keinen Widerspruch zu sehen, denn ererkl rt: „Social life in the state of nature then was confined to the community ofartisans." Es l t sich jedoch anhand des Textes nicht erkl ren, weshalb die Handwerkerden brigen Menschen die Gemeinschaftsf higkeit voraus haben sollten.

81 322b5: έζήτουν δη άθροίζεσθαι και σφζεσθαι κτίζοντες πόλεις

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und Gemeinschaftsformen zu erkennen82. Dabei besagt 322b5f. nichtsweiter, als da jeglicher Versuch der Menschen, ohne die Teilhabe anαίδώς und δίκη Gemeinschaften zu bilden und St dte zu gr nden, einVersuch bleiben mu und zum Scheitern verurteilt ist. Die Wendungκτίζοντες πόλεις erkl rt sich als Partizip Pr sens de conatu83 (wobei sieversuchten, St dte zu gr nden). hnlich empfiehlt es sich, die Wendung,sie lebten verstreut' (φκουν σποράδην [322bl]) als Hinweis auf eine echteVereinzelung des Menschen zu deuten84; verstreute Gruppen sindausgeschlossen, weil auch sie αιδώς und δίκη voraussetzen85; denn nurdas v llige Fehlen von αιδώς und δίκη erkl rt, weshalb sich die Menschennach vergeblichen Versuchen, πόλεις zu gr nden, wieder zerstreuen(322b8 πάλιν σκεδαννύμενοι).

Gleichwohl verdienen beide Entwicklungsstufen - insbesondere wegenihrer Begriffswahl -, jeweils f r sich n her betrachtet zu werden. ZuBeginn desjenigen Abschnittes des Mythos, der sich mit der Entwicklungdes Menschen befa t (321c2ff.), schenkt Prometheus diesem die έντεχνοςσοφία und - als .technisches' Hilfsmittel - das Feuer (321dlf.). Wie aus322a3ff. erhellt, entwickeln die Menschen dank dieser Gabe selbst ndig

82 Dreher 1938, 13f. u. 105 Anm. 15, deutet κτίζοντες πόλεις als tats chlicheGr ndung von Siedlungen und folgert daraus, πόλις bezeichne 322b5 vorpolitischeSiedlungsformen.

83 Vgl. K hner/Gerth II 1,141, wo dieser Gebrauch besonders h ufig f r dasPartizip Pr sens belegt wird.

84 So spricht der sicherlich (auch) in Anlehnung an Protagoras schreibendeAnonymus lamblichi 6,1 von αδύνατοι καθ' ένα ζην.

*" Dessen ungeachtet deutet Taylor 21991, 81 u. 84f. φκουν σποράδην als „livingin small scattered groups", und bezeichnet αίδώς und δίκη als „psychologicalprecondition" f r eine politische Gemeinschaft „transcending primitive loyalties anddeveloped from those loyalties over time by trial and error" (ders. 1985, 85). Taylor h ltdamit nicht nur an der wegen unl sbarer Widerspr che unhaltbaren Annahme fest, derMythos beschreibe eine tats chliche chronologische Entwicklung, sondern bersieht, daαίδώς und δίκη nicht mehr sind als die unerl liche Bedingung f r j e d e Formmenschlichen Zusammenlebens. Ihre Bestimmung als πόλεων κόσμοι τε και δεσμοίφιλίας συναγωγοί (322c3) widerspricht dem nicht, ist doch damit nur beschrieben, wassich aus αιδώς und δίκη entwickeln kann. Sihvola 1989, 88 spricht hnlich von"scattered units", obwohl er zu Recht den Mythos nicht als Abbild historischer Vorg ngeversteht (a.o. 99).

Ein Reflex von φκουν σποράδην (sofern es auf den historischen Protagoraszur ckgeht) findet sich m glicherweise im An.Iambl. 6,1 (VS 89 p. 402, 24f.) εί γαρεφυσαν μεν οι άνθρωποι αδύνατοι κ α θ " έ ν α ζην.

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Grundtechniken und Fertigkeiten, die ihnen das berleben sichern.Offenbar haben die Menschen mit der έντεχνος σοφία nur dieF h i g k e i t erhalten, tats chliche Fertigkeiten zu entwickeln und zuerlernen86. Da in diesem Zusammenhang ,in einem Atemzug' mit der περίτον βίον σοφία (sc. έντεχνος σοφία) die πολιτική σοφία (321d5) -zudem syntaktisch parallel (την μεν ..., την δε ...)87 - genannt wird, liegtdie Schlu folgerung nahe, an der betreffenden Stelle bezeichne πολιτικήσοφία ebenfalls nur die F h i g k e i t , Gemeinschaften zu bilden, undnicht mehr88. Der Text bietet an dieser Stelle (321d4f.) keinen Hinweis,zwischen έντεχνος und πολιτική σοφία zu differenzieren, etwa indem manjene als eine reine Begabung, diese dagegen umfassender deutet und in ihrnicht nur die F higkeit, Gemeinschaften zu bilden, sondern auch derentats chliche Umsetzung sieht. Innerhalb des Mythos steht der Mensch321d4 erst am Anfang seiner Entwicklung und die Umsetzung seinerF higkeiten steht noch bevor.

Da der Mythos Gedanken des historischen Protagoras enth lt, l t sichfolgern, der historische Protagoras habe dem Menschen eine technische undeine sittliche/gesellschaftliche Begabung zugeschrieben, die jeweilsumgesetzt werden m ssen. Wie der Mensch die technische Begabung(έντεχνος σοφία) umsetzt, beschreibt der Mythos im Anschlu an denDiebstahl des Prometheus (322a3ff.). Dabei wird, nachdem der Menschprimitive Fertigkeiten entwickelt hat (d.h. neben den unabdingbaren.anthropologischen Konstanten' von Religion und Sprache die F higkeit,beispielsweise H tten und Kleidung anzufertigen, und sich Nahrung zubeschaffen), der Begriff έντεχνος σοφία durch δημιουργική τέχνη ersetzt

86 Sihvola 1989, 101 weist zwar ebenfalls darauf hin, da der Mensch im Mythosdie technischen Fertigkeiten selbst ndig entwickelt, doch statt dann deutlich zwischen derέντεχνος σοφία als Begabung und den einzelnen daraus entwickelten τέχναι zu trennen,kleidet er diesen Sachverhalt in dunkle Formulierungen wie, die technische Entwicklungdes Menschen im Mythos des Protagoras m sse verstanden werden als „definition of anessential element of human nature." hnlich verwirrend spricht Dietz, 1976, 40, von„angeborenen Technai".

87 S.o. Anm. 69.88 Wenn ich recht sehe, geht in der relevanten Literatur niemand au er im Ansatz

M ller 1975, 247f. auf die Frage ein, ob dem Menschen nach 321d5 nicht eine sittlicheB e g a b u n g fehlt. M ller seinerseits bem ht sich allerdings nicht um eineneingehenden Nachweis. Dazu s.u. Anm. 113.

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50 Protagoras

(322b3), als sollten damit die tats chlich entwickelten Fertigkeiten miteinem Sammelbegriff zusammengefa t werden. Anscheinend unterscheidetim Bereich der technischen Entwicklung der Mythos auch begrifflichzwischen Begabung (έντεχνος σοφία) und deren Umsetzung (322b3δημιουργική τέχνη89). Gegen Ende des Mythos (322c5) treten an die Stelledieses Sammelbegriffes die einzelnen τέχναι. Protagoras vermag so zumeinen, αιδώς und δίκη als gemeinsame Gabe wirkungsvoll gegenindividuell verschiedene Fertigkeiten abzuheben; ein Vergleich mit derέντεχνος σοφία k nnte dergleichen nicht leisten, weil sie mit αιδώς undδίκη gerade das Entscheidende gemein hat: Die έντεχνος σοφία ist selbstallen Menschen gemeinsam (s.o. S.45). Zum anderen zeichnet der Mythosbegrifflich die Entwicklung nach, die der technische Bereich von derBegabung (έντεχνος σοφία) ber primitive Techniken (Technik angedeutetin εμπυρος τέχνη [321elf.], zusammengefa t in δημιουργική τέχνη) zueinem differenzierten arbeitsteiligen System nahm (einzelne τέχναι)90. Vorder Begabung mit έντεχνος σοφία erscheint der Mensch nackt und hilflos(321c5f.), nachdem er sie von Prometheus erhalten hat, setzt er sieanf nglich in primitive Techniken um und erweitert sie zu differenzierten

89 Da der xext 321elf. εμπυρος τέχνη nennt, ist aus dem Zusammenhangverst ndlich: Prometheus bestiehlt an besagter Stelle den Hephaistos, und somit erh lt dieF higkeit, die er ihm entwendet, die F rbung von .Schmiedekunst'. Das bedeutet jedochkeineswegs, Prometheus habe dem Menschen die schon vollendete Schmiedekunstgebracht, wie Sihvola, a.O. 100 anzunehmen scheint. Vielmehr variiert der Begriffεμπυρος τέχνη - abgesehen von seiner Einf rbung im unmittelbaren Zusammenhang -gemeinsam mit την αλλην την της Αθηνάς nur έντεχνος σοφία συν πυρί (321dlf.),indem letztere als K nste getrennt und den beiden Gottheiten zugeordnet werden.S mtliche zuvor enthaltene Elemente (technische Begabung und Feuer) sind nach wie vorenthalten, ohne da etwas Neues hinzutr te zu dem, was Prometheus den Menschen nach321dlf. tats chlich gibt. Allenfalls wird rein s p r a c h l i c h die 322a3ff. folgendetechnische Umsetzung der σοφία durch den Menschen vorbereitet.

90 So gesehen ber cksichtigt der Mythos durchaus den technischen Fortschritt, auchwenn er diesen nicht zum Hauptgegenstand erhebt. Sihvola 1989, 107, stellt fest „thecatalogue of technical art (gemeint ist wohl 322a) does not contain such skills as the artof seafaring, medicine and astronomy" und schlie t daraus „If we are going to find anyperspectives for the progressive development of culture in the Protagorean theory, wemust look for them somewhere else". Dem steht der Text 322c/d entgegen: IndemProtagoras n mlich gerade gegen Ende des Mythos Hermes die Arbeitsteilung erw hnenund am Beispiel der Medizin (!) erl utern l t, spielt er auf den seit 322a vollzogenenkulturell-technischen Fortschritt an.

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Protagoras 51

τέχναι wie z.B. die rztliche Kunst (322c6)91. Gerade das Beispiel derrztlichen Kunst vertritt eine technische Entwicklungsstufe, die ber die

Befriedigung blo er Grundbed rfnisse hinausgeht. Stand somit am Anfangdes Mythosteiles, der sich mit dem Menschen befa t, ein primitiver -allerdings hypothetischer - .Urmensch', so steht am Ende des Mythos derf r Protagoras gegenw rtige Mensch des 5. Jahrhunderts.

Dagegen stellt der Mythos die Entwicklung des Menschen zurGemeinschaftsf higkeit anders dar. Im Anschlu an den Erwerb derGrundtechniken des H userbaus etc. werden die Bem hungen dervereinzelt lebenden Menschen geschildert, selbst ndig Gemeinschaften zubilden (322bl-8). Doch trotz gr ter Not gelingt es den Menschen nicht.Zwar f hrt der Mythos bis dahin einen mit έντεχνος σοφία begabten undlernf higen Menschen vor, aber diese Begabung erm glicht nurtechnisches, nicht etwa prinzipielles Lernen. Da die Menschen trotzw i e d e r h o l t e r Versuche, Gemeinschaften zu bilden und St dte zugr nden ( έ ζ ή τ ο υ ν δη άθροίζεσθαι και σωζεσθαι κτίζοντεςπόλεις), sich immer wieder zerstreuen, sind sie nicht nur unf hig,Gemeinschaften zu gr nden, geschweige denn zu erhalten, sondernebensowenig in der Lage, die daf r notwendige Fertigkeit zue r l e r n e n . Folglich fehlt ihnen nicht nur konkretes sittliches Handeln,sondern auch die f r dessen Erwerb notwendige Begabung, die man als dassittliche Pendant zur έντεχνος σοφία ansehen kann, und die der Mythos321d5 als πολιτική (σοφία) bezeichnet.

Diesen Mangel, der nach dem Mythos darin begr ndet liegt, da dieMenschen die πολιτική τέχνη nicht haben (322b7f.)92, behebt Zeus, indemer Hermes beauftragt, den Menschen αιδώς und δίκη zu bringen. Wie ausdem unmittelbaren Zusammenhang erhellt, ersetzen αιδώς und δίκη alsdichterisches Pendant die zuvor genannte πολιτική τέχνη (322b8). Dochwie sind sie inhaltlich zu verstehen?

91 Die 321elf. genannte εμπυρος τέχνη st rt diese Entwicklungslinie keineswegs,denn zum einen kann ε.τ. im unmittelbaren Zusammenhang nicht die tats chlicheSchmiedekunst bezeichnen, zum anderen geht das 322c5 gew hlte Beispiel ber das reinmaterielle Handwerk hinaus, indem es sich mit der rztlichen Kunst auf einen Zweigbezieht, der gerade in der Zeit der Sophistik zu einer differenzierten Wissenschaftaufbl hte.

92 322b7f.: ατέ ουκ έχοντες την πολιτικήν τέχνην

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Nach den bisherigen Ausf hrungen unterscheidet Protagoras in demMythos k nstlich zwei Stufen der Entwicklung der Menschheit voneinander- die technische Entwicklung einerseits und die sittlich-gesellschaftlicheandererseits. Aufgrund der Analogie, die zwischen beiden Bereichenbesteht, ist nun die Annahme berechtigt, Protagoras treffe im sittlichenBereich dieselbe Unterscheidung wie im technischen, d.h. er differenziereauch im sittlichen Bereich zwischen Begabung und konkreter Fertigkeit. Daer zu Beginn des Mythos-Teiles, der sich mit dem Menschen befa t (321 c-322d), einen noch vollkommen unentwickelten .Urmenschen' vorstellt undentsprechend nur die technische und die sittliche B e g a b u n g nennt93,am Ende des Mythos jedoch technisch den Menschen des 5. Jh. mit seinenarbeitsteilig entwickelten Fertigkeiten (τέχναι) pr sentiert, so ist zuerwarten, da Zeus mit seinem Eingreifen - das ja gegen Ende des Mythos,d.h. zeitgleich mit der τέχναι-Stufe stattfindet - den Menschen mit αιδώςund δίκη nicht einfach nur die soziale Begabung, sondern die konkrete,bereits ausgebildete Sittlichkeit verleiht. Zwei Gr nde verm gen dieseAnnahme zu st tzen: 1. Als Begriffe bezeichnen αιδώς, δίκη und πολιτικήτέχνη zun chst konkretes sittliches Verhalten. Sie mit .soziale Begabung'wiederzugeben, f llt sprachlich schwer. 2. Nach der Verleihung von αιδώςund δίκη schildert der Mythos keinen, mit dem technischen Lernprozevergleichbaren, sittlichen Lernproze - dies offenkundig deshalb, weilαιδώς und δίκη bereits der konkreten Sittlichkeit entsprechen.

Doch bleibt eines zu bedenken: Da Zeus mit der Gabe von αιδώς undδίκη das nachholt, was Prometheus nach 321d5f. nicht zu leistenvermochte (sc. die Menschen nicht nur mit technischer, sondern auch mitsozialer B e g a b u n g [πολιτική σοφία] auszustatten), liegt es nahe,αιδώς/δίκη und πολιτική τέχνη (322b8) auch als Begriffe anzusehen, dieeben die in 321d5 genannte soziale Begabung wieder aufgreifen. Zwar w rees schwierig, αιδώς/δίκη und πολιτική τέχνη mit .soziale Begabung' zu

b e r s e t z e n , doch setzen sie diese Begabung unausgesprochenvoraus. Der Mythos unterl t es lediglich, analog zum technischenLernproze auch einen sittlichen Lernproze darzustellen. Mit der Gabe vonαιδώς und δίκη springt er stattdessen sofort auf das Niveau konkreter

321d4f.: ή περί τον βίον σοφία und πολιτική (σοφία); s.o. S. 48f.

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Sittlichkeit, doch ohne damit den in 321d5 ausgesprochenen Gedankeneiner sittlichen Begabung aufzuheben. F r die Bedeutung von αιδώς undδίκη als poetischer quivalente zu πολιτική τέχνη l t sich folglichfesthalten:1. Dem Begriff nach bezeichnen sie konkrete Sittlichkeit und lassen sich mit.R cksichtnahme' und .Rechtsempfinden' wiedergeben.2. Sie implizieren dar ber hinaus die in 321d5 genannte sittlicheB e g a b u n g .

Beide Folgerungen finden im Text eine zus tzliche St tze: Indem derMythos αιδώς und δίκη als „Ordnungen der St dte und einigende Bandeder Zuneigung" bezeichnet (322c2f.)94, gibt er αιδώς und δίκη alskonkretes sittliches Handien zu erkennen, das sowohl das Entstehen alsauch das Bestehen politischer und unpolitischer Gemeinschaftenerm glicht. Zugleich erw gt der Mythos mit Zeus' Drohung, wer an αιδώςund δίκη nicht teilhaben k nne, den solle man t ten wie eine Krankheit derStadt (322d4f.)95, die M glichkeit, da hin und wieder jemandem dieF higkeit zur Sittlichkeit abgeht96. Mag diese Aussage in erster Linie nur

94 322c2f. ... ϊν' εΐεν πόλεων κόσμοι τε και δεσμοί φιλίας συναγωγοί.9^ 322d4f. καό νόμον γε θες παρ' έμοΰ τον μη δυνάμενον αίδοΰς και δίκην

μετέχειν κτείνειν ως νόσον πόλεως.96 Dieser Umstand steht nicht im Wderspruch zu der Verteilung an alle, denn nach

Zeus' Befehl s o l l e n alle an αιδώς und δίκη teilhaben - Zeus verk ndet nicht, allew e r d e n daran teilhaben (Anders Manuwald 1996, 120). Es fragt sich nun, wasProtagoras zu dieser Aussage veranla t haben k nnte: Sicherlich unterstreicht der Mythosmit diesem wirkungsvollen Abschlu , wie notwendig die Teilhabe aller an αιδώς undδίκη f r das Entstehen und die Existenz menschlicher Gemeinschaften sind. Doch lie esich dieses Ziel auch anders erreichen, etwa indem Zeus dem Hermes einsch rfte, er sollebei der Verteilung niemanden v e r g e s s e n , weil dieser dann eine Gefahr f r dieGemeinschaft darstelle, der man nur mit der Todesstrafe beikommen k nne. SuchtProtagoras nach einer grunds tzlichen Erkl rung daf r, weshalb es Verbrechen gibt? Demsteht entgegen, da nach 323b3ff. und 324a6ff. Verbrechen trotz der Teilhabe an αιδώςund δίκη m glich sind.

Interessanterweise nennt der Text als einzigen Grund f r die Nicht-Teilhabe an αιδώςund δίκη nicht etwa ein Versehen des Hermes oder Unwilligkeit des betroffenenMenschen, sondern Unverm gen (μη δυνάμενον, 322d4). Es handelt sich offenbar umPersonen, denen die sittliche B e g a b u n g abgeht, und die man deswegen t ten mu ,weil sie die Sittlichkeit auch nicht erlernen k nnen.

Den Gedanken, es k nne moralisch unheilbar verdorbene Menschen geben, verwendetauch Eur. Hipp. 916-20: In der festen berzeugung, Hippolytos sei schuld am TodePhaidras und t usche sein Entsetzen nur vor, klagt Theseus:

ω πόλλ' άμαρτάνοντες άνθρωποι μάτην

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die Bedeutung der Sittlichkeit f r das menschliche Zusammenlebenbetonen, so bringt sie dennoch unmi verst ndlich zum Ausdruck, da dieTeilhabe an αίδώς und δίκη einer unabdingbaren Bedingung bedarf: dersozialen Begabung als F h i g k e i t zur Sittlichkeit. Und gerade diesesoziale Begabung setzt Protagoras wenig sp ter in seiner modernanmutenden Straftheorie voraus, der zufolge der Sinn einer Strafe nichtdarin bestehe, begangenes Unrecht zu r chen oder ungeschehen zu machen,sondern den belt ter in Zukunft von weiteren Vergehen abzuhalten(324a6-b6)97. Weil Protagoras n mlich diese Theorie ausdr cklich alsBeleg f r die Lehrbarkeit der αρετή anf hrt (324b5f.)98, deutet er den Sinneiner Strafe offenkundig nicht - wie man zun chst annehmen k nnte - alsblo e Abschreckung, sondern versteht sie als Mittel, belt ter zurSittlichkeit zur erziehen. Doch setzt eine derartige Auffassung stets die

τί δη τέχνας μεν μυρίας διδάσκετεκαι πάντα μηχανάσθε κάξευρίσκετε,εν δ'ούκ έπίστασθ' οΰδ' έθηράσασθέ πω,φρονεΐν διδάσκειν οΐσιν ουκ ενεστι νους;

Zun chst scheint es, als wolle Theseus nur der banalen Tatsache Ausdruck verleihen,da manche Menschen sich nicht zur Vernunft bringen lassen. Doch schon der scharfeGegensatz zu den technischen Errungenschaften, l t eine speziellere Verwendung f rφρονεΐν vermuten. Da Theseus im weiteren Verlauf ausfuhrt, die Menschen brauchten einsicheres τεκμήριον, um wahre Freunde zu erkennen (925ff.), und sich fragt, ob dieDreistigkeit der Menschen denn keine Grenzen kenne (936ff.), wird deutlich, da er mitφρονεΐν (v.920) auf Moralisches zielt. Diese Bedeutung findet sich bereits bei Homer Z162 und α 43 in der Wendung αγαθά φρονέων mit der eindeutig ethischen Bedeutungvon .Rechtes im Sinn haben'. Barrett bemerkt zu 920: „φρονεΐν and νους i n c l u d e(hervorgeh, v. Verfasser) the moral faculties of the mind ..."; vgl. W.S. Barrett:Euripides, Hippolytos, ed. with intr. and comm., Oxford 1964 (ND 1994). Wegen dersich anschlie enden u erungen des Theseus ist der moralischen Bedeutung der Vorzug zugeben. Doch auch wenn man Barrett folgt, bleibt festzuhalten, da Eur. Hipp. 920 dieM glichkeit moralisch unerziehbarer Menschen in jedem Falle ausspricht. AuchAristoteles bezeugt Pol. 1253a3 die Idee eines von Natur asozialen Menschen (ό απολιςδια φύσιν). Demnach ist dieser Gedanke dem griechischen Denken des S./4. Jh. nichtfremd und darf wohl auch f r Protagoras angenommen werden.

97 324a6-b6, insb. blff . δε μετά λόγου έπιχειρών κολάζειν ου τουπαρεληλυθότος ένεκα αδικήματος τιμωρείται... άλλα του μέλλοντος χάριν, ίνα μηαΰθις άδικήση ούτος μήτε άλλος ό τούτον ίδών κολασθέντα. Allgemein zur Straflehredes Protagoras vgl. Saunders 1981, 129ff., insb. 131-6.

9% 324b5f. και τοιαύτην διάνοιαν έχων (sc. ό έπιχειρών κολάζειν) διανοείταιπαιδευτην είναι άρετήν.

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Protagoras 55

Erziehbarkeit der zu Erziehenden voraus: Protagoras nimmt demnach einejedem Menschen im Normalfalle innewohnende .sittliche Begabung' an undgibt das in seiner Straftheorie deutlich zu erkennen.

Die vielf ltigen Bedeutungen von technischer und sittlicher Begabungund ihrer jeweiligen Umsetzung mag das folgende Schema verdeutlichen:

Technik/KulturStaat/Gesellschaft

Begabung

vom Menschenentwickelt

έντεχνος σοφία,περί τον βίον σοφία"

(allen gemeinsam,graduelle Untersch. m glich)

einzelne τέχναι, zus.gefa t inδημιουργική τέχνη (322b3)

(individuell verschieden)

πολιτική σοφία(321d4f.);impliziert inπολιτική τέχνηbzw. αίδώς/δίκη(allen gemeinsamgraduelle Unter-schiede m glich)

Sittlichkeit(πολ,τέχνη,αίδώς/δίκη)und Staatskunst(πολ. τέχνη322b5)(graduell ver-schieden)

Dieses Schema ist insofern ungenau, als es nicht zeigt, da die einzelnenτέχναι, wenn sie zu einem arbeitsteiligen System entwickelt werden, auchVerh ltnisse voraussetzen, die auf αιδώς und δίκη fu en. Immerhinverdeutlicht es aber, welche Parallelen zwischen der technischen und dersittlichen Entwicklung des Menschen bestehen: Offenbar zieht Protagoras in

99 εμπυρος τέχνη und ή άλλη ή της Αθηνάς (321elf.) bezeichneti n h a l t l i c h die technische Begabung und das Feuer und nimmt die einzelnenentwickelten τέχναι vorweg.

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seinem Mythos zwei nur zeit g l e i c h denkbare Entwicklungen vongleicher Struktur k nstlich auseinander, um die f r ihn bedeutendere Stufehervorzuheben.

Erg nzend sei noch bemerkt, da die Menschen offenbar nicht alle ingleichem Ma e an αιδώς und δίκη teilhaben : Zeus tr gt Hermes lediglichauf, sie an a l l e Menschen zu verteilen, aber nicht, er solle sieg l e i c h m ig , begaben Ί^0. Dieser Umstand ist nicht weiter verwun-derlich: Da es n mlich unrealistisch w re zu behaupten, alle Menschen seiengleicherma en .technisch' begabt, sind nach Auffassung des Protagoraswohl auch die »sozialen Begabungen' von Mensch zu Mensch graduellverschieden und u ern sich letztlich in einer jeweils unterschiedlichenAuspr gung der Sittlichkeit (d.h. der Teilhabe an αιδώς und δίκη). Diesegraduellen Unterschiede gestatten es zudem, das Vorkommen vonVerbrechen zu erkl ren, ohne den jeweiligen belt tern dieGemeinschaftsf hgkeit g nzlich abzusprechen.

Allerdings ergibt sich in diesem Zusammenhang eine Schwierigkeit: Mitder gro en Rede beabsichtigt Protagoras - wie eingangs erw hnt - dieLehrbarkeit der πολιτική αρετή nachzuweisen. Der Mythos scheint jedochnur deren B e d e u t u n g bzw. die von αιδώς und δίκη zu zeigen, die,wie aus 322b7-c3 hervorgeht, der πολιτική τέχνη entsprechen. Insofern erausdr cklich erkl rt, alle Menschen h tten ohnehin an der πολιτική τέχνηteil, steht er Protagoras' eigentlichem Ziel sogar entgegen, denn es fragtsich, weshalb und wie man etwas unterrichten sollte, was alle Menschenbereits besitzen.

N heren Aufschlu bietet der sich anschlie ende λόγος-Teil der .gro enRede'. In ihm erkl rt Protagoras ausdr cklich (323c3-6), die Athenerglaubten zu Recht (είκότως), jeder habe an der πολιτική αρετή teil, hieltensie jedoch weder f r naturgegeben (φύσει) noch f r von selbst entstanden(από του αυτομάτου). Er leitet diese Ansicht aus dem Umstand ab, da alleMenschen (die Athener dienen als Beispiel) einerseits Verbrecher und

belt ter f r verr ckt erkl ren, wenn diese von sich behaupten, sie h ttenkeinen Anteil an der Sittlichkeit - denn notwendigerweise m sse jederirgendwie an ihr teilhaben, sonst k nne er kein Mitglied der menschlichen

Dennoch gehen in der neueren Forschung manche Gelehrten von einergleichma igen Verteilung aus, so zuletzt O'Sullivan 1995, 15-23.

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Gemeinschaft sein (323a5-c2, insb. b7ff.)101 -, andererseits aberniemanden f r ein angeborenes Gebrechen vernantwortlich machten,sondern ihn nur in den F llen in die Verantwortung n hmen, in denen erseinen Mangel selbst verschuldet habe. Da genau das in der Frage derSittlichkeit der Fall sei, weil belt ter es vers umt h tten, sich in Sittlichkeitzu ben (323d/e), behaupteten die Menschen - so Protagoras - zu Recht,die Sittlichkeit (πολιτική αρετή) sei lehrbar, obwohl sie zugleich davonausgingen, da jeder von ihnen an ihr in einem Mindestma teilhabe oderteilzuhaben behaupte.

Diese These scheint auf den ersten Blick widerspr chlich zu sein: Dennwie k nnen alle Menschen an der Sittlichkeit teilhaben, wenn diese - wieProtagoras behauptet - erlernbar ist und sie keinem Menschen von Natur(φύσει) oder gar von selbst (από του αυτομάτου) zukommt? DieserWiderspruch l t sich jedoch l sen, wenn man die oben besprochenenImplikationen des Mythos entsprechend ber cksichtigt: Dem Mythoszufolge beruht die Sittlichkeit der Menschen (formuliert als Teilhabe anαιδώς und δίκη) auf einer im Menschen angelegten sozialen Begabung(πολιτική σοφία, 321d4f.). (Diese findet sich in der Regel in allenMenschen, doch schlie t der Mythos die unheilbaren Ausnahmen »sozialerBehinderung' nicht aus [322d4f.].) Demnach ist der gesamte Komplex derprotagoreischen Sittlichkeit in zwei Bestandteile zu zerlegen: in die sozialeBegabung (B), d.h. die F higkeit, Sittlichkeit zu erlernen, einerseits, unddie daraus erlernte, eigentliche Sittlichkeit (S) andererseits. Letztere, imMythos u.a. πολιτική τέχνη genannt, l t sich zudem in Sittlichkeit imweiteren Sinne (Sl) und Staatskunst im engeren Sinne (S2) unterteilen102.Diesen Zusammenhang mag die folgende bersicht verdeutlichen:

101 323a5-c2, insb. b7-c2 ως άναγκαϊον ούδένα δντιν'ούχί άμώς γέ πως μετέχειναυτής, η μη είναι εν άνθρώποις.

102 Da der Mythos πολιτική τέχνη zus tzlich auch als Staatskunst versteht, erhelltaus 322b, wo Protagoras die Kriegskunst einen Teil der πολιτική τέχνη nennt.

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K rzel

B

Protagoras

Begriff

πολιτική σοφία103

impliziert in αίδώςu. δίκη, σωφροσύνη u.

δικαιοσύνη undπολιτική αρετή

Eigenschaften

, soziale Begabung';potentielle Sittlichkeit;a l l e n v o n v o r n h e -r e i n g e m e i n s am;graduelle Unterschiede sindm glich; Ausnahmef lle(, sozial Behinderte') sinduntragbar; n i c h te r l e r n b a r

SI αίδώς und δίκη104

δικαιοσύνη, δίκαιοςσωφροσύνηπολιτική τέχνη/αρετή

in Gemeinschaft erworbeneaktualisierte Sittlichkeit, er-wachsen aus B;a l l e n , die in einer Gemein-schaft leben, g e m e i n -s a m105; graduelleUnterschiede sind m glich;wer sie nur unzureichendentwickelt hat, wird zwecksErziehung bestraft;e r l e r n b a r

S2 πολιτική τέχνη/αρετή106 Staatskunst; nur von intel-lektuell und charakterlich

103 Stellen im Mythos: 321d4f. u.322d4f. (τον μη δυνάμενον).104 Alle Stellen im Mythos mit Ausnahme der in der voraufgegangeenen

Anmerkung genannten; im λόγος-Teil: 323a5, b2-3, b6 (έάντε ωσιν έάντε μη), c5-7,323e3-324al, aoff. (άδικοΰντας), b6 u. c5 (nur αρετή), 325al (δικαιοσύνη undσωφροσύνη), cl (nur αρετή), d2-5 (sittliche Begriffe wie δίκαιον, καλός etc. und derenGegenteil), 326a4 (σωφροσύνη), c7-d8 (νόμους μανθάνειν etc.), e2-4 (αρετή), 327bl-2(δικαιοσύνη και αρετή), b3-4 (τα δίκαια και τα νόμιμα), c6 (δίκαιος), e2 u. 328a6-cl(αρετή).

105 Das belegen mit dem Begriff μετέχειν 323a6, 325a3 und a5.106 Im Mythos: 322b6 und indirekt 323c3 in πόλεων κόσμοι; im λόγος nur

indirekt: 326c7ff. klingt mit νόμους μανθάνειν etc. und αγαθών και παλαιώννομοθετών ευρήματα (327d6) der Bereich des Staatskunst an; 324d2ff. und 326e6ff.

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besonders Begabten er-reicht, e r l e r n b a r

Mit Hilfe dieser berlegungen erkl rt sich, weshalb Protagorasbehaupten kann, die Menschen h tten einerseits alle an der SittlichkeitAnteil, ohne da sie diese von Natur bes en, und k nnten sie andererseitserlernen. Denn nach dem Mythos fu t die Sittlichkeit auf einer im Menschenangelegten Begabung, die Sittlichkeit selbst wird jedoch erst aus dieserBegabung entwickelt. Nun ist der einzelne Mensch - wie der Mythos jazeigt - auf die Gemeinschaft mit anderen Menschen angewiesen, unddeshalb entwickelt jeder im gemeinsamen Leben und Handeln - dem dabeinicht mehr als die Rolle eines blo en Ansto es zukommt - aus der in ihmangelegten sozialen Begabung eine Mindestma an Sittlichkeit, ohne dasschlie lich keine Gemeinschaft weder entstehen noch bestehen k nnte.Dieses Minimum ist selbst bei Verbrechern vorhanden107. Deshalb kannProtagoras mit Recht behaupten, alle Menschen h tten einerseits an derSittlichkeit (S) teil, und weil sie diese andererseits weder von Natur (φύσει)bzw. von selbst (από του αυτομάτου) bes en, sei sie zugleich lehrbar.

Eng verkn pft mit diesen Zusammenh ngen ist die in der Forschungmehrfach diskutierte Frage, ob die Menschen von Natur (φύσει) an αιδώςund δίκη teilhaben. Gegen diese Annahme sprach sich Kerferd bereits 1953

besprechen zwar nur allgemein die Frage, wie άνδρες αγαθοί ihre S hne erziehen, dochda Protagoras damit auf Sokrates' Einwand von 319e antwortet, selbst Staatsm nner wiePerikles lie en ihre S hne nicht in πολιτική αρετή erziehen, sind an diesen Stellen desλόγος-Teils auch Staatsm nner impliziert. Wenn es diesen nach 327clff. ebensoweniggelingt, ihre S hne in ihrer Disziplin zu erziehen, wie gute Fl tenspieler ihre S hne zuguten Fl tenspielen zu erziehen imstande sind, so bedeutet das nicht nur, da die S hneder Staatsm nner oft sittlich mi raten, sondern auch, da sie erst recht keine gutenStaatsm nner werden k nnen. Deshalb spielen die Ausf hrungen 326e6ff. auch auf S2 an.Eindeutig enthalten ist die Staatskunst in dem Anspruch des Protagoras, ευβουλία περίτων οικείων και περί των της πόλεως zu lehren (318e5-319a2).

1 °7 Der Gedanke, auch Verbrecher h tten ein Mindestma an .Gesellschaftsf higkeit',findet sich auch in Plat. Rep. 352c: Sokrates wendet dort gegen Thrasymachos ein, daallen, die Unrecht tun, wenigstens fUr den Umgang mit ihren Helfern und Mitt tern,δικαιοσύνη innewohne (ότι ένήν τις αΰτοΐς δικαισύνη, 352c4); ohne diesesMindestma an δικαιοσύνη seien sie zu keiner Tat f hig.

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aus108, indem er feststellte, die Menschen erlernten αίδώς und δίκη in derGemeinschaft. Doch sind dem Mythos zufolge αιδώς und δίκη, insofernsie auf einer notwendigen »sozialen Begabung' beruhen, die V o r a u s -s e t z u n g f r eine menschliche Gemeinschaft und nicht deren Ergebnis.Diesen Widerspruch versucht Taylor109 zu vermeiden, indem er αίδώς undδίκη als Bedingung f r jede p o l i t i s c h e Gemeinschaft deutet, und dieMenschen diese ber „trial and error"110 in vorpolitischen Gemeinschaftenerlernen l t. Doch weder bietet der Mythos Anhaltspunkte f r vorpolitischeGemeinschaften11 ̂ noch ist man gezwungen, die Begriffe αιδώς und δίκηausschlie lich politisch zu verstehen112.

Auf den ersten Blick scheint die oben bereits besprochene u erung desProtagoras, die Menschen h tten nicht von Natur (φύσει) an der Sittlichkeit(πολιτική τέχνη bzw. αρετή) teil (323c5), Kerferd Recht zu geben. Docherfa t diese Behauptung nicht den gesamten Bereich der Sittlichkeit,sondern bleibt auf das konkrete sittliche Handeln beschr nkt (S, insb. Sl).Demnach trifft Kerferds These nur bedingt zu: Insofern αίδώς und δίκηsittliches Handeln bezeichnen, sind sie den Menschen in der Tat nicht vonNatur gegeben. Es w re jedoch abwegig, sie aus der Gemeinschaftabzuleiten, wenn sie doch dem Mythos zufolge deren Bedingung darstellen.Hinter der konkreten Sittlichkeit l t der Mythos jedoch derenVoraussetzung, die soziale Begabung erkennen (321d4f.), und diese ist, davor Zeus' rettendem Eingreifen (322cf.) die Menschen nicht in der Lagewaren, Gemeinschaftsf higkeit zu erlernen, und Zeus diesen Mangel mit

108 Kerferd 1953,43; vgl. ders. 1981, 134f.109 Taylor 21991, 80; hnlich auch Goldberg 1983, 18, Coby 1987, 56.110 Taylor 1985, 85111 In den Prometheus-Mythos anhand von Begriffen wie σποράδην bzw. έζήτουν

άθροίζεσθαι Familien und Sippen bzw. vorstaatliches Hordenwesen hineinzulesen, hie el. eine v llig unhistorisch gedachte Darstellung als Wiedergabe historischer Vorg nge zuverstehen, und 2. die im Mythos nur zur Betonung von αιδώς und δίκη konstruiertenEntwicklungsstufen als tats chliche zeitliche Abfolge zu deuten. ber die dabeiunvermeidbaren Widerspr che s.o. S.47f.

1 !2 In der Wendung πόλεων κόσμοι τε και δεσμοί φ ι λ ί α ς συναγωγοί (322c3)erscheinen αίδώς und δίκη als Bedingung f r politische u n d unpolitischeGemeinschaften. Zudem ist das 325c5ff. als Beispiel f r lehrbare πολιτική αρετήherangezogene Bem hen von Eltern, ihre Kinder in Sittlichkeit etc. (Sl) zu unterweisen,zwar Grundlage f r sp teres politisches Handeln, aber kein Bem hen um eine an sichpolitische Sache.

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der Gabe von αιδώς und δίκη behebt, in letzteren impliziert. Indem derMythos somit αιδώς und δίκη als g ttliche Gabe vorf hrt, bietet er einendeutlichen Hinweis darauf, da die Sittlichkeit letztlich auf einer a priori - inder Sprache der Sophisten φύσει - gegebenen Voraussetzung, der .sozialenBegabung'(B), fu t113.

Die Unterscheidung von Begabung (B) und Sittlichkeit (S) vermagfolglich zweierlei zu leisten: l. Sie erkl rt die Herkunft von αιδώς und δίκηwiderspruchsfrei und macht 2. verst ndlich, weshalb Protagoras f r sichbeansprucht, die πολιτική τέχνη zu lehren, obwohl doch alle Menschenohnehin an ihr teilhaben. Gegen ber Sokrates gelingt ihm somit dasKunstst ck, die Bedeutung und die Lehrbarkeit der πολιτική αρετήnachzuweisen.

113 Auch wenn Protagoras sich nirgends ausdr cklich auf die φύσις beruft (au erevtl. B 3), spielt sie doch als Inbegriff physiologischer Gegebenheiten in seinenArgumenten eine Rolle; vgl. Dietz 1976, 41. Menzel 1922/23, 10, bemerktzur ckhaltend, es werde (sc. im Mythos) nicht erkl rt, „wodurch diese ethischenGrundlagen f r dauernde Verb nde (sc. αιδώς und δίκη) herbeigef hrt wurden; sieerscheinen im .Mythos' des Protagoras als g ttliches Gnadengeschenk." Doch dieVorstellung eines gn digen Gottes ist den Griechen fremd. Indem Protagoras Zeuseingreifen l t, gelingt es ihm, drei in einem historisch getreuen Bericht unvereinbareGedanken miteinander zu verbinden: 1. Die sittliche Begabung (B) besteht φύσει. 2. Sieist ohne Umsetzung in einer Gemeinschaft nicht denkbar; diese praktizierte Sittlichkeit(Sl) wird in der Gemeinschaft erlernt bzw. einge bt. 3. Beide zusammen sind f r dasBestehen der Menschheit noch wichtiger als die technische Begabung und die darausentwickelten Fertigkeiten. Deshalb werden sie vom h chsten Gott verliehen. Zeus'Eingreifen fa t diese Gedanken mythologisch und unkompliziert in eins und zeugt vonProtagoras' Darstellungskunst statt von dessen Ratlosigkeit.

Bereits C.W. M ller erkannte im Ansatz, da der Mensch nach Protagoras v o nN a t u r mit einer sittlichen Begagung ausgestattet sein mu ; vgl. M ller 1975, 247f.:„Soweit in den uns erhaltenen Zeugnissen der Antike die Lehrbarkeit der Tugend vertretenwird, richtet sie sich nach der Aufnahmef higkeit der φύσις. Ein Minimum solcherBeiehrbarkeit wird dabei m i t d e r m e n s c h l i c h e n N a t u r a l sg e g e b e n b e t r a c h t e t (hervorgeh, v. Verf.). Wem auch dieses Mindestmafehlt, erweist sich als / der menschlichen Gemeinschaft nicht zugeh rig und wird von ihrausgeschlossen. Diese Gedanken scheinen zum erstenmal von Protagoras formuliertworden zu sein, jedenfalls legt Platon sie ihm in den Mund, und es besteht kein Grund,sie ihm abzusprechen." (Bezug zu Plat. Prot. 323cff.)

Bei Sihvola 1989, 126 klingt dieser Sachverhalt ebenfalls an, denn er deutet αιδώςund δίκη als „innate disposition of all human beings towards moral conduct." Er scheintdabei jeodch die konkrete, erlernte Sittlichkeit (Sl) mit ihrer Voraussetzung (B) zuverwechseln.

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Entwirft Protagoras aber mit der »gro en Rede* eine Wert- oder eineNutzenethik? Hinweise vermag bereits der Mythos f r sich genommen zugeben: Schon Epimetheus stattet die Tiere mit Eigenschaften aus nach denPrinzipien von Nutzen und Arterhaltung durch Gleichgewicht (320d8-321b6). Ebenso entspringen sowohl έντεχνος σοφία als auch πολιτικήσοφία / αιδώς und δίκη aus der Bed rftigkeit des Menschen und werdendeshalb beide als f r den Menschen lebensnotwendig bezeichnet (321d4bzw. 321e3f. und 322cl). Protagoras mi t allein deshalb der menschlichenGemeinschaft einen hohen Wert bei, weil nur in ihr die Menschen f higsind zu ( ber)leben. Der einzelne vermag sich weder der Tiere zu erwehren(322blf.), noch gar ein arbeitsteilig aufgebautes System verschiedenerτέχναι zu entwickeln, das ber primitives Hausen in H tten und Sich-N hren von dem, was die Erde gerade bietet, hinausf hrt (322a6-8). Ausdiesem Grunde stellt Zeus mit seinem harten Gebot (322d4/5) den Erhaltder Gemeinschaft ber das Leben eines einzelnen, wenn dieser den Bestandder Gemeinschaft ernstlich gef hrdet.

Ebenso enth lt auch der λόγος-Teil (322d5ff.) nirgends u erungen,die eine Wertethik begr nden k nnten114. Vielmehr ist die »Sittlichkeit* derAthener nur insofern lobenswert, als sie dem Erhalt der Gemeinschaft dient.Protagoras spricht diesen Gedanken selbst aus: „Es n tzt uns n mlichdie gegenseitige Gerechtigkeit und Trefflichkeit" (327blf.)115. DieMenschen unterweisen einander deswegen in den Fragen des Gerechten (ταδίκαια) und des Gesetzm igen (τα νόμιμα), weil diese als Inbegriff von, Sittlichkeit' eine Gemeinschaft zusammenzuhalten verm gen116. Hingegenkann kein einzelner Mensch wirklich ohne die Gemeinschaft anderer

114 u erungen, die Fr mmigkeit als notwendigen Bestandteil der πολιτική αρετήbezeichnen (323e3f. αδικία και ασέβεια και συλλήβδην πάν το εναντίον της πολιτικήςαρετής; 325al δικαιοσύνη και σωφροσύνη και το δσιον είναι) sind mit Vorsicht zubehandeln: Zum einen bereitet Platon mit bewu t .platonischem* Vokabular den weiterenVerlauf des Dialoges vor, in dem Sokrates die Einheit der άρεταί nachweist, zum anderenmag darin nicht mehr protagoreisches Gedankengut enthalten sein als ein Hinweis darauf,da die Menschen Religions- und Kultformen nur in der Gemeinschaft entwickelnk nnen. Somit unterst tzen beide Passagen die o.a. These, der Mythos stelle dieEntstehung der Religion verk rzt dar, weil er mit der sp teren Einf hrung menschlicherGemeinschaften Zusammengeh riges k nstlich trennt.

115 327blf. λυσιτελεϊ γαρ ήμϊν ή αλλήλων δικαιοσύνη και αρετή.116 Vgl. During 1981, 111

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bestehen, es sei denn, er w re ein autarker .outlaw', der ohnehin nicht anαιδώς und δίκη teilh tte. Doch kann dieser nur theoretische Fall nicht alsAlternative gelten.

Inhaltlich werden τα δίκαια und τα νόμιμα nicht spezifiziert. Ganzhnlich ist es nach Plat. Theaet. 167c nicht Aufgabe des »weisen Mannes'

(σοφός), die νόμιμα, die eine πόλις f r δίκαια h lt, als solche auf ihren.wahren' Inhalt zu berpr fen, sondern die πόλεις die Dinge f r δίκαιαhalten zu lassen, die ihrem Erhalt dienen (χρηστά sind). Wenn es folglichgem dem Mythos gilt, denjenigen, der an αιδώς und δίκη nicht teilhabenkann, wie eine K r a n k h e i t der Stadt zu t ten, so u ert sich darin dergleiche Zweckgedanke, der Protagoras in der Apologie im Theaitetosveranla t, die wohlgeordnete πόλις mit einem gesunden Organismus zuvergleichen. Somit erweist sich auch im Mythos Zweckdienlichkeit alsPrinzip, Sachverhalte zu entscheiden. Wie der HMS das wahrhaft Wahredurch das wahrhaft N tzliche ersetzt, fragt Protagoras in der,gro en Rede'nicht nach dem Inhalt, sondern nach dem Nutzen von Gerechtigkeit. Ersetzte mit dieser rein pragmatischen Deutung des δίκαιον eine Entwicklungin Gang, in deren Verlauf das »Gerechte' umgedeutet und als Begriff sogarverworfen wurde (Antiphon).

Man mag den Eindruck gewinnen, Protagoras habe gemeinsameEntscheidungen von Kollektiven begr t und somit der Demokratie nahegestanden117. Diese Ansicht scheint sich teils mit der ,Apologie' (insbes.Theaet. 167c), teils mit der »Gro en Rede' belegen zu lassen: Was die.Apologie' betrifft, so wendet Protagoras zwar durchaus den Relativismusdes HMS nicht nur auf einzelne Menschen, sondern auch auf Kollektive an:Was einer jeden Stadt νόμιμον und δίκαιον zu sein scheint, das ist es auchf r sie. Aber diese Ansichten sind zum einen nur in denjenigen πόλειςKollektivmeinungen, in denen tats chlich Kollektive ber das νόμιμον unddas δίκαιον entscheiden, zum anderen ist allein die blo e Tatsache, daeine Ansicht von einem Kollektiv bzw. einer Mehrheit gebildet undvertreten wird, f r Protagoras kein hinreichender Grund, sie als n tzlich(χρηστός) anzusehen. Vielmehr ist es Sache des σοφός, zun chst zuerkennen, was f r eine πόλις wirklich n tzlich ist, und sie anschlie enddavon zu berzeugen und dabei ggf. sich gegen eine Mehrheit

117 Vgl. D ring 1993, 22ff. u. 26.

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durchzusetzen. Es läßt sich höchstens festhalten, daß der demKollektiv der seine Meinung nicht aufzwingt, sondern es dazubewegt, sich aus guten Gründen seiner Ansicht anzuschließen. Insofernwird der Gruppe (dem Kollektiv) in der .Apologie' zwar eine gewisseBedeutung zugestanden, doch kein Modell demokratischer Meinungs-bildung entworfen.

Ähnlich stellt auch die ,Große Rede' kein ausdrückliches Plädoyer fürdie Demokratie dar. Der Mythos ist sogar ausgesprochen verfassungs-indifferent118. Allenfalls bieten diejenigen Passagen, in denen PlatonSokrates und Protagoras auf die attische Demokratie Bezug nehmen läßt(319bff., 324c), einen Anhaltspunkt für Protagoras' Vorliebe für dieDemokratie. Sollte er ihr tatsächlich in der Praxis den Vorzug gegebenhaben, dann aber wohl nicht deshalb, weil er sie für gerechter oder, wahrer', sondern für nützlicher hielt als andere Staatsformen119.

So gesehen entpuppt sich die des Protagoras als der Versuch,die an dem Menschen bemessene Nutzenlehre des HMS praktischumzusetzen.

b) Der Mythos des Protagoras im Verhältnis zu anderen ver-gleichbaren Darstellungen

Insofern der Mythos des Protagoras sich in die Reihe griechischerKulturentstehungslehren von Hesiod bis Diodor einordnen läßt, gehört erzweifelsfrei nicht der Gruppe an, die die Menschheitsgeschichte mit einemgoldenen Zeitalter120 oder paradiesischen Urzuständen121 beginnen unddann allmählich absteigen lassen, sondern er gleicht denen, die eine

118 Vgl. Dreher 1983, 22f.; anders hingegen Müller 1976, 241f.119 Auch Protagoras' enge Beziehung zu Perikles und seine Tätigkeit als Gesetzgeber

bei der attischen Gründung Thurioi (444/43) erweisen ihn nicht als radikalen Demokraten,sondern - wenn diese Beziehung Rückschlüsse erlaubt - eher als Anhänger eineraristokratisch geführten Demokratie; vgl. Kerferd 1981, 145 u. O'Sullivan 1995, 21:„But even a democracy needs a leader, and we know that the sophist admired the statesmanin this role as well."

120 Hesiod Erg. 106-201 (die beiden Versionen des Prometheus-Mythos Theog.507ff. und Erg. 43ff. ergänzen den Zeitaltermythos), Ovid Met. 89-150

121 Telekleides, Amphiktyones PCG frg.l K.-A.

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Entwicklungslinie zeichnen von primitiven Anf ngen bis zu demgesellschaftlichen und kulturellen Stand der jeweils eigenen Zeit122.W hrend die Mythen der ersten Gruppe g ttliches Eingreifen als wesentlicherachten, wird in denen der zweiten Gruppe die kulturelle Entwicklungentweder von g ttlichen oder von nat rlichen Kr ften angetrieben.

Bem hen die Darstellungen der zweiten Gruppe eine Gottheit, soschreiben sie teils Prometheus123, teils aber auch einer anderen namentlichgenannten124 oder gar einer unbekannten Gottheit125 die Leistung zu, dieMenschen mit Fertigkeiten ausgestattet und so die kulturelle Entwicklung inGang gebracht zu haben. Dagegen scheint im Falle der nat rlichenEntwicklung die Bed rftigkeit des Menschen die entscheidende Trieb-kraft126 zu sein oder dessen findige Veranlagung, die er mit der Zeitentfaltet127. Xenophanes B 18 versucht bereits, g ttliches und mensch-liches Wirken voneinander zu trennen, erweckt aber den Eindruck, alsh tten die G tter wenigstens den Ansto zur sp teren Entwicklung gege-ben. Moschions Bericht l t hingegen die Wahl zwischen einem Gott(Prometheus), der Notwendigkeit (ανάγκη) oder der Natur (φύσις)128.

Auf den ersten Blick l t sich der Mythos des Protagoras scheinbarm helos denjenigen Darstellungen zuordnen, die die kulturelle Entwicklungdes Menschen von einem Gott, genauer von Prometheus motiviert seinlassen. Er scheint sie lediglich mit Zeus' Eingreifen erweitert zu haben. DieBesonderheiten des Mythos sprechen jedoch gegen eine solche

122 Xenophanes B 18; [Aischyl.] Prom. 442-68, 478-506; [Hipp.] VM 3; Eur.Suppl. 201-13; Archelaos VS 60 A 4 (6); Isokr. Nikokl. 5ff., Paneg. 28ff., MoschionTrGF l, 97 frg. 6; Diodor I 8, l ff. (vgl. auch Nachtr ge VS II 136-8); zur Verfasserfragedes Prom. vgl. M.L. West: Studies in Aeschylus, Stuttgart 1990, insb. 67-72 u. R.Bees: Zur Datierung des Prometheus Desmotes, Stuttgart 1993, insb. 252f.

123 [Aischyl.] Prom. 462-8 u. 478-506124 Isokrates nennt Paneg. 28 Demeter als Spenderin von Ackerbau und Religion125 Eur. Suppl.20lff., Diodor I 8,7126 Xenophanes B 18; [Hippokr]. VM 3127 Polos erkl rt in Platons Gorgias 448c4-9 die Entwicklung der τέχναι aus der

εμπειρία, d.h. aus der Findigkeit der Menschen und ihrer praktischen Umsetzung (vgl.auch Arist. Met. 981a3-5). F r Isokr. Nikokl. 5ff. ist die kulturelle und gesellschaftlicheEntwicklung eine Leistung des - prim r sprachlich verstandenen - λόγος. Der Bericht desHippolytos ber Archelaos A 4 (6) konzentriert den Fortschritt der Menschheit auf diepolitisch-gesellschaftliche Entwicklung; Triebkraft ist dabei wohl der den Menschenauszeichnende schnellere Gebrauch des νους.

128 TrGF 97 frg.6 vv. 20-22

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Bestimmung. W hrend n mlich nach [Aischyl.] Prom. und Eurip. Suppl.die Menschen vollendete τέχναι erhalten129, stattet der protagoreischePrometheus sie nur mit der notwendigen Begabung aus; die einzelnenFertigkeiten zu entwickeln, bleibt Aufgabe und Leistung der Menschenselbst130. Der Gedanke, da die Menschen von g ttlicher Seite nur eineBegabung erhalten, die sie dann selbst ndig umsetzen, ist singular ingriechischen Kulturentstehungslehren und findet sich ansatzweise nur ineinem der bei Diels/Kranz abgedruckten Nachtr ge zu Demokrit B 5131.Zudem stellt der Mythos des Protagoras zun chst einen v llig hilflosenMenschen vor, der erst durch die Begabung von Seiten des Prometheus(und des Zeus) lern- und berlebensf hig wird. Insofern gleicht er eher denDastellungen, die die gesamte Kultur aus der Bed rftigkeit des Menschenund anderen nat rlichen Kr ften entspringen lassen. Prometheus und Zeusdienen wohl nur als rein mythologische Chiffre, um die a prioribestehenden Begabungen zu erkl ren.

Ebenso zeichnet sich der Mythos des Protagoras durch eine strikte wiezugleich fiktive Trennung einer gesellschaftlichen von einer technischenEntwicklungsstufe aus. Andere Darstellungen verbinden die gesellschaft-lich-politischen Lebensformen, wenn sie sie erw hnen, nahtlos mit dentechnischen Errungenschaften132. Protagoras hingegen f hrt vor, da die

[Aischyl.] Prom. 506 πασαι τέχναι βροτοΐσιν εκ Προμηθέως, Eur. Suppl.203 ff. πρώτον μεν ένθείς σύνεσιν, είτα / αγγελον γλώσσαν λόγων δούς κτλ.

130 Plat. Prot. 321d4f., 322a3ff.; darin scheint Xenophanes B 18 Protagorasvorauszugehen. Xenophanes betont jedoch mit χρόνφ die lange Dauer der (technischen)Entwicklung.

131 VS II 137,22f. (aus loann. Katrares, Hermippus de astrologia) έρρυη δε τι καιθειότερον εις αυτόν (sc. τον ανθρωπον), καθ' δ νου και λόγου και διανοίας μετέσχε(vgl. Plat. Prot. 322a3 θείας μετέσχε μοίρας) και τα οντά άνηρευνήσατο. Es wird sichwohl nicht entscheiden lassen, welchen Ursprungs die bei Katrares verwandteKulturentstehungslehre wirklich ist; sicherlich enth lt sie aber Gedanken aus dem f nftenvorchristlichen Jahrhundert und die zitierte Stelle mag sogar ein Reflex desprotagoreischen Mythos sein.

13·̂ [Aischyl.] Prom. streift diesen Bereich 491f., Diodor I 8,2 nennt nur dieanf ngliche gegenseitige Hilfe der Menschen; Moschion l t den gesellschaftlichenEntwicklungsstand von dem technischen abh ngen: auf einen noch unbedeutenden νόμοςταπεινός (v. 15f.) folgen nach angemessener technischer Entwicklung St dtebau (v. 27)und komplexere Bestattungsriten (vv. 30ff.); Archelaos hingegen betont diegesellschaftliche Entwicklung, trennt sie aber nicht von der technischen, sondern fa tletztere in einem nachgestellten και τα αλλά συνέστησαν zusammen (VS 60 A 4 p.46,21-24); Isokrates f hrt ganz hnlich Nikokl. 6 die τέχναι nur als ein sp teres Glied

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technischen Errungenschaften allein keinen gemeinschaftsf higen und damitauch keinen berlebensf higen Menschen schaffen133. Vielmehr bedarf derMensch - entsprechend dieser fiktiven Trennung zweierEntwicklungsstufen - zweier Begabungen, einer έντεχνος und einer πολι-τική σοφία (Plat. Prot. 321dl-5).

Da Protagoras der zweiten Begabung und ihrer Umsetzung -zusammengefa t in πολιτική τέχνη bzw. αιδώς und δίκη - ungleichgr ere Bedeutung zukommen l t134, sollte sein Mythos eher als Lehrevon der S t a a t s - als der Kulturentstehung gelesen werden. Zugleichmi t er so auch seinem Unterrichtsgegenstand, der πολιτική αρετή einebesondere Rolle zu, denn die darin zu schulende Gesellschaftsf higkeit istoffenbar nicht nur f r das berleben der Menschheit unerl lich, sondernes wert, im Mythos als die bedeutendere Bedingung hervorgehoben zuwerden, obwohl sich daraus unweigerlich logische Ungereimtheitenergeben (s.o.).

Ganz hnlich scheint Isokrates Nikokles oder die Zyprioten 5-9vorzugehen135. In Nikokl. 6f. beschreibt er die Bedeutung des λόγος f rdie kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung der Menschen, indem er diegesamte kulturelle Entwicklung und das Entstehen menschlicherGeimeinschaften auf den λόγος zur ckf hrt - allerdings nicht auf einenallgemeinen Vernunft-λόγος, sondern auf den λόγος, insofern er die

einer l ngeren Aufz hlung an, deren Schwerpunkt πόλεις und νόμοι bilden; auch Paneg.28ff. betont er zwar die Gesellschaftsbildung, doch nennt er sie keineswegs als einegesonderte Stufe, sondern hebt sie lediglich als Bestandteil der gesamten kulturellenEntwicklung hervor, um Athen als politisch-zivilisierte Vorreiterin zu preisen.

133 Als einziger folgt ihm darin der Anonymus lamblichi (VS 89 6,1; p. 402,24-30), indem er hypothetisch das Bild einer mit allen technischen Fertigkeitenausgestatteten, zur Gemeinschaft aber unf higen Menschheit entwirft; er verzichtet jedochauf jeglichen mythischen Appara. M glicherweise h ngt der Anoymus in diesemAbschnitt direkt von Protagoras ab, hat ihn aber einerseits w rtlich gedeutet, andererseitsentmythologisiert.

134 Die technische Entwicklung spielt er im Gegensatz zu anderen vergleichbarenDarstellungen mit ταχύ (322a6) herunter; vgl. Sihvola 1989, 99, Manuwald 1996, 115u. Anm. 31.

135 Abgesehen von marginalen nderungen in dem einleitenden Satz wiederholtIsokrates Nikokl. 5-9 w rtlich in Antid. 253-7. Offenbar war diese Passage f r ihn vonbesonderer Bedeutung; vgl. auch Cic. de or. I 33.

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Sprache des Menschen bezeichnet136. Sein Modell hebt die gesellschaftlichund politischen Errungenschaften hervor („Wir gr ndeten St dte undsetzten uns Gesetze"/ πόλεις φκίσαμεν ...), ohne die technischen au eracht zu lassen. Doch es enth lt zwei Schwierigkeiten:1. Es fragt sich, ob nicht die Sprache ihrerseits auf der Vernunft o.a. desMenschen beruht und es nicht folglich sinnvoller w re, letztere als dieeigentliche Voraussetzung f r die gesellschaftlich-kulturelle Entwicklunganzusehen. Zudem scheint es einseitig zu sein, sogar die τέχναιausschlie lich aus der Sprache des Menschen abzuleiten.2. M glicherweise setzt das Entstehen von Sprache die Gemeinschaft schonvoraus. Isokrates h tte damit Ursache und Wirkung vertauscht.

Die erste Schwierigkeit kennt Isokrates durchaus, denn in Nikokl. l (=Antid. 253) deutet er die Sprache tats chlich als Ausdruck geistig-seelischerKr fte, die ihr zugrunde liegen13?. Doch statt sie auf das allgemeinevern nftige Denkverm gen zur ckzuf hren, bezeichnet Isokrates sie alsZeichen (σημεΐον) einer sittlich anst ndigen Gesinnung (φρονεΐν ευ) undals Abbild (εϊδωλον) einer wohlgeratenen Seele (αγαθή ψυχή). Einerseitstr gt er damit der Tatsache Rechnung, da die Sprache in jedem Fallegeistig-seelischen Kr ften entspringt, andererseits l t er beispielsweise dasDenkverm gen als Triebfeder der gesellschaftlich-kulturellen Entwicklungunerw hnt.

Die zweite Schwierigkeit kann insofern entsch rft werden, als man wohlwenigstens eine Wechselwirkung zwischen Sprache und menschlicherGemeinschaft annehmen kann. Sprache entwickelt sich zwar in derGemeinschaft, h lt diese aber andererseits auch zusammen. Insofern istIsokrates' Modell durchaus wirklichkeitsnah, aber es betrachtet nur eineSeite des Zusammenhangs zwischen Sprache und Gemeinschaft.

Beide Schwierigkeiten sind letztendlich aber nicht zu beheben. Dochdeswegen zu folgern, Isokrates sei sich ihrer nicht bewu t gewesen, w revoreilig. Vielmehr nahm er sie wohl bewu t in Kauf, um mit der Sprache

Nikokl. 6f.: έγγενομένου δ* ήμϊν του πείθειν αλλήλους και δηλοΰν προς ημάςαυτούς περί ων αν βουληθώμεν, ου μόνον του θηριωδώς ζην άπηλλάγημεν, άλλα καισυνελθόντες πόλεις φκίσαμεν και νόμους έθέμεθα και τέχνας εΰρομεν και σχεδόναπαντά τα δι' ημών μεμηχανημένα λόγος ήμΐν εστίν ό συγκατασκευάσας.

13^ Nikokl. 7: το γαρ λέγειν ως δει του φρονεΐν ευ μέγιστον σημεΐον ποιούμεθα,και λόγος αληθής και νόμιμος και δίκαιος ψυχής αγαθής και πιστής ε'ίδωλόν εστίν.

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als der wesentlichen gesellschaftlich-kulturellen Triebfeder zugleichdasjenige Verm gen des Menschen hervorzuheben, das seinem Unterrichts-fach entspricht: der Rhetorik.

Mag Isokrates im einzelnen ein von dem protagoreischen Modellg nzlich verschiedenes Bild der kulturellen Entwicklung zeichnen -beispielsweise trennt er nicht zwischen einer technischen und einergesellschaftlichen Entwicklungsstufe und erkl rt somit alle technischenErrungenschaften als Gemeinschaftsleistung (Paneg. 32)138 -, so geht erdennoch p r i n z i p i e l l ebenso vor, wie Protagoras in dem Mythos: Ernimmt bewu t Widerspr che bzw. Einseitigkeiten in Kauf, um diejenigeder menschlichen Fertigkeiten zu betonen, die seinem Unterichtsfachentspricht. Inhaltlich unterscheiden sich beide Konzepte entsprechend denjeweiligen Unterrichtsgegenst nden voneinander: W hrend Isokrates densprachlichen λόγος zur wesentlichen Bedingung f r die gesamtemenschliche Kultur erhebt, fingiert Protagoras eine Situation, dieverdeutlicht, wie wenig technisches Verm gen ohne G e m e i n -s c h a f t s f h i g k e i t den Menschen ihr berleben sichert und setztdamit im Grunde einen Schritt fr her ein als Isokrates. Indem Protagoraszudem sowohl im technischen als auch im politisch-gesellschaftlichenBereich zwischen Begabung und deren Umsetzung trennt, vermag er dieEntwicklung der menschlichen Kultur und Gesellschaft wirklich aus demWesen des Menschen zu erkl ren, statt sie (wie Isokrates) aus einer f r siezwar wesentlichen, aber sekund ren Fertigkeit (z.B. der Sprache) abzu-leiten.

Der Mythos des Protagoras stellt damit eine durchaus eigenst ndigeKonzeption dar, die sich nur auf den ersten Blick zu den g ttlichmotivierten Kulturentstehungslehren z hlen l t. Bei genauerem Hinsehenzeigen sich deutliche Gemeinsamkeiten mit den Lehren, die die kulturell-gesellschaftliche Entwicklung aus nat rlichen Kr ften erkl ren. Im Grundeist er eine Staatsentstehungslehre, die unterschwellig auch das technische

τ r ι η τ^ ^ Π' * ** ' i s <·* » * Λ * " "vgl. Paneg. 32 τον ριον οι πρώτοι φανεντες επί γης ουκ ευθύς ούτως ωσπερνυν έχοντα κατέλαβαν, άλλα κατά μικρόν αυτοί συνεπορίσαντο und Antid. 82 δτεμεν γαρ ηρχετο το γένος το των άθρώπων γίγνεσθαι και συνοικίζεσθαι κατά πόλεις,εικός ην παραπλησίαν είναι την ζήτησιν αυτών.

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Fortschreiten bis zum Niveau der eigenen Zeit erkennen läßt. Ganz wie eineLehre, die die kulturelle Enwicklung aus natürlichen Ursachen erklärt,entwickelt der protagoreische Mensch die technischen und politischenErrungenschaften aus bestimmten Begabungen. Da diese Begabungen fürden Menschen wesentlich sind und als a priori bestehend angenommenwerden müssen, greift der Mythos auf göttliches Eingreifen zurück, um siezu erklären, wobei Prometheus und Zeus - die eingreifenden Götter - inmythologischer Sprache das vertreten, was andere Sophistennennen139. Mit seinem Bemühen, eine der menschlichen Fertigkeiten (sc.die soziale) gegen die übrigen abzuheben, ohne letztere aber unerwähnt zulassen, ist der Mythos des Protagoras allenfalls mit der oben besprochenenPassage aus Isokrates' Nikokles vergleichbar.

Es sei aber darauf hingewiesen, daß Protagras sich nicht explizit auf dieberuft; diese ist nur indirekt zu erschließen.

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