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Das Politische im Disziplinären – Sozialpädagogische Identität zwischen Diffusität und eigenem...

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IM BLICKPUNKT Soz Passagen (2013) 5:177–193 DOI 10.1007/s12592-013-0142-6 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 Prof. Dr. B. Dollinger () Fakultät 2, Universität Siegen, Adolf-Reichwein-Str. 2, 57068 Siegen, Deutschland E-Mail: [email protected] Das Politische im Disziplinären – Sozialpädagogische Identität zwischen Diffusität und eigenem „Blick“ Bernd Dollinger Zusammenfassung: Der Beitrag setzt sich mit der Tatsache auseinander, dass die Sozialpädago- gik auf besondere Weise um ihren Standort ringen muss. In einigen Bereichen wird sie zwar als relativ normalisiertes Angebot an AdressatInnen angesehen. In ihrem Kern ist sie jedoch mit Sta- tusunsicherheit konfrontiert: Ihre theoretischen Bezüge sind sehr heterogen, und Gleiches gilt für die von ihr bearbeiteten Praxisfelder, die von ihr genutzten Forschungs- und Handlungsmethoden sowie ihre historischen Traditionen. Außerdem besteht bezüglich der von ihr bearbeiteten sozialen Probleme meist kein dauerhafter Konsens, sondern die Art des Umgangs mit diesen Problemen ist oftmals umstritten. Der Beitrag verfolgt die hierdurch begründete Unklarheit einer sozialpäda- gogischen Identität auf der disziplinären Ebene: Wenn die Identität von Sozialpädagogik in Frage steht, so ist sie in besonderer Weise mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich als Wissens- und Handlungsform öffentlich und politisch zu positionieren. Diese in sozialpädagogischen Theorien implizite politische Dimension wird in dem Beitrag mit Zeitdiagnosen in Verbindung gebracht: Sie übernehmen die für die Sozialpädagogik zentrale Funktion einer öffentlichen und politischen Positionierung. Schlüsselwörter: Sozialpädagogik · Politisches · Zeitdiagnose · Identität The Political in the discipline – The identity of social pedagogy between diffusion and a specific “gaze” Abstract: The contribution is dealing with the fact that social pedagogy is confronted with a permanently contested position. Even though social pedagogy has been, normalized` in specific areas of practice, it is essentially afflicted with a vague status: Its theoretical references are intri- cate, and it is engaged in various contexts of practice. Its methods of research and practice are as heterogeneous as its historic traditions. Furthermore, the social problems that social pedagogy is dealing with do not represent a moral consensus but they are highly controversial. The contribu- tion discusses the resulting vague identity on a disciplinary level: If social pedagogy’s identity is at stake, then it is plausible that it is utilizing particular manners to position itself publicly and
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Im BlIckpunkt

Soz Passagen (2013) 5:177–193DOI 10.1007/s12592-013-0142-6

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

Prof. Dr. B. Dollinger ()Fakultät 2, Universität Siegen, Adolf-Reichwein-Str. 2, 57068 Siegen, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Das Politische im Disziplinären – Sozialpädagogische Identität zwischen Diffusität und eigenem „Blick“

Bernd Dollinger

Zusammenfassung: Der Beitrag setzt sich mit der Tatsache auseinander, dass die Sozialpädago-gik auf besondere Weise um ihren Standort ringen muss. In einigen Bereichen wird sie zwar als relativ normalisiertes Angebot an AdressatInnen angesehen. In ihrem Kern ist sie jedoch mit Sta-tusunsicherheit konfrontiert: Ihre theoretischen Bezüge sind sehr heterogen, und Gleiches gilt für die von ihr bearbeiteten Praxisfelder, die von ihr genutzten Forschungs- und Handlungsmethoden sowie ihre historischen Traditionen. Außerdem besteht bezüglich der von ihr bearbeiteten sozialen Probleme meist kein dauerhafter Konsens, sondern die Art des Umgangs mit diesen Problemen ist oftmals umstritten. Der Beitrag verfolgt die hierdurch begründete Unklarheit einer sozialpäda-gogischen Identität auf der disziplinären Ebene: Wenn die Identität von Sozialpädagogik in Frage steht, so ist sie in besonderer Weise mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich als Wissens- und Handlungsform öffentlich und politisch zu positionieren. Diese in sozialpädagogischen Theorien implizite politische Dimension wird in dem Beitrag mit Zeitdiagnosen in Verbindung gebracht: Sie übernehmen die für die Sozialpädagogik zentrale Funktion einer öffentlichen und politischen Positionierung.

Schlüsselwörter: Sozialpädagogik · Politisches · Zeitdiagnose · Identität

The Political in the discipline – The identity of social pedagogy between diffusion and a specific “gaze”

Abstract: The contribution is dealing with the fact that social pedagogy is confronted with a permanently contested position. Even though social pedagogy has been, normalized` in specific areas of practice, it is essentially afflicted with a vague status: Its theoretical references are intri-cate, and it is engaged in various contexts of practice. Its methods of research and practice are as heterogeneous as its historic traditions. Furthermore, the social problems that social pedagogy is dealing with do not represent a moral consensus but they are highly controversial. The contribu-tion discusses the resulting vague identity on a disciplinary level: If social pedagogy’s identity is at stake, then it is plausible that it is utilizing particular manners to position itself publicly and

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politically. This political dimension of social pedagogical theories is associated with “Zeitdiag-nosen”: Their crucial function is to provide social pedagogy with a specific position in public and political discourse.

Keywords: Social pedagogy · The political · Zeitdiagnose · Identity

1 Einleitung

Die sozialpädagogische Theorielandschaft ist breit und heterogen. Es wird zunehmend anerkannt, dass dies keinen Zustand der Krise darstellt, sondern als „Indikator für eine entwickelte sozialwissenschaftliche Disziplin“ (Füssenhäuser 2011, S. 114) verstanden werden kann. Es ko-existieren in der Sozialpädagogik1 sehr unterschiedliche theoretische Positionen (vgl. z. B. Lambers 2013; May 2008; Thole 2010, S. 31 ff.), und diese Plu-ralität erweist sich als Chance, nicht länger nach einer konsistenten Identität der Sozial-pädagogik suchen zu müssen. Ebenso wie es in der professionellen Sozialpädagogik als grundlegendes Prinzip gelten muss, Verschiedenheit anzuerkennen, so ist dies auch für die sozialpädagogische Theorie selbst einzuräumen: Verschiedenheit ist konstitutiver Teil auch der sozialpädagogischen Disziplin.

Obwohl dies ohne Zweifel richtig ist, lässt sich jedoch nicht nur eine „strukturelle Heterogenität“ (Kappeler 2011, S. 15) diagnostizieren. Die Sozialpädagogik ist zwar komplex und vielschichtig, aber es zeigt sich auch eine für sie spezifische Perspektivi-tät. In diesem Sinne wird von einem sozialpädagogischen „Blick“ (vgl. Füssenhäuser 2011, S. 115; Rauschenbach et al. 1993) gesprochen. In der historischen Rückschau lässt sich rekonstruieren, dass spezifische Positionen für die Sozialpädagogik charakteristisch sind. Michael Winkler (1993, S. 182) beschreibt sie in einem wichtigen Text zu Klas-sikern der Sozialpädagogik als Fokus auf gesellschaftliche Probleme, die eingefahrene Prozesse und Praxen der Sozialisation und Erziehung fraglich werden lassen. Sozial-pädagogik zeige sich mithin in einer Verschränkung von sozialen Krisendiagnosen mit einer Problematisierung von Erziehungsmöglichkeiten. Ähnlich beschreibt Uhlendorff (2009) den sozialpädagogischen Blick als eine besondere Sichtweise: Er differenziert sie als Fokus auf strukturelle gesellschaftliche Veränderungen, sich individuell auswirkende Erziehungs- bzw. Aneignungs- und Vermittlungsprobleme sowie pädagogische Mittel, um den jeweiligen Problemen abzuhelfen. Wie bereits Mollenhauer (1959) verweist Uhlendorff (2009, S. 578) hierbei auf eine ideologische Aufladung, da diese Perspektive bestimmte Vorannahmen und Werthaltungen kommuniziert. So werde regelhaft etwa ein Verfall zeitgenössischer Integrationsverhältnisse wahrgenommen und mit pädagogischen Gegenmaßnahmen die Hoffnung auf eine bessere, gerechtere Gesellschaft verbunden.

1 Der Beitrag setzt sich mit der Sozialpädagogik auseinander. Die Unterscheidung von der Sozial-arbeit wird gezogen, um die einschlägigen historischen Differenzen zwischen einer pädagogisch geprägten Sozialpädagogik und einer stärker durch die Armenfürsorge und die Fürsorgewissen-schaft begründeten Sozialarbeit ernst zu nehmen. Würde stattdessen integrativ von „Sozialer Arbeit“ gesprochen – wie dies bei einer nicht-historischen Auseinandersetzung durchaus Sinn macht und nachfolgend bei geeigneten Sinnzusammenhängen auch realisiert wird –, so würde das zentrale Argument des Beitrags noch bestärkt: Die Heterogenität der in Frage stehenden Wissensbestände wäre noch deutlich größer.

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Ohne eine derartig voreingestellte Perspektive lassen sich soziale Krisen nicht diagnosti-zieren: Sie zeigen sich nur demjenigen, der schon weiß, wie die Gesellschaft eingerichtet sein sollte (vgl. Liessmann 2012, S. 7 f.).

Diese Hinweise verdeutlichen ein Schwanken zwischen Heterogenität und der Etab-lierung einer Identität, die im Falle der Sozialpädagogik als Versuch verstanden werden kann, eine bestimmte Perspektive auf soziale und subjektive Prozesse zu etablieren – eine Perspektive die soziale Probleme bzw. gesellschaftliche Krisen so konstruiert, dass Maßnahmen der Erziehung und Bildungsförderung Erfolg versprechend und glaubhaft implementiert werden können (vgl. Dollinger 2010a). Der folgende Beitrag geht davon aus, dass die Besonderheiten dieser sozialpädagogischen Identitätskonstruktion bislang nur unzureichend aufgeschlossen wurden. Es existieren zwar zahlreiche Debatten über eine sozialpädagogische Identität, aber nach wie vor ist der „Stand des Wissens und der Forschung über Theorie (…) ausgesprochen unbefriedigend und unzulänglich“ (Rau-schenbach und Züchner 2010, S. 153). Meist wird, so Rauschenbach und Züchner (2010), eine „‚Mehr-Desselben-Strategie‘“ verfolgt, indem neue Theorieofferten vorgelegt, aber kaum die zentralen Implikationen sozialpädagogischer Theorieproduktion an sich in den Blick genommen werden. Es soll deshalb hier ein Versuch vorgelegt werden, die sozial-pädagogische Theoriebildung unter einer besonderen Perspektive zu beleuchten: Sie wird als Versuch der politischen Positionierung thematisiert, um den oben genannten „Blick“ zu etablieren bzw. zu reproduzieren. Im Folgenden wird zunächst begründet, dass ins-besondere Zeitdiagnosen eine Vermittlung diachroner und synchroner Wissensbestände mit der entsprechenden Funktion der Legitimation von Sozialpädagogik etablieren. Sie verweisen damit, so wird anschließend argumentiert, auf das politische Moment sozial-pädagogischer Theorie.

2 Die Positionierung sozialpädagogischen Wissens

2.1 Das auch früher schon neue Wissen der Sozialpädagogik

Es lässt sich an einer einfachen Gegenüberstellung illustrieren, dass die Konstruktion eines sozialpädagogischen „Blicks“ Eigentümlichkeiten aufweist, die eine nähere Ana-lyse lohnenswert erscheinen lassen.

Betrachten wir hierzu zunächst Themen der gegenwärtigen Theoriedebatte: Eines der wichtigsten Themen war seit den 1990er Jahren die Auseinandersetzung mit der Annahme, die Gesellschaft werde zunehmend individualisiert und verliere an unhinter-fragter sozialer Integrationskraft; derartige Annahmen wurden in der Sozialpädagogik sehr breit rezipiert (vgl. Baader 2004; Dollinger 2007). Ein weiteres, hiermit verbundenes Thema war und ist die These einer Normalisierung der Sozialen Arbeit; das 20. Jahr-hundert sei, so wird vermutet, ein sozialpädagogisches, da die Soziale Arbeit zunehmend ein normales Angebot an alle Gesellschaftsmitglieder geworden sei (vgl. zur Debatte Schaarschuch 1996; Seelmeyer 2008). Drittens wird angenommen, die Gesellschaft ver-liere angesichts einer zunehmenden Komplexität und Desillusionierung an konsensueller moralischer Orientierung; sie sei nun – so wird aus soziologischer Sicht konstatiert – eine „Gesellschaft ohne Baldachin“ (Soeffner 2000), in der „wir im Nirgendwo statt auf fes-

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tem Boden stehen“ (Soeffner 2000, S. 22). Ein außerdem aktuelles Thema verweist auf eine Entgrenzung sozialer und pädagogischer Verhältnisse; früher eindeutige Grenzzie-hungen erodierten zunehmend und machten besondere sozialpädagogische Gegenmaß-nahmen nötig (vgl. z. B. Böhnisch et al. 2005).

Diese Liste könnte erweitert werden. Dennoch wird mit den vier Themen ein Spekt-rum von Aspekten umrissen, die derzeit und in jüngster Vergangenheit für theoretische Debatten um die Sozialpädagogik sehr hohe Relevanz besitzen bzw. besaßen. Ein zwei-ter Blick ist hilfreich, um die Frage nach der politischen Positionierung sozialpädago-gischen Wissens angehen zu können. Dieser zweite Blick offenbart, dass diese Themen seit mindestens hundert Jahren in der Sozialpädagogik diskutiert werden – obwohl diese historische Kontinuität meistens nicht thematisiert wird. Im Gegenteil wird mit zeitdiag-nostischer Ambition in den Debatten selbst jeweils darauf hingewiesen, dass es sich um eine gesellschaftlich neue Situation handle, die die Sozialpädagogik vor gänzlich verän-derte Aufgaben stelle. Allerdings zeigen sich deutliche Kontinuitäten: Zum ersten Punkt, der Individualisierung, ist eine langfristige Auseinandersetzung mit ähnlichen Haltungen festzustellen. Beinahe alle sozialwissenschaftlichen Klassiker – insbesondere auch des 19. Jahrhunderts – fokussierten auf entsprechende Prozesse (vgl. Kippele 1998). Einzelne, wie etwa Emile Durkheim (1893/1999), erklärten die Frage nach dem Zusammenhang von Individualisierung und gesellschaftlicher Differenzierung zu ihrem Kerninteresse. Auch in der Sozialpädagogik wird dies seit langer Zeit diskutiert und problematisiert, etwa durch Ludwig Ballauff (1862) oder durch Paul Natorp (1899/1925, S. 197), der inte-ressanterweise eine „weitergehende Individualisierung“ nicht nur als Problem, sondern als wichtige Aufgabe der Sozialpädagogik identifizierte. Ähnlich zeigen sich Affinitäten zur These einer Normalisierung der Sozialpädagogik, dem zweiten o.g. Thema. Nicht erst Hans Thiersch (1992) und Thomas Rauschenbach (1999) beschrieben ihre Zeit bzw. das 20. Jahrhundert als sozialpädagogisches, sondern ähnliche Diagnosen wurden bereits früher getroffen, indem Johannes Tews (1898, S. 542) mit Blick auf gesellschaftliche Umwälzungen und den Ausbau sozialer Erziehungsmaßnahmen schrieb: „Unser Zeitalter kann also mit Recht ein sozialpädagogisches genannt werden.“ Dass er als Institution der Sozialpädagogik v. a. auch die Schule im Blick hatte und eine Trennung von Sozial- und Schulpädagogik für ihn wenig Sinn gemacht hätte, ist aktuellen Bildungsdebatten (vgl. z. B. Rauschenbach 2009) nicht fremd. Auch zum dritten Punkt finden sich Ent-sprechungen: Bekannt ist Friedrich Schleiermachers (1826/2000) Hinweis auf Dissens in ethischen Fragen und die Komplexität von Gesellschaft, so dass weder Ethik noch die Gesellschaft erzieherischem Handeln als eindeutige Referenz dienen könnten. Streit in ethischen und normativen Fragen war für ihn kein Hindernis für pädagogische Reflexion, sondern ihr konstitutives Element. Und dass schließlich, viertens, Entgrenzung ein zen-trales Thema der Sozialpädagogik ist, wurde jüngst in einer Studie zur sozialpädagogi-schen Theoriegeschichte im Kontext des Herbartianismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts rekonstruiert: Als wichtiges Moment entsprechender Theorien erwiesen sich Forderun-gen, die Pädagogik mit Blick auf ihre wissenschaftliche Fundierung, ihre institutionelle Einrichtung und die Erziehungspraxis zu entgrenzen und sie damit als eine Sozialpädago-gik zu begründen. So wurde die pädagogische Praxis „immer wieder durch Erweiterungs-diskurse irritiert […]. Auf diese Weise wurden Re- und Neujustierungen pädagogischen Wissens postuliert und auch realisiert“ (Dollinger et al. 2010, S. 169). Dies erfolgte u. a.

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mit dem Argument einer gesellschaftlichen Entgrenzung ehemals ständisch und traditio-nal eingefasster Sozialformen.

Diese historischen Debatten sind nicht mit den späteren Positionen identisch. Die sozialen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen haben sich geändert. Zudem wird in heutigen Ausführungen – in Anbindung an eine seit den 1980er Jahren breit dis-kutierte „Erfahrung von Unverbindlichkeit und Ungewißheit“ (Doering-Manteuffel und Raphael 2012, S. 133) – oftmals eine Steigerungslogik thematisiert, der zufolge die Gesellschaft noch stärker individualisiert, pluralisiert, entgrenzt usw. sei als früher, so dass nicht schlicht die gleichen Behauptungen über die jeweilige Gegenwart wiederholt werden. Dennoch tritt eine Wiederholung von Kernargumenten auf. Sozialpädagogische Zeitdiagnosen verfolgen argumentativ jeweils ähnlich gelagerte Absetzungen von einer Vergangenheit, die meist als Kontrastbild gezeichnet wird, um die Gegenwart in ihrer (möglichen) Besonderheit als sozialpädagogische Handlungsaufforderung zu distinguie-ren: Die Vergangenheit wird zu einem – in welcher konkreten Hinsicht auch immer – einfacher strukturierten, relativ unkomplexen oder durch Traditionen fixierten Zerrbild der Gegenwart, indem Motive der Komplexitätssteigerung, der individuellen Überforde-rung und der Auflösung sozialisatorisch essentieller Sozialisationsbedingungen moduliert werden.

In der sozialpädagogischen Theorie spielen derartige Zeitdiagnosen eine herausra-gende Rolle. Sie sind den etablierten Theorien nicht fremd, sondern in der Regel weisen sozialpädagogische Theorien ihrerseits zeitdiagnostische Elemente oder zumindest zeit-diagnostisches Anschlusspotential auf (vgl. Dollinger 2008). Es kann den obigen Hinwei-sen auf einen spezifischen sozialpädagogischen Blick deshalb hinzugefügt werden, dass er nicht nur eine soziale Krisendiagnostik mit der Problematisierung von Erziehungs- und Sozialisationsbedingungen leistet. Häufig ist er weitergehend verbunden mit zeitdiagnos-tischen Hinweisen auf eine Dramatisierung und Zuspitzung von Problemen und Krisen in sozialisations- und erziehungstheoretischem Bezug. Die sozialpädagogische Theorie-geschichte lässt sich in der Konsequenz (auch) als eine Darstellung von gesellschaftlich bedingten Sozialisations- und Erziehungskrisen sowie ihrer sukzessiven Verschlimme-rung nachzeichnen, wobei die im diachronen Verlauf kenntlich werdende Argumenta-tionsstruktur eine auffallende Ähnlichkeit aufweist (vgl. Dollinger 2006).

2.2 Die zwei Zeitdiagnosen der Sozialpädagogik

Die These einer strukturellen Ähnlichkeit sozialpädagogischer Zeitdiagnosen bedarf einer näheren Erläuterung. Einerseits sind die einzelnen Diagnosen unterschiedlich, da aus spe-zifischen sozialpädagogischen Positionen heraus – die sich über diese Thematisierungen performativ konstituieren – bestimmte Merkmale der Gegenwartgesellschaft hervorge-hoben, bewertet und mit sozialpädagogischem Handlungspotential abgeglichen werden. Andererseits jedoch sind die Argumente sowohl in sich wie auch im historischen Ver-gleich oftmals ähnlich. Von zentraler Relevanz ist die Figur des Modernisierungsverlie-rers, der – v. a. aufgrund desintegrativer Sozialisationsbedingungen – personenbezogener Unterstützung zu bedürfen scheint, da er ansonsten zu dauerhafter Orientierungslosigkeit, Gewalt oder anderem tendieren würde.

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Im Kern lassen sich die zahlreichen sozialpädagogischen Zeitdiagnosen anhand von zwei Idealtypen einschätzen. Diese Behauptung kann zwar nicht letztgültig bewiesen werden, aber es ist dennoch plausibel zu machen, dass die in Frage stehenden Optio-nen prinzipiell begrenzt sind. Es wirkt sich aus, dass sozialpädagogische Zeitdiagnosen ähnlich wie Positionen der Kulturkritik oftmals „Verlustgeschichten“ (Bollenbeck 2007, S. 9) erzählen. Kulturkritik, so Bollenbeck (2007, S. 9), „verarbeitet eher unsystematisch und osmotisch (vom Alltagswissen bis zum philosophischen Wissen) die unterschied-lichsten Wissensbestände“; erkenntnisleitend sind Vorstellungen einer „,geglückten Identität‘, eines ‚geglückten Lebens‘ oder einer ‚wahren Form menschlicher Praxis‘.“ Diese Vorstellungen unterscheiden sich je nach Autor bzw. theoretischer Voreinstellung, dennoch wird im sozialpädagogischen Blick eine spezifische Argumentationsrichtung verfolgt, indem ein gesellschaftliches Krisenbild mit der Diagnose gefährdeter Subjekti-vität relationiert wird, so dass eine gewisse Systematik kenntlich wird. Nützlich zu ihrer Rekonstruktion ist ein Rekurs auf Carl Mennicke (1926), der als Kern von Sozialpädago-gik den Umgang mit gesellschaftlich induzierter Freiheit bestimmte; als unkontrollierte bzw. nicht werthaft einregulierte Freisetzung drohe sie in Devianz umzuschlagen und bedürfe pädagogischer Bearbeitung. In der sozialpädagogischen Gegenwart wird nicht nur historisch, sondern auch in theorie-systematischer Intention an diese Bestimmungen angeschlossen (vgl. z. B. Bender-Junker 2012; Böhnisch et al. 2005; Dollinger 2006; Müller 2005; Uhlendorff 2009). Dies ist folgerichtig, denn Mennicke benennt mit diesen Hinweisen die oben beschriebene sozialpädagogische Perspektivität, indem er ,moder-nen‘ Subjekten ein pädagogisch zu adressierendes Freiheitsproblem attestiert. Mit einer derartigen Position lassen sich auf idealtypischer Ebene zwei Grundpositionen sozial-pädagogischer Zeitdiagnose ausformulieren: einerseits die These einer durch Prozesse der Modernisierung induzierten, zu weitgehenden Freiheit des Subjekts, das der erzie-herisch realisierten Bindung und Kontrolle bedürfe; andererseits die Annahme einer zu umfassenden Re-Regulierung von Freiheit, so dass der Sozialpädagogik die Aufgabe zugeschrieben wird, Freiräume gegen ein Zuviel an Kontrolle zu schaffen. Die beiden Positionen seien hier knapp skizziert:

a. Das durch Freiheit überforderte Subjekt: Diese Sichtweise dominiert den sozial-pädagogischen Theoriediskurs, insbesondere in der Form von Modernisierungstheo-rien und, spezieller, von Thesen der Individualisierung (vgl. Dollinger 2012). Im Prozess gesellschaftlichen Wandels, so die Annahme, seien die sozialen, institutionel-len und/oder moralischen Grenzen erodiert, die für geordnete Prozesse der Sozialisa-tion und Erziehung notwendig seien. Die Sozialpädagogik wird auf dieser Grundlage in Stellung gebracht, um Orientierung zu stiften und Gemeinsamkeiten zu inszenie-ren. Diese Zeitdiagnose ist im Kern strukturkonservativ ausgerichtet: Das zentrale Argument zielt auf einen Verlust der Sozialisationsleistungen, die früher einmal ge-geben waren, die nun aber verloren seien und der Restitution bedürften. Was früher sozialisatorisch funktionierte, funktioniere im Kern auch heute noch, und sei in der Form einer sozialpädagogischen Nachbildung (etwa als Imitation ,echter‘ Gemein-schaften, wie sie schon für Tönnies (1887/1991) im gesellschaftlichen Wandel ver-loren gingen). Es gibt zahlreiche Spielarten dieser Haltung. Gemeinsam ist ihnen die Angst vor der Freiheit des Subjekts. Historisch zeigt sie sich exemplarisch in Hegels

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(1821/1986, S. 389) Warnungen vor der historischen „Erzeugung des Pöbels“, dessen Gesinnung eine „innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw.“ aufbringen könne. Eine hieran geschulte Sozialpädagogik sucht eine Regulation der Freiheit zu erreichen, damit untere Milieus der Gesellschaft, bestimm-te Familien oder – insbesondere junge – Einzelpersonen von ihrer Freiheit den rech-ten Gebrauch machen (vgl. hierzu Fach 2003). Werde dies nicht geleistet, so erweise sich die Freiheit des Individuums als Gefahr für andere; die Sozialpädagogik droht mit ihrer Klientel. In den Worten einer modernisierungs- und anomietheoretischen Sozialpädagogik: „Die gesellschaftlichen Individualisierungs- und Biografisierungs-schübe haben das Risikoverhalten (Jugendlicher; d. A.) noch stärker freigesetzt“; deshalb zeigten Jugendliche gegenüber der Gesellschaft eine „Gegnerschaft des un-bedingten und sofortigen Erlebenmüssens“ (Böhnisch 1999, S. 135).

b. Das (über-)kontrollierte Subjekt: Kennt die erstgenannte Zeitdiagnose vor allem ein Zuviel an Freiheit, so berichtet diese Zeitdiagnose von ihrer übermäßigen Unter-drückung. Freiheit kommt dem Subjekt hier legitimerweise zu, und es ist die Gesell-schaft, die mit ihren Institutionen und ihrer Moral zur Unterdrückung der Freiheit neigt. Man kann diese Zeitdiagnose als Rousseausche Variante bezeichnen, da sie kaum pointierter auszudrücken ist als in dem Satz: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten“ (Rousseau 1762/2003, S. 5). Zwar kannte Rousseau in affirmativer Hinsicht auch die subtile pädagogische Regulierung aus der Ferne, die Freiheit als Kontrollmodus einsetzt (vgl. Rousseau 1762/1998). Dennoch illustriert der in Ketten liegende Mensch den zentralen Ansatzpunkt einer sozialpädagogischen Zeitdiagnose, die sich selbst regelhaft als „kritisch“ versteht und die subtile Kont-rolle ebenso anprangert wie Arrangements sozialen oder auch sozialpädagogischen Zwangs. Ihr Gegner ist die polizierte Gesellschaft, als deren Komplize die Sozialpä-dagogik mitunter überführt wird.2 Hieran schließen motivisch verschiedene Theorien an, marxistische Positionen ebenso wie Foucaultsche oder z. B. interaktionistische, insoweit sie auf jeweils unterschiedliche Weise soziale Kontrolle und sozialpäda-gogische Machtausübung – z. B. durch sprachlich verfasste Kategorisierungen von AdressatInnen – dechiffrieren. Zeitdiagnostisch wird in diesem Kontext etwa vor wachsender Punitivität oder dem Aufkommen einer Sicherheitsgesellschaft gewarnt (z. B. Dollinger 2010b; Lutz 2010). Gemeinsam ist den Positionen, dass für sie we-niger das freigesetzte Subjekt das Problem der Gesellschaft ist, sondern die Gesell-schaft das Problem für das Freiheitspotential des Subjekts.3 Es bedarf kaum einer Erwähnung, dass diese Einstellungen in der Sozialpädagogik zwar wichtig sind, aber in einer Randposition verbleiben.

2 Eine im Übrigen historisch angelegte Gegnerschaft. Die Anfänge gegenwärtiger Wohlfahrts-staaten ergaben sich in Auseinandersetzung mit und z. T. in Fortführung der historischen „Poli-cey“ (vgl. Sachße und Tennstedt 1986; Schmidt 2011).

3 Nicht unähnlich ist dieser Gegenüberstellung eine Sortierung von Individualisierungsthesen durch Markus Schroer (2001), der gleichfalls auf die Einstellung gegenüber der Freiheit des Subjekts und ihrer Förderung bzw. Gefährdung besonderen Wert legt.

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Es ist zu wiederholen, dass es sich um eine idealtypische Unterscheidung handelt. In der Realität treten zahlreiche Variationen und Mischformen auf. Bereits in der Begriffsinno-vation der „Social-Pädagogik“ durch Karl Mager (1844/1989) waren beide Zeitdiagnosen präsent: Mager kritisierte mit herrschaftskritischer Verve ausgiebig die Unterdrückung bürgerlicher Freiheitschancen und problematisierte zugleich die Freiheit des aufkommen-den ,Pöbels‘. Auch Mennicke (1937/2001, S. 25) kannte nicht nur die problematische Freisetzung des Einzelnen als gesellschaftliche Aufgabe, positiv „auf asoziale Elemente“ einzuwirken: er kannte ebenfalls die Gefahr einer zu restriktiven Antwort auf sie, bis hin zum nationalsozialistischen „Zwangssystem“ (Mennicke 1937/2001, S. 72), unter dem er selbst zu leiden hatte. In diesem Sinne sind bei einer näheren Analyse sozialpädagogi-scher Positionen komplexe argumentative Arrangements in den Blick zu nehmen. Gleich-wohl erlaubt die idealtypische Zuspitzung eine Sortierung des alten neuen Wissens der sozialpädagogischen Zeitdiagnosen.

2.3 Sozialpädagogische Positionierungen

Angesichts der Grundstruktur sozialpädagogischer Zeitdiagnosen ließe sich eine Affinität zu Fernand Braudels (1977) strukturalistisch begründetem Konzept einer „longue durée“ ausmachen: Es verweist auf langfristige historische Entwicklungen, denen Braudel kurz-fristigere Ereignisse und Prozesse gegenüberstellt. Diese finden seiner Ansicht nach zwar oftmals das sozialwissenschaftliche und historische Interesse, sie ließen aber überdau-ernde Entwicklungen außer Acht geraten. Wird dies frei auf die hier zu diskutierenden Bedingungen sozialpädagogischer Theoriediskurse übertragen, so dokumentieren die sozialpädagogischen Zeitdiagnosen eine besondere Aufmerksamkeit für aktuelle Ereig-nisse und Entwicklungen. Die tiefer gehenden, historisch reproduzierten Besonderheiten sozialpädagogischer Wissensproduktion hingegen treten zurück. Das Potential, das für eine Selbstaufklärung der Sozialpädagogik im Sinne einer „re-flexiven“ Analyse (vgl. Dollinger 2013) genutzt werden könnte, indem ihre diachrone Wissensentwicklung auf-geschlossen wird, verliert sich damit in immer neuen Anläufen einer synchron ausgerich-teten, zeitdiagnostischen Positionierung von Sozialpädagogik. So wird wiederholt auf zerfallende Gemeinschaften, orientierungslose Subjekte oder umfassende Individualisie-rungsprozesse eingegangen. Auf diese Weise wird eine vermeintlich klar strukturierte, traditional und moralisch gebundene sowie sozial integrierte Form vergangener Gesell-schaft projektiert, deren Auflösung sozialpädagogisches Handeln notwendig mache. Aber der Tatsache, dass dies eine spezifische Perspektive ist, die Auskunft über das Projekt einer sozialpädagogischen Identität geben könnte, wird damit nicht immer voll entspro-chen. Mit dem Konzept einer zeitdiagnostischen Positionierung kann auf möglicherweise hilfreiche Weise beschrieben werden, wie eine weiterführende Analyse sozialpädagogi-scher Wissenskonstitution möglich ist.4

4 Zum theoretischen Hintergrund dieses Verständnisses von Positionierung sei verwiesen auf die Diskurstheorie nach Foucault, insbesondere in der Weiterführung durch Jürgen Link (2006): Eine diskursive Position wird beschrieben anhand von Interdiskursen, d. h. von Diskursen, die Verbindungen bzw. Brücken herstellen,u. a. indem spezielles Wissen für breite Kreise verfüg-bar gemacht wird. Eine diskursive Position ist entsprechend ein Effekt von „in sich kohärenten

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Dies konfrontiert mit einer Grundfrage: Warum gibt es überhaupt besonderen sozialpä-dagogischen Bedarf, sich zeitdiagnostisch als Lösungsinstanz für Probleme darzustellen, die als pädagogisch anschlussfähig definiert werden? Um eine Antwort zu finden und um Missverständnisse zu vermeiden, ist zunächst zu betonen, dass Wissenschaften natürlich stets ihren Gegenstand (auch) selbst konstituieren. Dies ist vergleichsweise trivial, denn durch die Verwendung spezifischer Instrumente, Theorien, Forschungsmethoden, durch wissenschaftliche Habitus usw. wird erst sichtbar, was gesehen werden kann. Dies wurde wissenschaftstheoretisch ausführlich beschrieben (im Überblick z. B. Schützeichel 2007; ferner z. B. Fleck 1980; Foucault 1974; Kuhn 1976). Im Falle der Sozialpädagogik stellt sich dies jedoch als besonderes Problem dar.

Es lässt sich anhand eines Vergleichs demonstrieren: Wenn bei einer Person z. B. ein Krebsleiden diagnostiziert wird, steht zumindest weitgehend außer Frage, dass die Dia-gnose nur dann glaubhaft ist, wenn sie von Medizinern vorgenommen wurde. Außerdem ist es angeraten, Mediziner beurteilen zu lassen, was in der Folge zu tun ist. Wie aber ver-hält es sich mit den Sachverhalten, mit denen die Sozialpädagogik konfrontiert ist? Steht ebenso eindeutig fest, dass bei Bildungsproblemen Sozialpädagogik notwendig ist, bei Jugendkriminalität außerschulische Erziehung oder bei Rechtsextremismus ein sozialer Trainingskurs? Offensichtlich nicht. Kernpunkte sozialpädagogischen Selbstverständnis-ses – Semantiken und Begriffe wie „Bildung“, „Kindeswohl“, „Hilfe“, „Jugendkrimi-nalität“, „Biographie“, „Prävention“ usw. – sind meist nicht nur in anderen Disziplinen ebenfalls zentral und damit transdisziplinär ausgerichtet; sie sind darüber hinaus fester Bestandteil öffentlicher Debatten, so dass sie nicht nur wissenschaftsintern, sondern öffentlich und im Bereich der Politik verhandelt werden. Koerrenz und Winkler (2013, S. 58 f.) beschreiben dies am Beispiel der Begriffe „Erziehung“ und Bildung“: „Ihnen fehlen Klarheit und Bestimmtheit (…). Meist werden die Begriffe durch Wortverbindun-gen inhaltlich erst ausgefüllt. Entweder werden Schematisierungen (…) vorgenommen oder Verknüpfungen mit spezifischen Zusammenhängen“. Obwohl die beiden Begriffe eine lange pädagogische und sozialpädagogische Tradition aufweisen, sind sie demnach nicht per se sozial-/pädagogisch qualifiziert. Sie sind dies nur dann, wenn sie – bewusst zirkulär formuliert – entsprechend qualifiziert werden. Bei der Nutzung dieser Termino-logien besteht stets die Gefahr, dass andere Disziplinen „einmarschieren“ (Koerrenz und Winkler 2013, S. 59) können oder öffentliche bzw. politische Deutungen bestimmend werden, wo eigentlich sozial-/pädagogisch argumentiert werden sollte. Die gegenwärtige Bildungsdebatte, die sozialpolitische Verwendung von Rhetoriken der Aktivierung, die öffentliche Auseinandersetzung um „Kindeswohl“, die Rede von „Erziehung“ im Kon-text des Jugendstrafrechts u. v. m. bieten reichlich Anschauungsmaterial für diese Gefahr. Sie ist für die Sozialpädagogik keine Nebensächlichkeit, sondern in diesen Aushandlun-gen der Legitimität spezifischer Wissensbestände wird bestimmt, ob die Sozialpädagogik überhaupt handlungs- und artikulationsberechtigt ist. Sie muss ein ranghohes Interesse

Verwendungsweisen des kulturellen Vorrats an Interdiskurselementen“ (Link und Parr 2007, S. 15). Ein wichtiges Merkmal einer Position ist die spezifische Bewertung von Ereignissen, mit der eine besondere kulturelle Positionierung erzielt wird (vgl. Link 1988, S. 290). Zu den zahlreichen Anschlüssen an diese Vorgaben vgl. im Überblick Parr und Thiele (2010) sowie für konkrete methodische Hinweise vgl. Dollinger und Urban (2012).

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daran haben, dass ihre Perspektive und ihr Begriffsverständnis öffentliche Anerkennung finden, damit sozialpädagogische Problemarbeit geleistet werden kann.

Es liegt nicht in einer Natur der Sache, ob dies der Fall ist – und ob dies der Fall ist, liegt meist nicht in der Hand der Sozialpädagogik, sondern dies wird wohlfahrtsstaat-lich bestimmt. Der Wohlfahrtsstaat reguliert – im Verbund mit Medien – in zentraler Weise, welche öffentliche Anerkennung Problemdefinitionen erhalten und insbesondere, welche Ressourcen zu ihrer Bearbeitung bereitgestellt werden (vgl. Best 2008, S. 194 ff.; Schetsche 2008, S. 156 ff.). Von Seiten der Sozialpädagogik ist es bedeutsam, dass sie nicht nur aktiv an diesen Debatten teilzunehmen hat, sondern als selbstkritische Instanz sollte sie auch in der Lage sein, die eigene Perspektivität zu hinterfragen. Man denke an mögliche Nebenfolgen einer sozial-ätiologischen Problemdeutung, wie sie mit dem sozialpädagogischen Blick einhergeht. AdressatInnen werden zwar einerseits in Schutz genommen, wenn ihre Probleme als sozial bedingt konzipiert werden, da ihre Eigen-beteiligung dadurch relativiert wird. Werden Probleme so konzipiert, dass sie von den Betroffenen nicht selbst kontrolliert werden können, so ist dies oftmals mit der Bereit-schaft verbunden, ihnen zu helfen (vgl. Oorschot 2006), so dass die Sozialpädagogik von derartigen Deutungen profitieren kann. Andererseits aber kann dies Nebenfolgen für die Betroffenen aufweisen. Würde beispielsweise die massenhaft auftretende Jugendkri-minalität als Sozialisations- bzw. Erziehungsproblem interpretiert werden, so würde die Mehrheit Jugendlicher pathologisiert. Entsprechend wurde auch vom Gesetzgeber unter Hinweis auf neuere „kriminologische Forschungen“ konstatiert, „dass Kriminalität im Jugendalter meist nicht Indiz für ein erzieherisches Defizit ist, sondern überwiegend als entwicklungsbedingte Auffälligkeit mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter abklingt und sich nicht wiederholt“ (Bundestags-Drucksache 1989, S. 1). Ferner wird selbst dort, wo ein Erziehungsdefizit geltend gemacht wird, ein wohlfahrtsstaatlich begründeter Umgang mit Delinquenz hinterfragt, da er als Täterorientierung in der Gefahr steht, die Verhältnis-mäßigkeit von Maßnahmen zu unterlaufen und durch die Zuschreibung von Unmündig-keit den Subjektstatus Beschuldigter zu gefährden (vgl. Muncie 2009, S. 288 f.; Pickford und Dugmore 2012, S. 33 ff.). In der Geschichte finden sich eindeutige Belege für die Notwendigkeit, diese Mahnungen zu beachten, da der Erziehungsauftrag bei jungen Tätern teilweise als reine Disziplinierung umgesetzt wurde (vgl. Peukert 1986). Und auch gegenwärtig zeigen sich Tendenzen, dass junge Täter mit dem Fokus auf ihre Erziehungs-bedürftigkeit schlechter gestellt bzw. härter bestraft werden als erwachsene Täter (vgl. Heinz 2012, S. 547 f.; Kemme und Stoll 2012). Mitunter werden bei jungen Tätern sozial-pädagogische Maßnahmen realisiert, wo bei erwachsenen Tätern nichts folgt. Der sozial-pädagogische Blick muss demnach selbstkritisch eingestellt bleiben. Vergleichbares ließe sich neben Jugendkriminalität auch für andere aktuelle Auseinandersetzungen etwa um den Begriff „Kindeswohl“, um sozialpolitisch begründete „Aktivierung“ usw. aussagen. Es steht jeweils in Frage, ob, inwieweit und mit welcher Aufgabe sich die Sozialpädago-gik in die jeweiligen Formen der Problemarbeit einbringen kann und soll.

Die Frage, ob die Sozialpädagogik prinzipiell an Aushandlungen um öffentliche Pro-blemdeutungen teilnehmen soll, stellt sich dabei nicht, da sie existentiell in sie verstrickt ist. Die Sozialpädagogik kann gewissermaßen nicht nicht um ihre distinkten Problemdeu-tungen ringen. Vier Gründe lassen sich anführen, weshalb dies der Fall ist:

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● Erstens dürfte ein wichtiger Grund in der großen Heterogenität der Sozialpädagogik liegen. Sowohl ihre Theorien wie auch die von ihr adressierten Arbeitsfelder, ihre historischen Bezüge oder die zum Einsatz kommenden Forschungs- und Handlungs-methoden sind überaus vielschichtig. Sie kennt keinen Wissenskanon, der unstrittig als Basis einer sozialpädagogischen Identität fungieren könnte. Sie hat folglich kei-nen sicheren Stand und muss sich oftmals kontext- und themenabhängig als interven-tionsberechtigte Instanz ausweisen. Dies betrifft alle Bereiche von Politik, in denen darüber befunden wird, welche Deutungen von sozialen Problemen und welche Maß-nahmen gegen sie staatliche Anerkennung finden. Ohne diese Anerkennung besitzt die Sozialpädagogik keine dauerhaften Handlungschancen in den jeweiligen Praxis-zusammenhängen, und damit auch kaum in den mit ihnen assoziierten disziplinären Auseinandersetzungen.

● Zweitens ist die bereits angeführte Deutungsoffenheit sozialpädagogischer Kern-begriffe anzuführen. Erziehung und Bildung, so wurde oben konstatiert, sind nicht nur sozialpädagogische, sondern politische und öffentliche sowie transdisziplinäre Begriffe, um deren Gehalt gerungen wird. Die Sozialpädagogik ist per se in entspre-chende Deutungskämpfe involviert. Dies gilt gleichfalls für den sozialpädagogischen Blick und die von ihm adressierten gesellschaftlichen Krisen sowie die Betroffenheit von Subjekten: Es gibt keinen Konsens um das Wesen von „Gesellschaft“ und es existieren erhebliche Unterschiede in Subjekttheorien; nicht weniger ist umstritten, was eine soziale „Krise“ sein könnte und wie sie jeweils beschaffen ist. So ist die sozialpädagogische Perspektive eine Perspektive neben anderen; ob ihr gefolgt wird und sie als ,richtig‘ anerkannt wird, bedarf der Überzeugungsarbeit.

● Drittens ist diese Arbeit eng mit dem breiten Entstehungszusammenhang der Sozial-pädagogik verwoben. Man könnte in Anlehnung an Husserl (2012, S. 61) von histo-risch angelegten „Sinneserbschaften“ sprechen, die derzeit möglicherweise verdeckt sind, die aber dennoch spürbar bleiben. Eine solche Erbschaft ist für das sozialpä-dagogische Wissen die Herkunft aus der stets umkämpften „sozialen Frage“ (vgl. Dollinger 2006; Schröer 1999). Was die soziale Frage ,ist‘, konnte nie entschieden werden, wohl aber wurden umfassende Auseinandersetzungen um sie geführt, die langfristige Gültigkeit besitzen. Kaufmann (2003, S. 33) führt aktuelle wohlfahrts-staatliche Arrangements entsprechend auf den jeweiligen Umgang mit der sozialen Frage zurück, und zugleich betont er die prinzipielle Konflikthaftigkeit von Sozial-politik (vgl. Kaufmann 1997). Wohlfahrtsstaatliche Arrangements und speziell auch die Sozialpädagogik weisen zwar eine Linie der historischen Kontinuität, aber auch dauerhafte Debatten um die Einrichtung einer gerechten Gesellschaft und die Produk-tion von Wohlfahrt auf. Heutzutage steht diesbezüglich nicht mehr die soziale Frage im Vordergrund. Ihre Erbschaft liegt im Fokus auf soziale Probleme (vgl. Groene-meyer 2011). Mit der Dominanz konstruktivistischer Positionen in der Problemsozio-logie wird dabei anerkannt, dass – im Prinzip nicht anders als bei der historischen sozialen Frage – die Etablierung von sozialen Problemen auf die Durchsetzung parti-kularer Problemdeutungen in konflikthaften öffentlichen Prozessen verweist. Da die Sozialpädagogik soziale Probleme bearbeitet, kann sie nur Handlungspotential ent-falten, wenn sie sich in diesen Auseinandersetzungen behauptet und z. B. erfolgreich begründet, dass Bildung nicht nur auf Schulpädagogik verweist, dass Jugendkrimi-

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nalität nicht nur ein strafrechtliches Problem darstellt, dass Kindeswohlgefährdung nicht nur durch Familiengerichte und Psychologen bearbeitet werden kann usw.

● Viertens: In Auseinandersetzungen um die Bearbeitung sozialer Probleme positioniert sich die Sozialpädagogik stets (auch) durch Krisendiagnosen und das Versprechen, erfolgreich gegen Probleme vorgehen zu können. Aber die wichtigsten Probleme der Gesellschaft können nicht gelöst werden. Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Kin-deswohlgefährdung usw. bestehen weiter. Dies bedeutet: Lösungsversprechen ver-alten und machen diejenigen, die sie vertreten hatten, unglaubwürdig. Wer bereits vor 100 Jahren argumentiert hatte, er könne erfolgreich gegen Orientierungslosig-keit, Entgrenzungen, Desintegration und Ähnliches vorgehen, kann diese Zusiche-rung nicht einfach permanent wiederholen. Zwar wird in der Sozialpädagogik mit strukturellen, gesellschaftlichen Problemursachen argumentiert, die durch sozialpä-dagogisches Handeln nicht direkt erreicht werden können. Aber wenn nicht einmal eine Linderung der Probleme erzielt werden kann, warum sollten Akteure der Politik dann der Sozialpädagogik weiterhin vertrauen? Somit ist es für sozialpädagogische Zeitdiagnosen funktional, nicht die genau gleichen Argumente zu nutzen, sondern Dramatisierungen zu leisten, so dass Prozesse der gesellschaftlichen Entgrenzung nun umfassend angelegt sind, die gesellschaftliche Komplexität nun nochmals gesteigert wurde, der soziale Wandel und mit ihm die Überforderung von Subjekten nun drama-tisch gesteigert sei usw. So sucht die Sozialpädagogik jeweils neu zu begründen und zu verhandeln, dass gerade sie interventionsberechtigt ist, obschon sie ihre Erfolge oftmals nicht eindeutig nachzuweisen in der Lage ist. Dramatisierungen sind hierzu ein mögliches Mittel (zu weiteren vgl. Best 2008, S. 30 ff.). Ein anderes, das in der sozialpädagogischen Geschichte und Gegenwart bedeutsam ist, liegt in der Negation von Kontingenz: Die Möglichkeit, dass Deutungen von Gesellschaft, Subjekten und sozialen Krisen auch auf andere Weise als gemäß dem sozialpädagogischen Blick realisiert werden könnten, sollen dadurch unterbunden werden. So wird in sozialpäda-gogischen Zeitdiagnosen oftmals von einer bloßen Reaktion der Sozialpädagogik auf objektiv gegebene Probleme gesprochen und es werden entsprechende Notwendig-keiten thematisiert, mit pädagogischen Mitteln der Problemarbeit vorzugehen (vgl. Dollinger 2009). Ferner werden regelhaft normativ begründete Dichotomisierungen kommuniziert, um die Sozialpädagogik als Modus der Problemarbeit zu begründen, etwa in der Gegenüberstellung von Gemeinschaft vs. Gesellschaft, Lebenswelt vs. System, Integration vs. Desintegration, Hilfe vs. Kontrolle, Anerkennung vs. Stigma-tisierung usw. Eine genauere Analyse dieser und die Aufschließung weiterer Argu-mentationsfiguren ist eine empirisch, insbesondere diskursanalytisch, hochgradig spannende Aufgabe.

3 Diskussion

Die Sozialpädagogik ist als Profession und Disziplin in die Aushandlung der Interpreta-tion und Anerkennung sozialer Probleme eingebunden. Im Falle disziplinärer Wissens-bestände werden z. B. kulturelle Erfahrungen der Desintegration, der gesellschaftlichen Komplexitätssteigerung, der Beschleunigung oder der umfassenden sozialen Kontrolle

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derart justiert, dass sozialpädagogisches Wissen und Handeln plausibel gemacht wird. Der sozialpädagogische Blick ist demnach, wie oben mit Bollenbecks Hinweis auf die Kulturkritik angeführt, „osmotisch“, insofern alltäglich wahrgenommene Gegenwarts-deutungen wissenschaftsintern verarbeitet werden, und er bleibt dadurch mit breiteren kulturellen Wissenshorizonten in Verbindung. Die Positionierung sozialpädagogischen Wissens erfolgt entsprechend nicht nur wissenschaftsintern, sondern dieses Wissen ist in breitere Diskurse integriert; in den Worten Foucaults (1971/2002, S. 210) ist es in eine „Episteme“ eingelagert, die über Disziplinen hinausgeht, da im Wissenstransfer von öffentlichen Instanzen und Wissenschaft darüber bestimmt wird, was „zu einem mög-lichen Gegenstandsbereich“ werden kann.

Diese Bestimmung läuft nicht von selbst. In den vergangenen Jahren wurde ein Fokus auf Prozesse der Steuerung durch Instanzen der Politik gelegt, um der Frage nachzuge-hen, wie die Soziale Arbeit neu justiert wird (hierzu z. B. Benz et al. 2007; Dahme und Wohlfahrt 2005; Schönig 2006). Der hier gemachte Vorschlag, Positionierungen in den Blick zu nehmen, steht nicht konträr hierzu, sondern er geht von einem anderen Punkt aus: Die Steuerungsperspektive beginnt bei der Politik und fragt nach ihrer Möglich-keit, gewünschte Ziele in komplexen und widerständigen Arrangements zu erreichen. Der Fokus auf Positionierungen hingegen geht von der Sozialpädagogik aus und the-matisiert die von ihr geleistete Wissens- und Problemarbeit. Es geht folglich nicht um Vorgaben, die der Sozialpädagogik durch die Politik zugemutet werden, sondern um das ihr zukommende Moment des Politischen (vgl. Dollinger 2011). Politisches steht im Zentrum, da die Sozialpädagogik in ihrem Blick Wertungen und Ordnungsvorstellun-gen kommuniziert, die in ihrer zeitdiagnostischen Selbstpositionierung deutlich zu Tage treten. Die Sozialpädagogik ist Teil eines politischen Machtspiels, in dem der Verzicht auf Teilnahme mit Ausschluss beantwortet würde. Der Einsatz des Spiels ist grundle-gend: Es geht um die prinzipielle Wahrnehmung von sozialen Prozessen und die Mög-lichkeit, Subjekte bei ihrer Bewältigung zu unterstützen. Positionsbestimmungen sind folglich keine Frage einer nur oberflächlichen Verhandlung, sondern das Politische ist grundlegend, auch wenn es nicht im Sinne eines sicheren Fundaments fungieren kann (vgl. Laclau 2007, S. 119 f.). Statt von oberflächlicher Überredung handelt die sozial-pädagogische Identitätskonstruktion von epistemologischer Überzeugungsarbeit, d. h. von der Frage, was Gesellschaft und was Subjektivität jeweils und in ihrer wechselseiti-gen Verwobenheit ,wirklich sind‘ und ,sein sollen‘. Die Frage des Politischen zwingt die Sozialpädagogik demnach zu grundlegender Re-Flexion. Bedorf (2010, S. 14) formuliert dies für die Philosophie als notwendiges „Reflexivwerden des Denkens, das seine eigene politische Verfasstheit betrachtet“. Dies gilt auch für die Sozialpädagogik. Man kann die Argumentation dieses Beitrags dahingehend zusammenfassen, dass die Sozialpädagogik nicht vorrangig ein Produkt der Gesellschaft ist, sondern ein politisches Projekt. Soziale Prozesse sind für sie wichtig und ihre Diskussion ist für die Sozialpädagogik notwendig und erkenntnisreich. Da es aber keinen gleichsam ideologiefreien Begriff von Gesell-schaft oder Sozialität gibt (vgl. entsprechend Lüdemann 2004; Reckwitz und Moebius 2008), ist für die Sozialpädagogik, sofern sie an ihrer Selbstaufklärung interessiert ist, die Frage nach ihrem Moment der Politischen grundlegender (wenn auch nicht gründend).

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