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Das intertemporale Steuerrecht in der Rechtsprechung · Das intertemporale Steuerrecht in der...

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ASA/Archives 76 · Nr. 10 · 2007/2008 633 Das intertemporale Steuerrecht in der Rechtsprechung Markus Weidmann Dr. iur., Rechtsanwalt, dipl. Steuerexperte; Homburger, Zürich Auf einen Sachverhalt finden jene Rechtssätze Anwendung, die bei seiner Ver- wirklichung gegolten haben. Diese Regel wird aber bei Rückwirkungen durch- brochen; insbesondere die neuere Gesetzgebung hat Rückwirkungen mit be- günstigendem Effekt für die Steuerpflichtigen verwendet. Während altes materielles Recht nach seiner Aufhebung auf die unter seiner Geltung entstan- denen Sachverhalte weiterwirkt, kommt neues Verfahrensrecht sofort zur An- wendung. Im Bereich des Steuerstrafrechts gilt die «lex mitior». An Hand der Rechtsprechung werden einige Fragen diskutiert, die sich aus diesen Grundsät- zen ergeben. Toute disposition juridique s’applique aux états de fait réalisés sous son empire. Ce principe est cependant rompu par la rétroactivité; en particulier, la législa- tion récente a fait usage de la rétroactivité avec des effets favorables aux contri- buables. Tandis que l’ancien droit matériel continue, après son abrogation, de régir les états de fait nés sous son empire, le nouveau droit de procédure est en revanche immédiatement applicable. Le principe de la «lex mitior» trouve appli- cation dans le domaine du droit pénal fiscal. Quelques questions soulevées par les principes évoqués ci-dessus sont traitées dans la présente publication à la lumière de la jurisprudence. I. Einleitung 634 II. Praxisänderung 634 III. Neues materielles Recht 638 A. Grundsatz 638 B. Rückwirkungen 638 1. Formen der Rückwirkung 638 2. Echte Rückwirkung 639 3. Unechte Rückwirkung 641 4. Begünstigende Rückwirkung 641 C. Vorwirkung des neuen Rechts 645 D. Anwendung neuen materiellen Rechts im laufenden Verfahren 646 E. Veränderungen latenter Steuerlasten 647 1. Aufhebung einer latenten Steuerlast 647 a) Im Allgemeinen 647 b) Direkte Steuern 648 c) Wegfall einer Sperrfrist 650 d) Reduktion der residualen Quellensteuer 651 e) Einführung Kapitaleinlageprinzip 653 2. Einführung einer latenten Steuerlast 655
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Das intertemporale Steuerrecht in der Rechtsprechung

ASA/Archives 76 · Nr. 10 · 2007/2008 633

Das intertemporale Steuerrecht in der Rechtsprechung

Markus WeidmannDr. iur., Rechtsanwalt, dipl. Steuerexperte; Homburger, Zürich

Auf einen Sachverhalt finden jene Rechtssätze Anwendung, die bei seiner Ver-wirklichung gegolten haben. Diese Regel wird aber bei Rückwirkungen durch-brochen; insbesondere die neuere Gesetzgebung hat Rückwirkungen mit be-günstigendem Effekt für die Steuerpflichtigen verwendet. Während altes materielles Recht nach seiner Aufhebung auf die unter seiner Geltung entstan-denen Sachverhalte weiterwirkt, kommt neues Verfahrensrecht sofort zur An-wendung. Im Bereich des Steuerstrafrechts gilt die «lex mitior». An Hand der Rechtsprechung werden einige Fragen diskutiert, die sich aus diesen Grundsät-zen ergeben.

Toute disposition juridique s’applique aux états de fait réalisés sous son empire. Ce principe est cependant rompu par la rétroactivité; en particulier, la législa-tion récente a fait usage de la rétroactivité avec des effets favorables aux contri-buables. Tandis que l’ancien droit matériel continue, après son abrogation, de régir les états de fait nés sous son empire, le nouveau droit de procédure est en revanche immédiatement applicable. Le principe de la «lex mitior» trouve appli-cation dans le domaine du droit pénal fiscal. Quelques questions soulevées par les principes évoqués ci-dessus sont traitées dans la présente publication à la lumière de la jurisprudence.

I. Einleitung 634 II. Praxisänderung 634 III. Neues materielles Recht 638 A. Grundsatz 638 B. Rückwirkungen 638 1. Formen der Rückwirkung 638 2. Echte Rückwirkung 639 3. Unechte Rückwirkung 641 4. Begünstigende Rückwirkung 641 C. Vorwirkung des neuen Rechts 645 D. Anwendung neuen materiellen Rechts im laufenden Verfahren 646 E. Veränderungen latenter Steuerlasten 647 1. Aufhebung einer latenten Steuerlast 647 a) Im Allgemeinen 647 b) Direkte Steuern 648 c) Wegfall einer Sperrfrist 650 d) Reduktion der residualen Quellensteuer 651 e) Einführung Kapitaleinlageprinzip 653 2. Einführung einer latenten Steuerlast 655

Markus Weidmann

634 ASA/Archives 76 · Nr. 10 · 2007/2008

F. Ausweichverhalten des Steuerpflichtigen vor Inkrafttreten einer Gesetzesänderung 657 G. Exkurs: Schutz des Vertrauens in den Weiterbestand des geltenden Rechts

und vor Rechtsänderungen 659 IV. Steuerstrafrecht 659 V. Verfahren 660 A. Grundsatz 660 B. Ermessenseinschätzung 660 C. Verjährung 661 Bibliographie 664

I. Einleitung

Der stete Wandel der Steuerrechtsordnung ist zu einer Selbstverständlichkeit ge-worden. Die Änderungen sind formell wie inhaltlich von unterschiedlicher Trag-weite, wobei der Umfang des neuen Textes nicht mit materiell neuem Gehalt korrelieren muss. Dementsprechend stellt der Übergang vom alten zum neuen Recht unterschiedliche Anforderungen. Der Rechtszustand kann vor und nach der Gesetzesänderung identisch sein, weshalb es im Ergebnis nur von geringem und vorübergehendem Interesse ist, welches Recht angewendet wird. Aber: Wie ist es beispielsweise zu beurteilen, wenn unter dem neuen Recht bisherige laten-te Steuerlasten aufgehoben werden? Ist im umgekehrten Fall eine verfassungs-rechtlich verpönte echte Rückwirkung zu erblicken oder handelt es sich um eine nicht zu beanstandende unechte Rückwirkung?

Das steuerliche Übergangsrecht ist regelmässig nur unzureichend ausformu-liert. Wenn etwa Art. 201 DBG1) lakonisch erklärt, der Bundesratsbeschluss vom 9. Dezember 1940 über die Erhebung einer direkten Bundessteuer (BdBSt)2) sei aufgehoben, ist damit kaum gemeint, dass die vor dem 1. Januar 1995 entstande-nen Steueransprüche dahingefallen seien.

Deshalb soll hier anhand der Rechtsprechung der Frage nachgegangen wer-den, welches Recht auf einen bestimmten Sachverhalt anwendbar sein soll. Dass sich aus den gerichtlichen Präjudizien kein vollständiges und widerspruchsfreies System ergibt, vermag dabei nicht zu überraschen, auch wenn die allgemeinen Grundsätze des intertemporalen Rechts klar zu sein und festzustehen scheinen.

II. Praxisänderung

Die generell-abstrakten Regelungen der Gesetzgebung werden im Einzelfall konkretisiert. Die gleichmässige Anwendung des Gesetzesrechtes gebietet sich indessen schon alleine aus Gründen der Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit3). Gemäss der Rechtsprechung hat die Behörde beim Erlass gleichartiger Verfü-

1) Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer (DBG) vom 14. Dezember 1990; SR 642.11.2) BS 6, 350; ausser Kraft gesetzt per Ende 1994.3) Häfelin/Müller/Uhlmann, N 509.

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gungen, die auf ähnlichen Sachverhalten beruhen und in Anwendung der glei-chen Rechtsnormen ergehen, nach einheitlichen, über den Einzelfall hinaus gül-tigen Kriterien vorzugehen, mithin eine Praxis zu entwickeln4). Wenn sich dergestalt eine Praxis herausbildet, entstehen auf einem tieferen Detaillierungs-grad Vorgaben über die Auslegung der Gesetzesbestimmung. Solchen Konkreti-sierungen kommen wegen der Unbestimmtheit und Interpretationsbedürftigkeit der Gesetzgebung eine eminente Bedeutung zu, so dass die Praxis in der Realität des Rechtslebens eine gesetzesähnliche Funktion hat. Die Praxis zum geltenden Recht kann deshalb eine vergleichbare Auswirkung wie eine eigentliche Geset-zesänderung haben.

Eine Praxisänderung ist nach ständiger Rechtsprechung nicht nur zulässig, sondern sogar geboten, wenn die Behörde zur Einsicht gelangt, dass das Recht bisher unrichtig angewendet worden ist oder eine andere Rechtsanwendung dem Sinn des Gesetzes oder veränderten Verhältnissen besser entspricht. Die Praxis-änderung ist zulässig, wenn ernsthafte und sachliche Gründe für die neue Praxis sprechen. Die Änderung muss grundsätzlich erfolgen. Sodann muss das Interes-se an der richtigen Rechtsanwendung gegenüber demjenigen an der Rechtssi-cherheit überwiegen5).

Diese Voraussetzungen räumen der rechtsanwendenden Behörde offenkun-dig ein sehr weites Ermessen ein. Regelmässig wird auf ein überwiegendes Inte-resse an der Anwendung der neuen, besseren Erkenntnis geschlossen, soweit die Voraussetzungen einer Praxisänderung überhaupt zur Sprache kommen6). Selbst der höchst umstrittene Erbenholding-Entscheid, welcher den Anwendungsbe-reich der indirekten Teilliquidation weit ausdehnte7), setzte sich mit den Voraus-setzungen einer Praxisänderung gar nicht auseinander8).

Das Interesse an Rechtssicherheit kann dann überwiegen, wenn die Gründe für und gegen eine neue Beurteilung der Rechtslage einigermassen gleichwertig erscheinen und sich die bisherige Praxis eingelebt hat. So hat beispielsweise gegen eine neue Beurteilung der Kirchensteuerpflicht juristischer Personen un-ter dem Gesichtswinkel der Praxisänderung gesprochen, dass seit dem letzten publizierten früheren Bundesgerichtsentscheid in dieser Sache keine neuen ernsthaften sachlichen Gründe für eine Praxisänderung aufgetreten oder geltend gemacht worden sind und keine einschlägigen Änderungen der Bundesverfas-

4) BGer 21.5.2003, ASA 73 (2004/2005), 545, 550 = StE 2003 B 22.2 Nr. 17 Erw. 3.2.5) BGer 21.5.2003, ASA 73 (2004/2005), 545, 550 = StE 2003 B 22.2 Nr. 17 Erw. 3.2; BGE

127 I 49, 52; 126 I 122, 129 ff. = ASA 69 (2000/2001), 905, 911 = StE 2000 A 25 Nr. 8 Erw. 5; BGE 125 II 152, 162 f., 122 I 57, 58 f.; 122 V 125, 129; 120 II 137, 142; Bärtschi, 89 ff.; Gygi, 157 f.; Blumenstein/Locher, 29; Häfelin/Müller/Uhlmann, N 510 ff.; Imboden/Rhi-now, Bd. I, 443; Tschannen/Zimmerli, § 23 N 15.

6) Vgl. BGer 21.5.2003, ASA 73 (2004/2005), 545, 550 f. = StE 2003 B 22.2 Nr. 17 Erw. 3.3.7) BGer 11.6.2004, ASA 73 (2004/2005), 402, 411 f. = StE 2004 B 24.4 Nr. 70 = StR 2004,

678, 684 f.8) Vgl. auch Markus Reich/Robert Waldburger, Rechtsprechung im Jahr 2004 (1. Teil), FStR

2005, 224 ff., 226; Stampe, 3.

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sung oder der Gesetzgebung zu verzeichnen gewesen sind9). Eine nicht zulässige Praxisänderung war die beabsichtigte Besteuerung des Zurverfügungstellens von Arbeitskräften mit der damaligen Warenumsatzsteuer. Die hierfür vorgebrachten Gründe der Steuergerechtigkeit, Wettbewerbsneutralität und praktischen Hand-habung vermochten nicht zu überzeugen, namentlich weil bei jeder Betrach-tungsweise im Ergebnis dieselbe Arbeit unter bestimmten Umständen umsatz-steuerpflichtig war oder nicht war10).

Grundsätzlich gibt es keinen Anspruch darauf, allenfalls in Abweichung von der Norm behandelt zu werden. Wenn aber die Behörde es ablehnt, eine in gleich gelagerten Fällen geübte, als gesetzwidrig erkannte Praxis aufzugeben, kann der Private verlangen, dass die gesetzeswidrige Behandlung, die Dritten zuteil ge-worden ist, auch ihm gewährt werde11). Dem aus dem Gleichheitsgebot abgelei-teten Anspruch auf gesetzwidrige Begünstigung können jedoch gewichtige öf-fentliche Interessen oder das berechtigte Interesse eines privaten Dritten an gesetzmässiger Rechtsanwendung entgegenstehen12). Eine derartige Gleichbe-handlung im Unrecht scheint die Rechtsprechung kaum zu gewähren, weil die Gerichte erwarten, dass die Verwaltungsbehörden der neuen Gerichtspraxis fol-gen werden13). Teilweise wird gar eine eindeutige Willensäusserung der Ein-schätzungsbehörde verlangt, wonach sie sogar im Fall der Feststellung der Ge-setzwidrigkeit einer bestimmten Regelung in Zukunft nicht von der nunmehr als gesetzwidrig qualifizierten Praxis abzuweichen gedenke14).

Praxisänderungen sind grundsätzlich sofort und überall, also auf alle im Zeitpunkt der Änderung noch nicht erledigten Fälle bzw. noch offenen Sachver-halte anwendbar15). Deshalb kann in der Folge einer Praxisänderung ein Steuer-pflichtiger keine Revision zu seinen Gunsten einer bereits rechtskräftigen, nach alter Praxis erfolgter Steuerveranlagung verlangen16). Umgekehrt kann nicht mittels Nachsteuerfahren zu Lasten eines Steuerpflichtigen eine rechtskräftige Veranlagung neu getroffen werden17).

Die sofortige Wirkung einer Praxisänderung wird damit begründet, dass eine Praxis nicht unwandelbar ist, sondern sogar geändert werden muss, wenn die Behörde zur Einsicht gelangt, dass das Recht bisher unrichtig angewendet worden ist oder eine andere Rechtsanwendung dem Sinne des Gesetzes oder veränderten Umständen besser entspricht18). Gemäss dem Legalitätsprinzip sei

9) BGE 126 I 122, 129 ff. = ASA 69 (2000/2001), 905, 911 = StE 2000 A 25 Nr. 8 Erw. 5.10) BGE 100 Ib 67, 70 f. = ASA 43 (1974/75), 185, 188 f.11) BGE 127 I 1, 2 f.; Bärtschi, 88; Häfelin/Müller/Uhlmann, N 518; Tschannen/Zimmerli,

§ 23 N 16.12) Häfelin/Müller/Uhlmann, N 522; Tschannen/Zimmerli, § 23 N 17.13) BGE 112 Ib 381, 383 ff.14) RK ZH 23.2.2007, StE 2008 B 22.3 Nr. 94.15) BGer 10.11.2006, StE 2007 B 24.4 Nr. 75 Erw. 3.7; BGE 111 V 161, 170; Bärtschi, 105;

Rhinow/Krähenmann, 224; Stampe, 23.16) VGer ZH 14.5.2003, StE 2003 B 97.11 Nr. 22 Erw. 2; Bärtschi, 112.17) Richner/Frei/Kaufmann/Meuter, VB zu §§ 119 – 131 N 98.18) BGE 127 I 49, 52; Stampe, 19.

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der Rechtsanwender verpflichtet, den als richtig erkannten Gesetzessinn gegen-über allen zur Anwendung zu bringen. Mit der neuen Auslegung werde die alte Interpretation als falsch und nicht mehr anwendbar erklärt. Zudem gebiete die Rechtsgleichheit, dass alle Rechtsunterworfenen gleich richtig, also nach neuer Interpretation, behandelt werden müssen19).

Die Formel von der sofortigen Wirksamkeit von Praxisänderungen erscheint einfach und klar, wirft aber einige Fragen auf. Das Interesse an der Vorherseh-barkeit und der Stabilität der Praxis scheint äusserst gering gewichtet zu werden, obwohl gerade im Falle von Steuern Dispositionen gestützt auf die geltende Be-hördenpraxis getroffen werden. Eine Praxisänderung kann für die betroffenen Steuerpflichtigen einschneidendere Folgen haben als eine neue Gesetzgebung. Auch unter dem Aspekt der Rechtsgleichheit überzeugt die Begründung, die als richtig erkannte neue Praxis werde einheitlich auf alle Fälle angewendet, nicht, denn es hängt von sachfremden Zufälligkeiten ab, ob eine Steuerveranlagung vor oder nach der Praxisänderung getroffen wird20). Die Lehre postuliert deshalb die Beachtung eines Kontinuitätsprinzips, welches auf das verfassungsrechtliche Gebot der Rechtsgleichheit zurückgeführt wird, und wonach ein eigentlicher Bruch mit der bisherigen Praxis nur bei hinreichenden Gründen erfolgen soll21).

Die Judikatur führt in dieser Frage kaum weiter, sondern macht einen eher unausgewogenen Eindruck. Es fehlen Anhaltspunkte dafür, dass der Steuerpflich-tige vor einer belastenden Praxisänderung effektiv geschützt werden könnte. Eher neigt die Rechtsprechung dazu, bei einer Praxisänderung, die im konkreten Fall dazu führen könnte, dass eine Besteuerungslücke entstünde, die alte Praxis weiter anzuwenden22). Damit wird eine ergänzende intertemporale Regel für Praxisände-rungen geschaffen, welche zu Gunsten des Fiskus die Gesetzesmässigkeit des Verwaltungshandelns einschränkt. Das staatliche Interesse an einer vollständigen Besteuerung wird höher gewichtet als der Entscheid nach richtiger (neuer) Pra-xis. Leider ist nicht erkennbar, dass sich umgekehrt der Bürger dank einer ver-gleichbaren Übergangsregelung gegen neue Eingriffe zufolge Praxisänderung

19) Bärtschi, 104 f.; Stampe, 8 f., 23 f.20) Illustrativ hierzu der Entscheid VGer ZH 14.5.2003, StE 2003 B 97.11 Nr. 22: Am 20.

November 2002 erkannte das Gericht, Mitarbeiteroptionen seien im Zeitpunkt des «Ves-tings» zu besteuern (VGer ZH, 20.11.2002, RB 2002 Nr. 96 = StE 2003 B 21.2 Nr. 16). Noch am 23. Oktober 2002 hatte sich dasselbe Gericht eingehend mit der Besteuerung von Mitarbeiteraktien auseinandergesetzt, während die Einräumung von Mitarbeiteroptionen mit Vesting-Klausel unstreitig der Besteuerung «at grant» unterlagen (VGer ZH 23.10. 2002, RB 2002 Nr. 95 = StE 2003 B 22.2 Nr. 16). Dem vergeblich um Revision des Ent-scheids vom 23. Oktober 2002 ersuchenden Steuerpflichtigen wurde u.a. entgegengehal-ten, er habe hinreichend Zeit gehabt, dem Gericht die Prüfung des Zuflusszeitpunktes der Mitarbeiteroptionen zu beantragen, weil ihm der Entscheid der Vorinstanz im anderen Fall hätte bekannt sein müssen.

21) Eingehend Stampe, 30 ff., 45 ff.22) BGer 25.1.2002, ASA 72 (2003/2004), 151, 155 = StE 2002 B 22.2 Nr. 15 Erw. 4; BGer

21.5.2003, ASA 73 (2004/2005), 545, 550 f. = StE 2003 B 22.2 Nr. 17 Erw. 3.3.

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wehren könnte. Immerhin muss die Konsequenz sein, dass auf Grund einer Pra-xisänderung keine periodenübergreifende Überbesteuerung resultieren darf.

III. Neues materielles Recht

A. Grundsatz

In zeitlicher Hinsicht sind grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgeblich, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen rührenden Tatbestandes Geltung ha-ben. Neues Recht wirkt somit weder zurück noch voraus; weder erfasst das neue Recht früher vollendete Sachverhalte, noch hat neues Recht Bedeutung, bevor es in Kraft tritt. Altes Recht bleibt weiterhin massgeblich für Sachverhalte, die sich vor der Aufhebung erfüllt haben23).

Auf altrechtliche Veranlagungen ist deshalb nach wie vor das alte – formell aufgehobene – Recht anwendbar, auch wenn die Weitergeltung dieses bisherigen Rechts nicht ausdrücklich vorgesehen ist24).

B. Rückwirkungen1. Formen der Rückwirkung

Der Grundsatz, dass neues Recht nicht auf frühere Sachverhalte rückwirkt, gilt nicht ausnahmslos. Das Bundesgericht lässt unter bestimmten Voraussetzungen Rückwirkungen zu, wobei zwischen echter und unechter Rückwirkung unter-schieden wird.

Das Bundesgericht spricht dann von einer echten Rückwirkung einer Norm, wenn bei der Anwendung des neuen Rechts an ein Ereignis angeknüpft wird, das in der Vergangenheit liegt und vor Erlass des Gesetzes abgeschlossen worden ist25). Eine echte Rückwirkung widerspricht dem Legalitätsprinzip und ist nur dann zulässig, wenn sie ausdrücklich angeordnet oder nach dem Sinn des Erlas-ses klar gewollt ist, zeitlich mässig ausfällt, keine stossenden Rechtsungleich-heiten bewirkt, sich durch triftige Gründe rechtfertigen lässt und schliesslich nicht in wohlerworbene Rechte eingreift26).

23) BGE 130 V 445, 447 f.; Gygi, 110; Meyer/Arnold, ZSR 2005 I, 128; Imboden/Rhinow, Bd. I, 95; Kölz, ZSR 1983 II, 160; Rhinow/Krähenmann, 44; Tschannen/Zimmerli, § 24 N 9.

24) BSt-RK ZH 9.3.1995, StE 1995 B 110 Nr. 5.25) BGE 119 V 200, 206; 119 Ia 154, 160; VGer ZH 28.10.1998, StE 1999 B 110 Nr. 10 Erw.

3; Blumenstein/Locher, 162; Gygi, 111; Häfelin/Müller/Uhlmann, N 329; Rhinow/Krähen-mann, 48; Tschannen/Zimmerli, § 24 N 24.

26) BGer 15.11.1999, ZStP 2000, 25, 29 f.; BGE 122 V 405, 408; 122 II 113, 117 ff.; 119 Ia 154, 160; 116 Ia 207, 214; VGer ZH 28.10.1998, StE 1999 B 110 Nr. 10 Erw. 3; Eidg. Zoll-RK 1.9.1995, ASA 64 (1995/96), 735, 758 f.; Gygi, 111 f.; Borghi, ZSR 1983 II, 498 f., 500; Häfelin/Müller/Uhlmann, N 331; Höhn/Waldburger, Bd. I, § 4 N 122; Imboden/Rhi-now, Bd. I, 104 ff.; Kölz, ZSR 1983 II, 169; Rhinow/Krähenmann, 47 f.; Tschannen/Zim-merli, § 24 N 26 f.

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Eine sog. unechte Rückwirkung ist dadurch gekennzeichnet, dass das neue Recht gestützt auf Sachverhalte, die früher eingetreten sind, nur für die Zeit seit seinem Inkrafttreten Anwendung findet bzw. wenn bei der Anwendung des neuen Rechts auf Verhältnisse abgestellt wird, die schon unter der Herrschaft des alten Rechts entstanden sind und beim Inkrafttreten des neuen Rechts noch andauern27).

Im Steuerrecht ist eine Rückwirkung nur dann gegeben, wenn der Bestand der Steuerpflicht an einen Sachverhalt anknüpft, der vor dem Inkrafttreten des Gesetzes liegt, nicht aber dann, wenn nur der Umfang der Steuerpflicht auf Grund von Tatsachen bestimmt wird, die sich vor dem Inkrafttreten des Gesetzes verwirklicht haben28). Es geht darum, dass ein neues Steuergesetz für die Be-stimmung des nach seinem Inkrafttreten vorhandenen Steuerobjektes auf die Jahre vor dem Inkrafttreten als Bemessungsgrundlage zurückgreifen darf. Die frühere Vergangenheitsbemessung der Einkommenssteuer beruhte auf dem me-thodischen Ansatz, dass das zu besteuernde Einkommen der Veranlagungsperio-de nach dem in den vorangehenden Jahren (Bemessungsperiode) erzielten Ein-kommen festgelegt wurde. Vor dem Inkrafttreten der neuen Steuervorschriften eingetretene Tatsachen dürfen als Elemente der Bemessung verwendet werden, wenn es darum geht, das Steuerobjekt zu bestimmen29).

2. Echte Rückwirkung

Das Bundesgericht hat wiederholt erkannt, dass der kantonale oder kommunale Gesetzgeber unzulässige Rückwirkungen statuierte:– Gemäss früherem Nidwaldner Recht blieben Schenkungen steuerfrei, es sei

denn, dass sie innerhalb der letzten zwei Jahre vor dem Tod des Schenkers erfolgt waren. Diesfalls wurden sie den Vermächtnissen gleichgestellt, welche der Erbschafts- und Vermächtnissteuer unterlagen. Das neue Steuergesetz sah eine Frist von fünf Jahren, vom Todestag des Erblassers zurückgerechnet, vor. Das Bundesgericht kam im Urteil vom 4. Juni 1975 zum Schluss30), dass die Schenkung der steuerbegründende Faktor sei. Es sei deshalb nicht zulässig, nach dem neuen Recht Schenkungen zu erfassen, die mehr als zwei Jahre vor Inkrafttreten des neuen Rechts ausgerichtet worden waren. Das Bundesgericht verwarf damit den Standpunkt der kantonalen Instanzen, Ausgangspunkt für die Berechnung der Frist sei der Todestag des Erblassers, weshalb keine Rück-wirkung vorliege, sondern bloss eine zusätzliche Belastung der Beschenkten, die sich zu Lebzeiten des Schenkers nicht auf die Steuerfreiheit hätten verlas-sen können.

27) BGE 114 V 150, 151; VGer ZH 28.10.1998, StE 1999 B 110 Nr. 10 Erw. 3; Gygi, 111; Häfelin/Müller/Uhlmann, N 337; Imboden/Rhinow, Bd. I, 107; Rhinow/Krähenmann, 48; Tschannen/Zimmerli, § 24 N 29.

28) BGE 104 Ib 205, 219; VGer ZH 28.10.1998, StE 1999 B 110 Nr. 10 Erw. 3; Rhinow/Krä-henmann, 48 f.; Kölz, ZSR 1983 II, 168; Häfelin/Müller/Uhlmann, N 341.

29) BGE 102 Ia 31, 33 ff. = ASA 46 (1977/78), 263, 265 ff.; BGE 74 I 102, 103 f.30) BGE 101 Ia 82, 86 ff.

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– Eine unzulässige Rückwirkung lag vor, als die Gemeinde Bergün mit Be-schluss vom 23. November 1972 eine Gebühr für den Anschluss an das örtli-che Stromnetz für alle Anschlüsse forderte, die in den Jahren 1971/72 unter der Voraussetzung bewilligt worden waren, dass eine Anschlussgebühr nach-bezahlt werden müsse. Das Bundesgericht hielt fest31), es handle sich um eine Rückwirkung, weil die Abgabepflicht an ein in der Vergangenheit liegendes, einmaliges Ereignis geknüpft worden sei. Eine Rückwirkung lasse sich auch nicht schon allein damit begründen, dass man den Bürger daran hindern wol-le, noch rechtzeitig seine Dispositionen auf eine kommende Abgabeerhöhung hin zu treffen32). Der Vorbehalt in der Bewilligung ändere hieran nichts, denn es habe an einer gesetzlichen Grundlage für einen solchen Vorbehalt gefehlt, und der Vorbehalt hätte die spätere Abgabeerhebung nur dann zu rechtfertigen vermocht, wenn zugleich die Höhe der künftigen Abgabe bereits bestimmt oder wenigstens begrenzt worden wäre.

– Am 16. April 1961 beschloss die Gemeinde Oberkirch, eine Wertzuwachs-steuer rückwirkend auf den 1. Januar 1961 einzuführen. Gemäss dem damals geltenden Steuergesetz des Kantons Luzern waren die Gemeinden ermächtigt, die Wertzuwachssteuer rückwirkend auf ein Jahr einzuführen. Die Gemeinde wollte auf zwei Verkäufen, welche am 28. März 1961 abgeschlossen worden waren, die Wertzuwachssteuer erheben. Das Bundesgericht hielt fest33), dass ausschliesslich fiskalische Interessen der Gemeinde zur Rechtfertigung der Rückwirkung gegeben seien. Dies sei aber nicht hinreichend.

Bei der Einführung der Mehrwertsteuer bildete die Übergangsordnung, welche für die Anwendung des neuen Rechts und damit für die Steuerbarkeit des Vor-gangs an den Umsatz anknüpfte, keine Rückwirkung. Das Übergangsrecht knüpfte für die Entstehung der Steuerforderung an Tatsachen an, die sich unter der Herrschaft des neuen Rechts verwirklichten. Vor diesem Zeitpunkt einge-nommene Zahlungen und Teilzahlungen dienten lediglich als Bemessungsgrund-lage für die Steuer34).

Das Vorliegen hinreichender triftiger Gründe, welche eine Rückwirkung rechtfertigen könnten, wurde in der Rechtsprechung regelmässig verneint und die entsprechenden Erlasse wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben:– Das Bundesgericht schützte letztmals – soweit ersichtlich – im Jahr 1935 eine

Rückwirkung, nämlich angesichts der prekären Finanzlage des Kantons Ba-sel-Stadt auf die Steuer pro 193335).

– Unzulässig war dagegen die 1951 zu beurteilende rückwirkende Einführung der Einkommenssteuer auf Gratisaktien durch den Kanton Basel-Stadt36). Die

31) BGE 102 Ia 69, 72 ff.32) BGE 102 Ia 69, 73 f.; 95 I 6, 10 = ASA 38 (1969/70), 534, 538 f.33) BGE 95 I 6, 10 f. = ASA 38 (1969/70), 534, 538 f.34) BGE 123 II 385, 395 ff. = ASA 67 (1998/99), 74, 87.35) BGE 61 I 86, 94 ff.36) BGE 77 I 183, 190 ff.

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entsprechende Gesetzesänderung war offenbar in der Absicht erfolgt, die Ka-pitalerhöhung der Ciba A.-G. nachträglich zu erfassen. Mit der Rückwirkung war den betroffenen Steuerpflichtigen die Möglichkeit genommen worden, die neu steuerbaren Einkünfte mit Verlustrealisationen zu kompensieren. Es bestand keine dringende Notwendigkeit von zusätzlichen Staatseinnahmen.

– Im erwähnten Fall der Gemeinde Oberkirch genügten die rein fiskalischen Interessen des Gemeinwesens nicht, um eine Rückwirkung zu rechtfertigen.

3. Unechte Rückwirkung

Der Kanton Basel-Landschaft führte im Rahmen seiner auf Vergangenheitsbe-messung beruhenden Einkommenssteuer auf den 1. Januar 1973 eine Besteue-rung von Kapitalgewinnen ein. Ein im Jahr 1972 realisierter Kapitalgewinn sollte in die Bemessung einbezogen werden. Gemäss Bundesgericht lag hierin eine ver-fassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung37). Das Bundesgericht stellte fest, dass die Besteuerung der Kapitalgewinne besonderen Regeln folge. Das laufende Einkommen sei bei der Einkommenssteuer mit Vergangenheitsbe messung das ei-gentliche Steuerobjekt. Der Kapitalgewinn habe einmaligen Charakter und werde sich in der Steuerperiode nicht wiederholen. Die Steuer auf Kapitalgewinnen sei deshalb nicht ein Bestandteil der ordentlichen Einkommenssteuer, sondern im Grunde eine mit der Einkommensbesteuerung verknüpfte Spezialbesteuerung. Somit diene die Berücksichtigung des Vermögensgewinnes nicht der Bestim-mung des Umfanges der Steuerpflicht für die Veranlagungsperiode auf Grund von Tatsachen aus dem Vorjahr, sondern unterwerfe den abgeschlossenen Tatbe-stand des Kapitalgewinns einer speziellen Besteuerung. Damit werde ein abge-schlossener Tatbestand unzulässigerweise nachträglich besteuert.

Dieser Entscheid zieht eine klare Trennlinie zwischen verpönter echter und zulässiger unechter Rückwirkung. Wenn mittels der Bemessungsregel eine Steu-er neu auf Sachverhalte, die sich vor Inkrafttreten des neuen Rechts erfüllt ha-ben, erhoben wird, liegt hierin eine echte und damit unstatthafte Rückwirkung. Eine unechte Rückwirkung ist nur dann möglich, wenn das Steuerobjekt bereits unter dem alten Recht steuerbar war und sich demzufolge bloss die Modalitäten der Besteuerung ändern.

4. Begünstigende Rückwirkung

Was eine Rückwirkung zum Vorteil des betroffenen Privaten bzw. hier Steuer-pflichtigen angeht, bestehen unterschiedliche Auffassungen. Nach Meinung von Kölz ist die den Adressaten begünstigende Rückwirkung grundsätzlich – wie eine Rückwirkung allgemein – unzulässig, ausser wenn sie ausdrücklich angeordnet oder nach dem Sinn des Erlasses klar gewollt und in zeitlicher Beziehung mässig ist sowie sich durch überwiegende öffentliche Interessen rechtfertigen lässt. Vor-

37) BGE 102 Ia 31, 33 ff. = ASA 46 (1977/78), 263, 265 ff.; noch offen gelassen in BGE 99 Ia 638, 657 f.

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behalten bleiben sodann die Rechte Dritter38). Diese Meinung differenziert somit nicht wirklich zwischen belastenden und begünstigenden Rückwirkungen, son-dern bringt die selben Kriterien zur Anwendung. Die Begründung ist allerdings insofern nicht recht schlüssig, als Kölz eigentlich die Praxis der zulässigen begüns-tigenden Rückwirkung in der Umschreibung der Voraussetzungen der zulässigen Rückwirkung integrieren wollte39). Er tut dies in der Weise, dass er zusätzlich zu den Voraussetzungen für die zulässige belastende Rückwirkung den Vorbehalt der Rechte Dritter anbringt. Was damit genau gemeint ist, ist indessen unklar, und es müsste wohl so oder anders die Rechtsgleichheit vorbehalten bleiben. Für Moor braucht eine Rückwirkung eine ausdrückliche, mindestens aber klare gesetzliche Grundlage. Die Kriterien einer zulässigen Rückwirkung gelten seiner Ansicht nach gleichermassen für belastende wie für begünstigende Normen40).

Nach einer anderen, wohl überwiegenden Auffassung ist die begünstigende Rückwirkung grundsätzlich nicht zu beanstanden. Dabei wird der Vorbehalt an-gebracht, dass die Rückwirkung begünstigender Erlasse nicht zu Rechtsun-gleichheiten führen oder Rechte Dritter beeinträchtigen darf 41). Diese differen-zierende Meinung, der beizupflichten ist, findet ihre Begründung darin, dass das grundsätzliche Verbot einer Rückwirkung dazu dient, den Privaten vor Pflichten zu schützen, mit denen er bei Verwirklichung des fraglichen Sachverhalts nicht rechnen musste42). Deshalb ist eine begünstigende Rückwirkung unter dem Blickwinkel der Rechtssicherheit unbedenklich43).

Das Bundesgericht hat sich wiederholt der differenzierenden Meinung ange-schlossen. Es hat festgehalten, die rückwirkende Inkraftsetzung einer begünsti-genden Regelung sei grundsätzlich zulässig, wobei ein Anspruch auf eine derar-tige begünstigende Rückwirkung nur dort bestehe, wo ihn das Gesetz vorsehe44). In einem Entscheid vom 2. April 1993 hat es hinsichtlich einer etwaigen begüns-tigenden Rückwirkung einer zolltariflichen Neueinreihung auf die Position von Kölz verwiesen, wobei in jenem Fall gerade keine Rückwirkung angeordnet wor-den war und die Frage deshalb weder vertieft geprüft wurde noch zu beantwor-ten war. Ein Anspruch auf eine rückwirkende Anwendung der neuen Tarifierung auf die betreffende Zollzahlungspflichtige – welche die Neueinreihung veran-lasst hatte – wurde verneint, weil es zu einer rechtsungleichen Behandlung kä-

38) Kölz, ZSR 1983 II, 171; siehe auch BGE 119 Ib 103, 110.39) Kölz, ZSR 1983 II, 170.40) Moor, vol. I, 179 f.41) Geiger, StR 1961, 52; Gygi, 111; Häfelin/Müller/Uhlmann, N 334 f.; Höhn/Waldburger,

Bd. I, § 4 N 122; Imboden/Rhinow, Bd. I, 106; Saupper/Oesterhelt, in: Watter/Vogt/Tschäni/Daeniker (FusG), vor Art. 109 N 7; Richner/Frei/Kaufmann, VB zu DBG N 32; Tschannen/Zimmerli, § 24 N 28; wohl auch Meyer/Arnold, ZSR 2005 I, 127 Anm. 70, die ausdrücklich nur die grundsätzliche Unzulässigkeit bzw. die ausnahmsweise Zulässigkeit einer belasten-den Rückwirkung erwähnen.

42) Häfelin/Müller/Uhlmann, N 334.43) Imboden/Rhinow, Bd. I, 106.44) BGE 105 Ia 36, 40; 99 V 200, 203.

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me45). Hingegen hat das Bundesgericht im Fall des basellandschaftlichen Eigen-mietwertes und Mieterabzugs die begünstigende Rückwirkung als grundsätzlich zulässig betrachtet und den entsprechenden kantonalen Erlass geschützt46).

Bei den parlamentarischen Beratungen der neuen Bestimmungen über die indirekte Teilliquidation (Art. 7a Abs. 1 lit. a StHG 47) und Art. 20a Abs. 1 lit. a DBG)48) war die rückwirkende Inkraftsetzung der Ergänzung des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer durch Art. 205b DBG ein wichtiger und umstritte-ner Diskussionspunkt. Insbesondere wurde als stossend empfunden, dass mit dem Entscheid des Bundesgerichts vom 11. Juni 200449), wonach auch die Aus-schüttung von nach dem Verkauf ins Geschäftsvermögen erzielten Gewinnen zur Besteuerung des früheren privaten Aktionärs wegen indirekter Teilliquidation führen konnte, sofort auf bisherige Fälle «rückwirkend» zur Anwendung gebracht wurde, weil ja eine Praxisänderung sofort greift. Dies wollten die Räte durch eine rückwirkende Gesetzesrevision neutralisieren. Indessen kamen Zweifel über die Verfassungsmässigkeit eines solchen Vorgehens auf. Ein von der Eidg. Steuerver-waltung in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Justiz erstatteter Bericht vom 16. Juni 2006 zu Handen der Kommissionen für Wirtschaft und Abgaben der Eidg. Räte beurteilte den Antrag auf eine rückwirkende Inkraftsetzung an Hand der Kriterien für eine zulässige belastende Rückwirkung, ohne dass hinreichend beachtet worden wäre, dass hier eine begünstigende Rückwirkung zur Diskussion stand, für welche es im Wesentlichen auf die Beachtung der Rechtsgleichheit an-kam. Die Rechtsgleichheit wurde insofern als tangiert betrachtet, als bestimmte Steuerpflichtige in den Genuss des milderen Rechts kommen könnten. Deshalb wurde als Gegenvorschlag zum vorliegenden Beschluss des Nationalrates, wel-cher eine Anwendung des neuen Rechts auf alle offenen Steuereinschätzungen vorsah, eine Einschränkung ab 2001, aber zugleich eine Revisionsmöglichkeit für bereits rechtskräftige Veranlagungen desselben Zeitraumes unterbreitet. Die Be-schränkung ab 2001 wurde damit begründet, dass dem Entscheid des Bundesge-richts vom 11. Juni 2004 ein Sachverhalt aus dem Jahr 1999 zu Grunde lag, mit-hin die Veranlagung im fünften Jahr nach Ablauf der Bemessungsperiode rechtskräftig wurde. Die Möglichkeit der Revision wurde schliesslich wegen an-deren Bedenken fallen gelassen, so dass es zu einer doppelten Einschränkung der Rückwirkung auf offene Fälle und ab Steuerperiode 2001 kam.

Hieraus hat sich die eigenartige Situation ergeben, dass «alte» Fälle, bei de-nen sich der Sachverhalt spätestens Ende 2000 verwirklicht hatte, nach der neue-

45) BGE 119 Ib 103, 110 f.46) BGer 16.7.1992, StR 1992, 599, 601.47) Bundesgesetz über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden

(StHG) vom 14. Dezember 1990; SR 642.14.48) Eingefügt durch das Bundesgesetz über die dringende Anpassungen bei der Unterneh-

mensbesteuerung vom 23. Juni 2006; Art. 7a StHG in Kraft seit 1. Januar 2008 bzw. Art. 20a DBG seit 1. Januar 2007 (AS 2006, 4883 f., 4885).

49) BGer 11.6.2004, ASA 73 (2004/2005), 402, 411 f. = StE 2004 B 24.4 Nr. 70 = StR 2004, 678 ff.

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ren Praxis des Bundesgerichts von 2004 beurteilt wurden. Das Bundesgericht hat ein Zurückkommen auf seine Praxisänderung vor dem Hintergrund der neuen Gesetzgebung abgelehnt50). Das Ziel der Gesetzesänderung, den rückwirkenden Effekt der Praxisverschärfung des Bundesgerichts durch eine rückwirkende Ge-setzesänderung aufzuheben, wurde insofern nicht vollständig erreicht. Die ur-sprüngliche vom Nationalrat vorgesehene Fassung von Art. 205b DBG, das neue Recht auf alle offenen Fälle anzuwenden, wäre wohl angemessener gewesen.

Ob ein rückwirkender, begünstigender Erlass dem Steuerpflichtigen, der bereits rechtskräftig veranlagt wurde, Anspruch auf Revision des Einschätzungs-entscheids gebe, ist bislang – soweit ersichtlich – ungeklärt geblieben. Ein ge-setzlicher Revisionsgrund liegt wohl regelmässig nicht vor, denn das neue rückwirkende Recht ist keine neu entdeckte Tatsache und auch kein solches Be-weismittel. Auch kann nicht gesagt werden, es seien bei Erlass der Verfügung wesentliche Verfahrensgrundsätze verletzt worden, weil es im Nachhinein zu ei-ner rückwirkenden Änderung des materiellen Rechts gekommen ist (für die di-rekten Steuern vgl. Art. 51 Abs. 1 lit. a und b StHG). Vielmehr liegt nachträglich eine unrichtige Rechtsanwendung vor, die als solche keinen Anspruch auf Revi-sion des Entscheides gibt. Indessen kann sich ein aussergesetzlicher Revisions-grund gestützt auf Art. 8 BV ergeben51). Ein direkter verfassungsmässiger An-spruch auf eine Revision ist denn auch vom Bundesgericht in einem Gebührenfall bejaht worden. Der Gesuchsteller hatte auf Grund entsprechender Bewilligungen Gebühren für das Aufstellen von Geldspielautomaten für das laufende Kalender-jahr vorausbezahlen müssen. Wegen einer während dieses Jahres beschlossenen und in Kraft getretenen Änderung des kantonalen Rechts wurde der Gesuchstel-ler verpflichtet, die Automaten zu entfernen. Das Bundesgericht anerkannte ei-nen Anspruch auf anteilige Rückerstattung der Gebühren und Revision der ur-sprünglichen Bewilligungsverfügung, weil sich eine gegenüber der ursprünglichen Verfügung wesentlich veränderte Sachlage ergeben habe. Die neu geschaffene Lage könne auch durch eine Gesetzesänderung herbeigeführt worden sein. Die kantonalen Behörden hätten deshalb eine Revision der ursprünglichen Bewilli-gung vornehmen müssen52). Auch wenn selbstverständlich die Verhältnisse bei einem Steueranspruch nicht dieselben sind, kann eine Ähnlichkeit nicht von der

50) BGer 10.11.2006, StE 2007 B 24.4 Nr. 75 Erw. 4.10. Hier und in einem nicht publizierten Entscheid vom 21. Dezember 2006 (2A.537/2005; Erw. 3.5.3) führte das Bundesgericht aus, der Gesetzgeber habe bewusst in Kauf genommen, dass nicht rechtskräftige Veranla-gungen für frühere Steuerjahre noch nach der bisherigen Praxis (gemeint: Praxis gemäss Entscheid vom 11. Juni 2004, s. oben Anm. 49) geschehen. Es bestehe keine Handhabe, eine weitergehende Rückwirkung des neuen Rechts anzunehmen. – Dem wird entgegenge-halten, dass auf Grund einer sorgfältigen Interessenabwägung das Vertrauen in die feste, zur Zeit der Verwirklichung des Sachverhaltes geltenden Praxis zu schützen sei (Reich, in Zweifel/Athanas [DBG], Art. 205b N 4; Markus Reich/Robert Waldburger, Rechtsprechung im Jahr 2006 [1. Teil], FStR 2007, 228 ff., 233 ff.).

51) Zu aussergesetzlichen Revisionsgründen vgl. Vallender, in: Zweifel/Athanas (StHG), Art. 51 N 3; Richner/Frei/Kaufmann/Meuter, § 155 N 14, 17, 20.

52) BGE 105 Ia 214, 218.

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Hand gewiesen werden. Je nach den Umständen des Falles kann sich deshalb ein Revisionsgrund gestützt auf Art. 8 BV ergeben, wenn es sonst zu stossenden Un-gleichbehandlungen der Steuerpflichtigen käme. Schliesslich kann sich ein An-spruch auf Revision aus der rückwirkenden begünstigenden Norm selbst ergeben, indem entweder ausdrücklich die Revision bereits rechtskräftiger Veranlagungs-verfügungen vorgesehen ist oder sich der entsprechende gesetzgeberische Wille durch Auslegung der Bestimmung – allenfalls auch im Licht von Art. 8 BV – er-schliesst. Im Falle von Art. 205b DBG sprechen allerdings Wortlaut und Entste-hungsgeschichte gegen die Schaffung eines Revisionsgrundes.

Zu rückwirkenden begünstigenden Gesetzesänderungen kam es insbeson-dere bei den Anpassungen der kantonalen Handänderungssteuern an Art. 103 FusG53). Soweit ersichtlich sind hier keine Bedenken wegen der Rückwirkung geäussert worden54).

C. Vorwirkung des neuen Rechts

Bei der sog. Vorwirkung geht es darum, dass ein Erlass, der noch nicht in Kraft gesetzt worden ist, bereits Rechtswirkungen entfaltet, indem er wie geltendes Recht angewendet wird (sog. positive Vorwirkung) oder in dem das alte Recht nicht angewendet wird, bis das neue Recht in Kraft tritt (sog. negative Vorwir-kung). Die positive Vorwirkung gilt als unzulässig, weil sie gegen die Grundsätze der Gesetzmässigkeit und der Rechtssicherheit verstösst55). Die negative Vorwir-kung, bei welcher die Anwendung des geltenden Rechts bis zum Inkrafttreten des neuen ausgesetzt wird, gilt nur, aber immerhin dann als zulässig, wenn sie vom geltenden Recht vorgesehen ist und die Voraussetzungen einer Rückwirkung be-achtet werden56). Dass eine Vorschrift des geltenden Rechts nicht angewendet wird, ist mithin die Folge des geltenden und nicht des künftigen Rechts57). Die negative Vorwirkung scheint im Wesentlichen im Baurecht vorzukommen58).

Soweit ersichtlich haben unzulässige negative und nicht zugelassene positive Vorwirkungen im Steuerrecht bisher keine Rolle gespielt. Es ist auch schwierig, sich eine Situation vorzustellen, bei welcher der Gesetzgeber eine – zulässige – negative Vorwirkung ins Auge fassen könnte, bei der also eine steuerliche Be-stimmung nicht angewendet würde bis das neue Recht in Kraft tritt. Vielleicht kann es zu einer Konstellation kommen, bei welcher gewisse Steuertatbestände oder Befreiungsgründe nur auf Zusehen hin gelten und die Anpassung an verän-

53) Bundesgesetz über Fusion, Spaltung, Umwandlung und Vermögensübertragung (Fusions-gesetz, FusG) vom 3. Oktober 2003; SR 221.301.

54) Vgl. die Nachweise bei Stefan Oesterhelt, Handänderungssteuern und Grundbuchgebüh-ren bei Umstrukturierungen, StR 2006, 758 ff., insb. 764, 771.

55) Häfelin/Müller/Uhlmann, N 346 f.; Imboden/Rhinow, Bd. I, 95, 108 ff.; Moor, vol. I, 182; Tschannen/Zimmerli, § 24 N 35.

56) Borghi, ZSR 1983 II, 509 ff.; Tschannen/Zimmerli, § 24 N 33; ablehnend zum letzten Er-fordernis Häfelin/Müller/Uhlmann, N 351.

57) Rhinow/Krähenmann, 50.58) Gygi, 115; Moor, vol. I, 181; Tschannen/Zimmerli, § 24 N 32.

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derte Umstände rasch erfolgen sollen, weil die formelle Gesetzgebung nicht ab-gewartet werden soll. Eher denkbar und wohl nicht selten sind dagegen Anpas-sungen der Praxis zum geltenden Recht im Licht der neuen Gesetzgebung. Derartige Praxisänderungen müssen nach den allgemeinen Grundsätzen zulässig sein59). Das Bundesgericht hat sowohl eine Vorwirkung des künftigen Rechts über die indirekte Teilliquidation als auch eine Anpassung seiner Praxis im Sinne der neuen Gesetzgebung abgelehnt60), obwohl eine solche Praxisänderung sehr wohl mit den bisherigen gesetzlichen Grundlagen in Einklang gestanden hätte.

D. Anwendung neuen materiellen Rechts im laufenden Verfahren

Massgeblich ist das Recht, welches bei der Erfüllung des rechtlich zu ordnenden oder zu Rechtsfolgen führenden Tatbestands Geltung haben. Später eingetretene Änderungen sind unbeachtlich. Vorbehalten bleiben zwingende Gründe für die sofortige Anwendung des neuen Rechts61). Allerdings wird in der Literatur62) und Rechtsprechung63) auch die Auffassung vertreten, dass dort, wo sich während des erstinstanzlichen Verfahrens eine Rechtsänderung ergibt, das neue Recht an-wendbar sei. Wenn die Rechtsänderung erst während des Beschwerdeverfahrens eintrete, komme noch das alte Recht zum Zuge. Vorbehalten bleibe die Anwen-dung neuen Rechts, wenn die neuen Vorschriften «um der öffentlichen Ordnung willen oder zur Durchsetzung erheblicher öffentlicher Interessen erlassen» wor-den seien oder wenn eine Bewilligung oder Konzession nach altem Recht ver-weigert oder widerrufen, nach neuem Recht aber gewährt werden müsste.

Nachdem steuerlich relevante Sachverhalte regelmässig erst eine erhebliche Zeit nach ihrer Verwirklichung durch die Behörden beurteilt werden, stellt sich die Frage nach der Geltung dieser übergangsrechtlichen Regelungen im Steuerbereich.

Die Anwendung des neuen Rechts im laufenden Verfahren wird in Zusam-menhang mit der Erteilung von Bewilligungen und Konzessionen diskutiert. So-mit geht es um die Beurteilung eines gegenwärtig bestehenden und sich in die Zukunft fortsetzenden Sachverhaltes64). Somit wird grundsätzlich jenes Recht an-gewendet, welches im Zeitpunkt der Verwirklichung des Sachverhalts gilt, und insofern besteht keine Abweichung von der intertemporalrechtlichen Regel65).

Für das materielle Steuerrecht bedeutet dies, dass Rechtsänderungen wäh-rend des Verfahrens regelmässig unbeachtlich bleiben. Eine Ausnahme kann sich allenfalls dort ergeben, wo es um eine Feststellungsverfügung geht, wo es sich also ausnahmsweise um einen sich erst künftig verwirklichenden Sachverhalt handelt. Eine Feststellungsverfügung ist im Bereich der indirekten Steuern mög-

59) Siehe oben, II.60) BGer 10.11.2006, StE 2007 B 24.4 Nr. 75 Erw. 4.10 (dazu auch oben, Anm. 50).61) BGE 119 Ib 103, 110.62) Häfelin/Müller/Uhlmann, N 326 f.; Tschannen/Zimmerli, § 24 N 21.63) BGE 126 II 522, 534 f.64) Vgl. den Fall bei Imboden/Rhinow, 94 f., siehe auch 96 f.65) Gygi, 113.

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lich66), aber nur in einem besonders gelagerten Fall bei der Einkommenssteuer67). Ansonsten ist der Steuerpflichtige auf behördliche Auskünfte, die sog. Steuerru-lings, angewiesen. Im Rahmen einer solchen behördlichen Auskunft ist denkbar, dass das künftige Recht für einen künftigen Sachverhalt angewendet wird.

E. Veränderungen latenter Steuerlasten1. Aufhebung einer latenten Steuerlasta) Im Allgemeinen

Im materiellen Steuerrecht spielen latente Steuerlasten eine sehr erhebliche Rol-le. Unter latenter Steuerlast wird hier der Fall verstanden, dass bei Erfüllung eines Steuertatbestandes bestimmte akkumulierte Werte besteuert werden. Unter einer latenten Steuerlast befinden sich insbesondere die einbehaltenen Gewinne, mithin die Reserven einer Kapitalgesellschaft, welche bei ihrer Ausschüttung der Verrechnungssteuer unterliegen und beim privaten Aktionär einkommens-steuerpflichtig sind, oder der nicht realisierte Kapitalgewinn auf einem Grund-stück, welcher im Fall der Veräusserung von der Grundstückgewinnsteuer erfasst wird. Die Aufhebung einer latenten Steuerlast wird in bestimmten Konstellatio-nen als ein die Steuer auslösender Sachverhalt angesehen. In anderem Zusam-menhang wird eine solche Aufhebung einer latenten Steuerlast unter dem Aspekt der Steuerumgehung geprüft.

Eine die Steuer auslösende Aufhebung einer latenten Steuerlast ist bekann-termassen die sog. Transponierung, bei welcher bisher steuerverhaftete Reser-ven in den Bereich steuerfrei rückzahlbaren Aktien- bzw. allenfalls Eigenkapi-tals oder Darlehensforderungen überführt werden (vgl. nunmehr Art. 7a Abs. 1 lit. b StHG; Art. 20a Abs. 1 lit. b DBG) und somit die latente Einkommenssteu-erlast auf Ausschüttungen aufgehoben wird68). Die Transponierung ist auch da-mit begründet worden, es handle sich um keine Veräusserung, sondern bloss um eine Umstrukturierung des eigenen Vermögens69). Diese Begründung befindet sich noch etwas näher am eigentlichen Beweggrund für die Praxis der Transpo-nierung, nämlich der Vermeidung der Steuerumgehung, indem einem rechtsge-schäftlichen Vorgang die steuerliche Anerkennung versagt wird. Indessen ist die Transponierung von der Steuerumgehung getrennt worden.

66) Art. 41 lit. b des Bundesgesetzes über die Verechnungssteuer (VStG) vom 13. Oktober 1965, SR 642.21; Art. 38 lit. b des Bundesgesetzes über die Stempelabgaben (StG) vom 27. Juni 1973, SR 641.10; Art. 63 Abs. 1 lit. f des Bundesgesetzes über die Mehrwertsteuer (Mehrwert-steuergesetz, MWSTG) vom 2. September 1999, SR 641.20; Höhn/Waldburger, § 34 N 20.

67) Grundsätzlich besteht bei den direkten Steuern – mit Ausnahme von Vorbescheiden über die subjektive Steuerpflicht – kein Anspruch auf eine Feststellungsverfügung (BGE 121 II 473, 479 f. = ASA 65 [1996/97], 477, 483 f. = StE 1996 B 93.1 Nr. 2 Erw. 2d). Ein Fest-stellungsanspruch besteht auf Grund besonderer gesetzlicher Verhältnisse für Vorsorgein-strumente der Säule 3a (BGE 124 II 383, 386 ff. = ASA 67 [1998/99], 417, 421 ff. = StE 1999 B 93.1 Nr. 5 Erw. 3).

68) Locher, Art. 20 N 112, 117; Reich, in: Zweifel/Athanas (DBG), Art. 20 N 105 m.w.H.69) Noël, in: Yersin/Noël (LIFD), Art. 20 N 100; Reich, in: Zweifel/Athanas (DBG), Art. 20

N 96; beide m.w.H.

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Eine strukturell vergleichbare Aufhebung einer latenten Steuerlast liegt den sog. Altreserven-Fällen zu Grunde70).

Latente Steuerlasten bestehen schliesslich bei unrealisierten Kapitalgewin-nen, bei nicht bilanziertem (abgeschriebenem derivativem oder originärem) Goodwill, und allenfalls bei Wertberichtigungen und Rückstellungen.

Besteuert wird die eigentliche Ausschüttung oder die Realisation des Kapi-talgewinnes oder die Aufwertung in der Bilanz. Die latent steuerbaren Mittel sind insofern aufschiebend bedingt steuerbar. Die Steuer setzt aber nur ein, wenn sich die latenten Werte zu einem Steuerobjekt materialisiert haben. Konkreter bedeutet dies bei Kapitalgewinnen, dass erst die Realisation durch Verkauf oder Tausch die Frage entstehen lässt, ob ein – steuerbarer – Gewinn vorliegt. Bei ver-rechnungssteuerbelasteten Erträgen muss eine Ausschüttung vorliegen; erst dann ist zu beurteilen, in welchem Umfang diese Ausschüttung steuerbar ist (viel-leicht enthält sie eine Aktienkapitalrückzahlung oder eine Rückzahlung von Ein-lagen gemäss dem künftigen Art. 5 Abs. 1bis VStG, der durch das Unternehmens-steuerreformgesetz II vom 23. März 200771) eingefügt wird).

Hieraus ergibt sich, dass eine Änderung des Rechts, welche latente Steuerlas-ten mindert, keine Steuer auslöst. Weil unter der Herrschaft des alten Rechts kein Steuerobjekt entstanden ist, kann keine Steuer anfallen. Die Steuer könnte zwar bemessen werden, aber sie ist eben mangels Steuerobjekt gar nicht angefallen. Un-ter dem alten Recht kann es also grundsätzlich zu keinen Steuerfolgen kommen.

Eine Ausnahme müsste dann gemacht werden, wenn aus steuersystemati-schen Gründen zu fingieren wäre, dass das Steuerobjekt entstanden sei. Es ist mit anderen Worten zu prüfen, ob mit der Rechtsänderung eine steuersystemati-sche Realisation einhergeht. Für eine steuersystematische Realisation bedarf es vorab einer gesetzlichen Grundlage im alten Recht, weil damit ein zusätzlicher Steuertatbestand geschaffen wird.

b) Direkte Steuern

Bei der Einkommenssteuer besteht mit Art. 18 Abs. 2 Satz 2 DBG eine Grundla-ge für die Besteuerung von stillen Reserven bei einer «Verwertung» durch den Steuerpflichtigen. Der Begriff der Verwertung ist extensiv ausgelegt worden und wird als «Sammelbezeichnung für alle Realisationsvorgänge verstanden, durch welche stille Reserven, die im Genuss eines Besteuerungsaufschubs sind, so ver-schoben werden, dass die bisher aufgeschobene Besteuerung später nicht mehr erfolgen könnte»72). Diese Umschreibung geht offenkundig sehr weit und lässt sich kaum noch mit dem Wortsinn des Begriffs der «Verwertung» in Einklang bringen. Wenn von einer allgemeinen Entstrickungsklausel ausgegangen wird, nach welcher stille Reserven immer dann der Besteuerung unterliegen, wenn sie

70) Hierzu unten, III./E./1d.71) Angenommen in der Volksabstimmung vom 24. Februar 2008 (Referendumsvorlage in

BBl 2007, 2321 ff.).72) BGer 14.5.1976, ASA 46 (1977/78), 464, 467 f.; Locher, Art. 18 N 97; Noël, in: Yersin/

Noël (LIFD), Art. 18 N 59; Reich, in: Zweifel/Athanas (DBG), Art. 18 N 28.

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andernfalls der Besteuerung entgehen würden, dann muss diese Umschreibung eingegrenzt werden. «Verwertung» ist verhaltensbezogen73).

Das Bundesgericht hat im Fall der Einführung der Steuerbefreiung der sozi-alen Krankenversicherung (obligatorische Grundversicherung)74) entschieden, dass die stillen Reserven, die durch eine Gesetzesänderung neu in den steuerbe-freiten Bereich gelangt sind, nicht wegen einer steuersystematischen Realisation besteuert werden können75). Es hat dabei den Begriff des Liquidationsgewinnes präzisiert. Das Bundesgericht führt aus, es sei problematisch, stille Reserven steuerlich zu erfassen, wenn die Änderung des Steuerstatus ohne aktives Verhal-ten des Steuerpflichtigen eintritt. Damit hat es eine wichtige Einschränkung des Begriffs des Liquidationsgewinns vorgenommen. Eine Gesetzesänderung, wel-che zur Ablösung latenter Steuern führt, kann somit nicht als «Verwertung» im Sinne einer steuersystematischen Realisation betrachtet werden.

Darüber hinaus bedürfen steuersystematische Realisationen als solche be-sonderer Rechtfertigung unter den Aspekten der Rechtsgleichheit und Verhält-nismässigkeit76) und damit der Erforderlichkeit als Teilgehalt der Verhältnismäs-sigkeit. Es leuchtet nicht ein, wieso es zu einer Besteuerung kommen soll, wenn eine Steuerreduktion erfolgt. Die Rechtsgleichheit wäre nicht gewahrt, weil we-der unter dem alten noch gemäss dem neuen Recht eine Besteuerung Platz grei-fen soll. Hiermit ist auch gesagt, wie eine etwaige Besteuerung durch den neuen Erlass, der eine steuersystematische Realisation für das «alte» latente Steuer-substrat vorsehen würde, zu beurteilen wäre.

Vergleichbare Konstellationen sind schon früher von der Verwaltungspraxis im selben Sinn entschieden worden77). Bei der Einführung der Präponderanz-Me-thode für die Zuteilung von Wirtschaftsgütern zum Privat- oder Geschäftsvermö-gen wurden bisher gemischt genutzte Güter bei überwiegender privater Nutzung neu gänzlich dem Privatvermögen zugewiesen. Im Umfang der bisherigen ge-schäftlichen Nutzung wurden latente Steuerlasten aufgehoben, weil die betreffen-den Quoten an den etwaigen stillen Reserven nicht mehr latent der Einkommens-steuer verhaftet waren. Bereits für diese Fälle wurde der Schluss gezogen, dass keine «Verwertung» vorliege und keine Besteuerung wegen steuersystematischer Realisation erfolgen könne, weil es an einer entsprechenden gesetzlichen Grund-lage fehle78). Der Beschluss über die direkte Bundessteuer (BdBSt) sah eine Be-

73) So zu Recht Reich, in: Zweifel/Athanas (DBG), Art. 18 N 29.74) Art. 17 KVG (AS 1995, 1332), abgelöst auf den 1. Januar 2003 durch Art. 80 ATSG (AS

2002, 3393; SR 830.1).75) BGer 28.4.2005, StE 2005 B 72.11 Nr. 12 Erw. 2.4 = StR 2005, 681, 684 ff.76) Locher, Art. 18 N 98.77) BGer 28.4.2005, StE 2005 B 72.11 Nr. 12 Erw. 2.4.2 = StR 2005, 681, 685.78) Merkblatt der Eidg. Steuerverwaltung vom 12. November 1992 betreffend Einkommen aus

selbständiger Erwerbstätigkeit nach Artikel 18 DBG – Ausdehnung der Kapitalgewinn-steuerpflicht, Übergang zur Präponderanzmethode und deren Anwendung, ASA 61 (1992/93), 507 ff., 510 (Ziff. 2.3); Agner/Jung/Steinmann, 68; Locher, Art. 18 N 155; Reich, in: Zweifel/Athanas (DBG), Art. 18 N 56.

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steuerung von Kapitalgewinnen u.a. dann vor, wenn sie im Betriebe eines zur Führung kaufmännischer Bücher verpflichteten Unternehmens bei der Veräusse-rung oder Verwertung von Vermögensstücken erzielt wurden (Art. 21 Abs. 1 lit. d BdBSt). Nach kaufmännischer Art geführte Unternehmen sind von der Buchfüh-rungspflicht befreit, wenn sie bestimmte Umsatzgrenzen nicht erreichen79). Eine Erhöhung dieser Umsatzgrenze hatte demnach für die betroffenen Personenun-ternehmen den Wegfall einer latenten Steuerpflicht auf den nicht realisierten Ka-pitalgewinnen zur Folge. Von einer Besteuerung wegen steuersystematischer Re-alisation wurde indessen abgesehen80).

c) Wegfall einer Sperrfrist

Mit dem neuen Umstrukturierungsrecht wurde die Sperrfrist auf Spaltungen ab-geschafft. Nach dem alten Recht führte eine Veräusserung des abgespaltenen Unternehmensteils innert einer bestimmten, in der Regel fünfjährigen Frist zu einer Nachbesteuerung der übertragenen stillen Reserven beim übertragenden Rechtsträger. Die Grundlage und die genauen Modalitäten dieser Sperrfrist war einigen Entwicklungen in der Praxis und Lehre unterworfen. Die Praxis wurde schliesslich zu einer insofern «verobjektivierten» Sperrfrist, als es auf die Grün-de für die Veräusserung nicht ankommen soll. Die Sperrfrist wird nicht mehr als Konkretisierung eines Steuerumgehungsvorbehaltes angesehen, sondern als ob-jektive Voraussetzung der Steuerneutralität der Abspaltung zwecks rechtsglei-cher Besteuerung wirtschaftlich vergleichbarer Fälle81). Nach neuem Recht (Art. 24 Abs. 3 lit. b StHG; Art. 61 Abs. 1 lit. b DBG) ist, wie gesagt, keine Sperrfrist mehr vorgesehen, so dass Unternehmensteile steuerneutral abgespal-ten und der abtretende oder der Rechtsträger, welcher den abgespaltenen Unter-nehmensteil aufgenommen hat, veräussert werden können, ohne dass es auf der Stufe der gespaltenen Unternehmung zu einer nachträglichen Aberkennung der Steuerneutralität kommt82).

Nach dem alten Recht bestand nach einer steuerneutralen Spaltung somit eine fünfjährige Schwebeperiode, während der eine Voraussetzung der steuer-neutralen Spaltung, nämlich die unveränderte Fortführung der Beteiligungsver-hältnisse, weiterhin erfüllt sein musste. Die Steuerneutralität hing also nicht von einer einmaligen Erfüllung der Voraussetzungen ab, sondern beruhte auf einem Dauersachverhalt. Mit seinem Inkrafttreten fand das neue Recht auf diesen Dau-

79) Vgl. Art. 54 der Handelsregisterverordnung vom 7. Juni 1937, SR 221.411.80) Kreisschreiben der Eidg. Steuerverwaltung vom 17. April 1972 betreffend Änderung der

Handelsregisterverordnung, ASA 40 (1971/72), 499 f.81) BGer 28.12.1998, ASA 68 (1999/2000), 71, 74 f. = StE 1999 B 23.7 Nr. 9 Erw. 2c = StR

1999, 343, 345 f.; siehe auch bereits BGer 22.10.1992, ASA 61 (1992/93), 825, 831 f.; einlässlich Riedweg/Grünblatt, in: Watter/Vogt/Tschäni/Daeniker (FusG), vor Art. 29 N 71 f.; Saupper/Oesterhelt, in: Watter/Vogt/Tschäni/Daeniker (FusG), vor Art. 109 N 15.

82) Kreisschreiben Nr. 5 der Eidg. Steuerverwaltung betr. Umstrukturierungen vom 1. Juni 2004, Ziff. 4.3.3.1; Glauser/Oberson, in: Yersin/Noël (LIFD), Art. 61 N 45; Riedweg/Grünblatt, in: Watter/Vogt/Tschäni/Daeniker (FusG), vor Art. 29 N 73 ff.

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ersachverhalt Anwendung. Nachdem das neue Recht keine Sperrfrist mehr kennt und damit auch keinen Schwebezustand für die Steuerneutralität einer Spaltung, entfällt auch die Grundlage für Sperrfristen, welche auf Umstrukturierungen zu-rückgehen, die unter der Herrschaft des alten Rechts erfolgten. Eine Weitergel-tung des alten Rechts ist ausgeschlossen, weil es sich bei der Sperrfrist eben um einen Dauersachverhalt handelt. Es kann gerade nicht gesagt werden, der Sach-verhalt habe sich unter der Herrschaft des alten Rechts verwirklicht. Ein solcher Schluss könnte nur dann gezogen werden, wenn der Sperrfrist ein Missbrauchs-konzept zu Grunde läge, bei welchem die Veräusserung innert der Sperrfrist ein Indiz dafür bildete, dass die Abspaltung im Hinblick auf eine – unter altem, aber nicht unter neuem Recht verpönte – Veräusserung erfolgte, wenn es mithin für die nachträgliche Besteuerung auf ein Element angekommen wäre, welches sich unter der Geltung des alten Rechts verwirklichte. Dies ist aber gemäss dem ob-jektivierten Konzept der Sperrfrist gerade nicht der Fall. Die Praxis der Eidg. Steuerverwaltung hat damit die Abschaffung der Sperrfrist bei Spaltungen zu Recht auch auf altrechtliche Spaltungen angewendet; solche Sperrfristen sind mit dem Inkrafttreten des neuen Rechts dahingefallen83).

d) Reduktion der residualen Quellensteuer

Die Eidg. Steuerverwaltung verweigert unter gewissen Umständen die Anwen-dung eines verbesserten Anspruches auf Rückerstattung der Verrechnungssteu-er84). Dies ist unter der Bezeichnung «Altreservenpraxis» bekannt und kritisch kommentiert worden85).

Gemäss einer neueren Festlegung der Praxis86) geht es um Fälle, bei denen im internationalen Verhältnis innerhalb einer Unternehmensgruppe eine Umstruktu-rierung vorgenommen wird. Innerhalb einer solchen Unternehmensgruppe wird eine Schweizer Kapitalgesellschaft, deren Dividenden der Verrechnungssteuer unterliegen, von einer ausländischen Muttergesellschaft gehalten, welche die Verrechnungssteuer auf den Dividenden nicht vollständig zurückfordern kann. Die fragliche Umstrukturierung führt zu einer Reduktion des Satzes der nicht rückforderbaren Verrechnungssteuer auf den Ausschüttungen der Schweizer Ge-sellschaft, weil die neue Aktionärin gestützt auf ein Doppelbesteuerungsabkom-

83) Kreisschreiben Nr. 5 (Anm. 82), Ziff. 5; Saupper/Oesterhelt, in: Watter/Vogt/Tschäni/Dae niker (FusG), vor Art. 109 N 18 ff.

84) Für eine Darstellung der früheren Praxis der Eidg. Steuerverwaltung s. Anita Burri, Rück-erstattung der Verrechnungssteuer bei internationalen Umstrukturierungen, FStR 2001, 204 ff.

85) Siehe insbesondere Maja Bauer-Balmelli, Der Sicherungszweck der Verrechnungssteuer, Zürich 2001, 175, 248 f.; dies., Altreservenpraxis – ein rechtliches Argumentarium, FStR 2004, 201 ff.; Stefan Oesterhelt/Maurus Winzap, Quellensteuerbefreiung von Dividenden, Zinsen und Lizenzen durch Art. 15 Zinsbesteuerungsabkommen (ZBstA), ASA 74 (2005/ 2006), 449 ff., 482 f.

86) ESTV 29.11.2004, in: Kurt Locher/Walter Meier/Rudolf von Siebenthal/Andreas Kolb, Dop-pelbesteuerungsabkommen Schweiz-Deutschland 1971 und 1978, Therwil, B 10.2 Nr. 36.

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men einen verbesserten Anspruch auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer hat als die frühere Aktionärin, oder weil die neue Aktionärin als Schweizer Gesell-schaft die Verrechnungssteuer bereits gestützt auf das interne Recht (Art. 24 Abs. 2 VStG) vollständig zurückfordern kann. Bei Fehlen ausreichender wirt-schaftlicher Motive für die gruppeninterne Umstrukturierung wird über die sog. Altreserven abgerechnet. Als Altreserven werden die «ausschüttbaren und nicht eindeutig betriebsnotwendigen Mittel» verstanden. «Abrechnung» über diese Altreserven bedeutet, dass insofern der vor der Umstrukturierung geltende – un-günstigere – Satz der nicht rückforderbaren Verrechnungssteuer auf Ausschüttun-gen der Schweizer Gesellschaft Anwendung findet, d.h. die neue Muttergesell-schaft kann die Verrechnungssteuer auf den Ausschüttungen aus den «Altreserven» nur in dem Umfang zurückfordern, zu dem auch die frühere gruppeninterne Ak-tionärin berechtigt gewesen wäre. Die Eidg. Steuerverwaltung nimmt unter den ausgeführten Umständen eine Steuerumgehung an, welche zur mindestens teil-weisen oder allenfalls sogar vollständigen Verweigerung der Rückerstattung der Verrechnungssteuer auf Ausschüttungen aus den Altreserven führt.

Die Altreservenpraxis hat zu erheblichen Unsicherheiten geführt. Insbeson-dere ist befürchtet worden, die Eidg. Steuerverwaltung werde die Altreserven-praxis auch dann anwenden, wenn die Reduktion der residualen Verrechnungs-steuer nicht das Ergebnis einer Umstrukturierung darstellt, sondern auf eine Änderung des Doppelbesteuerungsabkommens, welches auf die – bisherige und künftige – Aktionärin der Schweizer Gesellschaft anwendbar ist, zurückgeht.

Es besteht indessen keine Grundlage, die latent verrechnungssteuerbelasteten Reserven auf einem bestimmten Rückerstattungsniveau zu fixieren. Die Verrech-nungssteuer fällt bei der Ausschüttung an und dementsprechend sind Rückerstat-tungsansprüche in jenem Zeitpunkt zu beurteilen. Veränderungen und insbesonde-re Verbesserungen der Rückerstattungsberechtigung sind deshalb möglich; die Quote der Rückerstattung der Verrechnungssteuer ist in diesem Sinne variabel. Hinzu kommt, dass die Altreservenpraxis sich auf das Konzept der Steuerumge-hung stützt. Eine bereits bestehende Aktionärsstruktur kann aber nicht wegen ei-ner Gesetzesänderung statt unbedenklich plötzlich missbräuchlich sein.

Die Praxis hat denn auch zu Recht den Schluss gezogen, dass die Entlastung nach dem neuen anwendbaren Satz nicht verweigert werden kann. Wenn eine ausländische Gesellschaft an einer Schweizer Gesellschaft beteiligt ist, die ihre Gewinne während Jahren thesauriert hat, kann die ausländische Gesellschaft dennoch die vollständige Entlastung beanspruchen87). Zum selben Ergebnis ist die Eidg. Steuerverwaltung in Zusammenhang mit dem Inkrafttreten von Art. 15 des Zinsbesteuerungsabkommens88) gelangt und hat festgehalten, dass sich das

87) ESTV 7.1.2002 und 29.11.2004, in: Locher/Meier/von Siebenthal/Kolb (Anm. 86), B 10.2 Nr. 28 und 36.

88) Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über Regelungen, die den in der Richtlinie 2003/48/EG des Rates im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen festgelegten Regelungen gleich-wertig sind; SR 0.641.926.81.

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Problem der sog. Altreserven nicht stelle, weil sich bloss die Rechtsgrundlagen änderten89). Dabei kommt es nicht darauf an, wann die Reserven, die ausgeschüt-tet werden, gebildet worden sind90).

e) Einführung Kapitaleinlageprinzip

Vergleichbare Fragestellungen wie bei der Altreservenpraxis ergeben sich durch die Einführung des Kapitaleinlageprinzips bei der Besteuerung der Erträge aus Beteiligungsrechten durch das Unternehmenssteuerreformgesetz II91). Beim pri-vaten Aktionär wird auf Grund eines objektivierten Vermögensertragsbegriffes jede Ausschüttung der Gesellschaft als Einkommen besteuert. Die direkte Bun-dessteuer und die Verrechnungssteuer stellen bei der Bemessung des steuerbaren Ertrags auf das sog. Nennwertprinzip ab, indem jede Ausschüttung, die nicht Rückzahlung von Nennkapital darstellt, bei der Gesellschaft der Verrechnungs-steuer unterliegt und beim privaten Aktionär eine steuerbare Einkunft darstellt. Das Kapitaleinlageprinzip ändert nichts am objektivierten Charakter dieser Be-steuerung, weil es nach wie vor nicht darauf ankommt, ob die Ausschüttung beim Empfänger aus dessen an sich massgeblicher Perspektive Einkommen dar-stellt oder nicht. Das Kapitaleinlageprinzip setzt immerhin bei der Bemessungs-grundlage an, indem die Rückzahlung von Einlagen, Aufgeldern und Zuschüs-sen – also von Kapitaleinlagen der Aktionäre in die Gesellschaft – gemäss den neuen Art. 7b StHG, Art. 20 Abs. 3 DBG sowie Art. 5 Abs. 1bis VStG nicht mehr steuerbar ist. Nach bisherigem Recht sind derartige Rückzahlungen steuerbar, obwohl die Mittel ursprünglich von den Aktionären stammten.

Die genannten Bestimmungen enthalten eine zeitliche Beschränkung, indem die Rückzahlung von derartigen Kapitaleinlagen nur dann steuerfrei möglich ist, wenn sie von den Inhabern der Beteiligungsrechte nach dem 31. Dezember 1996 geleistet worden sind. Art. 5 Abs. 1bis VStG verlangt darüber hinaus für die Aus-nahme solcher Ausschüttungen von der Verrechnungssteuer, dass die Kapitalein-lagen in der Handelsbilanz auf einem gesonderten Konto ausgewiesen werden und die Gesellschaft jede Veränderung auf diesem Konto der Eidg. Steuerver-waltung meldet.

Diese neuen Bestimmungen erscheinen auf den ersten Blick wie eine be-günstigende Rückwirkung. Indessen wirkt sich die Gesetzesänderung erst auf künftig sich verwirklichende Sachverhalte – nämlich die Gewinnausschüttungen – aus. Damit handelt es sich um eine Aufhebung einer latenten Steuerlast, ähn-lich der Einführung günstigerer Sockelsteuersätze oder der Einführung einer Steuerbefreiung von Gesetzes wegen. Somit kann nicht ins Feld geführt werden, die Überführung in den steuerfreien Bereich sei gleich wie die Ausgabe von

89) ESTV, Wegleitung betreffend die Aufhebung der schweizerischen Verrechnungssteuer auf Dividendenzahlungen zwischen verbundenen Kapitalgesellschaften im Verhältnis zwischen der Schweiz und den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 15. Juli 2005, 4.

90) Oesterhelt/Winzap (Anm. 85), ASA 74 (2005/2006), 481 f.91) Siehe Anm. 71.

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Gratisaktien zu behandeln und somit aus steuersystematischen Gründen zu be-steuern. Vielmehr gehen die bisherigen latenten Steueransprüche mit dem In-krafttreten der neuen Bestimmungen ohne weiteres unter. Dieses Ergebnis ist auch in der Sache richtig, denn die Besteuerung von Rückzahlungen von Kapi-taleinlagen gemäss dem jetzigen Recht ist ein systematischer Fehler. Gemäss dem objektivierten Kapitalertragsbegriff sollen die von den Gesellschaft erar-beiteten und ausgeschütteten Mittel besteuert werden; der Unterscheidung zwi-schen Nennkapital und zusätzlichen Einlagen in die Reserven fehlt es unter die-sem hier entscheidenden Gesichtspunkt an einer Rechtfertigung. Die bisherige Ordnung hat zu einer Überbesteuerung geführt, die nun innerhalb des Systems der Besteuerung des objektivierten Kapitalertrags korrigiert worden ist.

Wie die formellen Voraussetzungen der Verbuchung auf ein gesondertes Konto und Meldung an die Eidg. Steuerverwaltung gemäss Art. 5 Abs. 1bis VStG erfüllbar sein sollen, soweit Kapitaleinlagen betroffen sind, die vor dem Inkraft-treten oder zumindest vor der Gutheissung des Unternehmenssteuerreformge-setzes II erfolgten, erschliesst sich nicht ohne Weiteres. Diese Voraussetzungen bilden nach ihrem Wortlaut verfahrensrechtliche Handlungen, wobei der Zeit-punkt, in welchem diese Handlungen vorgenommen werden müssen, nicht gere-gelt ist. Nicht in Frage kommt eine rückwirkende Anwendung dieser Bestim-mung in der Weise, dass verlangt würde, die Verbuchungen und Meldungen seien im Zeitpunkt der Kapitaleinlage vorzunehmen. Für derartige Handlungen hat bisher kein Anlass bestanden. Zudem können verfahrensrechtliche Bestim-mungen erst nach ihrem Inkrafttreten wirksam werden. Somit würde diese Vor-aussetzung hinsichtlich Kapitaleinlagen für die Zeit zwischen dem 1. Januar 1996 und dem Inkrafttreten von Art. 5 Abs. 1bis VStG (2009 oder 2011), mithin für voraussichtlich zwölf oder vierzehn Jahre, die neue Regelung illusorisch ma-chen, weil die Voraussetzungen nicht erfüllbar wären. Das Kapitaleinlageprinzip käme deshalb für die Verrechnungssteuer erst zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich für Kapitaleinlagen nach dem Datum des voraussichtlichen Inkrafttre-tens, faktisch zum Tragen, was aber der gesetzgeberischen Absicht widersprä-che. Sodann fehlt es für die Zeit zwischen der Gutheissung des Unternehmens-steuerreformgesetzes II und seinem Inkrafttreten auch an einer Grundlage für eine Vorwirkung von Art. 5 Abs. 1bis VStG dergestalt, dass bereits vor Inkrafttre-ten solche Verbuchungen und Meldungen vorzunehmen seien. Dies kann nur bedeuten, dass Verbuchung und Meldung auch zu einem späteren Zeitpunkt er-folgen können. Auch hierzu fehlt es an einer ausdrücklichen Regelung. Insbe-sondere sieht das neue Recht keine Frist vor, innert welcher Kapitaleinlagen, die vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts getätigt wurden, verbucht und gemeldet werden müssen, damit sie verrechnungsteuerfrei zurückgezahlt werden können. Sinn und Zweck der Bestimmung ist es, der Eidg. Steuerverwaltung die Kontrol-le zu erleichtern, ob bei der Ausschüttung die Voraussetzungen der steuerfreien Rückzahlung vorgelegen haben. Zieht man alle diese Umstände in Betracht, können Verbuchung und Meldung zu einem späteren Zeitpunkt, spätestens je-doch mit der fraglichen Ausschüttung erfolgen. Dass aus Beweisgründen eine

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zeitgerechte Verbuchung und Meldung angebracht ist, versteht sich dabei von selbst.

2. Einführung einer latenten Steuerlast

Noch wenig geklärt ist, wie sich die Einführung einer neuen Steuer auf potentiel-les Steuersubstrat, das noch im steuerfreien Bereich gebildet worden ist, aus-wirkt. Dabei geht es, soweit ersichtlich, im Wesentlichen um die Einführung oder Erweiterung von Steuern auf Kapitalgewinnen. Denkbar ist auch die Einführung einer Quellensteuer. Es stehen sich – wie bereits Gurtner92) dargelegt hat – zwei Möglichkeiten gegenüber:– Die bei Inkrafttreten des neuen Rechts bereits bestehenden Altreserven, die

im steuerfreien Bereich entstanden sind, sind auch unter der Geltung des neu-en Rechts nicht steuerbar.

– Für die neue Kapitalgewinnbesteuerung ist einzig der Zeitpunkt der Realisie-rung der Altreserven massgebend, aber nicht der Zeitraum, während dem die stillen Reserven entstanden sind.

Eine derartige Fragestellung ergab sich namentlich beim Übergang zur Präpon-deranzmethode mit dem Inkrafttreten des DBG. Die Eidg. Steuerverwaltung stellte sich auf den Standpunkt, die bisherige Steuerfreiheit könne nicht mehr weitergeführt werden. Bei der Bemessung der steuerbaren Kapitalgewinne seien demnach auch die auf dem privaten Liegenschaftenanteil vor dem Wechsel zum DBG entstandenen stillen Reserven zu berücksichtigen93). Dies ist kontrovers beurteilt worden, wobei materiellrechtliche und formelle Aspekte nicht immer hinreichend unterschieden werden.

Nach Auffassung von Gurtner ist die Praxisfestlegung der Eidg. Steuerver-waltung nicht zu beanstanden, denn es liege in der Natur einer neu eingeführten Kapitalgewinnsteuer, dass vorhandene stille Reserven bei der späteren Realisie-rung vollumfänglich zur Besteuerung gelangen94). Allerdings beruft sich diese Meinung zu Unrecht auf den Entscheid des Bundesgerichts vom 31. März 1993 betreffend die Ausdehnung der früheren St. Galler Kapitalgewinnsteuer auf Be-zugsrechte. Aus jenem Entscheid lässt sich nichts zu Gunsten der Besteuerung der Altreserven ableiten, weil die Kapitalgewinne nach dem damaligen Recht bereits steuerverhaftet waren95). Es kann auch nicht gesagt werden, es liege in der Natur einer neuen Steuer, bisher im steuerfreien Bereich entstandene Werte neu zu erfassen. Offenkundig schafft eine solche Regelung Rechtsungleichhei-ten zwischen denjenigen Steuerpflichtigen, die solche Mehrwerte vor Inkrafttre-ten des neuen Rechts steuerfrei realisierten, und denen, die damit zugewartet

92) Gurtner, FS Oberson, 48 f.93) Merkblatt der Eidg. Steuerverwaltung vom 12. November 1992 (Anm. 78), ASA 61

(1992/93), 509 f. (Ziff. 2.2).94) Gurtner, FS Oberson, 49.95) BGer 31.3.1993, ASA 63 (1994/95), 580, 583 f.

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haben. Damit ist zu beurteilen, ob eine Rückwirkung vorliege und gegebenen-falls, ob es sich um eine echte oder unechte handle.

Der die Steuer auslösende Sachverhalt verwirklicht sich unter dem neuen Recht. Indessen greift die Bemessung der Steuer zurück auf historische, vor In-krafttreten des neuen Rechts geschaffene Werte. Durch die Bemessungsregel unterwirft das neue Recht den Wertzuwachs, der bis zum Inkrafttreten des neuen Rechts entstanden ist, der Steuer. Damit liegt eine Rückwirkung vor.

Das Bundesgericht lässt sog. unechte Rückwirkungen zu, wenn nur der Um-fang von Steuerpflicht auf Grund von Tatsachen bestimmt wird, die sich vor dem Inkrafttreten des Gesetzes verwirklicht haben96). Dies gilt aber nur dann, wenn das betreffende Steuerobjekt schon unter dem alten Recht steuerbar gewesen war. Die Einführung einer neuen Steuer mit Rückwirkung auf bisher steuerfreie Werte ist als unstatthafte echte Rückwirkung qualifiziert worden97).

Zum selben Ergebnis führt die Überlegung, dass der im bisher steuerfreien Bereich entstandene Wertzuwachs beim Übergang in den steuerbaren Bereich aus steuerbarer Sicht als abgeschlossener Sachverhalt zu betrachten ist. Im um-gekehrten Fall tritt nämlich eine steuersystematische Realisation ein.

Der Praxisfestlegung der Eidg. Steuerverwaltung liegt an sich keine andere Auffassung zu Grunde, denn immerhin soll es nach ihrer Meinung möglich sein, die Liegenschaft – worum es regelmässig gehen dürfte – vor Inkrafttreten des neuen Rechts bis zum Verkehrswert in der Handelsbilanz aufzuwerten. Dem nicht buchführungspflichtigen Steuerpflichtigen sei aber eine solche vorgängige Aufwertung verwehrt, weil er keine entsprechenden Aufzeichnungen führe98).

Die Auffassungen unterscheiden sich somit nicht im Grundsatz, sondern in der formellen Umsetzung. Es ist anerkannt, dass die bisher im steuerfreien Bereich befindlichen Vermögenswerte zum Verkehrswert in den steuerbaren Bereich über-führt werden können99). Dies wird teilweise auch daraus abgeleitet, dass es eine Kapitalanlage sei100). Gegen diese Begründung – aber nicht gegen das Ergebnis – wird eingewendet, dass die Änderung des massgeblichen Rechts keine Widmung von Vermögen durch eine Handlung des Steuerpflichtigen darstellen könne101). Je-denfalls aber muss der Verkehrswert zu jenem Zeitpunkt dokumentiert werden.

Die Eidg. Steuerverwaltung verlangt eine Aufwertung in den handelsrechtli-chen Büchern, akzeptiert jedoch andere Aufzeichnungen nicht. Nach zutreffen-der Auffassung müssen aber auch nicht buchführungspflichtige Steuerpflichtige

96) Oben, III./B./1. 97) BGE 102 Ia 31, 33 ff. = ASA 46 (1977/78), 263, 265 ff.; oben, III./B./3. 98) So wohl auch Jürg Dubs, Die Besteuerung des Privatvermögens und der Vorsorge – Erheb-

liche Anwendungsprobleme in der Praxis, ST 1993, 586 ff., 587. 99) Locher, Art. 18 N 118, sowie 157; Gurtner, FS Oberson, 51 und 61 f.100) Charles Constantin, Fortune commercial et fortune privée – Du partage à la préponderan-

ce, ST 2003, 333 ff.; Hans Ulrich Meuter, Die Besteuerung von Selbständigerwerbenden nach dem Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer (DBG) – Unter besonderer Berück-sichtigung der Land- und Forstwirtschaft, ZStP 1993, 73 ff., 76, 78.

101) Locher, Art. 18 N 156.

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mittels geeigneter Aufzeichnungen sich auf den Verkehrswert bei Inkrafttreten des neuen Rechts berufen können102). Dieser Schluss drängt sich umso mehr auf, als es um die Umsetzung höherrangigen Rechts geht. Der höhere Verkehrswert muss nach dem oben Festgestellten schon von Verfassung wegen zur Anrechung gebracht werden können; eine engherzige Anwendung steuerlicher Aufzeich-nungs- und Deklarationspflichten führt hier nicht weiter103).

F. Ausweichverhalten des Steuerpflichtigen vor Inkrafttreten einer Gesetzesände-rung

Die bevorstehende Einführung einer neuen Steuer oder die Änderung der bestehen-den Gesetzgebung kann selbstverständlich Anlass dazu sein, dass Transaktionen vorgezogen oder andere Planungsmassnahmen ergriffen werden, um die künftige Besteuerung zu vermeiden und noch vom geltenden alten Recht zu profitieren. Dies wirft die Frage auf, ob damit die Steuer effektiv vermieden werden kann.

Das neue Recht könnte auf den unter der Herrschaft des alten Rechts ver-wirklichten Sachverhalt angewendet werden. Allerdings wäre dies eine positive Vorwirkung des künftigen Rechts, indem künftiges, noch nicht in Kraft stehen-des Recht angewendet würde. Eine derartige positive Vorwirkung ist aber unzu-lässig104). Demnach kann es unter diesem Titel zu keiner Besteuerung kommen.

Die Steuer könnte erst dann erhoben werden, wenn das neue Recht in Kraft getreten ist. Weil aber dasjenige Recht auf einen Sachverhalt Anwendung findet, das bei seiner Verwirklichung gegolten hat, muss das neue Recht eine Rückwir-kung vorsehen. Eine belastende Rückwirkung wird nur unter sehr einschränken-den Bedingungen als zulässig erachtet. Selbst wenn alle anderen Voraussetzungen – ausdrückliche oder klar gewollte Anordnung, zeitlich mässig, keine stossenden Rechtsungleichheiten, kein Eingriff in wohlerworbene Rechte – erfüllt wären, bliebe zu beurteilen, ob ein hinreichendes öffentliches Interesse an einer Rück-wirkung besteht. Der Wunsch des Gemeinwesens, steuerfreie Transaktionen kurz vor Inkrafttreten des neuen Rechts zu unterbinden, ist rein fiskalischer Natur, denn es nicht ersichtlich, welche anderen konkreten öffentlichen Interessen damit geschützt werden sollten. Die Zulässigkeit der Rückwirkung müsste somit regel-mässig verneint werden, weil nach ständiger Rechtsprechung fiskalische Interes-sen des Gemeinwesens eine Rückwirkung nicht rechtfertigen105).

Wenn also weder das alte noch das neue Recht direkt angewendet werden dür-fen, bleibt immerhin zu prüfen, ob eine Besteuerung der fraglichen Transaktion un-ter dem Aspekt der Steuerumgehung erfolgen könnte. Eine Steuerumgehung im

102) Gurtner, FS Oberson, 54 f.; Locher, Art. 18 N 157.103) Das Spannungsverhältnis zwischen materieller Rechtslage und Massgeblichkeitsprinzip

bzw. der Zulassung von Steuerwerten, welches hier wie auch etwa bei anderen Überfüh-rungen aus dem steuerfreien Bereich oder bei Kapitaleinlagen auftritt, kann in diesem Rahmen nicht weiter untersucht werden.

104) Oben, III./C.105) Oben, III./B./2.

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Sinne einer nicht anerkannten Steuerersparnis liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts vor, wenn eine vom Steuerpflichtigen gewählte Rechtsgestal-tung als ungewöhnlich (insolite), sachwidrig oder absonderlich, jedenfalls der wirt-schaftlichen Gegebenheit völlig unangemessen erscheint, ferner anzunehmen ist, dass die gewählte Rechtsgestaltung missbräuchlich lediglich deshalb getroffen wor-den ist, um Steuern zu sparen, die bei sachgemässer Ordnung der Verhältnisse ge-schuldet wären, und das gewählte Vorgehen tatsächlich zu einer erheblichen Steuer-ersparnis führen würde, sofern es von der Steuerbehörde hingenommen würde106).

Eine Umgehung des geltenden Steuerrechts kann von vornherein nicht vor-liegen, denn nach dem – noch – geltenden Recht ist keine Steuer geschuldet. Auch wenn einzelne Elemente der Steuerumgehung gegeben sein sollten, zBsp. ein absonderliches Vorgehen, kann dies nicht bedeuten, dass eine Steuer ge-schuldet sei, denn selbst wenn ein anderes Verhalten unterstellt würde, fiele kei-ne Steuer an. Die Umgehung einer künftigen Steuer ist deshalb unbeachtlich, weil sich der Sachverhalt noch unter dem alten Recht, welches keine Steuerfol-gen vorgesehen hat, verwirklicht hat. Die Berücksichtigung des neuen Rechts fällt hingegen ausser Betracht, denn dies würde eine unzulässige positive Vor-wirkung der neuen Gesetzgebung bedingen. Somit müsste, um die Besteuerung mittels Steuerumgehung zu begründen, der Sachverhalt so fingiert werden, dass die Verwirklichung erst unter der Herrschaft des neuen Rechts effektiv gewollt sei. Eine Steuerumgehung ist aber dadurch charakterisiert, dass ein anderer Sachverhalt als der effektiv umgesetzte wirtschaftlich gewollt ist, und hier geht es nur um das zeitliche Element. Somit bleibt es dabei, dass der Sachverhalt steuerlich so zu akzeptieren ist, wie er sich verwirklicht hat. Die Rechtsprechung hat denn auch anerkannt107), dass der Abschluss von an sich zulässigen Rechts-geschäften zur Vermeidung einer bevorstehenden Steuer schützenswert sei.

Als Ergebnis ist somit festzuhalten, dass rechtzeitiges Handeln vor einer Ände-rung des Steuerrechts hilft. Wenn sich der fragliche Sachverhalt vor Inkrafttreten des neuen Rechts verwirklicht hat, ist die Erhebung der neuen Steuer regelmässig ausgeschlossen. Hiervon abzugrenzen und deshalb vorzubehalten sind Konstellati-onen, bei denen ein Dauersachverhalt geschaffen wird, der unter der Herrschaft des neuen Rechts fortdauert. Insofern ist selbstverständlich das neue Recht anwendbar, und auch die Frage der Steuerumgehung, welche im Einzelfall zu prüfen ist, stellt sich entsprechend bezogen auf diesen neurechtlichen Sachverhalt.

G. Exkurs: Schutz des Vertrauens in den Weiterbestand des geltenden Rechts und vor Rechtsänderungen

Die Rechtsprechung hat es regelmässig abgelehnt, im Falle der Änderung der Gesetzgebung dem Privaten einen Schutz seines Vertrauens zu gewähren108).

106) BGE 119 Ib 111, 113 = ASA 63 (1994/95), 822, 825; BGer 30.11.1992, ASA 63 (1994/95), 218, 225; Blumenstein/Locher, 32.

107) BGE 95 I 6, 10 f. = ASA 38 (1969/70), 534, 538 f.108) Gygi, 109; Häfelin/Müller/Uhlmann, N 342; Tschannen/Zimmerli, § 24 N 14.

Das intertemporale Steuerrecht in der Rechtsprechung

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Immer hin wird der Anspruch auf eine angemessene Übergangsregelung aner-kannt109). Die neuere Rechtsprechung schliesst nun nicht mehr aus, dass allen-falls auch gegenüber der geänderten Gesetzgebung begründetes Vertrauen Schutz finden muss, wenn die Betroffenen im Vertrauen auf den Bestand der Normen Dispositionen getroffen haben, die sie nur schwer wieder rückgängig machen können110). Wieweit sich dieser Gedanke im Steuerrecht nutzbar machen lässt, ist noch offen. Bei tiefergreifenden Änderungen mit möglichen Auswir-kungen auf bestehende Strukturen – zu denken ist an die Mehrwertsteuer – drän-gen sich nach dem Gesagten jedenfalls angemessene Einführungsfristen, bzw. je nach Steuer, Übergangsbestimmungen auf.

Der Vollständigkeit halber sei auch vermerkt, dass behördliche Auskünfte (hier die sog. Steuerrulings) unter dem Vorbehalt der Rechtsänderung stehen. Wenn sich die massgebliche Rechtslage ändert, entfällt grundsätzlich der Ver-trauensschutz, es sei denn, die Auskunft erteilende Behörde sei für die Rechts-änderung selbst zuständig und die Auskunft sei im Hinblick darauf erteilt wor-den111).

IV. Steuerstrafrecht

Im Bereich des Steuerstrafrechts gilt übergangsrechtlich der Grundsatz der «lex mitior», d.h. des milderen Rechts. Dies ergibt sich aus Art. 2 Abs. 2, Art. 333 Abs. 1 und Art. 389 Abs. 1 StGB112). Nach dem Grundsatz der «lex mitior» ist auf die Tat sowohl das alte als auch das neue Recht anzuwenden und durch Ver-gleich der Ergebnisse festzustellen, nach welchem Recht der Täter milder be-straft wird. Dies hängt nicht vom abstraktem Verhältnis der Strafandrohungen, sondern alleine davon ab, nach welchem der beiden Rechte der Täter für die gerade zu beurteilende Tat günstiger beurteilt wird. Eine solche konkrete Prü-fung hat ergeben, dass der frühere BdBSt insofern das mildere Recht als das DBG enthielt, als der Bussenrahmen nach unten offen war, während Art. 175 Abs. 2 DBG ein Bussenminimum von einem Drittel der hinterzogenen Steuer vorsieht113). Die «lex mitior» gilt auch für die Frage der Verjährung114).

109) Rhinow/Krähenmann, 234.110) BGE 122 V 405, 409; Häfelin/Müller/Uhlmann, N 342.111) BGer 10.11.2006, StE 2007 B 24.4 Nr. 75 Erw. 3.7; Gygi, 160; Häfelin/Müller/Uhlmann,

N 692; Tschannen/Zimmerli, § 22 N 13.112) Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937; SR 311.0. Der jetzige Art. 389

StGB entspricht dem früheren Art. 337 StGB. Zur Anwendbarkeit der «lex mitior» s. ZRK 25.4.2006, ASA 75 (2006/2007), 503, 507; BGer 10.6.1998, ASA 68 (1999/2000), 240, 242 = StE 1999 B 101.9 Nr. 10 Erw. 2; Saupper/Oesterhelt, in: Watter/Vogt/Tschäni/Dae-niker (FusG), vor Art. 109 N 8 H.

113) BGer 10.6.1998, ASA 68 (1999/2000), 240, 242 f. = StE 1999 B 101.9 Nr. 10 Erw. 2.114) BGer 10.7.1997, ASA 67 (1999/99) 400, 408 hinsichtlich der Begünstigung.

Markus Weidmann

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V. Verfahren

A. Grundsatz

Namentlich in den Prozessgesetzen des Bundes ist vorgesehen, dass hängige Verfahren noch nach altem Recht weiterzuführen seien115). Fehlt es, wie regel-mässig bei den Steuergesetzen, die eigene Verfahrensordnungen enthalten, an einer solchen Regelung, ist für das Verfahren das neue Recht anwendbar116).

Verfahrensvorschriften sind somit grundsätzlich mit ihrem Inkrafttreten so-fort anwendbar, ohne dass es zu einer Weitergeltung des alten Rechts käme. Vorbehalten bleiben Fälle, wo die Anfechtungsmöglichkeiten nach altem und neuem Recht nicht als gleichwertig erscheinen117) oder eine grundlegend neue Verfahrensordnung geschaffen wird118). Wenn eine Frist bei Inkrafttreten des neuen Rechts noch nicht abgelaufen ist, so bestimmen sich Fristenlauf und die Rechtsmittelinstanz nach dem bisherigen Recht119).

Im Folgenden sollen, ohne damit Vollständigkeit anzustreben, zwei Abgren-zungsfragen zwischen materiellem und formellem Recht behandelt werden, die sich im Steuerrecht ergeben haben.

B. Ermessenseinschätzung

Die Abgrenzung zwischen materiellem und formellen Recht bereitet bei der Er-messensveranlagung besondere Schwierigkeiten. Wie im geltenden Recht sah der BdBSt vor, dass ein Steuerpflichtiger, der trotz Mahnung seine Verfahrens-pflichten nicht erfüllt, nach pflichtgemässem Ermessen – soweit stimmen alte und neue Ordnung überein – einzuschätzen ist. Unterschiedlich ist hingegen der weitere Verfahrensablauf geregelt:– Nach altem Recht ist die Erhebung einer Einsprache ausgeschlossen, wenn

sich die Steuerfaktoren gegenüber der letzten rechtskräftigen Einschätzung um nicht mehr als 20% erhöht haben (Art. 92 Abs. 1 Satz 2 BdBSt).

– Das neue Recht kennt keinen Schwellenwert mehr für das Einspracheverfah-ren, aber der Steuerpflichtige kann eine Veranlagung nach pflichtgemässem Ermessen nur wegen offensichtlicher Unrichtigkeit anfechten und muss – anders als bei einer ordentlichen Veranlagung – die Einsprache begründen und allfällige Beweismittel nennen (Art. 132 Abs. 3 DBG).

Das Bundesgericht hat sich für die Anwendung der alten Regelung, die es als ver-fahrensrechtlich qualifiziert hat, ausgesprochen. Es hat festgestellt, dass neues Ver-fahrensrecht nicht immer sofort anzuwenden sei. Namentlich dort, wo die Anfech-

115) Kölz, ZSR 1983 II, 223; Rhinow/Krähenmann, 45.116) RK FR 24.6.1988, StE 1989 B 110 Nr. 2; BSt-RK ZH 9.3.1995, StE 1995 B 110 Nr. 5;

Borghi, ZSR 1983 II, 480 f.117) BGE 115 II 97, 100 ff.118) BGE 112 V 356, 360 f.119) Häfelin/Müller/Uhlmann, N 327a

Das intertemporale Steuerrecht in der Rechtsprechung

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tungsmöglichkeiten nach altem und neuem Recht nicht gleichwertig erscheinen oder eine grundlegend neue Verfahrensordnung geschaffen werde, könne die sofor-tige und umfassende Anwendung des neuen Rechts mit Problemen verbunden sein. Im Falle der Anfechtung einer Ermessensveranlagung ergäbe die Anwendung des neuen Rechts auf alte Steuerperioden fragwürdige Konsequenzen. Je nachdem, wann der Entscheid ergangen sei, wäre der Rechtsschutz gegenüber Veranlagungen für die gleiche Periode besser oder schlechter. Zudem regle Art. 132 Abs. 3 DBG das Beschwerderecht grundsätzlich anders als Art. 92 BdBSt und die rückwirkende Anwendung von Art. 132 DBG würde einen Rechtsmittelausschluss wieder aufhe-ben. Die Anwendung neuer Verfahrensvorschriften erscheine sinnvoll, soweit es um die Abwicklung des weiteren Verfahrens gehe. Hingegen könnten nach früherem Recht verwirkte prozessuale Rechte nicht nachträglich wieder aufleben120).

Zum selben Resultat – Anwendung des alten Rechts – führt die Überlegung, dass das neue Recht eine neue Verteilung der Beweislast einführe, indem das neue Recht vorsieht, dass der Steuerpflichtige die Beweislast für die Unrichtig-keit der Ermessensveranlagung trägt. Die Verteilung der Beweislast ergibt sich aus dem materiellen Recht121). Weil altes materielles Recht anwendbar ist, muss auch die alte Regelung der Anfechtung einer Ermessensveranlagung zum Tragen kommen122). Dass sowohl die alte als auch die neue Regelung über die Ermes-sensveranlagung eine erhebliche materiellrechtliche Komponente enthalten, zeigt sich auch darin, dass der altrechtliche Ausschluss des Einspracherechts mit dem praktisch selben Ergebnis materiellrechtlich formuliert werden könnte, in-dem statt eines Rechtsmittelausschlusses die Bemessungsgrundlage der Steuer definiert würde.

C. Verjährung

Die Verjährung gilt als materiellrechtliches Institut. Sie wirkt sich auf den Be-stand der Forderung aus durch Untergang der Forderung zufolge Zeitablaufs123). Die Verjährung ist nicht ein bloss verfahrensrechtliches Hemmnis; es bedarf kei-ner Einrede, sondern die Verjährung ist von Amtes wegen zu berücksichtigen.

Das Bundesgericht betrachtet denn auch die Vorschriften über die Verjäh-rung als materielles Recht, selbst wenn sie im Gesetz systematisch dem Verfah-rensrecht zugeordnet werden. Die Verjährung betrifft nämlich unmittelbar den Bestand der Steuerforderung. Deshalb richtet sich die Frage der Verjährung nach dem alten Recht124). Die ältere Literatur, womit sich das Bundesgericht nicht

120) BGer 30.9.1997, ASA 67 (1998/99), 409, 416.121) Daniel Schär, Grundsätze der Beweislastverteilung im Steuerrecht – unter besonderer

Berücksichtigung des gemischten Veranlagungsverfahrens sowie des Steuerjustizver-fahrens, Bern/Stuttgart/Wien 1998, 55 ff.

122) BSt-RK ZH 11.3.1996, StE 1996 B 110 Nr. 6 Erw. 1c.123) BGE 126 II 1, 2 = ASA 69 (2000/2001), 338, 340 = StE 2000 B 92.9 Nr. 5 Erw. 2a124) BGE 126 II 1, 2 = ASA 69 (2000/2001), 338, 340 = StE 2000 B 92.9 Nr. 5 Erw. 2a; VGer

ZH 1.11.2000, RB 2000 Nr. 128.

Markus Weidmann

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näher auseinandersetzt, ist noch vom formellen Charakter der Verjährung ausge-gangen125).

Die Rechtsprechung zum kantonalen Recht ist demgegenüber schwankend und nicht gefestigt.

Das Zürcher Verwaltungsgericht erkannte in einem Entscheid vom 28. Okto-ber 1998126), dass Nachsteueransprüche, für die das Verfahren bei Inkrafttreten der Gesetzesänderung noch nicht eingeleitet war, nach dem neuen Recht verjäh-ren, welches eine längere Verjährungsfrist vorsieht. Die Herleitung kann nur schwer nachvollzogen werden, denn die fragliche Übergangsbestimmung ordne-te für alle Steuerjahre die Anwendung des alten Rechts an. Jedoch sah die Über-gangsbestimmung auch vor, dass sich die Verjährung u.a. der Nachsteuern und Strafsteueransprüche bei Verfahren, die bereits bei Inkrafttreten des neuen Rechts hängig waren, nach den Bestimmungen des bisher geltenden Gesetzes richteten. Hieraus folgerte das Gericht in einem Umkehrschluss, dass sich die Verjährung der Nachsteueransprüche bei Verfahren, die bei Inkrafttreten des Än-derungsgesetzes noch nicht hängig waren, nach den Vorschriften des neuen Ge-setzes richten. Sodann erklärte das Gericht, dass die Bestimmungen über die Nachsteuerpflicht dem Verfahrensrecht zugehören, weil sie die Zulässigkeit und den Gang des Revisionsverfahrens regeln. Es liege auch keine Rückwirkung vor, weil das neue Recht bloss die zeitliche Zulässigkeit der Nachforderung der im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes schon bestehenden, jedoch ungenü-gend erhobenen Steueransprüche regle.

Diese Auffassung ist aus verschiedenen Gründen fragwürdig. Sie lässt aus-ser Acht, dass sich die Verjährung auf den Bestand der Steuerforderung selbst richtet, diese in zeitlicher Hinsicht begrenzt und damit über eine rein verfahrens-mässige Anordnung hinausgeht. Die Anwendung des neuen, für den Steuer-pflichtigen ungünstigeren Rechts führt zu unterschiedlichen Rechtslagen für die einzelnen Steuerpflichtigen, die sich nicht nach der Sache richten (nämlich dem erzielten Einkommen in einer bestimmten Periode), sondern nach Zufälligkei-ten, die weitgehend ausserhalb des Einflussbereiches der betroffenen Personen liegen. Die Rechtsgleichheit ist somit gegenüber anderen Steuerpflichtigen, die aus irgendwelchen Gründen zügig veranlagt worden sind, nicht gewährleistet. Zudem vermag nicht einzuleuchten, weshalb Steueransprüche, die sich unter demselben Gesetz verwirklicht haben, nachträglich unterschiedlich behandelt werden.

In einem späteren Entscheid vom 24. März 1999127) bestätigte das Zürcher Verwaltungsgericht seine frühere Auslegung (ohne ausdrücklich auf den Ent-scheid vom 28. Oktober 1998128) Bezug zu nehmen). Indessen korrigierte es das

125) Agner/Jung/Steinmann, 515; Hugo Casanova, Die Nachsteuer, ASA 68 (1999/2000), 1 ff., 17; Vallender, in: Zweifel/Athanas (StHG), Art. 53 N 2.

126) VGer ZH 28.10.1998, RB 1998 Nr. 150 = StE 1999 B 110 Nr. 10 Erw. 2.127) VGer ZH 24.3.1999, StE 2000 B 110 Nr. 11 Erw. 2.128) VGer ZH 28.10.1998, RB 1998 Nr. 150 = StE 1999 B 110 Nr. 10 Erw. 2.

Das intertemporale Steuerrecht in der Rechtsprechung

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Resultat und lehnte die Anwendung der längeren Verjährungsfrist im zu beurtei-lenden Fall ab, denn es sei die «alleinige Folge grober Pflichtwidrigkeit der Ein-schätzungsbehörde», dass das Nachsteuerverfahren erst nach Inkrafttreten des neuen Rechts eingeleitet worden sei. Die Geltung der längeren Verjährungsfris-ten sei deshalb mit dem verfassungsrechtlichen Willkürverbot nicht vereinbar, verletze krass das Gebot von Treu und Glauben und laufe dem Gerechtigkeits-empfinden in stossender Weise zuwider.

Im Ergebnis hat das Gericht seine frühere Auslegung geändert. Dem Ent-scheid sind keine Kriterien zu entnehmen, welche Verzögerung noch als ange-messen zu betrachten wäre, so dass das neue Recht auf die Verjährung angewen-det werden könnte. Er lässt insbesondere auch die Frage unbeantwortet, wie sich die Anwendung unterschiedlicher Verjährungsbestimmungen auf Steuerforde-rungen, die unter dem nämlichen Gesetz entstanden sind, mit dem Gleichheits-grundsatz verträgt. Ob die Zürcher Rechtsprechung zur Verjährung von Nach-steueransprüchen noch präjudiziell sein kann, ist nach dem Gesagten fraglich. In der Sache ist sie abzulehnen. Auch das Verwaltungsgericht hat sie entschieden relativiert. Hinzu kommt, dass dasselbe Gericht erkannt hat, dass die Veranla-gungsverjährung kein formelles Recht darstellt, so dass die frühere Gesetzge-bung zur Anwendung gelangt129). Insgesamt ist hieraus wohl zu schliessen, dass auch nach Auffassung des Zürcher Verwaltungsgerichtes die Verjährung materi-elles Recht bildet und sich somit nach der alten Gesetzgebung richtet.

Die Verwaltungsrekurskommission St. Gallen hat ebenfalls die Verjährungs-vorschriften als formelles Recht qualifiziert130). Es stützte sich dabei auf ältere Lehrmeinungen und den Entscheid des Zürcher Verwaltungsgerichts vom 28. Ok-tober 1998 ab und setzte sich damit in Widerspruch zur bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Dementsprechend musste es prüfen, ob die Anwendung des neuen Rechtes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstosse, was es auf Grund der langen Frist zur Anpassung des kantonalen Steuergesetzes an das StHG verneinte. Nach dem oben Gesagten hätte das alte Recht zur Anwendung gelangen müssen, unter dem die Nachsteueransprüche bereits verjährt waren.

Während es in den oben wiedergegebenen Entscheiden darum ging, ob die neue längere Verjährungsfrist auf altrechtliche Steuerforderungen angewendet wer-den könne, ist auch denkbar, dass das neue Recht erstmals eine Verjährung einführt oder die neue Verjährungsfrist kürzer ist als nach dem alten Recht. Hierfür hat das Bundesgericht erwogen, die neue Frist ab Inkrafttreten des neuen Rechts laufen zu lassen, weil es mit dem Rechtsgleichheitsgebot kaum vereinbar sei, dass später entstandene Steuerforderungen früher verjähren als altrechtliche Forderungen131).

In diesem Zusammenhang ist aber auch auf die Verjährungsregelung von Art. 11 f. VStrR132) hinzuweisen. Im Anwendungsbereich des VStrR tritt gemäss

129) VGer ZH 1.11.2000, RB 2000 Nr. 128.130) RK I/1 SG 12.1.2005, StE 2005 B 110 Nr. 12 Erw. 3b.131) BGE 126 II 1, 5 f. = ASA 69 (2000/2001), 338, 343 = StE 2000 B 92.9 Nr. 5 Erw. 3 m.w.H. 132) Bundesgesetz über das Verwaltungsstrafrecht vom 22. März 1974; SR 313.0.

Markus Weidmann

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Art. 12 Abs. 4 VStrR die Verjährung der Leistungspflicht nicht ein, solange die Strafverfolgung und die Strafvollstreckung nicht verjährt sind. Nach wie vor gibt es ein Unterbrechen und Ruhen der Verjährung auf Grund des Vorbehaltes in Art. 333 Abs. 6 lit. c, 2. Satz StGB133). Übergangsrechtlich gilt die «lex mitior»134).

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133) Zu Art. 12 VStrR und zur Verjährung siehe Markus Weidmann/Stefan Oesterhelt, Nachent-richtung der Verrechnungssteuer gemäss Art. 12 VStrR, StR 2007, 622 ff., 632.

134) Eidg. Zoll-RK 25.4.2006, ASA 75 (2006/2007), 503, 506 f.


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