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Das Haus des Jeremy Pimm

Date post: 03-Jan-2017
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DAS HAUS DES JEREMY PIMM

1. KAPITEL

Neil w ä r e niemals auf das alte N a t u r s t e i n h a u s g e s t o ß e n , w e n n er nicht so tief in Gedanken v e r s u n k e n g e w e s e n w ä r e , daß er das Ende der St raße gar nicht b e m e r k t e . S ta t t k e h r t z u m a c h e n , w a s das Natür l ichs te g e w e s e n w ä r e , streifte er wie ein Schlafwandler durch das dichte Unterholz und blieb e rs t s t e h e n , als er das d ü s t e r e Haus aus Na tu r s t e in als dunklen Umriß vor dem Grün des Waldes aufragen sah .

Für einen M o m e n t ve rgaß er den Ärger, den es zwischen ihm und se inen Eltern g e g e b e n h a t t e . Übe r r a sch t s t a n d er da und b e t r a c h t e t e das s e l t s a m e G e b ä u d e . Es w a r in S c h a t t e n gehüllt, obwohl es doch ein s p ä t e r Vormi t tag im Juli war.

Das Haus war ganz aus g r a u e m Stein g e b a u t und h a t t e einen L-förmigen Grundriß, zwei S t o c k w e r k e mit hohen , dunklen Fen­s tern und j e d e Menge s e l t s a m e r M a n s a r d e n und Scho rns t e ine . Ein paar Türme verl iehen ihm fast das A n s e h e n e ines S c h l o s s e s . Einersei ts wi rk te es fast fehl am Platze inmit ten der g rünen Um¬ gebung , a n d e r e r s e i t s j e d o c h paß te es auch w iede r auf sonder¬ bare Weise in d iese Gegend, so, als ob es schon sehr lange dort s t ü n d e . Dichte Weinranken w u c h e r t e n an den rußigen Schorn¬ s te inen empor, und auf der S t e in t r eppe , die zur Haus tü r führte, lag ein dicker Moos tepp ich .

Wer wohl in d i e sem grusel igen Haus w o h n t e ? Wie als A n t w o r t auf Neils u n a u s g e s p r o c h e n e Frage e rhob sich eine Brise und rasche l t e in den Blät tern, so daß es wie ein Flüs tern von t a u s e n d ge is te rhaf ten Zungen klang. Unwillkürlich überlief Neil ein Schau¬ er.

Er lehnte sich an einen Baum und sog die s c h w e r e Luft ein. Sie war feucht und kühl und roch nach v e r r o t t e t e n Blät tern . Mit

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einem Seufzer legte er den Kopf in den Nacken und schloß die Augen. Die Gedanken , die ihn he rge t r i eben ha t t en , s t i egen wie­der in ihm hoch.

Warum k o n n t e n se ine Eltern nicht begreifen, daß d ieser Umzug für ihn eine K a t a s t r o p h e b e d e u t e t e ? In Fairhaven mit Henry und Alan und all se inen a n d e r e n Freunden , die er schon fast sein g a n z e s Leben lang k a n n t e , w a r er glücklich und zufrieden gewe¬ sen. Er h a t t e sich schon auf den Schulbeginn nach den Sommer¬ ferien gefreut, aber j e t z t m u ß t e er in eine neue Schule, wo er keine M e n s c h e n s e e l e k a n n t e . J e t z t lebte er vierzig Meilen ent­fernt von se inen Freunden in New England, so tief in den Wäldern von Connect icut , daß wei t und breit kein a n d e r e s Haus zu ent¬ decken war.

Eine Weile h a t t e er sich g e g e n den Umzug g e w e h r t , h a t t e j e d e n möglichen Einwand ins Feld geführt. Aber wie gewöhnl ich h a t t e n auch diesmal se ine Eltern g e w o n n e n . Beide w a r e n Schriftsteller. Seine Mut te r schr ieb Gruse l romane , sein Vater S p o r t b ü c h e r für

j u n g e Leute , die er mit se inen e igenen p re i sgek rön t en Fotogra¬ fien illustrierte. Beide w a r e n das S t ad t l eben leid und s u c h t e n einen friedlichen Ort für ihre Arbeit und Platz für eine Dunkelkam¬ mer.

Das Gefühl, b e o b a c h t e t zu w e r d e n , riß Neil aus se inen t rüben Gedanken auf. Er warf einen r a s c h e n Blick auf das unheimliche Haus und w a r heilfroh, daß er nicht dor t h a t t e einziehen m ü s s e n . Lange, dunkle S c h a t t e n s t r e c k t e n sich wie Finger aus und hüllten alles, w a s sie be rühr t en , in Dämmerl icht , Aber n iemand w a r zu s ehen . Keine Augen lugten aus den mit s c h w e r e n Vorhängen ve rdunke l t en Fens t e rn hervor, und die m a s s i v e Eichentür w a r fest g e s c h l o s s e n .

Neil d r eh t e sich um und ging. Er h a t t e e r s t zwei, h ö c h s t e n s drei Schri t te g e m a c h t , als er w iede r s t ehenb l i eb . Keine zehn Meter von ihm ent fern t s t a n d e n zwei J u n g e n in ungefähr s e inem Alter. Sie b e o b a c h t e t e n ihn s t u m m und reglos . Wahrscheinlich w a r e n es ihre Blicke g e w e s e n , die er g e s p ü r t h a t t e . Wie lange sie wohl schon dort s t a n d e n ? Was woll ten s ie?

Keiner der J u n g e n rühr te sich, als Neil n ä h e r k a m . Der g rößere h a t t e dunkles Haar, kräftige A u g e n b r a u e n und wi rk te i n s g e s a m t

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s c h w a m m i g , wie j e m a n d , der zuwenig B e w e g u n g ha t . Seine küh­len, g rünen Augen ze ig ten einen gleichgült igen, überhebl ichen Ausdruck und g a b e n Neil da s Gefühl, wie ein Insek t un te r der Lupe b e t r a c h t e t zu w e r d e n . Oder wie ein Schmet te r l ing an der Nadel. Ein Bazillus un t e r dem Mikroskop.

Der a n d e r e J u n g e w a r blond und von d r a h t i g e m Körperbau . Seine blauen Augen blickten freundlich, und um se inen Mund zuckte es kaum merklich, so als s t r ä u b t e n sich se ine Gesichts¬ muskeln g e g e n den Erns t und w a r t e t e n darauf, j e d e n Augenblick ein Lächeln he rvorzubr ingen .

Der e r n s t e A u s d r u c k blieb zwar, aber er w a r der e r s t e , der e t w a s s a g t e , als Neil bei ihnen s t ehenb l i eb .

„Hat J e r e m y Pimm dich e i n g e l a d e n ? " fragte er und d e u t e t e auf das S t e i n h a u s . Seine S t imme enthiel t keine Spur von Freundlich¬ keit.

„Seid ihr se ine Le ibwäch te r oder s o ? " k o n t e r t e Neil. Endlich s i eg te doch das Lächeln bei dem Blonden, aber es w a r

nicht so herzlich, wie Neil gehofft h a t t e . „So ungefähr" , s a g t e der Dunke lhaar ige . „Wir p a s e n hier auf.

B e s o n d e r s auf Typen, die herumschnüffe ln , wo sie n ichts zu suchen haben . "

„Es sei denn, du willst J e r e m y Pimm b e s u c h e n . " Der blonde J u n g e v e r b e u g t e sich spö t t i s ch , so als wolle er Neil in das Stein¬ haus einladen. „In dem Falle bist du uns wi l lkommen."

„Ich will nicht zu J e r e m y Pimm", s a g t e Neil. „Ich heiße Neil Youngwer th , und ich bin g e s t e r n e rs t in das Haus der Whit ings an der Old Mill Road e ingezogen ."

„Warum h a s t du das nicht gleich g e s a g t ? " fragte der Blonde. Diesmal w a r sein Lächeln wirklich freundlich. „Ich bin M a t t h e w Crawford, und der da ist Dick Risley. Wir w o h n e n in der Grey Rocks Road, direkt hinter euch . Und w a s m a c h s t du h ier?"

„Nichts B e s o n d e r e s . Ich h a b e mich nur in der Gegend umge¬ s e h e n . „Ich woll te w i s s e n , ob hier noch m e h r Leu te w o h n e n . J u n g e , d i e ses Haus da h a t ' s in sich."

M a t t h e w lächel te ihm w i e d e r zu. „So? Na w a r t e , bis du e r s t J e r e m y Pimm k e n n e n g e l e r n t has t . "

Er warf den Kopf in den Nacken und lachte über se inen e igenen Witz, aber Dick b r a c h t e ihn mit scharfen Wor ten zum Schweigen .

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„Jeremy Pimm ist schon in Ordnung ." Plötzlich schien eine S p a n n u n g zwischen den beiden J u n g e n zu

e n t s t e h e n . Eine P a u s e t r a t ein, ein Innehal ten, dann zuck te Mat¬ t h e w mit den Schul tern. Er w a n d t e sich Neil zu und s a g t e : „Komm, Neil. Wir gehen z u s a m m e n zur S t raße zurück."

Neil nickte und folgte den J u n g e n . Er fragte sich, w a s diese beiden wohl bei dem alten S t e i n h a u s g e m a c h t h a t t e n , w e r Jere¬ my Pimm w a r und w a s M a t t h e w an ihm nicht p a ß t e .

Neil seufz te und warf einen Blick auf M a t t h e w und Dick, die sich vor ihm durch das Unterholz zur S t raße h indurchkämpf ten . Sie sch ienen ganz in Ordnung zu sein. M a t t h e w z u m i n d e s t . Bei Dick wa r er sich noch nicht so ganz sicher. Aber sie w a r e n eben nicht Henry und Alan und w ü r d e n ihm die al ten F reunde nicht e r s e t z e n können .

Dick k e u c h t e , als sie über die le tz ten Dornen ranken s t iegen , und kleine Schweißper len s t a n d e n auf se iner Oberl ippe. Im Schat¬ ten des S t r a ß e n r a n d e s blieb er s t e h e n und w a r t e t e auf die an¬ deren . Neil w a r der letzte , der aus dem kühlen S c h a t t e n des Waldes ins heiße Sonnenl icht h inaus t r a t .

„Das wird ein brüllend heißer Tag h e u t e " , s a g t e Ma t thew. „Viel¬ leicht sollten wir un t en an der al ten Mühle s c h w i m m e n gehen . " Als er sah, wie Dicks Gesicht sich ver f ins te r te , fügte er hinzu: „Das ist nicht auf J e r e m y P imms Besitz ."

„Ich weiß nicht", me in te Neil zögernd . „Ich muß eigentlich nach Hause , meine Sachen a u s p a c k e n und mein Zimmer einrichten."

M a t t h e w hob die Schul tern. , ,Na, dann eben ein a n d e r e s Mal." Dick knur r t e Neil zum Abschied e t w a s zu, w a s Neil kaum hör te ,

und dann bogen die beiden J u n g e n in eine S e i t e n s t r a ß e ein, die er bisher noch nicht b e m e r k t h a t t e . M a t t h e w s c h l e n d e r t e mi t t en auf der S t raße dahin und zog eine S t aubwolke hinter sich her, w ä h r e n d Dick sich am Rande im S c h a t t e n hielt. Die zwei sind so ve r sch ieden wie Tag und Nacht, d a c h t e Neil auf dem He imweg . Wieso die wohl mi te inander be f reunde t s ind?

Neil w a r immer noch in G e d a n k e n v e r s u n k e n , als er die Zufahrt erre ichte , w u r d e aber im n ä c h s t e n M o m e n t au fgeschreck t . Auf

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der Veranda vor d e m Haus s t a n d se ine Mutter , die F ä u s t e in die Hüften g e s t e m m t . Sie sah m ü d e aus , wie ein General nach einer e rb i t t e r ten Schlacht , aber ihre S t imme w a r kräftig und gebiete¬ risch.

„Wo zum Kuckuck h a s t du g e s t e c k t ? Du h a s t noch nicht einmal mit dem A u s p a c k e n a n g e f a n g e n . Du g laubs t wohl , w e n n du dich lange g e n u g drücks t , erledigt das j e m a n d a n d e r s für d ich?"

Neil d r ä n g t e sich an ihr vorbei und s t ieg die T reppe hinauf. Er h a t t e keine Lust, sein Z immer in Ordnung zu br ingen, und noch viel w e n i g e r woll te er, daß j e m a n d a n d e r s es für ihn t a t . I rgendwie h a t t e er da s Gefühl, daß der Umzug dann so endgül t ig , so un¬ widerruflich w ä r e .

Am Kopf der Treppe w a n d t e er sich um und blickte h inunte r zu seiner Mutter . Wie k o n n t e er ihr begreiflich m a c h e n , w a s er fühl¬ t e ? Ihr Ärger w a r ein bißchen ve r r auch t , sie ließ die Arme nun locker hängen , doch ihr G e s i c h t s a u s d r u c k w a r noch immer ent¬ sch lossen . Neil ging in sein Zimmer. Es w a r s innlos . Die F ron ten s t a n d e n fest .

„Wir e s s e n draußen auf der T e r r a s s e " , künd ig t e Mrs. Young-w e r t h s p ä t e r an, als die Familie sich zu e inem frühen A b e n d b r o t in der Küche einfand.

Neil w u ß t e , w a s sie dami t b e z w e c k t e — sie woll te ihrer Familie wieder einmal die Vorzüge der Natur vor Augen führen. Seine Eltern h a t t e n sich j e d e erdenkl iche Mühe g e g e b e n , um Neil dafür zu g e w i n n e n .

„Da!" schrie Christie, se ine vierzehnjährige S c h w e s t e r . „Ein Ka­ninchen! Habt ihr 's g e s e h e n ? Da drüben!"

„Na also", m u r m e l t e Neil. „Dann mal los, ihr Mücken . Wir kom¬ men."

„Was h a s t du g e s a g t , S c h a t z ? " fragte se ine Mutter . „Ach, n ich ts . " Neil n a h m den Krug mit Eis tee und folgte ihr nach

draußen . „Ich hab mich nur gefragt, ob es hier d raußen wohl Mücken gibt. Hey, Christie! Wo ist da s K a n i n c h e n ? "

„Jetzt ist es w e g , da d rüben in das Z e d e r g e b ü s c h gehoppe l t . Da ha t es b s t i m m t se inen Bau."

„Das glaube ich auch", s a g t e Mrs . Y o u n g w e r t h . „Gebt es zu, es m a c h t doch Spaß, wi ld lebende Tiere im Gar ten zu haben . "

Sie ha t es t a t säch l i ch geschafft , d a c h t e Neil. Sie ha t Christie auf

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ihre Seite gezogen . Aber bei mir hat sie keine Chance . Nach dem Essen legte Mr. Y o u n g w e r t h Neil den Arm um die

Schul tern, „ich hab mir s a g e n lassen, es gibt hier in der Gegend ein ganz ungewöhn l i ches a l tes Haus aus Naturs te in , und das w ü r d e ich gern fotografieren, so lange es noch hell g e n u n g ist. Ich glaube, um diese Tagesze i t sind die S c h a t t e n b e s o n d e r s gu t für eine Studie . Hast du Lust, Max zu holen und m i t z u k o m m e n ? "

Neil zog die Stirn k r a u s . J e r e m y P imms Haus w a r aus Natur¬ stein, und es war m e h r als nur ungewöhnl ich . Meinte sein Vate r das e t w a ?

„Man kann auch mit dem Auto h i n f a h r e n " , s a g t e Mr. Young-wer th , „aber das b e d e u t e t einen U m w e g über Whipst ick Road und einen schmalen P r iva tweg . Der k ü r z e s t e Weg ist zu Fuß durch den Wald am Ende u n s e r e r S t raße ."

Jawohl , er me in te J e r e m y P imms Haus . Neil nickte und hol te Max' Leine aus dem Schrank im Flur. Schon kam Max von se inem kühlen Schlafplätzchen u n t e r denn Wohnz immersofa hervorge¬ s c h o s s e n .

Max w a r ein Widerspruch in sich mit g o l d b r a u n e m Fell. Sie h a t t e n die Hündin Max g e n a n n t , weil Neil und se ine S c h w e s t e r vor elf J a h r e n b e s c h l o s s e n h a t t e n , daß ihr Hund ein Rüde war . Seine Mut te r w a r ein re in rass iger Dachshund g e w e s e n , sein Va¬ ter ein Cocker. Max' Bauch w a r l anggezogen und d u r c h h ä n g e n d und se ine Beine viel zu kurz für einen Cocker. Aber Max w a r eine gu te Hündin und das einzige Familienmitglied, dem Neil sich zur Zeit wirklich v e r b u n d e n fühlte.

Neil und sein Vater g ingen s c h w e i g e n d die lange L a n d s t r a ß e ent¬ lang, die in südlicher Richtung zur H a u p t s t r a ß e führte . Zu beiden Seiten e rhob sich dunkler Wald, und nur zwei w e i t e r e Zufahr ten schn i t t en schmale Schne i sen in den B a u m b e s t a n d . Die Häuse r lagen, wie das Haus der Y o u n g w e r t h s , tief im Wald und w a r e n von der S t raße aus nicht zu s e h e n .

J e t z t n ä h e r t e n sie sich dem Ende der S t raße . R e c h t s bog der Weg ab, den M a t t h e w und Dick am Morgen g e g a n g e n w a r e n . Er lag v e r l a s s e n im S c h a t t e n des S p ä t n a c h m i t t a g s da. Neil lös te Max' Leine vom Halsband, dami t der kleine Hund u m h e r s t r e u n e n konn te , und ließ seinen Vater v o r a n g e h e n .

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Durch lichtes Unterholz am S t r aßen rand d r a n g e n sie in den tiefen Wald ein, wo das Laubdach so plötzlich wie ein aufziehen¬ des Gewi t te r die Sonne v e r d u n k e l t e . Trotz der f euch ten Kühle begann Neil zu schwi tzen .

Ganz unvermi t t e l t t a u c h t e das S t e i n h a u s in ihrem Blickfeld auf. Doch bevor Neil es g e n a u e r ins Auge f a s sen k o n n t e , zog ein Schwarm von zwanzig oder dreißig Amseln se ine Aufmerksam¬ keit auf sich. Leicht und still wie ein Frühl ingsregen ließen sie sich auf dem Boden und in den B ä u m e n nieder. Sein Vater h a t t e sie ebenfalls b e m e r k t und blieb s t e h e n . Alles um sie he rum w ar still, w ä h r e n d die Vögel ihre du rchd r ingenden s c h w a r z e n Augen auf die Eindringlinge r ich te ten . Dann, ohne j e d e Vorwarnung , s c h w ä r m t e n sie aus , k r ächz t en und k re i sch ten wie Hexen und waren so rasch v e r s c h w u n d e n , wie sie g e k o m m e n w a r e n .

Neil s c h a u d e r t e , als der le tz te Vogel fort w a r und das Geschrei in der Ferne verhal l te .

„Wahrscheinlich sind wir in ihr Revier e inged rungen" , s a g t e sein Vater. „Schließlich s t e h t d i e ses Haus schon seit J a h r e n leer/ 1

„Leer?" w iede rho l t e Neil. „Das s i ehs t du doch se lbs t . Es ist völlig h e r u n t e r g e k o m m e n .

Früher muß es mal ein tol les G e b ä u d e g e w e s e n sein." Während sein Vater r e d e t e , d r eh t e sich Neil in e r s t a u n t e m

Schweigen zu dem Haus um. Ein Teil des D a c h e s w a r vol lkommen e inges tü rz t und b e s t a n d nur noch aus e inem klaffenden Loch. Nur w e n i g e Mauern s t a n d e n noch. Die Türme w a r e n noch da, aber in den Fens t e rn w a r e n nicht einmal mehr Glasspli t ter zu sehen .

Neil s c h a u t e se inen Vater an, der g e r a d e das K a m e r a s t a t i v aufstellte, und dann w i e d e r das Haus . Hab ich mir das h e u t e

morgen nur e ingebi lde t? fragte er sich. Er h a t t e doch ein Haus g e s e h e n , das to ta l in Ordnung war . Nein, das m u ß t e er sich einge¬ bildet haben . Wahrscheinl ich w a r e n se ine Nerven im M o m e n t überreizt . Das Haus w a r verfallen, und es gab auch keinen Jere¬ my Pimm.

Aber da w a r e n doch auch noch M a t t h e w und Dick g e w e s e n , die ihm von J e r e m y Pimm erzähl t h a t t e n . Neil schloß die Augen und holte tief Luft. War das mögl ich? Ha t t e er sich die beiden denn auch nur e ingebi lde t?

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2. KAPITEL

Christie t u r n t e auf dem Rasen , als Neil und sein Vater wenig s p ä t e r h e i m k a m e n . Sowie sie sie k o m m e n sah, r a n n t e sie auf sie zu und rief aufgeregt : „Weißt du w a s , Neil? Ra te mal!"

„Was d e n n ? " fragte Neil nur wen ig in te ress ie r t . In Gedanken war er noch immer bei dem geheimnisvol len, verfallenen Haus und den S t re ichen — w e n n es we l che w a r e n —, die sein Ver s t and ihm offenbar spiel te .

„Rate!" forder te sie ihn h e r a u s . „Ich weiß es nicht. Sag schon" , seufzte Neil gene rv t . „Henry hat angerufen . Sein Vater kann dich am Frei tag auf dem

Rückweg von seiner Geschäf t s re i se hier abholen und dich am Montag morgen auch wiede r nach Hause br ingen. Du sollst ihn zurückrufen und ihm sagen , ob du darfst ."

Im e r s t en Augenblick k o n n t e Neil es nicht g lauben. Henrys Vater kam durch seine Arbeit ziemlich viel in Connec t icu t he rum, und die J u n g e n h a t t e n a b g e m a c h t , daß Henry sich größte Mühe geben sollte, auf se inen Vater e inzuwirken, dami t sie sich so oft wie möglich s e h e n k o n n t e n . Wann immer Mr. Ward auf se inem Heimweg in der Nähe von Winton vorbe ikam, sollte er Neil ab¬ holen. Neil h ä t t e sich nie t r ä u m e n lassen , daß es schon so bald sein soll te.

„Yippiiie!" j u b e l t e er. „Frag lieber e r s t deine Mutter" , warf Mr. Y o u n g w e r t h rasch ein.

„Du weiß t j a , sie hat das K o m m a n d o bei u n s e r e m Umzug, und vielleicht ha t sie dir am W o c h e n e n d e schon eine a n d e r e Aufgabe zugedach t . "

Neil zog den Kopf ein. Er h a t t e sein Zimmer noch immer nicht e ingeräumt , und w e n n sie das erfuhr, w ä r e sie sauer , vielleicht

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sogar so sauer , daß sie ihn nicht nach Fairhaven fahren ließ. Mrs. Y o u n g w e r t h p a c k t e Geschirr aus , als Neil ins Zimmer kam. „Ich hab mein Zimmer bis Frei tag fertig. Das v e r s p r e c h e ich dir.

Und ich helfe dir, w e n n du mich b r auchs t " , v e r s p r a c h Neil, nach¬ dem er ihr von dem Anruf erzählt h a t t e .

Sie a n t w o r t e t e nicht sofort, und Neil s u c h t e g e s p a n n t nach A n h a l t s p u n k t e n in ihrem Gesicht . Z u m i n d e s t sah sie nicht s a u e r aus .

„Du sol l tes t dir mehr Mühe geben , hier n e u e F reunde zu fin¬ den", s a g t e sie l a n g s a m .

„Ich w e r d e hier schon F r e u n d e finden", s a g t e er. „Was hat da s mit m e i n e m B e s u c h bei Henry und Alan zu t u n ? "

Seine Mut te r seufz te . „Nichts, g laube ich, so l ange du dich hier ein bißchen a n s t r e n g s t . "

„Heißt d a s , ich darf f a h r e n ? " „Meine twegen . Aber nur, w e n n du dein Z immer vorher ein¬

räumst . " Während der n ä c h s t e n zwei Tage w a r e n Neils G e d a n k e n stän¬

dig bei s e inem Besuch in Fairhaven und se inen F reunden . Das s e l t s a m e S t e i n h a u s ve rgaß er fas t völlig, und w e n n ihm M a t t h e w und Dick ü b e r h a u p t einmal in den Sinn k a m e n , s c h o b er die Ge¬ danken einfach be i se i t e .

Am Frei tag w a r Neils Z immer ordentl ich au fge räumt , und er lief unruhig auf und ab, bis er den g rünen Lieferwagen der Wards in der Einfahrt erbl ickte. Die Fahrt nach Fairhaven d a u e r t e eine Ewigkei t . Mr. Ward wa r nie sehr gesp räch ig , und Neil h a t t e das Gefühl, daß er es ein bißchen lächerlich fand, daß Neil schon eine Woche nach dem Umzug se ine al ten F reunde b e s u c h e n woll te .

Neil lächel te still. Was Mr. Ward d a c h t e , w a r völlig gleichgültig, so lange er nur m i t m a c h t e . Neil b e t r a c h t e t e die mit t lerweile schon v e r t r a u t e Gegend . Die h ü b s c h e n Häuser im Kolonialstil auf ihren winzigen G r u n d s t ü c k e n w a r e n ihm ein wi l lkommener Anblick. Als sie in se inen früheren Stadt te i l k a m e n , hob sich Neils Laune, doch sowie dann sein f rüheres Z u h a u s e ins Blickfeld kam, wollte sein Herz s t ehenb l e iben . Ein f r emdes Mädchen saß auf der Treppe

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und spielte mit e inem zot±e!igen s c h w a r z e n Hund. Neil s c h a u t e rasch w e g . Er wollte j e t z t nicht an die neuen B e w o h n e r denken . Er woll te nur an sein W o c h e n e n d e mit Henry und Alan denken .

Alan durfte auch bei Henry ü b e r n a c h t e n , und in den e r s t en S tunden w a r alles wie immer. Das A b e n d e s s e n bei den Wards , als die s ieben Kinder sich w e g e n e ines Nachsch lags zank ten , s o r g t e für eine herzerf r i schende Mischung aus Chaos und ausgelas¬ s e n e m Lachen. Danach v e r s a m m e l t e n sich die J u n g e n aus der Nachbarschaf t , um in der S a c k g a s s e un te r den S t r a ß e n l a t e r n e n Fußball zu spielen, bis die Mücken sie ins Haus t r i eben . Neil ve rgaß be inahe , daß er nur zu Besuch war . Erst später , in Henrys Zimmer, w u r d e ihm wieder bewuß t , wie die Dinge s t a n d e n .

„Es ist so schön, wiede r hier zu sein", s a g t e er. „Fast so, als w ä r e ich nie u m g e z o g e n . "

„Ja", s t i m m t e Alan zu, „fast wie in den Ferien in Cape Cod letzten Sommer ."

Der S o n n t a g a b e n d kam viel zu schnell . Die J u n g e n w a r e n sehr still, als sie zu Bet t gingen. N a c h d e m das Licht a u s g e s c h a l t e t war, s t a r r t e Neil in die Dunkelheit und v e r s u c h t e , w a c h zu bleiben. D e n n ' w e n n er einschliefe, w ä r e der Morgen im H a n d u m d r e h e n da, und er müß te wiede r zurück nach Winton.

„Hey, J u n g s " , f lüs ter te er. „Seid ihr noch w a c h ? " Die beiden bejahten in der Dunkelheit . „Ich rede mit meinen Eltern und frage, ob ihr am k o m m e n d e n

W o c h e n e n d e zu uns h i n a u s k o m m e n könnt . Da g ib t ' s zwar nicht viel zu tun, aber wir können die Gegend e rkunden . "

„Glaubst du, daß sie es e r l a u b e n ? " fragte Alan. „Ich weiß nicht, aber drückt mir die Daumen." Bald darauf s c h n a r c h t e n Henry und Alan leise. Neil kroch aus

se inem Schlafsack und schlich auf Zehensp i t zen zum Fenster . Von dort aus konn t e er da s F e n s t e r se ines früheren Z immers sehen . Er lehnte sich an den R a h m e n und d a c h t e daran , wie er und Henry Zeichen mit der T a s c h e n l a m p e ve re inba r t ha t t en , als sie noch klein w a r e n . Abend für Abend w a r e n sie zum Fens t e r geschl ichen, w e n n sie eigentlich schon h ä t t e n schlafen sollen, und h a t t e n so ge tan , als ob sie sich von Kriegsschiffen aus Sig¬ nale gaben . Später, als sie älter w u r d e n , v e r g a ß e n sie d i e ses Spiel und b e n u t z t e n die T a s c h e n l a m p e n , um sich wich t ige Botschaf-

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ten zu übermi t t e ln . Neil sah über den m o n d b e s c h i e n e n e n R a s e n zu se inem alten

Haus und dem Fenster , wo er so oft g e s e s s e n h a t t e . Aber an diesem Abend blieb das F e n s t e r dunkel .

Die Rückfahrt nach Winton am n ä c h s t e n Morgen verlief noch stiller als die Fahrt nach Fairhaven am Frei tag n a c h m i t t a g . Dies¬ mal, das w u ß t e Neil, w a r nicht Mr. Ward schuld an dem aus¬ g e d e h n t e n Schwe igen . Neil s e lbs t w a r schuld — und ein Gefühl, das er nicht recht e inordnen k o n n t e . So gern er auch gebl ieben wäre — er w a r doch be inahe froh, w iede r fort zu sein. Immerhin konnte er sich auf das n ä c h s t e W o c h e n e n d e freuen, w e n n Henry und Alan zu ihm k ä m e n .

Seine Eltern s aßen noch am F rühs tücks t i s ch , als er eintraf. Seine S c h w e s t e r w a r n i rgends zu s e h e n .

,,Tag, mein J u n g e . Wie w a r dein W o c h e n e n d e ? " b e g r ü ß t e ihn sein Vater. „Ist alles noch beim Alten in u n s e r e r Nachba r scha f t ? "

„Ja, es war to l l ! " „Zuerst w a r es mir ja nicht recht , daß du so rasch schon nach

Fairhaven zurückgefahren bist", s a g t e seine Mut t e . „Aber j e t z t bin ich froh, daß du es hinter dir has t . J e t z t k a n n s t du dich hier um neue F reunde k ü m m e r n . Christie ha t schon ein Mädchen kennen¬ gelernt ."

Neils Herz w u r d e s c h w e r wie ein Stein. Er w u ß t e , daß es nicht der richtige Ze i tpunk t war, aber er m u ß t e t r o t z d e m fragen. „Was meint ihr, können Henry und Alan am n ä c h s t e n W o c h e n e n d e h e r k o m m e n ? "

Seine Eltern reag ie r t en g e n a u s o , wie Neil es sich vorges te l l t h a t t e . Das Gesicht se iner Mut t e r v e r d ü s t e r t e sich, und sein Vater sah ihn nicht an.

„Sie wollen se lbs t s ehen , wie es hier so ist. Ich hab ihnen so viel davon erzählt" , log er.

Mr. Y o u n g w e r t h seufz te schwer , so als w ä r e er schrecklich m ü d e , und s c h a u t e se inen Sohn an. „Neil, ich weiß , daß du noch einige Zeit b r auchs t , um dich an den Umzug zu g e w ö h n e n , und daß du deine alten F reunde vermißt ."

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Wenn das keine Unte r t r e ibung ist, d a c h t e Neil. Er sah w e d e r se inen Vater noch seine Mut te r an. S ta t t d e s s e n b e o b a c h t e t e e r eine Fliege auf einem Tropfen v e r g o s s e n e r Milch am Boden und m a c h t e sich auf die S t a n d p a u k e gefaßt, die j e t z t unweigerl ich k o m m e n m u ß t e .

„Du mußt dich damit abfinden, daß wir j e t z t in Winton leben und nicht w i e d e r nach Fairhaven zu rückkehren w e r d e n " , s a g t e sein Vater. „Dieser Umzug ist endgült ig , eine unums töß l i che Tatsa¬ che, aber g laube mir, es ist das B e s t e so . Je länger du dich we ige r s t , dich damit abzufinden, d e s t o länger wi r s t du unglück¬ lich sein."

Neil biß sich auf die Unterl ippe. „Heißt das , sie dürfen nicht k o m m e n ? "

„Nicht schon n ä c h s t e s W o c h e n e n d e " , en t sch ied se ine Mutter . „In ein paa r Wochen w ü r d e n wir uns über ihren Besuch freuen, aber es ist doch Unsinn, w e n n ihr an j e d e m W o c h e n e n d e hin- und herpendel t . "

Neil s p r a n g auf und lief aus der Küche, in ein paar W o c h e n ? Das wa r eine halbe Ewigkeit . Und wie k o n n t e n se ine Eltern behaup¬ ten, daß es Unsinn w ä r e ? Es h a t t e auf j e d e n Fall meh r Sinn als der Umzug nach Winton ü b e r h a u p t . Aber w a s m a c h t e das j e t z t noch a u s ? Er g e h ö r t e einfach n i rgends mehr hin.

Neil lief, so schnell er k o n n t e , ohne darauf zu ach ten , wohin . Er wa r sich nur se ines S c h a t t e n s vor sich auf der S t raße b e w u ß t . Bald t a u c h t e er im Wald unter, und wen ig s p ä t e r blieb er keu¬ chend s t e h e n und b e m e r k t e e rs t j e t z t , wohin e r g e r a n n t war .

Er hob den Blick nicht sofort zum alten S t e i n h a u s . Ihn beschlich das Gefühl, daß er bere i t s w u ß t e , w a s er dor t s e h e n w ü r d e . Es wa r s c h w e r zu erklären, aber das Gefühl w a r da, e indeut ig .

Schließlich sah er auf und ließ den Blick an den völlig in tak ten Mauern hinauf w a n d e r n , über die Fenster , deren Scheiben im Son¬ nenlicht blitzten, und hinauf zum Dach, auf dem nicht ein einziger Dachziegel fehlte.

Aufmerksam b e t r a c h t e t e e r das große F e n s t e r neben der Haustür. Durch die g e p u t z t e n Scheiben e r k a n n t e er s c h w e r e Vor¬ hänge , fest z u g e z o g e n wie zuvor. Während er noch s c h a u t e , be¬ w e g t e n sie sich und tei l ten sich leicht in der Mitte. Zuer s t schien

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dahin ter nur Dunkelheit zu he r r schen , doch allmählich e r k a n n t e Neil ein Augenpaar , da s wie S c h w e r t s p i t z e n gli tzerte und ihn so festhielt, daß er den Blick nicht lösen k o n n t e .

Neil s t a r r t e wie hypnot i s ie r t zurück. Zum e r s t e n m a l w a r er ganz sicher, daß es d i e ses S t e i n h a u s wirklich gab und daß J e r e m y Pimm darin leb te . E t w a s h a t t e ihn h ierhergelockt , eine Kraft, die er sich nicht erklären k o n n t e . Und j e t z t ließen ihn J e r e m y P imms Augen nicht mehr los. Aber w a r u m ? Was woll te er?

Neil n a h m all se ine Kraft z u s a m m e n und riß sich los, w e h r t e sich gegen diese Macht, die ihn festhielt und s t o l p e r t e durch den Wald zurück. Als er die S t raße e r re ich te , die im heftigen Sonnenl icht dalag, blieb er s t e h e n und s e t z t e sich auf einen Baumstumpf . Links von ihm lag die S t raße , die M a t t h e w und Dick g e g a n g e n w a r e n . Einen M a t t h e w Crawford und einen Dick Risley gab es wirklich. Er h a t t e sie sich nicht eingebildet , e b e n s o w e n i g wie das S t e inhaus . Das w u ß t e e r j e t z t .

Aber w a s w a r los mit dem S t e i n h a u s ? Wie k o n n t e es gleich¬ zeitig ein vol ls tändig i n t a k t e s G e b ä u d e und eine zerfallen Ruine se in? Das w a r nicht möglich! Aber es w a r so . Wieder ü b e r k a m Neil die Angst , die ihn schon vor w e n i g e n Augenbl icken beim Anblick des H a u s e s g e p a c k t h a t t e . Er b e g a n n zu zi t tern.

Ich muß mich zusammenreißen, sagte er sich. Schließlich gibt es viele Dinge im Leben, die sich nicht erklären l a s sen . Zum Beispiel Telepathie und Po l te rge i s te r und Hellseher, die aus einer Ent¬ fernung von 500 Kilometern Leichen finden. Warum sollte sich das alte Haus dann nicht ganz von allein v e r ä n d e r n k ö n n e n ? Weil es eben nicht geht , d e s w e g e n , s a g t e er sich. Aber w e n n es doch gehen sollte, m ü ß t e n M a t t h e w und Dick d a r ü b e r Bescheid wis¬

sen. Neil s p r a n g auf. Er woll te zur Grey Rocks Road und mit Mat¬

t h e w und Dick reden . Das w ü r d e ihm wei te rhe l fen . „Risley oder Crawford, Risley oder Crawford", f lüs ter te er un¬

u n t e r b r o c h e n vor sich hin. Er ging die ganze S t raße h inunte r und w i e d e r zurück, aber ohne

Erfolg. Nur e t w a die Hälfte der Briefkästen w a r e n mit Namen v e r s e h e n , doch die beiden, die er s u c h t e , fand er nicht. In einer Zufahrt e n t d e c k t e er ein Fahrrad, das a u s s a h wie Christ ies, aber er w a r nicht ganz sicher. Seine Mut te r h a t t e ihm erzählt , daß

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Christie eine Freundin gefunden h a t t e . Vielleicht sollte er an¬ klopfen und s agen , daß er sie s p r e c h e n woll te , und w e n n sie es wirklich wa r und die Leute ne t t wi rk ten , k o n n t e er fragen, wo die Risleys und die Crawfords w o h n t e n . Aber er m o c h t e nicht bei fremden Leuten eindringen. Also blieb ihm nichts a n d e r e s übrig, als nach Hause zu gehen .

Neil hör te das Klappern einer Sch re ibmasch ine , als er ins Haus kam. Seit dem Umzug, h a t t e n se ine Eltern fast täglich an ihren Büchern gea rbe i t e t , im n e u e n Haus h a t t e n sie ein Arbe i t sz immer neben dem Wohnraum, wo sie u n g e s t ö r t schre iben k o n n t e n . In Fairhaven d a g e g e n s t and ihnen nur eine Ecke im überfüllten Schlafzimmer zur Verfügung. Im Flur h a t t e n die A k t e n s c h r ä n k e g e s t a n d e n , und fast immer b e d e c k t e n N a c h s c h l a g w e r k e den Eßtisch. Tief im Innern w u ß t e Neil, daß der Umzug nach Winton das Richtige für sie war. Aber w a s w a r mit ihm? Zählte er denn gar nicht?

Er zog das Telefonbuch aus der Schre ib t i s chschub lade und schlug die Sei ten un te r „C" auf. Er h a t t e schon die Spal te mit „Cr" gefunden, als er se inen Vater die Kel ler t reppe h o c h k o m m e n hör¬ te.

„Hey, Neil. Schau dir das mal an." Mr. Y o u n g w e r t h re ichte sei­nem Sohn eine Handvoll frisch en twicke l t e r Fo tos . „Diese Auf¬ n a h m e n hab ich neulich bei dem alten S t e inhaus g e m a c h t . End¬ lich h a t t e ich mal Zeit, sie zu en twickeln . Sind sie nicht toll?"

Neil legte das Telefonbuch auf den Schreibt isch. Er h a t t e nicht die ge r ings te Lust, sich die Fo tos a n z u s c h a u e n , schon gar nicht, w e n n sie nur eine verfallene Ruine zeigten, aber ihm blieb n ichts a n d e r e s übrig. Er n a h m die Bilder und b re i t e te sie auf dem Kü¬ chent i sch a u s . Sie w a r e n wirklich gut, und sie ze ig ten das Haus so, wie er und sein Vater es g e s e h e n h a t t e n . Neil h a t t e n ichts a n d e r e s e r w a r t e t .

„Wirklich, Dad. Die sind Spitze. ' 6

Das Klappern der Sch re ibmasch ine hör te auf, und Neils Mut te r kam aus der Tür zum Arbei t sz immer . „Was g i b t ' s ? "

Mr. Youngwer th d e u t e t e auf die Fotos auf dem Tisch, und se ine Frau s t a u n t e , als sie sie e ines nach dem a n d e r e n b e t r a c h t e t e . „Himmel! Das ist vielleicht ein Haus! Du mußt es mir mal zeigen.

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Das w ä r e der per fek te Hintergrund für einen Gruse l roman." „Klar. Heu te n a c h m i t t a g g e h e ich zur Büchere i und s e h e nach,

ob ich dor t Informationen über das Haus finde. Komm doch mit, dann zeig ich es dir auf dem Heimweg ."

Neil h a t t e n sie offenbar ganz v e r g e s s e n , w ä h r e n d sie Pläne für den Nachmi t t ag m a c h t e n . Neil griff w i e d e r zum Telefonbuch und s u c h t e nach M a t t h e w Crawfords Nummer . In d e m alten Haus gingen s e l t s a m e Dinge vor sich, und er m u ß t e herausf inden , w a s es war.

„Hast du Lust, h e u t e n a c h m i t t a g m i t z u k o m m e n ? " fragte Mr. Yongwer th .

„Nein, danke , Dad. Ich hab neulich einen J u n g e n aus der Grey Rocks Road k e n n e n g e l e r n t . Den w e r d e ich mal anrufen."

Für einen Augenbl ick w a r e n se ine Eltern s p r a c h l o s . Neil w u ß t e , daß er sie ü b e r r a s c h t h a t t e . Dann legte se ine Mut te r ihm den Arm um die Schulter, lächelte und d rück te ihn an sich.

„Ich w u ß t e gar nicht, daß du schon K o n t a k t e geknüpf t has t , Neil. Und ich kann dir gar nicht s agen , wie froh ich bin, daß du dich w e n i g s t e n s b e m ü h s t . "

Neil hob den Blick nicht vom Telefonbuch. Z u n ä c h s t einmal sollte sie denken , w a s sie wol l te . Dann h a t t e er w e n i g s t e n s se ine Ruhe vor ihr.

„Ja", s a g t e er, n a h m den Hörer ab und w ä h l t e die Nummer . Seine Eltern s p r a c h e n bere i t s w iede r über Berufliches. Neil

l ausch te mit e inem Ohr in den Hörer und hör t e mit dem ande ren , wie sein Vate r ankünd ig t e , daß er vielleicht eine Fotoser ie von dem al ten Haus für eine Zeitschrift m a c h e n w e r d e .

Es klickte in der Leitung, und eine he i se re S t imme m e l d e t e sich. „Hallo."

„Hallo. Ich h ä t t e gern mit M a t t h e w Crawford g e s p r o c h e n . Hier ist Neil Youngwer th . "

„Hey, Neil. Wie g e h t ' s ? Ich bin 's se lbs t , M a t t h e w . " „Gut." Neil s tel l te plötzlich fest, daß er sich gar nicht über leg t

h a t t e , w a s er s a g e n woll te , falls M a t t h e w sich m e l d e t e . Eine peinliche P a u s e e n t s t a n d , und dann s a g t e M a t t h e w : „Chri¬

st ie ist bei u n s . Sie ha t sich mit meiner S c h w e s t e r angef reunde t . Komm doch auch her."

„Gern. Prima Idee. Ich bin gleich da", s a g t e Neil und woll te

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schon wiede r auflegen. „Hey, häng noch nicht auf! Wir w o h n e n in N u m m e r 58 ." „Danke. Bis gleich."

Neil w a r außer Atem, als er in der Grey Rocks Road das Haus mit der N u m m e r 59 er re ichte . Er w u ß t e immer noch nicht, wie er die Sprache auf J e r e m y Pimm und das alte Haus br ingen sollte. Es war nicht g e r a d e ein e infaches G e s p r ä c h s t h e m a . Er m u ß t e eben abwar t en , wie sich die Un te rha l tung en twicke l t e , und es zum richtigen Zei tpunkt a n s c h n e i d e n .

M a t t h e w e r w a r t e t e ihn mit e inem Basketbal l un t e r dem Arm vor dem Haus .

„Hast du Lust, ein paar Würfe zu p rob ie ren?" fragte er und zeigte auf den Korb an der Garage .

„Klar", a n t w o r t e t e Neil. M a t t h e w w a r ein paar Z e n t i m e t e r grö¬ ßer als er, aber Neil w u ß t e , daß er ziemlich gesch ick t w a r und ein recht g u t e s Spiel vor legen k o n n t e . Sie warfen eine Zeitlang Kör¬ be, bis die Hitze sie zum Kühlschrank tr ieb, wo sie sich eine Dose kalter Limonade holten. Damit ruh ten sie sich im S c h a t t e n e ines B a u m e s a u s .

„Ich d a c h t e , auf dem Lande w ä r e es kühler als in der S tadt" , s a g t e Neil und lachte . „Solchen Blödsinn h a b e n mir z u m i n d e s t meine Eltern erzählt, bevor wir u m g e z o g e n sind."

„Ja, j a . Das s a g e n sie alle", a n t w o r t e t e M a t t h e w . Er lachte ebenfalls, und Neil fühlte sich in se iner G e g e n w a r t wohl .

„Dir gefällt es hier nicht, s t i m m t ' s ? " fragte M a t t h e w . „Woher weiß t du d a s ? " fragte Neil zurück. „Ach, ich h a t t e nur so ein Gefühl, als Dick und ich dich neulich

bei J e r e m y P imms Haus getroffen haben . " Neil ve r sch luck te sich fast an se iner Cola. Das w a r die Gelegen¬

heit. M a t t h e w w a r se lbs t auf das T h ema zu s p r e c h e n gekom¬ men.

„Wo du g e r a d e von J e r e m y Pimm spr ichs t" , b e g a n n Neil lang¬ sam. „Ich woll te s o w i e s o mit dir über ihn und sein Haus reden . Es mach t mich i rgendwie neugier ig . Weißt du, wie er so ist, und ü b e r h a u p t . . . "

M a t t h e w m a c h t e ein e r s t a u n t e s Gesicht, und Neil w u ß t e im selben Augenblick, daß er um den heißen Brei h e r u m r e d e n w ü r d e .

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„Heißt das , du h a s t ihn noch nicht k e n n e n g e l e r n t ? " „Nein." „Das wi r s t du schon noch" ; s a g t e M a t t h e w und nickte l angsam

und nachdenkl ich mit dem Kopf. „Wir treffen ihn alle früher oder später ."

„Gut, aber . . . w a s ist mit dem Haus? ich meine . . . hm, es . . . v e r ä n d e r t sich."

Während Neil noch nach den r ich t igen Wor ten s u c h t e , w u r d e M a t t h e w s Gesicht ärgerlich und v e r s c h l o s s e n . „Hab ich nicht ge sag t , du wi r s t es schon noch e r fahren?" Dann w u r d e er rot und sah Neil plötzlich en t schu ld igend an. „Tut mir leid", s a g t e er. „Das k o m m t wohl von der Hitze."

Selbst w e n n die Mädchen nicht g e r a d e in d i e sem Augenblick h i n z u g e k o m m e n w ä r e n , h ä t t e die Un te rha l tung wohl ein Ende gehab t , das s p ü r t e Neil.

„Neil, das ist meine S c h w e s t e r Becca" , s a g t e M a t t h e w . „Das ist die Abkürzung für Rebecca , und sie glaubt , es klingt erwach¬ sene r als Becky."

Becca war ungefähr so groß wie Christie. Sie hatte langes b londes Haar, aber Neil h ä t t e nicht s a g e n können , ob sie hüsch w a r oder nicht, da sie ihrem Bruder g e r a d e die Zunge rauss t reck¬

te. „Hal lo", sagte Neil. Die Mädchen ve rzogen sich in den Gar ten , und Neil und Mat¬

t h e w r e d e t e n eine Weile über be lang lose Dinge und schlugen nach den Mücken. Während der Un te rha l tung a rbe i t e t e Neils Ver¬ s t and auf Hoch touren . Es blieb ihm nur noch e ines übrig.

„Ich sollte j e t z t allmählich nach Hause gehen" , s a g t e er. „Danke für die Cola und alles. Du m u ß t d e m n ä c h s t zu uns zum Basketbal l ­spielen k o m m e n , sobald ich den Korb a n g e b r a c h t habe . "

„Okay. Bis dann." Neil t r o t t e t e die Auffahrt hinunter . In se iner Er innerung s p ü r t e

er immer noch die unwide r s t eh l i che Anziehungskraf t von J e r e m y P imms Blick, der ihn gleichzeitig ä n g s t i g t e und lockte . Er m u ß t e sich beeilen, w e n n er nicht den Mut verl ieren wol l te . Aber er w u ß t e , daß es nur einen M e n s c h e n gab , der ihm s a g e n k o n n t e , w a s e r so dr ingend w i s s e n woll te , und d ieser Mensch w a r J e r e m y Pimm se lbs t .

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3. KAPITEL

Neil beei l te sich, so sehr er k o n n t e , doch die Nachmi t t agsh i t ze m a c h t e ihn schlapp und m ü d e , und er w a r froh, als er den kühlen Scha t t en des Waldes erreicht h a t t e . Uns ich tbare Vögel kreisch¬ ten und s c h w a t z t e n mi t e inander auf den hohen Äs ten , und ein Eichhörnchen k reuz te se inen Weg und v e r s c h w a n d auf einem Baum. Sons t w a r alles ganz friedlich.

Er zweifelte keinen Augenblick daran , in w e l c h e m Z u s t a n d er das Haus vorfinden w ü r d e , und er n ä h e r t e sich ihm mit dem s e l t s a m e n Gefühl, e ingeladen w o r d e n zu sein, obwohl die massi¬ ven S t e i n m a u e r n und dunkel v e r h a n g e n e n F e n s t e r alles a n d e r e als freundlich a u s s a h e n . Er t r a t auf den s c h w a m m i g e n Moostep¬ pich vor der Haustür, griff w i d e r s t r e b e n d nach dem Türklopfer, und schon s c h w a n g die Tür auf, als h ä t t e drinnen j e m a n d nur auf sein Klopfen g e w a r t e t .

Ein j u n g e r Mann t r a t aus der Dunkelheit h e r a u s . Er k o n n t e nicht älter als zwanzig sein, h a t t e dunkles Haar und sah auffällig gut aus . Er t rug läss ige J e a n s und ein Baumwol lhemd . Mit e inem g w i n n e n d e n Lächeln s t r e c k t e er die Hand a u s .

„Tag, Neil. Ich bin J e r e m y Pimm." Für einen flüchtigen Augenblick d a c h t e Neil daran , daß er einen

alten, ve rhu tze l t en Mann e r w a r t e t h a t t e , in m o t t e n z e r f r e s s e n e m Pullover, mit Flicken an den Ellbogen, der sich zehn bis zwanzig Katzen hielt. Grinsend s c h ü t t e l t e e r J e r e m y s a u s g e s t r e c k t e Hand. Des sen Griff w a r fest, se ine Augen blickten freundlich. Er war Neil auf Anhieb s y m p a t h i s c h .

„Ich habe schon auf dich g e w a r t e t . Komm ins Haus , r aus aus der Hitze."

Neil schr i t t über die Schwelle in die große, d ä m m e r i g e Halle, in

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der eine erfr ischende Kühle h e r r s c h t e . J e r e m y Pimm lächelte l i ebenswürdig . „Komm hierher, wo wir

es uns gemütl ich m a c h e n und reden können . " Das Zimmer, das sie j e t z t b e t r a t e n , w a r sehr groß, und J e r e m y

z ü n d e t e eine Kerze auf e inem Tisch n a h e der Tür an. Neil s tel l te fest, daß es sich um ein Wohnz immer oder vie lmehr um eine Art Salon voller ant iker Möbel h a n d e l t e . J e r e m y forder te ihn auf, in e inem roten S a m t s e s s e l mit kunstvoll g e s c h n i t z t e r Lehne Platz zu n e h m e n , und z ü n d e t e noch m e h r Kerzen im ganzen Raum an.

Hier gibt es nicht einmal e lek t r i schen St rom, d a c h t e Neil. Natür¬ lich nicht, schien die A n t w o r t aus e inem a n d e r e n Teil s e ines Kop¬ fes zu k o m m e n .

„Ich bin froh, daß du dich diesmal en tsch l ießen k o n n t e s t , zu mir zu k o m m e n " , s a g t e J e r e m y . Er s e t z t e sich in einen Sesse l n e b e n Neil. „Keine Sorge . Hier bist du s t e t s wi l lkommen."

Neil h a t t e das Gefühl, als sei er in einen v e r r ü c k t e n Traum g e r a t e n . Er g laubte vo l l kommmen an d a s , w a s er sah und erleb¬ t e . Das Haus mit den Zimmern und Möbeln w a r Wirklichkeit, und auch J e r e m y Pimm w a r e indeut ig Wirklichkeit. Dennoch w u ß t e er, daß er und sein Vater das Haus als T rümmerhau fen g e s e h e n h a t t e n .

„Was ist das hier für ein H a u s ? Ich weiß gar nicht richtig, wo ich bin."

„Was g laubs t du denn, wo du b i s t ? " fragte J e r e m y leise. Neil s p ü r t e die E n t t ä u s c h u n g aufs te igen , „ich weiß es nicht!

Das ist doch verrückt!" J e r e m y s t ö r t e sich nicht an se inem Ausb ruch . „Dann darf ich

dich vielleicht fragen, w a r u m du dama l s an de inem e r s t e n Tag hierher g e k o m m e n b i s t ? "

„Ich wollte die Gegend erkunden", antwortete Neil, wußte aber im se lben Moment , daß er J e r e m y Pimm nichts v o r m a c h e n konn¬

te." „Warum bist du nun wirklich g e k o m m e n ? " Neil seufz te . Er m o c h t e nicht zugeben , daß er nur in d iese

Gegend g e r a t e n war, weil er sich elend fühlte und fort von se inen Eltern wol l te . A u ß e r d e m w a r er nur durch Zufall auf das Haus g e s t o ß e n . Er h a t t e ja nicht einmal gewuß t , daß es ex is t ie r te .

„Und wie w a r das beim n ä c h s t e n Mal?" fragte Je remy, als

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hä t t e er Neils Gedanken ge lesen . Neil woll te a n t w o r t e n , aber beim zwe i t enma l w a r es d a s s e l b e

g e w e s e n . Wut. Elend. E n t t ä u s c h u n g . Er m u ß t e i rgendwohin, wo er alles a n d e r e hinter sich l a s sen und n a c h d e n k e n k o n n t e . Sollte er e t w a glauben, daß es sich bei d i e sem Haus um einen solchen Zufluchtsort h a n d e l t e ? Die Vorste l lung w ü h l t e ihn auf, w e c k t e aber gleichzeitig einen a n g e n e h m auf regenden S c h a u e r in ihm. J e r e m y lächelte immer noch freundlich, aber se ine Augen schie¬ nen Neil mag i sch in ihren Bann zu ziehen und fes tzuha l t en .

„Hier bist du Welten ent fern t von allem Druck und G e m e c k e r deiner Eltern und aller ande ren , die dich im Leben b e v o r m u n d e n wollen. Hier darfs t du du se lbs t sein und denken , w a s du willst. Und das s u c h s t du doch, s t i m m t ' s ? "

Neil n ickte . Ihn ü b e r k a m eine Mischung aus e inem Gefühl des Friedens und der Erleichterung, und er h a t t e das Empfinden, als ob er aus e inem sehr unruhigen Schlaf hinübergli t t in einen ge¬ heimnisvollen, w u n d e r s c h ö n e n Traum. Wenn es auch noch so ver rück t war, w a r es doch das , w a s e r sich g e w ü n s c h t h a t t e .

„Was ist mit M a t t h e w Crawford und Dick Risley? K o m m e n sie auch h ie rher?"

J e r e m y n ickte . „Die zwei k o m m e n oft, und a u ß e r d e m noch einige Mädchen und J u n g e n . Du wi rs t sie schon früh g e n u g ken¬ nenlernen . Aber komm mit ans Fens ter . Ich m ö c h t e dir e t w a s zeigen."

Z u s a m m e n gingen sie zum Fenster , aber Neil hef te te se inen Blick auf J e r e m y Pimm.

„Hab keine Angs t vor dem, w a s d raußen ist. Nur zu. S c h a u ' s dir II

an." Neil blickte durch das Fens t e r auf den Wald und sah einen Mann

und eine Frau auf das Haus z u k o m m e n . „Meine Eltern!" entfuhr es ihm. „Sie k o m m e n hierher!" „Nicht hierher", s a g t e J e r e m y .

Neil sah sie n ä h e r k o m m e n . Seine Mut te r r e d e t e und ges t ikul ier te lebhaft mit den Armen, als ob sie g e r a d e erklär te , wie d iese Gegend in e ines ihrer Bücher p a s s e n w ü r d e . Mr. Y o u n g w e r t h blieb s t e h e n und m u s t e r t e das Haus nachdenkl ich, wie Neil es schon so oft g e s e h e n h a t t e , w e n n er Objekte b e t r a c h t e t e , die er

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fotografieren wol l te . Tief im Innern w u ß t e Neil, daß sie nicht da s gleiche Haus s ahen , in dem er sich j e t z t befand. Sie k a m e n nicht hierher, wie J e r e m y g e s a g t h a t t e , s o n d e r n n ä h e r t e n sich der verfallenen Ruine e ines H a u s e s .

Se l t sam, d a c h t e Neil. Als er noch klein war, h a t t e n sie ihm Märchen erzählt , vom W e i h n a c h t s m a n n , vom O s t e r h a s e n und von gu ten und bösen Feen. Und dann h a t t e n sie ihm all das wieder g e n o m m e n und woll ten, daß er e r w a c h s e n w u r d e . Und

j e t z t h a t t e e r J e r e rny Pimm gefunden, das b e s t e Märchen von allen. Ein Märchen, von dem sie nichts w u ß t e n , und das sie ihm auch nicht z e r s t ö r e n k o n n t e n .

Neil fühlte sich a n g e n e h m leicht und u n b e s c h w e r t . „Aber w a s ist mit mir? Mich können sie doch s icher s e h e n ? "

J e r e m y Pimm lächelte nur. Wie un te r e inem Schwindelgefühl s c h ü t t e l t e Neil den Kopf, als

ihm Worte in den Sinn k a m e n und un te r Lachen aus ihm hervor¬ sp rude l t en . „Phan tas t i s ch ! Das ist doch nicht möglich! Aber w e n s t ö r t ' s ? "

Draußen s e t z t e sich se ine Mut te r auf einen B a u m s t u m p f und schrieb Notizen auf ihren Block. Sein Vater überprüf te immer und immer wiede r die Lich tverhä l tn i sse und stel l te dann se ine Kame¬ ra ein. Ganz offensichtlich fiel ihnen an dem alten S t e inhaus nichts Auße rgewöhn l i ches auf.

„Sie s e h e n uns nicht", f lüs te r te Neil. Seine B e g e i s t e r u n g w u c h s mit j e d e m A t e m z u g .

„Ganz genau , Neil." J e r e m y s n ü c h t e r n e S t i m m e s c h r e c k t e Neil auf, und in plötzlicher Scheu blickte er auf.

„Das b e d e u t e t doch nicht, daß ich to t bin oder s o ? Ich meine , ich kann doch nach Hause gehen , w e n n ich will, o d e r ? "

„Natürlich k a n n s t du nach Hause gehen . Und du k a n n s t auch j ede rze i t z u r ü c k k o m m e n , w e n n du m a g s t . "

„Und w e n n ich j e t z t einfach h i n a u s g e h e n w ü r d e ? " boh r t e Neil wei ter . „Dann m ü ß t e n sie mich doch sehen , nicht w a h r ? "

„Ja, dann w ü r d e n sie dich s e h e n . Und sie w ü r d e n denken , du h ä t t e s t in einer alten Ruine h e r u m g e s t ö b e r t . Geh ruhig, ver¬ s u c h t mal."

Neil w u ß t e , daß J e r e m y ihn auf die Probe s te l l te , und es d r ä n g t e ihn, es wirklich zu v e r s u c h e n . Ob es wirklich funkt ionier te? Wür-

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den seine Eltern ihn wirklich sehen und glauben, daß er, wie Jeremy gesagt hatte, in der Ruine des Steinhauses herumge­krochen war? Oder war er gar nicht mehr da, einfach fort?

„Aber wie funktioniert das?" fragte Neil. „Das wirst du früh genug begreifen", antwortete Jeremy. „Na,

wie sieht's aus, gehst du?" Sein Gesicht kam Neil ganz nahe, und seine stahlgrauen Augen waren so durchdringend, daß Neil weg¬ schauen mußte. „Du solltest es lieber versuchen, damit du Ruhe hast." Dann trat ein Lächeln auf sein Gesicht. Es war dasselbe freundliche Lächeln, mit dem er Neil in sein Haus eingeladen hatte. „Wenn du es nicht versuchst, kannst du an nichts anderes mehr denken."

Neil zöge r t e nur noch einen Augenblick. Dann ging er zur Tür.

„Sieh mal, wer da kommt", sagte Mr. Youngwerth. „Bleib einen Moment da stehen. Ich möchte dich neben dieser eingestürzten Mauer fotografieren."

Neil blieb stehen und setzte ein gekünsteltes Lächein auf, doch in seinem Kopf wirbelten die verrücktesten Gedanken durchein­ander. Es war genauso gekommen, wie Jeremy es vorausgesagt hatte.

„Tag, Mom, Tag, Dad", sagte er. Dann hob er einen Zweig auf und schleuderte ihn unentschlossen von sich und gab sich die größte Mühe, gelangweilt zu wirken.

„Neil, ich dachte, du wärst bei deinem neuen Freund. Bist du schon lange allein?" fragte seine Mutter besorgt.

„Nein, noch nicht allzu lange. Matthew hatte noch etwas zu tun. Da dachte ich, ich könnte mich hier mal ein bißchen umsehen. Es ist echt toll hier."

„Da hast du recht", sagte seine Mutter. „Ich werde das Haus als Schauplatz für meinen nächsten Roman benutzen. Die Handlung hab ich zum Teil bereits ausgearbeitet. Es soll mehr werden als ein simpler Gruselroman. Ich hab daran gedacht, diesmal ein bißchen mit übernatürlichen Kräften zu arbeiten."

Neil hätte sich um ein Haar verschluckt. „Übernatürliche Kräf¬ te? Wie meinst du das?"

„Ich kann's dir jetzt noch nicht sagen. So weit bin ich noch nicht mit der Geschichte gekommen."

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„Deine Mut te r und ich h a b e n h e u t e v o r m i t t a g v e r s u c h t , e t w a s über die Gesch ich te d i e ses H a u s e s herauszuf inden . Man kann ja nie w i s s e n , vielleicht findet sich da e t w a s , w o m i t sie w a s anfan¬ gen kann."

„Und w a s hab t ihr e r f ah ren?" fragte Neil. Über die Gesch ich te des H a u s e s h a t t e e r sich b isher noch keine G e d a n k e n g e m a c h t , doch j e t z t p a c k t e ihn die Neugier. Vielleicht fand er hier den Schlüssel zu J e r e m y Pimm und den s e l t s a m e n V o r g ä n g e n in dem Haus .

„Wir h a t t e n nicht viel Glück", s a g t e sein Vater. „In der Bücherei gab es kein Material, und die Bibliothekarin ha t uns zum Ge¬ sch ich tsvere in gesch ick t . Als wir dort a n k a m e n , hing ein Schild an der Tür: ,Die n ä c h s t e n zwei Wochen w e g e n der Sommerfe r ien g e s c h l o s s e n 4 . "

„Ich m ö c h t e mal w i s s e n , ob die Leu te in u n s e r e r Nachbarschaf t uns e t w a s über da s Haus erzählen können" , s a g t e Mrs. Young-w e r t h .

„Wir k ö n n t e n ja von Tür zu Tür g e h e n und fragen." Mr. Young-w e r t h lach te . „Das w ä r e auch eine Art, die Nachbarn kennen¬ zulernen."

An d ie sem Abend k o n n t e Neil nicht einschlafen. In s e inem Kopf kre i s ten die G e d a n k e n über J e r e m y Pimm und das S t e i n h a u s . Teile se iner Un te rha l tung mit M a t t h e w s c h o s s e n ihm immer wie¬ der in den Sinn. B e s o n d e r s M a t t h e w s A n t w o r t auf Neils Feststel¬ lung, daß er J e r e m y Pimm noch nicht k e n n e n g e l e r n t h a t t e , beun¬ ruhigte ihn: ,Das wi r s t du s chon noch. Wir treffen ihn alle früher oder spä te r . '

Wer w a r J e r e m y Pimm, und w o h e r kam er? War er eine Art Zauberer , der zufällig auf das alte S t e i n h a u s g e s t o ß e n w a r und die zerfallene Ruine in ein g e h e i m e s Clubhaus für unzufr iedene Ju¬ gendl iche v e r w a n d e l t h a t t e ? Nun, w e r er auch sein m o c h t e , auf

j e d e n Fall w a r er eine ganz auße rgewöhn l i che Persönl ichkei t . Endlich schlief er ein, abe r sein Schlaf w a r unruhig, und am

n ä c h s t e n Morgen w a c h t e er to ta l z e r sch l agen auf. Rasch zog er sich an und ging nach un t en , wo Christie und se ine Eltern bere i t s

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am Frühs tücks t i s ch saßen . Nach den üblichen B e g r ü ß u n g e n füll¬ te er sich Comflakes in eine Schüsse l und goß g e r a d e Milch dar¬ über, als es an der Haus tü r klingelte.

„Wer mag das so früh schon se in?" fragte se ine Mutter . „Laß nur, ich geh schon" , bot Neil an. Er w i s c h t e sich die Finger

an den J e a n s ab und ging zur Tür. Es wa r Ma t thew. „Komme ich rechtzei t ig zum F r ü h s t ü c k ? " Er

gr ins te , und Neil k o n n t e nicht a n d e r s , er m u ß t e das Grinsen erwi¬ dern.

„Klan Komm rein", s a g t e er und führte M a t t h e w in die Küche . „Mom, Dad, da s ist M a t t h e w Crawford. Ma t thew, das sind meine Eltern. Christie k e n n s t du ja schon ."

„Nett, dich kennenzu le rnen , M a t t h e w " , s a g t e Mr. Y o u n g w e r t h und reichte ihm die Hand.

„Wir e s s e n h e u t e morgen nur Comflakes" , me in t e Neils Mutter, „aber w e n n du m a g s t , bist du herzlich e ingeladen."

„Danke, ich n e h m e gern an. Meine S c h w e s t e r hat g e s t e r n eine Pyjama-Party g e g e b e n , und u n s e r e Küche s ieht aus wie das R a u b t i e r g e h e g e Im Zoo bei der Fü t t e rung . " Als er Christ ies ent­t ä u s c h t e s Gesicht b e m e r k t e , fügte er rasch hinzu: „Sie ha t diese Party schon seit Mona ten geplant , und Mom hat ihr nur eine b e s t i m m t e Anzahl von Einladungen er laubt — ein Glück! Jeden¬ falls wollen sie s p ä t e r s c h w i m m e n gehen , und ich soll dir s agen , daß du dein B a d e z e u g e inpacken und nach dem F rühs tück zu uns k o m m e n sollst, w e n n du Lust has t . "

Neil gr ins te in sich hinein, als er sah , wie se ine Mut t e r sich um M a t t h e w b e m ü h t e und ihm prak t i sch alles anbot , w a s sie im Kühlschrank finden k o n n t e . Schließlich w a r das F rühs tück been¬ det . Mr. Y o u n g w e r t h warf einen Blick auf se ine Uhr und s a g t e : „Der Heirnwerker laden m ü ß t e inzwischen eigentlich geöffnet sein. Ich muß noch ein paar Sachen b e s o r g e n . Wenn ihr wollt, n e h m e ich euch beide gern mit."

M a t t h e w s Gesicht l euch te t e auf, doch Neil griff ein, bevor Mat¬ t h e w noch den Mund aufmachen k o n n t e .

„Danke, Dad, aber wir m ö c h t e n lieber hierbleiben. Ich d a c h t e , wir könn ten vielleicht h e u t e den Baske tba l lkorb anbr ingen . Wenn M a t t h e w mir hilft, k ö n n t e s t du dir die Mühe spa ren . "

„Danke, mein J u n g e . Sehr rücksichtsvoll von dir." Dann lachte

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er leise und s a g t e zu M a t t h e w : „Sieht ganz so aus , als m ü ß t e s t du nun dein F rühs tück aba rbe i t en . "

„Ist mir recht , Mr. Y o u n g w e r t h , und vielen Dank nochma l s für das Frühs tück , Mrs. Y o u n g w e r t h . Bis s p ä t e r dann."

Die J u n g e n hol ten die hölzerne Rückwand und eine Leiter aus der Garage . M a t t h e w stel l te die Leiter auf, w ä h r e n d Neil die Werk¬ zeuge b e s o r g t e . Kaum w a r sein Vater f o r t g e g a n g e n , als Neil M a t t h e w zur Seite nahm und ihn von den offenen Fens t e rn fort¬ zog, dami t sie n iemand hören k o n n t e .

„Ich hab ihn kennenge le rn t ! " s a g t e er mögl ichs t leise. „Ich hab J e r e m y Pimm getroffen!"

„Tatsächl ich?" fragte M a t t h e w . „Wann?" „Gestern, n a c h d e m ich von euch w e g g e g a n g e n bin. Du woll¬

t e s t mir ja n ichts erzählen, und da hab ich b e s c h l o s s e n , den einzigen M e n s c h e n zu fragen, der alle A n t w o r t e n weiß — J e r e m y Pimm persönl ich." Neil besch r i eb ihm, wie er an die Tür geklopft und wie J e r e m y Pimm ihn ins Haus g e b e t e n h a t t e . Als er da rübe r be r i ch te t e , wie se ine Eltern in die Nähe des H a u s e s g e k o m m e n w a r e n und er h i n a u s g e g a n g e n war , um sie zu begrüßen , pfiff M a t t h e w leise.

„Bist du sicher, daß sie keinen Verdach t geschöpf t h a b e n ? " fragte er.

„Ganz sicher. Weißt du eigentlich, wie unfaßbar das alles is t? Weißt du, w a s für ein Glück wir h a b e n ? Mensch , das hier ist keine R e s t a u r a n t k e t t e wie McDonald ' s . Diese Sache ist einzigartig, und du und ich, wir g e h ö r e n dazu!"

„Ja", s a g t e Ma thew. „Stimmt, wir gehören dazu." Für einen Augenblick wich das Lächeln aus se inem Gesicht, doch dann hob er die Schul tern und lachte wieder .

„Jeremy hat g e s a g t , wir können k o m m e n , w a n n immer wir wollen", s a g t e Neil. „Komm, laß uns schnell d iesen Korb anbrin¬ gen und dann zu ihm gehen . Ich m ö c h t e gern w i s s e n , w e r s o n s t noch da ist."

„Ich hab h e u t e keine Lust", w e h r t e M a t t h e w ab . „Laß uns doch lieber s c h w i m m e n gehen . Ich k ö n n t e dich s o g a r mit ein paar Mädchen b e k a n n t m a c h e n . "

„Hm . . . nun, vielleicht . . . " Neil konn t e se ine E n t t ä u s c h u n g

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nicht v e r b e r g e n . Die J u n g e n a rbe i t e t en s c h w e i g e n d und b r a c h t e n die Rück¬

w a n d oberha lb des G a r a g e n t o r s an. Neil w u n d e r t e sich darüber , daß M a t t h e w nicht mit ihm zu J e r e m y Pimm gehen woll te . Zuer s t w e c k t e M a t t h e w Neils Neugier auf J e r e m y Pimm und s p a n n t e ihn auf die Folter, und j e t z t , da Neil das Geheimnis k a n n t e und da¬ z u g e h ö r t e , woll te M a t t h e w lieber zum See und s c h w i m m e n . Das e rgab doch keinen Sinn.

Als die le tz te Schraube a n g e z o g e n w a r und der Korb an se inem Platz hing, s a g t e M a t t h e w : „Mein Angebo t , zum See zu gehen , b e s t e h t immer noch, falls du Lust has t . "

„Danke, aber ich glaube, ich bleibe lieber bei m e i n e m ursprüng¬ lichen Plan."

M a t t h e w wollte gehen , übe r l eg t e es sich aber noch einmal, d reh te sich um und s a g t e : „Paß auf dich auf, j a ? "

„Klar." Neil spü r t e plötzlich eine G ä n s e h a u t . Sie blieb, bis Mat¬ t h e w die Auffahrt h i n u n t e r g e g a n g e n und auf der von B ä u m e n g e s ä u m t e n St raße v e r s c h w u n d e n war.

Plötzlich fühlte sich Neil e i n s a m e r als je zuvor. Er hob eine Handvoll Kies auf und warf die S te inchen einzeln g e g e n die Rück¬ wand des Baske tba l lko rbs . Es d a u e r t e noch Wochen, bis Henry und Alan zu Besuch k o m m e n w ü r d e n , und nun sah es ganz so aus , als ob se ine b e g i n n e n d e Freundschaf t mit M a t t h e w nur auf sehr wackl igen Beinen s t and . Vielleicht h ä t t e er nicht so eigen¬ sinnig sein sollen. Vielleicht h ä t t e er doch mit M a t t h e w zum See gehen sollen. Nein, im Grunde woll te er wirklich viel lieber zu dem alten Haus . Und genau das w ü r d e er auch tun .

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4. KAPITEL

Zum zwe i t enma l öffnete sich die Tür zum S t e i n h a u s so rasch , daß Neil das Gefühl h a t t e , dr innen h ä t t e j e m a n d nur auf sein Klopfen g e w a r t e t . Wieder lächel te J e r e m y Pimm ihn l iebenswürdig an und ba t ihn ins Haus .

„Willkommen", s a g t e er und sah Neil so tief und durchdr ingend in die Augen, daß Neil die herzliche Begrüßung nur als echt emp¬ finden k o n n t e . „Ich freue mich, daß du schon so bald wiederge¬ k o m m e n bist . Aber ich habe auch fest dami t g e r e c h n e t . Wie haben deine Eltern sich verha l ten , als du g e s t e r n plötzlich durch die Tür k a m s t und ihnen e n t g e g e n g e g a n g e n b i s t ? "

„Genauso , wie du es v o r a u s g e s a g t has t . Es w a r wahns inn ig . " Mit nachdenk l i chem Gesicht s e t z t e Neil hinzu: „Aber ich m ö c h t e dir gern noch ein paar Fragen stellen."

„Komm, wir gehen hier hinein und m a c h e n es uns gemütl ich, und dann b e a n t w o r t e ich dir alle deine Fragen , sowei t ich dazu in der Lage bin."

J e r e m y führte Neil in d a s s e l b e Zimmer, in dem sie schon am Vor tage g e s e s s e n h a t t e n . S c h w e r e V o r h ä n g e s ch lo s sen das Sonnenl icht aus , und Neil s t o lpe r t e in der Dunkelheit über ein Tischbein und fiel in einen m a s s i v e n Sesse l .

„Bleib lieber still s i tzen, bis ich ein paar Kerzen a n g e z ü n d e t habe" , riet J e r e m y . Im n ä c h s t e n M o m e n t t a n z t e n S c h a t t e n wie Geis ter durch den Raum, als die e r s t e F lamme flackernd auf¬ l e u c h t e t e . Das Flackern hö r t e auf, und J e r e m y z ü n d e t e zwei wei¬ t e r e Kerzen an und ver te i l te sie im Raum.

Er m a c h t e s ich 's auf e inem Sofa n a h e bei Neils Sesse l b e q u e m und v e r s c h r ä n k t e die Hände hinter dem Kopf. Wieder hef te te er se inen z w i n g e n d e n Blick auf Neil und s a g t e : „Du fängs t g e r a d e

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ers t an zu e n t d e c k e n , w a s für ein b e s o n d e r e s Haus dies ist, und ich kann dir vers ichern , daß n iemand es findet, w e n n ich es nicht will. Ich allein ermögl iche es dir, hier zu sein, und ich g e h e sehr sorgfältig vor in der Auswah l meiner Gäs t e . "

Neil s c h a u t e J e r e m y an, und die Neugier quä l te ihn wie Zahn­s c h m e r z e n . „Aber wie m a c h s t du d a s ? " d rang er in ihn.

„Vertrau mir und hab ein bipchen Geduld. Zur r ech t en Zeit wi r s t du schon alles v e r s t e h e n . Wie ich schon s a g t e , ich h ab e dich a u s g e w ä h l t , und das ist im Augenblick alles, w a s du w i s s e n mußt ."

Neil l ehnte sich in s e i n e m Sesse l zurück. Er s c h w a n k t e zwi¬ schen e inem Gefühl der Uberschwengl ichke i t und Ungeduld, doch bevor er sich so rech t über se ine Gefühle klar w e r d e n konn¬ te , sp rach J e r e m y weiter .

„Die H a u p t s a c h e für dich ist, daß du dir über die T a t s a c h e b e w u ß t wirs t , daß es nicht eigentlich mein Haus , s o n d e r n de ines ist. Es b e s t e h t nur für dich und für die ande ren , die hierher kom¬ men."

„So eine Art Zuf luchtsor t?" fragte Neil. „Ganz genau . Ein Vers teck . Ein Unterschlupf. Komm. Ich zeig

dir die übrigen R ä u m e , dami t du dich bald wie zu Hause fühlen kanns t . "

J e r e m y führte Neil zurück in die Eingangshal le und öffnete eine a n d e r e Tür. Dieses Zimmer w a r von Sonnenl icht durchflutet , das durch die u n v e r h ä n g t e n Fens t e r s t r ö m t e , und Neil kniff geblen¬ det die Augen z u s a m m e n , bis er sich an die Helligkeit g e w ö h n t h a t t e . Gemütl iche Möbel s t a n d e n umher , und an e inem Sofa lehn¬ te eine Gitarre. Auße rdem gab es eine Anzahl kleiner Tischchen mit Stühlen drum he rum. Auf e inem Tisch lag ein Schachbre t t , auf e inem ande ren ein Damespie l , ein dri t ter h a t t e eine Pla t te aus Schiefer. Von Neils S t a n d p u n k t aus sah es a u s , als h ä t t e j e m a n d mit farbiger Kreide Comic-Figuren auf die Schiefertafel gemal t .

Neil s c h ü t t e l t e v e r w u n d e r t den Kopf. Es w a r ein r e g e l r e c h t e s Spielzimmer, jedenfal ls s tel l te er sich ein Spielzimmer so vor.

J e r e m y h a t t e Neils e r s t a u n t e n Blick offenbar aufgefangen, denn er s a g t e : „Hier k a n n s t du dich e n t s p a n n e n und mit den ande ren Leuten Z u s a m m e n s e i n , die die gleichen Sorgen h a b e n wie du und die dich v e r s t e h e n . Ab Mittag ist m e i s t e n s der eine

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oder der ar idere hier. Aber w e n n du allein sein willst, um über irgendein Problem gründlich n a c h z u d e n k e n , f indest du auch da¬ für ein b e s o n d e r e s Zimmer."

Sie gingen zurück in die Halle, und J e r e m y st ieg vor ihm eine g e s c h w u n g e n e Treppe zum e r s t e n S tock hinauf. Zu beiden Sei­t en e ines langen Flurs gab es m i n d e s t e n s ein Dutzend Türen. J e r e m y öffnete eine und b e d e u t e t e Neil, ihm zu folgen. Der Raum w a r klein, fast wie eine Zelle, aber darin s t a n d e n ein Mess ingbe t t , ein Schreibt isch und ein Stuhl mit g e r a d e r Lehne, Auf dem Schreibt isch lag ein Stapel we ißen Papiers , ein Tonkrug voller Bleistifte und eine Schlaufe aus ro t em Band. J e r e m y nahm das Band und h ä n g t e es d raußen an die Türklinke.

„Solange diese Schleife an der Tür hängt , s t ö r t dich keine Men¬ s c h e n s e e l e , und du has t so viel Zeit, wie du willst, um einen klaren Kopf zu b e k o m m e n . "

Das ist hier wie im Hotel, komple t t mit e inem „Bitte nicht stö~ ren"-Schild an der Tür, d a c h t e Neil. Laut s a g t e er: „Du d e n k s t auch an alles, w i e ? "

J e r e m y lächel te ihn an. „Ich tu mein B e s t e s ! " Er n a h m die ro te Schleife von der Türklinke, warf sie zurück auf

den Schreibt isch und ging dann aus dem Zimmer. „Manchmal, w e n n j e m a n d sich über ein Problem a u s s p r e c h e n

will, v e r a n s t a l t e n wir eine G e s p r ä c h s r u n d e " , erklär te er. „Dick Risley ha t für h e u t e n a c h m i t t a g um vier eine solche Sitzung ein¬ berufen. Wir w ü r d e n uns freuen, w e n n du auch k o m m e n könn¬ t e s t . Dann h ä t t e s t du Gelegenhei t , zu s ehen , wie es hier zugeh t , und du k ö n n t e s t auch ein paar von den a n d e r e n k e n n e n l e r n e n . Was me ins t du? K a n n s t du k o m m e n ? "

Sie s t a n d e n wiede r in der Halle, und Neil h a t t e plötzlich das d r ingende Ver langen zu gehen . Wie n ü c h t e r n und sachlich Jere¬ my ihm auch alles zu erklären v e r s u c h t e , das Haus w a r t r o t z d e m unheimlich. Er v e r s t a n d nach wie vor nicht, wie all dies möglich sein k o n n t e . Vielleicht sollte er s chne l l s t ens gehen , so lange noch Zeit war . Vielleicht w u r d e er hier in eine Sache h ine ingezogen , die gar nicht so toll war, wie sie auf den e r s t e n Blick a u s s a h — in eine Art Sek te oder so .

J e r e m y lächelte w iede r sein u n w i d e r s t e h l i c h e s Lächeln. „Nun?"

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„Klar", sagte Neil, fast ohne selbst zu wissen, was er sagte. „Aber jetzt sollte ich lieber gehen."

„Bis heute nachmittag um vier?" „Um vier", bestätigte Neil.

Als Neil um vier Uhr nachmittags zum alten Steinhaus zurück­kehrte, fiel ein leichter Regen, aber der Himmel hellte sich allmäh¬ lich auf, und der Wald duftete frisch und sauber. Dieses Mal öff¬ nete ihm ein Mädchen auf sein Klopfen. Es war etwa fünfzehn Jahre alt, klein und blond und hatte traurige Augen, die durch das bleiche Licht der Kerzen in ihrer Hand noch trauriger wirkten.

„Tag", sagte es, ohne zu lächein. „Ich heiße Terri. Bist du Neil?" Neil nickte und fragte sich flüchtig, was für Probleme sie wohl

hierhergetrieben haben mochten. „Komm rein. Wir haben schon auf dich gewartet." Er warf einen raschen Blick auf die Leuchtziffem seiner Arm¬

banduhr. Vier Uhr". Jeremy hatte gesagt, er solle um vier Uhr kommen. Waren alle anderen schon früher erschienen? Im Haus war es still wie in der Kirche.

Terri führte ihn in das abgedunkelte Wohnzimmer, wo die Vor¬ hänge wie üblich geschlossen waren, um das Licht auszusperren. Die dunklen Umrisse von drei Gestalten, die im Schneidersitz auf dem Boden hockten, waren zu erkennen. Einer von ihnen war Dick, die anderen beiden kannte Neil nicht. Hinter jedem von ihnen stand eine Kerze in einem hüfthohen Leuchten Jede der drei Gestalten warf in dem sanften Licht einen langen Schatten, und jeder Schatten ersreckte sich wie die Speiche eines Rades zur Mitte des Kreises. In der Mitte, an dem Punkt, wo die Schat¬ ten sich berührten, saß Jeremy Pimm.

,,Tag, Neil", sagte er. „Komm, setz dich. Wir wollten gerade anfangen."

Neil ließ sich auf den dicken Teppich nieder. Warum mußten sie in einem Ring von Kerzen im dunklen Zimmer sitzen? Warum konnte die Sitzung nicht im Spielzimmer stattfinden, wo es hell war? Dieser Raum erinnerte ihn an eine Kulisse für eine Geister¬ beschwörung. Er hörte hinter sich ein Geräusch, drehte sich um

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und sah Terri, die eine Kerze in einen S t ä n d e r hinter s e inem Rücken s t e c k t e . J e r e m y w a r t e t e , bis sie zu ihrem e igenen Platz z u r ü c k g e k e h r t war, dort die Kerze a n g e z ü n d e t h a t t e und sich wiede r s e t z t e . Erst j e t z t b e g a n n e r zu s p r e c h e n .

„Das sind Pam und Bill, und Dick und Terri h a s t du ja be re i t s kennenge le rn t . "

Neil nickte Pam und Bill zu. In der Fins ternis k o n n t e er ihre Ges ich ter kaum e r k e n n e n .

„Wie ihr wißt, sind wir alle hier v e r s a m m e l t , weil Dick uns um Hilfe für die Lösung e ines Prob lems g e b e t e n hat . Erkläre u n s doch bi t te , w o r u m es geht , Dick."

„Gut", s a g t e Dick. „Es geh t um meine Großmut te r . Ihr wißt j a , meine Eltern sind vor zwei J a h r e n bei e inem F lugzeugabs tu r z u m s Leben g e k o m m e n . Das Flugzeug g e h ö r t e m e i n e m Vater, und sie w a r e n übe r s W o c h e n e n d e nach New Hampsh i re geflo¬ gen. Meine Eltern w a r e n prima, so r icht ig locker, und sie h a b e n mir j e d e Menge Freiheit g e l a s s e n . Als sie to t w a r e n , w u r d e ich hierher zu meiner Großmut t e r geschick t , und sie ist der be¬ s c h r ä n k t e s t e Mensch , den ich mir vors te l len kann. 'S ie läßt mich nicht aus den Augen . Sie sag t , sie kann meine Genera t ion nicht v e r s t e h e n , und sie h ä t t e Angst , mir zuviel Freiraum zu geben , weil dadurch Prob leme e n t s t e h e n könn t en , mit denen sie nicht fertig wird. Als ob ich sie um Hilfe b i t ten w ü r d e ! "

Dick hielt inne, als m ü ß t e er sich z u e r s t w i e d e r beruhigen , bevor e r w e i t e r r e d e t e . „Aber h e u t e w a r es b e s o n d e r s schl imm. Heute w e r d e ich s echzehn , und das heißt, ich k ö n n t e den Führerschein m a c h e n . Aber w a s ha t sie g e s a g t , als ich sie bat , mich zur Fahr¬ schule zu b r ingen? Das k a n n s t du v e r g e s s e n , ha t sie g e s a g t . Sie s a g t e , sie w ü r d e mir nicht er lauben, ein Auto zu fahren, bevor ich ach t zehn bin, weil g e r a d e die j ugend l i chen Fahrer die m e i s t e n Unfälle v e r u r s a c h e n und auf der A u t o b a h n unschuld ige Men¬ schen umbr ingen . Ach tzehn! Begreift ihr, w a s das für mich be-

„Ja, in der Schule wi r s t du zum G e s p ö t t aller Leute" , s a g t e Bill und s c h ü t t e l t e den Kopf.

„Sie ist w e n i g s t e n s zu Hause" , s a g t e Terri. „Meinen Eltern ist es piepegal , w a s ich m a c h e . Sie haben zuviel zu tun , und sie sind nie zu H a u s e . Sie w ü r d e n es nicht einmal me rken , w e n n ich zu

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einer Motorradcl ique gehö ren w ü r d e , g e s c h w e i g e denn, w e n n ich au tofahren w ü r d e . "

„Aber w a s soll ich denn m a c h e n ? " fragte Dick verzweifelt . „Was willst du denn m a c h e n ? " fragte J e r e m y mit leiser, aber

fes ter S t imme . „Den Führerschein will ich machen!" „Dann mußt du eine a n d e r e Lösung finden", folgerte J e r e m y .

„Was für Möglichkeiten gibt e s? Wie w a r ' s , w e n n du j e m a n d a n d e r s fragen w ü r d e s t , ob er dich zur Fahrschule f äh r t ?"

„Meine Mut te r geh t h e u t e n a c h m i t t a g einkaufen", b e m e r k t e Pam. „Ich k ö n n t e sie bi t ten, dich m i t z u n e h m e n . "

Neil g laub te se inen Ohren nicht zu t r auen , b e s o n d e r s , als Jere¬ my Pimm sprach . Gewöhnlich, w e n n man j e m a n d e n um Rat frag¬ te , der äl ter w a r als man se lbs t , v e r s u c h t e der, einen umzu¬ krempeln , und s a g t e , man sollte die Dinge so n e h m e n , wie sie nun mal w a r e n . Aber J e r e m y Pimm h a t t e wirklich V e r s t ä n d n i s . Klar, es w a r ein e t w a s ü b e r t r i e b e n e s Theater , d ieser Gesp rächsk re i s bei Kerzenlicht, aber J e r e m y v e r s t a n d die Prob leme und s u c h t e nach Lösungen . Was m a c h t e es schon, w e n n diese Lösungen nicht so a u s s a h e n , wie die me i s t en Eltern es sich g e w ü n s c h t h ä t t e n ? Zumindes t w a r e n es Lösungen , und sie s c h a d e t e n nie¬ m a n d e m .

Die G e s p r ä c h s r u n d e w u r d e noch eine Weile fo r tgese t z t . Einige wen ige r b e d e u t e n d e Vorsch läge k a m e n zur Sprache , und Dicks Großmut t e r w ä r e wohl mit ke inem von ihnen e i n v e r s t a n d e n ge¬ w e s e n . Als die Si tzung b e e n d e t war, bl iesen Terri und Pam die Kerzen aus und gingen aus dem Zimmer. Kurz darauf ging auch Bill.

Weil Neil sich b e o b a c h t e t fühlte, lösch te er auch se ine Kerze, blieb im Dunkeln si tzen und sah Dick und J e r e m y Pimm an. Sie w a r e n wie vorher s i tzen gebl ieben. Dicks Gesicht lag im Dunkeln, sein S c h a t t e n d e u t e t e auf J e r emy . Sie w a r e n in ein Gespräch vertieft, doch sie r e d e t e n so leise, daß Neil kein Wort v e r s t e h e n k o n n t e . Schließlich s t and Dick ebenfalls auf, und Neil hör te , wie er sich im Hinausgehen von J e r e m y v e r a b s c h i e d e t e .

Nur die Kerze an dem Platz, wo Dick g e s e s s e n h a t t e , b r a n n t e noch. J e r e m y d e u t e t e mit der Hand auf sie.

„Ne i l , komm doch hier rüber ins Licht und laß uns noch ein

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bißchen reden ." G e h o r s a m r u t s c h t e Neil übe r den Teppich auf den angewiese¬

nen Platz und s c h a u t e J e r e m y an. Allmählich g e w ö h n t e er sich an das we i che , b e r u h i g e n d e Kerzenlicht. Vielleicht ist dies doch der b e s t e Ort für einen G e s p r ä c h s k r e i s , d a c h t e er, so g e s c h ü t z t vor dem grellen Sonnenl icht .

„Wie f andes t du die S i t zung?" woll te J e r e m y w i s s e n . „Es w a r Spi tze . Du hö r s t wirklich zu und v e r s u c h s t zu helfen.

Warum k ö n n e n Eltern nicht auch so s e in?" „Du h a s t deine Frage schon se lbs t b e a n t w o r t e t , Neil. Sie hören

nicht zu, w a s ihre Kinder zu s a g e n haben , g e n a u wie deine Eltern dir nicht r icht ig zuhören , w e n n du ihnen s a g e n willst, wie un¬ glücklich du über euren Umzug bist . Ihre E n t s c h l ü s s e s t e h e n fest, und w e n n du mit ihnen r edes t , e r re ichs t du n ichts wei ter , als deine E n t t ä u s c h u n g noch zu s te ige rn und deine Probleme zu ve r sch l immern . Aber du k a n n s t j e d e r z e i t h i e r h e r k o m m e n . Jeder , der in d i e ses Haus k o m m t , n immt deine Prob leme e rns t und v e r s t e h t sie, und wir a rbe i ten alle z u s a m m e n und v e r s u c h e n , uns gegense i t i g zu helfen. Wir helfen dir, a n d e r e Lösungsmöglich¬ kei ten zu finden, Me thoden , wie du deine Eltern beeinf lussen k a n n s t . Z u m i n d e s t v e r s u c h e n wir es e rns thaf t . "

Als Neil das S t e inhaus verließ, fühlte er sich so gut wie schon lange nicht mehr. Endlich g e h ö r t e er i rgendwo hin, und J e r e m y w a r ein e c h t e r Freund, j e m a n d , den man j e d e r z e i t um Rat fragen k o n n t e , j e m a n d , auf d e s s e n Hilfe man zählen k o n n t e . J e t z t dach¬ te er auch a n d e r s über Dick, s e i t d e m er d e s s e n Situation k a n n t e . Nun, wie J e r e m y g e s a g t h a t t e , sie w ü r d e n alle zusammenar¬ bei ten, und vielleicht w ü r d e n sie auch e t w a s er re ichen.

Als Neil die Lichtung ü b e r q u e r t e und in den Wald e indrang, be¬ m e r k t e er eine dunkle Ges ta l t ein paar Schr i t te weiter , die sich an e inem B a u m s t a m m d r ü c k t e . J e m a n d sp ionier te Ihm nach . Neil warf einen Blick zurück auf das S t e i n h a u s . Vielleicht sollte er J e r e m y w a r n e n . Als er w iede r nach der Ges ta l t A u s s c h a u hielt, h a t t e sie sich b e w e g t und v e r s c h w a n d rasch im dichten Unter¬ holz. Neil k o n n t e g e r a d e noch e rkennen , daß es sich um M a t t h e w h a n d e l t e .

E r h a t t e das s ichere Gefühl, daß M a t t h e w g e s e h e n w e r d e n

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woll te . Es w ä r e so leicht für ihn g e w e s e n , im dichten L a u b w e r k u n t e r z u t a u c h e n , ohne e n t d e c k t zu w e r d e n , oder sich hinter dem B a u m s t a m m zu v e r s t e c k e n , bis Neil v o r b e i g e g a n g e n war . S t a t t d e s s e n w a r e r deutlich s ich tbar aus s e inem V er s t eck heraus¬ g e t r e t e n und h a t t e m e h r e r e Meter offenen Geländes übe rque r t , bevor er hinter e inem G e s t r ü p p von Weinranken v e r s c h w a n d , die wie S t r ä h n e n u n g e k ä m m t e n Haares aus der Krone e ines Bau¬ mes he rabh ingen .

Neil folgte ihm. Er tei l te den Vorhang aus Ranken und sah M a t t h e w ein Stück we i t e r vor sich. In s e inem o r a n g e f a r b e n e n T-Shirt w a r M a t t h e w nicht zu verfehlen, als er ohne b e s o n d e r e Eile durch den Wald s c h l e n d e r t e . Neil übe r l eg te , ob er ihn rufen sollte, beschloß aber, es nicht zu tun . S t a t t d e s s e n en t sch ied er sich, M a t t h e w eine Weile zu folgen und se ine e igenen Sch lüsse aus d e s s e n m e r k w ü r d i g e m Verhal ten zu ziehen.

Sie sch lugen ungefähr die Richtung zur Grey Road im W e s t e n ein. Vielleicht w a r M a t t h e w lediglich auf dem He imweg . Vielleicht ha t t e er auch zur G e s p r ä c h s r u n d e g e h e n wollen, es sich dann aber a n d e r s über legt , und w a r nur gebl ieben, um zu s e h e n , w e r zum S te inhaus g e k o m m e n war . Neil m u ß t e sich e i n g e s t e h e n , daß diese Über legung einen Sinn e rgab . Tro tzdem h a t t e er das son¬ derbare Gefühl, daß mehr d a h i n t e r s t e c k t e , und er folgte Mat¬ t h e w wei ter .

M a t t h e w schlug den Weg am Rande e ines a u s g e t r o c k n e t e n F lußbet tes ein. Das Gehen w a r nun leichter, weil das Unterholz ziemlich spärlich war. I rgendwo in der Nähe k rächz t en und kre ischten und z a n k t e n sich ein paar Amseln , aber a n s o n s t e n war es still im Wald.

Plötzlich r u t s c h t e M a t t h e w die B ö s c h u n g des F lußbet t s he rab , doch er k le t t e r t e nicht an der a n d e r e n Sei te w iede r hinauf, son¬ dern folgte dem Lauf des a u s g e t r o c k n e t e n F lusses in de r se lben Richtung wie bisher. Dann v e r s c h w a n d er aus Neils Blickfeld, als das Flußbet t eine scharfe Linkskurve b e s c h r i e b .

Der leichte N a c h m i t t a g s r e g e n h a t t e die Erde in schlüpfrigen Schlamm verwande l t , und Neil hielt sich an einer aus dem Boden r agenden Baumwurze l fest, als er den Abs t ieg b e g a n n . Im näch¬ s ten Augenblick w a r er un ten , und er lief über den f ede rnden Boden und hoffte, das er nicht zuviel Zeit und damit M a t t h e w s

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Spur ver loren h a t t e n . Als er um die Kurve bog, k o n n t e er M a t t h e w In nicht s eh r großer

Ent fe rnung vor sich s e h e n . Er hock te am Boden und band se inen Schnür senke l fest . Es sah fast so aus , als ob er auf Neil w a r t e t e . Dann ging M a t t h e w we i t en

Sa t t in wes t l i che r gingen sie j e t z t in südl icher Richtung, und dami t m u ß t e Neil se ine V e r m u t u n g , auf dem He imweg zu sein, aufgeben . Die Sonne w a r h e r a u s g e k o m m e n und m a c h t e die feuch te Luft noch heißer und schwüle r als zuvor. Neil s chwi t z t e und fragte sich, ob es sich wirklich lohnte , M a t t h e w zu verfolgen.

Vor ihm blitzte e t w a s O r a n g e f a r b e n e s auf und zog se ine Auf¬ m e r k s a m k e i t auf sich. M a t t h e w k l e t t e r t e die linke B ö s c h u n g des F lußbe t t e s hinauf. Er kam rasch nach oben und v e r s c h w a n d über den Rand der B ö s c h u n g . Neil k l e t t e r t e ihm nach . M a t t h e w bog w i e d e r ab, so daß sie nun nach Os ten gingen, und Neil w a r in¬ zwischen fest übe rzeug t , daß M a t t h e w ihn i rgendwie an der Nase herumführen wol l te . Aber j e t z t w a r e r s chon so we i t g e g a n g e n , daß er nicht meh r u m k e h r e n woll te .

M a t t h e w wich e inem großen Felsen a u s . Er g ing je tz t schneller, r a n n t e fast, und Neil fragte sich, ob er sich schon se inem Ziel n ä h e r t e . Oder lag es an dem a b s c h ü s s i g e n Weg, daß M a t t h e w so rasch lief?

Eine s t e ine rne Mauer vers te l l t e M a t t h e w den Weg. Mit S c h w u n g s p r a n g er hinauf, blieb dor t auf e inem großen flachen Stein s t e h e n und s c h a u t e sich um, als wolle er sich or ient ieren. Neil v e r s t e c k t e sich hinter e inem Baum. J e t z t sollte M a t t h e w ihn nicht mehr e n t d e c k e n , nicht, n a c h d e m er ihn schon so we i t ver¬ folgt h a t t e .

M a t t h e w blieb lange auf der Mauer s t e h e n , s c h a u t e z u e r s t in die eine und dann in die a n d e r e Richtung, und w ä h r e n d er so d a s t a n d , s t ieg ein Ve rdach t in Neil auf und b e g a n n zu w a c h s e n . M a t t h e w h a t t e sich verirrt . Warum w ä r e n sie s o n s t so oft abge¬ b o g e n ? A n d e r e r s e i t s aber w a r die Gegend offensichtlich viel zu u n w e g s a m und d a s Unterholz zu dicht, um auf g e r a d e m Wege durch den Wald dr ingen zu können .

Plötzlich s p r a n g M a t t h e w w i e d e r von der Mauer und ging wei¬ ter. Dieses Mal s t r e b t e er in nördliche Richtung. Sie liefen im Kreise. Macht man das nicht immer so , w e n n man sich verirr t

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h a t ? Immerhin m u ß t e n sie dann i rgendwo in der Nähe der Stelle a n k o m m e n , von der aus sie au fgebrochen w a r e n .

Der G e d a n k e w a r eine Er le ichterung für Neil. Die nachmit täg¬ lichen S c h a t t e n w u r d e n bere i t s länger. Er s c h a u t e auf se ine Uhr. Drei Minuten vor s e c h s . Auf dem offenen Land zu Hause herrsch¬ te noch volles Tageslicht, aber in d iesen s c h a t t i g e n Wäldern brach bere i t s die Dunkelheit herein, und w e n n er die Nacht hier ver¬ bringen m ü ß t e , w ü r d e n se ine Eltern a u s r a s t e n .

Während er se inen G e d a n k e n nachhing, h a t t e Neil kaum auf M a t t h e w a c h t g e g e b e n , und plötzlich stel l te er fest, daß M a t t h e w aus se inem Blickfeld v e r s c h w u n d e n war. Neil be sch l eun ig t e sei¬ nen Schritt . Doch als er sich b e m ü h t e , durch das dichte G e s t r ü p p vor ihm h indurchzusehen , erblickte er nicht Ma t thew, s o n d e r n oben auf e inem Hügel das alte S t e i n h a u s .

Neil t r a t auf eine Lichtung h inaus , deren Boden dicht mit Farn b e w a c h s e n war. Sie w a r e n wirklich im Kreis gelaufen, und nun s t and er vor der Rückans ich t des H a u s e s , das wie ein Geier über ihm h o c k t e . In der Nähe floß ein Wasserfall, der in der sommer¬ lichen Trockenhei t dünn g e w o r d e n war, in einen Mühlteich und s e t z t e sich in einem Bächlein fort. Es floß wie ein v e r s c h l u n g e n e s Band zum Waldrand hinüber, wo es außer Sicht geriet .

Eine Decke von Grünpflanzen w u c h e r t e auf dem Spiegel des Mühl te iches , und die Luft s u m m t e und schwi r r t e vor Mücken . Aber w e d e r der Wasserfall noch der Mühlteich e r r eg t en Neils In t e r e s se . An dem Damm, der den Teich e ingrenz te , s t a n d eine kleine W a s s e r m ü h l e , aus d e m s e l b e n g rauen Stein wie das Haupt¬ h a u s .

Neil fragte sich, ob M a t t h e w sich wirklich verirr t oder ihn ab¬ sichtlich hierhergeführt h a t t e . M a t t h e w w a r n i rgends zu s ehen , und Neil g laubte , die A n t w o r t auf se ine Frage ohnehin schon zu kennen . Aber w a r u m ? Gab es hier e t w a s , w a s M a t t h e w ihm zeigen wol l te?

Neil n ä h e r t e sich vors icht ig der Mühle und behielt sie dabei sorgfältig im Auge . Das Mahlwerk fehlte, und das Mühlenrad w a r nur noch ein ze r sp l i t t e r t e s Skelet t , aber a n s o n s t e n w a r das Ge¬ b ä u d e in ziemlich g u t e m Z u s t a n d . Neil ging hinein. Im Unterge¬ schoß gab es nur einen einzigen Raum, in dem sich früher die

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Mühlsteine befunden h a t t e n . Neil s t ieg eine wackl ige Treppe hin¬ auf und fand den e r s t e n S tock sogar noch verfallener vor, doch der a l ter tümliche Einfülltrichter w a r noch an s e inem Platz. Dann st ieg er zurück ins E r d g e s c h o ß und sah sich um. Er fand nichts wei ter .

S t imrunzelnd ging er w i e d e r nach d raußen . Gab es hier irgend e t w a s , irgend e t w a s Wicht iges , das e r ü b e r s e h e n h a t t e ?

Über ihm kre i sch te ein Häher und s e t z t e sich auf den Dachfirst, legte den Kopf auf die Sei te und m u s t e r t e Neil mit b ö s e m Blick. Dann schwi r r t e er davon , und alles w a r still.

S p ä t e r w u ß t e Neil nicht m e h r recht , w a r u m er es ta t , aber plötzlich w a n d t e er den Blick nach links. Ein Stein fiel ihm ins Auge , d e s s e n Form unmißvers tänd l ich war . Es w a r ein Grabs te in .

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5. KAPITEL

An d i e sem Abend woll te Neil M a t t h e w viermal anrufen. Beim e r s t e n m a l h a t t e er s o g a r schon die e r s t e n drei Ziffern gewähl t , bevor er w iede r auf legte . Denn w e n n M a t t h e w über den Grab¬ stein mit ihm h ä t t e reden wollen, s a g t e Neil sich, h ä t t e er davon g e s p r o c h e n , oder er h ä t t e ihn z u m i n d e s t auf n o r m a l e m Wege zu dem Grab geführt. Es w a r g e n a u s o zweck los , M a t t h e w d a n a c h zu fragen, wie dama l s , als er e t w a s von ihm über J e r e m y Pimm h a t t e erfahren wollen. Aber das w a r nicht das einzige, w o r ü b e r Neil n a c h g r ü b e l t e .

Er h a t t e sich n e b e n den Stein g e h o c k t und se ine Oberfläche a b g e t a s t e t . Se l t sam, d a c h t e er. Kein Name , keine J a h r e s z a h l e n s t a n d e n darauf. Gar n ich ts . Mit dem Finger h a t t e er un t e r s tärke¬ rem Druck nach Eingravierungen g e s u c h t , weil er d a c h t e , daß die Inschrift vielleicht von den J a h r e n und den Wet te re inf lüssen ab¬ g e t r a g e n w o r d e n war, abe r er h a t t e nicht die g e r i n g s t e Spur e n t d e c k e n können , nicht die kle ins te Vertiefung im Stein, die auf eine frühere Eingravierung h ä t t e schließen l a s sen k ö n n e n . Trotz¬ dem w u ß t e er, daß es sich um nichts a n d e r e s als um einen Grab¬ stein handeln k o n n t e . Die Form w a r e indeut ig , rechteckig , höhe r als breit, und die obe re K a n t e w a r a b g e r u n d e t .

Allerdings wa r der Ort r ech t ungewöhnl ich für ein Grab. Warum befand es sich auf dem zu dem Mühlteich g e h ö r e n d e n Grund¬ s t ü c k ? Neil k o n n t e sich das Bild gut vors te l len, wie im Frühling die S c h n e e s c h m e l z e und s c h w e r e Regenfälle die Bäche und den Mühlteich bis zur Ü b e r s c h w e m m u n g anschwe l l en ließen. Dann w ü r d e der Wasserfall, der j e t z t nur ein d ü n n e s Rinnsal war, mit Macht über den Damm n e b e n der Mühle h e r a b s t ü r z e n . Er s te l l te sich vor, wie das W a s s e r s t ieg, sich dem Grab m e h r und mehr

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n ä h e r t e , bis die W a s s e r m a s s e n es fast er re icht h a t t e n . Dann v e r s c h e u c h t e er das Bild aus se inen G e d a n k e n .

Am n ä c h s t e n Morgen w a c h t e er s chon vor T a g e s a n b r u c h auf und n a h m sich vor, sich den Grabs te in noch einmal a n z u s e h e n . Vielleicht w a r da doch noch e t w a s , w a s er im Dämmerl ich t des S p ä t n a c h m i t t a g s ü b e r s e h e n h a t t e .

„Ich m ö c h t e , daß ihr zwei gleich nach d e m Frühs tück Max ba­det", s a g t e Mrs. Y o u n g w e r t h gleich, als Neil in die Küche kam.

Ich hab noch nicht einmal g u t e n Morgen g e s a g t , und sie erteilt mir gleich schon w i e d e r Befehle, d a c h t e Neil mißmut ig .

Christie woll te w i d e r s p r e c h e n , aber Mr. Y o u n g w e r t h hob die Hand. „Das ist doch nicht zuviel ver langt , und es daue r t ja auch nicht lange" , s a g t e er, und Neil w u ß t e , daß das T h e m a dami t a b g e s c h l o s s e n war.

A u s g e r e c h n e t an d i e sem Morgen w u r d e er aufgeha l ten und m u ß t e den Hund b a d e n . Neil b e t r a c h t e t e se ine Eltern e ingehend . Wahrscheinl ich w u ß t e n sie, daß er e t w a s Wicht iges v o r h a t t e , und h a t t e n sich den Kopf da rübe r ze rb rochen , w a s wohl die schlimm¬ s t e Arbeit sein k ö n n t e , um ihn zu Hause zu rückzuha l t en .

Max h a t t e einen unt rügl ichen Instinkt dafür, w e n n es Zeit für ein Bad war, und er h a t t e sich m e i s t e n s s c h o n lange, bevor die Zinn¬ w a n n e auf dem R a s e n s t a n d und mit S e i f e n w a s s e r gefüllt w u r d e , v e r s t e c k t . Neil k o c h t e vor Wut. Es w a r d a s e r s t e m a l , daß Max sei t Ihrem Umzug nach Winton g e b a d e t w e r d e n sollte, und kein Mensch k o n n t e ahnen , wo der Hund sich nun v e r t e c k e n w ü r d e . Neil s t ü r m t e durch das Haus , rief se inen N a m e n und k l imper te mit der Leine, um ihm v o r z u m a c h e n , daß er mit ihm Spazierenge¬ hen wol l te . Es k lapp te nicht . Der Hund w a r n i rgends zu finden.

Vielleicht ist er d raußen , d a c h t e er und s tapf te h inaus in die helle M o r g e n s o n n e . Es w a r j e t z t s chon seh r heiß. Die Hitze w ü r d e Im Laufe des Tages w i e d e r einmal uner t rägl ich w e r d e n .

Seine S c h w e s t e r d u r c h s u c h t e g e r a d e die B ü s c h e im Gar ten und tei l te vorsicht ig die dorn igen Zweige .

„Da dr innen ist er", rief sie Neil zu. „Aber ich weiß nicht, wie wir ihn da he rausho l en sollen, ohne uns von oben bis u n t e n zu zer¬ k ra t zen . Max w u ß t e s chon genau , w a r u m er sich a u s g e r e c h n e t hier v e r s t e c k t hat ."

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Neil seufz te . „Es ha t keinen Sinn zu v e r s u c h e n , ihn mit Fu t te r he rauszu locken . Das ha t noch nie gek lappt . Vielleicht kann ich ihn he rausz iehen . "

Neil ließ sich vorsicht ig auf Hände und Knie he rab und griff un t e r den Zweigen hindurch. Er b e w e g t e se inen Arm dicht am Boden ent lang, um den Dornen a u s z u w e i c h e n . Max s t e c k t e wirklich un te r dem Gebüsch und h a t t e die Schnauze zwischen die Pfoten gelegt , als ob er darum be t t e l t e , doch bi t te in Ruhe g e l a s s e n zu w e r d e n .

„Komm schon, Maxie, k o m m , mein Kleiner", lockte er. Der Hund sah se ine Hand l angsam nähe r k o m m e n , bis sie schließlich se ine Pfote be rüh r t e . Dann, z u n ä c h s t noch k a u m hörbar, b e g a n n er zu knurren .

Neil zog e r sch rocken den Arm zurück und holte sich einen schmerzha f t en Kratzer an den spi tzen Dornen.

„Hast du das g e h ö r t ? Er ha t geknurr t ! Max ha t mich noch nie im Leben angeknur r t ! "

Neil legte sich flach auf den Bauch und sah se inen Hund an. „Ich bin 's doch, Max. Ich, Neil. Wie k o m m s t du dazu, mich anzuknur¬ r e n ? "

Wie zur A n t w o r t knur r t e Max e rneu t , d i e se s Mal so laut, daß es keinen Zweifel mehr g a b . Neil h a t t e sich nicht g e t ä u s c h t . Max knur r t e ihn an.

„Das muß an der Hitze liegen", me in te Christie. „Komm, wir fragen Mom und Dad, ob wir das Baden auf h e u t e abend ver¬ sch ieben können , w e n n es kühler ist."

„Gute Idee", pflichtete Neil ihr bei. „Du h a s t wahrsche in l ich recht . B e s t i m m t k o m m t das von der Hitze." Dennoch, d a c h t e er und blickte über die Schul ter zurück auf das Gebüsch , es ha t schon heißere Tage g e g e b e n , aber Max hat mich nie zuvor ange¬ knurr t . S t immt i rgendwas nicht mit mir? fragte er sich. Hab ich w a s an mir, das einen Hund a b s t ö ß t ?

Ihre Eltern er laubten ihnen, das Bad zu ve r sch ieben , und hat¬ ten zu Neils Erle ichterung keine w e i t e r e n Aufgaben mehr für ihn v o r g e s e h e n .

„Ach, übr igens" , s a g t e Mr. Y o u n g w e r t h , „kenns t du einen ge¬ w i s s e n Dick Risley?"

„Klar. Er w o h n t in der Grey Rocks Road und ist ein Freund von

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M a t t h e w Crawford. Woher k e n n s t du ihn?" „Er ha t vor ein paa r Minuten angerufen , und als ich ihm s a g t e ,

daß du g e r a d e den Hund b a d e s t und keine Zeit has t , me in t e er, er w ü r d e s p ä t e r noch einmal anrufen."

„Wirklich? Macht er d a s ? " fragte Neil. „Vielleicht sollte ich lieber zurückrufen? "

„Er ha t gefragt, ob wir ein paar U m z u g s k i s t e n übrig h a b e n . Ansche inend r ä u m t er den D a c h b o d e n se iner G r o ß m u t t e r auf. Ich wollte g e r a d e losfahren und ihm die Kis ten br ingen, aber viel¬ leicht m ö c h t e s t du das lieber se lbs t m a c h e n . "

„Klar", s a g t e Neil. „Gern." Er freute sich und w a r auch ein bißchen e r s t a u n t darüber , daß Dick angerufen h a t t e . A u ß e r d e m bot sich ihm so eine g u t e En t schu ld igung , w e g z u g e h e n , ohne erklären zu m ü s s e n , wohin er wol l te . Und vielleicht k o n n t e Dick ein bißchen Licht in die geheimnisvol le Ange l egenhe i t mit dem Grabste in br ingen.

Sein Vater h a t t e be re i t s ein paar U m z u g s k i s t e n z u s a m m e n g e ¬ faltet. Neil s u c h t e Dicks H a u s n u m m e r im Telefonbuch, n a h m die Kisten u n t e r den Arm und m a c h t e sich ei lends auf den Weg.

Das Haus der Risleys w a r kleiner als die m e i s t e n a n d e r e n in d ieser S t raße . Vor den F e n s t e r n h ingen Sp i t zengard inen . Auf der Zu¬ fahrt s t a n d ein ural ter s c h w a r z e r Chevrolet . G e n a u s o stellt m a n sich das H ä u s c h e n vor, in dem so eine Großmut t e r w o h n t , d a c h t e Neil, und sein Mitgefühl für Dick und d e s s e n t r o s t l o s e Lage ver¬ tiefte sich.

Dick h a t t e Neil offenbar s chon k o m m e n s e h e n . Er m a c h t e die Tür auf und forder te Neil auf, ins Haus zu k o m m e n . Sein Gesicht wa r s c h w e i ß ü b e r s t r ö m t , und sein Hemd k leb te ihm am Körper.

„Ein toller Morgen, um den D a c h b o d e n zu en t rümpe ln , w a s ? " b r u m m t e er vor sich hin, aber dann g r ins te er und fügte hinzu: „Aber vielen Dank für die Kisten, Neil. Ich h ä t t e wirklich nicht gewuß t , wohin mit all d e m Schro t t da oben, w e n n ich keine Kar¬ t o n s g e h a b t h ä t t e . "

Dick führte Neil durch das Wohnzimmer . Die a l tmod i schen Ses¬ sel w a r e n mit Sp i t zendecken g e s c h m ü c k t . In den Regalen und auf den Tischen s t a n d e n Glasfiguren und zierliche Vasen . Neil half Dick, die Kis ten b e h u t s a m durch den Raum zu t r a n s p o r t i e r e n ,

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damit keine von den Kos tba rke i t en u m g e s t o ß e n w u r d e und zer¬ brach.

Dicks Großmut t e r saß am Küchen t i sch . Sie sah g e n a u s o aus , wie Neil sie sich vorges te l l t h a t t e — alt, klein und weißhaar ig .

„Neil, das ist me ine Großmutter , Mrs . Risley. Grandma , das ist Neil Youngwer th , der J u n g e , von dem ich dir erzählt h a b e . Er ist d rüben in der Old Mill Road neu e ingezogen . "

„Guten Tag", s a g t e Neil. „Du mußt schon e t w a s nähe r h e r a n k o m m e n , j u n g e r Mann.

Meine Brille ist kapu t t , und ich kann dich nicht s ehen , w e n n du so we i t w e g bist."

Neil w u r d e rot. Mit e inem unbehag l i chen Gefühl kam er näher . „Oh, da s tu t mir leid für Sie. Hrn . . . wie h a b e n Sie sie denn

z e r b r o c h e n ? " „Ich hab sie nicht ze rbrochen" , fuhr sie auf. „Das w a r Dick!" Ihr ha r t e r Tonfall e r s c h r e c k t e Neil noch mehr. „Sie ha t sie fallen lassen" , s a g t e Dick. „Und als ich sie aufheben

woll te , bin ich gs to lpe r t und hab auf das Brillenglas g e t r e t e n . " Ein s e l t s a m e s Lächeln t r a t auf Dicks Gesicht, und Neil lief t ro tz der Hitze ein kal ter S c h a u e r über den Rücken . „Es ist wirklich s c h a d e , daß ich keinen Führersche in h a b e . Dann k ö n n t e ich sie zum Opti¬ ker fahren. J e t z t kann sie nichts a n d e r e s tun , als zu w a r t e n , bis ihr einer von den Nachbarn hilft."

J e r e m y Pimm w a r gut gelaunt , als Neil kurze Zeit s p ä t e r das alte S te inhaus be t r a t . Neil a t m e t e vor Er le ichterung auf, zog die Tür hinter sich zu und schloß damit den Res t der Welt a u s .

„Du s iehs t aus , als b r a u c h t e s t du dr ingend einen Freund", stell¬ te J e r e m y fest.

„Du h a s t den Nagel auf den Kopf getroffen", b e s t ä t i g t e Neil. Er w u ß t e se lbs t nicht recht , w a r u m er so m i ß g e s t i m m t war, aber es w a r nun mal so . Vielleicht lag es daran , daß der Tag schon so ungüns t ig ange fangen h a t t e , weil se ine Eltern ihn herumkom¬ mand ie ren woll ten. Und Dicks alte Großmut t e r h a t t e auch nicht ge rade zur B e s s e r u n g seiner Laune b e i g e t r a g e n . Sie h a t t e ihn soga r for tgeschickt , damit Dick w iede r an se ine Arbeit auf dem

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D a c h b o d e n gehen k o n n t e , und er h a t t e keine Gelegenhei t gefun¬ den, ihn un te r vier Augen zu s p r e c h e n .

„Was ist eigentlich in die Leute g e f a h r e n ? " b r u m m t e er und folgte J e r e m y in den Salon, wo er sich in e inen Sesse l fallen lie(3.

J e r e m y z ü n d e t e m e h r e r e Kerzen an und stel l te sie im Zimmer auf, bevor er a n t w o r t e t e . Sein Gesicht w i rk te feierlich und bleich im sanf ten Kerzenlicht.

„Mit den Leuten m e i n s t du vermut l ich die E r w a c h s e n e n ? " „Nichts als Ärger hab ich mit ihnen", fuhr Neil fort, ohne J e r e -

m y s Frage zu b e a c h t e n , da die A n t w o r t ohnehin auf der Hand lag. „Bade den Hund. Finde endlich n e u e F r e u n d e . Kein Mensch fragt

j e m a l s danach , w a s ich wirklich will." Wut s t ieg in ihm auf. „Also gut", s a g t e J e r e m y . „Jetzt fragt dich j e m a n d . Was willst

du s e l b s t ? " J e r e m y sp rach ganz ruhig, aber se ine Wor te sch ienen den gan¬

zen Raum auszufüllen. Neil fühlte sie überall um sich he rum, fast so, als h ä t t e n sie Ges ta l t a n g e n o m m e n . Sie k langen w a r m , schmeiche lnd und einladend.

„Was ich wirklich will, ist w iede r nach Fairhaven zu ziehen — zurück in mein a l tes Zimmer in u n s e r e m alten Haus in der al ten W o h n g e g e n d — und zu meinen b e s t e n F reunden . Aber w a s ich will, zählt ja nicht. Meine Eltern h a b e n das Sagen . Es k o m m t nur darauf an, w a s sie wollen."

„Ganz genau!" s t i m m t e J e r e m y zu. Er lächel te , und Neil zog ein u n m u t i g e s Gesicht . Er w u ß t e nicht, w a s da ran so komisch war . „Und j e t z t wird es Zeit, dafür zu so rgen , daß sie d a s s e l b e wollen wie du."

Neil s c h ü t t e l t e den Kopf. „Das kann ich nicht. K a n n s t du dir nicht vorstel len, daß ich es mit j e d e m A r g u m e n t v e r s u c h t habe , da s mir in den Sinn k a m ? Nichts ha t gek lapp t . Wir sind t r o t z d e m u m g e z o g e n . "

„Es klappt nie, w e n n m a n nur A r g u m e n t e anführt", b e m e r k t e J e r emy . „Meis tens s c h a d e t es soga r mehr, als es nütz t ."

„Was kann ich dann noch t u n ? " fragte Neil hilflos. Das Gesp räch schien sich im Kreise zu d rehen und zu n ichts zu führen.

„Überleg doch mal", s a g t e J e r e m y l a n g s a m und eindringlich. „Überleg mal, w a s du tun kanns t , dami t deine Eltern sich wün­schen, zurück nach Fairhaven zu z iehen. Und denk daran , w e n n

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sie es sich s t a rk g e n u g w ü n s c h e n , dann tun s ie ' s auch, weil sie, wie du schon s a g t e s t , d a s Sagen haben . "

Wie ein e lekt r i scher Schock du rchzuck te Neil eine plötzliche Angst , w a r aber im n ä c h s t e n M o m e n t v e r s c h w u n d e n . S t a t t des¬ sen s t ieg zaghaf t eine pr ickelnde Hoffnung in ihm hoch. J e r e m y sah ihn mit kühlem, f e s t e m Blick an, als wolle er einzig und allein mit se inen Augen das Gefühl auf ihn ü b e r t r a g e n , daß j e m a n d ihm eine hilfreiche, s t a r k e Hand re ich te .

„Denk bis morgen mal d a r ü b e r nach" , s a g t e er. „Dann reden wir weiter ."

Neil s c h l e n d e r t e ohne Eile nach Hause und fühlte sich b e s s e r als je zuvor sei t dem Umzug nach Winton. Nur flüchtig kam es ihm in den Sinn, daß er v e r g e s s e n h a t t e , J e r e m y nach dem Grabs te in zu fragen. Er s te l l te sich l ängs t nicht mehr die Frage , w e r J e r e m y Pimm eigentlich w a r und w o h e r er kam. Das w a r alles nicht meh r wicht ig. Wichtig w a r nur, daß J e r e m y ihm helfen w ü r d e , zurück nach Fairhaven zu k o m m e n . D e s s e n w a r er sich so sicher, wie er sich lange keiner Sache mehr s icher g e w e s e n war .

Als .Neil ins Haus ging, hö r t e er da s Klappern der Schreibmaschi¬ nen se iner Eltern. Er ging g e r a d e w e g s in die Küche und m a c h t e sich ein Sandwich . Dabei s te l l te er sich vor, wie langweilig es doch sein m ü ß t e , ein Schriftsteller zu sein und s t u n d e n l a n g an der Schre ibmasch ine zu si tzen, ohne mit j e m a n d e m zu reden oder mal eine a n d e r e U m g e b u n g zu s e h e n . Seine Eltern s c h a u t e n kaum j e m a l s aus dem Fenster . Sie w ü r d e n es nicht einmal bemer¬ ken, w e n n plötzlich ein S c h n e e s t u r m e inse tzen soll te . Es m a c h t e ihn w ü t e n d , sich vorzus te l len , wie zufrieden sie w a r e n , und es m a c h t e ihn noch viel w ü t e n d e r , da ran zu denken , daß ihre Arbeit ihnen mit der Zeit so viel wich t iger g e w o r d e n w a r als die Familie. Doch wie sollte er es nur anfangen , daß der Wunsch in ihnen w u c h s , nach Fairhaven zurückzuziehen , w e n n sie doch n ichts a n d e r e s s a h e n als ihre S c h r e i b m a s c h i n e ?

„Denk bis m o r g e n da rübe r nach, dann reden wir weiter ." J e r e -mys Worte verfolgten ihn wie ein Song tex t , der e inem nicht m e h r aus dem Sinn g e h e n will. Er w ü r d e a n g e s t r e n g t n a c h d e n k e n m ü s s e n , um eine Lösung zu finden. Z u n ä c h s t einmal beschloß er, se ine Eltern g e n a u zu b e o b a c h t e n , um fes tzuste l len, ob es Sei ten

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an ihnen gab , die er bislang nicht b e m e r k t h a t t e — Eigenar ten , die er b e n u t z e n k o n n t e , um zurück nach Fairhaven zu k o m m e n .

Das Schlagen der Hinter tür riß ihn aus se inen Gedanken . Es w a r Christie. Sie zog eine Gr imasse , als sie in die Küche kam und Neil dort s t e h e n sah .

„Hier s t e c k s t du a lso. Wo w a r s t du die g a n z e Zei t? Ich d a c h t e , du wol l t es t bloß die blöden U m z u g s k a r t o n s abliefern."

„Warum regs t du dich so auf?" fragte Neil und sah sie ebenfalls v e r ä r g e r t an. „Sag bloß nicht, ich h ä t t e dir gefehlt ."

„Und ob . Gerade , als du g e g a n g e n w a r s t , kam Max un te r dem Gebüsch hervor, ich d a c h t e , du w ü r d e s t gleich z u r ü c k k o m m e n , desha lb hab ich gleich ange fangen , ihn zu baden , und dann m u ß t e ich die ganze Arbeit allein tun ."

„Schlimm für dich", s a g t e Neil. „Na, immerhin ha t er mich nicht angeknur r t ! " s a g t e se ine

S c h w e s t e r und s tapf te aus der Küche . Ihre Sho r t s und ihre Bluse w a r e n t ropfnaß. Neil k o n n t e sich vors te l len, w e l c h e Mühe sie g e h a b t h a t t e , Max in der Wanne fes tzuha l t en , dami t er nicht h e r a u s s p r a n g , und ihn gleichzeitig zu s c h r u b b e n . Doch im Mo¬ m e n t h a t t e e r a n d e r e Sorgen .

Den ganzen Nachmi t t ag über lunger te Neil zu Hause herum, hör te eine Weile Pla t ten und v e r s u c h t e dann , I n t e r e s s e für einen alten Kriegsfilm aufzubringen, der g e r a d e im F e r n s e h e n lief. So geh t das nicht, d a c h t e er nach einer Weile. Es w a r unmöglich, se ine Eltern zu b e o b a c h t e n , w e n n sie n ichts a n d e r e s t a t e n , als den ganzen Tag lang in ihrem Arbe i t sz immer zu s i tzen und zu schre iben . Doch das t a t e n sie, wie er w u ß t e , be inah täglich. Klar, m a n c h m a l gingen sie auch zur Bücherei , um zu recherch ieren , oder sie fuhren mit der Bahn zu e inem Verleger in New York, aber w a s auch immer sie t a t e n , es hing s t e t s mit ihrer ganz pr ivaten Welt der Schriftstellerei z u s a m m e n .

Neil d a c h t e gründlich d a r ü b e r nach und w u n d e r t e sich, daß er sich bisher eigentlich nie v e r n a c h l ä s s i g t gefühlt h a t t e . Doch diese T a t s a c h e ließ sich nun nicht mehr leugnen, n a c h d e m sie ihm b e w u ß t g e w o r d e n war . Seine Eltern b e m e r k t e n offenbar kaum, daß es ihn g a b . Kein Wunder , w e n n es ihnen völlig gleichgültig war, ob er sich g e g e n den Umzug w e h r t e .

Spä t am Nachmi t t ag k a m e n Mr. und Mrs. Y o u n g w e r t h aus

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ihrem Arbei tsz immer . Neils Vater z ü n d e t e die Holzkohle auf dem Gartengrill an, w ä h r e n d se ine Mut te r b e g a n n , einen Salat vorzu¬ bere i t en . Neil blieb im Wohnz immer und l ausch t e ihrer Unterhal¬ t u n g . A b g e s e h e n von beiläufigen B e m e r k u n g e n über die Vorbe¬ re i tungen zum A b e n d e s s e n s p r a c h e n sie über nichts a n d e r e s als über die Handlung und die Figuren und a n d e r e Dinge, die ihre Bücher be t ra fen . Neils N iede rgesch lagenhe i t vert ief te sich. Er h a t t e noch immer nicht die ge r i ngs t e Vorste l lung, wie er sie dazu b e w e g e n k ö n n t e , w i e d e r nach Fairhaven zu z iehen.

Während des A b e n d e s s e n s w a r er mürr i sch und einsilbig und aß nicht einmal se inen H a m b u r g e r auf.

„Und w a s h a s t du h e u t e so ge t r i eben , mein J u n g e ? " fragte sein Vater.

„Ach, n ichts B e s o n d e r e s " , b r u m m e l t e er. Sofort fing Christie an, eine großar t ige Gesch ich te zu erzählen,

wie sie ganz allein den Hund h a t t e b a d e n m ü s s e n . Damit w a r die a l lgemeine Befragung für d iesen Tag a b g e s c h l o s s e n . Im Grunde m a c h t sich keiner G e d a n k e n über mich oder darüber , w a s ich t re ibe , d a c h t e Neil, en t s chu ld ig t e sich und ging in sein Zimmer.

Kurz nach Mi t t e rnach t w u r d e Neil unve rmi t t e l t w a c h . Er w u ß t e nicht genau , w o d u r c h er a u f g e w a c h t war . Er k o n n t e sich nicht er innern, ein Geräusch gehö r t zu haben , und g e t r ä u m t h a t t e er wohl auch nicht. Schon woll te er sich auf die a n d e r e Sei te d r ehen und wei te rsch la fen , als er b e m e r k t e , wie hungr ig er war . Zum A b e n d b r o t h a t t e er nicht viel g e g e s s e n , und das lag nun auch schon s e c h s S t u n d e n zurück.

Er übe r l eg te , ob er nach un t en g e h e n und den Kühlschrank d u r c h s u c h e n sollte, k o n n t e sich aber nicht rech t dazu entschlie¬ ßen. Er w a r einfach zu faul. Schließlich aber s i eg te doch sein knu r r ende r Magen, und im n ä c h s t e n M o m e n t schlüpfte er aus dem Bet t und h u s c h t e leise die Treppe hinunter .

Aus i rgende inem unerfindlichen Grund blieb er vor der Tür zum Arbe i t sz immer se iner Eltern s t e h e n . Er kn ips t e da s Licht an und ging hinein. Das Zimmer sah aus wie immer. Büche r rega le . Ak~ t e n s c h r ä n k e . Zwei Schre ib t i sche mit völlig gleichen Schreibma¬ schinen darauf. Und die Manuskr ip te , säuber l ich n e b e n j e d e r Schre ibmasch ine ge s t ape l t , die Zeichen ihrer Arbeit und die Wur-

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zel all s e ines K u m m e r s . Neil s e t z t e sich auf den Stuhl vor dem Schre ib t i sch se iner Mut¬

ter. Er w u ß t e nicht, wie die S t re ichholzschach te l plötzlich in se ine linke Hand g e k o m m e n war . Es w a r ihm auch gleichgültig. Er m a c h t e sie auf, zog ein Streichholz h e r a u s , z ü n d e t e es an und sah der f lackernden o r a n g e r o t e n F lamme mit stillem Vergnügen zu. Die F lamme kroch an dem Zündhölzchen hinab, w u r d e kleiner und kleiner, bis sie fast se ine Finger erre icht h a t t e , und ging dann a u s .

Neil warf den ve rkoh l t en Res t in eine leere Kaf fee ta s se auf dem Schreibt isch und z ü n d e t e ein z w e i t e s Streichholz an. Wie un te r Hypnose sah er zu, wie die F lamme h e r u n t e r b r a n n t e . Er warf es w e g und z ü n d e t e ein d r i t t e s an. In der e inen Hand hielt er das b r e n n e n d e Streichholz, mit der a n d e r e n griff er nach der o b e r s t e n Sei te des M a n u s k r i p t e s se iner Mutter .

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6. KAPITEL

Neil hielt die Manusk r ip t s e i t e hoch und b e t r a c h t e t e die schwar¬ zen B u c h s t a b e n , die wie Kolonnen von Amei sen in Reih und Glied über die Seite liefen. Mit e inem b e n e b e l t e n Gefühl im Kopf zog er die Seite immer dichter zu sich heran , bis ihn ein scharfer Schmerz in Daumen und Zeigefinger der a n d e r e n Hand z u s a m m e n z u c k e n ließ.

„Autsch!" schrie er auf und ließ das Streichholz instinktiv fallen. Es sege l t e zu Boden und ver losch , bevor es l a n d e t e . Neil betrach¬ t e t e es , wie es still und verkohl t auf dem g e b o h n e r t e n Holzfu߬ boden lag, dann s c h a u t e er sich voller U n b e h a g e n um.

Wie kann man so e t w a s Albernes t u n ? d a c h t e er. Ich h ä t t e das ganze Haus in Brand s e t z e n können . Was für ein Glück, daß er n i emanden au fgeweck t h a t t e . Er legte die Manusk r ip t se i t e zu¬ rück auf den Stapel , g e n a u s o ordentlich, wie se ine Mut te r die Seiten aufgesch ich te t h a t t e .

Neil s c h a u d e r t e und w a g t e nicht, sich se lbs t die Frage zu stel¬ len, w a r u m er die Seite beinah v e r b r a n n t h ä t t e . Ich muß schlaf¬ g e w a n d e l t sein, schloß er und b r a c h t e die S t i m m e in se inem Innern zum V e r s t u m m e n , die ihn daran er innern woll te , daß er doch auf g e w a c h t w a r und nach un t en g e h e n woll te , um e t w a s zu e s s e n .

Er hob das a b g e b r a n n t e Streichholz vom Boden auf und n a h m die ande ren beiden von der U n t e r t a s s e . Sie w a r e n inzwischen abgekühl t , und z u s a m m e n mit der Sre ichholzschachte l s t e c k t e er sie in seine P y j a m a t a s c h e . Dann lösch te er das Licht und schlich zurück in sein Bet t .

Am n ä c h s t e n Morgen e r w a c h t e Neil durch ein Gewit ter . Blitze zuck ten und z i sch ten durch die B a u m k r o n e n und in auf- und

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a b s c h w e l l e n d e n Wogen grollte der Donner in der Luft. Neil h a t t e das Gefühl, als ob das Haus mi t t en im Z e n t r u m des Gewi t t e r s s t e c k t e . N a c h d e m er sich eilig a n g e z o g e n h a t t e , n a h m er j e w e i l s zwei T r e p p e n s t u f e n auf einmal und r a n n t e in die Küche , wo er den Res t der Familie s chon v e r s a m m e l t e r w a r t e t e . Aber nur Christie w a r da, und sie warf ihm einen säuer l ichen Blick zu, bevor sie we i t e r die Rückse i t e einer Cornf lakesschachte l las .

„Wo sind Mom und Dad?" fragte Neil. „Draußen auf der T e r r a s s e . Sie n e h m e n das Gewi t t e r auf Kas¬

s e t t e auf." „Ach s o " , s a g t e Neil. „Typisch." Die Y o u n g w e r t h s h a t t e n so ziemlich alles auf Band aufgenom¬

men — von s t a r t e n d e n F lugzeugen bis zu Marschkape l len . Sie führten eine Art von Bibliothek für G e r ä u s c h e auf K a s s e t t e n , die sie zum Schre iben b r a u c h t e n . Ihrer Meinung nach w a r es ein¬ facher, ein Ge räusch zu be sch re iben , w e n n m a n es t a t säch l i ch hör te und nicht nur auf das G e d ä c h t n i s a n g e w i e s e n war . Das w a r Im Grunde s chon e in leuchtend , und obwohl sie be re i t s früher S t ü r m e und Gewi t t e r a u f g e n o m m e n h a t t e n , m u ß t e Neil doch zugeben , daß sich ein Gewi t t e r hier in den Wäldern völlig a n d e r s a n h ö r t e . A n d e r e r s e i t s — w a r u m k o n n t e n sie w ä h r e n d e ines Ge¬ w i t t e r s nicht einfach normal f rühs tücken , wie a n d e r e Leu te a u c h ? Seine Eltern j e d o c h nicht. Wenn m a n es sich rech t über¬ legte , w a r es w ide rwär t i g .

Den g a n z e n Vormi t t ag lang lunge r t e Neil im Hause he rum, und in se inem Innern s t a u t e sich Ärger auf wie heißer Dampf. Der S tu rm h a t t e noch kein bißchen n a c h g e l a s s e n . Das b e d e u t e t e , daß er unmögl ich zum S t e i n h a u s g e h e n und mit J e r e m y Pimm reden k o n n t e .

Und hier gab es auch n ich ts für ihn zu tun . Seine Eltern ar¬ be i t e t en , und Christie w a r in ihrem Zimmer und h a t t e ihre Stereo¬ anlage auf volle L a u t s t ä r k e aufgedreh t . Vermutl ich woll te sie den Lärm d e s S t u r m s ü b e r t ö n e n . Wenn sie doch nur in Fairhaven w ä r e n ! An e inem Tag wie d i e s e m h ä t t e n Henry und Alan und er j e d e M e n g e zu tun gefunden.

Das Telefon u n t e r b r a c h ihn in se inen G e d a n k e n . Es w a r Mat¬ t h e w .

„Ist bei euch zu Hause i r g e n d w a s los?" f ragte er.

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„Machst du Witze?" b r u m m t e Neil. „Gut. Also, ich hab einen Plan. Meine Mut te r muß in d ie sem

schaude rha f t en Wet t e r r aus zum Zahnarz t . Sie sagt , sie fährt gern bei euch vorbei , holt dich ab und läßt dich auf dem Weg dann hier a u s s t e i g e n . Ich weiß auch nicht, w a s wir m a c h e n k ö n n e n . Wir k ö n n t e n B a c k g a m m o n spielen oder so . Vielleicht w a s e s s e n . Keine Ahnung . Aber es ist immer noch besser , als gar n ichts zu tun . Was me ins t d u ? "

„Du h a s t mir das Leben g e r e t t e t " , s a g t e Neil aufrichtig. „Wann wird sie hier s e in?"

„Sie will in ungefähr einer Vie r t e l s tunde losfahren, also hal te dich berei t und r enne gleich los, w e n n du ihren Wagen auf der Auffahrt s iehs t ."

„Gut." Neil legte den Hörer auf und s t e c k t e den Kopf zum Arbe i t sz immer hinein, um seinen Eltern Bescheid zu s a g e n , daß er fort woll te .

Sie hoben nur kurz den Kopf, und se ine Mut te r s a g t e e t w a s Belangloses wie „Das ist ne t t , mein Scha tz" und a rbe i t e t e wei ter .

Ich h ä t t e auch gehen können , ohne ihnen ein Wort zu s a g e n , d a c h t e Neil ve r ä rge r t . Sie h ä t t e n nicht einmal gemerk t , daß ich fort bin.

Wenige Minuten s p ä t e r rumpe l t e der gelbe Kle inwagen der Craw-fords die r e g e n ü b e r s t r ö m t e Zufahrt hinauf, und in drei m ä c h t i g e n Sprüngen über Pfützen h inweg schaffte Neil den Weg von der Haus tü r zum Auto . Mrs. Crawford sah s y m p a t h i s c h aus und hat¬ te s o n n e n g e b l e i c h t e s , kurzes b londes Haar. Während der kurzen Fahrt r e d e t e sie freundlich mit ihm. Neil w a r gu te r Laune , als er aus dem Wagen s t ieg und zum Haus der Grawfords s p r i n t e t e , wo M a t t h e w ihm mit se inem üblichen bre i ten Lächeln die Tür öffnete.

„Toller Tag für Enten" , me in te er. „Ja. Wenn das noch lange so we i t e r geht , w a c h s e n uns allen

bald S c h w i m m h ä u t e zwischen den Zehen" , e n t g e g n e t e Neil la¬ chend. „Da draußen gießt es wie aus Kübeln."

Während er noch r e d e t e , schoß ihm eine Vorstel lung durch den Kopf. Dieselbe Szene h a t t e er schon neulich a b e n d s vor sich g e s e h e n , n a c h d e m er den Grabs te in gefunden h a t t e . Da h a t t e er daran gedach t , wie der Frühl ingsregen den Bach anschwel l en ließ

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und das W a s s e r des Teichs immer nähe r und nähe r an das Grab des U n b e k a n n t e n he rank roch . Wie w ü r d e sich d ieser Wolken¬ bruch auf den W a s s e r s t a n d a u s w i r k e n ? Vielleicht e rgab sich eine Gelegenhei t , M a t t h e w danach zu fragen.

Z u n ä c h s t aber folgte er M a t t h e w und se iner Nase in die Küche , die von u n v e r k e n n b a r e m Pizzaduft erfüllt war .

„Wenn s o n s t gar n ichts mehr geht , kann man immer noch e s s e n " , v e r k ü n d e t e M a t t h e w und w i e s mit großar t iger Ges te auf den Herd. „Danach k ö n n e n wir uns über legen , wie wir uns die Zeit ve r t re iben wollen."

Er zog die Pizza aus dem Herd und s te l l te sie auf einen Unter¬ sa tz mi t ten auf den Tisch. Die be iden J u n g e n unte rh ie l ten sich über alltägliche Dinge, w ä h r e n d sie die Pizza in t o r t en fö rmige S tücke schn i t t en , doch das Gesp räch v e r s t u m m t e , sobald sie anfingen zu e s s e n . Sie h a t t e n die Pizza gar nicht e r s t abkühlen lassen , und als der heiße Käse an Neils G a u m e n kleben blieb, s c h o s s e n ihm die Tränen in die Augen . Er spü l te den heißen Käse mit Cola h inunter und w i d m e t e sich dann völlig se iner Pizza.

Als auch das le tz te Häppchen a u f g e g e s s e n w a r und sie mit dem Aufräumen anfingen, beschloß Neil, nicht mehr länger zu w a r t e n , s o n d e r n gleich auf den Grabs te in zu s p r e c h e n zu kom¬ m e n .

„Weißt du noch, wie du mich neulich im Kreis durch den Wald geführt h a s t ? " fing er an.

M a t t h e w warf Neil einen v e r s t o h l e n e n Blick zu und nickte . „Nun, da hab ich beim Mühlenteich hinter dem alten S t e inhaus

ein Grab gefunden."

„Es w a r ja ziemlich offensichtlich, daß du wol l tes t , daß ich es fand, aber auf dem Grabs te in s t and kein N a m e . Wer liegt d o r t ? "

M a t t h e w w a n d t e rasch den Blick ab , aber Neil h a t t e t r o t z d e m b e m e r k t , wie d a s Lächeln in se inen Augen e inem b e s o r g t e n Aus¬ druck wich.

„Es wa r ein Scherz" , s a g t e er mit g e s e n k t e m Blick. „Und ei¬ gentlich ein ziemlich blöder Scherz . Ich woll te dich nur ein bißchen an der Nase herumführen , das ist alles."

„Dann has t du wohl einen Friedhof gep lünder t " , s a g t e Neil. „Einen Stein mit der Form eines Grabs t e in s k a n n s t du doch nie-

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mals im Wald gefunden haben . " M a t t h e w a n t w o r t e t e nicht, und Neil b e o b a c h t e t e a n g e s t r e n g t

sein g e s e n k t e s Gesicht . Er w a r sicher, daß M a t t h e w mit sich kämpf te , w a s e r nun s a g e n soll te.

„Du w ü r d e s t mir kein Wort g lauben, w e n n ich es dir s a g t e " , b e m e r k t e Ma t thew. „Ich weiß se lbs t nicht, ob ich es g laube ."

„Versuch 's" , d r ä n g t e Neil. Eine w e i t e r e P a u s e e n t s t a n d , und dann s a g t e M a t t h e w mit

e inem Seufzer: „Laß uns ins Wohnz immer g e h e n und es uns gemütl ich m a c h e n . J e t z t beg inn t die M ä r c h e n s t u n d e . "

Er w i s c h t e noch ein l e t z t e s Mal über den Küchent i sch , warf den Lappen in die Spüle und ging v o r a u s zum Wohnzimmer. Das Sofa b e a c h t e t e er nicht; er warf sich in einen gemüt l ichen b r a u n e n Si tzsack. Neil ließ sich in den zwei ten s inken und rekel te sich, bis er die b e q u e m s t e Stellung gefunden h a t t e . Während die Regen¬ tropfen ans Fens t e r klopften, erzähl te M a t t h e w dann se ine Ge¬ sch ich te .

„So um 1870 he rum lebte ein Mann n a m e n s Eleaser Burbank hier in Winton in Connect icu t . Seiner Familie g e h ö r t e die alte Wasser¬ mühle , doch Eleaser w a r in die S tad t gezogen , h a t t e sich eine Textilfabrik auf g e b a u t und scheffelte ein Heidengeld. Davon bau¬ te er sich ein g roßes , s t e i n e r n e s Haus in der Nähe der Wasser¬ mühle se iner Familie. Er w a r ein g robsch läch t ige r Mann, fast zwei Meter groß, und er w a r so ein g e m e i n e r Teufel, daß er nie eine Frau gefunden hat . Es w a r auch nicht leicht für ihn, bezah l t e Diens tbo ten im Hause zu beha l ten , aber d a s Diens tbotenpro¬ blem w a r für ihn gelöst , als se ine S c h w e s t e r und ihr Mann wäh¬ rend einer Pockenep idemie in Pennsylvania s t a r b e n und einen Sohn hinterl ießen. Der J u n g e w a r e t w a s iebzehn J a h r e alt und eigentlich alt genug , sich se lbs t du rchzusch lagen , aber der alte Eleaser ließ ihn holen und v e r s p r a c h ihm das Blaue vom Himmel, w e n n er bei se inem Onkel leben w ü r d e .

Es heißt, daß Eleaser zu s e inem Neffen noch boshaf te r w a r als zu den Diens tbo ten und ihn wie einen Gefangenen hielt. Tag und Nacht m u ß t e der J u n g e in se iner Fabrik a rbe i ten . Nach t s k e t t e t e der Alte ihn soga r an, dami t er nicht weglaufen k o n n t e . Ich schät¬ ze, der J u n g e ha t es sich so lange gefallen l assen , bis er es nicht

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mehr aushiel t , und nach ein oder zwei J a h r e n , als er keinen Aus¬ w e g mehr sah , w u r d e er ve r rück t und s p r a n g in eine Maschine in der Textilfabrik. Wahrscheinl ich d a c h t e er, daß das die einzige Möglichkeit für ihn war, sich von se inem Onkel zu befreien.

Der alte Eleaser w a r so w ü t e n d , daß er ihn nicht einmal auf dem Friedhof der S t ad t b e g r a b e n l a ssen wol l te . S t a t t d e s s e n b r a c h t e er die Leiche zu dem alten Familienbesi tz und v e r s c h a r r t e sie d raußen bei der Mühle. Seinen Namen ließ er nie in den Grabs te in e ingravieren. Tja", schloß M a t t h e w mit e inem Seufzer. „Das ist also die Gesch ich te . "

„Noch nicht ganz" , w a n d t e Neil ein. „Du h a s t mir Immer noch nicht den Namen des J u n g e n g e s a g t . "

Draußen zuck te ein Blitz auf und erfüllte das Zimmer für einen Augenblick mit e inem g e s p e n s t i s c h e n Licht. M a t t h e w blickte Neil durchdr ingend an, bevor er s a g t e : „Sein Name ist J e r e m y Pimm."

„Woher h a s t du diese G e s c h i c h t e ? " fragte Neil, „ich g laube , du willst dich über mich lustig m a c h e n . "

„Ich w u ß t e , daß du das s a g e n w ü r d e s t " , me in t e M a t t h e w und m a c h t e ein wirklich v e r ä r g e r t e s Gesicht . „Warum g laubs t du wohl , daß ich dich zu dem Grabs te in geführt habe , damit du ihn mit e igenen Augen s iehs t , bevor ich dir d iese Gesch ich te erzähl¬ t e ? Du w a r s t doch ganz v e r s e s s e n darauf, zu erfahren, w e r Jere¬ my Pimm ist. Gut, j e t z t we iß t du es . Und w e n n du es überprüfen willst, dann geh doch zum Gesch ich t sve re in und frage nach Mrs. C h e s t e r t o n . Sie ist ein Na tu r t a l en t im Gesch ich tene rzäh len und kann auch ganz pr ima ein paa r grusel ige Einzelheiten e inbauen . Geh nur. Sie wi rd ' s dir s a g e n . "

M a t t h e w ließ sich in se inen Si tzsack zurücks inken und schloß die Augen, als ob die Gesch ich te von J e r e m y Pimm ihn völlig m i t g e n o m m e n h ä t t e . Neil b e o b a c h t e t e ihn eine Weile, ließ sich vom eintönigen R a u s c h e n des R e g e n s einlullen und hing se inen e igenen Gedanken nach.

Die Geschich te w a r unglaublich. Neil h a t t e nie da ran gezweifelt , daß überna tür l iche Kräfte im Spiel sein muß ten , w e n n das Stein¬ h a u s sich von einer zerfallenen Ruine in das Haus v e r w a n d e l n k o n n t e , das es früher einmal g e w e s e n war . Doch J e r e m y Pimm w a r ihm immer so wirklich v o r g e k o m m e n wie ein Mensch aus Fleisch und Blut. S t a t t d e s s e n wa r er der Geist e ines J u n g e n , der

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vor e t w a h u n d e r t J a h r e n ge leb t h a t t e und der die Prob leme von j u n g e n M e n s c h e n v e r s t a n d . Schließlich h a t t e e r wohl m e h r als g e n u g Erfahrungen mit E r w a c h s e n e n g e m a c h t , die ihn bevor¬ m u n d e t e n und quäl ten . Und w e n n M a t t h e w s Gesch ich te der Wahrhei t e n t s p r a c h , dann h a t t e er sich also e n t s c h l o s s e n , zurück auf die Welt zu k o m m e n und j u n g e n M e n s c h e n zu helfen. Dem¬ nach w a r er so eine Art Heiliger. Der heilige Je remy , d a c h t e Neil mit e inem Lächeln.

„Mat thew, w a r u m hab ich dich noch nie im al ten S t e inhaus ge¬ s e h e n ? " fragte Neil nach einer Weile. „Gehst du nicht mehr h in?"

Mat thew schlug die Augen auf und blickte Neil offen an. „Nein, nicht mehr oft." Dann hob er die Schul tern und s e t z t e mit e inem Lächeln hinzu: „In le tzter Zeit k o m m e ich ein bißchen b e s s e r mit meinen Eltern a u s . Vermutl ich g e w ö h n e n sie sich l a n g s a m an den Gedanken , daß ich e r w a c h s e n w e r d e . "

Neil e rw ide r t e sein Lächeln und w a r froh, daß das Eis w iede r g e b r o c h e n war . „Muß ein tolles Gefühl sein", s a g t e er.

„Ja", s t i m m t e M a t t h e w zu, doch dann w u r d e n se ine Gesichts¬ züge har t . Offenbar s u c h t e er nach Worten , um Neil e t w a s mit¬ zuteilen. Nach ein oder zwei Minuten hob er den Kopf. „Ich muß dich w a s fragen, Neil."

„Wenn ich dir a n t w o r t e n kann, gern." „Hast du, seit du J e r e m y Pimrn k e n n e n g e l e r n t has t , irgend

e t w a s Komisches anges t e l l t ? Ich meine , e t w a s wirklich Bedenk¬ liches, e t w a s , w a s du n o r m a l e r w e i s e nicht tun w ü r d e s t u n d j e t z t wie un te r Z w a n g m a c h e n m u ß t e s t ? "

Neil z ö g e r t e . „Ich weiß nicht recht" , s a g t e er l angsam. „Kann sein." Seine Gedanken ü b e r s t ü r z t e n sich und kre is ten um die v e r g a n g e n e Nacht, als er ins Arbe i t sz immer se iner Eltern gegan¬ gen w a r und be inahe das Manuskr ip t se iner Mut te r v e r b r a n n t h ä t t e . Aber er w a r nicht sicher, ob er M a t t h e w gut g e n u g k a n n t e , um ihm davon erzählen zu können . A u ß e r d e m w a r er b e s t i m m t nur sch lafgewandel t . „Warum willst du das w i s s e n ? " fragte er dann .

M a t t h e w zuck te die Achseln . „Ach, nur so . Ist auch nicht we i t e r wicht ig ."

Sie spiel ten B a c k g a m m o n , und d raußen ließ der S turm allmäh-

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lich nach, bis nur noch gelegent l ich ein Blitz aufflackerte und der Donner schläfrig klang wie das B r u m m e n e ines Riesen vor dem Einschlafen. Auch der Regen w u r d e s c h w ä c h e r und hö r t e schließlich ganz auf. Als es Zeit zum N a c h h a u s e g e h e n w u r d e , beschloß Neil, zu Fuß zu g e h e n . Obwohl der S tu rm sich ge leg t h a t t e , w a r es inzwischen zu spä t , noch beim S te inhaus vorbeizu¬ s e h e n . Neil m u ß t e sein Gesp räch mit J e r e m y auf den n ä c h s t e n Tag ve r sch i eben .

Wasse r t rop fen r iese l ten von den B ä u m e n , k r äuse l t en die Pfüt¬ zen und d u r c h n ä ß t e n se ine Kleidung. Aber Neil b e m e r k t e es kaum, so sehr beschäf t ig ten sich se ine G e d a n k e n mit J e r e m y Pimm und der Frage , die M a t t h e w ihm ges te l l t h a t t e . Den Wagen, der sich hinter ihm n ä h e r t e , hö r t e er ers t , als d ieser ihn schon be inah überho l t h a t t e . A u t o m a t i s c h wich e r zum S t r a ß e n r a n d aus , bevor er den Blick hob und sah, daß es sich um einen al ten s c h w a r z e n Chevy h a n d e l t e und daß Dick am S t e u e r saß . Dick hielt an, lächel te breit und forder te Neil auf, e inzus te igen .

„Soll ich dich nach H a u s e b r i ngen?" fragte er. „Hey, da s ist ja toll." Neil k l e t t e r t e auf den Vorders i tz n e b e n

Dick. „Dann k a n n s t du also j e t z t fahren. Wie h a s t du deine Gro߬ m u t t e r denn h e r u m g e k r i e g t ? "

Das Lächeln v e r s c h w a n d von Dicks Gesicht . „Hab ich gar nicht", b r u m m t e er.

„Was soll das he ißen?" fragte Neil. „Du fährs t aber doch, o d e r ? " „Klar, aber sie weiß n ichts davon." Neil h ä t t e ihn gern gefragt, wie er es geschaff t h a t t e , heimlich

den Wagen zu n e h m e n , ohne daß sie es w u ß t e oder z u m i n d e s t das M o t o r e n g e r ä u s c h gehö r t h a t t e , aber irgend e t w a s an Dicks Tonfall j a g t e ihm einen kal ten Schaue r über den Rücken .

An der Zufahrt zum Hause der Y o u n g w e r t h s v e r a b s c h i e d e t e n sie sich. Neil lief r a sch ins Haus und schlug die Tür zu, so kräftig er k o n n t e , aber n i emand m a c h t e sich die Mühe, zu rufen und zu fragen, w e r g e k o m m e n war, g e s c h w e i g e denn, Ihn zu beg rüßen .

Wieder w a c h t e Neil in der Nacht auf, ohne zu begreifen, w a r u m . Doch d i e se s Mal s u c h t e er gar nicht nach eine Erkläfung. Er s t ieg

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einfach aus dem Bet t und ging nach u n t e n . Er h a t t e e t w a s zu erledigen. Was es war, k o n n t e er nicht s a g e n , aber er h a t t e das s ichere Gefühl, daß es ihm schon zur r e c h t e n Zeit einfallen w ü r d e .

Er ging auf d i rek tem Wege ins Arbe i t sz immer se iner Eltern, ohne einen G e d a n k e n da ran zu v e r s c h w e n d e n , in die Küche zu gehen und e t w a s zu e s s e n . Die Leere, die in s e inem Innern n a g t e , h a t t e n ichts mit Hunger zu tun . Er kn ips te da s Licht an, schloß die Tür, ging zielstrebig zum A k t e n s c h r a k s e i n e s Va te r s und zog die o b e r s t e Schublade auf.

Glänzende Fotos , H u n d e r t e von Fo tos , w a r e n säuberl ich in Mappen g e o r d n e t und als Spor t fo tos a u s g e z e i c h n e t . Neil zog die Mappe mit der Aufschrift „Baseball" h e r a u s und b l ä t t e r t e sie durch. Obenauf lagen Fo tos von dem Baseba l l s t a r Nolan Ryan, mit d e n e n sein Vater eine Biografie illustriert h a t t e . Kurz vor dem Umzug w a r sie veröffentlicht w o r d e n . Darauf folgten Fo tos von Kindern, die Baseball spiel ten, Bilder von we ißhaa r igen Männern beim Baseballspiel und Bilder von allen mögl ichen Baseballvaria¬ t ionen, die man sich vors te l len k o n n t e . Das Ergebnis j a h r e l a n g e r Arbeit. Schließlich w a r Basebal l der Liebl ingssport s e ines V a t e r s .

Neil t rug die Mappe zum Schreibt isch und s e t z t e sich. Das o b e r s t e Foto, das Nolan Ryan w ä h r e n d einer R u h e p a u s e ze ig te , riß er l angsam und e n t s c h l o s s e n in der Mitte durch und hö r t e voller Befriedigung das Zerreißen des Pap ie r s . Er lächelte dem nun in zwei Hälften ge te i l ten Gesicht auf dem Foto zu. Die Fe tzen warf er auf den Boden und griff zum n ä c h s t e n Bild. Auch d i e se s w a r ein Foto von Nolan Ryan, d i e ses Mal j e d o c h in Wurf Stellung. Im n ä c h s t e n Augenblick w a r es ebenfalls ze r r i s sen und w a n d e r t e zu den Übe r r e s t en des e r s t e n Fo tos auf den Boden . Nach und nach w u c h s der Haufen von ze r r i s s enen Fo tos , bis die Mappe leer war.

Neil lehnte sich auf s e inem Stuhl zurück. Er w a r m ü d e , und immerhin w a r es mi t t en in der Nacht, doch in ihm b r a n n t e ein Fieber der Aufregung, und er woll te nicht aufhören. Er zog die Mappe mit der Aufschrift „Tennis" aus dem A k t e n s c h r a n k und ging zurück zum Schreibt isch se ines V a t e r s , als ein g e d ä m p f t e r Laut an sein Ohr d rang . Ruckar t ig blieb er s t e h e n und h o r c h t e . Da w a r es wieder .

Es w a r das leise Knurren eines Tiers auf B e u t e z u g . A n g s t

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überfiel Neil, doch er v e r s u c h t e , sie zu v e r d r ä n g e n und sich dami t zu beruhigen , daß es in den Wäldern von Connec t i cu t keine wilden Raubt ie re gab , s o n d e r n nur W a s c h b ä r e n und Rehe und derglei¬ chen. Es m u ß t e Max sein. Vielleicht h a t t e er d raußen ein Ge¬ r äusch gehör t . Einen Lands t r e i che r vielleicht. Ja, s a g t e er sich, so wird es sein. Doch der G e d a n k e h a t t e w e n i g Tröst l iches für ihn, und vors icht ig öffnete er die Tür einen kleinen Spalt .

Das Mondlicht fiel in den Flur und in die Küche im U n t e r g e s c h o ß und v e r b r e i t e t e einen milden Glanz. Mit e inem S c h a u d e r n fragte sich Neil, ob se ine Eltern wohl die H a u s t ü r r icht ig v e r s c h l o s s e n h a t t e n , und öffnete die Tür de s A b e i t s z i m m e r s ein bißchen wei¬ ter.

In d i e sem Augenbl ick t a u c h t e Max aus d e m Nichts auf und schlich direkt auf ihn zu. Er f le t sch te d rohend die Zähne , und plötzlich zerriß sein wi ldes Bellen die nächt l iche Stille.

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7. KAPITEL

Zuers t g laubte Neil, das laute Pochen sei sein e igener Herzschlag, der in se inen Ohren Max' Bellen ü b e r t ö n t e . Aber als se ine Eltern an dem Hund vorbei ins Zimmer s t ü r z t en , s tel l te er fest, daß es ihre Schr i t te auf der Treppe g e w e s e n w a r e n .

„Neil, ist alles in O r d n u n g ? " rief se ine Mut te r aufgereg t und d rück te ihn fest an sich, w ä h r e n d sein Vater sich Max z u w a n d t e und ihn mit leiser S t imme und sanf t em Streicheln zu beruh igen v e r s u c h t e , bis der Hund endlich von Neil abließ und leise j au lend in die K ü c h e lief.

Neil s t and s t rocks te i f da. Er e rw ide r t e die U m a r m u n g se iner Mut ter nicht und sah sie nicht einmal an. S t a t t d e s s e n blickte er wie in Trance s t a r r vor sich hin. Aber er w a r nicht in Trance . Max' Gebell h a t t e das zähe Sp innwebe zer r i s sen , das se inen Ver s t and umhüllt h a t t e , und das Schreckliche se iner Tat w u r d e ihm be¬ wuß t .

Das scharfe Luftholen se ines Va t e r s und der k lagende Ausruf seiner Mut ter s a g t e n ihm, daß sie nun auch g e s e h e n h a t t e n , w a s vorgefallen war. Neil ließ sich auf die Knie s inken und fuhr mit den Händen durch die g länzenden Papierstreifen, Nur ve r schwom¬ men nahm er die zer r i ssen lächelnden Gesichter, losge lös ten Ar¬ me und Beine und B r u c h s t ü c k e von Landschaf ten wahr , die ihm durch die Finger gli t ten.

„Das woll te ich nicht tun" , f lüs ter te er m e h r zu sich se lbs t als zu se inen Eltern.

J e t z t sah es aus , als w ä r e n sie ihrerse i t s in einer Art Trance e r s t a r r t . Neil s p ü r t e , daß sie nicht in e r s t e r Linie w ü t e n d w a r e n , sonde rn vielmehr bes tü rz t .

„Was um alles in der Welt ist hier p a s s i e r t ? " fragte se ine Mutter .

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„Neil, ist auch wirklich alles in O r d n u n g ? Was w a r denn in Max g e f a h r e n ? "

Neil a n t w o r t e t e nicht. Er k o n n t e n ichts a n d e r e s tun als den Haufen ze r r i s sene r Fotos auf dem Boden a n z u s t a r r e n .

„Antwor te deiner Mutter, Neil. Was ist p a s s i e r t ? " Das Gesicht s e ines Va te r s ze ig te eine Mischung aus Traurigkeit und Bes tür ­zung und vie l le icht , so d a c h t e Neil, den a u f s t e i g e n d e n Ärger, mit dem er r e c h n e t e . Er woll te a n t w o r t e n . Es d r ä n g t e ihn, die ganze Gesch ich te über das alte S t e inhaus und J e r e m y Pimm und den Gabste in in den Wäldern l o s z u w e r d e n . Er woll te ihnen so gern erklären, daß er d a s , w a s er g e t a n h a t t e , ü b e r h a u p t nicht un t e r Kontrolle g e h a b t h a t t e , doch seine Lippen g e h o r c h t e n ihm nicht. Die Worte k a m e n einfach nicht aus s e inem Mund.

„Es ist mi t ten in der Nacht" , fuhr sein Vate r ihn an. „Wir sollten zusehen , daß wir noch ein bißchen Schlaf b e k o m m e n . Morgen früh reden wir über d iese Gesch ich te . "

Neil schlich zurück in sein Zimmer und ging zu Bet t . Er k o n n t e sich nicht en t s innen , j e m a l s in s e inem Leben so m ü d e g e w e s e n zu sein, aber t r o t z d e m k o n n t e er nicht einschlafen. Was geh t mit mir vor? fragte er sich immer und immer wieder . Und s t änd ig wirbel te ihm M a t t h e w s Frage durch den Kopf: „Hast du, sei t du J e r e m y Pimm k e n n e n g e l e r n t has t , i r g e n d w a s Komisches ange¬ stel l t? ich meine e t w a s wirklich Bedenkl iches , e t w a s , w a s du no rma le rwe i se nicht tun w ü r d e s t und j e t z t wie un t e r Z w a n g m a c h e n m u ß t e s t ? "

In Wogen fiel die A n g s t über Neil her. Kontrolle. J e r e m y h a t t e g e s a g t , daß se ine Eltern alles un te r Kontrolle hä t t en , aber j e t z t sah es fast so aus , als w ä r e es J e r e m y Pimm selbst , der alle Fäden in der Hand h a t t e . Was pas s i e r t mit mir? fragte Neil sich e rneut , doch er fand die A n t w o r t nicht.

Am n ä c h s t e n Morgen k a m e n se ine Eltern noch vor dem Früh¬ s tück in sein Zimmer. Sie s a h e n erschöpf t aus , und Neil fragte sich flüchtig, ob sie wohl die ganze Nacht mit Reden v e r b r a c h t ha t t en , um herauszuf inden , wie e r e t w a s Derar t iges h a t t e tun können . Wahrscheinlich über legen sie, ob sie mit mir zum Psych-

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i a te r gehen sollen, dacht er. „Warum, Neil?" wollte se ine Mut te r w i s s e n . „Was w a r le tzte

Nacht in dich ge fahren?" Ihre S t imme klang sanft und ruhig, aber die ha r t en Linien un te r ihren Augen s a g t e n ihm, daß sie große Mühe h a t t e , die F a s s u n g zu b e w a h r e n .

Unfähig, ein Wort he rauszubr ingen , sah Neil se ine Mut te r an. Er h a t t e Angs t , Angs t vor dem Unheimlichen, das mit ihm se lbs t ge schah , A n g s t vor dem, w a s er noch ans te l len k ö n n t e , und er hä t t e ' sich am liebsten in ihre Arme geworfen wie früher, als er noch klein w a r und sie alles w i e d e r in Ordnung g e b r a c h t h a t t e . Aber dies hier w a r e t w a s a n d e r e s , und an d i e sem Morgen k a m e n die Worte e b e n s o w e n i g über se ine Lippen wie in der vergan¬ genen Nacht , als er ihnen in ihrem Arbe i t sz immer gegenübe rge¬ s t a n d e n h a t t e .

Nach e inem unerträgl ich langen Schwe igen brach sich Mr. Y o u n g w e r t h s Wut mit der Macht e ines V u l k a n a u s b r u c h s Bahn, und Neil hör te s t u m m die Vorha l tungen se ines Va t e r s an, über die J a h r e voller Mühe und Arbeit, die in d iesen Fotos s t e c k t e n . J e t z t fängt er w i e d e r damit an, d a c h t e Neil als A n t w o r t auf die Wut se ines V a t e r s . Es geht ihm immer nur um se ine Arbeit .

Dann w e t t e r t e sein Vater über Neils v e r a n t w o r t u n g s l o s e s und vorsätzl ich z e r s t ö r e r i s c h e s Verhal ten, und er b e t o n t e , daß er noch nie in s e inem Leben so ver le tz t und e n t t ä u s c h t von Neil g e w e s e n war . Die Worte s e i n e s Va te r s s c h m e r z t e n Neil, und er u n t e r d r ü c k t e den Wunsch, sich zu w e h r e n und zurückzuschla¬ gen. Dann holte Mr. Y o u n g w e r t h zum le tz ten Schlag a u s .

„Du h a s t eine Woche Hausa r r e s t " , s a g t e er. „Du wirs t den Garten nicht ve r l a s sen . Und n iemand darf dich b e s u c h e n / '

Neil nahm das Urteil gefaßt hin. Er w u r d e als Geisel, als Gefan¬ gener se iner e igenen Eltern geha l t en . Ihm blieb nichts a n d e r e s übrig, als das B e s t e da raus zu m a c h e n .

Die Tage krochen l angsam dahin. M a t t h e w rief an und v e r s u c h t e , Neil mit se iner üblichen g u t e n Laune aufzuheitern, aber er h a t t e keinen Erfolg. Dann, am dr i t ten Tag se iner Gefangenschaf t , rief Christie ihn an dem Appara t .

„Ein Mädchen will dich sp rechen" , s a g t e sie und rollte bedeu¬ tungsvoll mit den Augen.

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Neil warf ihr einen d r o h e n d e n Bück zu und n a h m den Hörer e n t g e g e n . In Winton k a n n t e er doch gar kein Mädchen .

„Hal lo." „Tag, Neil. Hier ist Terri. Er inners t du dich n o c h ? Wir haben uns

bei J e r e m y Pimm getroffen." „Oh, hallo Terri. Klar e r innere ich mich", s t o t t e r t e Neil. „Wie

g e h t ' s dir denn s o ? " „Ach, ganz gut . Hör zu, J e r e m y hat mich g e b e t e n , dich an¬

zurufen. Ich soll dir s agen , daß noch eine G e s p r ä c h s r u n d e für Dick a n g e s e t z t ist. Seine Prob leme w a c h s e n ihm allmählich über den Kopf. Seine Großmut t e r m a c h t ihm mehr denn je zu schaffen. Und J e r e m y w ü r d e sich jedenfa l l s sehr freuen, w e n n du dabei sein k ö n n t e s t . Die Sitzung findet h e u t e n a c h m i t t a g um vier Uhr s t a t t . "

„Mensch, ich w ü r d e ja gern k o m m e n , aber wir fahren h e u t e w e g " , log Neil. „Sag ihm, daß ich in ein paa r Tagen mal w iede r v o r b e i k o m m e . "

„Na gut . Bis dann" , s a g t e Terri. Die A n g s t p a c k t e Neil wieder , als er den Hörer auf legte . Beinah

war er froh, daß er nicht zu J e r e m y g e h e n k o n n t e , und er fragte sich, ob J e r e m y sich wohl da rübe r w u n d e r t e , daß er sich so lange nicht h a t t e blicken l a ssen . Na ja , ein paar Tage lang h a t t e er nun w e n i g s t e n s noch Ruhe . Doch er k o n n t e den G e d a n k e n an Dick nicht mehr l o s w e r d e n und h ä t t e gern gewuß t , w a s denn so drin¬ gend war.

„Nun, du s c h m a c h t e n d e r Kavalier. Wer w a r d a s ? " fragte Chri¬ s t ie .

Neil s chob sich an ihr vorbei , ohne auf Ihre Frage e inzugehen , und ging in den Gar ten . Max lag in einer flachen Aushöhlung , die er sich In der we ichen Erde u n t e r e inem s c h a t t e n s p e n d e n d e n Baum g e b u d d e l t h a t t e . Er sah Neil k o m m e n und sich ins Gras werfen, doch er knur r t e nicht. Seit der Nacht im Arbe i t sz immer se iner Eltern h a t t e der Hund ihn nicht mehr a n g e k n u r r t . Flüchtig übe r l eg te Neil, ob man nicht b e s s e r zum Tierarzt h ä t t e g e h e n sollen, doch der Ge danke w a r r a sch wiede r verflogen und w u r d e v e r d r ä n g t von se inen Grübeleien über J e r e m y Pimm.

Schließlich w a r die Woche H a u s a r r e s t vorbei . Es w a r ein Mitt¬ woch , und Neil e r w a c h t e mit e inem Gefühl der Vorfreude. Spä te r schlüpfte er aus dem Haus , ohne j e m a n d e m zu. s agen , wohin er..

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ging. Er schlug den Weg die s t aub ige S t raße en t lang zum Stein¬ haus ein.

Als er die Wälder am Ende der S t raße erreicht h a t t e , blieb er s t e h e n . Er woll te mit J e r e m y Pimm reden, sich vers ichern l a s sen , daß alles se inen ge rege l t en Lauf nahm, aber irgend e t w a s hielt ihn zurück. Vielleicht sollte er doch z u e r s t zu M a t t h e w g e h e n . Vielleicht k o n n t e n sie an d iesem Nachmi t t ag z u s a m m e n schwim¬ m e n gehen , n a c h d e m er mit J e r e m y Pimm g e r e d e t h a t t e . Viel¬ leicht w ü r d e M a t t h e w ihn mit ein paar Mädchen b e k a n n t m a c h e n . Die Idee gefiel ihm, und er bog in eine S e i t e n s t r a ß e zur Grey Rocks Road ein.

M a t t h e w w a r zu H a u s e . „Hey, ich hab g e r a d e an dich gedach t " , s a g t e er. „Was um alles in der Welt h a s t du anges t e l l t ? Es muß schon e t w a s richtig Sch l immes g e w e s e n sein, w e n n sie dir dafür eine ganze Woche H a u s a r r e s t a u f g e b r u m m t haben . Also raus mit der Sprache . "

Urplötzlich begriff Neil, w a r u m er z u e r s t zu M a t t h e w g e g a n g e n war, bevor er das S t e inhaus a u f s u c h t e .

„Darüber will ichja g e r a d e mit dir s p r e c h e n " , s a g t e er. „Neulich h a s t du mich gefragt, ob ich schon mal i r g e n d w a s g e t a n hab , das ich nicht un te r Kontrolle h a t t e , seit ich J e r e m y Pimm kennenge¬ lernt h a b e . Nun, das hab ich, und es m a c h t mir Angs t . "

Er be r i ch t e t e M a t t h e w von se inen be iden mi t t e rnäch t l i chen B e s u c h e n im Arbe i t sz immer se iner Eltern, und daß er e r s t ge¬ w u ß t h a t t e , w a s er eigentlich ta t , als es schon g e s c h e h e n und damit zu s p ä t war . „Es wa r wie Schlafwandeln, und d a n a c h w a c h t e ich auf. Als mir b e w u ß t w u r d e , daß ich die Fotos m e i n e s Va te r s zer r i ssen h a t t e , w a r ich vo l lkommen fertig. Was ha t das zu b e d e u t e n ? "

M a t t h e w s c h ü t t e l t e den Kopf. „Wenn ich das w ü ß t e . So e t w a s Ähnliches ist mir vor ein paar Mona ten pass ie r t , in New Haven gab es ein tolles Rock-Konzer t . Drei Gruppen sollten auf t re ten , und es w a r res t los ausverkauf t . Ein B e k a n n t e r von mir h a t t e E in t r i t t skar ten und lud mich ein. Mein Dad s a g t e nein, und bevor ich se lbs t w u ß t e , w a s ich ta t , h a t t e ich die Ver te i le rkappe aus se inem Auto a u s g e b a u t und im Wald v e r s t e c k t . Als ich sozu¬ s a g e n w iede r zu mir kam, wollte ich sie zurückholen, aber da w a r sie fort."

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„Glaubst du, daß J e r e m y Pimm w a s dami t zu tun h a b e n k ö n n t e ? " fragte Neil.

„Ich weiß nicht." M a t t h e w s c h ü t t e l t e den Kopf. „Aber du woll¬ t e s t w i s s e n , w a r u m ich nicht meh r zu ihm g e h e . Nun, eben w e g e n dieser Gesch ich te . Ich bin nicht sicher, ob J e r e m y wirklich so toll ist, wie es scheint ."

Neil blieb noch eine Zeitlang, aber eigentlich gab es nicht meh r viel zu s a g e n . Seine G e d a n k e n kre is ten s t änd ig nur um J e r e m y Pimm, und auch M a t t h e w m a c h t e einen nachdenkl ichen Ein¬ druck. Schließlich s c h l e n d e r t e Neil nach H a u s e und s a g t e sich, daß die ganze Ange legenhe i t viel zu absu rd war, um Wirklichkeit sein zu können . J e r e m y k o n n t e doch kein Geist sein. Er w a r wahrsche in l ich nur ein b e s o n d e r s raffinierter Typ, der die j u n g e n Leute in d ieser Gegend h in ters Licht führte und ihnen e in rede te , er verfüge über überna tür l iche Kräfte. Neil h ä t t e w e t t e n mögen , daß J e r e m y die Gesch ich te von der Dame im Gesch ich t svere in gehö r t und dann b e s c h l o s s e n h a t t e , d iese Rolle zu spielen, die Leute so zu hypnot i s ie ren , daß sie g laubten , das S t e inhaus völlig u n z e r s t ö r t zu sehen , und s e l t s a m e Dinge t a t e n .

Je länger Neil über d iese n e u e Deu tung n a c h d a c h t e , d e s t o b e s s e r gefiel sie ihm und d e s t o mehr Dinge ließen sich dadurch erklären. Der Gabs te in w a r womögl ich auch nur eine T ä u s c h u n g . Wahrscheinlich war es nur irgendein Stein, den J e r e m y i rgendwo gefunden h a t t e , in Wirklichkeit gar kein e c h t e r Grabs te in . Nun, diese Sache w ü r d e sich noch überprüfen l a ssen .

Neil ging in den Wald hinein. Er w a r nicht meh r wei t vom Stein¬ haus ent fern t . Es dürfte leicht sein, u n g e s e h e n zur Mühle zu schleichen, d a c h t e Neil. In d i e sem Augenbl ick hör te er den Was¬ serfall. Nach den s c h w e r e n R e g e n s c h a u e r n in der v e r g a n g e n e n Woche r a u s c h t e er b e d e u t e n d lauter und kraftvoller. Neil folgte dem Geräusch und t r a t nach kurzer Zeit auf die Lichtung h inaus . E n t s c h l o s s e n ü b e q u e r t e er den Farn teppich in Richtung auf die Mühle.

„Tag, Neil." Der Klang von J e r e m y P imms S t i m m e durchfuhr Neil wie ein

e lekt r ischer Schlag. Er d r eh t e sich um und sah J e r e m y am Wald¬ rand s t e h e n .

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Als er ihm in die Augen sah, e r k a n n t e Neil, daß dieser j u n g e Mann kein Hypnotiseur, kein Schauspieler , kein raffinierter Typ sein k o n n t e . J e r e m y lächel te , aber nur mit dem Mund. Das Ge¬ sicht hinter dem Lächeln w a r t o d e r n s t .

„Ich habe auf dich g e w a r t e t " , s a g t e J e r e m y . „Ich d a c h t e , wir woll ten mal wieder mi t e inande r reden ."

„Wollten wir auch", s a g t e Neil, ohne es zu wollen. „Aber ich konn t e nicht k o m m e n . . . ich h a t t e H a u s a r r e s t . . . eine Woche lang. Meine Eltern haben mich nicht aus den Augen ge l a s sen . "

J e r e m y lächel te e rneu t . Dieses Mal w u r d e der Ausd ruck se iner Augen ein bißchen sanfter, aber nur ein bißchen.

„Komm mit ins Haus" , s a g t e er. „Es ist Zeit, daß wir uns unter¬ hal ten."

Neil folgte ihm. Es war, als m ü ß t e er g e h o r c h e n , und doch w ä r e er am l iebsten fortgelaufen, so schnell er k o n n t e , um frei zu sein und ers t w iede r s t ehenzub le iben , w e n n er zu Hause und in Si¬ cherhei t war . Was h a t t e J e r e m y Pimm an sich, das ihn so s e i n e s e igenen Willens b e r a u b e n k o n n t e ? Das ihn zum G e h o r s a m zwang , ge radezu willenlos m a c h t e ?

Sie s t i egen einen a u s g e t r e t e n e n Pfad zum S te inhaus hinauf. J e r e m y führte Neil u m s Haus he rum zur Haus tü r und forder te ihn auf, ins Wohnz immer zu gehen , w ä h r e n d er, wie üblich, Kerzen a n z ü n d e t e und ihm b e d e u t e t e , sich zu s e t z e n .

Neil s p ü r t e die be ruh igende Wirkung des Kerzenl ichts , und er kusche l t e sich ge radezu in die wi l lkommene Dunkelheit hinein, w ä h r e n d er darauf w a r t e t e , daß J e r e m y zu s p r e c h e n b e g a n n . Er fragte sich flüchtig, w o r ü b e r er mit J e r e m y h a t t e r eden wollen. Neil konn t e sich nicht an ein b e s t i m m t e s Problem er innern. Ha t t e er nicht e t w a s fragen wol len?

J e r e m y lächel te wohlwollend, sein G e s i c h t s a u d r u c k w a r nun sanft und einladend. Er d e u t e t e auf die f lackernde Kerze.

„Ist dir schon aufgefallen, daß ich deinen S c h a t t e n auf mich ausr ich te , w e n n wir mi t e inander r e d e n ? " fragte er. Neil n ickte und s p ü r t e die Wärme der Kerzen, als ob sie wie eine a n g e n e h m e S t r ö m u n g über ihn h inwegf lu te te .

„Ich kontrolliere ihn nämlich so , daß er auf mich zeigt. Denk mal ein bißchen über deinen S c h a t t e n nach. Er tu t alles, w a s du t u s t . Er kann nicht entfliehen."

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Neil s t i m m t e eifrig und bereitwillig zu. J e r e m y s Augen s u c h t e n se inen Blick und hielten ihn fest, b a n n t e n ihn.

„Und du se lbs t bist wie der S c h a t t e n de ines B e w u ß t s e i n s . " J e r e m y sp rach die Worte l a n g s a m und eindringlich, damit sich j e d e s Wort fest in Neils Gedäch tn i s e inp räg te , bevor das n ä c h s t e folgte. „So, wie dein S c h a t t e n dir folgt, folgst du de inem Bewußt¬ sein. Aber w a s für Dienste le is tet dir dein B e w u ß t s e i n ? Welche k o s t b a r e n Kräfte hält es für dich bere i t? Du weiß t es so gut wie ich. Es un te r s t e l l t dich der Kontrolle deiner Eltern. Es verh inder t , daß du nach den Dingen s t r e b s t , die du dir wirklich w ü n s c h s t , nach den Dingen, die dich glücklich m a c h e n w ü r d e n . "

J e r e m y hielt inne, und sein Schwe igen verlieh se inen Wor ten noch m e h r Gewicht . „Doch ich bin im Begriff, all da s zu ändern" , fuhr er dann fort. „So, wie ich deinen S c h a t t e n kontroll ieren kann, kann ich auch dein B e w u ß t s e i n kontroll ieren. Du darfs t dich nie, n iemals g e g e n mich w e h r e n , denn ich kann dich befreien."

Befreien. Das Wort s c h w a n g sich in Neils B e w u ß t s e i n auf wie ein Vogel, der der Sonne en tgegenf l ieg t . Ja , s a g t e er zu sich selbst , J e r e m y Pimm wird mich befreien.

„Du m u ß t mir immer vo l lkommen v e r t r a u e n " , fuhr J e r e m y fort. „Und vergiß nicht, daß der einzige Grund für mein Dasein und das Dasein d i e ses H a u s e s darin b e s t e h t , dir zur Freiheit zu verhelfen. Das v e r s t e h s t du doch j e t z t , nicht w a h r ? "

Neil n ick te . Er v e r s t a n d vo l lkommen. „Du bist nur ein ganz kleiner Teil des Lebens deiner Eltern. Sie

haben a n d e r e In t e re s sen , I n t e r e s sen , die sie s e lb s t für wicht ig hal ten, s o g a r für noch wich t ige r als dich."

V e r a c h t u n g t r a t an die Stelle de s friedlichen Gefühls, und Neil ballte die Hände zu ha r t en Fäus t en . J e r e m y h a t t e recht . Seine Eltern d a c h t e n an n ichts a n d e r e s als an ihre Arbeit . Das w a r das einzige, das für sie B e d e u t u n g h a t t e .

Plötzlich v e r s p ü r t e Neil keine Lust mehr, nach Hause zu gehen . Er woll te hier im S t e i n h a u s bleiben. Diese S e h n s u c h t w a r soga r noch s t ä r k e r als die S e h n s u c h t nach Fairhaven. Dies w a r der Ort, wo er wirklich h ingehö r t e .

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8. KAPITEL

„Dein Vater und ich haben eine Ü b e r r a s c h u n g für dich", s a g t e Mrs. Youngwer th ein paar Tage s p ä t e r am Abendbro t t i s ch .

Neil enthiel t sich einer An twor t . Ihre Ü b e r r a s c h u n g e n w a r e n ihm doch völlig gleichgültig.

„In der letzten Zeit h a s t du einen unglücklichen Eindruck ge¬ m a c h t und dich so in dein S c h n e c k e n h a u s ve rk rochen , daß wir g lauben, es wird h ö c h s t e Zeit, Henry und Alan zu uns e inzuladen. Mr. Ward bringt sie m o r g e n her."

Neil blickte auf se inen Teller, zu bes tü rz t , um se iner Mut te r a n t w o r t e n zu können . Er h a t t e soviel Zeit wie möglich im alten S te inhaus verbrach t , dort, wo er h ingehö r t e . Er und J e r e m y hat¬ ten Pläne g e s c h m i e d e t , Pläne, die se ine Prob leme ein für allemal a u s r ä u m e n w ü r d e n . J e t z t w a r es sowei t , d iese Pläne in die Tat u m z u s e t z e n , und d a s le tz te , w a s e r dazu g e b r a u c h e n k o n n t e , w a r Henrys und Alans Einmischung. Sie w ü r d e n g e n a u s o wen ig wie M a t t h e w begreifen, w a s J e r e m y Pimm b e d e u t e t e und wofür er s t and . Blinder Ma t thew, d a c h t e Neil. Er ha t die Chance , sich zu befreien, einfach w e g g e w o r f e n .

„Wir dach ten , du w ü r d e s t dich d a r ü b e r freuen", s a g t e sein Vater. Seine S t imme klang u n ü b e r h ö r b a r scharf, und Neil b r a c h t e ein kleines Lächeln z u s t a n d e . Seine früheren Freunde k a m e n also. Alle Vorbere i tungen w a r e n bere i t s getroffen. Da m u ß t e er wohl das B e s t e aus ihrem Besuch m a c h e n .

Er b r a u c h t e Zeit zum N a c h d e n k e n und ging desha lb gleich nach dem A b e n d e s s e n in sein Zimmer. Die Er innerung an se ine alte Freundschaf t mit Henry und Alan m a c h t e ihn ein wen ig t raur ig . Damals w a r es toll g e w e s e n , aber sei t er nach Winton gezogen w a r und J e r e m y Pimm k e n n e n g e l e r n t h a t t e , w a r e r über diese

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Freundschaf t h i n a u s g e w a c h s e n . Wenn die beiden s t änd ig um ihn w ä r e n , k ö n n t e er nie im Leben all das ausführen, w a s er sich v o r g e n o m m e n h a t t e . Warum m u ß t e n sie g e r a d e j e t z t k o m m e n ?

Wenig s p ä t e r hö r t e er ein Auto auf der Zufahrt . Als er aus dem Fens t e r s c h a u t e , sah er zwei Polizisten aus ihrem Wagen s t e igen und zur Haus tü r g e h e n . Neil hör te , wie sie se ine Eltern fragten, ob sie Mrs. Risley und ihren Enkel Dick g e s e h e n h ä t t e n . Dann s a g t e n sie, daß die n ä c h s t e n Nachbarn beide seit über einer Woche nicht mehr zu Gesicht b e k o m m e n h a t t e n und sich nun Sorgen mach¬ ten . Deshalb zogen sie bei allen Leuten in der n ä h e r e n U m g e b u n g Erkund igungen ein.

Vielleicht hat die alte Dame endlich n a c h g e g e b e n und Dick er¬ laubt, se inen Führerschein zu m a c h e n . Womöglich u n t e r n e h m e n sie j e t z t eine Reise, d a c h t e Neil. Er lächel te gemein . Kaum vor¬ zustel len!

Als Mr. Wards Lieferwagen am n ä c h s t e n Morgen in die Einfahrt e inbog, w a r Neil endgül t ig zu dem Schluß g e k o m m e n , daß er n ichts g e g e n den Besuch von Henry und Alan u n t e r n e h m e n k o n n t e . Sch i cksa l s e rgeben öffnete er den beiden die Tür.

„Na, wie g e h t ' s ? " fragte Alan. Er lächel te breit und t rug einen z u s a m m e n g e r o l l t e n Schlafsack u n t e r m Arm und eine Reise¬ t a s c h e über der Schulter.

Bevor Neil a n t w o r t e n k o n n t e , s chob sich Henry zur Tür herein und s a g t e : „Mensch, du h a s t wirklich nicht über t r i eben , als du s a g t e s t , daß du am Ende der Welt in den Wäldern lebst . Man k o m m t sich vor, als w ä r e man Lichtjahre von der Zivilisation entfernt ."

Plötzlich v e r s p ü r t e Neil doch e t w a s wie Freude beim Anblick se iner al ten F reunde , aber er v e r d r ä n g t e sie rasch und rief sich J e r e m y s Warnung in Er innerung, sich n iemals g e g e n ihn zu weh¬ ren. Henry und Alan k ö n n t e n v e r s u c h e n , ihn zum Widers tand zu verlei ten, und dann w ü r d e er alles verlieren, wofür er so har t g e a r b e i t e t h a t t e .

„Kommt mit nach oben und bringt eu ren Kram in mein Zim¬ mer", forder te er sie auf. „Dann zeig ich euch die Gegend."

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Seine Mutter kam aus der Küche . „Hallo, ihr zwei . Wie schön, euch mal wieder zu s e h e n . Henry, m ö c h t e dein Vater nicht viel¬ leicht ins Haus k o m m e n und eine Tasse Kaffee t r i n k e n ? "

„Er h a t t e keine Zeit zu bleiben", a n t w o r t e t e Henry. Dann fügte er mit einem Grinsen hinzu: „Aber ich soll mich t r o t z d e m für das freundliche Angebo t b e d a n k e n . "

Neil führte die Freunde nach oben und hör te nur halb zu, als sie über die Größe s e ines Z immers im Vergleich zu dem kleinen in Fairhaven s t a u n t e n und ü b e r e i n s t i m m e n d äuße r t en , daß es toll sein m ü s s e , w e n n man aus se inem Fens t e r auf die Wälder blickte und nicht in den Hin te rgar ten der Nachbarn . Neils Gedanken kre is ten in e r s t e r Linie um J e r e m y Pimm und die Aufgabe, die ihm b e v o r s t a n d . Er w ü r d e es nicht leicht haben , so lange Henry und Alan zu Besuch w a r e n .

Er m u ß t e seine ganze B e h e r r s c h u n g z u s a m m e n n e h m e n , wäh¬ rend er ihnen das Haus und den Gar ten ze ig te . Die fröhliche S t immung , die Alan und Henry m i t g e b r a c h t h a t t e n , verflog rasch , und Neil s p ü r t e , daß sie sich w u n d e r t e n , weil er sich offenbar nicht sonderlich über das Wiede r sehen freute .

„Kommt, wir spielen ein bißchen Basketbal l" , schlug er vor, in der Hoffnung, se ine m a n g e l n d e B e g e i s t e r u n g im Spiel b e s s e r v e r s t e c k e n zu können . Anfangs k lappte es auch recht gut, aber wenig s p ä t e r h a t t e n alle drei keine Lust mehr, s e t z t e n sich am Rande der Auffahrt ins Gras und hoben gelangwei l t S te inchen auf, um sie ohne Ziel w iede r for tzuwerfen.

„Du h a s t uns doch von so e inem s o n d e r b a r e n al ten Haus er¬ zählt. Weißt du n o c h ? " s a g t e Henry.

„Ja, komm, das s e h e n wir uns an", schlug Alan vor. „Später", s a g t e Neil und hör t e die beiden F reunde gereizt seuf¬

zen. Ein paar Minuten h e r r s c h t e Schweigen , aber schließlich me in te

Henry: „Ich kann gut v e r s t e h e n , w a r u m du zurück nach Fairha-ven willst. Hier ist wirklich gar nichts los."

„Wenn man sich daran g e w ö h n t hat, ist es gar nicht so sch lech t hier", fuhr Neil ihn an. Aus dem Augenwinke l b e m e r k t e er, wie Henry und Alan v e r d u t z t e Blicke t a u s c h t e n , und beinah w ä r e er he rausgep la tz t , daß er ü b e r h a u p t nicht meh r zurück nach Fairha-ven woll te . Er hielt sich j e d o c h noch rechtzei t ig zurück. Was h a t t e

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es für einen Sinn, ihnen das zu s a g e n ? Henrys und Alans G e g e n w a r t v e r s e t z t e Neil meh r und mehr in

Wut. Er m u s t e r t e sie scharf. Sie lagen auf dem Rücken aus¬ g e s t r e c k t im Gras und blickten hinauf in die B ä u m e . Vielleicht sollte ich mir einen Spaß mit ihnen er lauben, d a c h t e er.

„Ihr wol l te t doch das alte S t e i n h a u s s ehen" , s a g t e er. „Aber ich zeig euch w a s B e s s e r e s . K o m m t mit."

Neil s c h l e n d e r t e lust los die Auffahrt h inab . Henry und Alan folgten ihm.

„Wohin g e h e n wi r?" fragte Alan. „Es w ü r d e alles v e r d e r b e n , w e n n ich es euch v e r r a t e n w ü r d e .

Aber e ines v e r s p r e c h e Ich euch: Ihr w e r d e t b e s t i m m t nicht ent¬ t ä u s c h t sein."

Am Ende der S t raße t a u c h t e er in die s c h a t t i g e n Wälder ein, schlug aber nicht den Weg zum S te inhaus ein. S t a t t d e s s e n folgte er dem Pfad, auf dem M a t t h e w ihn vor so langer Zeit in die Irre geführt h a t t e , und nach kurzer Zeit h a t t e n sie die Stelle im Wald erreicht, von der aus m a n den e r s t e n Blick durch die B ä u m e auf die Mühle werfen k o n n t e .

„Seht ihr da vorn die Lichtung und das kleine G e b ä u d e n e b e n dem Teich?"

Die J u n g e n nickten. „Nun, das ist eine W a s s e r m ü h l e , und vor über h u n d e r t J a h r e n

w u r d e dort in der Nähe ein J u n g e b e g r a b e n . " Henry riß die Augen auf. „Was w a r mit ihm? Wie ist er ge¬

s t o r b e n ? " Neil lächel te vieldeutig und fuhr fort: „Er w u r d e ve r rück t und

s t ü r z t e sich in eine Masch ine in der Textilfabrik, in der er ar¬ be i t e t e . Sein Onkel ha t ihn hier b e g r a b e n . Sein N a m e w a r J e r e m y Pimm, und ich ha be se inen Geist g e s e h e n . "

„Du sp inns t uns doch w a s vor", s a g t e Alan e n t s e t z t , k r e b s r o t im Gesicht .

„Ke ineswegs . K o m m t schon . Ich zeig euch das Grab. Dann könnt ihr euch se lbs t ü b e r z e u g e n . "

Neil w a t e t e durch den Farn auf J e r e m y P i m m s Grabs te in zu. Die J u n g e n folgten ihm auf den Fersen . Plötzlich blieb er s t e h e n und hielt den A tem an. Da w a r der Stein und sah g e n a u s o aus wie immer, eben wie ein Grabs te in , doch da w a r noch e t w a s . E t w a

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zehn Meter daneben erhob sich ein f r isch au fgewor fener Erd­hügel .

Am nächsten Abend fuhren Henry und Alan endlich nach Hause. Es w a r eine langwier ige, schwier ige Strapaze für Neil gewesen , doch es war ihm gelungen, die Freunde davon zu überzeugen, daß er sich die ganze Geschichte von dem Grab neben der Was¬ sermühle ausgedacht , selbst den Stein dor th in gebracht und sogar die Erde umgegraben ha t te , dami t der Hügel w ie ein fri¬ sches Grab aussah, alles, um seine Freunde zu schock ieren. Hen¬ ry und Alan lachten ein wen ig unsicher und gaben zu , daß es gelungen war, aber of fenbar fiel der Absch ied ihnen durchaus nicht schwer.

In dieser Nacht konnte Neil nicht e inschlafen. Die Fragen über das neue Grab wo l l ten ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Wer lag dort begraben? Und w e r außer Eleaser Burbank w ü r d e j emanden an e inem solchen Ort begraben? Jeremy w i rd es w is ­sen, sagte er s ich. Am Morgen wol l te er Jeremy au fsuchen. Nach¬ dem er diesen Entschluß gefaßt ha t te , konnte er endl ich ein¬ schlafen.

Aber sein Schlaf w a r nicht von langer Dauer. Kurz nachdem es still im Haus geworden war und alle zu Bet t gegangen w a r e n , wach te er ruckar t ig auf und saß senkrecht im Bett . Jetzt . Jetz t wa r es Zeit. Ein s tarkes Gefühl der Dringl ichkeit s t r öm te durch seinen Körper und zwang ihn, so for t aufzustehen und seinen lang gehegten Plan auszuführen. Neil lächelte still vor sich hin. Au f diesen Augenbl ick hat te er gewar te t , und Jeremy wa r bei ihm, leitete ihn an und füh r te ihn so sicher, als wäre er im selben Raum.

Rasch zog sich Neil an und lief nach un ten . Dieses Mal brauchte er sich keine Sorgen w e g e n Max zu machen . Seit dem Vorfal l im Arbe i tsz immer seiner Eltern w ich der Hund ihm aus und schlief sogar im Garten s ta t t in seinem Körbchen in der Küche.

Neil schlüpf te durch die Tür zur Garage, schloß sie leise hinter sich und tas te te an der Wand nach dem Lichtschal ten Selbst w e n n seine Eltern aufwachen sol l ten, konn ten sie das Licht, das durch die Garagenfenster auf den Rasen f ie l , nicht sehen, wei l ihr

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Schlafzimmer an der a n d e r e n Seite des H a u s e s lag. Der Benzinkanis te r s t and an s e inem g e w o h n t e n Platz neben

dem R a s e n m ä h e r . Er w a r schwer , und das b e d e u t e t e , daß er fast voll sein m u ß t e . Neil s tel l te ihn n e b e n die Tür und belud sich mit e inem Stapel alter Ze i tungen , die n e b e n der Mülltonne aufbe¬ w a h r t w u r d e n . An der Werkbank se ines Va te r s blieb er kurz ste¬ hen und fand ein paar Lumpen mit Ölflecken und eine Schachte l Streichhölzer. J e t z t w a r er berei t . Sein Herz klopfte heftig in sei¬ ner Brust . Er m u ß t e sich sehr b e h e r r s c h e n , um nicht vor Freude laut schre ien .

Leise öffnete er die Tür zum Haus , damit das Licht aus der Garage ihm den Weg e r l e u c h t e t e . Dann hob er den Benzinka¬ nis ter w iede r auf und schlich auf Z e h e n s p i t z e n ins Arbe i t sz immer se iner Eltern. Dort kn ips t e er das Licht an und z w a n g sich, voll¬ k o m m e n still s t ehenzub le iben , obwohl er se ine w a c h s e n d e Auf¬ r egung kaum noch b e h e r r s c h e n k o n n t e . Ein le tz ter Blick noch, s a g t e er zu sich se lbs t . Ein le tz ter Blick auf das , w a s ihm am m e i s t e n ve rhaß t w a r — die Arbeit se iner Eltern.

In Windeseile fing er an, die Ze i tungen z u s a m m e n z u k n ü l l e n und überall im Zimmer zu ver tei len. Er s topf te sie in Ritzen, s chob sie un te r die Schre ib t i sche . Es w a r Zeit. Endlich w a r die Zeit ge¬ k o m m e n . Er w ü r d e sich nicht w e h r e n .

Aus einem Winkel s e ines U n t e r b e w u ß t s e i n s s chob sich lang¬ s a m ein halb v e r g e s s e n e s Bild vor se ine Augen . Er woll te es nicht s e h e n . Dazu blieb ihm keine Zeit. Aber es d r ä n g t e sich vor, bis er es nicht mehr u n b e a c h t e t l assen k o n n t e . Es w a r der Platz n e b e n der Mühle, wo J e r e m y P imms Grabste in s t a n d . Aber da w a r noch mehr. Vier frische Grabhügel e rhoben sich aus dem Farn.

Vier? d a c h t e Neil. Da w a r e n doch nicht vier neue Gräber. Es gab nur e ines , und w e r immer es auch sein m o c h t e , J e r e m y Pimm w u ß t e sicherlich Bescheid . Wie von Sinnen begann er e rneut , Ze i tungspap ie r z u s a m m e n z u k n ü l l e n . J e t z t s topf te er die Papier¬ knäuel zwischen die A k t e n s c h r ä n k e . Je mehr, d e s t o besser , schien eine S t imme in se inem Innern zu s a g e n .

Doch die Vorstel lung der vier Gräber ließ ihn nicht los. Drei davon w a r e n frisch. Wer m o c h t e dort l iegen? Und w a r u m spiegel¬ te sein Vers tand ihm diesen Unsinn vor? Warum ließ er sich der¬ artig ab l enken? Er h a t t e eine Aufgabe zu erfüllen. Er konn t e sich

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nicht w e h r e n . Er p a c k t e eine w e i t e r e Handvoll Zei tungspapier , knüllte die

Seiten zu Bällen z u s a m m e n und warf sie in alle Ecken des Zim¬ m e r s . Er w ü r d e sich nicht w e h r e n . Es w a r Zeit, den Plan in die Tat u m z u s e t z e n . Es wa r Zeit, sich zu befreien.

Drei n e u e Gräber. Drei n e u e Gräber. Wer m o c h t e dort l iegen? Plötzlich schoß ihm ein a n d e r e s Bild durch den Kopf. Das Zei¬ t u n g s p a p i e r fiel ihm aus der Hand. Er blieb s t a r r vor Schrecken s t e h e n . Sein Vater. Seine Mutter . Christie. Die drei w a r e n hier im Haus , sie schliefen alle im O b e r g e s c h o ß . Sie durften nicht hier sein! Das gehö r t e nicht zum Plan!

Frei . . . Fre i . . . Frei . . . Frei . . . w i s p e r t e n h u n d e r t S t immen in Neils Kopf. Das Zimmer fing an, sich um ihn zu d rehen . Er s t ü r z t e v o r w ä r t s und stieß den Benz inkanis te r um. Die Kappe auf der Tülle w a r nicht mehr da — er konn t e sich nicht en t s innen , sie ent fernt zu haben — und die goldene Flüssigkeit ergoß sich auf den Boden . Wehr dich nicht, w i s p e r t e n die S t immen . Niemals-n iemals -n iemals -n iemals -n iemals sollst du dich w e h r e n .

Neil schloß die Augen, und da w a r e n die Gräber wieder . Er m u ß t e kämpfen. Das da k o n n t e er doch nicht tun . Er k o n n t e doch nicht se ine Eltern und se ine S c h w e s t e r umbr ingen , ganz gleich¬ gültig, wie elend er sich fühlte. Das Band zwischen ihnen w a r zu s tark . Nein, er konn te nicht t ö t e n . Nicht einmal für J e r e m y Pimm. Nicht einmal für die Freiheit.

Frei. Frei. Frei. Dieses Mal w a r e n die S t i m m e n lauter, und das Bild der Gräber w u r d e größer und kam näher, bis er da s Gefühl h a t t e , sein Gesicht in die frisch aufgeworfene Erde zu d rücken .

Aber es wa ren vier Gräber, a b g e s e h e n von J e r e m y s Stein. Wer lag un te r dem vierten Hügel? in dem Grab, das er mit Alan und Henry e n t d e c k t h a t t e ? J e r e m y wird schon w i s s e n , w e r s o n s t noch den Tod verd ien t h a t t e . Aber w u ß t e Neil es denn nicht s e l b s t ? Hat te er nicht davon gehör t , wie boshaf t sie ihren Enkel un te r der Knute hielt, dama l s w ä h r e n d der G e s p r ä c h s r u n d e , und h a t t e er sie nicht mit e igenen Augen g e s e h e n und die Bösartig¬ keit ihrer Seele g e s p ü r t ? Es w a r Mrs. Risley. Es konn t e n iemand a n d e r e s sein.

Das Wissen traf ihn mit der Macht e ines F a u s t s c h l a g s . Er öff-

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n e t e die Augen und sah sich l angsam im Zimmer um, sah die Ze i tungspap ie rknäue l , das v e r g o s s e n e Benzin und schließlich die Streichhölzer in se iner Hand. Dick Risley h a t t e se ine Großmut t e r u m g e b r a c h t und hinter dem S te inhaus n e b e n J e r e m y P i m m s Grab b e g r a b e n . Er h a t t e sie e rmorde t , und J e r e m y h a t t e ihn dazu geb rach t . Eine a n d e r e A n t w o r t gab es nicht. J e r e m y Pimm h a t t e die Macht dazu. Er h a t t e alles un t e r Kontrolle. Und j e t z t ver¬ s u c h t e er, Neil ebenfalls zum Mord zu br ingen.

Fre i . . . Fre i . . . Fre i . . . Die S t immen k a m e n w i e d e r und hüllten ihn ein wie aufgewirbel te Blät ter im Herbs t .

Nein. Nein. Ich w e r d e mich w e h r e n . Sein Kopf p o c h t e , und er h a t t e das Gefühl, als ob eine Faus t

sein Gehirn z u s a m m e n p r e ß t e und es wie Ton k n e t e t e . „Frei . . . Frei . . . kn i s t e r t en die S t immen . NEIN! Fre i . . . F re i . . . Das ist keine Freiheit. Das ist Sklaverei! Du k a n n s t mich nicht

zwingen, d a c h t e Neil mit aller Kraft. Ich laß nicht zu, daß du Kon¬ trolle über mich has t . Ich w e r d e mich w e h r e n !

Zi t ternd r ichtete er sich auf. Er s c h w a n k t e , fand das Gleich¬ gewich t w iede r und s a m m e l t e das zerknüll te Ze i tungspap ie r auf. L a n g s a m und sorgfältig g l ä t t e t e er die Blä t ter und s t a p e l t e e ines nach dem a n d e r e n auf dem Schreibt isch se ines V a t e r s . Seine Kleider w a r e n s c h w e i ß g e t r ä n k t , und er w a r so erschöpft , daß er sich kaum aufrecht hal ten k o n n t e . Die S t immen w a r e n ver¬ s c h w u n d e n , doch das Pochen in se inem Kopf w a r zu e inem ste¬ c h e n d e n Schmerz g e w o r d e n .

„Nein . . . nein . . . nein . . . " f lüs te te er vor sich hin. „Nein . . . nein . . . nein . . . ich w e r d e mich w e h r e n . . . "

Er n a h m die Lumpen , w i s c h t e das v e r g o s s e n e Benzin auf und öffnete das Fens t e r einen Spalt, damit die frische Nachtluft den s c h w e r e n Geruch aus dem Zimmer t r ieb .

Zweimal ging er in die Garage , um das Benzin, die Zei tungen, Stre ichhölzer und Lumpen wiede r an ihren Platz zu schaffen. Dann s t ieg er wie ein Zombie die Treppe hinauf und fiel auf se inem Bet t in einen t r a u m l o s e n Schlaf.

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9. KAPITEL

Als Neil am n ä c h s t e n Morgen aufwachte , schoß ihm gleich die fürchterliche Er innerung an die Vorfälle der Nacht in den Kopf. Er wa r dem Schrecklichen so nahe , so b e ä n g s t i g e n d nahe gekom¬ men, doch das wa r j e t z t nicht das Wicht igs te . Wichtig war, daß er den Kampf g e w o n n e n h a t t e . Er h a t t e J e r e m y Pimm gesch lagen , und j e t z t w a r er frei, wirklich frei.

Er schloß e rneu t die Augen und spü r t e , wie n e u e Kraft se inen Körper d u r c h s t r ö m t e . Nein, das ist mehr als nur Kraft, d a c h t e er. Das ist Macht! ich habe die Macht, mich zu w e h r e n . J e r e m y Pimm wird nie wiede r Kontrolle über mich haben .

Neil s t ieg aus dem Bet t und w u ß t e , daß er noch e t w a s zu erledigen h a t t e . Er d u s c h t e sich und zog frische Kleidung an. Außer ihm war noch n iemand au fges t anden , obwohl es schon fast neun Uhr war . Er s t ü r z t e ein Glas Milch hinunter, kritzelte auf einen Zettel , daß er einen Spaz ie rgang m a c h t e , legte ihn auf den Küchent i sch und schlich zur Tür h inaus .

Die frische Morgenluft wa r von Voge lgezwi t sche r erfüllt. Neils Zuvers icht w u c h s mit j e d e m Schritt . Er w ü r d e J e r e m y Pimm g e g e n ü b e r t r e t e n . Er h a t t e die Macht dazu. Und er w ü r d e ihm direkt in die Augen blicken, und dann w ü ß t e J e r e m y Pimm ein für allemal, daß Neil Y o u n g w e r t h sich niemals kontroll ieren ließ.

Für einen kurzen Augenblick du rchzuck te ihn Angs t , als das alte S t e inhaus in Sicht kam. Troz der M o r g e n s o n n e w a r es wie üblich in d ü s t e r e S c h a t t e n gehüllt. Ohne zu zögern , ging Neil an die Haustür .

Er poch te mit dem s c h w e r e n Messingklopfer an die Tür und w a r t e t e darauf, e m p f a n g e n zu w e r d e n . Die Zeit vers t r ich , aber n iemand öffnete die Tür. Neil t r a t von einem Fuß auf den a n d e r e n

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und w a r t e t e . Das Haus wa r groß. Vielleicht w a r J e r e m y im obe ren S tockwerk .

Noch immer m e l d e t e sich n iemand auf sein Klopfen. Er ver¬ s u c h t e es e r n e u t und w a r t e t e , doch die Tür blieb g e s c h l o s s e n . Die Angs t str ich mit kal ten Fingern über se inen Nacken . Er s c h o b sie be ise i te , d rück te die Klinke, aber n ichts rühr te sich. Die Tür war v e r s c h l o s s e n , und er s t and draußen , allein.

Schließlich a t m e t e Neil tief und zufrieden auf. J e r e m y w u ß t e , daß er be s i eg t war . Warum zeig te er sich s o n s t n icht? Er k o n n t e es nicht e r t r agen , s a g t e Neil sich. Lächelnd d r e h t e er sich um und ging. Ihm g e h ö r t e der Sieg.

Ein leichter Wind e rhob sich, und die b isher reg losen Blä t ter sch ienen mit r a sche lnde r S t i m m e zu ihm zu s p r e c h e n : „Du h a s t mich e n t t ä u s c h t , Neil Y o u n g w e r t h . Du . . . h a s t . . . v e r s a g t . "

Neil fuhr he rum. „ Je r emy?" rief er. „Bist du d a s ? " Die Tür h a t t e sich nicht geöffnet. Alle F e n s t e r w a r e n verschlos¬

sen. Woher k a m e n die S t i m m e n ? Sein Puls r a s t e . Ha t te er nicht e t w a s g e h ö r t ? Vielleicht w a r e n es ü b e r h a u p t keine S t immen g e w e s e n . Nur der Wind in den B ä u m e n . Aber er h a t t e deutlich se inen Namen gehör t .

L a n g s a m en t f e rn t e Neil sich r ü c k w ä r t s vom S t e i n h a u s . Er wag¬ te nicht, es aus den Augen zu l a ssen . Als er den Rand der Lich¬ tung erre icht h a t t e , wirbel te er he rum und r a n n t e , ohne sein Tempo zu v e r l a n g s a m e n , bis zur S t raße . Sein Kopf poch te , und die Worte , die er g laub te gehö r t zu haben , woll ten ihm nicht aus dem Sinn. Du h a s t mich e n t t ä u s c h t , Neil Y o u n g w e r t h . Du . . , h a s t . . . v e r s a g t .

Neil r a n n t e nach Hause , b e m ü h t , so viel En t fe rnung wie möglich zwischen sich und das alte S t e inhaus zu legen. Nach einer Weile b e m e r k t e er eine Gestal t , die sich ihm aus der e n t g e g e n g e s e t z ¬ ten Richtung n ä h e r t e .

„Neil? Was ist los? Fehlt dir w a s ? " rief die Frau. Es w a r se ine Mutter . In einer Hand t rug sie einen Skizzenblock. „O . . . hallo Mom", s t a m m e l t e Neil. „Mir fehlt n ich t s . Alles in

Ordnung, ich w a r wohl nur in Gedanken . " Plötzlich h a t t e er Angs t . „Wohin g e h s t d u ? "

„Zu dem alten Haus . Ich muß dir e t w a s erzählen. Komm mit,

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dann sag ich's dir u n t e r w e g s . " „Nein! Du darfs t nicht hingehen!" Das Gesicht se iner Mut te r ver f ins te r te sich. „Tut mit leid", en t schu ld ig t e sich Neil, bevor sie e t w a s s a g e n

k o n n t e . „Ich woll te dich nicht anschre ien . Aber es ist zu gefährlich dort . Dir k ö n n t e w a s pass i e ren . "

„Ach, nun hör aber auf", e n t g e g n e t e sie mit e inem Lächeln. „Ich bin doch kein kleines Kind, das auf den zerfallenen Mauern her¬ umkle t t e r t oder in einen ros t igen Nagel tr i t t . Danke für deine väterl iche Sorge , aber ich muß mir d i e ses Haus einfach noch einmal a n s c h a u e n . Komm", d r ä n g t e sie und h a k t e sich bei ihm unter. „Laß uns gehen . "

Neil holte tief Luft und a t m e t e sie l angsam w ieder a u s . Seine Mut ter w a r fest e n t s c h l o s s e n zu gehen . Das w u ß t e er. Und er ha t t e nicht die ge r ings t e Möglichkeit, sie zu rückzuha l t en . Obwohl das alte S t e inhaus der le tz te Ort auf der Weit war, zu dem er sich h ingezogen fühlte, durfte er sie nicht allein g e h e n lassen .

Sie h a t t e offenbar nur auf sein Nicken g e w a r t e t , bevor sie w e i t e r r e d e t e . „Dein Vater und Christie sind Tennisspielen gegan¬ gen, da hab ich b e s c h l o s s e n , noch einmal zum Geschich tsvere in zu gehen und n a c h z u s e h e n , ob er schon w i e d e r geöffnet ist."

Neil w a p p n e t e sich g e g e n das , w a s sie nun s a g e n w ü r d e , und v e r s u c h t e , die Angst , die in ihm aufst ieg, zu u n t e r d r ü c k e n .

„Nun j a , es w a r geöffnet, und ich habe mit einer Mrs. Chester¬ ton g e s p r o c h e n . Ich hab sie nach der Gesch ich te des alten Stein¬ h a u s e s gefragt, und sie s a g t e mir, daß sich k a u m noch j e m a n d für das alte G e m ä u e r in teress ier t , aber es schien ihr Liebl ings thema zu sein. Jedenfal ls w u r d e dor t vor mehr als h u n d e r t J ah ren of¬ fenbar ein j u n g e r Mann n a m e n s J e r e m y Pimm ver rück t und be¬ ging Se lbs tmord . Er w u r d e von se inem Onkel ge fangen geha l ten , dem das Haus g e h ö r t e , und wie Mrs. C h e s t e r t o n s a g t e , hat der Onkel ihn i rgendwo auf dem Grunds tück b e g r a b e n . Ist das nicht eine p h a n t a s t i s c h e G e s c h i c h t e ? "

Ihr Gesicht glühte , und Neil zwang sich zu e inem Lächeln. „Wirk¬ lich, ist ja irre. Aber w a r u m willst du desha lb noch einmal zu dem Haus? Du has t es ja schon g e s e h e n . "

„Nein, ich muß mich über dich w u n d e r n " , s a g t e sie irritiert. „Gerade du m ü ß t e s t doch wi s sen , w a r u m . Ich muß mir das alte

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Haus aus allen Blickwinkeln a n s c h a u e n , dami t ich es in m e i n e m Roman v e r w e n d e n kann . Außerdem" , s e t z t e sie hinzu, „könnten wir vielleicht J e r e m y P imms Grab e n t d e c k e n .

Sie zog ihn nun beinah mit sich, z w a n g ihn, schnel ler zu g e h e n . Bringen wi r ' s rasch hinter uns , d a c h t e Neil. Ich laß sie nicht länger als eben nötig an d iesem Ort h e r u m s t ö b e r n , und un te r keinen U m s t ä n d e n darf sie in die Nähe von J e r e m y P imms Grab ge¬ langen.

Offenbar k a n n t e se ine Mut te r den Weg ganz genau , obwohl sie e rs t einmal in dieser Gegend g e w e s e n war, und Neil m u ß t e sich beeilen, um mit ihr Schri t t ha l ten zu k ö n n e n . Er w a r so darauf konzent r ie r t , ihr zu folgen, daß ihm ers t nach einer Weile auffiel, wie abso lu t still es im Wald g e w o r d e n war . Nicht das k le ins te Geräusch w a r zu hören, in den B ä u m e n s a n g kein einziger Vogel. Kein Eichhörnchen hüpfte an den Mauern hinauf. Nichts . Nicht einmal der Wind r a u s c h t e in den B ä u m e n .

Wie an e inem u n s i c h t b a r e n Faden zog die A n g s t ihn voran, und am Rande der Lichtung blieb er n e b e n se iner Mut te r s t e h e n und t r a u t e sich nicht, den Blick auf das alte S t e i n h a u s zu r ichten. Doch er k o n n t e sich nicht a b w e n d e n . Da s t and e s , wie immer, h o c k t e da wie eine r iesige Kröte , ein dunkler Koloß vor der Schönhei t der Wälder. Wie er d ieses Haus haß te und alles, w a s dami t v e r b u n d e n war! Er durfte nicht zu las sen , daß se ine Mut te r sich lange in dieser Ruine aufhielt.

Allmählich w u r d e Neil bewuß t , daß se ine Mut te r g e n a u s o still g e w o r d e n w a r wie der Wald. Er w a n d t e sich um und sah sie an. Sie lächelte , und ihr Gesicht s t r ah l t e vor En t zücken .

„Neil, es ist Wundervol l !" rief sie aus und p a c k t e se inen Arm. „Das ist das s c h ö n s t e Haus , das ich je g e s e h e n h a b e . "

Neil w a r be s tü rz t . Sie s ieht es ! d a c h t e er. Sie s ieht das Haus , wie es früher war, nicht die zerfallene Ruine. Aber nur J e r e m y Pimm kann b e s t i m m e n , w e r das Haus so s ieht .

Neils Gesicht d roh te zu ze rspr ingen , doch in d iesem Augenbl ick begriff er zum e r s t e n Mal. J e r e m y Pimm w a r nicht zurückge¬ k o m m e n , um j u n g e n M e n s c h e n zu helfen. Sie w a r e n ihm völlig gleichgültig. Er b r a c h t e nur ihr Bewuß t se in un te r se ine Kontrolle und b e n u t z t e sie dann, um ihre Eltern zu vern ich ten , um die Autor i t ä t zu ve rn ich ten . Nur aus e inem einzigen Grunde w a r er

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zu rückgekommen — er wo l l te Rache! Du hast mich en t täuscht , Neil Y o u n g w e r t h , hat te Jeremy ge­

sagt. Jetzt ergaben diese Wor te einen Sinn. Neil hat te versagt , als er in Jeremys Au f t rag seine Eitern vern ich ten sol l te, und nun lockte Jeremy seine Mut te r in das alte Haus, w ie Neil selbst anfangs hineingelockt w o r d e n war. Jeremy wol l te Mrs. Young-w e r t h umbr ingen.

Angs t packte Neil, s tärkere Angs t , als er je zuvor gespür t ha t te . Sein Kampf gegen Jeremy Pimm war noch lange nicht entschie­den.

Neil be t rachte te das alte Haus e ingehend. Tiefe Schat ten hüll ten die grauen Mauern ein. Zu seiner Er le ichterung w a r die Tür fes t versch lossen, und auf der Suche nach der k le insten Bewegung hinter e inem Vorhang w a n d e r t e sein Blick von Fenster zu Fen¬ ster. Keine s techenden A u g e n . Nichts. Bisher. Wenn Jeremy sei¬ ne Mut te r hierhergelockt hat te , wo rau f w a r t e t e er dann noch?

Mrs. Y o u n g w e r t h s tand noch immer am Rande der L ichtung. Aber Neil konnte ihrem Gesichtsausdruck en tnehmen , daß sie völlig verzauber t wa r von dem, was sie sah, und sich jede Ein¬ zelheit des alten Hauses e inprägte.

„Es ist unglaublich schön" , f lüs te r te sie. „Jemand hat of fenbar mit der Restaurat ion begonnen. Ist dir das nicht aufgefa l len?"

„Hm . . . ne in" , sagte Neil. In seinem Kopf drehte sich alles. Im nächsten Augenbl ick w ü r d e Jeremy Pimm die Tür öf fnen und seinen hypnot ischen Blick auf seine Mut te r he f ten . Dann w ü r d e Jeremy in ihr Bewußtsein eindr ingen und Kontrol le über sie ha¬ ben, w ie er sich Neils und Dicks Bewußtse in zu eigen gemacht hatte und das aller anderen, die das Steinhaus besucht ha t ten . Seine Mut ter schwebte in Lebensgefahr, und er mußte sie von diesem Ort fo r tb r ingen , bevor es zu spät war.

„ K o m m . Laß uns j e t z t lieber gehen" , d rängte er. „Wer weiß, vielleicht sind wi r auf f remden Besitz e ingedrungen. "

„Mach dich nicht lächerl ich", sagte sie. Ihre S t imme klang leise, wie aus großer En t fe rnung . „Haben sie das Haus nicht ganz w u n ­dervoll w iederhergeste l l t? Wo um alles in der Welt mögen sie woh l das alte Bleiglas aufget r ieben haben?"

Die Fenster, dachte Neil. Die Fenster zum Wohnzimmer! Stan-

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den die Vorhänge einen Spalt offen, oder bildete er sich das nur ein? Er s t r e n g t e seine Augen an, aber die S c h a t t e n w a r e n so tief, daß er nicht s icher sein k o n n t e . Einer Sache h ingegen w a r er sich sicher — hinter d ie sem F e n s t e r s t a n d J e r e m y Pimm und w a r t e t e .

„Ich g laube , ich sollte mal anklopfen und mich vors te l len" , s a g t e seine Mutter . „Ich w ü r d e mich für mein Leben gern einmal drin¬ nen u m s e h e n . "

Neil sah e n t s e t z t zu, wie sie l angsam wie ein Schlafwandler auf das S t e inhaus zuging. Er woll te ihr g e r a d e e t w a s zurufen, als sie ins Sonnenl icht t ra t . Einen schreckl ichen Augenbl ick lang z ö g e r t e sie, so lange, daß Neil b e m e r k e n k o n n t e , daß ihr S c h a t t e n auf das S t e inhaus w i e s .

„Mom! Bleib s t ehen!" schrie Neil. Er s t ü r z t e v o r w ä r t s , p a c k t e ihren Arm und z w a n g sie, sich u m z u d r e h e n und ihn a n z u s e h e n . Es durfte nicht p a s s i e r e n . Er k o n n t e es nicht zu l a s sen . Als er sie anfaßte , s ch ienen ihre Augen klarer zu w e r d e n . Sie blickte ihren Sohn einen Augenblick lang an, als v e r s u c h t e sie, sich zu erin¬ nern, wo sie w a r und w a s sie g e r a d e ta t .

„Na g u t . . . w e n n du darauf b e s t e h s t " , s a g t e sie und gab sei¬ nem d r ä n g e n d e n Griff nach .

Während des H e i m w e g s blieb Mrs. Y o u n g w e r t h vol lkommen still. Neil a h n t e , daß sie über das S t e inhaus n a c h d a c h t e und viel¬ leicht s o g a r über d iesen T r a n c e z u s t a n d , der sie befallen h a t t e . Auch er d a c h t e da rübe r nach und über J e r e m y Pimm. War es möglich, daß J e r e m y sich nicht h a t t e blicken lassen , weil Neil dabei g e w e s e n war, weil Neil sich gegen ihn g e w e h r t und gewon¬ nen h a t t e ? Aber J e r e m y h a t t e auch se ine Mut te r g e h e n lassen , und das k o n n t e nur b e d e u t e n , daß er v e r s u c h e n w ü r d e , sie ein zwe i t e s Mal zu sich zu locken.

Mr. Y o u n g w e r t h und Christie w a r e n noch nicht vom Tennisspie¬ len zurück, als Neil und se ine Mut te r zu Hause a n k a m e n . Er ging sogar zum Telefon und w ä h l t e M a t t h e w s Nummer .

„Hör zu, Ma t thew . Ich muß sofort mit dir reden ." „Gut. Was ist denn los? Du klingst so komisch ." „ich k a n n ' s dir am Telefon nicht s agen , aber es geh t um J e r e m y

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Pimm, und es ist äußerst dringend! Wir treffen uns an Jeremys Grab."

„An Jeremys Grab? Ist das nicht ein bißchen zu dramatisch?" fragte Matthew.

„Hauptsache, du bist da!" „Bin schon unterwegs." Mrs. Youngwerth hatte sich wieder in ihr Arbeitszimmer zu­

rückgezogen, und Neil hörte das eintönige Klappern der Schreib¬ maschine. Jetzt schreibt sie sicher ihre Eindrücke vom alten Steinhaus auf, dachte er und hoffte, daß sie damit für eine Weile beschäftigt war und nicht bemerkte, daß er fortging. Er warf einen Blick in das Arbeitszimmer. Sie saß mit dem Rücken zur Tür an der Schreibmaschine. Mach dir keine Sorgen, Mom, sagte er still zu sich selbst. Ich werde nicht zulassen, daß dir etwas ge¬ schieht, koste es, was es wolle. Dann schlich er auf Zehenspitzen zur Haustür und schloß sie lautlos hinter sich.

Matthew wartete schon, als Neil die Lichtung erreichte. Er stand mit aschfahlem Gesicht neben dem frischen Grab.

„Wolltest du mich deswegen hier treffen?" fragte er und zeigte auf das Grab.

Neil nickte. „War die Polizei auch bei euch, um nach Dick und seiner Großmutter zu forschen?" fragte er.

„Ja. Sie sind gestern abend gekommen, aber was hat das mit diesem Grab zu tun?"

„Darin liegt Mrs. Risley begraben. Ich bin ganz sicher, und ge¬ nauso sicher bin ich, daß Dick sie umgebracht hat."

Neil erzählte Matthew von Dicks Problemen mit seiner Gro߬ mutter und den Gesprächskreisen und wie er selbst in der Nacht zuvor beinah das Haus angezündet und seine Eltern umgebracht hätte. Und schließlich sprach er darüber, wie Jeremys böse Kräfte nach seiner Mutter gegriffen und sie zum alten Haus gelockt hatten.

„Aber wie macht er das?" Matthew schüttelte den Kopf. „Wie?"

Neil wählte sorgfältig seine Worte. „Indem er das Bewußtsein kontrolliert. Zu Anfang bin ich jedesmal, wenn ich sauer auf meine Eltern war, im alten Haus gelandet. Jeremy hat mich mit der Kraft seines Bewußtseins dorthin gezogen und diese Kraft dann

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darauf v e r w e n d e t , nach und nach mein B e w u ß t s e i n in se ine Ge¬ wal t zu b e k o m m e n . Du weiß t doch, er stellt immer die Kerzen so auf, daß u n s e r e S c h a t t e n auf ihn zeigen."

M a t t h e w nickte . „Na j a , er ha t mir einmal erklärt, w a s es mit dem S c h a t t e n auf

sich hat . Er s a g t e , daß u n s e r S c h a t t e n alles tu t , w a s wir tun, daß er uns nicht e n t k o m m e n kann, und daß wir se lbs t so e t w a s wie ein S c h a t t e n u n s e r e s B e w u ß t s e i n s sind und uns so verha l ten , wie unse r Bewuß t se in es uns befiehlt. V e r s t e h s t du, w e n n er unse r Bewuß t se in in se ine Gewal t bringt, sind wir die S c h a t t e n von J e r e m y Pimm und führen seine b ö s e n R a c h e g e l ü s t e a u s . J e t z t m ü s s e n wir d iesen Willen b rechen und ihn ze r s tö ren , und zwar sofort."

„Und wie sollen wir da s ans t e l l en?" „Ich weiß nicht, aber über e ines bin ich mir s icher — w a s die

Quelle se iner Macht ist. Er schöpft sie aus der Verwirrung und dem K u m m e r der Leute , die zum S te inhaus k o m m e n , und er wird von Tag zu Tag s tä rker . Und ich weiß noch e t w a s a n d e r e s . Er ist verletzbar, und desha lb hat er mir befohlen, mich niemals g e g e n ihn zu w e h r e n . Als ich mich g e g e n ihn zur Wehr s e t z t e , hab ich mich se iner Kontrolle en tz iehen können , aber se ine Macht ist inzwischen schon so groß g e w o r d e n , daß er Einfluß auf meine Mut ter n e h m e n kann, ohne mich zu b e n u t z e n . "

M a t t h e w s c h ü t t e l t e den Kopf. „Offenbar willst du damit s a g e n , daß wir, um ihn zu vern ich ten , die Quelle se iner Macht z e r s t ö r e n m ü s s e n . Aber du has t dich doch bere i t s von ihm befreit, und ich ebenfalls . Ich hab mich schon vor langer Zeit von ihm gelöst ."

„Das ist nur ein Teil. Die a n d e r e n Leute m ü s s e n auch mit¬ machen , so viele wie möglich von denen , die zum S te inhaus ge¬ hen. Weißt du, w e r alles d a z u g e h ö r t ? Meinst du, du k ö n n t e s t sie z u s a m m e n t r o m m e l n ? J e t z t gleich?"

„Klar. Und w a s k o m m t d a n n ? " „Für Erklärungen bleibt uns j e t z t keine Zeit mehr" , s a g t e Neil.

„Ruf sie alle an. Sag ihnen, daß wir uns so bald wie möglich am Ende der Old Mill Road treffen m ü s s e n . Ich w a r t e dort für den Fall, daß J e r e m y Pimm noch einmal v e r s u c h e n will, meine Mut ter in das S t e inhaus zu locken."

M a t t h e w eilte im Laufschri t t davon und w a r bald darauf in den

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dichten Wäldern v e r s c h w u n d e n . Neil z ö g e r t e . Sein Blick schweif¬ te über die friedliche Lichtung zum leise p l ä t s c h e r n d e n Wasserfall und dann zum Grab von Dicks Großmut t e r an se iner Sei te .

Die a rme Mrs. Risley, d a c h t e er. Und der a rme Dick. Er h a t t e nicht viel Zeit gehab t , eine Beziehung zu ihr aufzubauen, bevor J e r e m y Pimm in sein Leben t r a t und ihn in se ine Gewal t b e k a m . Das wa r der Schlüssel zum Widers t and : das Band der Liebe und Fürsorge , das m e i s t e n s zwischen Kindern und Eltern b e s t e h t , se lbs t w e n n sie sich einmal nicht v e r s t e h e n . Darüber denk t m a n nicht viel nach, aber es ist da, w e n n es e r n s t wird. Das w a r wirklich der Schlüssel , und der en tzog sich J e r e m y s V e r s t ä n d n i s .

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10. KAPITEL

Neil w u ß t e , daß er keine Zeit mehr zu verl ieren h a t t e . Seiner Mut te r oder s e inem Vater oder soga r beiden d roh t e große Gefahr von J e r e m y Pimm. Neil lief eilig durch den Wald zurück. Die S o n n e s t and hoch am Himmel, und die w e n i g e n Strahlen, die durch die B a u m k r o n e n brachen , mal ten ein v e r r ü c k t e s Mus te r auf den Waldboden. Neil lief, so schnell er k o n n t e , s p r a n g über Baum¬ s t ä m m e und wich im Zickzack B ä u m e n und Büschen a u s . Als er die S t raße erreicht h a t t e , w a r er außer A tem. Niemand w a r dort . Auch von se inen Eltern w a r wei t und breit n ichts zu s e h e n .

Er w u r d e n e r v ö s . Wenn nun n iemand k a m ? Was sollte er dann t u n ? Er und M a t t h e w k o n n t e n J e r e m y doch nicht allein gegen¬ ü b e r t r e t e n . Und w e n n alle k ä m e n , aber sein Plan nicht k l app t e? Was d a n n ?

„Neil" Er sch reck t fuhr er he rum und sah sich den Wäldern gegenüber ,

doch dort wa r n iemand . Ha t t e e r n i c h t j e m a n d e n seinen Namen rufen g e h ö r t ? Oder h a t t e er es nur g e t r ä u m t ?

„Neil." Dieses Mal w a r er sicher, daß er e t w a s gehör t h a t t e , ein flü¬

s t e r n d e s Geräusch , wie von sehr wei t w e g . Er m a c h t e ein paar Schri t te in Richtung auf den Wald. Ob es se ine Mut te r g e w e s e n w a r ? War sie z u r ü c k g e k o m m e n , w ä h r e n d M a t t h e w und er bei dem Grab g e s t a n d e n h a t t e n ? Panik brach über ihn herein.

„Mom?" rief er. „Neil." Es kann nur Mom sein, d a c h t e er, obwohl die S t imme nur wie

ein Flüstern an sein Ohr d rang . Sie w a r es , und sie b r a u c h t e ihn. Neil fing an zu laufen, blieb aber nach ein paar Schr i t ten s t e h e n .

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Wenn sie ihn so f lüs te rnd rief, mußte sie in der Nähe sein, sich i rgendwo ve rs tecken . Er mußte vors icht ig sein.

„ M o m " , rief er leise. „Wo bist du? " „Nei l . " Dieses Mal konnte er fes ts te l len , w o h e r die St imme kam. Von

i rgendwo aus der Nähe der Umgrenzungsmauer kam sie an sein Ohr. Vors icht ig beweg te er sich auf die Stelle zu . Er blieb s tehen , als er die zerfallene Mauer erreicht ha t te . Wo w a r sie? Warum kam sie nicht aus ihrem Vers teck und zeigte sich? Er f ing an zu z i t te rn . Ging hier nicht e twas Sonderbares vor sich?

Neil schaute sich vors icht ig in den sti l len Wäldern um. Es w a r viel zu st i l l . Er wäre gern fo r tge lau fen , aber seine Füße schienen am Boden zu kleben. Ganz allmählich e rkannte er aus dem A u g e n ­winke l ein Etwas neben sich am Boden, ein braunes Band mit einer kupfer farbenen Verd ickung an einem Ende, zusammenge¬ rollt und in Berei tschaf t .

„Neil." Die St imme war j e t z t neben ihm, und er zuck te zusammen und

fuhr zurück, gerade in dem Moment , als die r iesige Schlange vorst ieß und nach seinem Bein schnappte . Sie hat te ihn ver feh l t . Blindlings tas te te er nach der Mauer, löste einen Stein aus einer Bruchstel le. Mit aller Macht ze rschmet te r te er dami t den Kopf der tödl ichen Schlange.

Neil s tand neben ihr und rang nach Luft. Es war nicht die St imme seiner Mut ter g e w e s e n . Jeremy Pimm hat te ihn geru fen . Irgendwie ahnte er, daß er herausgeforder t w u r d e . Deshalb hat te Jeremy beschlossen, daß Neil s terben sol l te. Neil ließ den Stein fa l len, den er noch in der Hand hielt, und taume l te zur Straße zurück.

Al lmähl ich, einer nach dem anderen, t ra fen die anderen ein. Neil kannte Pam und Bill von dem Gesprächskreis, doch die übrigen waren ihm f r e m d , abgesehen von Terr i , die als eine der letzten eintraf. Sie lächelte ihm f lücht ig zu und f ing dann an, mit Pam zu reden.

Kurz darauf kam M a t t h e w die Straße h inabgelaufen. „Ich hab mehr als ein Dutzend Leute angeru fen " , stieß er a temlos hervor. „Aber nur neun von ihnen waren zu Hause. Ansche inend sind

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schon alle hier. Sind wir so denn auch s t a rk g e n u g ? Klappt es so?"

„Ich weiß nicht, aber wir h a b e n keine a n d e r e Wahl. Wir m ü s s e n es einfach v e r s u c h e n / '

„Worum geh t es hier ü b e r h a u p t ? " woll te ein hoch aufgeschos¬ sener, ro thaar iger J u n g e w i s s e n . „Ich w a r schon auf dem Weg zum See ."

„Ja, w o r u m geh t es ü b e r h a u p t ? " w iede rho l t en zwei oder drei ande re aus der Gruppe .

Neil s tel l te sich mi t ten auf der S t raße auf und m u s t e r t e die V e r s a m m e l t e n . Alle Augen w a r e n mit t lerweile auf ihn ger ich te t . Ein paar, wie zum Beispiel der Rotschopf, s a h e n ihn be inahe feindselig an, doch die m e i s t e n m a c h t e n in e r s t e r Linie einen neugier igen Eindruck. Nur M a t t h e w und Terri lächel ten ihm freundschaftlich zu.

Neil e rzähl te die Gesch ich te noch einmal, die er schon M a t t h e w erzählt h a t t e , ohne e t w a s a u s z u l a s s e n . Alle hö r t en ihm wie ge¬ b a n n t zu, und als er von dem frischen Grab be r i ch t e t e und se inen Verdach t ä u ß e r t e , daß Dicks Großmut t e r dor t b e g r a b e n liege, me lde t e sich Bill aus der h i n t e r s t e n Reihe.

„Ich g laube , ich habe Dick vor fast einer Woche g e s e h e n . Er fuhr im Wagen se iner Großmut t e r aus der S t a d t h inaus . . . und er w a r allein."

„Ich hab das Gefühl, du sp inns t ein bißchen", s a g t e der Rot¬ schopf spö t t i s ch zu Neil.

„Ich m ö c h t e euch allen eine Frage stellen, b e s o n d e r s , w e n n ihr nicht glaubt, w a s ich euch s a g e " , fuhr Neil fort. „Habt ihr irgend¬ w a s Komisches , Auße rgewöhn l i ches anges te l l t , seit ihr J e r e m y Pimm k e n n e n g e l e r n t h a b t ? " Er t a u s c h t e einen r a s c h e n Blick mit Mat thew, und der nickte ihm z u s t i m m e n d zu. „Ich meine e t w a s wirklich Ungewöhnl i ches" , fuhr Neil fort. „E twas , w a s ihr un te r normalen Bed ingungen nicht tun w ü r d e t , w a s ihr aber wie un t e r Z w a n g ausführen m u ß t e t ? "

Wellen von g e m u r m e l t e n B e m e r k u n g e n flossen durch die Grup¬ pe, und der Rotschopf blickte v e r s t ö r t auf.

„Also, w a s können wir denn d a g e g e n u n t e r n e h m e n ? " fragte e r schließlich.

Neil hol te tief Luft. Alle Blicke w a r e n auf ihn fixiert. Seine Hände

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w u r d e n feucht, sein Gaumen t rocken , doch er w i s c h t e se ine Handflächen an den J e a n s ab und r ede t e we i t en

„Wir m ü s s e n ihn aus s e inem Haus rufen und uns ihm gemein¬ sam en tgegens t e l l en . Wir haben keine a n d e r e Möglichkeit, ihm die Quelle se iner Macht zu n e h m e n . Wir m ü s s e n u n s e r e n Ver¬ s t and geb rauchen , um uns g e g e n seine Kontrolle zu w e h r e n , und w e n n er merkt , daß er se ine Macht über uns verloren hat, dann glaube ich, wird er im w a h r s t e n Sinne des Wor t e s den Ver s t and verlieren. Und ich m ö c h t e w e t t e n , daß er da s nicht überlebt!"

Schweigen b re i t e te sich über den Wald, als sie sich dem alten S t e inhaus nähe r t en . Es sah so aus , als ob die ganze Natur zusah und a b w a r t e t e . Neil führte den Zug an, M a t t h e w folgte ihm un¬ mittelbar, und hinter ihnen gingen die a n d e r e n , z u s a m m e n g e ¬ d räng t wie v e r ä n g s t i g t e Vögel.

Als sie die Lichtung erreicht ha t t en , blieb Neil s t e h e n , holte tief Luft und r ichtete den Blick auf das alte S t e i n h a u s . Es sah ge¬ n a u s o aus wie beim e r s t e n m a l , als er voller Wut und Auflehnung hier g e s t a n d e n h a t t e . Es w a r die Verkörpe rung des Bösen , gleichzeitig bedrohlich und von d ü s t e r e r Faszinat ion.

Damals h a t t e Neil sich gefragt, w a s für ein Mensch wohl in solch einer B e h a u s u n g leben m o c h t e . J e t z t w u ß t e er es nur zu gut . Er w u ß t e , w e r J e r e m y Pimm w ar und wofür er s t and , und er fragte sich, ob J e r e m y wohl e t w a s von se inem Vorhaben a h n t e . Unwillkürlich überlief ihn ein Schauer , und er s topf te die Hände in die Taschen seiner J e a n s .

M a t t h e w klopfte ihm leicht auf die Schul ten „Was n u n ? " fragte er. Ein n e r v ö s e s Lächeln spiel te um seine Mundwinkel . „Wollen wir die Fes tung s t ü r m e n ? "

„Wartet hier", s a g t e Neil Er v e r s u c h t e , zuversichtl ich zu wirken, als er auf die Haus tü r

zuging. Die anderen durften nicht b e m e r k t e n , wie groß se ine Angs t in Wirklichkeit war. Er griff nach dem Messingklopfer, doch als se ine Hand sich darum schloß, fühlte er sich eiskalt an. Er­schrocken wollte er seinen Griff lösen, doch se ine Hand schien an dem Metall festgefroren zu sein, und ein s t e c h e n d e r Schmerz durchfuhr se ine Finger und s t ieg in se inem Arm hinauf. Nur mit Mühe konn te Neil einen S c h m e r z e n s s c h r e i u n t e r d r ü c k e n . Voller

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E n t s e t z e n s t a r r t e er auf den Türklopfen der kalt w a r wie das Herz des Teufels und ihn festhiel t . J e r e m y weiß Bescheid , d a c h t e er. Er weiß, w a r u m wir hier sind.

Plötzlich w a r se ine Hand befreit, und er p reß te sie an den Kör¬ per, um sie zu e r w ä r m e n . Er wich ein paa r Schr i t te zurück.

„Jeremy Pimm!" rief er. „Wir wollen mit dir reden ." Neil s t a r r t e die Tür an, doch sie öffnete sich nicht. Ein ersticken¬

des Schwe igen hing in der Luft. Neil warf e inen Blick über die Schul ter zurück, um s i che rzugehen , daß die a n d e r e n ihn nicht im Stich g e l a s s e n ha t t en , aber sie w a r e n alle noch da, s t a r r wie S t a t u e n vor lauter Angs t .

„Das ist deine le tz te Chance" , d roh te er. „Denn keiner von uns wird j e m a l s w iede r zu dir k o m m e n . "

Aus dem alten S t e inhaus kam keine Antwor t , hinter den Fen¬ s t e rn rühr te sich n ichts , kein Lebensze i chen w a r zu s e h e n . Doch Neil w u ß t e , daß J e r e m y drinnen wa r und ihn gehör t h a t t e . Er w u ß t e a u ß e r d e m , daß J e r e m y se ine g e s a m t e n Kraf t reserven zu¬ s a m m e n n a h m , um den Kampf zu g e w i n n e n . Über wieviel Kraft er verfügte , k o n n t e Neil nur r a t en .

„Was ha t er vo r? " fragte ein Mädchen n e b e n Ma t thew . „Das einzige, w a s ihm noch übrig bleibt", a n t w o r t e t e Neil. „Er

wird v e r s u c h e n , w iede r die Kontrolle über unse r Bewuß t se in zu er langen."

Während M a t t h e w z u s t i m m e n d nickte , e rhob sich ein Wind, str ich an Neils Wange vorbei und z e r z a u s t e sein Haar. Die Bie anderen b e m e r k t e n es auch. Die m e i s t e n t r a t e n unruhig von einem Fuß auf den a n d e r e n und blickten v e r ä n g s t i g t um sich. Im n ä c h s t e n Augenblick w a r die Luft erfüllt von S t immen , von einem Geräusch wie von t a u s e n d Geis tern, die k rächz ten und f lüs ter ten :

„Frei. Frei. Frei. Frei. Frei. Niemals, n iemals , n iemals , n iemals sollst du dich w e h r e n . "

„Aha! J e r e m y Pimm!" rief Neil mit d r ö h n e n d e r S t imme und st ieß die Faus t in die Luft. „Das ist n ichts Neues für u n s . Fällt dir n ichts B e s s e r e s e in?"

Die S t immen v e r s t u m m t e n . Der Wind legte sich und w a r dann vol lkommen v e r s c h w u n d e n und hinterließ n ichts als Stille in den Wäldern.

Die Ruhe vor dem Sturm, d a c h t e Neil.

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„Ich habe Angst" , f lüs ter te Terri. Ihre S t i m m e w a r kaum noch zu hören . Neil und M a t t h e w t a u s c h t e n einen Blick und g e s t a n d e n sich mit den Augen gegense i t i g ihre e igene A n g s t ein.

„Komm, wir f a s sen uns an den Händen" , s a g t e Ma t thew. „Viel¬ leicht hilft d a s . Wir können j e t z t nicht mehr zurück."

Die a n d e r e n t r a t e n vor und s t r e c k t e n e inander l a n g s a m die Hände e n t g e g e n . Neil w a r dankba r für M a t t h e w s fes ten Griff und v e r s u c h t e , se ine Kraft an Terri an se iner a n d e r e n Seite weiter¬ zuleiten. M a t t h e w s Vorschlag w a r gut . Indem sie sich an den Händen hielten, halfen sie womögl ich nicht nur einander, s o n d e r n k o n n t e n auch ihre Kraft z u s a m m e n t u n , um g e g e n J e r e m y Pimm zu kämpfen .

Allmählich bildete sich ein a n d e r e s Ge räusch h e r a u s . Kein Blätt¬ chen rühr te sich an den Bäumen , aber die Luft schien erfüllt zu sein vom R a u s c h e n von Voge l schwingen . Neil blickte vors icht ig um sich, und er sah, wie die ande ren sich ebenfalls u m s c h a u t e n . Ich höre das nicht als einziger, s a g t e er sich, doch s e l t s a m e r w e i s e w a r nicht ein einziger Vogel oder ein a n d e r e r Hinweis auf eine B e w e g u n g in der Nähe zu b e m e r k e n . Das Geräusch w u r d e lauter. Von allen Seiten streifte die j u n g e n Leute ein leichter Lufthauch. Neil hör te i rgendwo hinter sich j e m a n d e n nach Luft s c h n a p p e n .

„Haltet euch fest an den Händen", s a g t e er. „Es ist u n s e r e einzige Chance ."

Plötzlich w a r die Luft voller B e w e g u n g . Neil s p ü r t e die Berührung von h u n d e r t uns i ch tba ren Flügeln auf s e i n e m Gesicht, se inen Armen, s e inem Rücken, am ganzen Körper. Er k o n n t e nieman¬ den mehr s e h e n oder hören, doch er u m k l a m m e r t e die Hände se iner Nachbarn links und r ech t s mit aller Kraft und konzen t r i e r t e sich darauf, den Kräf tes t rom, der von Hand zu Hand ging, in Macht u m z u s e t z e n und in sein Bewuß t se in au fzunehmen . Wir w e r d e n uns w e h r e n . Wir w e r d e n uns w e h r e n . Wir w e r d e n uns w e h r e n .

Die k l a t s c h e n d e n Flügel fingen an, sie im Kreise zu umschwin¬ gen, und bildeten einen wilden Strudel . Sie w u r d e n schnel ler und schneller, und Neil h a t t e das Gefühl, in einer r iesigen Zentrifuge u m h e r g e s c h l e u d e r t zu w e r d e n . Er s p ü r t e keinen Boden mehr un te r den Füpen, aber die Hände se iner Nachbarn lagen noch fest

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in den se inen, und i rgendwo tief im Inneren w a r ihm bewuß t , daß die a n d e r e n von de r se lben o rkanar t igen Macht ge fangen w a r e n , die auch ihn festhielt .

Im Zen t rum des St rudels nahm allmählich ein Bild Ges ta l t an. Z u n ä c h s t w a r es noch dunkel und undeut l ich, doch als es w u c h s und klarer w u r d e , e r k a n n t e Neil, daß es sich um das alte Stein¬ haus hande l t e . Es hock te einen Augenbl ick da, d ü s t e r und be¬ drohlich, dann e rhob es sich l a n g s a m und w u r d e größer.

„Nein! Nein! Wir w e h r e n uns !" schrie Neil und kämpf te mit aller Macht g e g e n das Bild vor s e inem inneren Auge . Es kam immer näher, bis er schließlich die Kälte der Mauern s p ü r t e und den dumpfen T o d e s g e r u c h des Bösen w a h r n a h m . Neil w u r d e übel, alles um ihn he rum d r e h t e sich wie ve r rück t im Kreise.

Wir w e h r e n u n s . Wir w e h r e n u n s . Wir w e h r e n u n s . Aber können wir uns ü b e r h a u p t w e h r e n ? d a c h t e er verzweifel t . Ich verliere! Es en tg le i te t mir!

Wir w e h r e n u n s . Die Worte w a r e n nur noch ein Flüstern in i rgende inem Winkel s e i n e s B e w u ß t s e i n s . Er m u ß t e all se ine Kräf¬ te und alle Willenskraft aufbieten, um sie nicht einschlafen zu l assen . Wir w e h r e n u n s .

Das S t e inhaus ü b e r r a g t e sie wie ein r ies iger Felsen, der sie zu z e r s c h m e t t e r n d roh te . Neil sah es an und hielt die Hände se iner Nachbarn so fest er k o n n t e , um aus ihnen den le tz ten Res t Kraft zu ziehen.

„Wir w e h r e n uns ! Wir k ö n n e n uns w e h r e n ! Wir m ü s s e n u n s wehren !" Neil hö r t e se ine e igene S t imme über das B rausen und Tosen h inweg, und a n d e r e Schreie , a n d e r e S t i m m e n k a m e n hin¬ zu.

Plötzlich w u r d e es still. Unvermi t te l t ü b e r k a m ihn ein Kälte¬ s c h a u e r und w a r gleich w iede r v e r s c h w u n d e n . Im se lben Augen¬ blick b e g a n n eine Schieferpla t te oben am Dach zu ru t schen , zu¬ ers t l angsam, dann immer schneller, bis sie k rachend zu Boden fiel. Einen Herzschlag s p ä t e r löste sich eine zwe i t e Plat te , d i e ses Mal am u n t e r e n Rande des Dachs .

Neil hef te te se inen Blick auf das S t e i n h a u s und kämpf te mit ä u ß e r s t e r Konzen t ra t ion g e g e n die feindlichen Mäch te an. Spür t e er nicht eine leichte Ver lagerung des Krä f t eve rhä l tn i s se s? Kämpfte J e r e m y Pimm j e t z t um sein Übe r l eben?

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Er schob die a b l e n k e n d e n Gedanken beise i te und r ichte te den Blick auf den Turm, der ihm am n ä c h s t e n war . Mit lau tem Klirren s t ü r z t e ein S c h e r b e n r e g e n aus dem o b e r s t e n Fenster . I rgendwo zerbrach ein w e i t e r e s Fenster , und ein großer Mauers te in über der Haus tü r löste sich aus dem Gefüge und s t ü r z t e zu Boden .

Neil s p ü r t e mit freudiger Erregung, wie der Kräf tes t rom in se inem Innern sich w i e d e r aufbaute und gleichzeitig von ihm auf M a t t h e w und Terri überg ing .

Die Augen fest auf das Fens te r des Wohnz immers ger ich te t , rief er: „Du k a n n s t n iemals gewinnen , J e r e m y Pirnm! J e t z t h a b e n wir die Macht! Wir alle h a b e n j e t z t die Macht!"

Ein leises Grollen e r t ö n t e und schwoll zu e inem Donnersch lag an. Neil sah e r sch rocken und fasziniert zugleich zu, wie das Stein¬ haus sich aufblähte, als ob es von innen her zerp la tzen m ü ß t e , und dann mit e inem mäch t igen Erbeben a u s e i n a n d e r b r a c h . S taub und Mörtel flogen durch die Luft, Glas, Schiefer und Stein w u r d e n in den Himmel gesch leude r t , wi rbe l ten durch die Zweige der B ä u m e und fielen k rachend zu Boden, w ä h r e n d in der Höhe noch ein n e u e s Geräusch , ein mensch l i che r Laut, e r t ö n t e . Es b e g a n n wie ein S c h m e r z e n s s c h r e i und w u c h s sich dann aus zu e inem l anggezogenen , h u n d e r t J a h r e al ten Todesheu len .

Allmählich schwoll der Schrei ab . Der S t aub s e n k t e sich auf die Lichtung he rab wie ein Leichentuch. Der Bann w a r g e b r o c h e n . J e r e m y Pirnm w a r nicht mehr . Nur das alte S t e i n h a u s blieb Wirk¬ lichkeit, eine zerfallene Ruine.

„Was willst du deiner Mut te r über das S t e inhaus e rzäh len?" frag­te M a t t h e w später , n a c h d e m alle a n d e r e n f o r t g e g a n g e n waren. „Sie ha t es doch schließlich g e s e h e n , wie es früher war."

„Ich weiß nicht. Aber ich bin der Sohn zweier Schriftsteller. Mir wird schon w a s einfallen", e n t g e g n e t e Neil mit e inem Achsel¬ zucken . „Vielleicht kann ich ihr e inreden, daß sie nur g e t r ä u m t hat und daß sie ihren Traum in eine ihrer Gruse lgesch ich ten u m s e t z e n soll. Wer w e i ß ? "

Neil verfiel w iede r in Schweigen und blickte auf die M a s s e von Schiefer und Stein, die einmal das S t e i n h a u s g e w e s e n war . Er

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dach te an J e r e m y Pimm. Ein s e l t s a m e r Schmerz b e w e g t e sein Herz.

„Meinst du nicht auch, daß wir j e t z t lieber gehen so l l t en?" d r ä n g t e Ma t thew.

„Du k a n n s t ja gehen , w e n n du willst", a n t w o r t e t e Neil. „Ich m ö c h t e noch bleiben. Ich hab e t w a s zu er ledigen."

M a t t h e w sah ihn v e r w u n d e r t an und w a n d t e sich dann zum Gehen, als Neil ihn zurückrief.

„Mat thew. Komm doch mit!" M a t t h e w blieb s t e h e n . „Wohin?" „Du wirs t es schon s ehen . " Neil führte M a t t h e w um die Ruine des al ten S t e i n h a u s e s he rum

und den Pfad zu der f a r n ü b e r w u c h e r t e n Lichtung und der Mühle hinunter . Es w a r de r se lbe Weg, den J e r e m y an dem Tag einge¬ sch lagen h a t t e , als er Neil erklär te , daß er sein Bewußse in kon¬ trollieren k ö n n t e . Bei J e r e m y s Grabs te in und dem frischen Grab blieben sie s t e h e n .

„Was h a s t du vo r?" fragte M a t t h e w beunruh ig t . „Du willst es doch nicht a u s g r a b e n ? "

„Nein", a n t w o r t e t e Neil. „Das ü b e r l a s s e ich der Polizei. Wir rufen sie s p ä t e r an und s a g e n , daß wir auf e inem Spaz ie rgang durch den Wald ein Grab e n d t e c k t h a b e n . So e t w a s p a s s i e r t doch s t änd ig . Sie w e r d e n nie auf die Idee k o m m e n , daß wir mehr da rübe r w i s sen . "

„Der a rme Dick", s a g t e M a t t h e w . „Wenn es wirklich se ine Gro߬ m u t t e r ist, w e r d e n sie wahrsche in l ich nach ihm fahnden . Er hat keine Chance ."

„Ich weiß." „Aber w a r u m sind wir h i e r h e r g e k o m m e n ? Du h a s t doch ge¬

sagt , du h ä t t e s t noch e t w a s zu er ledigen." Neil hob einen spi tzen Stein vom Boden auf und knie te sich

n e b e n J e r e m y P imms Grab. „Hast du eigentlich mal so richtig über J e r e m y Pimm nachge¬

d a c h t ? " fragte er. „Ob ich über J e r e m y n a c h g e d a c h t h a b e ? " wiede rho l t e Mat¬

t h e w ungläubig. „Du weiß t doch se lbs t , w a s wir d u r c h g e m a c h t haben . "

„Ich meine , ob du dich so richtig mit Ihm beschäf t ig t has t " ,

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erklärte Neil. „Zum Beispiel dami t , was er du rchgemach t hat und was ihn so zum Wahnsinn get r ieben hat, daß sein Geist zurück¬ kommen mußte, um zu ve rsuchen , sich zu rächen. Ihn hat es von allen doch am sch l immsten ge t ro f fen . "

„Da hast du recht" , gab M a t t h e w zu . „ Im Vergleich zu ihm hat te keiner von uns wirk l ich schwere Probleme."

„Und als ob es damit noch nicht genug gewesen w ä r e " , fuhr Neil fo r t , „ füg te ihm Eleaser Burbank auch noch die al lerschlimm¬ ste Kränkung zu . Er hat nicht einmal Jeremys Namen auf den Grabstein setzen lassen."

Matthew sah schweigend zu , w ie Neil den Namen „JEREMY PIMM" mit dem spitzen Stein in den Grabstein r i tz te. Als er fe r t ig war, blies Neil den Staub fo r t und sagte : „Die Schrift ist ein biß­chen groß, und die Buchstaben sind e twas schief ge ra ten , aber fürs erste reicht es. Zumindes t ist sein Grab j e t z t gekennzeich¬ net."

„Ich bin f r oh , daß du das getan hast" , sagte Mat thew. „Das w a r ein guter Gedanke."

Sie erre ichten die Straße und blieben in den länger we rdenden Schat ten s tehen . „Nun , Kumpe l " , sagte Ma t thew, „ich denke, für heute haben wi r genug gele is tet . "

Sie t r enn ten sich und gingen in en tgegengesetze Richtungen nach Hause. Neil bl ickte M a t t h e w nach, bis er um die Straßen¬ biegung ve rschwunden war.

Er hat te ihn „ K u m p e l " genannt . Das Wort hat te für Neil eine ganz besondere Bedeu tung . Henry und Alan wa ren auch seine Kumpel , und in ein paar Tagen w ü r d e er sie anru fen und sich für sein sonderbares Verhal ten entschuld igen und viel leicht behaup­t e n , daß er damals gerade unter dem Einfluß einer sich anbahnen¬ den Grippe s tand oder so ähnl ich. Er wo l l te ihre Freundschaf t nicht ver l ieren. Doch M a t t h e w w a r ebenfal ls sein Freund, und ihre Freundschaf t w ü r d e sich noch ver t ie fen .

Neil lächelte vor sich hin. Wenn man einen Freund hat, dachte er, und w e n n es nur ein einziger ist, kann man sich überall zu Hause füh len .

- ENDE -


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