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Das Haus des Jeremy Pimm

Date post: 04-Jan-2017
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DAS HAUS DES JEREMY PIMM 1. KAPITEL Neil wäre niemals auf das alte Natursteinhaus gestoßen, wenn er nicht so tief in Gedanken versunken gewesen wäre, daß er das Ende der Straße gar nicht bemerkte. Statt kehrtzumachen, was das Natürlichste gewesen wäre, streifte er wie ein Schlafwandler durch das dichte Unterholz und blieb erst stehen, als er das düstere Haus aus Naturstein als dunklen Umriß vor dem Grün des Waldes aufragen sah. Für einen Moment vergaß er den Ärger, den es zwischen ihm und seinen Eltern gegeben hatte. Überrascht stand er da und betrachtete das seltsame Gebäude. Es war in Schatten gehüllt, obwohl es doch ein später Vormittag im Juli war. Das Haus war ganz aus grauem Stein gebaut und hatte einen L-förmigen Grundriß, zwei Stockwerke mit hohen, dunklen Fenstern und jede Menge seltsamer Mansarden und Schornsteine. Ein paar Türme verliehen ihm fast das Ansehen eines Schlosses. 1
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DAS HAUS DES JEREMY PIMM

1. KAPITEL

Neil wäre niemals auf das alte Natursteinhaus gestoßen, wenn er nicht so tief in Gedanken versunken gewesen wäre, daß er das Ende der Straße gar nicht bemerkte. Statt kehrtzumachen, was das Natürlichste gewesen wäre, streifte er wie ein Schlafwandler durch das dichte Unterholz und blieb erst stehen, als er das düstere Haus aus Naturstein als dunklen Umriß vor dem Grün des Waldes aufragen sah. Für einen Moment vergaß er den Ärger, den es zwischen ihm und seinen Eltern gegeben hatte. Überrascht stand er da und betrachtete das seltsame Gebäude. Es war in Schatten gehüllt, obwohl es doch ein später Vormittag im Juli war. Das Haus war ganz aus grauem Stein gebaut und hatte einen L-förmigen Grundriß, zwei Stockwerke mit hohen, dunklen Fenstern und jede Menge seltsamer Mansarden und Schornsteine. Ein paar Türme verliehen ihm fast das Ansehen eines Schlosses. Einerseits wirkte es fast fehl am Platze inmitten der grünen Umgebung, andererseits jedoch paßte es auch wieder auf sonderbare Weise in diese Gegend, so, als ob es schon sehr lange dort stünde. Dichte Weinranken wucherten an den rußigen Schornsteinen empor, und auf der Steintreppe, die zur Haustür führte, lag ein dicker Moosteppich. Wer wohl in diesem gruseligen Haus wohnte? Wie als Antwort auf Neils unausgesprochene Frage erhob sich eine Brise und raschelte in den Blättern, so daß es wie ein Flüstern von tausend geisterhaften Zungen klang. Unwillkürlich überlief Neil ein Schauer.

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Er lehnte sich an einen Baum und sog die schwere Luft ein. Sie war feucht und kühl und roch nach verrotteten Blättern. Mit einem Seufzer legte er den Kopf in den Nacken und schloß die Augen. Die Gedanken, die ihn hergetrieben hatten, stiegen wieder in ihm hoch. Warum konnten seine Eltern nicht begreifen, daß dieser Umzug für ihn eine Katastrophe bedeutete? In Fairhaven mit Henry und Alan und all seinen anderen Freunden, die er schon fast sein ganzes Leben lang kannte, war er glücklich und zufrieden gewesen. Er hatte sich schon auf den Schulbeginn nach den Sommerferien gefreut, aber jetzt mußte er in eine neue Schule, wo er keine Menschenseele kannte. Jetzt lebte er vierzig Meilen entfernt von seinen Freunden in New England, so tief in den Wäldern von Connecticut, daß weit und breit kein anderes Haus zu entdecken war. Eine Weile hatte er sich gegen den Umzug gewehrt, hatte jeden möglichen Einwand ins Feld geführt. Aber wie gewöhnlich hatten auch diesmal seine Eltern gewonnen. Beide waren Schriftsteller. Seine Mutter schrieb Gruselromane, sein Vater Sportbücher für junge Leute, die er mit seinen eigenen preisgekrönten Fotografien illustrierte. Beide waren das Stadtleben leid und suchten einen friedlichen Ort für ihre Arbeit und Platz für eine Dunkelkammer. Das Gefühl, beobachtet zu werden, riß Neil aus seinen trüben Gedanken auf. Er warf einen raschen Blick auf das unheimliche Haus und war heilfroh, daß er nicht dort hatte einziehen müssen. Lange, dunkle Schatten streckten sich wie Finger aus und hüllten alles, was sie berührten, in Dämmerlicht, Aber niemand war zu sehen. Keine Augen lugten aus den mit schweren Vorhängen verdunkelten Fenstern hervor, und die massive Eichentür war fest geschlossen. Neil drehte sich um und ging. Er hatte erst zwei, höchstens drei

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Schritte gemacht, als er wieder stehenblieb. Keine zehn Meter von ihm entfernt standen zwei Jungen in ungefähr seinem Alter. Sie beobachteten ihn stumm und reglos. Wahrscheinlich waren es ihre Blicke gewesen, die er gespürt hatte. Wie lange sie wohl schon dort standen? Was wollten sie? Keiner der Jungen rührte sich, als Neil näherkam. Der größere hatte dunkles Haar, kräftige Augenbrauen und wirkte insgesamt schwammig, wie jemand, der zuwenig Bewegung hat. Seine kühlen, grünen Augen zeigten einen gleichgültigen, überheblichen Ausdruck und gaben Neil das Gefühl, wie ein Insekt unter der Lupe betrachtet zu werden. Oder wie ein Schmetterling an der Nadel. Ein Bazillus unter dem Mikroskop. Der andere Junge war blond und von drahtigem Körperbau. Seine blauen Augen blickten freundlich, und um seinen Mund zuckte es kaum merklich, so als sträubten sich seine Gesichtsmuskeln gegen den Ernst und warteten darauf, jeden Augenblick ein Lächeln hervorzubringen. Der ernste Ausdruck blieb zwar, aber er war der erste, der etwas sagte, als Neil bei ihnen stehenblieb. „Hat Jeremy Pimm dich eingeladen?" fragte er und deutete auf das Steinhaus. Seine Stimme enthielt keine Spur von Freundlichkeit. „Seid ihr seine Leibwächter oder so?" konterte Neil. Endlich siegte doch das Lächeln bei dem Blonden, aber es war nicht so herzlich, wie Neil gehofft hatte. „So ungefähr", sagte der Dunkelhaarige. „Wir pasen hier auf. Besonders auf Typen, die herumschnüffeln, wo sie nichts zu suchen haben." „Es sei denn, du willst Jeremy Pimm besuchen." Der blonde Junge verbeugte sich spöttisch, so als wolle er Neil in das Steinhaus einladen. „In dem Falle bist du uns willkommen."

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„Ich will nicht zu Jeremy Pimm", sagte Neil. „Ich heiße Neil Youngwerth, und ich bin gestern erst in das Haus der Whitings an der Old Mill Road eingezogen." „Warum hast du das nicht gleich gesagt?" fragte der Blonde. Diesmal war sein Lächeln wirklich freundlich. „Ich bin Matthew Crawford, und der da ist Dick Risley. Wir wohnen in der Grey Rocks Road, direkt hinter euch. Und was machst du hier?" „Nichts Besonderes. Ich habe mich nur in der Gegend umgesehen. „Ich wollte wissen, ob hier noch mehr Leute wohnen. Junge, dieses Haus da hat's in sich." Matthew lächelte ihm wieder zu. „So? Na warte, bis du erst Jeremy Pimm kennengelernt hast." Er warf den Kopf in den Nacken und lachte über seinen eigenen Witz, aber Dick brachte ihn mit scharfen Worten zum Schweigen. „Jeremy Pimm ist schon in Ordnung." Plötzlich schien eine Spannung zwischen den beiden Jungen zu entstehen. Eine Pause trat ein, ein Innehalten, dann zuckte Matthew mit den Schultern. Er wandte sich Neil zu und sagte: „Komm, Neil. Wir gehen zusammen zur Straße zurück." Neil nickte und folgte den Jungen. Er fragte sich, was diese beiden wohl bei dem alten Steinhaus gemacht hatten, wer Jeremy Pimm war und was Matthew an ihm nicht paßte. Neil seufzte und warf einen Blick auf Matthew und Dick, die sich vor ihm durch das Unterholz zur Straße hindurchkämpften. Sie schienen ganz in Ordnung zu sein. Matthew zumindest. Bei Dick war er sich noch nicht so ganz sicher. Aber sie waren eben nicht Henry und Alan und würden ihm die alten Freunde nicht ersetzen können. Dick keuchte, als sie über die letzten Dornenranken stiegen, und kleine Schweißperlen standen auf seiner Oberlippe. Im Schatten des Straßenrandes blieb er stehen und wartete auf die anderen. Neil war der letzte, der aus dem kühlen Schatten des Waldes ins heiße Sonnenlicht hinaustrat.

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„Das wird ein brüllend heißer Tag heute", sagte Matthew. „Vielleicht sollten wir unten an der alten Mühle schwimmen gehen." Als er sah, wie Dicks Gesicht sich verfinsterte, fügte er hinzu: „Das ist nicht auf Jeremy Pimms Besitz." „Ich weiß nicht", meinte Neil zögernd. „Ich muß eigentlich nach Hause, meine Sachen auspacken und mein Zimmer einrichten." Matthew hob die Schultern. ,,Na, dann eben ein anderes Mal."

Dick knurrte Neil zum Abschied etwas zu, was Neil kaum hörte, und dann bogen die beiden Jungen in eine Seitenstraße ein, die er bisher noch nicht bemerkt hatte. Matthew schlenderte mitten auf der Straße dahin und zog eine Staubwolke hinter sich her, während Dick sich am Rande im Schatten hielt. Die zwei sind so verschieden wie Tag und Nacht, dachte Neil auf dem Heimweg. Wieso die wohl miteinander befreundet sind? Neil war immer noch in Gedanken versunken, als er die Zufahrt erreichte, wurde aber im nächsten Moment aufgeschreckt. Auf der Veranda vor dem Haus stand seine Mutter, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Sie sah müde aus, wie ein General nach einer erbitterten Schlacht, aber ihre Stimme war kräftig und gebieterisch. „Wo zum Kuckuck hast du gesteckt? Du hast noch nicht einmal mit dem Auspacken angefangen. Du glaubst wohl, wenn du dich lange genug drückst, erledigt das jemand anders für dich?" Neil drängte sich an ihr vorbei und stieg die Treppe hinauf. Er hatte keine Lust, sein Zimmer in Ordnung zu bringen, und noch viel weniger wollte er, daß jemand anders es für ihn tat. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß der Umzug dann so endgültig, so unwiderruflich wäre. Am Kopf der Treppe wandte er sich um und blickte hinunter zu seiner Mutter. Wie konnte er ihr begreiflich machen, was er

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fühlte? Ihr Ärger war ein bißchen verraucht, sie ließ die Arme nun locker hängen, doch ihr Gesichtsausdruck war noch immer entschlossen. Neil ging in sein Zimmer. Es war sinnlos. Die Fronten standen fest. „Wir essen draußen auf der Terrasse", kündigte Mrs. Young-werth später an, als die Familie sich zu einem frühen Abendbrot in der Küche einfand. Neil wußte, was sie damit bezweckte - sie wollte ihrer Familie wieder einmal die Vorzüge der Natur vor Augen führen. Seine Eltern hatten sich jede erdenkliche Mühe gegeben, um Neil dafür zu gewinnen. „Da!" schrie Christie, seine vierzehnjährige Schwester. „Ein Kaninchen! Habt ihr's gesehen? Da drüben!" „Na also", murmelte Neil. „Dann mal los, ihr Mücken. Wir kommen." „Was hast du gesagt, Schatz?" fragte seine Mutter. „Ach, nichts." Neil nahm den Krug mit Eistee und folgte ihr nach draußen. „Ich hab mich nur gefragt, ob es hier draußen wohl Mücken gibt. Hey, Christie! Wo ist das Kaninchen?" „Jetzt ist es weg, da drüben in das Zedergebüsch gehoppelt. Da hat es bstimmt seinen Bau." „Das glaube ich auch", sagte Mrs. Youngwerth. „Gebt es zu, es macht doch Spaß, wildlebende Tiere im Garten zu haben." Sie hat es tatsächlich geschafft, dachte Neil. Sie hat Christie auf ihre Seite gezogen. Aber bei mir hat sie keine Chance. Nach dem Essen legte Mr. Youngwerth Neil den Arm um die Schultern, „ich hab mir sagen lassen, es gibt hier in der Gegend ein ganz ungewöhnliches altes Haus aus Naturstein, und das würde ich gern fotografieren, solange es noch hell genung ist. Ich glaube, um diese Tageszeit sind die Schatten besonders gut für eine Studie. Hast du Lust, Max zu holen und mitzukommen?" Neil zog die Stirn kraus. Jeremy Pimms Haus war aus Naturstein, und es war mehr als nur ungewöhnlich. Meinte sein Vater das etwa?

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„Man kann auch mit dem Auto hinfahren",sagte Mr. Young-werth, „aber das bedeutet einen Umweg über Whipstick Road und einen schmalen Privatweg. Der kürzeste Weg ist zu Fuß durch den Wald am Ende unserer Straße." Jawohl, er meinte Jeremy Pimms Haus. Neil nickte und holte Max' Leine aus dem Schrank im Flur. Schon kam Max von seinem kühlen Schlafplätzchen unter denn Wohnzimmersofa hervorgeschossen. Max war ein Widerspruch in sich mit goldbraunem Fell. Sie hatten die Hündin Max genannt, weil Neil und seine Schwester vor elf Jahren beschlossen hatten, daß ihr Hund ein Rüde war. Seine Mutter war ein reinrassiger Dachshund gewesen, sein Vater ein Cocker. Max' Bauch war langgezogen und durchhängend und seine Beine viel zu kurz für einen Cocker. Aber Max war eine gute Hündin und das einzige Familienmitglied, dem Neil sich zur Zeit wirklich verbunden fühlte. Neil und sein Vater gingen schweigend die lange Landstraße entlang, die in südlicher Richtung zur Hauptstraße führte. Zu beiden Seiten erhob sich dunkler Wald, und nur zwei weitere Zufahrten schnitten schmale Schneisen in den Baumbestand. Die Häuser lagen, wie das Haus der Youngwerths, tief im Wald und waren von der Straße aus nicht zu sehen. Jetzt näherten sie sich dem Ende der Straße. Rechts bog der Weg ab, den Matthew und Dick am Morgen gegangen waren. Er lag verlassen im Schatten des Spätnachmittags da. Neil löste Max' Leine vom Halsband, damit der kleine Hund umherstreunen konnte, und ließ seinen Vater vorangehen.

Durch lichtes Unterholz am Straßenrand drangen sie in den tiefen Wald ein, wo das Laubdach so plötzlich wie ein aufziehendes Gewitter die Sonne verdunkelte. Trotz der feuchten Kühle begann Neil zu schwitzen.

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Ganz unvermittelt tauchte das Steinhaus in ihrem Blickfeld auf. Doch bevor Neil es genauer ins Auge fassen konnte, zog ein Schwarm von zwanzig oder dreißig Amseln seine Aufmerksamkeit auf sich. Leicht und still wie ein Frühlingsregen ließen sie sich auf dem Boden und in den Bäumen nieder. Sein Vater hatte sie ebenfalls bemerkt und blieb stehen. Alles um sie herum war still, während die Vögel ihre durchdringenden schwarzen Augen auf die Eindringlinge richteten. Dann, ohne jede Vorwarnung, schwärmten sie aus, krächzten und kreischten wie Hexen und waren so rasch verschwunden, wie sie gekommen waren. Neil schauderte, als der letzte Vogel fort war und das Geschrei in der Ferne verhallte. „Wahrscheinlich sind wir in ihr Revier eingedrungen", sagte sein Vater. „Schließlich steht dieses Haus schon seit Jahren leer/1 „Leer?" wiederholte Neil. „Das siehst du doch selbst. Es ist völlig heruntergekommen. Früher muß es mal ein tolles Gebäude gewesen sein." Während sein Vater redete, drehte sich Neil in erstauntem Schweigen zu dem Haus um. Ein Teil des Daches war vollkommen eingestürzt und bestand nur noch aus einem klaffenden Loch. Nur wenige Mauern standen noch. Die Türme waren noch da, aber in den Fenstern waren nicht einmal mehr Glassplitter zu sehen. Neil schaute seinen Vater an, der gerade das Kamerastativ aufstellte, und dann wieder das Haus. Hab ich mir das heute morgen nur eingebildet? fragte er sich. Er hatte doch ein Haus gesehen, das total in Ordnung war. Nein, das mußte er sich eingebildet haben. Wahrscheinlich waren seine Nerven im Moment überreizt. Das Haus war verfallen, und es gab auch keinen Jeremy Pimm. Aber da waren doch auch noch Matthew und Dick gewesen, die ihm von Jeremy Pimm erzählt hatten. Neil schloß die

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Augen und holte tief Luft. War das möglich? Hatte er sich die beiden denn auch nur eingebildet? 2. KAPITEL Christie turnte auf dem Rasen, als Neil und sein Vater wenig später heimkamen. Sowie sie sie kommen sah, rannte sie auf sie zu und rief aufgeregt: „Weißt du was, Neil? Rate mal!" „Was denn?" fragte Neil nur wenig interessiert. In Gedanken war er noch immer bei dem geheimnisvollen, verfallenen Haus und den Streichen - wenn es welche waren -, die sein Verstand ihm offenbar spielte. „Rate!" forderte sie ihn heraus. „Ich weiß es nicht. Sag schon", seufzte Neil genervt. „Henry hat angerufen. Sein Vater kann dich am Freitag auf dem Rückweg von seiner Geschäftsreise hier abholen und dich am Montag morgen auch wieder nach Hause bringen. Du sollst ihn zurückrufen und ihm sagen, ob du darfst." Im ersten Augenblick konnte Neil es nicht glauben. Henrys Vater kam durch seine Arbeit ziemlich viel in Connecticut herum, und die Jungen hatten abgemacht, daß Henry sich größte Mühe geben sollte, auf seinen Vater einzuwirken, damit sie sich so oft wie möglich sehen konnten. Wann immer Mr. Ward auf seinem Heimweg in der Nähe von Winton vorbeikam, sollte er Neil abholen. Neil hätte sich nie träumen lassen, daß es schon so bald sein sollte. „Yippiiie!" jubelte er. „Frag lieber erst deine Mutter", warf Mr. Youngwerth rasch ein. „Du weißt ja, sie hat das Kommando bei unserem Umzug, und vielleicht hat sie dir am Wochenende schon eine andere Aufgabe zugedacht." Neil zog den Kopf ein. Er hatte sein Zimmer noch immer nicht eingeräumt, und wenn sie das erfuhr, wäre sie sauer, vielleicht sogar so sauer, daß sie ihn nicht nach Fairhaven fahren ließ.

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Mrs. Youngwerth packte Geschirr aus, als Neil ins Zimmer kam. „Ich hab mein Zimmer bis Freitag fertig. Das verspreche ich dir. Und ich helfe dir, wenn du mich brauchst", versprach Neil, nachdem er ihr von dem Anruf erzählt hatte. Sie antwortete nicht sofort, und Neil suchte gespannt nach Anhaltspunkten in ihrem Gesicht. Zumindest sah sie nicht sauer aus. „Du solltest dir mehr Mühe geben, hier neue Freunde zu finden", sagte sie langsam. „Ich werde hier schon Freunde finden", sagte er. „Was hat das mit meinem Besuch bei Henry und Alan zu tun?" Seine Mutter seufzte. „Nichts, glaube ich, solange du dich hier ein bißchen anstrengst." „Heißt das, ich darf fahren?" „Meinetwegen. Aber nur, wenn du dein Zimmer vorher einräumst." Während der nächsten zwei Tage waren Neils Gedanken ständig bei seinem Besuch in Fairhaven und seinen Freunden. Das seltsame Steinhaus vergaß er fast völlig, und wenn ihm Matthew und Dick überhaupt einmal in den Sinn kamen, schob er die Gedanken einfach beiseite. Am Freitag war Neils Zimmer ordentlich aufgeräumt, und er lief unruhig auf und ab, bis er den grünen Lieferwagen der Wards in der Einfahrt erblickte. Die Fahrt nach Fairhaven dauerte eine Ewigkeit. Mr. Ward war nie sehr gesprächig, und Neil hatte das Gefühl, daß er es ein bißchen lächerlich fand, daß Neil schon eine Woche nach dem Umzug seine alten Freunde besuchen wollte. Neil lächelte still. Was Mr. Ward dachte, war völlig gleichgültig, solange er nur mitmachte. Neil betrachtete die mittlerweile schon vertraute Gegend. Die hübschen Häuser im Kolonialstil auf ihren winzigen Grundstücken waren ihm ein willkommener Anblick. Als sie in seinen früheren Stadtteil kamen, hob sich Neils Laune, doch sowie dann sein früheres

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Zuhause ins Blickfeld kam, wollte sein Herz stehenbleiben. Ein fremdes Mädchen saß auf der Treppe und spielte mit einem zot±e!igen schwarzen Hund. Neil schaute rasch weg. Er wollte jetzt nicht an die neuen Bewohner denken. Er wollte nur an sein Wochenende mit Henry und Alan denken. Alan durfte auch bei Henry übernachten, und in den ersten Stunden war alles wie immer. Das Abendessen bei den Wards, als die sieben Kinder sich wegen eines Nachschlags zankten, sorgte für eine herzerfrischende Mischung aus Chaos und ausgelassenem Lachen. Danach versammelten sich die Jungen aus der Nachbarschaft, um in der Sackgasse unter den Straßenlaternen Fußball zu spielen, bis die Mücken sie ins Haus trieben. Neil vergaß beinahe, daß er nur zu Besuch war. Erst später, in Henrys Zimmer, wurde ihm wieder bewußt, wie die Dinge standen. „Es ist so schön, wieder hier zu sein", sagte er. „Fast so, als wäre ich nie umgezogen." „Ja", stimmte Alan zu, „fast wie in den Ferien in Cape Cod letzten Sommer." Der Sonntagabend kam viel zu schnell. Die Jungen waren sehr still, als sie zu Bett gingen. Nachdem das Licht ausgeschaltet war, starrte Neil in die Dunkelheit und versuchte, wach zu bleiben. Denn'wenn er einschliefe, wäre der Morgen im Handumdrehen da, und er müßte wieder zurück nach Winton. „Hey, Jungs", flüsterte er. „Seid ihr noch wach?" Die beiden bejahten in der Dunkelheit.

„Ich rede mit meinen Eltern und frage, ob ihr am kommenden Wochenende zu uns hinauskommen könnt. Da gibt's zwar nicht viel zu tun, aber wir können die Gegend erkunden." „Glaubst du, daß sie es erlauben?" fragte Alan. „Ich weiß nicht, aber drückt mir die Daumen."

Bald darauf schnarchten Henry und Alan leise. Neil kroch aus seinem Schlafsack und schlich auf Zehenspitzen zum Fenster.

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Von dort aus konnte er das Fenster seines früheren Zimmers sehen. Er lehnte sich an den Rahmen und dachte daran, wie er und Henry Zeichen mit der Taschenlampe vereinbart hatten, als sie noch klein waren. Abend für Abend waren sie zum Fenster geschlichen, wenn sie eigentlich schon hätten schlafen sollen, und hatten so getan, als ob sie sich von Kriegsschiffen aus Signale gaben. Später, als sie älter wurden, vergaßen sie dieses Spiel und benutzten die Taschenlampen, um sich wichtige Botschaften zu übermitteln. Neil sah über den mondbeschienenen Rasen zu seinem alten Haus und dem Fenster, wo er so oft gesessen hatte. Aber an diesem Abend blieb das Fenster dunkel. Die Rückfahrt nach Winton am nächsten Morgen verlief noch stiller als die Fahrt nach Fairhaven am Freitag nachmittag. Diesmal, das wußte Neil, war nicht Mr. Ward schuld an dem ausgedehnten Schweigen. Neil selbst war schuld - und ein Gefühl, das er nicht recht einordnen konnte. So gern er auch geblieben wäre - er war doch beinahe froh, wieder fort zu sein. Immerhin konnte er sich auf das nächste Wochenende freuen, wenn Henry und Alan zu ihm kämen. Seine Eltern saßen noch am Frühstückstisch, als er eintraf. Seine Schwester war nirgends zu sehen. ,,Tag, mein Junge. Wie war dein Wochenende?" begrüßte ihn sein Vater. „Ist alles noch beim Alten in unserer Nachbarschaft?" „Ja, es war toll!" „Zuerst war es mir ja nicht recht, daß du so rasch schon nach Fairhaven zurückgefahren bist", sagte seine Mutte. „Aber jetzt bin ich froh, daß du es hinter dir hast. Jetzt kannst du dich hier um neue Freunde kümmern. Christie hat schon ein Mädchen kennengelernt." Neils Herz wurde schwer wie ein Stein. Er wußte, daß es nicht der richtige Zeitpunkt war, aber er mußte trotzdem fragen. „Was meint ihr, können Henry und Alan am nächsten Wochenende herkommen? "

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Seine Eltern reagierten genauso, wie Neil es sich vorgestellt hatte. Das Gesicht seiner Mutter verdüsterte sich, und sein Vater sah ihn nicht an. „Sie wollen selbst sehen, wie es hier so ist. Ich hab ihnen so viel davon erzählt", log er. Mr. Youngwerth seufzte schwer, so als wäre er schrecklich müde, und schaute seinen Sohn an. „Neil, ich weiß, daß du noch einige Zeit brauchst, um dich an den Umzug zu gewöhnen, und daß du deine alten Freunde vermißt." Wenn das keine Untertreibung ist, dachte Neil. Er sah weder seinen Vater noch seine Mutter an. Statt dessen beobachtete er eine Fliege auf einem Tropfen vergossener Milch am Boden und machte sich auf die Standpauke gefaßt, die jetzt unweigerlich kommen mußte. „Du mußt dich damit abfinden, daß wir jetzt in Winton leben und nicht wieder nach Fairhaven zurückkehren werden", sagte sein Vater. „Dieser Umzug ist endgültig, eine unumstößliche Tatsache, aber glaube mir, es ist das Beste so. Je länger du dich weigerst, dich damit abzufinden, desto länger wirst du unglücklich sein." Neil biß sich auf die Unterlippe. „Heißt das, sie dürfen nicht kommen?" „Nicht schon nächstes Wochenende", entschied seine Mutter. „In ein paar Wochen würden wir uns über ihren Besuch freuen, aber es ist doch Unsinn, wenn ihr an jedem Wochenende hin- und herpendelt." Neil sprang auf und lief aus der Küche, in ein paar Wochen? Das war eine halbe Ewigkeit. Und wie konnten seine Eltern behaupten, daß es Unsinn wäre? Es hatte auf jeden Fall mehr Sinn als der Umzug nach Winton überhaupt. Aber was machte das jetzt noch aus? Er gehörte einfach nirgends mehr hin. Neil lief, so schnell er konnte, ohne darauf zu achten, wohin. Er war sich nur seines Schattens vor sich auf der Straße bewußt. Bald tauchte er im Wald unter, und wenig später blieb

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er keuchend stehen und bemerkte erst jetzt, wohin er gerannt war. Er hob den Blick nicht sofort zum alten Steinhaus. Ihn beschlich das Gefühl, daß er bereits wußte, was er dort sehen würde. Es war schwer zu erklären, aber das Gefühl war da, eindeutig. Schließlich sah er auf und ließ den Blick an den völlig intakten Mauern hinauf wandern, über die Fenster, deren Scheiben im Sonnenlicht blitzten, und hinauf zum Dach, auf dem nicht ein einziger Dachziegel fehlte. Aufmerksam betrachtete er das große Fenster neben der Haustür. Durch die geputzten Scheiben erkannte er schwere Vorhänge, fest zugezogen wie zuvor. Während er noch schaute, bewegten sie sich und teilten sich leicht in der Mitte. Zuerst schien dahinter nur Dunkelheit zu herrschen, doch allmählich erkannte Neil ein Augenpaar, das wie Schwertspitzen glitzerte und ihn so festhielt, daß er den Blick nicht lösen konnte. Neil starrte wie hypnotisiert zurück. Zum erstenmal war er ganz sicher, daß es dieses Steinhaus wirklich gab und daß Jeremy Pimm darin lebte. Etwas hatte ihn hierhergelockt, eine Kraft, die er sich nicht erklären konnte. Und jetzt ließen ihn Jeremy Pimms Augen nicht mehr los. Aber warum? Was wollte er? Neil nahm all seine Kraft zusammen und riß sich los, wehrte sich gegen diese Macht, die ihn festhielt und stolperte durch den Wald zurück. Als er die Straße erreichte, die im heftigen Sonnenlicht dalag, blieb er stehen und setzte sich auf einen Baumstumpf. Links von ihm lag die Straße, die Matthew und Dick gegangen waren. Einen Matthew Crawford und einen Dick Risley gab es wirklich. Er hatte sie sich nicht eingebildet, ebensowenig wie das Steinhaus. Das wußte erjetzt. Aber was war los mit dem Steinhaus? Wie konnte es gleichzeitig ein vollständig intaktes Gebäude und eine zerfallen

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Ruine sein? Das war nicht möglich! Aber es war so. Wieder überkam Neil die Angst, die ihn schon vor wenigen Augenblicken beim Anblick des Hauses gepackt hatte. Er begann zu zittern. Ich muß mich zusammenreißen, sagte er sich. Schließlich gibt es viele Dinge im Leben, die sich nicht erklären lassen. Zum Beispiel Telepathie und Poltergeister und Hellseher, die aus einer Entfernung von 500 Kilometern Leichen finden. Warum sollte sich das alte Haus dann nicht ganz von allein verändern können? Weil es eben nicht geht, deswegen, sagte er sich. Aber wenn es doch gehen sollte, müßten Matthew und Dick darüber Bescheid wissen. Neil sprang auf. Er wollte zur Grey Rocks Road und mit Matthew und Dick reden. Das würde ihm weiterhelfen. „Risley oder Crawford, Risley oder Crawford", flüsterte er ununterbrochen vor sich hin. Er ging die ganze Straße hinunter und wieder zurück, aber ohne Erfolg. Nur etwa die Hälfte der Briefkästen waren mit Namen versehen, doch die beiden, die er suchte, fand er nicht. In einer Zufahrt entdeckte er ein Fahrrad, das aussah wie Christies, aber er war nicht ganz sicher. Seine Mutter hatte ihm erzählt, daß Christie eine Freundin gefunden hatte. Vielleicht sollte er anklopfen und sagen, daß er sie sprechen wollte, und wenn sie es wirklich war und die Leute nett wirkten, konnte er fragen, wo die Risleys und die Crawfords wohnten. Aber er mochte nicht bei fremden Leuten eindringen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als nach Hause zu gehen. Neil hörte das Klappern einer Schreibmaschine, als er ins Haus kam. Seit dem Umzug, hatten seine Eltern fast täglich an ihren Büchern gearbeitet, im neuen Haus hatten sie ein Arbeitszimmer neben dem Wohnraum, wo sie ungestört schreiben konnten. In Fairhaven dagegen stand ihnen nur eine Ecke im überfüllten Schlafzimmer zur Verfügung. Im Flur hatten die Aktenschränke gestanden, und fast immer bedeckten

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Nachschlagwerke den Eßtisch. Tief im Innern wußte Neil, daß der Umzug nach Winton das Richtige für sie war. Aber was war mit ihm? Zählte er denn gar nicht? Er zog das Telefonbuch aus der Schreibtischschublade und schlug die Seiten unter „C" auf. Er hatte schon die Spalte mit „Cr" gefunden, als er seinen Vater die Kellertreppe hochkommen hörte. „Hey, Neil. Schau dir das mal an." Mr. Youngwerth reichte sei-nem Sohn eine Handvoll frisch entwickelter Fotos. „Diese Aufnahmen hab ich neulich bei dem alten Steinhaus gemacht. Endlich hatte ich mal Zeit, sie zu entwickeln. Sind sie nicht toll?" Neil legte das Telefonbuch auf den Schreibtisch. Er hatte nicht die geringste Lust, sich die Fotos anzuschauen, schon gar nicht, wenn sie nur eine verfallene Ruine zeigten, aber ihm blieb nichts anderes übrig. Er nahm die Bilder und breitete sie auf dem Küchentisch aus. Sie waren wirklich gut, und sie zeigten das Haus so, wie er und sein Vater es gesehen hatten. Neil hatte nichts anderes erwartet. „Wirklich, Dad. Die sind Spitze.'6 Das Klappern der Schreibmaschine hörte auf, und Neils Mutter kam aus der Tür zum Arbeitszimmer. „Was gibt's?" Mr. Youngwerth deutete auf die Fotos auf dem Tisch, und seine Frau staunte, als sie sie eines nach dem anderen betrachtete. „Himmel! Das ist vielleicht ein Haus! Du mußt es mir mal zeigen. Das wäre der perfekte Hintergrund für einen Gruselroman." „Klar. Heute nachmittag gehe ich zur Bücherei und sehe nach, ob ich dort Informationen über das Haus finde. Komm doch mit, dann zeig ich es dir auf dem Heimweg." Neil hatten sie offenbar ganz vergessen, während sie Pläne für den Nachmittag machten. Neil griff wieder zum Telefonbuch und suchte nach Matthew Crawfords Nummer. In dem alten

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Haus gingen seltsame Dinge vor sich, und er mußte herausfinden, was es war. „Hast du Lust, heute nachmittag mitzukommen?" fragte Mr. Yongwerth. „Nein, danke, Dad. Ich hab neulich einen Jungen aus der Grey Rocks Road kennengelernt. Den werde ich mal anrufen." Für einen Augenblick waren seine Eltern sprachlos. Neil wußte, daß er sie überrascht hatte. Dann legte seine Mutter ihm den Arm um die Schulter, lächelte und drückte ihn an sich. „Ich wußte gar nicht, daß du schon Kontakte geknüpft hast, Neil. Und ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß du dich wenigstens bemühst." Neil hob den Blick nicht vom Telefonbuch. Zunächst einmal sollte sie denken, was sie wollte. Dann hatte er wenigstens seine Ruhe vor ihr. „Ja", sagte er, nahm den Hörer ab und wählte die Nummer. Seine Eltern sprachen bereits wieder über Berufliches. Neil lauschte mit einem Ohr in den Hörer und hörte mit dem anderen, wie sein Vater ankündigte, daß er vielleicht eine Fotoserie von dem alten Haus für eine Zeitschrift machen werde. Es klickte in der Leitung, und eine heisere Stimme meldete sich. „Hallo." „Hallo. Ich hätte gern mit Matthew Crawford gesprochen. Hier ist Neil Youngwerth." „Hey, Neil. Wie geht's? Ich bin's selbst, Matthew." „Gut." Neil stellte plötzlich fest, daß er sich gar nicht überlegt hatte, was er sagen wollte, falls Matthew sich meldete. Eine peinliche Pause entstand, und dann sagte Matthew: „Christie ist bei uns. Sie hat sich mit meiner Schwester angefreundet. Komm doch auch her." „Gern. Prima Idee. Ich bin gleich da", sagte Neil und wollte schon wieder auflegen. „Hey, häng noch nicht auf! Wir wohnen in Nummer 58." „Danke. Bis gleich."

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Neil war außer Atem, als er in der Grey Rocks Road das Haus mit der Nummer 59 erreichte. Er wußte immer noch nicht, wie er die Sprache auf Jeremy Pimm und das alte Haus bringen sollte. Es war nicht gerade ein einfaches Gesprächsthema. Er mußte eben abwarten, wie sich die Unterhaltung entwickelte, und es zum richtigen Zeitpunkt anschneiden. Matthew erwartete ihn mit einem Basketball unter dem Arm vor dem Haus. „Hast du Lust, ein paar Würfe zu probieren?" fragte er und zeigte auf den Korb an der Garage. „Klar", antwortete Neil. Matthew war ein paar Zentimeter größer als er, aber Neil wußte, daß er ziemlich geschickt war und ein recht gutes Spiel vorlegen konnte. Sie warfen eine Zeitlang Körbe, bis die Hitze sie zum Kühlschrank trieb, wo sie sich eine Dose kalter Limonade holten. Damit ruhten sie sich im Schatten eines Baumes aus. „Ich dachte, auf dem Lande wäre es kühler als in der Stadt", sagte Neil und lachte. „Solchen Blödsinn haben mir zumindest meine Eltern erzählt, bevor wir umgezogen sind." „Ja, ja. Das sagen sie alle", antwortete Matthew. Er lachte ebenfalls, und Neil fühlte sich in seiner Gegenwart wohl. „Dir gefällt es hier nicht, stimmt's?" fragte Matthew. „Woher weißt du das?" fragte Neil zurück.

„Ach, ich hatte nur so ein Gefühl, als Dick und ich dich neulich bei Jeremy Pimms Haus getroffen haben." Neil verschluckte sich fast an seiner Cola. Das war die Gelegenheit. Matthew war selbst auf das Thema zu sprechen gekommen. „Wo du gerade von Jeremy Pimm sprichst", begann Neil langsam. „Ich wollte sowieso mit dir über ihn und sein Haus reden. Es macht mich irgendwie neugierig. Weißt du, wie er so ist, und überhaupt... "

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Matthew machte ein erstauntes Gesicht, und Neil wußte im selben Augenblick, daß er um den heißen Brei herumreden würde. „Heißt das, du hast ihn noch nicht kennengelernt?" „Nein."

„Das wirst du schon noch"; sagte Matthew und nickte langsam und nachdenklich mit dem Kopf. „Wir treffen ihn alle früher oder später." „Gut, aber . . . was ist mit dem Haus? ich meine . . . hm, es . . . verändert sich." Während Neil noch nach den richtigen Worten suchte, wurde Matthews Gesicht ärgerlich und verschlossen. „Hab ich nicht gesagt, du wirst es schon noch erfahren?" Dann wurde er rot und sah Neil plötzlich entschuldigend an. „Tut mir leid", sagte er. „Das kommt wohl von der Hitze." Selbst wenn die Mädchen nicht gerade in diesem Augenblick hinzugekommen wären, hätte die Unterhaltung wohl ein Ende gehabt, das spürte Neil. „Neil, das ist meine Schwester Becca", sagte Matthew. „Das ist die Abkürzung für Rebecca, und sie glaubt, es klingt erwachsener als Becky." Becca war ungefähr so groß wie Christie. Sie hatte langes blondes Haar, aber Neil hätte nicht sagen können, ob sie hüsch war oder nicht, da sie ihrem Bruder gerade die Zunge rausstreckte.

„Hallo", sagte Neil. Die Mädchen verzogen sich in den Garten, und Neil und Matthew redeten eine Weile über belanglose Dinge und schlugen nach den Mücken. Während der Unterhaltung arbeitete Neils Verstand auf Hochtouren. Es blieb ihm nur noch eines übrig.

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„Ich sollte jetzt allmählich nach Hause gehen", sagte er. „Danke für die Cola und alles. Du mußt demnächst zu uns zum Basketballspielen kommen, sobald ich den Korb angebracht habe." „Okay. Bis dann." Neil trottete die Auffahrt hinunter. In seiner Erinnerung spürte er immer noch die unwiderstehliche Anziehungskraft von Jeremy Pimms Blick, der ihn gleichzeitig ängstigte und lockte. Er mußte sich beeilen, wenn er nicht den Mut verlieren wollte. Aber er wußte, daß es nur einen Menschen gab, der ihm sagen konnte, was er so dringend wissen wollte, und dieser Mensch war Jeremy Pimm selbst.

3. KAPITEL

Neil beeilte sich, so sehr er konnte, doch die Nachmittagshitze machte ihn schlapp und müde, und er war froh, als er den kühlen Schatten des Waldes erreicht hatte. Unsichtbare Vögel kreischten und schwatzten miteinander auf den hohen Ästen, und ein Eichhörnchen kreuzte seinen Weg und verschwand auf einem Baum. Sonst war alles ganz friedlich. Er zweifelte keinen Augenblick daran, in welchem Zustand er das Haus vorfinden würde, und er näherte sich ihm mit dem seltsamen Gefühl, eingeladen worden zu sein, obwohl die massiven Steinmauern und dunkel verhangenen Fenster alles andere als freundlich aussahen. Er trat auf den schwammigen Moosteppich vor der Haustür, griff widerstrebend nach dem Türklopfer, und schon schwang die Tür auf, als hätte drinnen jemand nur auf sein Klopfen gewartet. Ein junger Mann trat aus der Dunkelheit heraus. Er konnte nicht älter als zwanzig sein, hatte dunkles Haar und sah auffällig gut aus. Er trug lässige Jeans und ein Baumwollhemd. Mit einem gwinnenden Lächeln streckte er die Hand aus. „Tag, Neil. Ich bin Jeremy Pimm."

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Für einen flüchtigen Augenblick dachte Neil daran, daß er einen alten, verhutzelten Mann erwartet hatte, in mottenzerfressenem Pullover, mit Flicken an den Ellbogen, der sich zehn bis zwanzig Katzen hielt. Grinsend schüttelte er Jeremys ausgestreckte Hand. Dessen Griff war fest, seine Augen blickten freundlich. Er war Neil auf Anhieb sympathisch. „Ich habe schon auf dich gewartet. Komm ins Haus, raus aus der Hitze." Neil schritt über die Schwelle in die große, dämmerige Halle, in der eine erfrischende Kühle herrschte. Jeremy Pimm lächelte liebenswürdig. „Komm hierher, wo wir es uns gemütlich machen und reden können." Das Zimmer, das sie jetzt betraten, war sehr groß, und Jeremy zündete eine Kerze auf einem Tisch nahe der Tür an. Neil stellte fest, daß es sich um ein Wohnzimmer oder vielmehr um eine Art Salon voller antiker Möbel handelte. Jeremy forderte ihn auf, in einem roten Samtsessel mit kunstvoll geschnitzter Lehne Platz zu nehmen, und zündete noch mehr Kerzen im ganzen Raum an. Hier gibt es nicht einmal elektrischen Strom, dachte Neil. Natürlich nicht, schien die Antwort aus einem anderen Teil seines Kopfes zu kommen. „Ich bin froh, daß du dich diesmal entschließen konntest, zu mir zu kommen", sagte Jeremy. Er setzte sich in einen Sessel neben Neil. „Keine Sorge. Hier bist du stets willkommen." Neil hatte das Gefühl, als sei er in einen verrückten Traum geraten. Er glaubte vollkommmen an das, was er sah und erlebte. Das Haus mit den Zimmern und Möbeln war Wirklichkeit, und auch Jeremy Pimm war eindeutig Wirklichkeit. Dennoch wußte er, daß er und sein Vater das Haus als Trümmerhaufen gesehen hatten. „Was ist das hier für ein Haus? Ich weiß gar nicht richtig, wo ich bin."

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„Was glaubst du denn, wo du bist?" fragte Jeremy leise. Neil spürte die Enttäuschung aufsteigen, „ich weiß es nicht! Das ist doch verrückt!" Jeremy störte sich nicht an seinem Ausbruch. „Dann darf ich dich vielleicht fragen, warum du damals an deinem ersten Tag hierher gekommen bist?" „Ich wollte die Gegend erkunden", antwortete Neil, wußte aber im selben Moment, daß er Jeremy Pimm nichts vormachen konnte."

„Warum bist du nun wirklich gekommen?" Neil seufzte. Er mochte nicht zugeben, daß er nur in diese Gegend geraten war, weil er sich elend fühlte und fort von seinen Eltern wollte. Außerdem war er nur durch Zufall auf das Haus gestoßen. Er hatte ja nicht einmal gewußt, daß es existierte. „Und wie war das beim nächsten Mal?" fragte Jeremy, als hätte er Neils Gedanken gelesen. Neil wollte antworten, aber beim zweitenmal war es dasselbe gewesen. Wut. Elend. Enttäuschung. Er mußte irgendwohin, wo er alles andere hinter sich lassen und nachdenken konnte. Sollte er etwa glauben, daß es sich bei diesem Haus um einen solchen Zufluchtsort handelte? Die Vorstellung wühlte ihn auf, weckte aber gleichzeitig einen angenehm aufregenden Schauer in ihm. Jeremy lächelte immer noch freundlich, aber seine Augen schienen Neil magisch in ihren Bann zu ziehen und festzuhalten. „Hier bist du Welten entfernt von allem Druck und Gemecker deiner Eltern und aller anderen, die dich im Leben bevormunden wollen. Hier darfst du du selbst sein und denken, was du willst. Und das suchst du doch, stimmt's?" Neil nickte. Ihn überkam eine Mischung aus einem Gefühl des Friedens und der Erleichterung, und er hatte das Empfinden,

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als ob er aus einem sehr unruhigen Schlaf hinüberglitt in einen geheimnisvollen, wunderschönen Traum. Wenn es auch noch so verrückt war, war es doch das, was er sich gewünscht hatte. „Was ist mit Matthew Crawford und Dick Risley? Kommen sie auch hierher?" Jeremy nickte. „Die zwei kommen oft, und außerdem noch

einige Mädchen und Jungen. Du wirst sie schon früh genug kennenlernen. Aber komm mit ans Fenster. Ich möchte dir etwas zeigen." Zusammen gingen sie zum Fenster, aber Neil heftete seinen Blick auf Jeremy Pimm. „Hab keine Angst vor dem, was draußen ist. Nur zu. Schau's dir an." Neil blickte durch das Fenster auf den Wald und sah einen Mann und eine Frau auf das Haus zukommen. „Meine Eltern!" entfuhr es ihm. „Sie kommen hierher!" „Nicht hierher", sagte Jeremy. Neil sah sie näherkommen. Seine Mutter redete und gestikulierte lebhaft mit den Armen, als ob sie gerade erklärte, wie diese Gegend in eines ihrer Bücher passen würde. Mr. Youngwerth blieb stehen und musterte das Haus nachdenklich, wie Neil es schon so oft gesehen hatte, wenn er Objekte betrachtete, die er fotografieren wollte. Tief im Innern wußte Neil, daß sie nicht das gleiche Haus sahen, in dem er sich jetzt befand. Sie kamen nicht hierher, wie Jeremy gesagt hatte, sondern näherten sich der verfallenen Ruine eines Hauses. Seltsam, dachte Neil. Als er noch klein war, hatten sie ihm Märchen erzählt, vom Weihnachtsmann, vom Osterhasen und von guten und bösen Feen. Und dann hatten sie ihm all das wieder genommen und wollten, daß er erwachsen wurde. Und jetzt hatte er Jererny Pimm gefunden, das beste Märchen von allen. Ein Märchen, von dem sie nichts wußten, und das sie ihm auch nicht zerstören konnten.

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Neil fühlte sich angenehm leicht und unbeschwert. „Aber was ist mit mir? Mich können sie doch sicher sehen?" Jeremy Pimm lächelte nur. Wie unter einem Schwindelgefühl schüttelte Neil den Kopf, als ihm Worte in den Sinn kamen und unter Lachen aus ihm hervorsprudelten. „Phantastisch! Das ist doch nicht möglich! Aber wen stört's?" Draußen setzte sich seine Mutter auf einen Baumstumpf und schrieb Notizen auf ihren Block. Sein Vater überprüfte immer und immer wieder die Lichtverhältnisse und stellte dann seine Kamera ein. Ganz offensichtlich fiel ihnen an dem alten Steinhaus nichts Außergewöhnliches auf. „Sie sehen uns nicht", flüsterte Neil. Seine Begeisterung wuchs mit jedem Atemzug. „Ganz genau, Neil." Jeremys nüchterne Stimme schreckte Neil auf, und in plötzlicher Scheu blickte er auf. „Das bedeutet doch nicht, daß ich tot bin oder so? Ich meine, ich kann doch nach Hause gehen, wenn ich will, oder?" „Natürlich kannst du nach Hause gehen. Und du kannst auch jederzeit zurückkommen, wenn du magst." „Und wenn ich jetzt einfach hinausgehen würde?" bohrte Neil weiter. „Dann müßten sie mich doch sehen, nicht wahr?" „Ja, dann würden sie dich sehen. Und sie würden denken, du hättest in einer alten Ruine herumgestöbert. Geh ruhig, versucht mal." Neil wußte, daß Jeremy ihn auf die Probe stellte, und es drängte ihn, es wirklich zu versuchen. Ob es wirklich funktionierte? Würden seine Eltern ihn wirklich sehen und glauben, daß er, wie Jeremy gesagt hatte, in der Ruine des Steinhauses herumgekrochen war? Oder war er gar nicht mehr da, einfach fort? „Aber wie funktioniert das?" fragte Neil.

„Das wirst du früh genug begreifen", antwortete Jeremy. „Na, wie sieht's aus, gehst du?" Sein Gesicht kam Neil ganz nahe,

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und seine stahlgrauen Augen waren so durchdringend, daß Neil wegschauen mußte. „Du solltest es lieber versuchen, damit du Ruhe hast." Dann trat ein Lächeln auf sein Gesicht. Es war dasselbe freundliche Lächeln, mit dem er Neil in sein Haus eingeladen hatte. „Wenn du es nicht versuchst, kannst du an nichts anderes mehr denken." Neil zögerte nur noch einen Augenblick. Dann ging er zur Tür.

„Sieh mal, wer da kommt", sagte Mr. Youngwerth. „Bleib einen Moment da stehen. Ich möchte dich neben dieser eingestürzten Mauer fotografieren." Neil blieb stehen und setzte ein gekünsteltes Lächein auf, doch in seinem Kopf wirbelten die verrücktesten Gedanken durcheinander. Es war genauso gekommen, wie Jeremy es vorausgesagt hatte. „Tag, Mom, Tag, Dad", sagte er. Dann hob er einen Zweig auf und schleuderte ihn unentschlossen von sich und gab sich die größte Mühe, gelangweilt zu wirken. „Neil, ich dachte, du wärst bei deinem neuen Freund. Bist du schon lange allein?" fragte seine Mutter besorgt. „Nein, noch nicht allzu lange. Matthew hatte noch etwas zu tun. Da dachte ich, ich könnte mich hier mal ein bißchen umsehen. Es ist echt toll hier." „Da hast du recht", sagte seine Mutter. „Ich werde das Haus als Schauplatz für meinen nächsten Roman benutzen. Die Handlung hab ich zum Teil bereits ausgearbeitet. Es soll mehr werden als ein simpler Gruselroman. Ich hab daran gedacht, diesmal ein bißchen mit übernatürlichen Kräften zu arbeiten." Neil hätte sich um ein Haar verschluckt. „Übernatürliche Kräfte? Wie meinst du das?" „Ich kann's dir jetzt noch nicht sagen. So weit bin ich noch nicht mit der Geschichte gekommen." „Deine Mutter und ich haben heute vormittag versucht, etwas

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über die Geschichte dieses Hauses herauszufinden. Man kann ja nie wissen, vielleicht findet sich da etwas, womit sie was anfangen kann." „Und was habt ihr erfahren?" fragte Neil. Über die Geschichte des Hauses hatte er sich bisher noch keine Gedanken gemacht, doch jetzt packte ihn die Neugier. Vielleicht fand er hier den Schlüssel zu Jeremy Pimm und den seltsamen Vorgängen in dem Haus. „Wir hatten nicht viel Glück", sagte sein Vater. „In der Bücherei gab es kein Material, und die Bibliothekarin hat uns zum Geschichtsverein geschickt. Als wir dort ankamen, hing ein Schild an der Tür: ,Die nächsten zwei Wochen wegen der Sommerferien geschlossen." „Ich möchte mal wissen, ob die Leute in unserer Nachbarschaft uns etwas über das Haus erzählen können", sagte Mrs. Youngwerth. „Wir könnten ja von Tür zu Tür gehen und fragen." Mr. Youngwerth lachte. „Das wäre auch eine Art, die Nachbarn kennenzulernen." An diesem Abend konnte Neil nicht einschlafen. In seinem Kopf kreisten die Gedanken über Jeremy Pimm und das Steinhaus. Teile seiner Unterhaltung mit Matthew schossen ihm immer wieder in den Sinn. Besonders Matthews Antwort auf Neils Feststellung, daß er Jeremy Pimm noch nicht kennengelernt hatte, beunruhigte ihn: ,Das wirst du schon noch. Wir treffen ihn alle früher oder später.' Wer war Jeremy Pimm, und woher kam er? War er eine Art Zauberer, der zufällig auf das alte Steinhaus gestoßen war und die zerfallene Ruine in ein geheimes Clubhaus für unzufriedene Jugendliche verwandelt hatte? Nun, wer er auch sein mochte, auf jeden Fall war er eine ganz außergewöhnliche Persönlichkeit. Endlich schlief er ein, aber sein Schlaf war unruhig, und am

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nächsten Morgen wachte er total zerschlagen auf. Rasch zog er sich an und ging nach unten, wo Christie und seine Eltern bereits am Frühstückstisch saßen. Nach den üblichen Begrüßungen füllte er sich Comflakes in eine Schüssel und goß gerade Milch darüber, als es an der Haustür klingelte. „Wer mag das so früh schon sein?" fragte seine Mutter. „Laß nur, ich geh schon", bot Neil an. Er wischte sich die Finger an den Jeans ab und ging zur Tür. Es war Matthew. „Komme ich rechtzeitig zum Frühstück?" Er grinste, und Neil konnte nicht anders, er mußte das Grinsen erwidern. „Klan Komm rein", sagte er und führte Matthew in die Küche. „Mom, Dad, das ist Matthew Crawford. Matthew, das sind meine Eltern. Christie kennst du ja schon." „Nett, dich kennenzulernen, Matthew", sagte Mr. Youngwerth und reichte ihm die Hand. „Wir essen heute morgen nur Comflakes", meinte Neils Mutter, „aber wenn du magst, bist du herzlich eingeladen." „Danke, ich nehme gern an. Meine Schwester hat gestern eine Pyjama-Party gegeben, und unsere Küche sieht aus wie das Raubtiergehege Im Zoo bei der Fütterung." Als er Christies enttäuschtes Gesicht bemerkte, fügte er rasch hinzu: „Sie hat diese Party schon seit Monaten geplant, und Mom hat ihr nur eine bestimmte Anzahl von Einladungen erlaubt - ein Glück! Jedenfalls wollen sie später schwimmen gehen, und ich soll dir sagen, daß du dein Badezeug einpacken und nach dem Frühstück zu uns kommen sollst, wenn du Lust hast." Neil grinste in sich hinein, als er sah, wie seine Mutter sich um Matthew bemühte und ihm praktisch alles anbot, was sie im Kühlschrank finden konnte. Schließlich war das Frühstück beendet. Mr. Youngwerth warf einen Blick auf seine Uhr und sagte: „Der Heirnwerkerladen müßte inzwischen eigentlich geöffnet sein. Ich muß noch ein paar Sachen besorgen. Wenn ihr wollt, nehme ich euch beide gern mit."

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Matthews Gesicht leuchtete auf, doch Neil griff ein, bevor Matthew noch den Mund aufmachen konnte. „Danke, Dad, aber wir möchten lieber hierbleiben. Ich dachte, wir könnten vielleicht heute den Basketballkorb anbringen. Wenn Matthew mir hilft, könntest du dir die Mühe sparen." „Danke, mein Junge. Sehr rücksichtsvoll von dir." Dann lachte er leise und sagte zu Matthew: „Sieht ganz so aus, als müßtest du nun dein Frühstück abarbeiten." „Ist mir recht, Mr. Youngwerth, und vielen Dank nochmals für das Frühstück, Mrs. Youngwerth. Bis später dann." Die Jungen holten die hölzerne Rückwand und eine Leiter aus der Garage. Matthew stellte die Leiter auf, während Neil die Werkzeuge besorgte. Kaum war sein Vater fortgegangen, als Neil Matthew zur Seite nahm und ihn von den offenen Fenstern fortzog, damit sie niemand hören konnte. „Ich hab ihn kennengelernt!" sagte er möglichst leise. „Ich hab Jeremy Pimm getroffen!" „Tatsächlich?" fragte Matthew. „Wann?" „Gestern, nachdem ich von euch weggegangen bin. Du wolltest mir ja nichts erzählen, und da hab ich beschlossen, den einzigen Menschen zu fragen, der alle Antworten weiß — Jeremy Pimm persönlich." Neil beschrieb ihm, wie er an die Tür geklopft und wie Jeremy Pimm ihn ins Haus gebeten hatte. Als er darüber berichtete, wie seine Eltern in die Nähe des Hauses gekommen waren und er hinausgegangen war, um sie zu begrüßen, pfiff Matthew leise. „Bist du sicher, daß sie keinen Verdacht geschöpft haben?" fragte er. „Ganz sicher. Weißt du eigentlich, wie unfaßbar das alles ist? Weißt du, was für ein Glück wir haben? Mensch, das hier ist keine Restaurantkette wie McDonald's. Diese Sache ist einzigartig, und du und ich, wir gehören dazu!"

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„Ja", sagte Mathew. „Stimmt, wir gehören dazu." Für einen Augenblick wich das Lächeln aus seinem Gesicht, doch dann hob er die Schultern und lachte wieder. „Jeremy hat gesagt, wir können kommen, wann immer wir wollen", sagte Neil. „Komm, laß uns schnell diesen Korb anbringen und dann zu ihm gehen. Ich möchte gern wissen, wer sonst noch da ist." „Ich hab heute keine Lust", wehrte Matthew ab. „Laß uns doch lieber schwimmen gehen. Ich könnte dich sogar mit ein paar Mädchen bekannt machen." „Hm . . . nun, vielleicht ... " Neil konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. Die Jungen arbeiteten schweigend und brachten die Rückwand oberhalb des Garagentors an. Neil wunderte sich darüber, daß Matthew nicht mit ihm zu Jeremy Pimm gehen wollte. Zuerst weckte Matthew Neils Neugier auf Jeremy Pimm und spannte ihn auf die Folter, und jetzt, da Neil das Geheimnis kannte und dazugehörte, wollte Matthew lieber zum See und schwimmen. Das ergab doch keinen Sinn. Als die letzte Schraube angezogen war und der Korb an seinem Platz hing, sagte Matthew: „Mein Angebot, zum See zu gehen, besteht immer noch, falls du Lust hast." „Danke, aber ich glaube, ich bleibe lieber bei meinem ursprünglichen Plan." Matthew wollte gehen, überlegte es sich aber noch einmal, drehte sich um und sagte: „Paß auf dich auf, ja?" „Klar." Neil spürte plötzlich eine Gänsehaut. Sie blieb, bis Matthew die Auffahrt hinuntergegangen und auf der von Bäumen gesäumten Straße verschwunden war. Plötzlich fühlte sich Neil einsamer als je zuvor. Er hob eine Handvoll Kies auf und warf die Steinchen einzeln gegen die Rückwand des Basketballkorbs. Es dauerte noch Wochen, bis Henry und Alan zu Besuch kommen würden, und nun sah es ganz so aus, als ob seine beginnende Freundschaft mit Matthew

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nur auf sehr wackligen Beinen stand. Vielleicht hätte er nicht so eigensinnig sein sollen. Vielleicht hätte er doch mit Matthew zum See gehen sollen. Nein, im Grunde wollte er wirklich viel lieber zu dem alten Haus. Und genau das würde er auch tun.

4. KAPITEL

Zum zweitenmal öffnete sich die Tür zum Steinhaus so rasch, daß Neil das Gefühl hatte, drinnen hätte jemand nur auf sein Klopfen gewartet. Wieder lächelte Jeremy Pimm ihn liebenswürdig an und bat ihn ins Haus. „Willkommen", sagte er und sah Neil so tief und durchdringend in die Augen, daß Neil die herzliche Begrüßung nur als echt empfinden konnte. „Ich freue mich, daß du schon so bald wiedergekommen bist. Aber ich habe auch fest damit gerechnet. Wie haben deine Eltern sich verhalten, als du gestern plötzlich durch die Tür kamst und ihnen entgegengegangen bist?" „Genauso, wie du es vorausgesagt hast. Es war wahnsinnig." Mit nachdenklichem Gesicht setzte Neil hinzu: „Aber ich möchte dir gern noch ein paar Fragen stellen." „Komm, wir gehen hier hinein und machen es uns gemütlich, und dann beantworte ich dir alle deine Fragen, soweit ich dazu in der Lage bin." Jeremy führte Neil in dasselbe Zimmer, in dem sie schon am Vortage gesessen hatten. Schwere Vorhänge schlossen das Sonnenlicht aus, und Neil stolperte in der Dunkelheit über ein Tischbein und fiel in einen massiven Sessel. „Bleib lieber still sitzen, bis ich ein paar Kerzen angezündet habe", riet Jeremy. Im nächsten Moment tanzten Schatten wie Geister durch den Raum, als die erste Flamme flackernd aufleuchtete. Das Flackern hörte auf, und Jeremy zündete zwei weitere Kerzen an und verteilte sie im Raum.

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Er machte sich's auf einem Sofa nahe bei Neils Sessel bequem und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Wieder heftete er seinen zwingenden Blick auf Neil und sagte: „Du fängst gerade erst an zu entdecken, was für ein besonderes Haus dies ist, und ich kann dir versichern, daß niemand es findet, wenn ich es nicht will. Ich allein ermögliche es dir, hier zu sein, und ich gehe sehr sorgfältig vor in der Auswahl meiner Gäste." Neil schaute Jeremy an, und die Neugier quälte ihn wie Zahn-schmerzen. „Aber wie machst du das?" drang er in ihn. „Vertrau mir und hab ein bipchen Geduld. Zur rechten Zeit wirst du schon alles verstehen. Wie ich schon sagte, ich habe dich ausgewählt, und das ist im Augenblick alles, was du wissen mußt." Neil lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er schwankte zwischen einem Gefühl der Uberschwenglichkeit und Ungeduld, doch bevor er sich so recht über seine Gefühle klar werden konnte, sprach Jeremy weiter. „Die Hauptsache für dich ist, daß du dir über die Tatsache bewußt wirst, daß es nicht eigentlich mein Haus, sondern deines ist. Es besteht nur für dich und für die anderen, die hierher kommen." „So eine Art Zufluchtsort?" fragte Neil.

„Ganz genau. Ein Versteck. Ein Unterschlupf. Komm. Ich zeig dir die übrigen Räume, damit du dich bald wie zu Hause fühlen kannst." Jeremy führte Neil zurück in die Eingangshalle und öffnete eine andere Tür. Dieses Zimmer war von Sonnenlicht durchflutet, das durch die unverhängten Fenster strömte, und Neil kniff geblendet die Augen zusammen, bis er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Gemütliche Möbel standen umher, und an einem Sofa lehnte eine Gitarre. Außerdem gab es eine Anzahl kleiner Tischchen mit Stühlen drum herum. Auf einem Tisch lag ein Schachbrett, auf einem anderen ein Damespiel,

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ein dritter hatte eine Platte aus Schiefer. Von Neils Standpunkt aus sah es aus, als hätte jemand mit farbiger Kreide Comic-Figuren auf die Schiefertafel gemalt. Neil schüttelte verwundert den Kopf. Es war ein regelrechtes Spielzimmer, jedenfalls stellte er sich ein Spielzimmer so vor. Jeremy hatte Neils erstaunten Blick offenbar aufgefangen, denn er sagte: „Hier kannst du dich entspannen und mit den anderen Leuten Zusammensein, die die gleichen Sorgen haben wie du und die dich verstehen. Ab Mittag ist meistens der eine oder der aridere hier. Aber wenn du allein sein willst, um über irgendein Problem gründlich nachzudenken, findest du auch dafür ein besonderes Zimmer." Sie gingen zurück in die Halle, und Jeremy stieg vor ihm eine geschwungene Treppe zum ersten Stock hinauf. Zu beiden Sei-ten eines langen Flurs gab es mindestens ein Dutzend Türen. Jeremy öffnete eine und bedeutete Neil, ihm zu folgen. Der Raum war klein, fast wie eine Zelle, aber darin standen ein Messingbett, ein Schreibtisch und ein Stuhl mit gerader Lehne, Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel weißen Papiers, ein Tonkrug voller Bleistifte und eine Schlaufe aus rotem Band. Jeremy nahm das Band und hängte es draußen an die Türklinke. „Solange diese Schleife an der Tür hängt, stört dich keine Menschenseele, und du hast so viel Zeit, wie du willst, um einen klaren Kopf zu bekommen." Das ist hier wie im Hotel, komplett mit einem „Bitte nicht stö~ ren"-Schild an der Tür, dachte Neil. Laut sagte er: „Du denkst auch an alles, wie?" Jeremy lächelte ihn an. „Ich tu mein Bestes!" Er nahm die rote Schleife von der Türklinke, warf sie zurück auf den Schreibtisch und ging dann aus dem Zimmer. „Manchmal, wenn jemand sich über ein Problem aussprechen will, veranstalten wir eine Gesprächsrunde", erklärte er. „Dick Risley hat für heute nachmittag um vier eine solche Sitzung

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einberufen. Wir würden uns freuen, wenn du auch kommen könntest. Dann hättest du Gelegenheit, zu sehen, wie es hier zugeht, und du könntest auch ein paar von den anderen kennenlernen. Was meinst du? Kannst du kommen?" Sie standen wieder in der Halle, und Neil hatte plötzlich das dringende Verlangen zu gehen. Wie nüchtern und sachlich Jeremy ihm auch alles zu erklären versuchte, das Haus war trotzdem unheimlich. Er verstand nach wie vor nicht, wie all dies möglich sein konnte. Vielleicht sollte er schnellstens gehen, solange noch Zeit war. Vielleicht wurde er hier in eine Sache hineingezogen, die gar nicht so toll war, wie sie auf den ersten Blick aussah - in eine Art Sekte oder so. Jeremy lächelte wieder sein unwiderstehliches Lächeln. „Nun?" „Klar", sagte Neil, fast ohne selbst zu wissen, was er sagte. „Aber jetzt sollte ich lieber gehen." „Bis heute nachmittag um vier?" „Um vier", bestätigte Neil. Als Neil um vier Uhr nachmittags zum alten Steinhaus zurück-kehrte, fiel ein leichter Regen, aber der Himmel hellte sich allmählich auf, und der Wald duftete frisch und sauber. Dieses Mal öffnete ihm ein Mädchen auf sein Klopfen. Es war etwa fünfzehn Jahre alt, klein und blond und hatte traurige Augen, die durch das bleiche Licht der Kerzen in ihrer Hand noch trauriger wirkten. „Tag", sagte es, ohne zu lächein. „Ich heiße Terri. Bist du Neil?" Neil nickte und fragte sich flüchtig, was für Probleme sie wohl hierhergetrieben haben mochten. „Komm rein. Wir haben schon auf dich gewartet." Er warf einen raschen Blick auf die Leuchtziffem seiner Armbanduhr. Vier Uhr". Jeremy hatte gesagt, er solle um vier Uhr kommen. Waren alle anderen schon früher erschienen? Im Haus war es still wie in der Kirche. Terri führte ihn in das abgedunkelte Wohnzimmer, wo die Vorhänge wie üblich geschlossen waren, um das Licht

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auszusperren. Die dunklen Umrisse von drei Gestalten, die im Schneidersitz auf dem Boden hockten, waren zu erkennen. Einer von ihnen war Dick, die anderen beiden kannte Neil nicht. Hinter jedem von ihnen stand eine Kerze in einem hüfthohen Leuchten Jede der drei Gestalten warf in dem sanften Licht einen langen Schatten, und jeder Schatten ersreckte sich wie die Speiche eines Rades zur Mitte des Kreises. In der Mitte, an dem Punkt, wo die Schatten sich berührten, saß Jeremy Pimm. ,,Tag, Neil", sagte er. „Komm, setz dich. Wir wollten gerade anfangen." Neil ließ sich auf den dicken Teppich nieder. Warum mußten sie in einem Ring von Kerzen im dunklen Zimmer sitzen? Warum konnte die Sitzung nicht im Spielzimmer stattfinden, wo es hell war? Dieser Raum erinnerte ihn an eine Kulisse für eine Geisterbeschwörung. Er hörte hinter sich ein Geräusch, drehte sich um und sah Terri, die eine Kerze in einen Ständer hinter seinem Rücken steckte. Jeremy wartete, bis sie zu ihrem eigenen Platz zurückgekehrt war, dort die Kerze angezündet hatte und sich wieder setzte. Erst jetzt begann er zu sprechen. „Das sind Pam und Bill, und Dick und Terri hast du ja bereits kennengelernt." Neil nickte Pam und Bill zu. In der Finsternis konnte er ihre Gesichter kaum erkennen. „Wie ihr wißt, sind wir alle hier versammelt, weil Dick uns um Hilfe für die Lösung eines Problems gebeten hat. Erkläre uns doch bitte, worum es geht, Dick." „Gut", sagte Dick. „Es geht um meine Großmutter. Ihr wißt ja, meine Eltern sind vor zwei Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Das Flugzeug gehörte meinem Vater, und sie waren übers Wochenende nach New Hampshire geflogen. Meine Eltern waren prima, so richtig locker, und sie haben mir jede Menge Freiheit gelassen. Als sie tot waren, wurde ich hierher zu meiner Großmutter geschickt, und sie ist der beschränkteste Mensch, den ich mir vorstellen kann.'Sie

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läßt mich nicht aus den Augen. Sie sagt, sie kann meine Generation nicht verstehen, und sie hätte Angst, mir zuviel Freiraum zu geben, weil dadurch Probleme entstehen könnten, mit denen sie nicht fertig wird. Als ob ich sie um Hilfe bitten würde!" Dick hielt inne, als müßte er sich zuerst wieder beruhigen, bevor er weiterredete. „Aber heute war es besonders schlimm. Heute werde ich sechzehn, und das heißt, ich könnte den Führerschein machen. Aber was hat sie gesagt, als ich sie bat, mich zur Fahrschule zu bringen? Das kannst du vergessen, hat sie gesagt. Sie sagte, sie würde mir nicht erlauben, ein Auto zu fahren, bevor ich achtzehn bin, weil gerade die jugendlichen Fahrer die meisten Unfälle verursachen und auf der Autobahn unschuldige Menschen umbringen. Achtzehn! Begreift ihr, was das für mich bedeutet?“„Ja, in der Schule wirst du zum Gespött aller Leute", sagte Bill und schüttelte den Kopf. „Sie ist wenigstens zu Hause", sagte Terri. „Meinen Eltern ist es piepegal, was ich mache. Sie haben zuviel zu tun, und sie sind nie zu Hause. Sie würden es nicht einmal merken, wenn ich zu einer Motorradclique gehören würde, geschweige denn, wenn ich autofahren würde." „Aber was soll ich denn machen?" fragte Dick verzweifelt.

„Was willst du denn machen?" fragte Jeremy mit leiser, aber fester Stimme. „Den Führerschein will ich machen!" „Dann mußt du eine andere Lösung finden", folgerte Jeremy. „Was für Möglichkeiten gibt es? Wie war's, wenn du jemand anders fragen würdest, ob er dich zur Fahrschule fährt?" „Meine Mutter geht heute nachmittag einkaufen", bemerkte Pam. „Ich könnte sie bitten, dich mitzunehmen." Neil glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, besonders, als Jeremy Pimm sprach. Gewöhnlich, wenn man jemanden um Rat fragte, der älter war als man selbst, versuchte der, einen

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umzukrempeln, und sagte, man sollte die Dinge so nehmen, wie sie nun mal waren. Aber Jeremy Pimm hatte wirklich Verständnis. Klar, es war ein etwas übertriebenes Theater, dieser Gesprächskreis bei Kerzenlicht, aber Jeremy verstand die Probleme und suchte nach Lösungen. Was machte es schon, wenn diese Lösungen nicht so aussahen, wie die meisten Eltern es sich gewünscht hätten? Zumindest waren es Lösungen, und sie schadeten niemandem. Die Gesprächsrunde wurde noch eine Weile fortgesetzt. Einige weniger bedeutende Vorschläge kamen zur Sprache, und Dicks Großmutter wäre wohl mit keinem von ihnen einverstanden gewesen. Als die Sitzung beendet war, bliesen Terri und Pam die Kerzen aus und gingen aus dem Zimmer. Kurz darauf ging auch Bill. Weil Neil sich beobachtet fühlte, löschte er auch seine Kerze, blieb im Dunkeln sitzen und sah Dick und Jeremy Pimm an. Sie waren wie vorher sitzen geblieben. Dicks Gesicht lag im Dunkeln, sein Schatten deutete auf Jeremy. Sie waren in ein Gespräch vertieft, doch sie redeten so leise, daß Neil kein Wort verstehen konnte. Schließlich stand Dick ebenfalls auf, und Neil hörte, wie er sich im Hinausgehen von Jeremy verabschiedete. Nur die Kerze an dem Platz, wo Dick gesessen hatte, brannte noch. Jeremy deutete mit der Hand auf sie. „Neil,komm doch hier rüber ins Licht und laß uns noch ein bißchen reden." Gehorsam rutschte Neil über den Teppich auf den angewiesenen Platz und schaute Jeremy an. Allmählich gewöhnte er sich an das weiche, beruhigende Kerzenlicht. Vielleicht ist dies doch der beste Ort für einen Gesprächskreis, dachte er, so geschützt vor dem grellen Sonnenlicht. „Wie fandest du die Sitzung?" wollte Jeremy wissen. „Es war Spitze. Du hörst wirklich zu und versuchst zu helfen. Warum können Eltern nicht auch so sein?"

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„Du hast deine Frage schon selbst beantwortet, Neil. Sie hören nicht zu, was ihre Kinder zu sagen haben, genau wie deine Eltern dir nicht richtig zuhören, wenn du ihnen sagen willst, wie unglücklich du über euren Umzug bist. Ihre Entschlüsse stehen fest, und wenn du mit ihnen redest, erreichst du nichts weiter, als deine Enttäuschung noch zu steigern und deine Probleme zu verschlimmern. Aber du kannst jederzeit hierherkommen. Jeder, der in dieses Haus kommt, nimmt deine Probleme ernst und versteht sie, und wir arbeiten alle zusammen und versuchen, uns gegenseitig zu helfen. Wir helfen dir, andere Lösungsmöglichkeiten zu finden, Methoden, wie du deine Eltern beeinflussen kannst. Zumindest versuchen wir es ernsthaft." Als Neil das Steinhaus verließ, fühlte er sich so gut wie schon lange nicht mehr. Endlich gehörte er irgendwo hin, und Jeremy war ein echter Freund, jemand, den man jederzeit um Rat fragen konnte, jemand, auf dessen Hilfe man zählen konnte. Jetzt dachte er auch anders über Dick, seitdem er dessen Situation kannte. Nun, wie Jeremy gesagt hatte, sie würden alle zusammenarbeiten, und vielleicht würden sie auch etwas erreichen. Als Neil die Lichtung überquerte und in den Wald eindrang, bemerkte er eine dunkle Gestalt ein paar Schritte weiter, die sich an einem Baumstamm drückte. Jemand spionierte Ihm nach. Neil warf einen Blick zurück auf das Steinhaus. Vielleicht sollte er Jeremy warnen. Als er wieder nach der Gestalt Ausschau hielt, hatte sie sich bewegt und verschwand rasch im dichten Unterholz. Neil konnte gerade noch erkennen, daß es sich um Matthew handelte. Er hatte das sichere Gefühl, daß Matthew gesehen werden wollte. Es wäre so leicht für ihn gewesen, im dichten Laubwerk unterzutauchen, ohne entdeckt zu werden, oder sich hinter dem Baumstamm zu verstecken, bis Neil vorbeigegangen war. Statt dessen war er deutlich sichtbar aus seinem Versteck

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herausgetreten und hatte mehrere Meter offenen Geländes überquert, bevor er hinter einem Gestrüpp von Weinranken verschwand, die wie Strähnen ungekämmten Haares aus der Krone eines Baumes herabhingen. Neil folgte ihm. Er teilte den Vorhang aus Ranken und sah Matthew ein Stück weiter vor sich. In seinem orangefarbenen T-Shirt war Matthew nicht zu verfehlen, als er ohne besondere Eile durch den Wald schlenderte. Neil überlegte, ob er ihn rufen sollte, beschloß aber, es nicht zu tun. Statt dessen entschied er sich, Matthew eine Weile zu folgen und seine eigenen Schlüsse aus dessen merkwürdigem Verhalten zu ziehen. Sie schlugen ungefähr die Richtung zur Grey Road im Westen ein. Vielleicht war Matthew lediglich auf dem Heimweg. Vielleicht hatte er auch zur Gesprächsrunde gehen wollen, es sich dann aber anders überlegt, und war nur geblieben, um zu sehen, wer zum Steinhaus gekommen war. Neil mußte sich eingestehen, daß diese Überlegung einen Sinn ergab. Trotzdem hatte er das sonderbare Gefühl, daß mehr dahintersteckte, und er folgte Matthew weiter. Matthew schlug den Weg am Rande eines ausgetrockneten Flußbettes ein. Das Gehen war nun leichter, weil das Unterholz ziemlich spärlich war. Irgendwo in der Nähe krächzten und kreischten und zankten sich ein paar Amseln, aber ansonsten war es still im Wald. Plötzlich rutschte Matthew die Böschung des Flußbetts herab, doch er kletterte nicht an der anderen Seite wieder hinauf, sondern folgte dem Lauf des ausgetrockneten Flusses in derselben Richtung wie bisher. Dann verschwand er aus Neils Blickfeld, als das Flußbett eine scharfe Linkskurve beschrieb. Der leichte Nachmittagsregen hatte die Erde in schlüpfrigen Schlamm verwandelt, und Neil hielt sich an einer aus dem Boden ragenden Baumwurzel fest, als er den Abstieg begann. Im nächsten Augenblick war er unten, und er lief über den

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federnden Boden und hoffte, das er nicht zuviel Zeit und damit Matthews Spur verloren hatten.

Als er um die Kurve bog, konnte er Matthew In nicht sehr großer Entfernung vor sich sehen. Er hockte am Boden und band seinen Schnürsenkel fest. Es sah fast so aus, als ob er auf Neil wartete. Dann ging Matthew weiter. Satt in westlicher gingen sie jetzt in südlicher Richtung, und damit mußte Neil seine Vermutung, auf dem Heimweg zu sein, aufgeben. Die Sonne war herausgekommen und machte die feuchte Luft noch heißer und schwüler als zuvor. Neil schwitzte und fragte sich, ob es sich wirklich lohnte, Matthew zu verfolgen. Vor ihm blitzte etwas Orangefarbenes auf und zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Matthew kletterte die linke Böschung des Flußbettes hinauf. Er kam rasch nach oben und verschwand über den Rand der Böschung. Neil kletterte ihm nach. Matthew bog wieder ab, so daß sie nun nach Osten gingen, und Neil war inzwischen fest überzeugt, daß Matthew ihn irgendwie an der Nase herumführen wollte. Aber jetzt war er schon so weit gegangen, daß er nicht mehr umkehren wollte. Matthew wich einem großen Felsen aus. Er gingjetzt schneller, rannte fast, und Neil fragte sich, ob er sich schon seinem Ziel näherte. Oder lag es an dem abschüssigen Weg, daß Matthew so rasch lief? Eine steinerne Mauer verstellte Matthew den Weg. Mit Schwung sprang er hinauf, blieb dort auf einem großen flachen Stein stehen und schaute sich um, als wolle er sich orientieren. Neil versteckte sich hinter einem Baum. Jetzt sollte Matthew ihn nicht mehr entdecken, nicht, nachdem er ihn schon so weit verfolgt hatte. Matthew blieb lange auf der Mauer stehen, schaute zuerst in die eine und dann in die andere Richtung, und während er so dastand, stieg ein Verdacht in Neil auf und begann zu wachsen.

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Matthew hatte sich verirrt. Warum wären sie sonst so oft abgebogen? Andererseits aber war die Gegend offensichtlich viel zu unwegsam und das Unterholz zu dicht, um auf geradem Wege durch den Wald dringen zu können. Plötzlich sprang Matthew wieder von der Mauer und ging weiter. Dieses Mal strebte er in nördliche Richtung. Sie liefen im Kreise. Macht man das nicht immer so, wenn man sich verirrt hat? Immerhin mußten sie dann irgendwo in der Nähe der Stelle ankommen, von der aus sie aufgebrochen waren. Der Gedanke war eine Erleichterung für Neil. Die nachmittäglichen Schatten wurden bereits länger. Er schaute auf seine Uhr. Drei Minuten vor sechs. Auf dem offenen Land zu Hause herrschte noch volles Tageslicht, aber in diesen schattigen Wäldern brach bereits die Dunkelheit herein, und wenn er die Nacht hier verbringen müßte, würden seine Eltern ausrasten. Während er seinen Gedanken nachhing, hatte Neil kaum auf Matthew achtgegeben, und plötzlich stellte er fest, daß Matthew aus seinem Blickfeld verschwunden war. Neil beschleunigte seinen Schritt. Doch als er sich bemühte, durch das dichte Gestrüpp vor ihm hindurchzusehen, erblickte er nicht Matthew, sondern oben auf einem Hügel das alte Steinhaus. Neil trat auf eine Lichtung hinaus, deren Boden dicht mit Farn bewachsen war. Sie waren wirklich im Kreis gelaufen, und nun stand er vor der Rückansicht des Hauses, das wie ein Geier über ihm hockte. In der Nähe floß ein Wasserfall, der in der sommerlichen Trockenheit dünn geworden war, in einen Mühlteich und setzte sich in einem Bächlein fort. Es floß wie ein verschlungenes Band zum Waldrand hinüber, wo es außer Sicht geriet. Eine Decke von Grünpflanzen wucherte auf dem Spiegel des Mühlteiches, und die Luft summte und schwirrte vor Mücken. Aber weder der Wasserfall noch der Mühlteich erregten Neils

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Interesse. An dem Damm, der den Teich eingrenzte, stand eine kleine Wassermühle, aus demselben grauen Stein wie das Haupthaus. Neil fragte sich, ob Matthew sich wirklich verirrt oder ihn absichtlich hierhergeführt hatte. Matthew war nirgends zu sehen, und Neil glaubte, die Antwort auf seine Frage ohnehin schon zu kennen. Aber warum? Gab es hier etwas, was Matthew ihm zeigen wollte? Neil näherte sich vorsichtig der Mühle und behielt sie dabei sorgfältig im Auge. Das Mahlwerk fehlte, und das Mühlenrad war nur noch ein zersplittertes Skelett, aber ansonsten war das Gebäude in ziemlich gutem Zustand. Neil ging hinein. Im Untergeschoß gab es nur einen einzigen Raum, in dem sich früher die Mühlsteine befunden hatten. Neil stieg eine wacklige Treppe hinauf und fand den ersten Stock sogar noch verfallener vor, doch der altertümliche Einfülltrichter war noch an seinem Platz. Dann stieg er zurück ins Erdgeschoß und sah sich um. Er fand nichts weiter. Stimrunzelnd ging er wieder nach draußen. Gab es hier irgend etwas, irgend etwas Wichtiges, das er übersehen hatte? Über ihm kreischte ein Häher und setzte sich auf den Dachfirst, legte den Kopf auf die Seite und musterte Neil mit bösem Blick. Dann schwirrte er davon, und alles war still. Später wußte Neil nicht mehr recht, warum er es tat, aber plötzlich wandte er den Blick nach links. Ein Stein fiel ihm ins Auge, dessen Form unmißverständlich war. Es war ein Grabstein.

5. KAPITEL

An diesem Abend wollte Neil Matthew viermal anrufen. Beim erstenmal hatte er sogar schon die ersten drei Ziffern gewählt, bevor er wieder auflegte. Denn wenn Matthew über den

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Grabstein mit ihm hätte reden wollen, sagte Neil sich, hätte er davon gesprochen, oder er hätte ihn zumindest auf normalem Wege zu dem Grab geführt. Es war genauso zwecklos, Matthew danach zu fragen, wie damals, als er etwas von ihm über Jeremy Pimm hatte erfahren wollen. Aber das war nicht das einzige, worüber Neil nachgrübelte. Er hatte sich neben den Stein gehockt und seine Oberfläche abgetastet. Seltsam, dachte er. Kein Name, keine Jahreszahlen standen darauf. Gar nichts. Mit dem Finger hatte er unter stärkerem Druck nach Eingravierungen gesucht, weil er dachte, daß die Inschrift vielleicht von den Jahren und den Wettereinflüssen abgetragen worden war, aber er hatte nicht die geringste Spur entdecken können, nicht die kleinste Vertiefung im Stein, die auf eine frühere Eingravierung hätte schließen lassen können. Trotzdem wußte er, daß es sich um nichts anderes als um einen Grabstein handeln konnte. Die Form war eindeutig, rechteckig, höher als breit, und die obere Kante war abgerundet. Allerdings war der Ort recht ungewöhnlich für ein Grab. Warum befand es sich auf dem zu dem Mühlteich gehörenden Grundstück? Neil konnte sich das Bild gut vorstellen, wie im Frühling die Schneeschmelze und schwere Regenfälle die Bäche und den Mühlteich bis zur Überschwemmung anschwellen ließen. Dann würde der Wasserfall, der jetzt nur ein dünnes Rinnsal war, mit Macht über den Damm neben der Mühle herabstürzen. Er stellte sich vor, wie das Wasser stieg, sich dem Grab mehr und mehr näherte, bis die Wassermassen es fast erreicht hatten. Dann verscheuchte er das Bild aus seinen Gedanken. Am nächsten Morgen wachte er schon vor Tagesanbruch auf und nahm sich vor, sich den Grabstein noch einmal anzusehen. Vielleicht war da doch noch etwas, was er im Dämmerlicht des Spätnachmittags übersehen hatte.

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„Ich möchte, daß ihr zwei gleich nach dem Frühstück Max ba-det", sagte Mrs. Youngwerth gleich, als Neil in die Küche kam. Ich hab noch nicht einmal guten Morgen gesagt, und sie erteilt mir gleich schon wieder Befehle, dachte Neil mißmutig. Christie wollte widersprechen, aber Mr. Youngwerth hob die Hand. „Das ist doch nicht zuviel verlangt, und es dauert ja auch nicht lange", sagte er, und Neil wußte, daß das Thema damit abgeschlossen war. Ausgerechnet an diesem Morgen wurde er aufgehalten und mußte den Hund baden. Neil betrachtete seine Eltern eingehend. Wahrscheinlich wußten sie, daß er etwas Wichtiges vorhatte, und hatten sich den Kopf darüber zerbrochen, was wohl die schlimmste Arbeit sein könnte, um ihn zu Hause zurückzuhalten. Max hatte einen untrüglichen Instinkt dafür, wenn es Zeit für ein Bad war, und er hatte sich meistens schon lange, bevor die Zinnwanne auf dem Rasen stand und mit Seifenwasser gefüllt wurde, versteckt. Neil kochte vor Wut. Es war das erstemal, daß Max seit Ihrem Umzug nach Winton gebadet werden sollte, und kein Mensch konnte ahnen, wo der Hund sich nun vertecken würde. Neil stürmte durch das Haus, rief seinen Namen und klimperte mit der Leine, um ihm vorzumachen, daß er mit ihm Spazierengehen wollte. Es klappte nicht. Der Hund war nirgends zu finden. Vielleicht ist er draußen, dachte er und stapfte hinaus in die helle Morgensonne. Es war jetzt schon sehr heiß. Die Hitze würde Im Laufe des Tages wieder einmal unerträglich werden. Seine Schwester durchsuchte gerade die Büsche im Garten und teilte vorsichtig die dornigen Zweige. „Da drinnen ist er", rief sie Neil zu. „Aber ich weiß nicht, wie wir ihn da herausholen sollen, ohne uns von oben bis unten zu zerkratzen. Max wußte schon genau, warum er sich ausgerechnet hier versteckt hat."

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Neil seufzte. „Es hat keinen Sinn zu versuchen, ihn mit Futter herauszulocken. Das hat noch nie geklappt. Vielleicht kann ich ihn herausziehen." Neil ließ sich vorsichtig auf Hände und Knie herab und griff unter den Zweigen hindurch. Er bewegte seinen Arm dicht am Boden entlang, um den Dornen auszuweichen. Max steckte wirklich unter dem Gebüsch und hatte die Schnauze zwischen die Pfoten gelegt, als ob er darum bettelte, doch bitte in Ruhe gelassen zu werden. „Komm schon, Maxie, komm, mein Kleiner", lockte er. Der Hund sah seine Hand langsam näher kommen, bis sie schließlich seine Pfote berührte. Dann, zunächst noch kaum hörbar, begann er zu knurren. Neil zog erschrocken den Arm zurück und holte sich einen schmerzhaften Kratzer an den spitzen Dornen. „Hast du das gehört? Er hat geknurrt! Max hat mich noch nie im Leben angeknurrt!" Neil legte sich flach auf den Bauch und sah seinen Hund an. „Ich bin's doch, Max. Ich, Neil. Wie kommst du dazu, mich anzuknurren?" Wie zur Antwort knurrte Max erneut, dieses Mal so laut, daß es keinen Zweifel mehr gab. Neil hatte sich nicht getäuscht. Max knurrte ihn an. „Das muß an der Hitze liegen", meinte Christie. „Komm, wir fragen Mom und Dad, ob wir das Baden auf heute abend verschieben können, wenn es kühler ist." „Gute Idee", pflichtete Neil ihr bei. „Du hast wahrscheinlich recht. Bestimmt kommt das von der Hitze." Dennoch, dachte er und blickte über die Schulter zurück auf das Gebüsch, es hat schon heißere Tage gegeben, aber Max hat mich nie zuvor angeknurrt. Stimmt irgendwas nicht mit mir? fragte er sich. Hab ich was an mir, das einen Hund abstößt?

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Ihre Eltern erlaubten ihnen, das Bad zu verschieben, und hatten zu Neils Erleichterung keine weiteren Aufgaben mehr für ihn vorgesehen. „Ach, übrigens", sagte Mr. Youngwerth, „kennst du einen gewissen Dick Risley?" „Klar. Er wohnt in der Grey Rocks Road und ist ein Freund von Matthew Crawford. Woher kennst du ihn?"

„Er hat vor ein paar Minuten angerufen, und als ich ihm sagte, daß du gerade den Hund badest und keine Zeit hast, meinte er, er würde später noch einmal anrufen." „Wirklich? Macht er das?" fragte Neil. „Vielleicht sollte ich lieber zurückrufen? " „Er hat gefragt, ob wir ein paar Umzugskisten übrig haben. Anscheinend räumt er den Dachboden seiner Großmutter auf. Ich wollte gerade losfahren und ihm die Kisten bringen, aber vielleicht möchtest du das lieber selbst machen." „Klar", sagte Neil. „Gern." Er freute sich und war auch ein bißchen erstaunt darüber, daß Dick angerufen hatte. Außerdem bot sich ihm so eine gute Entschuldigung, wegzugehen, ohne erklären zu müssen, wohin er wollte. Und vielleicht konnte Dick ein bißchen Licht in die geheimnisvolle Angelegenheit mit dem Grabstein bringen. Sein Vater hatte bereits ein paar Umzugskisten zusammengefaltet. Neil suchte Dicks Hausnummer im Telefonbuch, nahm die Kisten unter den Arm und machte sich eilends auf den Weg. Das Haus der Risleys war kleiner als die meisten anderen in dieser Straße. Vor den Fenstern hingen Spitzengardinen. Auf der Zufahrt stand ein uralter schwarzer Chevrolet. Genauso stellt man sich das Häuschen vor, in dem so eine Großmutter wohnt, dachte Neil, und sein Mitgefühl für Dick und dessen trostlose Lage vertiefte sich.

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Dick hatte Neil offenbar schon kommen sehen. Er machte die Tür auf und forderte Neil auf, ins Haus zu kommen. Sein Gesicht war schweißüberströmt, und sein Hemd klebte ihm am Körper. „Ein toller Morgen, um den Dachboden zu entrümpeln, was?" brummte er vor sich hin, aber dann grinste er und fügte hinzu: „Aber vielen Dank für die Kisten, Neil. Ich hätte wirklich nicht gewußt, wohin mit all dem Schrott da oben, wenn ich keine Kartons gehabt hätte." Dick führte Neil durch das Wohnzimmer. Die altmodischen Sessel waren mit Spitzendecken geschmückt. In den Regalen und auf den Tischen standen Glasfiguren und zierliche Vasen. Neil half Dick, die Kisten behutsam durch den Raum zu transportieren, damit keine von den Kostbarkeiten umgestoßen wurde und zerbrach. Dicks Großmutter saß am Küchentisch. Sie sah genauso aus, wie Neil sie sich vorgestellt hatte - alt, klein und weißhaarig. „Neil, das ist meine Großmutter, Mrs. Risley. Grandma, das ist Neil Youngwerth, der Junge, von dem ich dir erzählt habe. Er ist drüben in der Old Mill Road neu eingezogen." „Guten Tag", sagte Neil. „Du mußt schon etwas näher herankommen, junger Mann. Meine Brille ist kaputt, und ich kann dich nicht sehen, wenn du so weit weg bist." Neil wurde rot. Mit einem unbehaglichen Gefühl kam er näher. „Oh, das tut mir leid für Sie. Hrn . . . wie haben Sie sie denn zerbrochen?" „Ich hab sie nicht zerbrochen", fuhr sie auf. „Das war Dick!" Ihr harter Tonfall erschreckte Neil noch mehr. „Sie hat sie fallen lassen", sagte Dick. „Und als ich sie aufheben wollte, bin ich gstolpert und hab auf das Brillenglas getreten." Ein seltsames Lächeln trat auf Dicks Gesicht, und Neil lief trotz der Hitze ein kalter Schauer über den Rücken. „Es ist wirklich schade, daß ich keinen Führerschein habe. Dann

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könnte ich sie zum Optiker fahren. Jetzt kann sie nichts anderes tun, als zu warten, bis ihr einer von den Nachbarn hilft." Jeremy Pimm war gut gelaunt, als Neil kurze Zeit später das alte Steinhaus betrat. Neil atmete vor Erleichterung auf, zog die Tür hinter sich zu und schloß damit den Rest der Welt aus. „Du siehst aus, als brauchtest du dringend einen Freund", stellte Jeremy fest. „Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen", bestätigte Neil. Er wußte selbst nicht recht, warum er so mißgestimmt war, aber es war nun mal so. Vielleicht lag es daran, daß der Tag schon so ungünstig angefangen hatte, weil seine Eltern ihn herumkommandieren wollten. Und Dicks alte Großmutter hatte auch nicht gerade zur Besserung seiner Laune beigetragen. Sie hatte ihn sogar fortgeschickt, damit Dick wieder an seine Arbeit auf dem

Dachboden gehen konnte, und er hatte keine Gelegenheit gefunden, ihn unter vier Augen zu sprechen. „Was ist eigentlich in die Leute gefahren?" brummte er und folgte Jeremy in den Salon, wo er sich in einen Sessel fallen ließ. Jeremy zündete mehrere Kerzen an und stellte sie im Zimmer auf, bevor er antwortete. Sein Gesicht wirkte feierlich und bleich im sanften Kerzenlicht. „Mit den Leuten meinst du vermutlich die Erwachsenen?" „Nichts als Ärger hab ich mit ihnen", fuhr Neil fort, ohne Jeremys Frage zu beachten, da die Antwort ohnehin auf der Hand lag. „Bade den Hund. Finde endlich neue Freunde. Kein Mensch fragt jemals danach, was ich wirklich will." Wut stieg in ihm auf. „Also gut", sagte Jeremy. „Jetzt fragt dich jemand. Was willst du selbst?" Jeremy sprach ganz ruhig, aber seine Worte schienen den gan

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zen Raum auszufüllen. Neil fühlte sie überall um sich herum, fast so, als hätten sie Gestalt angenommen. Sie klangen warm, schmeichelnd und einladend. „Was ich wirklich will, ist wieder nach Fairhaven zu ziehen - zurück in mein altes Zimmer in unserem alten Haus in der alten Wohngegend - und zu meinen besten Freunden. Aber was ich will, zählt ja nicht. Meine Eltern haben das Sagen. Es kommt nur darauf an, was sie wollen." „Ganz genau!" stimmte Jeremy zu. Er lächelte, und Neil zog ein unmutiges Gesicht. Er wußte nicht, was daran so komisch war. „Und jetzt wird es Zeit, dafür zu sorgen, daß sie dasselbe wollen wie du."

Neil schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Kannst du dir nicht vorstellen, daß ich es mit jedem Argument versucht habe, das mir in den Sinn kam? Nichts hat geklappt. Wir sind trotzdem umgezogen."

„Es klappt nie, wenn man nur Argumente anführt", bemerkte Jeremy. „Meistens schadet es sogar mehr, als es nützt." „Was kann ich dann noch tun?" fragte Neil hilflos. Das Gespräch schien sich im Kreise zu drehen und zu nichts zu führen. „Überleg doch mal", sagte Jeremy langsam und eindringlich. „Überleg mal, was du tun kannst, damit deine Eltern sich wünschen, zurück nach Fairhaven zu ziehen. Und denk daran, wenn sie es sich stark genug wünschen, dann tun sie's auch, weil sie, wie du schon sagtest, das Sagen haben." Wie ein elektrischer Schock durchzuckte Neil eine plötzliche Angst, war aber im nächsten Moment verschwunden. Statt dessen stieg zaghaft eine prickelnde Hoffnung in ihm hoch. Jeremy sah ihn mit kühlem, festem Blick an, als wolle er einzig und allein mit seinen Augen das Gefühl auf ihn übertragen, daß jemand ihm eine hilfreiche, starke Hand reichte.

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„Denk bis morgen mal darüber nach", sagte er. „Dann reden wir weiter." Neil schlenderte ohne Eile nach Hause und fühlte sich besser als je zuvor seit dem Umzug nach Winton. Nur flüchtig kam es ihm in den Sinn, daß er vergessen hatte, Jeremy nach dem Grabstein zu fragen. Er stellte sich längst nicht mehr die Frage, wer Jeremy Pimm eigentlich war und woher er kam. Das war alles nicht mehr wichtig. Wichtig war nur, daß Jeremy ihm helfen würde, zurück nach Fairhaven zu kommen. Dessen war er sich so sicher, wie er sich lange keiner Sache mehr sicher gewesen war. Als .Neil ins Haus ging, hörte er das Klappern der Schreibmaschinen seiner Eltern. Er ging geradewegs in die Küche und machte sich ein Sandwich. Dabei stellte er sich vor, wie langweilig es doch sein müßte, ein Schriftsteller zu sein und stundenlang an der Schreibmaschine zu sitzen, ohne mit jemandem zu reden oder mal eine andere Umgebung zu sehen. Seine Eltern schauten kaum jemals aus dem Fenster. Sie würden es nicht einmal bemerken, wenn plötzlich ein Schneesturm einsetzen sollte. Es machte ihn wütend, sich vorzustellen, wie zufrieden sie waren, und es machte ihn noch viel wütender, daran zu denken, daß ihre Arbeit ihnen mit der Zeit so viel wichtiger geworden war als die Familie. Doch wie sollte er es nur anfangen, daß der Wunsch in ihnen wuchs, nach Fairhaven zurückzuziehen, wenn sie doch nichts anderes sahen als ihre Schreibmaschine? „Denk bis morgen darüber nach, dann reden wir weiter." Jere-mys Worte verfolgten ihn wie ein Songtext, der einem nicht mehr aus dem Sinn gehen will. Er würde angestrengt nachdenken müssen, um eine Lösung zu finden. Zunächst einmal beschloß er, seine Eltern genau zu beobachten, um festzustellen, ob es Seiten an ihnen gab, die er bislang nicht bemerkt hatte — Eigenarten, die er benutzen konnte, um zurück nach Fairhaven zu kommen.

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Das Schlagen der Hintertür riß ihn aus seinen Gedanken. Es war Christie. Sie zog eine Grimasse, als sie in die Küche kam und Neil dort stehen sah. „Hier steckst du also. Wo warst du die ganze Zeit? Ich dachte, du wolltest bloß die blöden Umzugskartons abliefern." „Warum regst du dich so auf?" fragte Neil und sah sie ebenfalls verärgert an. „Sag bloß nicht, ich hätte dir gefehlt." „Und ob. Gerade, als du gegangen warst, kam Max unter dem Gebüsch hervor, ich dachte, du würdest gleich zurückkommen, deshalb hab ich gleich angefangen, ihn zu baden, und dann mußte ich die ganze Arbeit allein tun." „Schlimm für dich", sagte Neil. „Na, immerhin hat er mich nicht angeknurrt!" sagte seine Schwester und stapfte aus der Küche. Ihre Shorts und ihre Bluse waren tropfnaß. Neil konnte sich vorstellen, welche Mühe sie gehabt hatte, Max in der Wanne festzuhalten, damit er nicht heraussprang, und ihn gleichzeitig zu schrubben. Doch im Moment hatte er andere Sorgen. Den ganzen Nachmittag über lungerte Neil zu Hause herum, hörte eine Weile Platten und versuchte dann, Interesse für einen alten Kriegsfilm aufzubringen, der gerade im Fernsehen lief. So geht das nicht, dachte er nach einer Weile. Es war unmöglich, seine Eltern zu beobachten, wenn sie nichts anderes taten, als den ganzen Tag lang in ihrem Arbeitszimmer zu sitzen und zu schreiben. Doch das taten sie, wie er wußte, beinah täglich. Klar, manchmal gingen sie auch zur Bücherei, um zu recherchieren, oder sie fuhren mit der Bahn zu einem Verleger in New York, aber was auch immer sie taten, es hing stets mit ihrer ganz privaten Welt der Schriftstellerei zusammen. Neil dachte gründlich darüber nach und wunderte sich, daß er sich bisher eigentlich nie vernachlässigt gefühlt hatte. Doch diese Tatsache ließ sich nun nicht mehr leugnen, nachdem sie ihm bewußt geworden war. Seine Eltern bemerkten offenbar

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kaum, daß es ihn gab. Kein Wunder, wenn es ihnen völlig gleichgültig war, ob er sich gegen den Umzug wehrte. Spät am Nachmittag kamen Mr. und Mrs. Youngwerth aus ihrem Arbeitszimmer. Neils Vater zündete die Holzkohle auf dem Gartengrill an, während seine Mutter begann, einen Salat vorzubereiten. Neil blieb im Wohnzimmer und lauschte ihrer Unterhaltung. Abgesehen von beiläufigen Bemerkungen über die Vorbereitungen zum Abendessen sprachen sie über nichts anderes als über die Handlung und die Figuren und andere Dinge, die ihre Bücher betrafen. Neils Niedergeschlagenheit vertiefte sich. Er hatte noch immer nicht die geringste Vorstellung, wie er sie dazu bewegen könnte, wieder nach Fairhaven zu ziehen. Während des Abendessens war er mürrisch und einsilbig und aß nicht einmal seinen Hamburger auf. „Und was hast du heute so getrieben, mein Junge?" fragte sein Vater. „Ach, nichts Besonderes", brummelte er. Sofort fing Christie an, eine großartige Geschichte zu erzählen, wie sie ganz allein den Hund hatte baden müssen. Damit war die allgemeine Befragung für diesen Tag abgeschlossen. Im Grunde macht sich keiner Gedanken über mich oder darüber, was ich treibe, dachte Neil, entschuldigte sich und ging in sein Zimmer. Kurz nach Mitternacht wurde Neil unvermittelt wach. Er wußte nicht genau, wodurch er aufgewacht war. Er konnte sich nicht erinnern, ein Geräusch gehört zu haben, und geträumt hatte er wohl auch nicht. Schon wollte er sich auf die andere Seite drehen und weiterschlafen, als er bemerkte, wie hungrig er war. Zum Abendbrot hatte er nicht viel gegessen, und das lag nun auch schon sechs Stunden zurück. Er überlegte, ob er nach unten gehen und den Kühlschrank durchsuchen sollte, konnte sich aber nicht recht dazu entschließen. Er war einfach zu faul. Schließlich aber siegte doch sein knurrender Magen, und im nächsten Moment

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schlüpfte er aus dem Bett und huschte leise die Treppe hinunter. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund blieb er vor der Tür zum Arbeitszimmer seiner Eltern stehen. Er knipste das Licht an und ging hinein. Das Zimmer sah aus wie immer. Bücherregale. Ak~ tenschränke. Zwei Schreibtische mit völlig gleichen Schreibmaschinen darauf. Und die Manuskripte, säuberlich neben jeder Schreibmaschine gestapelt, die Zeichen ihrer Arbeit und die Wurzel all seines Kummers.

Neil setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch seiner Mutter. Er wußte nicht, wie die Streichholzschachtel plötzlich in seine linke Hand gekommen war. Es war ihm auch gleichgültig. Er machte sie auf, zog ein Streichholz heraus, zündete es an und sah der flackernden orangeroten Flamme mit stillem Vergnügen zu. Die Flamme kroch an dem Zündhölzchen hinab, wurde kleiner und kleiner, bis sie fast seine Finger erreicht hatte, und ging dann aus. Neil warf den verkohlten Rest in eine leere Kaffeetasse auf dem Schreibtisch und zündete ein zweites Streichholz an. Wie unter Hypnose sah er zu, wie die Flamme herunterbrannte. Er warf es weg und zündete ein drittes an. In der einen Hand hielt er das brennende Streichholz, mit der anderen griff er nach der obersten Seite des Manuskriptes seiner Mutter.

6. KAPITEL

Neil hielt die Manuskriptseite hoch und betrachtete die schwarzen Buchstaben, die wie Kolonnen von Ameisen in Reih und Glied über die Seite liefen. Mit einem benebelten Gefühl im Kopf zog er die Seite immer dichter zu sich heran, bis ihn ein scharfer Schmerz in Daumen und Zeigefinger der anderen Hand zusammenzucken ließ.

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„Autsch!" schrie er auf und ließ das Streichholz instinktiv fallen. Es segelte zu Boden und verlosch, bevor es landete. Neil betrachtete es, wie es still und verkohlt auf dem gebohnerten Holzfußboden lag, dann schaute er sich voller Unbehagen um. Wie kann man so etwas Albernes tun? dachte er. Ich hätte das ganze Haus in Brand setzen können. Was für ein Glück, daß er niemanden aufgeweckt hatte. Er legte die Manuskriptseite zurück auf den Stapel, genauso ordentlich, wie seine Mutter die Seiten aufgeschichtet hatte. Neil schauderte und wagte nicht, sich selbst die Frage zu stellen, warum er die Seite beinah verbrannt hätte. Ich muß schlafgewandelt sein, schloß er und brachte die Stimme in seinem Innern zum Verstummen, die ihn daran erinnern wollte, daß er doch auf gewacht war und nach unten gehen wollte, um etwas zu essen. Er hob das abgebrannte Streichholz vom Boden auf und nahm die anderen beiden von der Untertasse. Sie waren inzwischen abgekühlt, und zusammen mit der Sreichholzschachtel steckte er sie in seine Pyjamatasche. Dann löschte er das Licht und schlich zurück in sein Bett. Am nächsten Morgen erwachte Neil durch ein Gewitter. Blitze zuckten und zischten durch die Baumkronen und in auf- und abschwellenden Wogen grollte der Donner in der Luft. Neil hatte das Gefühl, als ob das Haus mitten im Zentrum des Gewitters steckte. Nachdem er sich eilig angezogen hatte, nahm er jeweils zwei Treppenstufen auf einmal und rannte in die Küche, wo er den Rest der Familie schon versammelt erwartete. Aber nur Christie war da, und sie warf ihm einen säuerlichen Blick zu, bevor sie weiter die Rückseite einer Cornflakesschachtel las. „Wo sind Mom und Dad?" fragte Neil. „Draußen auf der Terrasse. Sie nehmen das Gewitter auf Kassette auf." „Ach so", sagte Neil. „Typisch."

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Die Youngwerths hatten so ziemlich alles auf Band aufgenommen - von startenden Flugzeugen bis zu Marschkapellen. Sie führten eine Art von Bibliothek für Geräusche auf Kassetten, die sie zum Schreiben brauchten. Ihrer Meinung nach war es einfacher, ein Geräusch zu beschreiben, wenn man es tatsächlich hörte und nicht nur auf das Gedächtnis angewiesen war. Das war Im Grunde schon einleuchtend, und obwohl sie bereits früher Stürme und Gewitter aufgenommen hatten, mußte Neil doch zugeben, daß sich ein Gewitter hier in den Wäldern völlig anders anhörte. Andererseits - warum konnten sie während eines Gewitters nicht einfach normal frühstücken, wie andere Leute auch? Seine Eltern jedoch nicht. Wenn man es sich recht überlegte, war es widerwärtig. Den ganzen Vormittag lang lungerte Neil im Hause herum, und in seinem Innern staute sich Ärger auf wie heißer Dampf. Der Sturm hatte noch kein bißchen nachgelassen. Das bedeutete, daß er unmöglich zum Steinhaus gehen und mit Jeremy Pimm reden konnte. Und hier gab es auch nichts für ihn zu tun. Seine Eltern arbeiteten, und Christie war in ihrem Zimmer und hatte ihre Stereoanlage auf volle Lautstärke aufgedreht. Vermutlich wollte sie den Lärm des Sturms übertönen. Wenn sie doch nur in Fairhaven wären! An einem Tag wie diesem hätten Henry und Alan und er jede Menge zu tun gefunden. Das Telefon unterbrach ihn in seinen Gedanken. Es war Matthew. „Ist bei euch zu Hause irgendwas los?" fragte er. „Machst du Witze?" brummte Neil. „Gut. Also, ich hab einen Plan. Meine Mutter muß in diesem schauderhaften Wetter raus zum Zahnarzt. Sie sagt, sie fährt gern bei euch vorbei, holt dich ab und läßt dich auf dem Weg dann hier aussteigen. Ich weiß auch nicht, was wir machen können. Wir könnten Backgammon spielen oder so. Vielleicht was essen. Keine Ahnung. Aber es ist immer noch besser, als gar nichts zu tun. Was meinst du?"

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„Du hast mir das Leben gerettet", sagte Neil aufrichtig. „Wann wird sie hier sein?" „Sie will in ungefähr einer Viertelstunde losfahren, also halte dich bereit und renne gleich los, wenn du ihren Wagen auf der Auffahrt siehst." „Gut." Neil legte den Hörer auf und steckte den Kopf zum Arbeitszimmer hinein, um seinen Eltern Bescheid zu sagen, daß er fort wollte. Sie hoben nur kurz den Kopf, und seine Mutter sagte etwas Belangloses wie „Das ist nett, mein Schatz" und arbeitete weiter. Ich hätte auch gehen können, ohne ihnen ein Wort zu sagen, dachte Neil verärgert. Sie hätten nicht einmal gemerkt, daß ich fort bin. Wenige Minuten später rumpelte der gelbe Kleinwagen der Crawfords die regenüberströmte Zufahrt hinauf, und in drei mächtigen Sprüngen über Pfützen hinweg schaffte Neil den Weg von der Haustür zum Auto. Mrs. Crawford sah sympathisch aus und hatte sonnengebleichtes, kurzes blondes Haar. Während der kurzen Fahrt redete sie freundlich mit ihm. Neil war guter Laune, als er aus dem Wagen stieg und zum Haus der Grawfords sprintete, wo Matthew ihm mit seinem üblichen breiten Lächeln die Tür öffnete. „Toller Tag für Enten", meinte er. „Ja. Wenn das noch lange so weiter geht, wachsen uns allen bald Schwimmhäute zwischen den Zehen", entgegnete Neil lachend. „Da draußen gießt es wie aus Kübeln." Während er noch redete, schoß ihm eine Vorstellung durch den Kopf. Dieselbe Szene hatte er schon neulich abends vor sich gesehen, nachdem er den Grabstein gefunden hatte. Da hatte er daran gedacht, wie der Frühlingsregen den Bach anschwellen ließ und das Wasser des Teichs immer näher und näher an das Grab des Unbekannten herankroch. Wie würde sich dieser

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Wolkenbruch auf den Wasserstand auswirken? Vielleicht ergab sich eine Gelegenheit, Matthew danach zu fragen.

Zunächst aber folgte er Matthew und seiner Nase in die Küche, die von unverkennbarem Pizzaduft erfüllt war. „Wenn sonst gar nichts mehr geht, kann man immer noch essen", verkündete Matthew und wies mit großartiger Geste auf den Herd. „Danach können wir uns überlegen, wie wir uns die Zeit vertreiben wollen." Er zog die Pizza aus dem Herd und stellte sie auf einen Untersatz mitten auf den Tisch. Die beiden Jungen unterhielten sich über alltägliche Dinge, während sie die Pizza in tortenförmige Stücke schnitten, doch das Gespräch verstummte, sobald sie anfingen zu essen. Sie hatten die Pizza gar nicht erst abkühlen lassen, und als der heiße Käse an Neils Gaumen kleben blieb, schossen ihm die Tränen in die Augen. Er spülte den heißen Käse mit Cola hinunter und widmete sich dann völlig seiner Pizza. Als auch das letzte Häppchen aufgegessen war und sie mit dem Aufräumen anfingen, beschloß Neil, nicht mehr länger zu warten, sondern gleich auf den Grabstein zu sprechen zu kommen. „Weißt du noch, wie du mich neulich im Kreis durch den Wald geführt hast?" fing er an. Matthew warf Neil einen verstohlenen Blick zu und nickte. „Nun, da hab ich beim Mühlenteich hinter dem alten Steinhaus ein Grab gefunden." „Es war ja ziemlich offensichtlich, daß du wolltest, daß ich es fand, aber auf dem Grabstein stand kein Name. Wer liegt dort?" Matthew wandte rasch den Blick ab, aber Neil hatte trotzdem bemerkt, wie das Lächeln in seinen Augen einem besorgten Ausdruck wich.

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„Es war ein Scherz", sagte er mit gesenktem Blick. „Und eigentlich ein ziemlich blöder Scherz. Ich wollte dich nur ein bißchen an der Nase herumführen, das ist alles." „Dann hast du wohl einen Friedhof geplündert", sagte Neil. „Einen Stein mit der Form eines Grabsteins kannst du doch niemals im Wald gefunden haben." Matthew antwortete nicht, und Neil beobachtete angestrengt sein gesenktes Gesicht. Er war sicher, daß Matthew mit sich kämpfte, was er nun sagen sollte. „Du würdest mir kein Wort glauben, wenn ich es dir sagte", bemerkte Matthew. „Ich weiß selbst nicht, ob ich es glaube." „Versuch's", drängte Neil.

Eine weitere Pause entstand, und dann sagte Matthew mit einem Seufzer: „Laß uns ins Wohnzimmer gehen und es uns gemütlich machen. Jetzt beginnt die Märchenstunde." Er wischte noch ein letztes Mal über den Küchentisch, warf den Lappen in die Spüle und ging voraus zum Wohnzimmer. Das Sofa beachtete er nicht; er warf sich in einen gemütlichen braunen Sitzsack. Neil ließ sich in den zweiten sinken und rekelte sich, bis er die bequemste Stellung gefunden hatte. Während die Regentropfen ans Fenster klopften, erzählte Matthew dann seine Geschichte. „So um 1870 herum lebte ein Mann namens Eleaser Burbank hier in Winton in Connecticut. Seiner Familie gehörte die alte Wassermühle, doch Eleaser war in die Stadt gezogen, hatte sich eine Textilfabrik auf gebaut und scheffelte ein Heidengeld. Davon baute er sich ein großes, steinernes Haus in der Nähe der Wassermühle seiner Familie. Er war ein grobschlächtiger Mann, fast zwei Meter groß, und er war so ein gemeiner Teufel, daß er nie eine Frau gefunden hat. Es war auch nicht leicht für ihn, bezahlte Dienstboten im Hause zu behalten, aber das Dienstbotenproblem war für ihn gelöst, als seine Schwester und ihr Mann während einer Pockenepidemie in Pennsylvania

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starben und einen Sohn hinterließen. Der Junge war etwa siebzehn Jahre alt und eigentlich alt genug, sich selbst durchzuschlagen, aber der alte Eleaser ließ ihn holen und versprach ihm das Blaue vom Himmel, wenn er bei seinem Onkel leben würde. Es heißt, daß Eleaser zu seinem Neffen noch boshafter war als zu den Dienstboten und ihn wie einen Gefangenen hielt. Tag und Nacht mußte der Junge in seiner Fabrik arbeiten. Nachts kettete der Alte ihn sogar an, damit er nicht weglaufen konnte. Ich schätze, der Junge hat es sich so lange gefallen lassen, bis er es nicht mehr aushielt, und nach ein oder zwei Jahren, als er keinen Ausweg mehr sah, wurde er verrückt und sprang in eine Maschine in der Textilfabrik. Wahrscheinlich dachte er, daß das die einzige Möglichkeit für ihn war, sich von seinem Onkel zu befreien. Der alte Eleaser war so wütend, daß er ihn nicht einmal auf dem Friedhof der Stadt begraben lassen wollte. Stattdessen brachte er die Leiche zu dem alten Familienbesitz und verscharrte sie draußen bei der Mühle. Seinen Namen ließ er nie in den Grabstein eingravieren. Tja", schloß Matthew mit einem Seufzer. „Das ist also die Geschichte." „Noch nicht ganz", wandte Neil ein. „Du hast mir Immer noch nicht den Namen des Jungen gesagt." Draußen zuckte ein Blitz auf und erfüllte das Zimmer für einen Augenblick mit einem gespenstischen Licht. Matthew blickte Neil durchdringend an, bevor er sagte: „Sein Name ist Jeremy Pimm." „Woher hast du diese Geschichte?" fragte Neil, „ich glaube, du willst dich über mich lustig machen." „Ich wußte, daß du das sagen würdest", meinte Matthew und machte ein wirklich verärgertes Gesicht. „Warum glaubst du wohl, daß ich dich zu dem Grabstein geführt habe, damit du ihn mit eigenen Augen siehst, bevor ich dir diese Geschichte erzählte? Du warst doch ganz versessen darauf, zu erfahren,

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wer Jeremy Pimm ist. Gut, jetzt weißt du es. Und wenn du es überprüfen willst, dann geh doch zum Geschichtsverein und frage nach Mrs. Chesterton. Sie ist ein Naturtalent im Geschichtenerzählen und kann auch ganz prima ein paar gruselige Einzelheiten einbauen. Geh nur. Sie wird's dir sagen." Matthew ließ sich in seinen Sitzsack zurücksinken und schloß die Augen, als ob die Geschichte von Jeremy Pimm ihn völlig mitgenommen hätte. Neil beobachtete ihn eine Weile, ließ sich vom eintönigen Rauschen des Regens einlullen und hing seinen eigenen Gedanken nach. Die Geschichte war unglaublich. Neil hatte nie daran gezweifelt, daß übernatürliche Kräfte im Spiel sein mußten, wenn das Steinhaus sich von einer zerfallenen Ruine in das Haus verwandeln konnte, das es früher einmal gewesen war. Doch Jeremy Pimm war ihm immer so wirklich vorgekommen wie ein Mensch aus Fleisch und Blut. Statt dessen war er der Geist eines Jungen, der vor etwa hundert Jahren gelebt hatte und der die Probleme von jungen Menschen verstand. Schließlich hatte er wohl mehr als genug Erfahrungen mit Erwachsenen gemacht, die ihn bevormundeten und quälten. Und wenn Matthews Geschichte der Wahrheit entsprach, dann hatte er sich also entschlossen, zurück auf die Welt zu kommen und jungen Menschen zu helfen. Demnach war er so eine Art Heiliger. Der heilige Jeremy, dachte Neil mit einem Lächeln. „Matthew, warum hab ich dich noch nie im alten Steinhaus gesehen?" fragte Neil nach einer Weile. „Gehst du nicht mehr hin?" Matthew schlug die Augen auf und blickte Neil offen an. „Nein, nicht mehr oft." Dann hob er die Schultern und setzte mit einem Lächeln hinzu: „In letzter Zeit komme ich ein bißchen besser mit meinen Eltern aus. Vermutlich gewöhnen sie sich langsam an den Gedanken, daß ich erwachsen werde."

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Neil erwiderte sein Lächeln und war froh, daß das Eis wieder gebrochen war. „Muß ein tolles Gefühl sein", sagte er. „Ja", stimmte Matthew zu, doch dann wurden seine Gesichtszüge hart. Offenbar suchte er nach Worten, um Neil etwas mitzuteilen. Nach ein oder zwei Minuten hob er den Kopf. „Ich muß dich was fragen, Neil." „Wenn ich dir antworten kann, gern." „Hast du, seit du Jeremy Pimrn kennengelernt hast, irgendetwas Komisches angestellt? Ich meine, etwas wirklich Bedenkliches, etwas, was du normalerweise nicht tun würdest undjetzt wie unter Zwang machen mußtest?" Neil zögerte. „Ich weiß nicht recht", sagte er langsam. „Kann sein." Seine Gedanken überstürzten sich und kreisten um die vergangene Nacht, als er ins Arbeitszimmer seiner Eltern gegangen war und beinahe das Manuskript seiner Mutter verbrannt hätte. Aber er war nicht sicher, ob er Matthew gut genug kannte, um ihm davon erzählen zu können. Außerdem war er bestimmt nur schlafgewandelt. „Warum willst du das wissen?" fragte er dann. Matthew zuckte die Achseln. „Ach, nur so. Ist auch nicht weiter wichtig." Sie spielten Backgammon, und draußen ließ der Sturm allmäh-lich nach, bis nur noch gelegentlich ein Blitz aufflackerte und der Donner schläfrig klang wie das Brummen eines Riesen vor dem Einschlafen. Auch der Regen wurde schwächer und hörte schließlich ganz auf. Als es Zeit zum Nachhausegehen wurde, beschloß Neil, zu Fuß zu gehen. Obwohl der Sturm sich gelegt hatte, war es inzwischen zu spät, noch beim Steinhaus vorbeizusehen. Neil mußte sein Gespräch mit Jeremy auf den nächsten Tag verschieben.

Wassertropfen rieselten von den Bäumen, kräuselten die Pfützen und durchnäßten seine Kleidung. Aber Neil bemerkte es kaum, so sehr beschäftigten sich seine Gedanken mit Jeremy

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Pimm und der Frage, die Matthew ihm gestellt hatte. Den Wagen, der sich hinter ihm näherte, hörte er erst, als dieser ihn schon beinah überholt hatte. Automatisch wich er zum Straßenrand aus, bevor er den Blick hob und sah, daß es sich um einen alten schwarzen Chevy handelte und daß Dick am Steuer saß. Dick hielt an, lächelte breit und forderte Neil auf, einzusteigen. „Soll ich dich nach Hause bringen?" fragte er. „Hey, das ist ja toll." Neil kletterte auf den Vordersitz neben Dick. „Dann kannst du also jetzt fahren. Wie hast du deine Großmutter denn herumgekriegt?" Das Lächeln verschwand von Dicks Gesicht. „Hab ich gar nicht", brummte er. „Was soll das heißen?" fragte Neil. „Du fährst aber doch, oder?" „Klar, aber sie weiß nichts davon." Neil hätte ihn gern gefragt, wie er es geschafft hatte, heimlich den Wagen zu nehmen, ohne daß sie es wußte oder zumindest das Motorengeräusch gehört hatte, aber irgend etwas an Dicks Tonfall jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. An der Zufahrt zum Hause der Youngwerths verabschiedeten sie sich. Neil lief rasch ins Haus und schlug die Tür zu, so kräftig er konnte, aber niemand machte sich die Mühe, zu rufen und zu fragen, wer gekommen war, geschweige denn, Ihn zu begrüßen. Wieder wachte Neil in der Nacht auf, ohne zu begreifen, warum. Doch dieses Mal suchte er gar nicht nach eine Erkläfung. Er stieg einfach aus dem Bett und ging nach unten. Er hatte etwas zu erledigen. Was es war, konnte er nicht sagen, aber er hatte das sichere Gefühl, daß es ihm schon zur rechten Zeit einfallen würde. Er ging auf direktem Wege ins Arbeitszimmer seiner Eltern, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, in die Küche zu

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gehen und etwas zu essen. Die Leere, die in seinem Innern nagte, hatte nichts mit Hunger zu tun. Er knipste das Licht an, schloß die Tür, ging zielstrebig zum Aktenschrak seines Vaters und zog die oberste Schublade auf. Glänzende Fotos, Hunderte von Fotos, waren säuberlich in Mappen geordnet und als Sportfotos ausgezeichnet. Neil zog die Mappe mit der Aufschrift „Baseball" heraus und blätterte sie durch. Obenauf lagen Fotos von dem Baseballstar Nolan Ryan, mit denen sein Vater eine Biografie illustriert hatte. Kurz vor dem Umzug war sie veröffentlicht worden. Darauf folgten Fotos von Kindern, die Baseball spielten, Bilder von weißhaarigen Männern beim Baseballspiel und Bilder von allen möglichen Baseballvariationen, die man sich vorstellen konnte. Das Ergebnis jahrelanger Arbeit. Schließlich war Baseball der Lieblingssport seines Vaters. Neil trug die Mappe zum Schreibtisch und setzte sich. Das oberste Foto, das Nolan Ryan während einer Ruhepause zeigte, riß er langsam und entschlossen in der Mitte durch und hörte voller Befriedigung das Zerreißen des Papiers. Er lächelte dem nun in zwei Hälften geteilten Gesicht auf dem Foto zu. Die Fetzen warf er auf den Boden und griff zum nächsten Bild. Auch dieses war ein Foto von Nolan Ryan, dieses Mal jedoch in Wurf Stellung. Im nächsten Augenblick war es ebenfalls zerrissen und wanderte zu den Überresten des ersten Fotos auf den Boden. Nach und nach wuchs der Haufen von zerrissenen Fotos, bis die Mappe leer war. Neil lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er war müde, und immerhin war es mitten in der Nacht, doch in ihm brannte ein Fieber der Aufregung, und er wollte nicht aufhören. Er zog die Mappe mit der Aufschrift „Tennis" aus dem Aktenschrank und ging zurück zum Schreibtisch seines Vaters, als ein gedämpfter Laut an sein Ohr drang. Ruckartig blieb er stehen und horchte. Da war es wieder.

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Es war das leise Knurren eines Tiers auf Beutezug. Angst überfiel Neil, doch er versuchte, sie zu verdrängen und sich damit zu beruhigen, daß es in den Wäldern von Connecticut keine wilden Raubtiere gab, sondern nur Waschbären und Rehe und dergleichen. Es mußte Max sein. Vielleicht hatte er draußen ein Geräusch gehört. Einen Landstreicher vielleicht. Ja, sagte er sich, so wird es sein. Doch der Gedanke hatte wenig Tröstliches für ihn, und vorsichtig öffnete er die Tür einen kleinen Spalt. Das Mondlicht fiel in den Flur und in die Küche im Untergeschoß und verbreitete einen milden Glanz. Mit einem Schaudern fragte sich Neil, ob seine Eltern wohl die Haustür richtig verschlossen hatten, und öffnete die Tür des Abeitszimmers ein bißchen weiter. In diesem Augenblick tauchte Max aus dem Nichts auf und schlich direkt auf ihn zu. Er fletschte drohend die Zähne, und plötzlich zerriß sein wildes Bellen die nächtliche Stille.

7. KAPITEL

Zuerst glaubte Neil, das laute Pochen sei sein eigener Herzschlag, der in seinen Ohren Max' Bellen übertönte. Aber als seine Eltern an dem Hund vorbei ins Zimmer stürzten, stellte er fest, daß es ihre Schritte auf der Treppe gewesen waren. „Neil, ist alles in Ordnung?" rief seine Mutter aufgeregt und drückte ihn fest an sich, während sein Vater sich Max zuwandte und ihn mit leiser Stimme und sanftem Streicheln zu beruhigen versuchte, bis der Hund endlich von Neil abließ und leise jaulend in die Küche lief. Neil stand strocksteif da. Er erwiderte die Umarmung seiner Mutter nicht und sah sie nicht einmal an. Statt dessen blickte er wie in Trance starr vor sich hin. Aber er war nicht in Trance.

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Max' Gebell hatte das zähe Spinnwebe zerrissen, das seinen Verstand umhüllt hatte, und das Schreckliche seiner Tat wurde ihm bewußt. Das scharfe Luftholen seines Vaters und der klagende Ausruf seiner Mutter sagten ihm, daß sie nun auch gesehen hatten, was vorgefallen war. Neil ließ sich auf die Knie sinken und fuhr mit den Händen durch die glänzenden Papierstreifen, Nur verschwommen nahm er die zerrissen lächelnden Gesichter, losgelösten Arme und Beine und Bruchstücke von Landschaften wahr, die ihm durch die Finger glitten. „Das wollte ich nicht tun", flüsterte er mehr zu sich selbst als zu seinen Eltern. Jetzt sah es aus, als wären sie ihrerseits in einer Art Trance erstarrt. Neil spürte, daß sie nicht in erster Linie wütend waren, sondern vielmehr bestürzt. „Was um alles in der Welt ist hier passiert?" fragte seine Mutter.

„Neil, ist auch wirklich alles in Ordnung? Was war denn in Max gefahren?" Neil antwortete nicht. Er konnte nichts anderes tun als den Haufen zerrissener Fotos auf dem Boden anzustarren. „Antworte deiner Mutter, Neil. Was ist passiert?" Das Gesicht seines Vaters zeigte eine Mischung aus Traurigkeit und Bestür-zung und vielleicht,so dachte Neil, den aufsteigenden Ärger, mit dem er rechnete. Er wollte antworten. Es drängte ihn, die ganze Geschichte über das alte Steinhaus und Jeremy Pimm und den Gabstein in den Wäldern loszuwerden. Er wollte ihnen so gern erklären, daß er das, was er getan hatte, überhaupt nicht unter Kontrolle gehabt hatte, doch seine Lippen gehorchten ihm nicht. Die Worte kamen einfach nicht aus seinem Mund. „Es ist mitten in der Nacht", fuhr sein Vater ihn an. „Wir sollten zusehen, daß wir noch ein bißchen Schlaf bekommen. Morgen früh reden wir über diese Geschichte."

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Neil schlich zurück in sein Zimmer und ging zu Bett. Er konnte sich nicht entsinnen, jemals in seinem Leben so müde gewesen zu sein, aber trotzdem konnte er nicht einschlafen. Was geht mit mir vor? fragte er sich immer und immer wieder. Und ständig wirbelte ihm Matthews Frage durch den Kopf: „Hast du, seit du Jeremy Pimm kennengelernt hast, irgendwas Komisches angestellt? ich meine etwas wirklich Bedenkliches, etwas, was du normalerweise nicht tun würdest und jetzt wie unter Zwang machen mußtest?" In Wogen fiel die Angst über Neil her. Kontrolle. Jeremy hatte gesagt, daß seine Eltern alles unter Kontrolle hätten, aber jetzt sah es fast so aus, als wäre es Jeremy Pimm selbst, der alle Fäden in der Hand hatte. Was passiert mit mir? fragte Neil sich erneut, doch er fand die Antwort nicht. Am nächsten Morgen kamen seine Eltern noch vor dem Frühstück in sein Zimmer. Sie sahen erschöpft aus, und Neil fragte sich flüchtig, ob sie wohl die ganze Nacht mit Reden verbracht hatten, um herauszufinden, wie er etwas Derartiges hatte tun können. Wahrscheinlich überlegen sie, ob sie mit mir zum Psychiater gehen sollen, dacht er. „Warum, Neil?" wollte seine Mutter wissen. „Was war letzte Nacht in dich gefahren?" Ihre Stimme klang sanft und ruhig, aber die harten Linien unter ihren Augen sagten ihm, daß sie große Mühe hatte, die Fassung zu bewahren. Unfähig, ein Wort herauszubringen, sah Neil seine Mutter an. Er hatte Angst, Angst vor dem Unheimlichen, das mit ihm selbst geschah, Angst vor dem, was er noch anstellen könnte, und er hätte' sich am liebsten in ihre Arme geworfen wie früher, als er noch klein war und sie alles wieder in Ordnung gebracht hatte. Aber dies hier war etwas anderes, und an diesem Morgen kamen die Worte ebensowenig über seine Lippen wie in der vergangenen Nacht, als er ihnen in ihrem Arbeitszimmer gegenübergestanden hatte.

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Nach einem unerträglich langen Schweigen brach sich Mr. Youngwerths Wut mit der Macht eines Vulkanausbruchs Bahn, und Neil hörte stumm die Vorhaltungen seines Vaters an, über die Jahre voller Mühe und Arbeit, die in diesen Fotos steckten. Jetzt fängt er wieder damit an, dachte Neil als Antwort auf die Wut seines Vaters. Es geht ihm immer nur um seine Arbeit. Dann wetterte sein Vater über Neils verantwortungsloses und vorsätzlich zerstörerisches Verhalten, und er betonte, daß er noch nie in seinem Leben so verletzt und enttäuscht von Neil gewesen war. Die Worte seines Vaters schmerzten Neil, und er unterdrückte den Wunsch, sich zu wehren und zurückzuschlagen. Dann holte Mr. Youngwerth zum letzten Schlag aus. „Du hast eine Woche Hausarrest", sagte er. „Du wirst den Garten nicht verlassen. Und niemand darf dich besuchen/' Neil nahm das Urteil gefaßt hin. Er wurde als Geisel, als Gefangener seiner eigenen Eltern gehalten. Ihm blieb nichts anderes übrig, als das Beste daraus zu machen. Die Tage krochen langsam dahin. Matthew rief an und versuchte, Neil mit seiner üblichen guten Laune aufzuheitern, aber er hatte keinen Erfolg. Dann, am dritten Tag seiner Gefangenschaft, rief Christie ihn an dem Apparat. „Ein Mädchen will dich sprechen", sagte sie und rollte bedeutungsvoll mit den Augen. Neil warf ihr einen drohenden Bück zu und nahm den Hörer entgegen. In Winton kannte er doch gar kein Mädchen. „Hallo." „Tag, Neil. Hier ist Terri. Erinnerst du dich noch? Wir haben uns bei Jeremy Pimm getroffen." „Oh, hallo Terri. Klar erinnere ich mich", stotterte Neil. „Wie geht's dir denn so?" „Ach, ganz gut. Hör zu, Jeremy hat mich gebeten, dich anzurufen. Ich soll dir sagen, daß noch eine Gesprächsrunde für Dick angesetzt ist. Seine Probleme wachsen ihm allmählich über den Kopf. Seine Großmutter macht ihm mehr denn je zu

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schaffen. Und Jeremy würde sich jedenfalls sehr freuen, wenn du dabei sein könntest. Die Sitzung findet heute nachmittag um vier Uhr statt." „Mensch, ich würde ja gern kommen, aber wir fahren heute weg", log Neil. „Sag ihm, daß ich in ein paar Tagen mal wieder vorbeikomme." „Na gut. Bis dann", sagte Terri. Die Angst packte Neil wieder, als er den Hörer auflegte. Beinah war er froh, daß er nicht zu Jeremy gehen konnte, und er fragte sich, ob Jeremy sich wohl darüber wunderte, daß er sich so lange nicht hatte blicken lassen. Na ja, ein paar Tage lang hatte er nun wenigstens noch Ruhe. Doch er konnte den Gedanken an Dick nicht mehr loswerden und hätte gern gewußt, was denn so dringend war. „Nun, du schmachtender Kavalier. Wer war das?" fragte Christie. Neil schob sich an ihr vorbei, ohne auf Ihre Frage einzugehen, und ging in den Garten. Max lag in einer flachen Aushöhlung, die er sich In der weichen Erde unter einem schattenspendenden Baum gebuddelt hatte. Er sah Neil kommen und sich ins Gras werfen, doch er knurrte nicht. Seit der Nacht im Arbeitszimmer seiner Eltern hatte der Hund ihn nicht mehr angeknurrt. Flüchtig überlegte Neil, ob man nicht besser zum Tierarzt hätte gehen sollen, doch der Gedanke war rasch wieder verflogen und wurde verdrängt von seinen Grübeleien über Jeremy Pimm. Schließlich war die Woche Hausarrest vorbei. Es war ein Mittwoch, und Neil erwachte mit einem Gefühl der Vorfreude. Später schlüpfte er aus dem Haus, ohne jemandem zu. sagen, wohin er ging. Er schlug den Weg die staubige Straße entlang zum Steinhaus ein. Als er die Wälder am Ende der Straße erreicht hatte, blieb er stehen. Er wollte mit Jeremy Pimm reden, sich versichern lassen, daß alles seinen geregelten Lauf nahm, aber

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irgendetwas hielt ihn zurück. Vielleicht sollte er doch zuerst zu Matthew gehen. Vielleicht konnten sie an diesem Nachmittag zusammen schwimmen gehen, nachdem er mit Jeremy Pimm geredet hatte. Vielleicht würde Matthew ihn mit ein paar Mädchen bekanntmachen. Die Idee gefiel ihm, und er bog in eine Seitenstraße zur Grey Rocks Road ein. Matthew war zu Hause. „Hey, ich hab gerade an dich gedacht", sagte er. „Was um alles in der Welt hast du angestellt? Es muß schon etwas richtig Schlimmes gewesen sein, wenn sie dir dafür eine ganze Woche Hausarrest aufgebrummt haben. Also raus mit der Sprache." Urplötzlich begriff Neil, warum er zuerst zu Matthew gegangen war, bevor er das Steinhaus aufsuchte. „Darüber will ichja gerade mit dir sprechen", sagte er. „Neulich hast du mich gefragt, ob ich schon mal irgendwas getan hab, das ich nicht unter Kontrolle hatte, seit ich Jeremy Pimm kennengelernt habe. Nun, das hab ich, und es macht mir Angst." Er berichtete Matthew von seinen beiden mitternächtlichen Besuchen im Arbeitszimmer seiner Eltern, und daß er erst gewußt hatte, was er eigentlich tat, als es schon geschehen und damit zu spät war. „Es war wie Schlafwandeln, und danach wachte ich auf. Als mir bewußt wurde, daß ich die Fotos meines Vaters zerrissen hatte, war ich vollkommen fertig. Was hat das zu bedeuten?" Matthew schüttelte den Kopf. „Wenn ich das wüßte. So etwas Ähnliches ist mir vor ein paar Monaten passiert, in New Haven gab es ein tolles Rock-Konzert. Drei Gruppen sollten auftreten, und es war restlos ausverkauft. Ein Bekannter von mir hatte Eintrittskarten und lud mich ein. Mein Dad sagte nein, und bevor ich selbst wußte, was ich tat, hatte ich die Verteilerkappe aus seinem Auto ausgebaut und im Wald versteckt. Als ich sozusagen wieder zu mir kam, wollte ich sie zurückholen, aber da war sie fort."

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„Glaubst du, daß Jeremy Pimm was damit zu tun haben könnte?" fragte Neil. „Ich weiß nicht." Matthew schüttelte den Kopf. „Aber du wolltest wissen, warum ich nicht mehr zu ihm gehe. Nun, eben wegen dieser Geschichte. Ich bin nicht sicher, ob Jeremy wirklich so toll ist, wie es scheint." Neil blieb noch eine Zeitlang, aber eigentlich gab es nicht mehr viel zu sagen. Seine Gedanken kreisten ständig nur um Jeremy Pimm, und auch Matthew machte einen nachdenklichen Eindruck. Schließlich schlenderte Neil nach Hause und sagte sich, daß die ganze Angelegenheit viel zu absurd war, um Wirklichkeit sein zu können. Jeremy konnte doch kein Geist sein. Er war wahrscheinlich nur ein besonders raffinierter Typ, der die jungen Leute in dieser Gegend hinters Licht führte und ihnen einredete, er verfüge über übernatürliche Kräfte. Neil hätte wetten mögen, daß Jeremy die Geschichte von der Dame im Geschichtsverein gehört und dann beschlossen hatte, diese Rolle zu spielen, die Leute so zu hypnotisieren, daß sie glaubten, das Steinhaus völlig unzerstört zu sehen, und seltsame Dinge taten. Je länger Neil über diese neue Deutung nachdachte, desto besser gefiel sie ihm und desto mehr Dinge ließen sich dadurch erklären. Der Gabstein war womöglich auch nur eine Täuschung. Wahrscheinlich war es nur irgendein Stein, den Jeremy irgendwo gefunden hatte, in Wirklichkeit gar kein echter Grabstein. Nun, diese Sache würde sich noch überprüfen lassen. Neil ging in den Wald hinein. Er war nicht mehr weit vom Steinhaus entfernt. Es dürfte leicht sein, ungesehen zur Mühle zu schleichen, dachte Neil. In diesem Augenblick hörte er den Wasserfall. Nach den schweren Regenschauern in der vergangenen Woche rauschte er bedeutend lauter und kraftvoller. Neil folgte dem Geräusch und trat nach kurzer Zeit

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auf die Lichtung hinaus. Entschlossen übequerte er den Farnteppich in Richtung auf die Mühle. „Tag, Neil."

Der Klang von Jeremy Pimms Stimme durchfuhr Neil wie ein elektrischer Schlag. Er drehte sich um und sah Jeremy am Waldrand stehen. Als er ihm in die Augen sah, erkannte Neil, daß dieser junge Mann kein Hypnotiseur, kein Schauspieler, kein raffinierter Typ sein konnte. Jeremy lächelte, aber nur mit demsicht hinter dem Lächeln war todernst. „Ich habe auf dich gewartet", sagte Jeremy.wollten mal wieder miteinander reden." „Ich dachte, wir ….„Wollten wir auch", sagte Neil, ohne es zu wollen. „Aber ich konnte nicht kommen . . . ich hatte Hausarrest . . . eine Woche lang. Meine Eltern haben mich nicht aus den Augen gelassen." Jeremy lächelte erneut. Dieses Mal wurde der Ausdruck seiner Augen ein bißchen sanfter, aber nur ein bißchen. „Komm mit ins Haus", sagte er. „Es ist Zeit, daß wir uns unterhalten." Neil folgte ihm. Es war, als müßte er gehorchen, und doch wäre er am liebsten fortgelaufen, so schnell er konnte, um frei zu sein und erst wieder stehenzubleiben, wenn er zu Hause und in Sicherheit war. Was hatte Jeremy Pimm an sich, das ihn so seines eigenen Willens berauben konnte? Das ihn zum Gehorsam zwang, geradezu willenlos machte? Sie stiegen einen ausgetretenen Pfad zum Steinhaus hinauf. Jeremy führte Neil ums Haus herum zur Haustür und forderte ihn auf, ins Wohnzimmer zu gehen, während er, wie üblich, Kerzen anzündete und ihm bedeutete, sich zu setzen. Neil spürte die beruhigende Wirkung des Kerzenlichts, und er kuschelte sich geradezu in die willkommene Dunkelheit hinein, während er darauf wartete, daß Jeremy zu sprechen begann. Er fragte sich flüchtig, worüber er mit Jeremy hatte reden wollen.

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Neil konnte sich nicht an ein bestimmtes Problem erinnern. Hatte er nicht etwas fragen wollen? Jeremy lächelte wohlwollend, sein Gesichtsaudruck war nun sanft und einladend. Er deutete auf die flackernde Kerze. „Ist dir schon aufgefallen, daß ich deinen Schatten auf mich ausrichte, wenn wir miteinander reden?" fragte er. Neil nickte und spürte die Wärme der Kerzen, als ob sie wie eine angenehme Strömung über ihn hinwegflutete. „Ich kontrolliere ihn nämlich so, daß er auf mich zeigt. Denk mal ein bißchen über deinen Schatten nach. Er tut alles, was du tust. Er kann nicht entfliehen." Neil stimmte eifrig und bereitwillig zu. Jeremys Augen suchten seinen Blick und hielten ihn fest, bannten ihn. „Und du selbst bist wie der Schatten deines Bewußtseins." Jeremy sprach die Worte langsam und eindringlich, damit sich jedes Wort fest in Neils Gedächtnis einprägte, bevor das nächste folgte. „So, wie dein Schatten dir folgt, folgst du deinem Bewußtsein. Aber was für Dienste leistet dir dein Bewußtsein? Welche kostbaren Kräfte hält es für dich bereit? Du weißt es so gut wie ich. Es unterstellt dich der Kontrolle deiner Eltern. Es verhindert, daß du nach den Dingen strebst, die du dir wirklich wünschst, nach den Dingen, die dich glücklich machen würden." Jeremy hielt inne, und sein Schweigen verlieh seinen Worten noch mehr Gewicht. „Doch ich bin im Begriff, all das zu ändern", fuhr er dann fort. „So, wie ich deinen Schatten kontrollieren kann, kann ich auch dein Bewußtsein kontrollieren. Du darfst dich nie, niemals gegen mich wehren, denn ich kann dich befreien." Befreien. Das Wort schwang sich in Neils Bewußtsein auf wie ein Vogel, der der Sonne entgegenfliegt. Ja, sagte er zu sich selbst, Jeremy Pimm wird mich befreien. „Du mußt mir immer vollkommen vertrauen", fuhr Jeremy fort.

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„Und vergiß nicht, daß der einzige Grund für mein Dasein und das Dasein dieses Hauses darin besteht, dir zur Freiheit zu verhelfen. Das verstehst du doch jetzt, nicht wahr?" Neil nickte. Er verstand vollkommen. „Du bist nur ein ganz kleiner Teil des Lebens deiner Eltern. Sie haben andere Interessen, Interessen, die sie selbst für wichtig halten, sogar für noch wichtiger als dich." Verachtung trat an die Stelle des friedlichen Gefühls, und Neil ballte die Hände zu harten Fäusten. Jeremy hatte recht. Seine Eltern dachten an nichts anderes als an ihre Arbeit. Das war das einzige, das für sie Bedeutung hatte. Plötzlich verspürte Neil keine Lust mehr, nach Hause zu gehen. Er wollte hier im Steinhaus bleiben. Diese Sehnsucht war sogar noch stärker als die Sehnsucht nach Fairhaven. Dies war der Ort, wo er wirklich hingehörte.

8. KAPITEL

„Dein Vater und ich haben eine Überraschung für dich", sagte Mrs. Youngwerth ein paar Tage später am Abendbrottisch. Neil enthielt sich einer Antwort. Ihre Überraschungen waren ihm doch völlig gleichgültig. „In der letzten Zeit hast du einen unglücklichen Eindruck gemacht und dich so in dein Schneckenhaus verkrochen, daß wir glauben, es wird höchste Zeit, Henry und Alan zu uns einzuladen. Mr. Ward bringt sie morgen her." Neil blickte auf seinen Teller, zu bestürzt, um seiner Mutter antworten zu können. Er hatte soviel Zeit wie möglich im alten Steinhaus verbracht, dort, wo er hingehörte. Er und Jeremy hatten Pläne geschmiedet, Pläne, die seine Probleme ein für allemal ausräumen würden. Jetzt war es soweit, diese Pläne in die Tat umzusetzen, und das letzte, was er dazu gebrauchen konnte, war Henrys und Alans Einmischung. Sie würden

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genauso wenig wie Matthew begreifen, was Jeremy Pimm bedeutete und wofür er stand. Blinder Matthew, dachte Neil. Er hat die Chance, sich zu befreien, einfach weggeworfen. „Wir dachten, du würdest dich darüber freuen", sagte sein Vater. Seine Stimme klang unüberhörbar scharf, und Neil brachte ein kleines Lächeln zustande. Seine früheren Freunde kamen also. Alle Vorbereitungen waren bereits getroffen. Da mußte er wohl das Beste aus ihrem Besuch machen. Er brauchte Zeit zum Nachdenken und ging deshalb gleich nach dem Abendessen in sein Zimmer. Die Erinnerung an seine alte Freundschaft mit Henry und Alan machte ihn ein wenig traurig. Damals war es toll gewesen, aber seit er nach Winton gezogen war und Jeremy Pimm kennengelernt hatte, war er über diese Freundschaft hinausgewachsen. Wenn die beiden ständig um ihn wären, könnte er nie im Leben all das ausführen, was er sich vorgenommen hatte. Warum mußten sie gerade jetzt kommen? Wenig später hörte er ein Auto auf der Zufahrt. Als er aus dem Fenster schaute, sah er zwei Polizisten aus ihrem Wagen steigen und zur Haustür gehen. Neil hörte, wie sie seine Eltern fragten, ob sie Mrs. Risley und ihren Enkel Dick gesehen hätten. Dann sagten sie, daß die nächsten Nachbarn beide seit über einer Woche nicht mehr zu Gesicht bekommen hatten und sich nun Sorgen machten. Deshalb zogen sie bei allen Leuten in der näheren Umgebung Erkundigungen ein. Vielleicht hat die alte Dame endlich nachgegeben und Dick erlaubt, seinen Führerschein zu machen. Womöglich unternehmen sie jetzt eine Reise, dachte Neil. Er lächelte gemein. Kaum vorzustellen! Als Mr. Wards Lieferwagen am nächsten Morgen in die Einfahrt einbog, war Neil endgültig zu dem Schluß gekommen, daß er nichts gegen den Besuch von Henry und Alan unternehmen konnte. Schicksalsergeben öffnete er den beiden die Tür.

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„Na, wie geht's?" fragte Alan. Er lächelte breit und trug einen zusammengerollten Schlafsack unterm Arm und eine Reisetasche über der Schulter. Bevor Neil antworten konnte, schob sich Henry zur Tür herein und sagte: „Mensch, du hast wirklich nicht übertrieben, als du sagtest, daß du am Ende der Welt in den Wäldern lebst. Man kommt sich vor, als wäre man Lichtjahre von der Zivilisation entfernt."

Plötzlich verspürte Neil doch etwas wie Freude beim Anblick seiner alten Freunde, aber er verdrängte sie rasch und rief sich Jeremys Warnung in Erinnerung, sich niemals gegen ihn zu wehren. Henry und Alan könnten versuchen, ihn zum Widerstand zu verleiten, und dann würde er alles verlieren, wofür er so hart gearbeitet hatte. „Kommt mit nach oben und bringt euren Kram in mein Zimmer", forderte er sie auf. „Dann zeig ich euch die Gegend." Seine Mutter kam aus der Küche. „Hallo, ihr zwei. Wie schön, euch mal wieder zu sehen. Henry, möchte dein Vater nicht vielleicht ins Haus kommen und eine Tasse Kaffee trinken?" „Er hatte keine Zeit zu bleiben", antwortete Henry. Dann fügte er mit einem Grinsen hinzu: „Aber ich soll mich trotzdem für das freundliche Angebot bedanken." Neil führte die Freunde nach oben und hörte nur halb zu, als sie über die Größe seines Zimmers im Vergleich zu dem kleinen in Fairhaven staunten und übereinstimmend äußerten, daß es toll sein müsse, wenn man aus seinem Fenster auf die Wälder blickte und nicht in den Hintergarten der Nachbarn. Neils Gedanken kreisten in erster Linie um Jeremy Pimm und die Aufgabe, die ihm bevorstand. Er würde es nicht leicht haben, solange Henry und Alan zu Besuch waren. Er mußte seine ganze Beherrschung zusammennehmen, während er ihnen das Haus und den Garten zeigte. Die fröhliche Stimmung, die Alan und Henry mitgebracht hatten,

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verflog rasch, und Neil spürte, daß sie sich wunderten, weil er sich offenbar nicht sonderlich über das Wiedersehen freute. „Kommt, wir spielen ein bißchen Basketball", schlug er vor, in der Hoffnung, seine mangelnde Begeisterung im Spiel besser verstecken zu können. Anfangs klappte es auch recht gut, aber wenig später hatten alle drei keine Lust mehr, setzten sich am Rande der Auffahrt ins Gras und hoben gelangweilt Steinchen auf, um sie ohne Ziel wieder fortzuwerfen. „Du hast uns doch von so einem sonderbaren alten Haus erzählt. Weißt du noch?" sagte Henry. „Ja, komm, das sehen wir uns an", schlug Alan vor. „Später", sagte Neil und hörte die beiden Freunde gereizt seufzen. Ein paar Minuten herrschte Schweigen, aber schließlich meinte Henry: „Ich kann gut verstehen, warum du zurück nach Fairha-ven willst. Hier ist wirklich gar nichts los." „Wenn man sich daran gewöhnt hat, ist es gar nicht so schlecht hier", fuhr Neil ihn an. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Henry und Alan verdutzte Blicke tauschten, und beinah wäre er herausgeplatzt, daß er überhaupt nicht mehr zurück nach Fairhaven wollte. Er hielt sich jedoch noch rechtzeitig zurück. Was hatte es für einen Sinn, ihnen das zu sagen? Henrys und Alans Gegenwart versetzte Neil mehr und mehr in Wut. Er musterte sie scharf. Sie lagen auf dem Rücken ausgestreckt im Gras und blickten hinauf in die Bäume. Vielleicht sollte ich mir einen Spaß mit ihnen erlauben, dachte er. „Ihr wolltet doch das alte Steinhaus sehen", sagte er. „Aber ich zeig euch was Besseres. Kommt mit." Neil schlenderte lustlos die Auffahrt hinab. Henry und Alan folgten ihm. „Wohin gehen wir?" fragte Alan. „Es würde alles verderben, wenn ich es euch verraten würde. Aber eines verspreche Ich euch: Ihr werdet bestimmt nicht enttäuscht sein."

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Am Ende der Straße tauchte er in die schattigen Wälder ein, schlug aber nicht den Weg zum Steinhaus ein. Statt dessen folgte er dem Pfad, auf dem Matthew ihn vor so langer Zeit in die Irre geführt hatte, und nach kurzer Zeit hatten sie die Stelle im Wald erreicht, von der aus man den ersten Blick durch die Bäume auf die Mühle werfen konnte. „Seht ihr da vorn die Lichtung und das kleine Gebäude neben dem Teich?" Die Jungen nickten. „Nun, das ist eine Wassermühle, und vor über hundert Jahren wurde dort in der Nähe ein Junge begraben." Henry riß die Augen auf. „Was war mit ihm? Wie ist er gestorben?" Neil lächelte vieldeutig und fuhr fort: „Er wurde verrückt und stürzte sich in eine Maschine in der Textilfabrik, in der er arbeitete. Sein Onkel hat ihn hier begraben. Sein Name war Jeremy Pimm, und ich habe seinen Geist gesehen." „Du spinnst uns doch was vor", sagte Alan entsetzt, krebsrot im Gesicht. „Keineswegs. Kommt schon. Ich zeig euch das Grab. Dann könnt ihr euch selbst überzeugen." Neil watete durch den Farn auf Jeremy Pimms Grabstein zu. Die Jungen folgten ihm auf den Fersen. Plötzlich blieb er stehen und hielt den Atem an. Da war der Stein und sah genauso aus wie immer, eben wie ein Grabstein, doch da war noch etwas. Etwa zehn Meter daneben erhob sich ein frisch aufgeworfener Erdhügel. Am nächsten Abend fuhren Henry und Alan endlich nach Hause. Es war eine langwierige, schwierige Strapaze für Neil gewesen, doch es war ihm gelungen, die Freunde davon zu überzeugen, daß er sich die ganze Geschichte von dem Grab neben der Wassermühle ausgedacht, selbst den Stein dorthin gebracht und sogar die Erde umgegraben hatte, damit der Hügel wie ein frisches Grab aussah, alles, um seine Freunde zu schockieren. Henry und Alan lachten ein wenig unsicher und

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gaben zu, daß es gelungen war, aber offenbar fiel der Abschied ihnen durchaus nicht schwer. In dieser Nacht konnte Neil nicht einschlafen. Die Fragen über das neue Grab wollten ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Wer lag dort begraben? Und wer außer Eleaser Burbank würde jemanden an einem solchen Ort begraben? Jeremy wird es wis-sen, sagte er sich. Am Morgen wollte er Jeremy aufsuchen. Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, konnte er endlich einschlafen. Aber sein Schlaf war nicht von langer Dauer. Kurz nachdem es still im Haus geworden war und alle zu Bett gegangen waren, wachte er ruckartig auf und saß senkrecht im Bett. Jetzt. Jetzt war es Zeit. Ein starkes Gefühl der Dringlichkeit strömte durch seinen Körper und zwang ihn, sofort aufzustehen und seinen lang gehegten Plan auszuführen. Neil lächelte still vor sich hin. Auf diesen Augenblick hatte er gewartet, und Jeremy war bei ihm, leitete ihn an und führte ihn so sicher, als wäre er im selben Raum. Rasch zog sich Neil an und lief nach unten. Dieses Mal brauchte er sich keine Sorgen wegen Max zu machen. Seit dem Vorfall im Arbeitszimmer seiner Eltern wich der Hund ihm aus und schlief sogar im Garten statt in seinem Körbchen in der Küche. Neil schlüpfte durch die Tür zur Garage, schloß sie leise hinter sich und tastete an der Wand nach dem Lichtschalten Selbst wenn seine Eltern aufwachen sollten, konnten sie das Licht, das durch die Garagenfenster auf den Rasen fiel, nicht sehen, weil ihr Schlafzimmer an der anderen Seite des Hauses lag. Der Benzinkanister stand an seinem gewohnten Platz neben dem Rasenmäher. Er war schwer, und das bedeutete, daß er fast voll sein mußte. Neil stellte ihn neben die Tür und belud sich mit einem Stapel alter Zeitungen, die neben der Mülltonne aufbewahrt wurden. An der Werkbank seines Vaters blieb er kurz stehen und fand ein paar Lumpen mit Ölflecken und eine

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Schachtel Streichhölzer. Jetzt war er bereit. Sein Herz klopfte heftig in seiner Brust. Er mußte sich sehr beherrschen, um nicht vor Freude laut schreien. Leise öffnete er die Tür zum Haus, damit das Licht aus der Garage ihm den Weg erleuchtete. Dann hob er den Benzinkanister wieder auf und schlich auf Zehenspitzen ins Arbeitszimmer seiner Eltern. Dort knipste er das Licht an und zwang sich, vollkommen still stehenzubleiben, obwohl er seine wachsende Aufregung kaum noch beherrschen konnte. Ein letzter Blick noch, sagte er zu sich selbst. Ein letzter Blick auf das, was ihm am meisten verhaßt war - die Arbeit seiner Eltern. In Windeseile fing er an, die Zeitungen zusammenzuknüllen und überall im Zimmer zu verteilen. Er stopfte sie in Ritzen, schob sie unter die Schreibtische. Es war Zeit. Endlich war die Zeit gekommen. Er würde sich nicht wehren. Aus einem Winkel seines Unterbewußtseins schob sich langsam ein halb vergessenes Bild vor seine Augen. Er wollte es nicht sehen. Dazu blieb ihm keine Zeit. Aber es drängte sich vor, bis er es nicht mehr unbeachtet lassen konnte. Es war der Platz neben der Mühle, wo Jeremy Pimms Grabstein stand. Aber da war noch mehr. Vier frische Grabhügel erhoben sich aus dem Farn. Vier? dachte Neil. Da waren doch nicht vier neue Gräber. Es gab nur eines, und wer immer es auch sein mochte, Jeremy Pimm wußte sicherlich Bescheid. Wie von Sinnen begann er erneut, Zeitungspapier zusammenzuknüllen. Jetzt stopfte er die Papierknäuel zwischen die Aktenschränke. Je mehr, desto besser, schien eine Stimme in seinem Innern zu sagen. Doch die Vorstellung der vier Gräber ließ ihn nicht los. Drei davon waren frisch. Wer mochte dort liegen? Und warum spiegelte sein Verstand ihm diesen Unsinn vor? Warum ließ er sich derartig ablenken? Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Er konnte sich nicht wehren.

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Er packte eine weitere Handvoll Zeitungspapier, knüllte die Seiten zu Bällen zusammen und warf sie in alle Ecken des Zimmers. Er würde sich nicht wehren. Es war Zeit, den Plan in die Tat umzusetzen. Es war Zeit, sich zu befreien. Drei neue Gräber. Drei neue Gräber. Wer mochte dort liegen? Plötzlich schoß ihm ein anderes Bild durch den Kopf. Das Zeitungspapier fiel ihm aus der Hand. Er blieb starr vor Schrecken stehen. Sein Vater. Seine Mutter. Christie. Die drei waren hier im Haus, sie schliefen alle im Obergeschoß. Sie durften nicht hier sein! Das gehörte nicht zum Plan! Frei. . . Frei. . . Frei . . . Frei . . . wisperten hundert Stimmen in Neils Kopf. Das Zimmer fing an, sich um ihn zu drehen. Er stürzte vorwärts und stieß den Benzinkanister um. Die Kappe auf der Tülle war nicht mehr da - er konnte sich nicht entsinnen, sie entfernt zu haben - und die goldene Flüssigkeit ergoß sich auf den Boden. Wehr dich nicht, wisperten die Stimmen. Niemalsniemals-niemals-niemals-niemals sollst du dich wehren. Neil schloß die Augen, und da waren die Gräber wieder. Er mußte kämpfen. Das da konnte er doch nicht tun. Er konnte doch nicht seine Eltern und seine Schwester umbringen, ganz gleichgültig, wie elend er sich fühlte. Das Band zwischen ihnen war zu stark. Nein, er konnte nicht töten. Nicht einmal für Jeremy Pimm. Nicht einmal für die Freiheit. Frei. Frei. Frei. Dieses Mal waren die Stimmen lauter, und das Bild der Gräber wurde größer und kam näher, bis er das Gefühl hatte, sein Gesicht in die frisch aufgeworfene Erde zu drücken. Aber es waren vier Gräber, abgesehen von Jeremys Stein. Wer lag unter dem vierten Hügel? in dem Grab, das er mit Alan und Henry entdeckt hatte? Jeremy wird schon wissen, wer sonst noch den Tod verdient hatte. Aber wußte Neil es denn nicht selbst? Hatte er nicht davon gehört, wie boshaft sie ihren Enkel unter der Knute hielt, damals während der Gesprächsrunde, und hatte er sie nicht mit eigenen Augen gesehen und die

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Bösartigkeit ihrer Seele gespürt? Es war Mrs. Risley. Es konnte niemand anderes sein. Das Wissen traf ihn mit der Macht eines Faustschlags. Er öff-nete die Augen und sah sich langsam im Zimmer um, sah die Zeitungspapierknäuel, das vergossene Benzin und schließlich die Streichhölzer in seiner Hand. Dick Risley hatte seine Großmutter umgebracht und hinter dem Steinhaus neben Jeremy Pimms Grab begraben. Er hatte sie ermordet, und Jeremy hatte ihn dazu gebracht. Eine andere Antwort gab es nicht. Jeremy Pimm hatte die Macht dazu. Er hatte alles unter Kontrolle. Und jetzt versuchte er, Neil ebenfalls zum Mord zu bringen. Frei. . . Frei. . . Frei. . . Die Stimmen kamen wieder und hüllten ihn ein wie aufgewirbelte Blätter im Herbst. Nein. Nein. Ich werde mich wehren. Sein Kopf pochte, und er hatte das Gefühl, als ob eine Faust sein Gehirn zusammenpreßte und es wie Ton knetete. „Frei . . . Frei . . . knisterten die Stimmen. NEIN! Frei. . . Frei. . . Das ist keine Freiheit. Das ist Sklaverei! Du kannst mich nicht zwingen, dachte Neil mit aller Kraft. Ich laß nicht zu, daß du Kontrolle über mich hast. Ich werde mich wehren! Zitternd richtete er sich auf. Er schwankte, fand das Gleichgewicht wieder und sammelte das zerknüllte Zeitungspapier auf. Langsam und sorgfältig glättete er die Blätter und stapelte eines nach dem anderen auf dem Schreibtisch seines Vaters. Seine Kleider waren schweißgetränkt, und er war so erschöpft, daß er sich kaum aufrecht halten konnte. Die Stimmen waren verschwunden, doch das Pochen in seinem Kopf war zu einem stechenden Schmerz geworden. „Nein . . . nein . . . nein ... " flüstete er vor sich hin. „Nein . . . nein . . . nein . . . ich werde mich wehren ... "

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Er nahm die Lumpen, wischte das vergossene Benzin auf und öffnete das Fenster einen Spalt, damit die frische Nachtluft den schweren Geruch aus dem Zimmer trieb. Zweimal ging er in die Garage, um das Benzin, die Zeitungen, Streichhölzer und Lumpen wieder an ihren Platz zu schaffen. Dann stieg er wie ein Zombie die Treppe hinauf und fiel auf seinem Bett in einen traumlosen Schlaf.

9. KAPITEL

Als Neil am nächsten Morgen aufwachte, schoß ihm gleich die fürchterliche Erinnerung an die Vorfälle der Nacht in den Kopf. Er war dem Schrecklichen so nahe, so beängstigend nahe gekommen, doch das war jetzt nicht das Wichtigste. Wichtig war, daß er den Kampf gewonnen hatte. Er hatte Jeremy Pimm geschlagen, und jetzt war er frei, wirklich frei. Er schloß erneut die Augen und spürte, wie neue Kraft seinen Körper durchströmte. Nein, das ist mehr als nur Kraft, dachte er. Das ist Macht! ich habe die Macht, mich zu wehren. Jeremy Pimm wird nie wieder Kontrolle über mich haben. Neil stieg aus dem Bett und wußte, daß er noch etwas zu erledigen hatte. Er duschte sich und zog frische Kleidung an. Außer ihm war noch niemand aufgestanden, obwohl es schon fast neun Uhr war. Er stürzte ein Glas Milch hinunter, kritzelte auf einen Zettel, daß er einen Spaziergang machte, legte ihn auf den Küchentisch und schlich zur Tür hinaus. Die frische Morgenluft war von Vogelgezwitscher erfüllt. Neils Zuversicht wuchs mit jedem Schritt. Er würde Jeremy Pimm gegenübertreten. Er hatte die Macht dazu. Und er würde ihm direkt in die Augen blicken, und dann wüßte Jeremy Pimm ein für allemal, daß Neil Youngwerth sich niemals kontrollieren ließ. Für einen kurzen Augenblick durchzuckte ihn Angst, als das alte Steinhaus in Sicht kam. Troz der Morgensonne war es wie

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üblich in düstere Schatten gehüllt. Ohne zu zögern, ging Neil an die Haustür. Er pochte mit dem schweren Messingklopfer an die Tür und wartete darauf, empfangen zu werden. Die Zeit verstrich, aber niemand öffnete die Tür. Neil trat von einem Fuß auf den anderen und wartete. Das Haus war groß. Vielleicht war Jeremy im oberen Stockwerk. Noch immer meldete sich niemand auf sein Klopfen. Er versuchte es erneut und wartete, doch die Tür blieb geschlossen. Die Angst strich mit kalten Fingern über seinen Nacken. Er schob sie beiseite, drückte die Klinke, aber nichts rührte sich. Die Tür war verschlossen, und er stand draußen, allein. Schließlich atmete Neil tief und zufrieden auf. Jeremy wußte, daß er besiegt war. Warum zeigte er sich sonst nicht? Er konnte es nicht ertragen, sagte Neil sich. Lächelnd drehte er sich um und ging. Ihm gehörte der Sieg. Ein leichter Wind erhob sich, und die bisher reglosen Blätter schienen mit raschelnder Stimme zu ihm zu sprechen: „Du hast mich enttäuscht, Neil Youngwerth. Du . . . hast. . . versagt." Neil fuhr herum. „Jeremy?" rief er. „Bist du das?" Die Tür hatte sich nicht geöffnet. Alle Fenster waren verschlossen. Woher kamen die Stimmen? Sein Puls raste. Hatte er nicht etwas gehört? Vielleicht waren es überhaupt keine Stimmen gewesen. Nur der Wind in den Bäumen. Aber er hatte deutlich seinen Namen gehört. Langsam entfernte Neil sich rückwärts vom Steinhaus. Er wagte nicht, es aus den Augen zu lassen. Als er den Rand der Lichtung erreicht hatte, wirbelte er herum und rannte, ohne sein Tempo zu verlangsamen, bis zur Straße. Sein Kopf pochte, und die Worte, die er glaubte gehört zu haben, wollten ihm nicht aus dem Sinn. Du hast mich enttäuscht, Neil Youngwerth. Du . . , hast. . . versagt.

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Neil rannte nach Hause, bemüht, so viel Entfernung wie möglich zwischen sich und das alte Steinhaus zu legen. Nach einer Weile bemerkte er eine Gestalt, die sich ihm aus der entgegengesetzten Richtung näherte. „Neil? Was ist los? Fehlt dir was?" rief die Frau. Es war seine Mutter. In einer Hand trug sie einen Skizzenblock. „O . . . hallo Mom", stammelte Neil. „Mir fehlt nichts. Alles in Ordnung, ich war wohl nur in Gedanken." Plötzlich hatte er Angst. „Wohin gehst du?" „Zu dem alten Haus. Ich muß dir etwas erzählen. Komm mit, dann sag ich's dir unterwegs." „Nein! Du darfst nicht hingehen!" Das Gesicht seiner Mutter verfinsterte sich. „Tut mit leid", entschuldigte sich Neil, bevor sie etwas sagen konnte. „Ich wollte dich nicht anschreien. Aber es ist zu gefährlich dort. Dir könnte was passieren." „Ach, nun hör aber auf", entgegnete sie mit einem Lächeln. „Ich bin doch kein kleines Kind, das auf den zerfallenen Mauern herumklettert oder in einen rostigen Nagel tritt. Danke für deine väterliche Sorge, aber ich muß mir dieses Haus einfach noch einmal anschauen. Komm", drängte sie und hakte sich bei ihm unter. „Laß uns gehen." Neil holte tief Luft und atmete sie langsam wieder aus. Seine Mutter war fest entschlossen zu gehen. Das wußte er. Und er hatte nicht die geringste Möglichkeit, sie zurückzuhalten. Obwohl das alte Steinhaus der letzte Ort auf der Weit war, zu dem er sich hingezogen fühlte, durfte er sie nicht allein gehen lassen. Sie hatte offenbar nur auf sein Nicken gewartet, bevor sie weiterredete. „Dein Vater und Christie sind Tennisspielen gegangen, da hab ich beschlossen, noch einmal zum Geschichtsverein zu gehen und nachzusehen, ob er schon wieder geöffnet ist."

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Neil wappnete sich gegen das, was sie nun sagen würde, und versuchte, die Angst, die in ihm aufstieg, zu unterdrücken. „Nun ja, es war geöffnet, und ich habe mit einer Mrs. Chesterton gesprochen. Ich hab sie nach der Geschichte des alten Steinhauses gefragt, und sie sagte mir, daß sich kaum noch jemand für das alte Gemäuer interessiert, aber es schien ihr Lieblingsthema zu sein. Jedenfalls wurde dort vor mehr als hundert Jahren offenbar ein junger Mann namens Jeremy Pimm verrückt und beging Selbstmord. Er wurde von seinem Onkel gefangen gehalten, dem das Haus gehörte, und wie Mrs. Chesterton sagte, hat der Onkel ihn irgendwo auf dem Grundstück begraben. Ist das nicht eine phantastische Geschichte?" Ihr Gesicht glühte, und Neil zwang sich zu einem Lächeln. „Wirklich, ist ja irre. Aber warum willst du deshalb noch einmal zu dem Haus? Du hast es ja schon gesehen." „Nein, ich muß mich über dich wundern", sagte sie irritiert. „Gerade du müßtest doch wissen, warum. Ich muß mir das alte Haus aus allen Blickwinkeln anschauen, damit ich es in meinem Roman verwenden kann. Außerdem", setzte sie hinzu, „könnten wir vielleicht Jeremy Pimms Grab entdecken. Sie zog ihn nun beinah mit sich, zwang ihn, schneller zu gehen. Bringen wir's rasch hinter uns, dachte Neil. Ich laß sie nicht länger als eben nötig an diesem Ort herumstöbern, und unter keinen Umständen darf sie in die Nähe von Jeremy Pimms Grab gelangen. Offenbar kannte seine Mutter den Weg ganz genau, obwohl sie erst einmal in dieser Gegend gewesen war, und Neil mußte sich beeilen, um mit ihr Schritt halten zu können. Er war so darauf konzentriert, ihr zu folgen, daß ihm erst nach einer Weile auffiel, wie absolut still es im Wald geworden war. Nicht das kleinste Geräusch war zu hören, in den Bäumen sang kein einziger Vogel. Kein Eichhörnchen hüpfte an den Mauern hinauf. Nichts. Nicht einmal der Wind rauschte in den Bäumen.

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Wie an einem unsichtbaren Faden zog die Angst ihn voran, und am Rande der Lichtung blieb er neben seiner Mutter stehen und traute sich nicht, den Blick auf das alte Steinhaus zu richten. Doch er konnte sich nicht abwenden. Da stand es, wie immer, hockte da wie eine riesige Kröte, ein dunkler Koloß vor der Schönheit der Wälder. Wie er dieses Haus haßte und alles, was damit verbunden war! Er durfte nicht zulassen, daß seine Mutter sich lange in dieser Ruine aufhielt. Allmählich wurde Neil bewußt, daß seine Mutter genauso still geworden war wie der Wald. Er wandte sich um und sah sie an. Sie lächelte, und ihr Gesicht strahlte vor Entzücken. „Neil, es ist Wundervoll!" rief sie aus und packte seinen Arm. „Das ist das schönste Haus, das ich je gesehen habe." Neil war bestürzt. Sie sieht es! dachte er. Sie sieht das Haus, wie es früher war, nicht die zerfallene Ruine. Aber nur Jeremy Pimm kann bestimmen, wer das Haus so sieht. Neils Gesicht drohte zu zerspringen, doch in diesem Augenblick begriff er zum ersten Mal. Jeremy Pimm war nicht zurückgekommen, um jungen Menschen zu helfen. Sie waren ihm völlig gleichgültig. Er brachte nur ihr Bewußtsein unter seine Kontrolle und benutzte sie dann, um ihre Eltern zu vernichten, um die Autorität zu vernichten. Nur aus einem einzigen Grunde war er zurückgekommen - er wollte Rache! Du hast mich enttäuscht, Neil Youngwerth, hatte Jeremy ge-sagt. Jetzt ergaben diese Worte einen Sinn. Neil hatte versagt, als er in Jeremys Auftrag seine Eitern vernichten sollte, und nun lockte Jeremy seine Mutter in das alte Haus, wie Neil selbst anfangs hineingelockt worden war. Jeremy wollte Mrs. Youngwerth umbringen. Angst packte Neil, stärkere Angst, als er je zuvor gespürt hatte. Sein Kampf gegen Jeremy Pimm war noch lange nicht entschieden. Neil betrachtete das alte Haus eingehend. Tiefe Schatten hüllten die grauen Mauern ein. Zu seiner Erleichterung war die

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Tür fest verschlossen, und auf der Suche nach der kleinsten Bewegung hinter einem Vorhang wanderte sein Blick von Fenster zu Fenster. Keine stechenden Augen. Nichts. Bisher. Wenn Jeremy seine Mutter hierhergelockt hatte, worauf wartete er dann noch? Mrs. Youngwerth stand noch immer am Rande der Lichtung. Aber Neil konnte ihrem Gesichtsausdruck entnehmen, daß sie völlig verzaubert war von dem, was sie sah, und sich jede Einzelheit des alten Hauses einprägte. „Es ist unglaublich schön", flüsterte sie. „Jemand hat offenbar mit der Restauration begonnen. Ist dir das nicht aufgefallen?" „Hm . . . nein", sagte Neil. In seinem Kopf drehte sich alles. Im nächsten Augenblick würde Jeremy Pimm die Tür öffnen und seinen hypnotischen Blick auf seine Mutter heften. Dann würde Jeremy in ihr Bewußtsein eindringen und Kontrolle über sie haben, wie er sich Neils und Dicks Bewußtsein zu eigen gemacht hatte und das aller anderen, die das Steinhaus besucht hatten. Seine Mutter schwebte in Lebensgefahr, und er mußte sie von diesem Ort fortbringen, bevor es zu spät war. „Komm. Laß uns jetzt lieber gehen", drängte er. „Wer weiß, vielleicht sind wir auf fremden Besitz eingedrungen." „Mach dich nicht lächerlich", sagte sie. Ihre Stimme klang leise, wie aus großer Entfernung. „Haben sie das Haus nicht ganz wundervoll wiederhergestellt? Wo um alles in der Welt mögen sie wohl das alte Bleiglas aufgetrieben haben?" Die Fenster, dachte Neil. Die Fenster zum Wohnzimmer! Standen die Vorhänge einen Spalt offen, oder bildete er sich das nur ein? Er strengte seine Augen an, aber die Schatten waren so tief, daß er nicht sicher sein konnte. Einer Sache hingegen war er sich sicher - hinter diesem Fenster stand Jeremy Pimm und wartete. „Ich glaube, ich sollte mal anklopfen und mich vorstellen", sagte seine Mutter. „Ich würde mich für mein Leben gern einmal drinnen umsehen."

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Neil sah entsetzt zu, wie sie langsam wie ein Schlafwandler auf das Steinhaus zuging. Er wollte ihr gerade etwas zurufen, als sie ins Sonnenlicht trat. Einen schrecklichen Augenblick lang zögerte sie, so lange, daß Neil bemerken konnte, daß ihr Schatten auf das Steinhaus wies. „Mom! Bleib stehen!" schrie Neil. Er stürzte vorwärts, packte ihren Arm und zwang sie, sich umzudrehen und ihn anzusehen. Es durfte nicht passieren. Er konnte es nicht zulassen. Als er sie anfaßte, schienen ihre Augen klarer zu werden. Sie blickte ihren Sohn einen Augenblick lang an, als versuchte sie, sich zu erinnern, wo sie war und was sie gerade tat. „Na gut. . . wenn du darauf bestehst", sagte sie und gab seinem drängenden Griff nach. Während des Heimwegs blieb Mrs. Youngwerth vollkommen still. Neil ahnte, daß sie über das Steinhaus nachdachte und vielleicht sogar über diesen Trancezustand, der sie befallen hatte. Auch er dachte darüber nach und über Jeremy Pimm. War es möglich, daß Jeremy sich nicht hatte blicken lassen, weil Neil dabei gewesen war, weil Neil sich gegen ihn gewehrt und gewonnen hatte? Aber Jeremy hatte auch seine Mutter gehen lassen, und das konnte nur bedeuten, daß er versuchen würde, sie ein zweites Mal zu sich zu locken. Mr. Youngwerth und Christie waren noch nicht vom Tennisspielen zurück, als Neil und seine Mutter zu Hause ankamen. Er ging sogar zum Telefon und wählte Matthews Nummer. „Hör zu, Matthew. Ich muß sofort mit dir reden." „Gut. Was ist denn los? Du klingst so komisch." „ich kann's dir am Telefon nicht sagen, aber es geht um Jeremy Pimm, und es ist äußerst dringend! Wir treffen uns an Jeremys Grab." „An Jeremys Grab? Ist das nicht ein bißchen zu dramatisch?" fragte Matthew. „Hauptsache, du bist da!"

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„Bin schon unterwegs." Mrs. Youngwerth hatte sich wieder in ihr Arbeitszimmer zurückgezogen, und Neil hörte das eintönige Klappern der Schreibmaschine. Jetzt schreibt sie sicher ihre Eindrücke vom alten Steinhaus auf, dachte er und hoffte, daß sie damit für eine Weile beschäftigt war und nicht bemerkte, daß er fortging. Er warf einen Blick in das Arbeitszimmer. Sie saß mit dem Rücken zur Tür an der Schreibmaschine. Mach dir keine Sorgen, Mom, sagte er still zu sich selbst. Ich werde nicht zulassen, daß dir etwas geschieht, koste es, was es wolle. Dann schlich er auf Zehenspitzen zur Haustür und schloß sie lautlos hinter sich. Matthew wartete schon, als Neil die Lichtung erreichte. Er stand mit aschfahlem Gesicht neben dem frischen Grab. „Wolltest du mich deswegen hier treffen?" fragte er und zeigte auf das Grab. Neil nickte. „War die Polizei auch bei euch, um nach Dick und seiner Großmutter zu forschen?" fragte er. „Ja. Sie sind gestern abend gekommen, aber was hat das mit diesem Grab zu tun?" „Darin liegt Mrs. Risley begraben. Ich bin ganz sicher, und genauso sicher bin ich, daß Dick sie umgebracht hat." Neil erzählte Matthew von Dicks Problemen mit seiner Großmutter und den Gesprächskreisen und wie er selbst in der Nacht zuvor beinah das Haus angezündet und seine Eltern umgebracht hätte. Und schließlich sprach er darüber, wie Jeremys böse Kräfte nach seiner Mutter gegriffen und sie zum alten Haus gelockt hatten. „Aber wie macht er das?" Matthew schüttelte den Kopf. „Wie?" Neil wählte sorgfältig seine Worte. „Indem er das Bewußtsein kontrolliert. Zu Anfang bin ich jedesmal, wenn ich sauer auf meine Eltern war, im alten Haus gelandet. Jeremy hat mich mit der Kraft seines Bewußtseins dorthin gezogen und diese Kraft dann

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darauf verwendet, nach und nach mein Bewußtsein in seine Gewalt zu bekommen. Du weißt doch, er stellt immer die Kerzen so auf, daß unsere Schatten auf ihn zeigen." Matthew nickte. „Na ja, er hat mir einmal erklärt, was es mit dem Schatten auf sich hat. Er sagte, daß unser Schatten alles tut, was wir tun, daß er uns nicht entkommen kann, und daß wir selbst so etwas wie ein Schatten unseres Bewußtseins sind und uns so verhalten, wie unser Bewußtsein es uns befiehlt. Verstehst du, wenn er unser Bewußtsein in seine Gewalt bringt, sind wir die Schatten von Jeremy Pimm und führen seine bösen Rachegelüste aus. Jetzt müssen wir diesen Willen brechen und ihn zerstören, und zwar sofort." „Und wie sollen wir das anstellen?" „Ich weiß nicht, aber über eines bin ich mir sicher — was die Quelle seiner Macht ist. Er schöpft sie aus der Verwirrung und dem Kummer der Leute, die zum Steinhaus kommen, und er wird von Tag zu Tag stärker. Und ich weiß noch etwas anderes. Er ist verletzbar, und deshalb hat er mir befohlen, mich niemals gegen ihn zu wehren. Als ich mich gegen ihn zur Wehr setzte, hab ich mich seiner Kontrolle entziehen können, aber seine Macht ist inzwischen schon so groß geworden, daß er Einfluß auf meine Mutter nehmen kann, ohne mich zu benutzen." Matthew schüttelte den Kopf. „Offenbar willst du damit sagen, daß wir, um ihn zu vernichten, die Quelle seiner Macht zerstören müssen. Aber du hast dich doch bereits von ihm befreit, und ich ebenfalls. Ich hab mich schon vor langer Zeit von ihm gelöst." „Das ist nur ein Teil. Die anderen Leute müssen auch mitmachen, so viele wie möglich von denen, die zum Steinhaus gehen. Weißt du, wer alles dazugehört? Meinst du, du könntest sie zusammentrommeln? Jetzt gleich?" „Klar. Und was kommt dann?"

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„Für Erklärungen bleibt uns jetzt keine Zeit mehr", sagte Neil. „Ruf sie alle an. Sag ihnen, daß wir uns so bald wie möglich am Ende der Old Mill Road treffen müssen. Ich warte dort für den Fall, daß Jeremy Pimm noch einmal versuchen will, meine Mutter in das Steinhaus zu locken." Matthew eilte im Laufschritt davon und war bald darauf in den dichten Wäldern verschwunden. Neil zögerte. Sein Blick schweifte über die friedliche Lichtung zum leise plätschernden Wasserfall und dann zum Grab von Dicks Großmutter an seiner Seite. Die arme Mrs. Risley, dachte er. Und der arme Dick. Er hatte nicht viel Zeit gehabt, eine Beziehung zu ihr aufzubauen, bevor Jeremy Pimm in sein Leben trat und ihn in seine Gewalt bekam. Das war der Schlüssel zum Widerstand: das Band der Liebe und Fürsorge, das meistens zwischen Kindern und Eltern besteht, selbst wenn sie sich einmal nicht verstehen. Darüber denkt man nicht viel nach, aber es ist da, wenn es ernst wird. Das war wirklich der Schlüssel, und der entzog sich Jeremys Verständnis.

10. KAPITEL

Neil wußte, daß er keine Zeit mehr zu verlieren hatte. Seiner Mutter oder seinem Vater oder sogar beiden drohte große Gefahr von Jeremy Pimm. Neil lief eilig durch den Wald zurück. Die Sonne stand hoch am Himmel, und die wenigen Strahlen, die durch die Baumkronen brachen, malten ein verrücktes Muster auf den Waldboden. Neil lief, so schnell er konnte, sprang über Baumstämme und wich im Zickzack Bäumen und Büschen aus. Als er die Straße erreicht hatte, war er außer Atem. Niemand war dort. Auch von seinen Eltern war weit und breit nichts zu sehen. Er wurde nervös. Wenn nun niemand kam? Was sollte er dann tun? Er und Matthew konnten Jeremy doch nicht allein

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gegenübertreten. Und wenn alle kämen, aber sein Plan nicht klappte? Was dann? „Neil" Erschreckt fuhr er herum und sah sich den Wäldern gegenüber, doch dort war niemand. Hatte er nichtjemanden seinen Namen rufen gehört? Oder hatte er es nur geträumt? „Neil." Dieses Mal war er sicher, daß er etwas gehört hatte, ein flüsterndes Geräusch, wie von sehr weit weg. Er machte ein paar Schritte in Richtung auf den Wald. Ob es seine Mutter gewesen war? War sie zurückgekommen, während Matthew und er bei dem Grab gestanden hatten? Panik brach über ihn herein. „Mom?" rief er. „Neil." Es kann nur Mom sein, dachte er, obwohl die Stimme nur wie ein Flüstern an sein Ohr drang. Sie war es, und sie brauchte ihn. Neil fing an zu laufen, blieb aber nach ein paar Schritten stehen. Wenn sie ihn so flüsternd rief, mußte sie in der Nähe sein, sich irgendwo verstecken. Er mußte vorsichtig sein. „Mom", rief er leise. „Wo bist du?" „Neil." Dieses Mal konnte er feststellen, woher die Stimme kam. Von irgendwo aus der Nähe der Umgrenzungsmauer kam sie an sein Ohr. Vorsichtig bewegte er sich auf die Stelle zu. Er blieb stehen, als er die zerfallene Mauer erreicht hatte. Wo war sie? Warum kam sie nicht aus ihrem Versteck und zeigte sich? Er fing an zu zittern. Ging hier nicht etwas Sonderbares vor sich? Neil schaute sich vorsichtig in den stillen Wäldern um. Es war viel zu still. Er wäre gern fortgelaufen, aber seine Füße schienen am Boden zu kleben. Ganz allmählich erkannte er aus dem Augenwinkel ein Etwas neben sich am Boden, ein braunes

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Band mit einer kupferfarbenen Verdickung an einem Ende, zusammengerollt und in Bereitschaft. „Neil." Die Stimme war jetzt neben ihm, und er zuckte zusammen und fuhr zurück, gerade in dem Moment, als die riesige Schlange vorstieß und nach seinem Bein schnappte. Sie hatte ihn verfehlt. Blindlings tastete er nach der Mauer, löste einen Stein aus einer Bruchstelle. Mit aller Macht zerschmetterte er damit den Kopf der tödlichen Schlange. Neil stand neben ihr und rang nach Luft. Es war nicht die Stimme seiner Mutter gewesen. Jeremy Pimm hatte ihn gerufen. Irgendwie ahnte er, daß er herausgefordert wurde. Deshalb hatte Jeremy beschlossen, daß Neil sterben sollte. Neil ließ den Stein fallen, den er noch in der Hand hielt, und taumelte zur Straße zurück. Allmählich, einer nach dem anderen, trafen die anderen ein. Neil kannte Pam und Bill von dem Gesprächskreis, doch die übrigen waren ihm fremd, abgesehen von Terri, die als eine der letzten eintraf. Sie lächelte ihm flüchtig zu und fing dann an, mit Pam zu reden. Kurz darauf kam Matthew die Straße hinabgelaufen. „Ich hab mehr als ein Dutzend Leute angerufen", stieß er atemlos hervor. „Aber nur neun von ihnen waren zu Hause. Anscheinend sind schon alle hier. Sind wir so denn auch stark genug? Klappt es so?" „Ich weiß nicht, aber wir haben keine andere Wahl. Wir müssen es einfach versuchen/' „Worum geht es hier überhaupt?" wollte ein hoch aufgeschossener, rothaariger Junge wissen. „Ich war schon auf dem Weg zum See." „Ja, worum geht es überhaupt?" wiederholten zwei oder drei andere aus der Gruppe. Neil stellte sich mitten auf der Straße auf und musterte die Versammelten. Alle Augen waren mittlerweile auf ihn

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gerichtet. Ein paar, wie zum Beispiel der Rotschopf, sahen ihn beinahe feindselig an, doch die meisten machten in erster Linie einen neugierigen Eindruck. Nur Matthew und Terri lächelten ihm freundschaftlich zu. Neil erzählte die Geschichte noch einmal, die er schon Matthew erzählt hatte, ohne etwas auszulassen. Alle hörten ihm wie gebannt zu, und als er von dem frischen Grab berichtete und seinen Verdacht äußerte, daß Dicks Großmutter dort begraben liege, meldete sich Bill aus der hintersten Reihe. „Ich glaube, ich habe Dick vor fast einer Woche gesehen. Er fuhr im Wagen seiner Großmutter aus der Stadt hinaus . . . und er war allein." „Ich hab das Gefühl, du spinnst ein bißchen", sagte der Rotschopf spöttisch zu Neil. „Ich möchte euch allen eine Frage stellen, besonders, wenn ihr nicht glaubt, was ich euch sage", fuhr Neil fort. „Habt ihr irgendwas Komisches, Außergewöhnliches angestellt, seit ihr Jeremy Pimm kennengelernt habt?" Er tauschte einen raschen Blick mit Matthew, und der nickte ihm zustimmend zu. „Ich meine etwas wirklich Ungewöhnliches", fuhr Neil fort. „Etwas, was ihr unter normalen Bedingungen nicht tun würdet, was ihr aber wie unter Zwang ausführen mußtet?" Wellen von gemurmelten Bemerkungen flossen durch die Gruppe, und der Rotschopf blickte verstört auf. „Also, was können wir denn dagegen unternehmen?" fragte er schließlich. Neil holte tief Luft. Alle Blicke waren auf ihn fixiert. Seine Hände wurden feucht, sein Gaumen trocken, doch er wischte seine Handflächen an den Jeans ab und redete weiter.„Wir müssen ihn aus seinem Haus rufen und uns ihm gemeinsam entgegenstellen. Wir haben keine andere Möglichkeit, ihm die Quelle seiner Macht zu nehmen. Wir müssen unseren Verstand gebrauchen, um uns gegen seine Kontrolle zu wehren, und wenn er merkt, daß er seine Macht

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über uns verloren hat, dann glaube ich, wird er im wahrsten Sinne des Wortes den Verstand verlieren. Und ich möchte wetten, daß er das nicht überlebt!" Schweigen breitete sich über den Wald, als sie sich dem alten Steinhaus näherten. Es sah so aus, als ob die ganze Natur zusah und abwartete. Neil führte den Zug an, Matthew folgte ihm unmittelbar, und hinter ihnen gingen die anderen, zusammengedrängt wie verängstigte Vögel. Als sie die Lichtung erreicht hatten, blieb Neil stehen, holte tief Luft und richtete den Blick auf das alte Steinhaus. Es sah genauso aus wie beim erstenmal, als er voller Wut und Auflehnung hier gestanden hatte. Es war die Verkörperung des Bösen, gleichzeitig bedrohlich und von düsterer Faszination. Damals hatte Neil sich gefragt, was für ein Mensch wohl in solch einer Behausung leben mochte. Jetzt wußte er es nur zu gut. Er wußte, wer Jeremy Pimm war und wofür er stand, und er fragte sich, ob Jeremy wohl etwas von seinem Vorhaben ahnte. Unwillkürlich überlief ihn ein Schauer, und er stopfte die Hände in die Taschen seiner Jeans. Matthew klopfte ihm leicht auf die Schulten „Was nun?" fragte er. Ein nervöses Lächeln spielte um seine Mundwinkel. „Wollen wir die Festung stürmen?" „Wartet hier", sagte Neil Er versuchte, zuversichtlich zu wirken, als er auf die Haustür zuging. Die anderen durften nicht bemerkten, wie groß seine Angst in Wirklichkeit war. Er griff nach dem Messingklopfer, doch als seine Hand sich darum schloß, fühlte er sich eiskalt an. Erschrocken wollte er seinen Griff lösen, doch seine Hand schien an dem Metall festgefroren zu sein, und ein stechender Schmerz durchfuhr seine Finger und stieg in seinem Arm hinauf. Nur mit Mühe konnte Neil einen Schmerzensschrei unterdrücken. Voller Entsetzen starrte er auf den Türklopfen der kalt war wie das Herz des Teufels und ihn festhielt. Jeremy weiß Bescheid, dachte er. Er

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weiß, warum wir hier sind. Plötzlich war seine Hand befreit, und er preßte sie an den Körper, um sie zu erwärmen. Er wich ein paar Schritte zurück. „Jeremy Pimm!" rief er. „Wir wollen mit dir reden." Neil starrte die Tür an, doch sie öffnete sich nicht. Ein erstickendes Schweigen hing in der Luft. Neil warf einen Blick über die Schulter zurück, um sicherzugehen, daß die anderen ihn nicht im Stich gelassen hatten, aber sie waren alle noch da, starr wie Statuen vor lauter Angst. „Das ist deine letzte Chance", drohte er. „Denn keiner von uns wird jemals wieder zu dir kommen." Aus dem alten Steinhaus kam keine Antwort, hinter den Fenstern rührte sich nichts, kein Lebenszeichen war zu sehen. Doch Neil wußte, daß Jeremy drinnen war und ihn gehört hatte. Er wußte außerdem, daß Jeremy seine gesamten Kraftreserven zusammennahm, um den Kampf zu gewinnen. Über wieviel Kraft er verfügte, konnte Neil nur raten. „Was hat er vor?" fragte ein Mädchen neben Matthew. „Das einzige, was ihm noch übrig bleibt", antwortete Neil. „Er wird versuchen, wieder die Kontrolle über unser Bewußtsein zu erlangen." Während Matthew zustimmend nickte, erhob sich ein Wind, strich an Neils Wange vorbei und zerzauste sein Haar. Die Bie anderen bemerkten es auch. Die meisten traten unruhig von einem Fuß auf den anderen und blickten verängstigt um sich. Im nächsten Augenblick war die Luft erfüllt von Stimmen, von einem Geräusch wie von tausend Geistern, die krächzten und flüsterten: „Frei. Frei. Frei. Frei. Frei. Niemals, niemals, niemals, niemals sollst du dich wehren." „Aha! Jeremy Pimm!" rief Neil mit dröhnender Stimme und stieß die Faust in die Luft. „Das ist nichts Neues für uns. Fällt dir nichts Besseres ein?"

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Die Stimmen verstummten. Der Wind legte sich und war dann vollkommen verschwunden und hinterließ nichts als Stille in den Wäldern. Die Ruhe vor dem Sturm, dachte Neil. „Ich habe Angst", flüsterte Terri. Ihre Stimme war kaum noch zu hören. Neil und Matthew tauschten einen Blick und gestanden sich mit den Augen gegenseitig ihre eigene Angst ein. „Komm, wir fassen uns an den Händen", sagte Matthew. „Vielleicht hilft das. Wir können jetzt nicht mehr zurück." Die anderen traten vor und streckten einander langsam die Hände entgegen. Neil war dankbar für Matthews festen Griff und versuchte, seine Kraft an Terri an seiner anderen Seite weiterzuleiten. Matthews Vorschlag war gut. Indem sie sich an den Händen hielten, halfen sie womöglich nicht nur einander, sondern konnten auch ihre Kraft zusammentun, um gegen Jeremy Pimm zu kämpfen. Allmählich bildete sich ein anderes Geräusch heraus. Kein Blättchen rührte sich an den Bäumen, aber die Luft schien erfüllt zu sein vom Rauschen von Vogelschwingen. Neil blickte vorsichtig um sich, und er sah, wie die anderen sich ebenfalls umschauten. Ich höre das nicht als einziger, sagte er sich, doch seltsamerweise war nicht ein einziger Vogel oder ein anderer Hinweis auf eine Bewegung in der Nähe zu bemerken. Das Geräusch wurde lauter. Von allen Seiten streifte die jungen Leute ein leichter Lufthauch. Neil hörte irgendwo hinter sich jemanden nach Luft schnappen. „Haltet euch fest an den Händen", sagte er. „Es ist unsere einzige Chance." Plötzlich war die Luft voller Bewegung. Neil spürte die Berührung von hundert unsichtbaren Flügeln auf seinem Gesicht, seinen Armen, seinem Rücken, am ganzen Körper. Er konnte niemanden mehr sehen oder hören, doch er umklammerte die Hände seiner Nachbarn links und rechts mit

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aller Kraft und konzentrierte sich darauf, den Kräftestrom, der von Hand zu Hand ging, in Macht umzusetzen und in sein Bewußtsein aufzunehmen. Wir werden uns wehren. Wir werden uns wehren. Wir werden uns wehren. Die klatschenden Flügel fingen an, sie im Kreise zu umschwingen, und bildeten einen wilden Strudel. Sie wurden schneller und schneller, und Neil hatte das Gefühl, in einer riesigen Zentrifuge umhergeschleudert zu werden. Er spürte keinen Boden mehr unter den Füpen, aber die Hände seiner Nachbarn lagen noch fest in den seinen, und irgendwo tief im Inneren war ihm bewußt, daß die anderen von derselben orkanartigen Macht gefangen waren, die auch ihn festhielt. Im Zentrum des Strudels nahm allmählich ein Bild Gestalt an. Zunächst war es noch dunkel und undeutlich, doch als es wuchs und klarer wurde, erkannte Neil, daß es sich um das alte Steinhaus handelte. Es hockte einen Augenblick da, düster und bedrohlich, dann erhob es sich langsam und wurde größer. „Nein! Nein! Wir wehren uns!" schrie Neil und kämpfte mit aller Macht gegen das Bild vor seinem inneren Auge. Es kam immer näher, bis er schließlich die Kälte der Mauern spürte und den dumpfen Todesgeruch des Bösen wahrnahm. Neil wurde übel, alles um ihn herum drehte sich wie verrückt im Kreise. Wir wehren uns. Wir wehren uns. Wir wehren uns. Aber können wir uns überhaupt wehren? dachte er verzweifelt. Ich verliere! Es entgleitet mir! Wir wehren uns. Die Worte waren nur noch ein Flüstern in irgendeinem Winkel seines Bewußtseins. Er mußte all seine Kräfte und alle Willenskraft aufbieten, um sie nicht einschlafen zu lassen. Wir wehren uns. Das Steinhaus überragte sie wie ein riesiger Felsen, der sie zu zerschmettern drohte. Neil sah es an und hielt die Hände seiner Nachbarn so fest er konnte, um aus ihnen den letzten Rest Kraft zu ziehen.

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„Wir wehren uns! Wir können uns wehren! Wir müssen uns wehren!" Neil hörte seine eigene Stimme über das Brausen und Tosen hinweg, und andere Schreie, andere Stimmen kamen hinzu. Plötzlich wurde es still. Unvermittelt überkam ihn ein Kälteschauer und war gleich wieder verschwunden. Im selben Augenblick begann eine Schieferplatte oben am Dach zu rutschen, zuerst langsam, dann immer schneller, bis sie krachend zu Boden fiel. Einen Herzschlag später löste sich eine zweite Platte, dieses Mal am unteren Rande des Dachs. Neil heftete seinen Blick auf das Steinhaus und kämpfte mit äußerster Konzentration gegen die feindlichen Mächte an. Spürte er nicht eine leichte Verlagerung des Kräfteverhältnisses? Kämpfte Jeremy Pimm jetzt um sein Überleben? Er schob die ablenkenden Gedanken beiseite und richtete den Blick auf den Turm, der ihm am nächsten war. Mit lautem Klirren stürzte ein Scherbenregen aus dem obersten Fenster. Irgendwo zerbrach ein weiteres Fenster, und ein großer Mauerstein über der Haustür löste sich aus dem Gefüge und stürzte zu Boden. Neil spürte mit freudiger Erregung, wie der Kräftestrom in seinem Innern sich wieder aufbaute und gleichzeitig von ihm auf Matthew und Terri überging. Die Augen fest auf das Fenster des Wohnzimmers gerichtet, rief er: „Du kannst niemals gewinnen, Jeremy Pirnm! Jetzt haben wir die Macht! Wir alle haben jetzt die Macht!" Ein leises Grollen ertönte und schwoll zu einem Donnerschlag an. Neil sah erschrocken und fasziniert zugleich zu, wie das Steinhaus sich aufblähte, als ob es von innen her zerplatzen müßte, und dann mit einem mächtigen Erbeben auseinanderbrach. Staub und Mörtel flogen durch die Luft, Glas, Schiefer und Stein wurden in den Himmel geschleudert, wirbelten durch die Zweige der Bäume und fielen krachend zu

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Boden, während in der Höhe noch ein neues Geräusch, ein menschlicher Laut, ertönte. Es begann wie ein Schmerzensschrei und wuchs sich dann aus zu einem langgezogenen, hundert Jahre alten Todesheulen. Allmählich schwoll der Schrei ab. Der Staub senkte sich auf die Lichtung herab wie ein Leichentuch. Der Bann war gebrochen. Jeremy Pirnm war nicht mehr. Nur das alte Steinhaus blieb Wirklichkeit, eine zerfallene Ruine. „Was willst du deiner Mutter über das Steinhaus erzählen?" fragte Matthew später, nachdem alle anderen fortgegangen waren. „Sie hat es doch schließlich gesehen, wie es früher war." „Ich weiß nicht. Aber ich bin der Sohn zweier Schriftsteller. Mir wird schon was einfallen", entgegnete Neil mit einem Achselzucken. „Vielleicht kann ich ihr einreden, daß sie nur geträumt hat und daß sie ihren Traum in eine ihrer Gruselgeschichten umsetzen soll. Wer weiß?" Neil verfiel wieder in Schweigen und blickte auf die Masse von Schiefer und Stein, die einmal das Steinhaus gewesen war. Er dachte an Jeremy Pimm. Ein seltsamer Schmerz bewegte sein Herz. „Meinst du nicht auch, daß wir jetzt lieber gehen sollten?" drängte Matthew. „Du kannst ja gehen, wenn du willst", antwortete Neil. „Ich möchte noch bleiben. Ich hab etwas zu erledigen." Matthew sah ihn verwundert an und wandte sich dann zum Gehen, als Neil ihn zurückrief. „Matthew. Komm doch mit!" Matthew blieb stehen. „Wohin?" „Du wirst es schon sehen." Neil führte Matthew um die Ruine des alten Steinhauses herum und den Pfad zu der farnüberwucherten Lichtung und der Mühle hinunter. Es war derselbe Weg, den Jeremy an dem Tag eingeschlagen hatte, als er Neil erklärte, daß er sein Bewußsein kontrollieren könnte. Bei Jeremys Grabstein und dem frischen Grab blieben sie stehen.

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„Was hast du vor?" fragte Matthew beunruhigt. „Du willst es doch nicht ausgraben?" „Nein", antwortete Neil. „Das überlasse ich der Polizei. Wir rufen sie später an und sagen, daß wir auf einem Spaziergang durch den Wald ein Grab endteckt haben. So etwas passiert doch ständig. Sie werden nie auf die Idee kommen, daß wir mehr darüber wissen." „Der arme Dick", sagte Matthew. „Wenn es wirklich seine Großmutter ist, werden sie wahrscheinlich nach ihm fahnden. Er hat keine Chance." „Ich weiß." „Aber warum sind wir hierhergekommen? Du hast doch gesagt, du hättest noch etwas zu erledigen." Neil hob einen spitzen Stein vom Boden auf und kniete sich neben Jeremy Pimms Grab. „Hast du eigentlich mal so richtig über Jeremy Pimm nachgedacht?" fragte er. „Ob ich über Jeremy nachgedacht habe?" wiederholte Matthew ungläubig. „Du weißt doch selbst, was wir durchgemacht haben." „Ich meine, ob du dich so richtig mit Ihm beschäftigt hast", erklärte Neil. „Zum Beispiel damit, was er durchgemacht hat und was ihn so zum Wahnsinn getrieben hat, daß sein Geist zurückkommen mußte, um zu versuchen, sich zu rächen. Ihn hat es von allen doch am schlimmsten getroffen." „Da hast du recht", gab Matthew zu. „Im Vergleich zu ihm hatte keiner von uns wirklich schwere Probleme." „Und als ob es damit noch nicht genug gewesen wäre", fuhr Neil fort, „fügte ihm Eleaser Burbank auch noch die allerschlimmste Kränkung zu. Er hat nicht einmal Jeremys Namen auf den Grabstein setzen lassen." Matthew sah schweigend zu, wie Neil den Namen „JEREMY PIMM" mit dem spitzen Stein in den Grabstein ritzte. Als er fertig war, blies Neil den Staub fort und sagte: „Die Schrift ist ein bißchen groß, und die Buchstaben sind etwas schief

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geraten, aber fürs erste reicht es. Zumindest ist sein Grab jetzt gekennzeichnet." „Ich bin froh, daß du das getan hast", sagte Matthew. „Das war ein guter Gedanke." Sie erreichten die Straße und blieben in den länger werdenden Schatten stehen. „Nun, Kumpel", sagte Matthew, „ich denke, für heute haben wir genug geleistet." Sie trennten sich und gingen in entgegengesetze Richtungen nach Hause. Neil blickte Matthew nach, bis er um die Straßenbiegung verschwunden war. Er hatte ihn „Kumpel" genannt. Das Wort hatte für Neil eine ganz besondere Bedeutung. Henry und Alan waren auch seine Kumpel, und in ein paar Tagen würde er sie anrufen und sich für sein sonderbares Verhalten entschuldigen und vielleicht behaupten, daß er damals gerade unter dem Einfluß einer sich anbahnenden Grippe stand oder so ähnlich. Er wollte ihre Freundschaft nicht verlieren. Doch Matthew war ebenfalls sein Freund, und ihre Freundschaft würde sich noch vertiefen. Neil lächelte vor sich hin. Wenn man einen Freund hat, dachte er, und wenn es nur ein einziger ist, kann man sich überall zu Hause fühlen.

- ENDE

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