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Das Haus der sprechenden Toten

Date post: 04-Jan-2017
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Henry Ghost

Das Haus der sprechenden Toten

Occu

Band Nr. 10

Version 1.0 Dezember 2010

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Das Parapsychologic Department der Interpol

Das Parapsychologic Department der Interpol

Das »Parapsychologic Department« ist eine von der Interpol gegründete Spezialabteilung zur Klärung und Erforschung von Kriminalfällen, die in das Gebiet der Parapsychologie reichen. Rätselhafte und sensitive Menschen, überirdische Zeichen, okkulte Phänomene und transzendentale Erscheinungen zählen zur Alltagsarbeit dieses speziell ausgebildeten Parapsychologen. Hauptsitz des »Parapsychologic Department« ist Paris.

Joe Baxter 37 Jahre alt, schlank, hochgewachsen, muskulös, blondes gewelltes Haar, stahlblaue Augen. Ein Mann mit Intelligenz, Kraft, Ausdauer und enormer okkulter Begabung. Er ist Hauptkommissar des »Parapsychologic Department« und Hauptfigur der OCCU-Serie. Er kann in Sekunden als Medium fungieren und arbeitet bei Seancen mit dem modernen Psycho-Disc, einem Gerät, mit dem er Stimmen aus dem Jenseits auf Tonband aufnehmen kann. Er trägt niemals eine Waffe bei sich und besiegt seine Gegner nur mit medialen Kräften.

Olga Dussowa 26 Jahre alt, schlank, vollbusig, langes schwarzes Haar, Russin, direkte Nachkomme der Familie des russischen Magiers Rasputin, sehr okkult begabt, kann böse Geister bannen und als Medium weit ins Jenseits vorstoßen. Sie ist Mitarbeiterin von Hauptkommissar Baxter und begleitet ihn auf allen Reisen.

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Viola Oggi 29 Jahre alt, superblond, gertenschlank, ehemaliges Mannequin aus Rom, das durch eine Vision ihre mediale Begabung erkannte, versteht sich auf Kontaktnahme zum Hexen-Reich und auf geheimnisvolle römische Zaubersprüche gegen Lebensgefahr und Krankheiten. Spezial-Agentin und Mitarbeiterin von Hauptkommissar Joe Baxter.

Dr. Leon Duvaleux Leitender Direktor des »Parapsychologic Department« der Interpol, 48 Jahre, graumeliert, Sohn einer Pariser Wahrsagerin, entstanden aus deren transzendentalen Verbindung mit dem Propheten Nostradamus. Beherrscht die Kunst der telepathischen Nachrichtenübermittlung mit seinem Hauptkommissar.

Madame Therese Duvaleux Pariser Wahrsagerin und Kartenlegerin, weißhaarig, 72 Jahre alt, Mutter des Direktors des »Parapsychologic Department«, springt oft ein und steht dem Team mit ihren magischen Ratschlägen zur Seite.

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Das Haus der sprechenden Toten

James Duncan schreckte aus einem qualvollen kurzen Schlummer auf. Er spürte eine eisige Kälte im Rücken. Sein Körper begann zu zittern. Rund um den alten Mann war es düster.

Seine Brust, auf der das Nachthemd schweißdurchnäßt klebte, wogte auf und ab.

Die Herzschmerzen waren unerträglich. Das Blut hämmerte im Kopf.

Und dann erschien dicht über ihm ein Frauenantlitz: große und dunkle Augen, ein breiter grell geschminkter Mund mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen. James Duncan war Menschenkenner: Dieses Mädchen hätte ihm zweifelsohne, wäre er noch jung, gefallen. Doch als Krankenschwester lehnte er sie ab. Sie strahlte Berechnung, Gefühlskälte und Gefahr aus. Sie war so anders als die Schwestern, die sich bisher um ihn gekümmert hatten.

»Halt den Mund, Opa, und wart ab!« Dann drehte sie sich um und betätigte mit der rechten

Hand einen Wandschalter. Grell blitzte eine Deckenbeleuchtung auf.

Jetzt erkannten James Duncans müde und kranke Augen, daß er sich nicht mehr in seinem Krankenzimmer in der Bedford-Klinik befand. Man hatte ihn anderswohin gebracht.

»Wo bin ich?«, stöhnte er und verkrampfte angstvoll seine Hände ineinander.

Das Lachen der jungen Krankenschwester tat ihm in den Ohren weh. Langsam drehte er seinen Kopf.

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Überall standen Apparaturen mit Schläuchen und Drähten. Die Geräte waren mit Skala, Zeiger und Monitor versehen.

»Was geht hier vor?« Zuerst erhielt er keine Antwort. Dann aber lachte die

Krankenschwester: »Was immer auch mit dir geschieht. Sei glücklich darüber. Du mußt unserem Ärzte-Team und der Menschheit einen großen Dienst erweisen. Das ist eine Auszeichnung für dich.«

Röchelnd sank der Patient in die Kissen seiner Bettstatt zurück. Seine Kräfte waren zu Ende. Er hatte Mühe, zu atmen.

Einmal noch versuchte er, sich aus seiner verzweifelten Lage zu befreien. Er öffnete mühsam den Mund: »Ich bin ein reicher Mann. Ich bin der Schuhfabrikant Duncan, James Duncan. Ich gebe Ihnen Geld, wenn sie mich hier rausholen. Führen Sie mich wieder in mein Krankenzimmer. Nennen Sie eine Summe. Ich werde Ihnen das Geld überweisen lassen.«

Er wollte die Hände wie zum Gebet falten. »Ich lasse mich nicht bestechen. Ich stehe hier im Auftrag

einer der größten Ärzte aller Zeiten. Der Chef würde mich töten, wenn ich ihm in seine Experimente pfuschen würde.«

Sie zog aus einem der Geräte zwei plastikbeschichtete Drähte heraus. Sie trat ans Bett des alten Mannes und brachte ihm die Anode dicht an der Kopfhaut an.

»Nein!« schrie er entsetzt und begann die Metallenden der Drähte abzureißen.

Die Krankenschwester fluchte. Sie packte die Hände des kranken Mannes und riß je einen Arm an die Bettkante herunter, wo bereits Ledergurte vorbereitet waren. Blitzschnell schnallte sie die Arme fest. Duncan vermochte sich nicht mehr zu bewegen.

Er schloß erschöpft die Augen. Eine Tür in der Betonwand öffnete sich fast lautlos. Der Arzt

trat ein. Er trug einen weißen Kittel und trocknete sich gerade

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die Hände mit einem Handtuch ab. Rasch schaute er sich um: »Ich hatte bis jetzt mit einer heiklen

Untersuchung zu tun. Haben Sie alles vorbereitet?« Die Schwester nickte. Der Mediziner setzte sich, überprüfte die Geräte,

kontrollierte Bild und Ton der Monitore. Schließlich erhob er sich von seinem Drehsessel und schlenderte zum Bett des Patienten.

Im gleichen Augenblick richtete James Duncan wieder seinen Kopf auf. Sein Blick traf den Arzt. Sein Körper zuckte zusammen.

Fassungslos murmelte er: »Doktor! Sie? Was hat das alles zu bedeuten?«

»Mund halten!« fuhr ihn die Schwester an. »Das Experiment beginnt gleich.«

Kühl und sachlich fragte der Arzt seine Assistentin: »Hat jemand in der Klinik gemerkt, daß der Patient verschwunden ist?«

Sie schüttelte den Kopf: »Bis jetzt noch nicht.« »Wann wird er sterben?« »Ich habe ihn vorhin genau untersucht. Die Geräte zeigen

deutlich, daß sein Körper bereits abbaut.« »Verdammt! Das kann sich ja noch Stunden hinziehen.

Schließlich ist das ja nicht irgendwer. In ein paar Stunden wird die ganze Welt nach ihm suchen. Die Sache muß sofort erledigt werden.«

Fragend schaute die Krankenschwester den Arzt an: »Die Schock-Spritze?«

Er nickte. Gemeinsam schlossen sie insgesamt zwanzig Klemmen an

den Körper des Patienten an. James Duncan spürte Flammen durch sein Gehirn blitzen: Er hatte es aufgegeben, sich gegen sein Schicksal zu wehren.

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Die Krankenschwester trat an einen Schrank, öffnete ihn und nahm einige Phiolen heraus. Dann zog sie damit eine Spritze auf und setzte die Injektionsnadel hinter Duncans Ohr an. Fragend blickte sie auf den Arzt.

»Jetzt?«, erkundigte sie sich. »Okay!«, nickte dieser und hob die Hand. Mit einem schnellen Ruck stieß die Schwester dem Patienten

die Nadel ins Hautgewebe. Der kranke Körper bäumte sich auf und fiel, dann schlaff zusammen.

Die Krankenschwester injizierte das Schock-Serum: »Wenn der wüßte, was ihm bevorsteht. Es ist soweit, Doktor: Die Reise ins Jenseits kann beginnen.«

Der Arzt nickte: »Unser vierzehntes Experiment dieser Art. Müßte uns eigentlich Glück bringen!«

*

Der schwarze Rolls-Royce glitt nahezu lautlos aus dem Park von Fetherham, passierte das schmiedeiserne Tor und bog dann nach links ab, um in raschem Tempo nördlich Kurs in Richtung Bedford-Klinik zu nehmen. Ivy Duncan trug ein strenges Kostüm in dunkelbrauner Farbe. Sie sah nicht aus wie 60 Jahre, und schon gar nicht wie die Frau des greisen Schuhfabrikanten James Duncan.

Ivy Duncan richtete sich im Fond des Wagens auf und fragte laut den Chauffeur: »Johnny, wie wird es Mr. Duncan gehen? Sagen Sie mir, was Sie über seine Krankheit denken.«

Johnny räusperte sich. »Ich wage gar nicht daran zu denken: Ich glaube, Sie müssen mit dem Schlimmsten rechnen, Mrs. Duncan. In seinem Alter ist das so. Obwohl ich nicht ausschließen will, daß er sich durchaus wieder erholen kann.«

Daraufhin sprach Ivy Duncan während der ganzen Fahrt kein Wort mehr. Es gab keinen Zweifel: James würde bald

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sterben. Sie wußte aber nicht, wie sie sich auf diese Situation einstellen sollte.

Der Wagen hatte die Bedford-Klinik erreicht und hielt vor der breiten Auffahrt. Kaum hatte Ivy Duncan einen Fuß aus dem Auto gesetzt, da pflanzte sich vor ihr ein junger Arzt auf.

Mrs. Duncan blickte auf und stieß einen Freudenschrei aus: »O Gott, Sammy-Darling, das ist eine Freude, dich zu sehen. Damit hatte ich nicht gerechnet.«

Das Gesicht des etwa 27 Jahre alten Mediziners überzog eine verlegene Röte: »Ich bin erst seit einigen Monaten hier, Mrs. Duncan.«

Sie unterbrach ihn und schüttelte mißbilligend den Kopf: »Also, das mit Mrs. Duncan muß aber schnell ein Ende finden. Ich bin für dich immer noch Tante Ivy, wie wir es in unseren Briefen ausgemacht haben. Immerhin haben wir dich großgezogen und dich wie unseren Sohn geliebt.«

Jetzt fiel der junge Arzt der Millionärsgattin ins Wort: »Und Sie haben mich Medizin studieren lassen. Niemand anderer als Sie und Ihr Gatte hätten mir diesen Traum erfüllen können.«

Ivy Duncan lächelte: »Na, hör mal, Sammy-Darling: Als ich erkannte, daß der hübsche Sohn unseres Gärtners Max Donnels überaus begabt war, da mußte ich doch helfend eingreifen. Besonders, als dann dein Vater starb. Also, merk dir eines: Ich bin für dich Tante Ivy.«

»Danke«, flüsterte Dr. Sam Donnels. Dann fügte er hinzu. »Man hat mich geschickt, dich zu empfangen, weil ich dich unverzüglich zum Chef bringen muß.«

Erschrocken blickte die Frau des Schuhfabrikanten auf: »Sammy, ist etwas mit meinem Mann passiert? Ist er gestorben?«

Dr. Donnels hob die Schultern: »Ich weiß es nicht, Tante Ivy. Und was ich in den letzten Minuten im Haus gehört habe, ist so verrückt, daß es dir der Chef selbst erklären muß.«

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Sie eilten über den Korridor und sprachen nichts mehr miteinander. Endlich standen sie vor dem Büro Dr. Archibald Lovells, des berühmten Prominentenarztes und Klinikbesitzers. Dr. Donnels klopfte zaghaft an.

Ein lautes »Herein!« dröhnte durch die Tür. Dr. Donnels öffnet und steckte seinen Kopf in den Raum:

»Ich bringe Mrs. Duncan.« »Soll hereinkommen«, schnarrte eine tiefe Stimme. »Donnels,

Sie können wieder an die Arbeit gehen. Ich möchte mit Mrs. Duncan allein sein.«

Dr. Donnels verneigte sich vor Mrs. Duncan und ließ sie eintreten. Dann entfernte er sich rasch.

Dr. Archibald Lovell war groß, schlank, breitschultrig mit grauen Schläfen im gewellten Haar. Sein Gesicht war – ganz im Gegensatz zu sonst – bleich. Er streckte der Frau seines Patienten die Hand entgegen und murmelte dann mit belegter Stimme: »Bitte, nehmen Sie Platz!«

Ivy Duncan setzte sich nicht. Sie trat hart auf den Chefarzt zu und fragte: »Dr. Lovell, ich will sofort Klarheit haben. Wie steht es um meinen Mann? Liegt er im Sterben? Oder wird er sich erholen und die Klinik noch einmal verlassen können?«

Leise kam es aus dem Mund des Arztes: »Es tut mir leid, Mrs. Duncan, ich weiß es nicht. Keiner im Haus weiß, wie es Ihrem verehrten Mann geht.«

»Wie ist das möglich?« Ivy Duncan war einem Nervenzusammenbruch nahe.

»Sie werden es nicht für möglich halten. Wir selbst fassen es kaum.«

»Ist mein Mann tot?« »Nein, das heißt: Wir wissen es nicht. Ihr Mann ist seit einer

Stunde aus seinem Zimmer verschwunden. Spurlos verschwunden. Wir stehen vor einem Rätsel.«

Ivy Duncan tat einen erstickten Ausruf und sank in einen

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Sessel, der ganz in ihrer Nähe stand. Sie starrte Entgeistert vor sich hin und flüsterte immer wieder: »Spurlos verschwunden, das kann doch kaum möglich sein, aus dem Bett.«

Leise erklärte ihr der Chefarzt: »Wir ließen Ihren Mann allein, weil er kraftlos und erschöpft wirkte. Er brauchte Ruhe. Die wollten wir ihm ermöglichen. Da wir aber alle wußten, wie schlecht es um Ihren Gatten stand, so schickten wir schließlich Dr. Sam Donnels nach oben. Er kam zurück und überbrachte uns die Nachricht.«

Mit weit geöffneten Augen sah Ivy Duncan Dr. Lovell an: »Wie ist es möglich, daß am hellichten Tag ein Patient, noch dazu ein so prominenter, aus Ihrer Klinik, verschwindet?«

Langsam entgegnete Dr. Lovell: »Ich zermartere mir seit einer Stunde das Gehirn. Es gibt drei Möglichkeiten: Entweder, Gangster haben ihren Mann entführt, um für ihn noch in allerletzter Minute ein Lösegeld kassieren zu können, oder er ist von einer Wahnidee erfaßt worden, hat plötzlich ungeahnte Kräfte entfaltet und sich davongeschleppt. Oder aber, die dritte Möglichkeit: Der Patient ist die Hauptfigur eines magischen Geschehens.«

*

Chefinspektor Callon von Scotland Yard knallte den Telefonhörer mit viel Schwung auf die Gabel, bekam einen roten Kopf und lachte. »Ich habe die Ärzte immer für nüchterne Menschen gehalten. Smith, hören Sie sich das an: Da sagt mir doch der Chef der Bedford-Klinik, daß er an ein übernatürliches Geschehen glaubt, weil James Duncan verschwunden ist. Die Herren Mediziner machen sich die Sache aber sehr einfach. Wenn wir bei Scotland Yard so arbeiten würden, wo kämen wir dann hin?«

Constabler Smith räusperte sich: »Wenn ich mir eine

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Überlegung gestatten darf, Chef. Es ist schon mysteriös, was da in dem Krankenhaus passiert ist. Der Millionär lag todkrank in seinem Bett und ist dann plötzlich spurlos verschwunden.«

Chefinspektor Callon meckerte vor Vergnügen: »Smith, Sie reden aber albern daher. Was heißt, spurlos verschwunden? Ob es wirklich keine Spuren gibt, das werden wohl unsere Spezialisten von Scotland Yard feststellen, die im Augenblick die Klinik durchsuchen. Wäre doch gelacht, wenn die nicht irgendeinen Anhaltspunkt finden würden. Wäre ja noch schöner, wenn die Herren Doktoren sich um die Spurensicherung kümmern müßten.«

Er mußte stark husten und fügte gleich hinzu: »Sollten sich lieber um meinen Bronchialkatarrh kümmern, den ich bei diesem verdammten Nebel nicht los werde!«

Dann lehnte er sich im Sessel zurück und überflog die Personalien des Schuhfabrikanten James Duncan: »72 Jahre alt, verheiratet, Besitzer der größten Kohlenminen und der modernsten Kohlenverarbeitungsmaschinen. Der Mann ist vor allem in den letzten Jahrzehnten durch Brikettherstellung reich geworden. Und als er erkannte, daß das Erdöl und der elektrische Strom die althergebrachte Energieversorgung überholen würden, da hat er schnell auf Schuhfabrikation umgestellt und wurde so zum größten Schuhlieferanten Englands.«

Constabler Smith warf sehnsuchtsvoll ein: »Was gäbe ich darum, wenn ich sein Sohn wäre.«

Knurrte Chefinspektor Callon: »Der gäbe sicher was drum, wenn er einen Sohn hätte. Von einem Seitensprung ist da wohl eine Tochter vorhanden. Aber aus den Akten geht nicht hervor, wie er mit ihr stand, und ob Sie einmal erbberechtigt sein wird.«

Das Telefon schrillte. Chefinspektor Callon hob ab und sein Gesicht wurde

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zusehends ernster: »Aha, also so ist das … natürlich, … ich verstehe … ja, gut … in Ordnung … Danke … wir kommen selbst vorbei.«

Er legte auf und starrte gegen die Decke seines Büros. Constabler Smith verging vor Neugierde. »Nachricht aus der

Klinik?« Callon nickte. »Die haben tatsächlich keine Spuren gefunden.

Wir müssen in unserer Meldung an die Presse mitteilen, daß er spurlos verschwunden ist. Ich denke, daß ist Grund genug, daß wir uns die Situation an Ort und Stelle selbst ansehen.«

Smith lächelte zufrieden. Dann gab er zu bedenken: »Ich glaube, Chef, dieser Dr. Archibald Lovell hat gar nicht so unrecht.«

»Wie meinen Sie das?« »Auch ich bin überzeugt, daß hier übernatürliche Kräfte die

Hand im Spiel haben. Ich weiß nicht warum, aber ich habe da so meine Intuition.«

»Du lieber Himmel«, stöhnte Chefinspektor Callon. »Smith! Verschonen Sie mich mit Ihren Gespenstergeschichten. Der Schlag soll mich auf der Stelle treffen, wenn etwas Okkultes an der Story dran ist.«

Er seufzte, erhob sich und langte mit der rechten Hand zur Schreibtischlampe, um sie auszuknipsen.

Mit einem Aufschrei fuhr er zurück und starrte auf seine schmerzende Hand. Dann fluchte er: »Verdammtes Elektrogerät. Das kommt davon, wenn Scotland Yard die alten Lampen nicht austauscht. Der Knopf ist sicher nicht mehr in Ordnung:«

Constabler Smith meinte: »Chef, ich wäre vorsichtiger: Geheime Mächte haben Sie gewarnt.«

»Was soll denn das nun wieder?« fragte der Chefinspektor unwillig.

Smith erklärte es ihm: »Sie sagten, der Schlag solle Sie auf der

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Stelle treffen, wenn an der Geschichte etwas Okkultes dran wäre. Und schon traf sie ein elektrischer Schlag.«

Callon machte eine wegwerfende Handbewegung und eilte aus dem Dienstzimmer. »Abergläubischer Trottel!«

*

Die Londoner Bedford-Klinik war von Polizei-Einsatzfahrzeugen umstellt. Eine Mannschaft hatte Absperrungsmaßnahmen getroffen. Im Inneren des Gebäudes wimmelte es von Beamten des Scotland Yard. Zeitungsreporter, Pressefotografen und Vertreter des Fernsehens warteten in der Halle des Krankenhauses auf eine offizielle Stellungnahme der Behörden. In ganz England hatte sich die Kunde wie ein Lauffeuer verbreitet: der millionenschwere Fabrikant James Duncan war am hellichten Tag aus dem Krankenhaus verschwunden.

Als Chefinspektor Callon mit einem Sonderfahrzeug in der Klinik eintraf, hatte er alle Hände voll zu tun, um dem Ansturm der Reporter standzuhalten. Er lehnte jeden verbindlichen Kommentar ab und bahnte sich einen Weg zum Büro des Klinikchefs. Er trat ein und warf die Tür hinter sich zu, atmete tief durch und pustete: »Endlich wieder der Pressemeute entronnen.«

Ivy Duncan hatte bisher starr im Sessel ausgeharrt. Jetzt erhob sie sich und streckte dem Chefinspektor die Hand entgegen: »Inspektor, ich bin Mrs. Duncan. Können Sie mir etwas Genaueres über sein Verschwinden sagen?«

»Leider bin ich dazu augenblicklich noch nicht in der Lage«, versicherte Callon.

Hastig fragte Ivy Duncan: »Wie groß ist die Chance, daß er noch lebt?«

Erstaunt blickte der Chefinspektor der Frau in die dunklen

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Augen und antwortete: »Wir wollen vorerst gar nicht daran denken, daß er tot sein könnte. Wir suchen nach einem Lebenden.«

Es klopfte an der Tür. Eine Krankenschwester trat ein und lächelte dem Chefinspektor zu: »Draußen wartet eine Mrs. Carol Summers. Sie ist Journalistin und hat eine dringende Angelegenheit – diesen Fall betreffend – mit Ihnen zu besprechen.«

Ivy Duncan fuhr hoch und bat: »Inspektor, lassen Sie sich doch von der Presse nicht so bedrängen. Sprechen Sie nicht mit dieser Person. Bitte! Sie wird sicher nur Böses über meinen Mann und mich erzählen.«

Spontan fragte Chefinspektor Callon: »Kennen Sie diese Frau?«

Leise kam die Antwort: »Ich erzähle Ihnen das später!« Callon räusperte sich: »Schwester, sagen Sie der Dame, daß

ich für die Presse im Augenblick wirklich keine Zeit habe. Die Leute sollen noch ein wenig Geduld haben.«

Die Krankenschwester schüttelte den Kopf: »Sie will keine Fragen stellen, Inspektor. Sie behauptet, daß Sie zu diesem Fall hier entscheidende Aussagen machen kann, die Ihnen bei der Aufklärung weiterhelfen werden.«

Callon schaute prüfend zu Mrs. Duncan, dann wandte er sich ab und entschied: »Also, gut! Ich komme!«

Er steuerte der Tür zu. Die Krankenschwester öffnete und führte ihn über den Korridor in ein Sprechzimmer. Dort saß eine langhaarige, schlanke Frau und Chefarzt Dr. Archibald Lovell.

Beide erhoben sich, als Callon den Raum betrat. Der Mediziner begann: »Das ist Mrs. Carol Summers, von

Beruf Journalistin. Sie will Ihnen etwas Dringendes mitteilen. Mir wollte sie es nicht anvertrauen.«

Callon ließ sich in einem Fauteuil sinken und sah die hübsche

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Blondine herausfordernd an: »Na, also, dann schießen Sie los mit Ihren Staatsgeheimnissen.«

Carol Summers schlug selbstsicher ihre Beine übereinander und meinte dann: »Der Fall liegt für mich klar auf der Hand. James Duncan, der millionenschwere Besitzer der größten britischen Schuhfabrik, Beteiligter an den bedeutendsten Kohlenbergwerken und Kohleverarbeitungsbetrieben des Landes, hat riesige Besitzungen und ein beachtliches Barvermögen. Er hat eine Frau, aber keine Kinder. Das heißt: keine ehelichen Kinder. Es existiert nur eine uneheliche Tochter, die er allerdings über alles liebt.«

Chefinspektor Callon fragte ungeduldig: »Würden Sie mir verraten, was diese Details mit dem augenblicklichen Verschwinden des Patienten zu tun haben?«

»Sehr gern tue ich das!«, triumphierte Carol Summers. »Sie werden nicht wissen, daß James Duncan vor gar nicht langer Zeit diese uneheliche Tochter als Alleinerbin eingesetzt hat. Seine Ehefrau erlitt einen Nervenzusammenbruch, als sie das erfuhr. Seit diesem Zeitpunkt haßte sie diese uneheliche Tochter.«

»Weiter«, drängte Callon. »Die Pointe kommt noch. Wer also ist am meisten daran

interessiert, daß ein verstorbener James Duncan verschwindet, damit sein Leichnam unauffindbar wird und daher die Behörde niemals seinen Tod offiziell feststellen kann? Natürlich Mrs. Ivy Duncan. Gibt es einen toten Mr. Duncan, dann verliert die Frau das Vermögen und alles fällt der unehelichen Tochter zu. Bleibt James Duncan unauffindbar, so muß man annehmen, daß er lebt. Es kann daher keine Erbschaft zugeteilt werden.«

Der Chefinspektor pfiff durch die Zähne: »Und Sie meinen, daß die eigene Ehefrau ihren Mann aus dem Krankenhaus geholt hat.«

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Carol Summers nickte: »Ich nehme an, daß er auf Grund seines Herzleidens starb. Die Leiche wurde dann entführt. Vielleicht sind sogar Ärzte in diesem Haus bestochen worden, um bei der ganzen Angelegenheit mitzuhelfen.«

Jetzt sprang Dr. Archibald Lovell empört auf: »Ich möchte doch sehr bitten, Mrs. Summers, sich in Ihren Äußerungen zurückzuhalten. Sonst müßte ich von Ihnen in meinem Namen und im Namen meiner Kollegen vor Gericht Beweise für Ihre haltlosen Anschuldigungen fordern!«

Chefinspektor Callon machte der Szene ein Ende, gebot Ruhe und sah die Journalistin ernst an: »Sie sagen da sehr interessante, aber auch sehr schwerwiegende Dinge. Was berechtigt Sie dazu? Haben Sie Beweise?«

Sie lächelte überlegen und antwortete: »Was brauche ich viel Beweise, Chefinspektor. Es wird Ihnen genügen, wenn ich Ihnen sage, wer ich bin.«

»Und wer sind Sie?« »Carol Summers, die Tochter von James Duncan, Alleinerbin

seines Vermögens.« *

Ausgestreckt und starr lag James Duncan auf dem Bett. Die Arme waren längst nicht mehr angeschnallt.

Von seinem Kopf, der Brust und dem Nacken führten zahllose Drähte zu den nebenstehenden Apparaturen, die auf Hochtouren arbeiteten.

Die Krankenschwester saß vor einem Monitor und verfolgte jede Bewegung auf dem Bildschirm. Sie war seit über einer Stunde allein mit dem reglosen Körper des Millionärs.

Jäh ging die Türe in der Wand auf. Der Doktor trat wieder ein: »Etwas Besonderes vorgefallen?«

Sie schüttelte den Kopf. Der Arzt setzte sich an ihre Seite.

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Gemeinsam starrten sie auf den Monitor. Er zeigte deutlich viele zarte weiße Querlinien, zwischen denen ein Lichtpunkt hin und her hüpfte.

Betroffen murmelte der Doktor: »Ich bin immer wieder fasziniert, wenn ich dem Delpasse-Experiment beiwohnen kann. Doch wir müssen mehr daraus machen.«

Er legte eine Pause ein und fragte dann: »Ist alles korrekt verlaufen?«

Die Krankenschwester zog einen Notizblock heran und las ihrem Chef vor: »Kaum, daß Sie gegangen waren, wirkte die Schockinjektion. Der Körper leistete keinen Widerstand mehr. Herz, Atmung setzten aus. Gehirn und Intuition arbeiteten normal weiter. Nach einer weiteren halben Stunde entwickelte der klinisch tote Patient starke Gehirnaktivitäten. Er schmiedete, wie ich aus den Monitoraufzeichnungen entnehmen konnte, Pläne für die Zeit, da er wieder gesund sein würde. Nach weiteren 20 Minuten wurden diese Gedanken sichtlich unsicher. Das beweisen die Zick-Zack-Kurven auf dem Gehirnschreiber.«

Der Doktor sinnierte: »Also auch bei ihm wieder der gleiche Fall: Die Gehirntätigkeit endete nicht mit dem körperlichen Tod des Menschen.«

Die Krankenschwester korrigierte ihn: »Er ist ein Musterbeispiel für unsere Experimente. James Duncan ist nunmehr mehrere Stunden tot. Schauen Sie auf den Monitor. Geist und Seele haben seinen Körper noch immer nicht restlos verlassen und arbeiten wie bei einem Lebenden. Er hat den Weg ins Jenseits noch gar nicht angetreten.«

Der Mediziner spöttelte: »Er wird doch nicht als Gespenst auf Erden bleiben wollen.«

»Da sehen Sie nur!«, rief die Schwester aus und deutete auf den Monitor. Hier war es ganz deutlich zu sehen: Die Wellen der Gedankenströme, sowie die Impulse seines Seelenlebens

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wurden schwächer und schlugen nach oben aus. Die Ausschläge auf den Geräten wurden hektisch.

»Es ist soweit«, murmelt der Doktor. »Die Seele und der Geist haben sich endgültig mit dem irdischen Tod des Körpers abgefunden. Sie steigen aus der Hülle des Körpers und schwingen sich in die andere Welt empor. Schwester, Sie dürfen Seele und Geist nicht aus den Augen verlieren. Verfolgen Sie die beiden bis ins Jenseits. Lassen Sie Geist und Seele dort eine Zeitlang ausharren, aber holen Sie mir beide wieder sicher zur Erde zurück.«

Mit ernstem Gesicht murmelte die Schwester: »Es muß uns doch endlich gelingen, Geist und Seele nach dem Aufenthalt im Jenseits wieder in den toten Körper zurückzuholen, eine Einigkeit von Geist, Seele und Körper wiederherzustellen und den Menschen ins Leben zurückzurufen.«

Die Augen des Arztes leuchteten auf: »Dann endlich werden wir erstmals einen glaubhaften Zeugen haben, der uns über das Jenseits Bericht geben kann. Bisher war alles ja doch nur Vermutung. Was uns vorliegt, sind Erzählungen von klinisch toten Menschen. Die sind für mich nicht verbindlich. Wenn ich meinen Bericht der Welt vorlegen werde, muß er sich auf der Aussage eines wahrhaft Toten, den wir allein durch unsere wissenschaftlichen Forderungen ins Leben zurückgerufen haben, aufbauen.«

Im Monitor begann ein seltsames Summen. Dann verfärbten sich die beiden weißen Linien dunkelrot.

»Es ist soweit«, erklärte die Krankenschwester. »Geist und Seele von James Duncan sind ins Jenseits eingetreten. Wir müssen abwarten, was uns James Duncan später alles erzählen wird.«

Der Doktor nickte und forderte die Schwester auf: »Konzentrieren Sie sich. Lassen Sie die Linien nicht aus den Augen. Verfolgen Sie sie mit dem Peilstrahl. Und wenn sich die

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Schwingungen blau färben und zu zittern beginnen, müssen Sie Apparat GXC einschalten und Seele und Geist zur Rückkehr zur Erde zwingen.«

Beeindruckt drängten sich die beiden vor dem Monitor zusammen.

Die Krankenschwester flüsterte aufgeregt: »Da, sehen Sie nur, Doktor, die Wesenheit James Duncans hat sich rasch im Jenseits zurechtgefunden. Die Impulse werden bereits blau. Höchste Zeit für unseren Versuch.«

Mit aller Kraft betätigte sie einen Knopf. Ein Schwirren lag in der Luft. Der Apparat vibrierte. Die bläulichen Linien auf dem Monitor begannen wie verrückt umherzutanzen. Sie führten immer kleinere Wellenlinien aus und waren schließlich ganz gerade und glatt.

Jäh begannen sie erneut im Zick-Zack auf und ab zu kurven. »Verdammt, sie wehren sich gegen eine Zurückberufung aus

dem Jenseits,«, seufzte die Krankenschwester. Das Gerät wurde ganz heiß und begann zu glühen. Am

Monitor wechselten in unheimlich rascher Folge die Farben Weiß, Rot und Blau.

»Ich habe plötzlich keine Kraft mehr, das Gerät zu bedienen«, brüllte die Schwester. Der Arzt warf sich mit dem Oberkörper und den beiden Händen gegen das Gerät.

Endlich wurden die Schwingungen auf dem Monitor langsamer und regelmäßiger.

»Geschafft«, murmelte der Arzt und schickte die Krankenschwester zum Bett des Toten. Sie setzte sich an den Körper-Kontrollapparat.

Der Mediziner fragte: »Temperatur des Toten?« Rasch kamen die Antworten: »36,5 …!« »Hautverfassung?« »Durch die künstliche Wärme keine Flecken.« »Nervenreaktionen?«

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»Nicht mehr vorhanden. Simulator ist auf Stärke vier eingestellt, entsprechend dem Temperament des Verstorbenen.«

Aus dem Lautsprecher des Monitors heulte es auf. Doch es war erstmals kein technischer Lärm. Es waren Stimmen.

Leise konstatierte die Krankenschwester: »Geist und Seele kehren zurück. Jetzt muß es gelingen.«

Arzt und Schwester bedienten sämtliche Knöpfe und Hebel der Geräte am Bett.

Dann brüllte der Doktor: »Jetzt!!!« Zugleich schalteten sie ihre Geräte aus. Die Technik sollte bei

der Rückkehr in den toten Körper für Geist und Seele nicht vorhanden sein.

Es war ganz still im Raum. Gespannt starrten Arzt und Assistentin auf den toten James

Duncan. Sie warteten auf das geringste Lebenszeichen. Vergebens. Dafür aber vibrierte die Luft im Raum, wurde heiß und

verursachte seltsame Geräusche, die im Ohr wie das Schneiden von Metall klangen.

Und dann drohte der Krankenschwester der Atem zu versagen. Die Luft wurde zum Schneiden dick. Sie rang nach Sauerstoff und preßte sich beide Hände gegen die Brust. Angstvoll starrte der Doktor zur Zimmerdecke. Sekunden später schwoll ein heulender Ton zu unerträglicher Lautstärke an, flaute wieder ab und verwandelte sich in eine mächtige Stimme, die im Raum schwebte und von den Wänden widerhallte.

Es war eindeutig die Stimme des verstorbenen James Duncan. Drohend ließ sie sich vernehmen: »Was habt Ihr mit mir gemacht? Ihr habt mich aus dem Jenseits zurückgezwungen. Mein Körper ist tot. Was soll ich hier?«

Ein unheimliches Heulen schwang von Wand zu Wand und

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verursachte einen Sturm. Dann fuhr die Stimme fort: »Ich bin eine Seele mit Geist und

Stimme. Sonst nichts. Der Weg ins Jenseits ist mir nicht mehr möglich. Die Rückkehr zur Erde ist mir ebenfalls versagt. Ich bleibe ein Sein im Zwischenreich. Ihr werdet das büßen, denn es ist einzig und allein Eure Tat.«

Die Stimme verlor sich. Der Doktor murmelte: »Verdammt, wieder mißglückt. Dabei

habe ich jahrelang an diesem Projekt gearbeitet. Vielleicht wird es beim nächsten Mal gelingen.«

Bleich starrte er aufs Bett hinüber: »Wir müssen den Toten wegschaffen.«

Die Krankenschwester klammerte sich an den Arzt und blickte ihn angstvoll an: »Doktor, ich habe panische Angst. Jetzt sind es bereits vierzehn Stimmen, die uns verfolgen und uns das Leben zur Hölle machen werden. Ich weiß nicht, ob ich das durchhalte. Sie werden uns eines Tages vernichten, ich weiß es.«

Das Herz schnürte sich ihr zusammen. Sie begann lauthals zu schreien. Abrupt hörte sie auf und murmelte mit bebenden Lippen: »Doktor, ich steige aus. Und wenn Sie mir noch soviel Geld bieten. Das war das letzte Experiment, das ich mitgemacht habe. Suchen Sie sich eine andere Assistentin.«

»Du weißt, was das bedeutet. Ich habe dich aus der Gosse herauf in die gute Gesellschaft geholt. Du kannst dir denken, was ich nun tun muß. Wenn du aussteigst, mußt du sterben.«

Trocken antwortete sie: »Es ist egal, ob Sie mich aus dem Weg räumen, oder ob mich die Stimmen der Verstorbenen zum Wahnsinn treiben.«

Er schrie vor Zorn auf, stürzte sich auf die Schwester und klammerte seine Finger fest um ihren Hals.

*

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»Sie tun mir unrecht!«, sagte Ivy Duncan mit zitternder und anklagender Stimme zu Chefinspektor Callon in dessen Büro von Scotland Yard.

Callon klopfte mit den Fingerspitzen auf die Schreibtischplatte: »Aber Sie müssen doch zugeben, daß die Zusammenhänge mehr als verdächtig erscheinen.«

Scharf fragte Ivy Duncan: »Was hat Ihnen Mrs. Carol Summers erzählt? Ich habe ein Recht, das zu wissen!«

»Gern«, nickte Chefinspektor Callon. »Sie behauptet, daß Mr. James Duncan nicht Sie, seine Ehefrau, sondern Mrs. Summers zur Haupterbin seines Vermögens eingesetzt hat. Und daraus resultiert, daß es Ihnen, Mrs. Duncan, nur angenehm sein könnte, wenn Ihr Gatte nicht gefunden wird, falls er wirklich tot sein sollte.«

Blaß saß die Frau des Schuhfabrikanten da und stammelte: »Ich weiß nicht, was im Testament meines Mannes steht. Daher würde ich bitten, daß wir sofort zu Dr. Quant, unserem Rechtsanwalt, fahren und ihn um den Text des Testaments bitten. Er muß das in diesem Fall tun, auch wenn es noch nicht klar ist, ob mein Mann tot ist oder nicht.«

Chefinspektor Callon war einverstanden. Sie verließen das Polizeigebäude. Vor dem Portal stand Dr.

Sam Donnels und verneigte sich vor Ivy Duncan: »Ich habe mir gedacht, ich kümmere mich ein wenig um Sie. Ich habe heute meinen freien Tag. Wenn ich irgend etwas für Sie tun könnte, wäre ich glücklich.«

»Das ist lieb, daß Sie an mich denken. Mein Mann würde das sicher sehr anerkennen. Es ist schön, in einer so schweren Stunde einen Menschen an seiner Seite zu haben. Begleiten Sie mich und Inspektor Callon doch zum Anwalt.«

Sie fuhren mit einem Polizeiauto und waren in wenigen Minuten beim Büro von Dr. Quant. Der Anwalt verabschiedete

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gerade einen Klienten und bat die Herrschaften in sein Zimmer. Er hörte sich das Anliegen von Chefinspektor Callon an und meinte dann seufzend: »Gern tu ich es allerdings nicht. Was ist, wenn Mr. Duncan morgen bei mir auftaucht und meinen Vertrag mit mir kündigt? Wer ersetzt mir diesen Verlust?«

Er griff in seinen Aktenschrank und holte James Duncans Letzten Willen heraus. Er las den Text und meinte dann: »Jetzt kann ich mich erst erinnern. Er hat da erst vor einigen Monaten eine seltsame Klausel eingefügt.«

»Wie lautet sie?«, wollte Ivy Duncan wissen. Dr. Quant las: »Sollte mir jemals ein rätselhaftes oder

ungeklärtes Ende zustoßen, so würden all mein Besitz und Geld meiner unehelichen Tochter Carol Summers zufallen, die in den letzten Jahren viel Unrecht erleiden mußte.«

Chefinspektor Callon sprang hoch und fragte: »Gibt es im Testament eine Stelle, die darauf hinweist, daß bei einem normalen Tod des Millionärs auch Mrs. Summers erbt?«

Der Anwalt schüttelte den Kopf: »Nicht, daß ich wüßte. Davon steht kein Wort drin.«

Callon wurde kalkweiß: »Dann hat das Biest also glattweg gelogen, und den Verdacht von sich auf Mrs. Ivy Duncan abgelenkt. Ich glaube, die Person müssen wir einmal genauer unter die Lupe nehmen.«

Sie bedankten sich und verließen das Haus. Chefinspektor Callon entschuldigte sich bei Mrs. Duncan für

die Vernehmung und für den ausgesprochenen Verdacht. Er hatte es plötzlich sehr eilig, ins Präsidium zu kommen. Mrs. Ivy Duncan und Dr. Sam Donnels nahmen sich ein Taxi.

Während der Fahrt begann Dr. Donnels leise: »Ich kenne mich in der ganzen Geschichte nicht recht aus. Aber ich habe den Eindruck, daß Ihnen da jemand böse mitspielen möchte, Mrs. Duncan.«

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»Das kann man wohl sagen. Und darum, lieber Sammy, sage ich Ihnen: Ich muß das Geheimnis um das Verschwinden meines Mannes so rasch wie möglich klären.«

Dr. Donnels dachte ein wenig nach und begann dann: »Ich könnte Ihnen dabei helfen.«

Sie schaute ihn fragend an. Er sprach weiter: »Ich bin zwar noch nicht sehr lange in der Klinik, wie Sie wissen. Doch ich kenne mich in dem Haus schon recht gut aus. Und deshalb möchte ich Wetten, daß es irgendwo geheime Türen und Räume gibt. Man hätte den schwachen und sterbenden Mr. Duncan kaum aus dem Haus schaffen können, ohne daß es jemand bemerkt hätte.«

»Sie haben recht«, entgegnete Mrs. Duncan. Dr. Donnels war voller Eifer: »Wir treffen uns in den

nächsten Tagen in der Klinik und durchsuchen das ganze Gebäude, vor allem in den unterirdischen Geschossen. Wer weiß, vielleicht finden wir Ihren Mann dort.«

Ivy Duncan sah den jungen Arzt verwirrt an: »Sie wollen das wirklich tun? Aber – ich habe Angst davor. Sie wissen: Ich habe ein schwaches Herz. Und ich würde vielleicht schon vor Aufregung sterben, wenn wir nur durch das Haus schleichen und uns umsehen.«

»Keine Sorge. Da sichere ich Sie schon ab«, wandte Dr. Donnels ein. »Sagen wir: Treffen wir uns übermorgen in meinem Ärztezimmer in der Bedford-Klinik.«

Sie nickte und hatte dabei das dumpfe Gefühl, daß sie einer unheilvollen Expedition entgegenging.

*

Die Schritte der Besucher hallten durch die Hallen des Louvres in Paris.

Dr. Leon Duvaleux, Direktor des Parapsychologic

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Department, schlenderte mit einem Kollegen der Interpol Brüssel durch eine der Gemäldegalerien. Vor einem Bild, das mit dem Titel »Mutter« versehen war, blieben sie stehen. Dr. Duvaleux sah gar nicht hin. Er kannte die ausgestellten Werke bereits sehr genau. Doch sein Gast starrte empor und flüsterte: »Diese frappante Ähnlichkeit mit Ihrer Mutter, Monsieur Duvaleux.«

Dr. Duvaleux begann zu lachen: »Also, das ist mir noch nie aufgefallen. Das ist doch ein ganz anderer Typ von Frau.«

Er sprach nicht weiter. Er schaute auf das Werk vor sich und mußte zugeben: Das Gesicht war anders als sonst. Es sah nicht nur dem seiner Mutter ähnlich; es war das Antlitz seiner Mutter.

Ehe er etwas dazu sagen konnte, bewegten sich die Lippen auf dem Bild. Und die Stimme sagte: »Ich sitze zu Hause, mein lieber Leon. Aber ich habe etwas so Wichtiges, daß ich es dir sofort mitteilen muß. Ich finde, dies hier ist wohl die beste Gelegenheit, mit dir auf telepathischem Weg zu reden.«

Dr. Leon Duvaleux trat ans Bild heran und fragte, indem er sich auf seine Mutter in der Rue de Garvens konzentrierte: »Was ist passiert?«

Sie sagte leise: »Gut, daß du Joe Baxter und seine beiden Assistentinnen schon nach London gesandt hast. Es war richtig, daß sie noch nicht eingegriffen haben. Das Verschwinden eines Millionärs aus einem Krankenhaus ist – und wenn es unter noch so mysteriösen Umständen geschieht – noch kein Grund für das Parapsychologic Department, die Arbeit aufzunehmen. Doch meine Karten sagen mir soeben, daß sich die Situation zuspitzt. Noch heute wird der Fall in der Bedford-Klinik okkulten Charakter erhalten. Es werden sich vierzehn Wesen aus einer anderen Welt melden.«

*

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»Skalpell!«, forderte Dr. Archibald Lovell rasch und sicher und streckte seine Hand nach dem Operationsinstrument aus. Sofort reichte ihm die Operationsschwester das Gewünschte.

»Pinzette!« Wieder das gleiche forsche Bitten, die gleiche Geste. »Tupfer …!« Die Operation lief wie am Schnürchen ab. Dr. Lovell war

Experte für Herzklappeneingriffe. Konzentriert – das ernste Gesicht hinter der Arztmaske

verborgen – arbeitete der Chirurg an seinem Patienten. Die geöffnete Stelle im Brustkorb des Kranken klaffte weit auseinander und war rundum mit Operationstüchern abgedeckt.

Plötzlich hielt Dr. Lovell in seinen gewohnten Handgriffen inne. Etwas war anders im Operationssaal als sonst. Der Chirurg blickte auf und sah sich um.

Und dann zuckten alle rundum zusammen. Über ihnen schwebte eine Stimme, die deutlich rief: »Zittere

nicht wieder, Doktor Lovell, wie du es vor einem Monat bei mir gemacht hast!«

Atemberaubende Stille. Dann klang die Stimme weiter: »Ich bin die Wesenheit von

Peter Zambrovsky. Kannst du dich an mich erinnern? Herzkrank. Operation durch Dr. Lovell. Vier Tage nach dem Eingriff bin ich gestorben. Wäre ich im Jenseits, würde ich dir deinen Kunstfehler längst verziehen haben. Denn das erste Gebot im Jenseits ist das Verzeihen irdischer Verfehlungen. Aber hier in der Klinik gibt es einen unruhigen Geist, der die Toten nicht ruhen lassen will und der sie aus dem Jenseits zurückholen möchte, um zu erfahren, wie es dort aussieht.«

Das Skalpell des Chirurgen zitterte in seiner Hand. Die unheimliche Stimme brachte ihn aus der Fassung. Er

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konnte sich sehr wohl an den Fall Peter Zambrovsky erinnern. Ein verdammtes Pech.

Dr. Archibald Lovell wandte sich seinen Kollegen und den Schwestern zu. »Wer unter Euch hat sich diesen Trick ausgedacht, um mich bei der Operation zu stören?«

Ein schallendes Gelächter hallte von den Wänden wider und brach sich klirrend direkt über der OP-Lampe. Dann summte eine Stimme in den Ohren des Arztes: »Das ist kein Trick, Dr. Lovell. Ich – Peter Zambrovsky – bin es wirklich. Mein Körper verwest hier irgendwo in den Kellern der Klinik. Aber meine Stimme und meine Seele werden vom Jenseits gewaltsam ferngehalten. Und an unserem tragischen Zustand ist ein Arzt Eurer Klinik schuld, Dr. Archibald Lovell. Hast du jetzt verstanden? Aber wir werden uns rächen und alle bestrafen, die an unserem Schicksal mit schuld sind. Ich, Dr. Lovell, wollte mich als erster bei dir melden, weil ich in erster Linie dir meinen Tod und mein Hiersein verdanke.«

Dicke Schweißtropfen zeichneten sich auf der Stirn des Klinikchefs ab. Er war nicht mehr fähig, das Skalpell zu halten. Auch die anderen standen unter der Einwirkung eines tiefen Schocks. Dr. Lovell war am Ende seiner Kräfte, daher reichte er seinem ersten Assistenten das Messer: »Machen Sie weiter, Doktor, bevor der Mann hier stirbt. Ich kann nicht mehr.«

Der Chirurg durchquerte den OP, drückte die Tür auf, wankte über den Korridor wie ein Betrunkener und öffnete schließlich die Tür zu seinem Büro. Er hatte ganz vergessen, die Handschuhe sowie den Operationsmantel und die Arztmaske abzulegen. Er stand da und zitterte am ganzen Körper.

Da hörte er jemand auf dem Korridor vor der Tür. Es waren Schritte. Die Türklinke senkte sich und die Tür sprang auf.

»Ich will allein sein! Wer ist …?« Dr. Lovell blieb die Frage in der Kehle stecken. Da stand niemand in der Tür. Nur eine

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Stimme schnarrte: »Bin ich hier richtig bei Dr. Lovell, dem Chef der Klinik? Mein Name ist Charles Wonder. Ich wäre in dieser Klinik gern in Ruhe gestorben. Doch ich wurde um Stunden verfrüht ins Jenseits befördert. Mit einer Schock-Injektion. Wenn ich dann im Jenseits hätte verbleiben können, so wäre dies ja noch verzeihbar gewesen. Doch man hat mich wieder zur Erde zurückgeholt. Und jetzt bin ich da: eine Vereinigung von Geist und Seele ohne Körper, aber mit der Möglichkeit zu sprechen.«

Dr. Lovell war zur Wand zurückgewichen. Er murmelte: »Was wollt Ihr alle von mir? Was habe ich Euch getan? Seit wann kann man die Stimmen von Toten hören?«

Ein höhnisches Lachen war die Antwort. Dann fiel die Türe zu. Dr. Archibald Lovell war am Ende seiner Nervenkraft. Er

wimmerte wie ein gejagtes Tier, riß sich Handschuhe, Arztkittel und Maske herunter und ließ alles liegen. Dann stürzte er zur Tür hinaus. Mit raschen Schritten eilte er den Korridor entlang. Einige Schwestern blickten ihm erstaunt nach. Er war so anders als sonst.

Kaum bog er um die Ecke, da prallte wieder die Stimme einer unsichtbaren Gestalt auf ihn zu: »Dr. Lovell, wie schön, daß ich Sie hier treffe. Ich bin James Duncan, der verschwundene Millionär. Das heißt: Ich bin sein Geist und seine Stimme. Mehr ist nicht mehr vorhanden. Ich weiß, wer mich aus meinem Krankenzimmer entführt und wer mit mir ein makabres Experiment angestellt hat. Dr. Lovell … dieser Schuldige wird bald eines grausamen Todes sterben.«

Dr. Lovell hielt sich die Ohren zu und lief zum Ausgang der Klinik. Dabei brüllte er, so laut er konnte: »Nein, nein, nein! Laßt mich doch in Frieden. Ich will Eure Stimmen nicht hören. Verschwindet wieder. Ich ertrage Euch nicht.«

Als er in die Vorhalle der Klinik kam, klangen aus allen

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Ecken unheimliche Stimmen. »Dr. Lovell, hier bin ich … hören Sie mir doch zu!« »Hallo, Dr. Lovell, wollen Sie nicht auch die Stimme einer

toten Frau hören?« »Doktor, meine Stimme soll Sie bis ins Bett verfolgen.« »Aufhören, aufhören! Warum hilft mir denn niemand?«

keuchte der Chirurg, passierte die Portierloge seiner Klinik und rannte auf den Parkplatz. Keuchend und vollkommen außer Atem ließ er sich hinter das Steuer seines Wagens fallen. Wie in Trance startete er und fuhr weg.

Er raste auf der Straße dahin und wußte nicht, wohin er eigentlich wollte. Nur fort von der Klinik.

Instinktiv griff er mit der Hand zum Autoradio, um sich durch Musik ablenken zu lassen.

Erstarrt trat er auf die Bremse. Es ertönte keine Musik, auch nicht die Stimme eines Sprechers.

Es war eine Stimme aus der anderen Welt, die ihn auch auf der Fahrt verfolgte: »Hallo, Doktor Lovell, warum fliehen Sie vor uns? Kein Grund zur Aufregung. Ich will mich vorstellen: Mein Name ist Conrad Battles. Ich war auch einer von jenen, die in Ihrer Klinik starben und dann verschwanden. Nur – bei mir gab es kein Aufsehen wie bei Mr. Duncan. Klar: Ich war ja auch nur ein armer Teufel und kein Millionär.«

Dr. Lovell rang nach Luft: »Ich habe nie gewußt, daß in meiner Klinik Menschen verschwinden.«

»O doch!« hallte die Stimme durch das: fahrende Auto: »Sie haben es gewußt und sogar sehr gern gesehen. Denn als gutbezahlter Arzt mußten Sie ja auf Ihren Ruf bedacht sein. Und der Ruf eines Klinikchefs ist um so besser, je weniger Patienten bei ihm als verstorben gemeldet werden. Also mußten einfach Tote, bei denen keine Komplikationen zu erwarten waren, verschwinden.«

Dr. Archibald Lovell brüllte immer wieder vor sich hin:

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»Laßt mich doch in Frieden! Ich ertrage Euch nicht.« Er hatte jegliches Gefühl für Geschwindigkeit verloren. In

der nächsten Linkskurve verlor er die Herrschaft über den Wagen. Er war nicht mehr Herr seiner Sinne, sein Wagen kam von der Straße ab und prallte an einen Baum.

Dr. Lovell hatte Glück. Er wurde in weitem Bogen aus dem Fahrzeug geworfen und landete in einem Acker. Er war bewußtlos, kam aber nach wenigen Minuten wieder zu sich. Als er die Flammen des brennenden Wagens sah, schrie er: »Ich möchte sterben. Die Stimmen der Toten sind schlimmer als jede Krankheit.«

Er schrie immer noch als ihn schon Rettungsmänner am Unfallort in eine Zwangsjacke steckten. Er tobte noch Stunden später in seiner Gummizelle und bedrohte jeden, der in seine Nähe kam.

*

Der Schreibtisch sah aus, als wäre der Besitzer eben aufgestanden. Überall lag kriminalistische Fachliteratur gestapelt. Ein romantisches Zimmer mit offenem Kamin, Pantoffeln und einem gemütlichen Ohrensessel.

Joe Baxter betrachtete alles genüßlich und meinte dann verträumt: »Das also ist das Arbeitszimmer des berühmten Sherlock Holmes!«

»Sehr wohl, Mr. Baxter!« nickte der Brite im grauen Anzug, der die drei Besucher vom Parapsychologic Department durchs Haus führte.

Viola Oggi kicherte: »Der hatte es noch einfach beim Lösen seiner Krimifälle. Der mußte noch nicht auf okkulte Wahrnehmungen Rücksicht nehmen.«

Ernst meinte der Museumsführer: »Da muß ich Mrs. Oggi widersprechen. Gerade Sherlock Holmes war bekannt dafür,

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daß er seiner Zeit voraus war und sich schon damals mit übersinnlichen Phänomenen befaßte.«

Baxter lächelte still vor sich hin. Dann sah er Olga Dussowa und Viola Oggi an: »Ich als geborener Engländer darf ja sagen, was ich mir denke: Was sind wir Briten doch für überhebliche Menschen! Wir zeigen das Zimmer eines Mannes her, der nie existiert hat. Mehr noch: Wir erzählen von Eigenschaften, die er niemals haben konnte.«

Olga Dussowa fragte mit ihrer leicht rauchigen Stimme und warf dabei die langen schwarzen Haare auf den Rücken: »Was meinst du damit, Joe?«

Baxter lachte: »Nun ja, dieser berühmte Sherlock Holmes war doch nichts anderes als die Romanfigur von Sir Arthur Conan Doyle. Aber sie wurde so populär, daß wir Briten sie einfach nachträglich zum Leben erweckt haben.«

»Ich bitte Sie, Sir!«, rief der Museumsführer empört aus. »Warum mußten Sie der Dame die Illusion rauben?«

Baxter antwortete: »Die Dame hat keine Illusionen mehr, seitdem sie beim Parapsychologic Department arbeitet.«

Viola Oggi gähnte: »Joe, ich bin müde und habe Hunger. Wir sollten ins Hotel zurückfahren.«

Joe Baxter wollte etwas sagen. Doch da spürte er Impulse in seinem Hinterkopf.

»Der Chef«, sagte er, machte kehrt, eilte ins Zimmer des Detektivs Sherlock Holmes und ließ sich in dessen Denkersessel niedersinken. Leise sagte er: »Ich möchte testen, ob man hier wirklich so herrlich arbeiten kann.«

Sprach's und fühlte bereits die ersten Gedankenblitze aus Paris, die sich ihm auf telepathischem Weg übermittelten.

»Hallo, Baxter, wo befinden Sie sich gerade?« »Ich bin in der Bude des seligen Sherlock Holmes!« »Bravo, Sie studieren Kriminalgeschichte. Dafür dürfen Sie

dem Parapsychologic Department die Kosten für die Führung

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durch das Haus verrechnen.« »Zu gütig, Dr. Duvaleux, aber ich nehme nicht an, daß Sie

mich deswegen aus Paris anpeilen. Was gibt's?« »Es ist soweit, Baxter. Die Affäre mit dem verschwundenen

Millionär James Duncan hat sich ausgeweitet. Früher gab es keinen Grund für uns, einzugreifen. Noch war kein Beweis für übernatürliches Kräftewirken vorhanden. Jetzt hat sich die Situation verändert.«

»Was ist denn passiert?«, erkundigte sich Baxter neugierig. Dr. Duvaleux antwortete: »Wir haben es gerade von Scotland

Yard per Fernschreiber mitgeteilt bekommen. Morgen wird es vermutlich in allen Londoner Zeitungen stehen: Die Bedford-Klinik ist zu einem Haus der Toten geworden. Da tauchen Geisterstimmen von verstorbenen Patienten auf. Und zwar während der Operation und in den Ärztezimmern. Die Sache ist dem Krankenhauspersonal ebenso wie den Kranken unheimlich. Jetzt gehört der Fall uns, Baxter. Ich vertraue auf Sie und hoffe, daß Sie die Angelegenheit lösen können.«

»Ich werde mir Mühe geben, Chef. Ich bin ja nicht allein. Habe doch meine beiden Assistentinnen bei mir. Olga und Viola werden mir schon tatkräftig helfen, hinter das Geheimnis der Toten zu kommen.«

»Baxter«, fuhr Dr. Duvaleux eindringlich fort. »Diese Stimmen haben den Chefarzt der Klinik irrenhausreif gemacht. Er ist im Augenblick in der Klapsmühle. Schaut Euch den vielleicht einmal an, ehe Ihr Euch im Krankenhaus umseht.«

»Okay«, nickte Baxter, um dann zu spötteln: »Ich kombiniere: Es könnten auch noch weitere Ärzte der Klinik ins Irrenhaus eingeliefert werden.«

*

Chefinspektor Callon wirkte etwas verärgert, als er sich von

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seinem breiten Schreibtisch im Gebäude von Scotland Yard erhob und seinem Besuch entgegeneilte. Er streckte Joe Baxter die Hand hin und verneigte sich vor Viola Oggi und Olga Dussowa. Dann bat er die drei, Platz zu nehmen und ließ sich wieder in seinen Sessel zurückfallen.

»Ich freue mich außerordentlich, Mr. Baxter, daß wir einander wieder einmal begegnen. Der Anlaß allerdings ist für mich recht befremdend. Ich habe gehört, daß Sie von höherer Dienststelle angefordert wurden?«

Joe Baxter nickte: »Ich glaube aber doch mit Recht. Der Fall liegt doch klar auf der Hand.«

Chefinspektor Callon wurde krebsrot im Gesicht und fauchte: »Erstens ist es mein Fall, und zweitens liegt für das Parapsychologic Department nicht die geringste Veranlassung vor, der Anforderung nachzukommen.«

»Da staune ich aber«, lächelte Joe Baxter. »Immerhin versetzen Stimmen aus dem Jenseits Ärzte und Patienten in Panik.«

Die Faust von Chefinspektor Callon sauste auf den Schreibtisch herüber: »Stimmen aus dem Jenseits, wenn ich so was schon höre! Weil ein Arzt überschnappt und in die Klapsmühle gebracht wird, müssen doch noch lange keine übernatürlichen Kräfte am Werk sein. Und sofort ist das Parapsychologic Department zur Stelle! Meine Herrschaften, Ihr müßt wenig zu tun haben, wenn Ihr überall Eure Nase hineinstecken könnt.«

Joe Baxter, Viola Oggi und Olga Dussowa erhoben sich. Viola zuckte mit ihren Schultern und seufzte: »Und ich glaubte, alle Briten seien so höfliche Menschen, Joe. Jetzt weiß ich, daß du ein Ausnahme-Exemplar bist.«

Die Worte trafen Chefinspektor Callon hart. Er faßte sich wieder und stammelte einige Entschuldigungen: »Dieser spontane Gefühlsausbruch tut mir leid, meine Damen. Das

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sollte keine Spitze gegen Sie sein. Ich ärgere mich nur über meine vorgesetzte Dienststelle.«

Baxter trat an den Chefinspektor heran und klopfte ihm auf die Schulter: »Da wir nun aber schon einmal da sind, müssen wir miteinander auskommen. Ich schlage vor, wir sehen uns einmal diesen Dr. Archibald Lovell in der Nervenklinik an.«

»Das ist für meine Ermittlungen nicht wichtig«, entgegnete der Chefinspektor: »Lassen Sie sich durch mich nicht aufhalten. Aber Sie dürfen von mir nicht verlangen, daß ich mit Geisterjägern zusammenarbeite.«

Er ließ Baxter und seine Assistentinnen stehen und rannte aus dem Zimmer.

Kaum war er fort, wurde die Tür aufgerissen. Constabler Smith stand verwirrt da und fragte nach seinem Chef. Baxter erklärte: »Der wird gleich wieder da sein. Aber, Constabler, Sie sind so blaß: Ist etwas Ungewöhnliches passiert?«

Smith nickte: »Ich habe soeben eine Nachricht aus der Bedford-Klinik. Im großen Hörsaal steht hinter dem Rednerpult ein unsichtbares Wesen und hält ein Referat über die Entwicklung der Schuhindustrie in Großbritannien. Die Leute haben Angst und wissen nicht, was das zu bedeuten hat. Sie sagen, es sei die Stimme des verschwundenen Schuhmillionärs James Duncan.«

Baxter befahl schnell: »Ich fahre mit Viola in die Nervenklinik. Du, Olga, läßt dich von einem Taxi ins Bedford-Krankenhaus bringen. Halte Augen und Ohren offen. Wenn nötig, schleiche dich in einer Verkleidung ein.«

*

Die Schritte Joe Baxters, Viola Oggis und des Krankenwärters hallten über den Gang, der zu den Zellen der Patienten führte.

»Wie geht es Dr. Archibald Lovell?« erkundigte sich der

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Hauptkommissar des Parapsychologic Department. Der Wärter machte ein langes Gesicht: »Meine Güte, wie es

eben allen geht, die bei uns eingeliefert werden. Er tobt und schreit, bittet um Hilfe. Er ißt nichts und trinkt kaum etwas. Seit einer Stunde brüllt er in einem fort, daß man ihm sein Gesicht gestohlen hat. Ich denke mir: So ein berühmter Chirurg, der so viele Menschen unter dem Messer hatte, kann eben leicht durchdrehen.«

Sie standen vor der Tür Nr. 85. Der Krankenwärter sperrte auf: »Nehmen Sie sich in acht!« Er zog die Tür auf. Sie traten ein. In einer Ecke vor einem

Tisch saß ein hochgewachsener Mann und blickte aus wässrigen Augen herüber.

»Himmel, um alles in der Welt!«, stieß der Krankenwärter erschrocken hervor und deutete auf den Patienten. Dabei wechselte er seine Gesichtsfarbe und taumelte zurück.

»Was ist denn geschehen?«, wollte Baxter wissen. Mit nahezu tonloser Stimme antwortete der Krankenpfleger:

»Das dort … ist … nicht … Dr. Archibald Lovell. Das ist ein anderer als der, der bei uns eingeliefert wurde.«

»Vielleicht haben Sie sich in der Tür geirrt!« »Ausgeschlossen. Es ist seine Gestalt und seine Kleidung.

Aber er ist es nicht.« Aus der Ecke, in der der Kranke saß, kam ein lautes Röcheln:

Der Patient erhob sich und kam langsam herangeschlurft. Er blickte Baxter traurig an: »Man hat mir mein Gesicht gestohlen. Niemand will mir glauben. Aber ich bin Dr. Lovell. Ich kann es beschwören. Bei meiner Ehre. Ich bin Dr. Lovell.«

Baxter drängte den verzweifelten und völlig zerrütteten Menschen in die Ecke, drückte ihn sanft aufs Bett und setzte sich zu ihm. Dann fragte er klar und deutlich: »Sie sind Dr. Lovell?«

»Ja, natürlich!«

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»Warum sind Sie hier, Doktor?« »Ich habe die Nerven verloren, weil mich die Stimmen toter

Patienten verfolgten. Aber ich bin auch hier nicht sicher. Sie kommen auch hierher. Durch die Wände, durch die Decke und den Fußboden. Sie wollen mich vernichten.«

Hart sagte Baxter: »Ich glaube Ihnen nicht, daß Sie Dr. Lovell sind. Sie sehen nicht so aus wie er. Wer hat Ihnen Ihr Gesicht gestohlen?«

»Das waren auch die Stimmen. Sie kamen und lachten mich aus. Sie sagten, sie hätten einen Vertrag mit einem Feind geschlossen. Und sie hätten ihm vorübergehend mein Gesicht versprochen. Der andere würde das Gesicht dringend brauchen. Wenn ich einwillige, dann hätte ich für immer Ruhe vor den Stimmen.«

»Wie ging's dann weiter?« »Ich weigerte mich. Da sind die unsichtbaren Stimmen über

mich hergefallen. Ich habe zwar keinen Schmerz verspürt, aber plötzlich war mein Gesicht so gefühllos und leer. Und als die Stimmen weg waren, da wankte ich zum Spiegel und erkannte, daß ich ein fremdes Gesicht bekommen hatte.«

Er erhob sich vom Bett und ging im Raum hin und her. Der Krankenwärter räusperte sich: »Also, wenn Sie mich

fragen, meine Herren, so kann es das einfach nicht geben. Ein Gesicht kann man nicht stehlen. Jemand muß geholfen haben, Dr. Lovell aus der Nervenheilanstalt zu schmuggeln. Man hat uns dann diesen Menschen dagelassen und ihn beauftragt, uns die Geschichte mit dem gestohlenen Gesicht zu erzählen.«

Der Patient schrie verzweifelt auf und fiel vor dem Wärter in die Knie: »Sagen Sie nicht so schreckliche Dinge, guter Mann. Ich bin Dr. Lovell und würde alles opfern, wenn ich nur mein Gesicht wieder haben könnte.«

Baxter glaubte ihm. Er wandte sich an den Krankenwärter: »Testen Sie den Patienten!«

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»Wie kann ich das?« »Schlagen Sie ihm kräftig ins Gesicht!« Zögernd trat der Krankenwärter an den Mann heran, hob die

Hand, holte aus und schlug zu. Er traf ins Nichts und fiel durch den Schwung, den er in

einem leeren Raum vollzogen hatte, der Länge nach auf den Boden hin. Vor Schreck erstarrt blieb er zuerst liegen. Dann raffte er sich auf und sah Baxter ängstlich an. »Das war unheimlich. Ich werde diesen Schlag niemals vergessen. Ich habe deutlich das Gesicht gesehen. Doch als ich ihn schlug, war da nichts. Der Mann hat nur ein imaginäres Gesicht.«

Dann lief er fort. Baxter wandte sich an Dr. Lovell: »Ich glaube Ihnen zwar

ihre Geschichte, doch ich möchte die genauen Hintergründe kennen. Dazu muß ich eine Blitzsitzung abhalten und Kontakt mit einer von diesen Totenstimmen aufnehmen. Legen Sie sich bitte aufs Bett.«

Viola Oggi wußte Bescheid. Sie rückte einen Sessel heran und ergriff Dr. Lovells Hand.

Baxter stellte sich vor den Liegenden, legte ihm die Handflächen auf die Stirn und sprach auf ihn ein: »Dr. Archibald Lovell, Sie sind sehr müde. Sie schlafen sofort ein und entspannen sich … Sie entspannen sich und denken nur an schöne Dinge.«

Es dauerte wenige Minuten und Dr. Lovell lag in friedlichem Schlummer da. Baxter sah Viola an: »Er ist diese Prozedur sicher nicht gewöhnt. Gib ihm von deiner Kraft einiges ab.«

Sie nickte: »Ich werde ihn entlasten und vielleicht auch für ihn sprechen.«

Jetzt war es soweit. Baxter starrte auf die gesenkten Augenlider des Arztes:

»Stimmen haben dich verfolgt. Was waren das für Stimmen?« Dr. Lovell stöhnte und öffnete die Lippen. Doch seine tiefe

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Stimme kam aus Violas Mund: »Es sind Stimmen von verstorbenen Patienten aus meiner Klinik. Sie sind aus dem Jenseits wiedergekehrt und mit ihrem Geist und ihrer Seele vereinigt.«

»Warum sind diese Stimmen aus dem Jenseits zurückgekehrt? Das muß doch einen Grund haben.«

Die Antwort kam spontan: »Durch ein Experiment in meiner Klinik sind sie daran gehindert worden, im Jenseits zu bleiben. Nun befinden sie sich in einer Zwischenwelt und haben nur das eine Ziel ins Jenseits aufgenommen zu werden.«

»Mit wem haben sich die Toten auf Erden verbündet?« »Es gibt da einen Arzt in meiner Klinik, den die Hauptschuld

trifft, daß die Patienten nach ihrem Tod nicht im Jenseits bleiben durften. Mit diesem Arzt haben sie den Vertrag geschlossen.«

»Was ist das für ein Arzt?« »Er wird zwar keine Experimente in der Klinik vornehmen,

aber dafür werden sie ihm auf andere Weise helfen, sein Ziel zu erreichen: nämlich berühmt zu werden.«

»Weshalb haben Ihnen diese Totenstimmen Ihr Gesicht weggenommen? Wozu braucht ein Toter das Gesicht eines Lebendigen?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe Angst, weil alle glauben werden, ich sei der Schuldige.«

Baxter setzte zur letzten Frage an: »Dr. Lovell: Was sind das für Experimente, die in Ihrer Klinik durchgeführt wurden?«

Ein Schrei war die Antwort. »Ich habe Angst … ich habe entsetzliche Angst … helft mir.«

Eigentlich wollte Baxter Schluß machen, doch da kam ihm eine neue Idee, und er rief: »Dr. Lovell: Sind Sie der Arzt, der diese Experimente durchgeführt hat und nun dafür büßen muß.«

»Ich habe Angst.«

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Baxter erkannte, daß er aufgeben mußte. Dr. Lovell war mit der Blitzsitzung überfordert worden.

Joe Baxter hätte den Klinik-Chef noch gern über die Patienten befragt, deren Stimmen ihn jetzt verfolgten. Doch er hätte vermutlich keine Antwort mehr darauf gegeben.

Minuten später verließen Baxter und Viola die Nervenheilanstalt.

»Was denkst du über die Angelegenheit?« Baxter wandte sich ihr zu: »Ich kenne mich im Augenblick

noch nicht recht aus. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, daß wir die Sache bald in den Griff bekommen werden.«

»Was hältst du von Dr. Lovell?« »Ich glaube, daß er mehr weiß, als er zugibt. Als Chef der

Klinik, in der sich derartige Dinge abspielten, ist er eine der Zentralfiguren. Er kann mir nicht weismachen, daß er keine Ahnung hatte, was für Experimente im Krankenhaus durchgeführt wurden. Es ist obendrein eine Lüge, wenn er behauptet, daß er nichts vom Verschwinden verstorbener Patienten wußte.«

Viola blieb jäh stehen: »Aber denk doch an die Sitzung, Joe. Da trat doch deutlich zutage, daß er nichts als Angst hat und kaum etwas von all den Vorkommnissen weiß.«

»Stell dir vor, dieser Dr. Lovell sei ein sensitiv überaus stark begabter Mensch, vielleicht sogar ein Mann mit magischen Eigenschaften. Er könnte sich dann für eine Sitzung verstellen.«

»Und die Geschichte mit dem gestohlenen Gesicht?« »… könnte natürlich auch mit einigem übersinnlichen

Geschick für uns konstruiert sein, um uns irre zu führen!« *

Olga Dussowa stieg aus dem kleinen Mietwagen, mit dem sie

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zur Bedford-Klinik gefahren war. Sie sollte ja standesgemäß vorfahren. Und da sie vorhatte, sich als Reinemachefrau in das Krankenhaus einzuschleusen, hätte man ihr einen sündteuren Sportwagen kaum geglaubt.

In einfacher Kleidung schritt Olga zur Portiersloge und fragte nach dem Büro des Personalchefs. Der Mann wies ihr mürrisch den Weg. Das Abenteuer begann.

Minuten später klopfte Olga an die Tür. Sie wartete das »Herein!« gar nicht erst ab und stand vor

einer herben, dürren Frau mit rotgefärbten Haaren. Sie sah die junge Person vor sich mit giftigen Blicken an und fragte barsch: »Sie kommen auf unser Inserat?«

Olga nickte. »Dann kennen Sie ja bereits unsere Zahlungs- und

Arbeitsbedingungen!« herrschte die Rothaarige Olga an. Die vermeintliche Reinemachefrau nickte abermals: »Ich bin

einverstanden!« »Papiere!«, forderte die Frau. Olga reichte ihr ihren Paß sowie ihre übrigen Dokumente. Sie

mußte jetzt blitzschnell ihr Gegenüber mit Suggestivstrahlen anpeilen. Die Rothaarige durfte nicht lesen, was wirklich in den Papieren geschrieben stand.

Konzentriert starrte Olga auf den Kopf der Frau hinter dem Schreibtisch und suggerierte ihr alles ein, was sie lesen mußte.

Die Personalchefin las: »Branka Stinno, geboren in Belgrad.« »Fremdarbeiterin?« erkundigte sich die Rothaarige. Olga nickte. Die andere las weiter und schien mit allem recht

zufrieden zu sein. Sie lehnte sich zurück, musterte Olga und sagte dann: »Sie sind aufgenommen. Wann wollen Sie mit Ihrer Arbeit beginnen?«

Olga überlegte nicht lang: »Am besten sofort.« »Gut, dann holen Sie sich aus den Arbeitsräumen Kübel,

Bürste, Tücher und Scheuermittel. Beginnen Sie, die

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Bürozimmer der Ärzte sauberzumachen.« Olga nickte: »Danke!« Dann verließ sie das Zimmer. Kaum war die Tür ins Schloß gefallen, du rückte die

Rothaarige zum Telefon heran und wählte eine Nummer. Gelangweilt sagte sie: »Endlich haben wir eine neue Reinemachefrau für Spezialaufgaben. Sie sieht ganz gut aus. Also, wenn ich die wäre, mit ihrem Alter und ihrer Figur – ich würde mir mein Geld anderswo verdienen.«

*

Es war finster im Arbeitsmagazin des Krankenhauses. Es roch nach Moder. Olga mußte ihren Ekel überwinden. Dann schnappte sie sich die nötigen Werkzeuge und schlurfte mit Eimer und Besen über die Korridore zu den Ärztezimmern.

Sie kam an einer Treppe vorbei, die in die Kellergeschosse führte. Olga blieb stehen, blickte sich um und eilte dann abwärts. Sie wollte sehen, wohin man da kam. Schließlich war es ihre vordringlichste Aufgabe, herauszukriegen, wo sich in der Klinik die geheimen Laborräume befanden. Vielleicht war hier der verschwundene Millionär James Duncan versteckt.

Seltsam war, daß in dieser modernen Klinik die Korridore der Keller nicht beleuchtet waren. Olga stolperte nach vorn und öffnete einige Türen. Da waren der Heizraum, die Waschküche, ein Gymnastikzimmer und eine Schwimmhalle. Der Gang war zu Ende. Rechts gelangte man zu weiteren Türen. Olga lief weiter. Und da machte sie eine interessante Entdeckung. Sämtliche Eingänge zu den übrigen Räumen waren aus Metall und verschlossen.

Olga Dussowa lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sie dachte an das Schloß in der Türe vor sich. Sie malte sich genau aus, wie so ein Schloß konstruiert war und begann ihre

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Telekinese. Langsam, ganz langsam sprach sie in sich hinein: »Ein imaginärer Schlüssel steckt im Schloß. Er dreht sich langsam zurück.«

Beim ersten Mal funktionierte die Sache noch nicht. Olga versuchte es ein zweites Mal. Wieder schloß sie die

Augen und ließ einen Schlüssel, den es gar nicht gab, im Schloß Rotieren.

In der Tür gab es einen lauten Klick. Das Schloß war jetzt offen. Olga trat heran und drückte die

Klinke nieder. Sie trat ein und tastete mit der Hand an der Wand entlang. Sie fand sofort einen Lichtschalter. Seltsam, hier gab es wieder elektrisches Licht.

Olga blickte in einen großen Raum, in dem zwei große Öltanks eingebaut waren. Der Fußboden war mit schwarzem Asphalt ausgelegt.

Eine Stimme riß Olga aus ihren Gedanken. »Was machen Sie hier? Sind Sie verrückt? Wieso wagen Sie

es, hier herunterzukommen? Wer sind Sie denn überhaupt?« Olga antwortete: »Die neue Reinmachefrau.« »Dann haben Sie hier nichts zu suchen. Wie sind Sie in den

Tankraum gekommen? Haben Sie die Tür aufgebrochen?« fragte der hagere, hochgewachsene Mann im Arztkittel.

»Es war offen«, antwortete Olga Dussowa leise, blickte ihr Gegenüber lauernd an und fragte dann schnippisch: »Und wer sind Sie? Haben Sie überhaupt das Recht, mir Befehle zu erteilen?«

»Sehr wohl habe ich das«, lachte der Arzt höhnisch. »Ich bin Dr. Conrad Reynolds, der Chef des Röntgenlabors. Was hat Sie in die Keller getrieben?«

»Ich wollte die Räume in der Klinik inspizieren. Schließlich habe ich hier sauberzumachen.«

»Der Raum, den Sie vor sich sehen ist der Öltankraum. Hier kommen nur ein paar Mal im Jahr Menschen herein. Die

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Räume daneben sind Lagerräume für Medikamente und Wäsche.«

Olga warf einen letzten Blick in den Tankraum. Sie musterte die schwarze Asphaltdecke und machte eine interessante Entdeckung: Zwischen den beiden großen Tanks war der Asphalt abgetreten.

Hier mußten sehr oft mehrmals am Tag Menschen durchgehen. Dr. Conrad Reynolds hatte also gelogen.

Und noch eines fiel Olga auf: Da waren nicht nur Spuren von menschlichen Schritten zu sehen, sondern auch Spuren, wie sie auf dem Asphalt entstehen, wenn ein Bett oder ein Rollstuhl darüber gerollt wird.

Dr. Reynolds zerrte die vermeintliche Putzfrau auf den Korridor zurück und warf die Tür ins Schloß. Er hatte einen Schlüssel in der Tasche, mit dem er die Tür abschloß. Dann meinte er: »Jetzt gehen Sie an Ihre Arbeit. Sehen Sie sich vor, und lassen Sie die Finger von den Kellergeschossen.«

*

Dr. Conrad Reynolds sollte zufrieden sein. Olga nahm sich vor, mit dem Saubermachen in seinem

Zimmer zu beginnen. Der Arzt war wieder auf die Röntgenabteilung im zweiten

Stock zurückgeeilt. Olga Dussowa betrat seinen Büroraum und sah sich zuerst einmal um: ein großer Schreibtisch, ein Drehsessel, eine Polstergarnitur, ein großer Aktenschrank und ein schöner Teppich auf dem Fußboden.

Nichts, was verdächtig gewesen wäre. Olga griff in den Aktenschrank und holte den Ordner mit der

Aufschrift »Lebenslauf« heraus. Hastig blätterte sie darin. Aus dem Text ging hervor, daß sich Dr. Reynolds Jahre zuvor mit der Erforschung des Lebens nach dem Tod befaßt hatte. Er

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hatte sogar eine Assistentenstelle bei dem berühmten Forscher Delpasse angestrebt, war aber nicht angestellt worden.

Olga blickte auf: Sollte hier der Schlüssel zu den Experimenten in der Klinik sein? War Dr. Reynolds jener große Unbekannte, der die Stimmen der Toten heraufbeschworen hatte?

Olga hörte Schritte und schob schnell den Aktenordner wieder ins Regal. Sie mußte nun endlich etwas tun, damit man ihr die Rolle der Reinemachefrau auch abnahm.

Sie schob den Schreibtisch beiseite, rollte den Drehsessel in eine Ecke und beugte sich nieder. Sie rollte den schönen Teppich ein und legte ihn beiseite.

Dann begann sie mit einem nassen Tuch den Kunststoffboden zu putzen.

Plötzlich blieb sie dort knien, wo vorher der Schreibtisch gestanden war. Ganz deutlich – wenn auch durch das Muster des Fußbodens getarnt – sah man im Quadrat feine Vertiefungen. Kein Zweifel, es gab im Fußboden eine geheime Öffnung.

Olga tastete die Vertiefungen ab und überlegte, ob sie die Geheimtür mit der Scherenspitze aus Dr. Reynolds Schreibtisch öffnen könnte.

Es war nicht notwendig. Als Olga nämlich an eine bestimmte Stelle des Fußbodens

tastete, klickte es, und die Tür sprang von selbst auf. Olga klappte sie nun ganz zurück. Ein schwarzes Loch gähnte ihr entgegen. Grausiger Verwesungsgeruch stieg auf.

Olga wurde übel. Sie erhob sich, holte die Schreibtischlampe herbei und richtete den Strahl der Lampe in das geheimnisvolle Loch.

Olga prallte zurück. Aus dem Schacht starrte ihr das Gesicht einer Frau entgegen.

Die Augen waren weit geöffnet und starrten ins Nichts. Der

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Körper war mit Gewalt in die kleine Öffnung hineingepfercht worden.

Keine Frage: Das Mädchen mit der Krankenschwesternhaube war tot.

*

»Verdammt noch mal! Ich glaube, ich werde am besten hier gleich mein Büro aufschlagen und gar nicht mehr zu Scotland Yard zurückkehren«, brummte Chefinspektor Callon unwillig und trat ins Büro von Dr. Conrad Reynolds ein. Die Männer von der Spurensicherung waren gerade bei der Arbeit. Der Polizeiarzt hatte mit zwei Trägern der Gerichtsmedizin die Frauenleiche geholt. Die Tote lag nun auf dem Fußboden.

»Können Sie schon etwas sagen?«, erkundigte sich Callon und blickte auf die Erwürgte. Dabei murmelte er: »Was für ein Schwein mag diese Tat wohl begangen haben?«

Der Polizeiarzt erklärte während seiner weiteren Untersuchung: »Sie war etwa 22 Jahre und hatte dunkle Augen. Nicht der Typ einer Krankenschwester.«

Constabler Smith trat heran und verneigte sich: »Chef, ich habe einige Ärzte ausgefragt: Keiner kennt dieses Mädchen. Sie war nicht als Krankenschwester an der Klinik hier angestellt. Es ist ein Rätsel, wie sie hergekommen ist.«

Chefinspektor Callon hustete ärgerlich: »Jetzt machen Sie mal einen Punkt. Natürlich muß sie irgendwie hergekommen sein. Oder glauben Sie, daß jemand die Leiche in die Klinik geschmuggelt hat?«

Der Polizeifotograf schoß seine letzten Bilder vom Fundort der Leiche.

Callon fragte ungeduldig: »Wo steckt denn dieser Dr. Reynolds eigentlich? Ich möchte ihn sprechen.«

Eine Krankenschwester antwortete: »Er wird noch nichts von

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der Auffindung der Toten wissen. Er arbeitet sicher im Röntgenlabor.«

»Smith! Holen Sie ihn. Immerhin wird er uns einige Erklärungen abgeben müssen. Eine Tote unter dem Fußboden ist schließlich keine Kleinigkeit.«

Der Constabler eilte den Korridor entlang. Im selben Augenblick hastete ihm Dr. Reynolds entgegen. Er runzelte die Stirn, als er die vielen Menschen in der Tür seines Büros entdeckte. Er fragte Chefinspektor Callon entgeistert: »Was ist denn hier los? Hat man denn in seinem eigenen Zimmer keine Ruhe!«

»Gestatten, Chefinspektor Callon von Scotland Yard«, stellte sich der Polizist vor und fiel dann gleich mit der Tür ins Haus: »In Ihrem Büro ist vorhin von der Reinemachefrau eine Leiche gefunden worden.«

Dr. Conrad Reynolds wurde blaß und schwankte leicht. »Eine Leiche? Was für eine Leiche?« Seine Stimme klang

unsicher. Chefinspektor Callon deutet auf die Tote und zog den Arzt in

das Büro herein. Dr. Reynolds zuckte zusammen: »Um Gottes Willen!«

entfuhr es ihm. Rasch fragte Callon: »Kennen Sie die Tote?« »Nein … sicher nicht. Ich kenne die Tote nicht. Ich habe sie

noch nie gesehen.« »Aber Sie werden doch schließlich die Krankenschwestern

hier im Haus kennen.« »Die war niemals Krankenschwester bei uns. Ich sagte ja

schon: Ich kenne sie nicht.« Chefinspektor Callon lehnte sich gegen die Wand und

musterte den Arzt: »Dr. Reynolds, Sie werden sich denken können, daß Sie uns im höchsten Maße verdächtig erscheinen. Immerhin hat man eine Leiche in Ihrem Arbeitszimmer, unter

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Ihrem Schreibtisch gefunden. Wäre die Leiche nur so dagelegen, hätte ich gern geglaubt, daß ihnen jemand die Tote ins Zimmer legte. Aber sie war im Fußboden versteckt. Das läßt die Angelegenheit in einem ganz anderen Licht erscheinen.«

Dr. Reynolds wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er trat an den Chefinspektor heran: »Eine Leiche unter

meinem Fußboden zu finden, ist noch kein Indiz gegen mich. Sie müssen Beweise und Zeugen bringen, ehe Sie mich verhaften können.«

»Leider«, konterte Callon. »Aber seien Sie versichert, daß ich Sie nicht mehr aus den Augen lassen werde,«

Vor der Tür entstand Unruhe. Zwischen den Krankenschwestern tauchte das Gesicht Joe

Baxters auf. Spöttisch rief der Chefinspektor aus: »Ich sehe einen lieben Kollegen. Aber ich muß Sie enttäuschen, Mr. Baxter. Kein Gespenst war hier am Werk.«

Baxter bahnte sich einen Weg durch die Gruppe und lachte: »Das wird sich noch herausstellen, Chefinspektor. Oder haben Sie vielleicht schon einen geständigen Mörder?«

Hinter Joe Baxter kam der junge Dr. Sam Donnels, verneigte sich vor Callon und bat: »Darf ich auch einen Blick auf die Tote werfen?«

»Gern«, lautete die Antwort. »Vielleicht kennen Sie die Dame, damit sie für uns nicht mehr die geheimnisvolle Unbekannte bleibt.«

Dr. Donnels beugte sich herab, sagte kein Wort, sondern schüttelte nur den Kopf. Dann trat er zurück.

»Nun?«, erkundigte sich Callon. Dr. Donnels antwortete scheu: »Ich glaube, ich kann Ihnen

weiterhelfen. Aber ich weiß nicht recht, ob ich befugt bin, alles zu sagen.«

»Das ist Ihre Staatsbürgerpflicht, wenn es sich um Mord

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handelt!«, donnerte ihn der Inspektor an. Der junge Arzt zog den Polizisten beiseite, so daß die beiden

direkt neben Baxter zu stehen kamen. Und dann sagte er: »Also, eines ist gewiß. Das Mädchen war niemals Krankenschwester hier im Haus. Sie war, so weit ich es weiß, überhaupt niemals Krankenschwester.«

»Wer ist sie?«, wollte Callon wissen. Zaghaft kam die Antwort: »Sie hieß Belinda, den anderen

Namen weiß ich nicht. Sie war ein stadtbekanntes Callgirl und besaß ein Appartement in der Kensal-Road.«

»Woher wissen Sie das?« Leichte Röte überzog Dr. Donnels' Gesicht: »Beim

Nachtdienst lag da kürzlich ein Magazin herum, ein Heft von einem privaten Amüsement-Club. Da war ihr Foto mit Adresse und Telefonnummer drin.«

»Wer liest denn solche Magazine in der Klinik?« »Ich weiß nicht, wer es hergebracht hat. Leider kann ich

Ihnen da nichts sagen.« Chefinspektor Callon ging schnell zum Telefon und rief bei

Scotland Yard an: »Hallo, Jackson, sehen Sie bitte nach, ob wir in London ein Callgirl haben, die sich Belinda nennt. Adresse vermutlich Kensal-Road.«

»Na hören Sie mal«, der Beamte lachte am anderen Ende der Leitung. »Die kennt doch ganz London. Ich kann Ihnen sogar die Telefonnummer sagen.«

Callon schrieb diese auf, dann legte er den Hörer auf und meinte zu Dr. Donnels: »Sie haben uns einen großen Dienst erwiesen.«

Der Arzt ging. Baxter trat an den Kollegen von Scotland Yard heran:

»Callon, ich glaube, jetzt könnten Sie die Hilfe des Parapsychologic Department gebrauchen.«

Befremdend schaute der Chefinspektor auf: »Ich wüßte nicht,

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warum.« Baxter erklärte: »Es wäre gut, sofort die Wohnung dieser

Belinda zu durchsuchen.« Callon fiel Baxter ins Wort: »Das habe ich vor. Ich fahre jetzt

gleich in die Kensal-Road.« Baxter schnippte mit dem Finger: »Ich wette, daß schon jemand unterwegs ist, um sämtliche

verdächtigen Unterlagen zu vernichten. Es haben ja genügend Menschen mitgehört, daß die Tote identifiziert ist. Ich vermute, daß einer der Ärzte Stammkunde bei dem Mädchen war, und da Callgirls ihre Kunden meist in ein Buch einzutragen pflegen, wird der Betreffende interessiert sein, daß sein Name verschwindet.«

Callon fragte spöttisch: »Und wie wollen Sie das verhindern?«

»Meine Mitarbeiterin Viola Oggi wartet draußen auf dem Korridor. Ich kann sie als Kontaktperson dalassen. Ich entmaterialisiere mich und versetze mich in Sekundenschnelle in die Wohnung Belindas. Was ich dort sehe, funke ich gedanklich an Mrs. Oggi weiter. Sie wird Ihnen alles mitteilen.«

Chefinspektor Callon wollte etwas dagegen einwenden, doch die Idee faszinierte ihn. Außerdem glaubte er, daß sich Baxter blamieren könnte. Und das hätte er für sein Leben gern erlebt.

»Na denn«, murmelte er. »Zeigen Sie, was Sie können.« Baxter eilte auf den Korridor und bat Viola herein. Sie setzte

sich neben der Toten auf einen Sessel. Joe legte ihr seine Hände auf den Kopf und sprach: »Viola, du bist müde … sehr müde … du möchtest jetzt ein wenig schlafen. Schließ die Augen.«

Viola war darauf eingestellt und befand sich binnen weniger Minuten in einer anderen Sphäre.

Joe bat die Umstehenden: »Ich bitte Sie um Ruhe, damit unser Experiment gelingt.«

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Es war still rundum, als Baxter die Augen schloß und in sich hinein blickte. Er beachtete nur sich selbst und keinen seiner Mitmenschen. Er spürte, wie sein Körper immer leichter und leichter wurde.

Ein Schrei aus mehreren Kehlen rundum verunsicherte ihn einen Augenblick lang.

Sein Körper wurde transparent. Nach einem Aufblitzen stand niemand mehr hinter Viola. Baxter konzentrierte sich auf ein großes Doppelbett in

Belindas Luxuswohnung. Baxter fühlte, wie er sich vor der Bettstelle wieder zu rematerialisieren begann. Seine Beine, Arme und Hände bekamen wieder sichtbare Formen.

Baxter stand im Appartment. Auf den ersten Blick erkannte er, daß noch niemand die

Wohnung durchsucht hatte. Er ging langsam durch die Räume und blieb dann vor einem zierlichen Damenschreibtisch stehen. Er öffnete die Regale und zog ein in schwarzes Leder gebundenes Buch heraus.

Tatsächlich, das war Belindas Kundenkartei. Joe sandte Viola folgende Gedanken: »Alles okay. Ich hab die

Kundenkartei.« Viola gab sie sogleich an die Anwesenden weiter.

Chefinspektor Callon fuhr hoch und atmete schwer. Diese Prozedur beeindruckte ihn mächtig.

Baxter blätterte fieberhaft in dem Buch. Plötzlich zuckte er zusammen. Draußen vor der Tür machte sich jemand gewaltsam zu schaffen. Zuerst versuchte er es am Schloß der Tür, schließlich trat er die Türe mit solcher Gewalt ein, daß das Holz splitterte. Sekunden später stand ein junger Mann im Zimmer und blickte Baxter an.

»Was machst du da?«, fuhr der Junge den Hauptkommissar an.

»Dasselbe wie du«, lachte Baxter. Er hielt triumphierend das

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Notizbuch in Händen. Wutentbrannt stürzte sich der andere auf ihn. In seiner Hand blitzte ein Messer.

Baxter erkannte: Er hatte es mit einem überaus gefährlichen Gegner zu tun. Er trat zurück, ballte seine Willenskraft und setzte seine Occu-Waffen ein, für die er beim Parapsychologic Department bekannt war. Er starrte auf das Messer seines Gegners und rieb sich dabei seine Finger. Er suggerierte ungeheure Hitze und transferierte sie in die Messerspitze.

Erschrocken sah der junge Mann auf seine Waffe. Das Messer verbog sich zu einem wirkungslosen Gegenstand.

Jetzt bekam es der Eindringling mit der Angst zu tun. Baxter war ihm mit einem Mal unheimlich. Der Hauptkommissar kam auf ihn zu. Der andere wagte nicht, sich zu bewegen und drückte sich darauf mit dem Rücken gegen die Wand. »Du verläßt jetzt die Wohnung und gehst zu deinem Wagen hinunter. Du steigst ein, startest und fährst nach Edinburgh. Dort meldest du dich beim Bürgermeister.«

Der andere nickte. Baxter hielt ihn noch einen Augenblick zurück und fragte:

»Wer hat dich hierhergeschickt, das Kundenbuch zu holen?« Der junge Mann zögerte. Doch dann gestand er zitternd: »Es

… war Doktor … Doktor …« »So sag' schon den Namen!« »Doktor Lovell!« Dann drehte sich der junge Mann um und rannte das

Treppenhaus hinunter. Er hatte nur ein Ziel: möglichst bald nach Schottland zu gelangen.

Baxter schob das Notizbuch in seine Sakkotasche. Jetzt konnte er sich mit seiner Beute entmaterialisieren. Wieder kehrte er seine Gedanken ganz in sich, und löste sich allmählich auf. Diesmal ging es noch schneller, da er seinen Standpunkt in der Bedford-Klinik bereits kannte.

Ein Stöhnen ging durch die Menge.

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Chefinspektor Callon traute seinen Augen nicht, als Baxter vor ihm auftauchte. Der Hauptkommissar des Parapsychologic Department legte seiner Mitarbeiterin die Hände auf. Sie war im Nu wieder wach, sprang hoch; drehte sich um und fragte mit bleichem Gesicht: »Warum hast du mir nichts Konkretes aus Belindas Wohnung mitgeteilt? Was ist dort passiert? Ich habe Gefahr gespürt.«

»Richtig«, nickte Baxter. »Da war ein Typ, der wollte mich wegen der Kundenkartei erstechen. Aber ich habe ihn nach Schottland geschickt. Bis er mit seinem Wagen dort ist, vergeht eine lange Zeit.«

»Wer war der Bursche?«, wollte Callon wissen. »Ich weiß es nicht«, konterte Baxter. »Aber er sagte etwas

sehr Seltsames.« »Was?«, fragte Viola. »Er behauptete, von Doktor Lovell geschickt worden zu

sein.« »Von Doktor Lovell«, sprach Callon vor sich hin. »Der sitzt

doch im Irrenhaus.« Da mahnte Baxter: »Sie vergessen, lieber Herr Kollege, daß

Dr. Archibald Lovell nicht mehr sein wahres Gesicht besitzt. Da läuft irgend jemand umher, der mit Hilfe von übernatürlichen Mächten in den Besitz des Gesichtes gelangt ist. Und jetzt kann er auf Kosten Dr. Lovells Verbrechen begehen, solange, bis wir herausbekommen haben, wer hinter dem Gesicht wirklich steckt.«

Callon nickte. Dann blickte er neugierig auf das ledergebundene Buch, das Baxter ihm zeigte und aufblätterte. Der Hauptkommissar fuhr mit dem Zeigefinger die Namenreihen entlang.

Plötzlich hielt er inne, pfiff laut zwischen den Zähnen hervor und meinte: »Das ist ein Ding!«

Callon drängte' sich herbei: »Was haben Sie in dem Buch

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entdeckt?« Baxter sagte langsam und schwerwiegend: »Ein Mann aus

der Klinik hier zählte zu den Stammkunden des Callgirls.« »Wer war es?« »Dr. Conrad Reynolds.«

*

Die Schritte der Polizisten hallten über den Steinboden des breiten Korridors. Chefinspektor Callon, Hauptkommissar Baxter und rund zwanzig Polizisten eilten zur Röntgenabteilung der Klinik.

Die weiße Doppeltür war – ganz entgegen der Gewohnheit – abgeschlossen.

Die Fäuste der Polizisten polterten schwer gegen den Eingang.

»Machen Sie keine Zicken, Dr. Reynolds. Ich habe einen Haftbefehl gegen Sie wegen Mordverdachtes, öffnen Sie, sonst sind wir gezwungen, die Tür einzuschlagen.«

Zuerst ertönte drinnen eine Stimme: »In dieser Klinik sind 14 Patienten spurlos verschwunden. Keiner weiß wo sie sind. Untersucht diese Affäre. Und laßt Dr. Reynolds in Frieden!«

Noch einmal forderte der Chefinspektor: »Öffnen Sie die Tür!«

Keine Reaktion. Darauf gab Callon das Kommando: »Eintreten!« Zwei Uniformierte nahmen Anlauf und sprangen gegen die

Türe. Sie flog in weitem Bogen auf. Alle Männer stürzten ins Zimmer. Erstarrt blieben sie stehen und lauschten dem höhnischen Gelächter, das über ihnen schwebte. Im ganzen Raum war kein Mensch zu sehen.

»Was soll das bedeuten?«, fragte Callon und blickte gegen die Decke des Raumes, an der sich noch immer das

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unheimliche Lachen brach. Trocken antwortete Baxter: »Das ist eine Totenstimme. Die

Worte, die vorhin gesprochen wurden, waren sicher nicht von Dr. Reynolds. Sie waren das Produkt eines Verstorbenen. Sie wollten es ja nicht glauben, Herr Kollege. Aber ich bin nicht vergebens, nach London gekommen.«

»Ich frage mich jetzt nur, wo ist Dr. Reynolds?« In der Tür erschien Olga. Sie sah wie eine echte

Reinemachefrau aus. Mit verstellter Stimme meinte sie: »Sie suchen Dr. Reynolds? Der muß in seinem Zimmer sein. Er hat sich erst vorhin eingeschlossen.«

Beeindruckt erklärte Chefinspektor Callon: »Ich muß meine Meinung gründlich revidieren, Mr. Baxter. Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen. Die Sache spitzt sich zu. Jetzt ist Dr. Reynolds verschwunden.«

Baxter mußte lächeln, denn Callon hatte doch wirklich immer wieder Pech und den falschen Riecher. Der Hauptkommissar begab sich zu einem der offenen Fenster des Raumes und beugte sich hinaus: »Da muß ich Ihnen widersprechen, Herr Kollege. Außer den Stimmen, die wir vernahmen, ist nichts Okkultes vorgefallen. Der gute Dr. Reynolds hat es mit der Angst zu tun bekommen und ist einfach durchs Fenster abgehauen. Man sieht seine Spuren deutlich am Sims der Außenmauer. Entweder hat er Angst, daß man ihn für den Mörder von Belinda halten könnte oder er war es und hat es vorgezogen, sich der Verhaftung zu entziehen.«

*

Musik erfüllte das Zimmer im Maybird-Hotel in London. Viola lag auf dem Teppich und vollzog einige entspannende Yoga-Übungen.

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Baxter studierte Belindas Notizbuch. Er hoffte, noch einen bekannten Namen darin zu finden.

»Na, was erreicht, Sherlock Holmes?«, neckte ihn Viola und schnellte vom Teppich hoch.

Er schüttelte den Kopf und klappte das Notizbuch zu. Dabei fiel ein Stück Papier heraus, das irgendwo zwischen den leeren Seiten gesteckt haben mußte.

»Was ist das?«, fragte Viola, bückte sich und hob das Objekt ihrer Neugierde auf. »Das ist ein angefangener Brief an eine Freundin. Leider keine Adresse angegeben.«

»Lies vor«, sagte Baxter gespannt lauschend. Viola kam der Aufforderung ihres Chefs nach: »Liebste

Meggy! Ich habe mich lange nicht gemeldet, weil ich so viel zu tun hatte. Ich habe jetzt ein neues Hobby: Ich spiele Krankenschwester. Du wirst vielleicht lachen, wenn du diese Zeilen liest. Aber es ist so: Ich spiele wirklich Krankenschwester. Ich habe einen Arzt kennengelernt, er ist Mitglied der berühmten Bedford-Klinik und befaßt sich mit der Beobachtung des Sterbevorgangs. Er testet Sterbende und versucht, Tote wieder ins Leben zurückzuholen, um von ihnen Aussagen über die jenseitige Welt zu erhalten. Eine unheimliche Sache. Du weißt, ich wollte doch immer Ärztin werden. Jetzt erfüllt sich wenigstens ein Teil meines Traumes. Ich assistiere bei derartigen geheimen Experimenten. Ich bin damit bei wissenschaftlichen Arbeiten dabei, die – wie der Doktor sagt – eines Tages die Welt revolutionieren werden. Wenn es dich interessiert, so kannst du vielleicht einmal mitkommen, wenn wir im Labor arbeiten.«

Hier brach der Brief ab. Baxter las die Zeilen mehrere Male. Dann klopfte es. Minuten später stand Olga vor Baxter und Viola. »Also,

wenn das nächste Mal wieder eine Putzfrauen-Verkleidung

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gewünscht wird, dann bist du dran, Viola. Ich bin hundemüde und dreckig bis zu den Zehen. Ich gehe jetzt zuerst einmal duschen.«

Während sie unter der Dusche stand, rief sie: »Wißt Ihr, was das bedeutet, den ganzen Tag Böden zu schrubben und zugleich Augen und Ohren auf Höchstleistung einzustellen?«

Viola lachte: »Kein Mensch verlangt, daß du wirklich Fußböden schrubbst, meine Beste. Du kannst ja simulieren.«

»Daß ich mich nicht totlache. Wenn man in der Bedford-Klinik, wo ohnehin jeder jedem mißtraut, glaubhaft eine Putzfrau spielen will, muß man hart anfassen«, klagte Olga Dussowa.

Baxter hatte sich erhoben und durchmaß mit festen Schritten den Raum. Viola hatte sich in einen Sessel gesetzt und nippte an einem Cocktail. Olga kam ins Zimmer zurück und wickelte sich in ein riesiges Frottee-Badetuch. Dann kuschelte sie sich aufs Sofa. »Ich sehe es unserem großen Meister an, daß er uns etwas Wichtiges mitzuteilen hat. Großer Häuptling, sprich!«

»Sei nicht albern«, brummte Joe und machte eine abfällige Handbewegung. »Ich habe andere Sorgen, als Scherze zu treiben. Es ist an der Zeit, daß wir Bilanz ziehen, unseren vorliegenden Fall richtig einschätzen und dann einen Schlachtplan für unser Vorgehen ausarbeiten.«

Viola richtete sich auf und stellte das Cocktailglas weg: »Also, ich glaube, wir sollten festhalten: Da gibt es in London eine Klinik, die von einem angesehenen Modearzt mit Namen Archibald Lovell geleitet wird. Das Krankenhaus nennt sich Bedford-Klinik. Eines Tages wird dorthin der schwerkranke Millionär James Duncan eingeliefert. Er wird zwar gut gepflegt aber sein Zustand verschlechtert sich. Als ihn seine besorgte Frau wieder einmal besuchen will, ist der Patient spurlos verschwunden. Die letzten Menschen, die ihn sahen, erzählen, er sei im Sterben gelegen.«

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Joe warf sich in einen leeren Sessel und meinte zufrieden: »Endlich laufen Eure Gehirne auf Hochtouren. Kurz nach dem Verschwinden des Millionärs melden sich in der Klinik unheimliche Stimmen. Stimmen von Toten, die angeblich alle einst in der Klinik als Patienten lagen und ebenfalls verschwunden sind. Zu denken gibt mir, daß die Stimmen der Toten sich mit Namen vorgestellt haben.«

Der Hauptkommissar blickte auf. Olga hatte sich stillschweigend erhoben und eilte aus dem Zimmer. Sie kam sofort mit einer Handtasche wieder zurück, zog einen Zettel daraus hervor und schwenkte diesen siegesbewußt: »Die Stimmen der Toten haben die Wahrheit gesprochen. Hier ist der Beweis. Eure Putzfrau hat sich nach Büroschluß in die Klinikbüros geschlichen und die Patientenlisten der vergangenen Monate kontrolliert.«

Baxter sah Olga gespannt an: »Gut gemacht, Olga. Was hast du uns zu berichten?«

Olga erzählte: »James Duncan war bereits der vierzehnte Patient, der in dem Krankenhaus verschwand. Vor ihm erging es dreizehn anderen ebenso. Ich habe sogar all ihre Namen hier. Es sind auch jene Namen darunter, die sich bei Dr. Lovell gemeldet haben: Peter Zambrovsky, Charles Wonder, Conrad Battles.«

Viola war außer sich: »Wie ist denn so was möglich? Da werden Menschen in eine Klinik eingeliefert. Die müssen doch irgendeinmal wieder rauskommen. Da gibt es doch Verwandte und Bekannte, die auf die Patienten warten. Und selbst wenn die Leute in der Klinik sterben, so muß es doch eine Todesmeldung, eine Untersuchung durch einen Arzt und schließlich einen Totenschein geben. Wir leben ja schließlich nicht im Mittelalter, wo Menschen so mir nichts dir nichts verschwanden.«

Olga mischte sich ins Gespräch ein: »Es war aber so. Die

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dreizehn Patienten, die da aus ihren Krankenzimmern verschwanden, hatten zumeist keinerlei Angehörige. Und ich möchte wetten, daß der Klinik-Chef davon wußte. Nach seinen eigenen Aussagen haben ihm die Totenstimmen vorgeworfen, es wären ihm einige Kunstfehler beim Operieren unterlaufen. Nach solchen Pannen konnte es ihm nur recht sein, wenn die betroffenen Patienten verschwanden.«

Joe hob beide Hände: »Augenblick, wir dürfen uns nicht in Details verlieren. Warum sind in der Klinik Patienten verschwunden? Doch nicht bloß, weil bei Operationen einiges verpatzt wurde. Das würde ja auf den Millionär nicht zutreffen. Der ist beispielsweise gar nicht operiert worden.«

Olga ergriff wieder das Wort: »Der Kern der Sache liegt anderswo: Irgendwo unter der Erde führt einer der Ärzte makabre Versuche durch. Er testet die Menschen beim Sterben und versucht sie dann, wie wir inzwischen gehört haben, aus dem Jenseits zurückzuholen und zu befragen. Ob ihm das Experiment jemals gelungen ist, wissen wir nicht. Tatsache ist, daß man zu solchen Versuchen Menschen braucht. Da waren natürlich Patienten, die keine Angehörigen hatten und im Sterben lagen, willkommen. Warum Duncan allerdings verschwand, bleibt offen.«

Baxter hatte eine zusätzliche Idee: »Vielleicht gingen die Versuche dreizehnmal schlief. Vielleicht hoffte der Arzt, daß es beim vierzehnten Mal klappen würde. Nur so ist nämlich zu erklären, daß die Patienten verschwanden. Hätten die Experimente zur Zufriedenheit des Arztes geendet, hätte er ja anstelle der Sterbenden entweder einen Gesunden oder sonst einen Menschen nehmen können. Ich nehme an, daß die makabren Versuche einfach nicht geklappt haben. Vielleicht gibt es gar keine Leichen mehr, sondern nur noch die Stimmen der Toten.«

Viola seufzte: »Und wer ist dieser Doktor, der auf diese

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Weise dem Tod auf die Spur kommen möchte?« Joe überlegte: »Wir haben mehrere zur Auswahl: Dr.

Archibald Lovell, der Chef der Klinik. Dann ist da Dr. Conrad Reynolds, und schließlich kann es natürlich jeder andere der dreißig Ärzte in dem Krankenhaus sein.«

Olga lächelte: »Wir haben Pech mit unseren Hauptverdächtigen! Der eine sitzt im Irrenhaus, der andere ist durchgebrannt.«

»Um das zu klären, hat uns Dr. Duvaleux schließlich nach London geschickt«, brummte Joe und fügte hinzu: »Außerdem ergibt sich auch noch ein Mord bei dieser Angelegenheit: Da ist immerhin das tote Callgirl.«

»Darauf kann ich mir beim besten Willen keinen Reim machen«, sagte Olga.

Baxter lächelte überlegen: »Ich habe eine Idee. Der Brief bestätigt, daß Belinda den Experimenten mit den vierzehn Patienten beiwohnte.«

»Warum«, rief Viola Oggi aus, »hat sie dann sterben müssen?«

Baxter konterte: »Da gibt es wieder viele Möglichkeiten. Vielleicht war sie schuld, daß die Versuche nicht klappten. Vielleicht wollte sie plaudern.«

Viola erhob sich, stellte sich in die Mitte des Zimmers und ahmte die Gesten von Dr. Archibald Lovell in seiner Zelle im Irrenhaus nach: »Man hat mir mein Gesicht gestohlen!«

Dann sagte sie zu Baxter und Olga: »Wenn der nicht wirklich ein anderes Gesicht präsentiert hätte, so hätte ich das Ganze für billiges Theater gehalten. So aber werde ich daraus nicht klug. Wenn tatsächlich einer die jenseitigen Wesen, die ihn mit ihren Stimmen verfolgen, dazu gebracht hätte, ihm sein Gesicht zu stehlen, dann wäre doch zu erwarten gewesen, daß irgendwo einer als Archibald Lovell auftaucht.«

Baxter sagte ernst: »Warte nur noch ab. Das wird sicher

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passieren. Und vergiß nicht: Der junge Mann in der Wohnung Belindas erklärte mir deutlich, daß ihn ein gewisser Dr. Lovell geschickt hätte. Das kann nicht der echte gewesen sein. Und ich sage euch: Wenn dieser falsche Doktor Lovell auftaucht, dann wird das ein schrecklicher Auftritt sein.«

*

Die Fernschreiber der Lokalredaktion des »London Morning« ratterten pausenlos: Laufend wurden von verschiedenen Agenturen in aller Welt die neuesten Meldungen aufs Papier gehämmert.

Carol Summers saß vor ihrer Schreibmaschine und tippte ihren Bericht über die Tote in der Bedford-Klinik. Sie war noch nicht fertig, als der Manuskriptbote seinen Kopf in ihre Koje hereinsteckte und rief: »Der Chef ist schon ungeduldig. Er wartet auf den Bericht für die Setzerei.«

»Ich beeil mich ja«, antwortete Carol Summers. Dann sah sie den Boten an: »Noch etwas?«

»Ja«, lautete die Antwort. »Da sitzt seit einiger Zeit draußen ein Herr. Er möchte mit Ihnen sprechen.«

»Was will er von mir? Hat er gesagt, in welcher Angelegenheit er kommt?«

»Nun ja, er trägt einen riesigen Strauß roter Rosen bei sich. Ich denke, die Blumen sind für Sie!«

Carol Summers zwinkerte mit den Augen: »Sagen Sie ihm, ich bin gleich fertig und komme sofort.«

Sie schrieb ihren Artikel zu Ende und eilte damit selbst ins Büro des Chefredakteurs. Der rief ihr schon von weitem zu: »Ich habe die ersten Seiten für die Nachtausgabe schon gelesen. Große Klasse, meine Liebe!«

»Morgen wird's noch besser«, fügte Carol Summers hinzu. »Morgen liefere ich Ihnen eine Sensation. In der Klinik

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existieren Stimmen von verstorbenen Patienten. Warum das so ist, das muß ich erst herausbekommen.«

»Bitte, keine Gruselstorys. Unsere Leser wollen wahre Geschichten haben.«

Carol Summers brauste auf: »Diese Totenstimmen gibt es wirklich. Eine davon gehört meinem Vater.«

»Moment«, protestierte der Chefredakteur. »Sie haben mir einmal gesagt, daß sie eine uneheliche Tochter des Schuhfabrikanten James Duncan sind. Der aber ist, soweit ich weiß, verschwunden, aber nicht tot.«

Starr blickte Carol Summers vor sich hin: »Ich weiß, daß er tot ist und jegliche Suche nach ihm überflüssig ist. Und darum glaube ich auch an seine Stimme, die in der Klinik zeitweise zu vernehmen sein soll.«

Sie eilte aus dem Zimmer und warf die Tür hinter sich zu. Sie wollte wissen, wer da auf sie wartete.

Erstaunt blieb sie in der Tür stehen. »Sie?«, fragte sie den jungen Dr. Sam Donnels. Er nickte, verneigte sich, eilte auf sie zu, küßte ihr die Hand

und überreichte ihr die Blumen. Neugierig fragte sie: »Sind Sie nicht der junge Arzt aus der

Bedford-Klinik, der sich so intensiv um Mrs. Duncan kümmerte?«

»Ja«, gab er zur Antwort und meinte sogleich: »Ich habe gleich gesehen, daß zwischen Mrs. Duncan und Ihnen eine gespannte Beziehung herrscht. Das tut mir leid. Ich schätze Mrs. Duncan sehr. Ich habe ihr und ihrem Mann mein Medizinstudium zu verdanken. Ich bin der Sohn ihres Gärtners. Sie hat mich wie ihren eigenen Sohn behandelt.«

Vergrämt murmelte Carol Summers: »Es wäre nicht schlecht gewesen, wenn sie auch ein wenig Zeit für die Tochter ihres Mannes übriggehabt hätte.«

Dr. Donnels räusperte sich: »Ich habe erfahren, wie Sie zu

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Mrs. Duncan stehen. Ich möchte Ihnen helfen, wenn ich kann. Es wäre mir eine Freude, Sie hin und wieder zu sehen und Ihnen zu helfen, unangenehme Probleme aus der Welt zu schaffen.«

Carol Summers lächelte versöhnlich: »Das haben Sie sehr schön gesagt. Ich muß gestehen: Sie

waren mir schon in der Klinik sympathisch.« »Darf ich damit rechnen, daß wir morgen abend zusammen

essen gehen können?« Carol Summers nickte: »Ich möchte gerne mit Ihnen

plaudern. Sie haben mich auf Sie neugierig gemacht, Dr. Donnels!«

Dr. Sam Donnels strahlte übers ganze Gesicht: »Ich bin sehr glücklich. Ich hoffe, daß auch Sie es werden. Ich glaube nämlich, daß Sie – ebenso wie Mrs. Duncan – in nächster Zeit Schweres vor sich haben.«

»Was meinen Sie mit diesen Worten?«, erkundigte sich Carol Summers schroff.

»Ich bin der Ansicht, daß es sehr schwer sein wird, das Rätsel um Ihren verschwundenen Vater völlig aufzuklären. Aber ich werde Ihnen nach Kräften dabei helfen.«

Wieder fragte Carol Summers reserviert: »Ich möchte klarstellen: wem helfen Sie nun eigentlich in dieser Angelegenheit, mir oder der Frau meines Vaters, die mich mit ihrem Haß verfolgt?«

»Mit ehrlichem Gewissen darf ich sagen: Ich kann in dieser Angelegenheit beiden Damen helfen. Der, die ich schätze, und der, die ich verehre, weil sie mich fasziniert. Die Erbschaftsangelegenheit interessiert mich nicht. Mir geht es darum, zu helfen, das Rätsel um den verschwundenen Mr. Duncan zu lösen.«

Carol Summers korrigierte ihn: »Eines weiß ich jetzt schon. Wenn Sie ihn finden, dann können Sie ihn nur mehr tot

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finden!« *

Die Sonne schickte matte Strahlen auf die Bedford-Klinik, als Mrs. Ivy Duncan aus dem schwarzen Rolls Royce kletterte und die Treppe hochstieg. Sie kannte sich bereits im Gebäude aus und strebte zielbewußt dem Zimmer von Dr. Sam Donnels zu. Die Tür war nicht abgesperrt. Sie öffnete und trat ein. Enttäuscht blickte sie sich im Raum um und ging dann ans Fenster. Sie hatte eigentlich damit gerechnet, daß Dr. Sam Donnels bereits auf sie warten würde, um mit ihr die geheimen Räume und den Keller der Klinik zu durchforschen.

Endlich hörte sie draußen Schritte. Sie wandte sich um. Erstaunt blickte sie auf den Arzt mit den grauen Schläfen, der

eintrat und sie verbindlich anlächelte. »Dr. Lovell …? Sie hier …?«, entfuhr es Ivy Duncan. Er nickte: »Ja, warum sollte ich nicht hier sein?« Sie stotterte vor Verlegenheit: »Ich wähnte Sie in einer

Nervenklinik.« Er fuhr mit der Hand durch die Luft: »Quatsch! Sie wissen

doch, was die Journalisten so zusammenschreiben. Kein wahres Wort dran. Ich bin hier in meiner Klinik.«

»Eigentlich bin ich hier mit Dr. Donnels verabredet.« »Ich weiß …«, fiel ihr der Arzt ins Wort. »Darum bin ich ja

hier. Er kann leider nicht kommen. Ein heikler Eingriff, den unbedingt er durchführen muß.«

Mißtrauisch meinte die Frau des Millionärs: »Er wollte eigentlich mit keinem Menschen darüber reden. Wir wollten doch die Klinik ganz im Geheimen inspizieren!«

»Auch das weiß ich. Und es soll Ihnen ein Beweis sein, wie sehr Sie mir vertrauen dürfen. Auch ich möchte das Rätsel um Mr. Duncan lösen. Immerhin sind in meiner Klinik Dinge

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passiert, von denen ich keine Ahnung habe. Also ist es mein Recht, selbst Aufklärung zu suchen. Kommen Sie, wir wollen gehen. Ich führe Sie in den Keller.«

Er hakte sich bei Ivy Duncan unter und schob sie aus dem Zimmer.

Rasch passierten sie den Korridor und begaben sich ins Kellergeschoß. Zielsicher führte der Klinikchef die Frau des Millionärs den finsteren Gang entlang und bog dann nach rechts.

»Gibts denn hier kein Licht?«, fragte Ivy Duncan leise. »Gleich können wir wieder welches anknipsen«, antwortete

der Arzt, als sie vor einer eisernen Tür stehenblieben. Der Mediziner schloß auf und knipste tatsächlich eine Deckenleuchte an. Sie standen im Öltank-Raum und gingen über die schwarze Asphaltdecke zwischen den beiden Tanks hindurch. Sie kamen zu einer weiteren Eisentür und traten ein, bestiegen einen Lift und fuhren wieder zwei Stockwerke nach unten.

»Ich habe das Gefühl, als suchten wir hier nichts, Doktor! Sie wissen vielmehr ganz genau, wohin wir wollen.«

Kaum hatte Ivy Duncan den Satz zu Ende gesprochen, da wurde vor ihr eine Tür aufgerissen. Mit Gewalt drängte sie der Arzt in ein spärlich beleuchtetes Zimmer, schloß hinter sich die Türe ab und lachte höhnisch.

Ivy Duncan wollte sich auf ihn stürzen. Da schlug er ihr ins Gesicht und schleuderte sie aufs nächste Bett, das an einer Betonwand stand.

»Was soll diese Behandlung? Was geht hier vor?« fragte sie heiser und unsicher.

Jetzt stand der Arzt ganz dicht vor ihr: »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Mrs. Duncan. Meine Forschungen gehen mir über alles. Ich habe ein Ziel. Und ehe ich dieses Ziel nicht erreicht habe, gebe ich nicht auf. Ich will das Rätsel des Todes erhellen.

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Ich will Berichte aus dem Jenseits sammeln. Ich habe Geräte erfunden und Apparaturen gebaut. Vierzehnmal habe ich es an Menschen versucht. Vierzehnmal ist es mir mißlungen. Einmal aber muß es klappen. Die Polizei wacht oben in der Klinik über jeden Patienten, damit keiner verschwindet. Was liegt näher, als mich Ihrer zu bedienen, Mrs. Duncan.«

Sie schrie vor Angst auf. Er sprach zielbewußt weiter: »Ich weiß, daß Sie schwer

herzkrank sind, Mrs. Duncan. Und wenn ich Ihnen erzähle, was Ihrem Mann hier unter der Erde alles widerfahren ist, werden Sie einen Herzanfall erleiden und im Sterben liegen, wenn ich nicht gleich helfe. Und dann habe ich meine fünfzehnte Versuchsperson. Falls es wieder schiefgeht, dann gehe ich kein Risiko ein. Wenn die Frau des Millionärs verschwindet, wird die Affäre nur rätselvoller und unerklärbar. Und ich kenne da eine gewisse Carol Summers, die vielleicht gar nicht so traurig wäre, wenn auch Sie, Verehrteste, nicht mehr auftauchten.«

»Was wollen Sie?«, fragte Ivy Duncan angstvoll. »Ich will Sie sterben und Ihre Seele ins Jenseits auffahren sehen. Meine Apparate werden Sie dabei beobachten und keinen Augenblick außer acht lassen.«

Mrs. Duncan rannte schreiend zur verschlossenen Tür und versuchte verzweifelt zu öffnen.

»Maul halten«, fuhr der Arzt die hilflose Frau an. »Hier hört Sie keiner.«

Plötzlich lag ein Summen in der Luft. Es wurde ganz heiß. Die eiserne Türe ächzte. Und dann hallte eine Männerstimme durch den Raum: »O

doch, Doktor, wir hören alles, die Stimmen der Toten haben gute Ohren.«

»Wir hören alles«, wiederholten unruhige Stimmen. Dann erschallte eine weitere Stimme: »Ivy, Ivy, nimm dich in

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acht. Ich bin es, James, dein Mann. Der Doktor will dich töten, wie er es mit mir getan hat. Doch wir werden versuchen, dich zu retten.«

Der Mediziner lachte schallend: »Ihr macht mir keine Angst, Ihr törichten Stimmen. Ihr seid in meiner Hand. Ich habe Euch zu jenen unglücklichen Wesen im Zwischenreich gemacht. Ich bin Euer Meister.«

Wieder dröhnte die Stimme von James Duncan: »Doktor, du hast versprochen, kein Experiment mehr zu unternehmen. Dafür haben wir dir geholfen und dir ein schützendes Gesicht verschafft.«

Der Arzt fluchte: »Aber auch Ihr habt Euer Versprechen nicht gehalten. Ich will als Forscher berühmt werden.«

Er zerrte Ivy Duncan von der Tür weg und stieß sie in einen zweiten, größeren und hell beleuchteten Raum. Hier stand ein breites Bett, umgeben von Apparaten und Arztschränken.

Er packte Mrs. Duncan und drückte ihren Kopf aufs Bett. »Weißt du, was das ist? Ein Bett. Und auf diesem Bett ist dein Mann gestorben, angeschlossen durch zahllose Drähte an meinen Forschungsmaschinen. Als er sein Leben aushauchte, beobachteten wir seine Reaktionen. Wir haben die Zuckungen seines Gehirns und seiner Seele bis hinauf ins Jenseits verfolgt. Und als er dort war, haben wir ihn mit unseren Spezialgeräten wieder heruntergeholt. Ich wollte ihn wieder lebendig machen. Doch er hat sich gesträubt, daher ist das Experiment mißlungen. Seine Seele und sein Geist müssen umherziehen, nur mit einer Stimme ausgerüstet. Mit dieser Stimme wollen Sie jetzt den Menschen Angst einjagen. Bei mir wirkt das nicht. Ich lache darüber.«

Ivy Duncan hatte zuviel böse Dinge gehört. Sie sank zu Boden.

Der Arzt hatte sein Ziel erreicht. Ivy Duncan hatte einen Herzanfall erlitten.

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Der Arzt hob sie auf und legte sie auf das Bett. Er band ihre Arme fest und schloß die Geräte an ihren Körper an.

Dann setzte er sich zu ihr, fühlte ihr den Puls. Er lachte, erhob sich und begab sich zum Monitor, auf dem

deutlich die hektischen Gehirnschwingungen von Ivy Duncan zu sehen waren.

Plötzlich waren wieder die vielen Stimmen da: »Doktor, wir werden dich vernichten. Stell sofort deine Apparate ab.«

Ein Schwirren lag in der Luft. Der Arzt mußte sich die Ohren zuhalten, doch es war wie

verhext. Er hörte dennoch die Stimmen, die immer drohender wurden. Er begann laut zu singen, um sie zu übertönen. Vergebens. Es dröhnte in seinen Ohren. Es klang, wie das Läuten ungeheurer Glocken.

Der Doktor griff sich an die Schläfen. Er warf sich zu Boden drückte sein Gesicht in ein Kissen.

Er hatte nurmehr einen Gedanken: Die Stimmen würden ihn zerreißen und dann in Abgründe hinunterzerren.

*

Panische Angst saß in ihren Knochen. Der Atem schmerzte sie in der Brust. Und immer wieder hämmerte ein Gedanke in ihrem Gehirn:

»Du mußt jetzt sterben!« Ivy Duncan konnte keinen klaren Entschluß mehr fassen. Sie

zitterte am ganzen Körper und verfiel in einen tranceähnlichen Zustand.

Ein jäher Schmerz ließ sie hellwach werden: Das also war der tödliche Herzinfarkt. Der Arzt da vorn am Monitor hatte seinen Willen; sie war tot. So wie es bei James war.

Dann jedoch war sich Mrs. Duncan plötzlich bewußt: Es waren die Stimmen der Toten, die ihr zu Hilfe kamen. In

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diesem Augenblick hörte sie den Arzt gequält aufschreien. Ivy Duncan fand die Kraft, ihren Kopf aufzurichten. Da sah sie den Doktor auf der Erde liegen. Das gab ihr Kraft.

Zahllose Stimmen dröhnten: »Wir helfen dir … Halte still!« Dann verwandelten sich die Worte der Toten in Schreie, die

die Grenzen des Erträglichen überschritten. Und plötzlich klang es nicht mehr wie Schreien, sondern wie das Brüllen von Kanonen.

Die Toten hatten ihre Stimmen zu Waffen umfunktioniert. Die Töne waren so schrill, daß sie die Dinge rundum zum Bersten brachten.

Die Gurte, mit denen Ivy Duncan gefesselt war, zerrissen von selbst. Das Schloß der Türe schmolz und sprang mit lautem Knall auf.

Die Stimmen raunten ihr immer wieder zu: »Steh auf und geh zu den Menschen, dann bist du gerettet!«

Langsam sammelte Ivy Duncan ihre Kräfte und ließ sich vom Bett herabgleiten. Sie zuckte zusammen, als sie den Arzt auf der Erde liegen Sah.

Sie konnte sich nicht aufrichten, weil sie zu schwach dazu war. Daher kroch sie auf allen Vieren durch den Raum, erreichte die Tür und tastete sich die Treppe hoch. Sie schleppte sich den Korridor entlang, fand den Fahrstuhl und konnte den Druckknopf zur Aufwärtsfahrt erreichen. Dann stolperte sie in den Öltank-Raum und kroch erneut auf Händen und Füßen durch den düsteren Korridor, bis sie endlich oben am Ende einer Treppe Licht sah.

Sie hörte entsetzte Rufe. Dann sagte jemand: »Himmel, da kommt ja eine Frau aus

dem Keller gekrochen?« Es war Viola Oggi, die gerade mit Joe Baxter vorbeikam. Die

beiden waren eben dabei, Vorbereitungen für eine parapsychologische Sitzung in der Klinik zu treffen.

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Baxter hastete die Treppe hinunter, griff der Frau unter die Arme und half ihr nach oben. Eilig rief er einer Krankenschwester zu: »Richten Sie schnell ein Bett her. In welches Zimmer soll ich die Dame bringen?«

Viola packte mit an. Ein Krankenwärter lief herbei und löste sie ab. Ivy Duncan wurde gleich ins nächste leerstehende Einzelzimmer gebracht und in ein Bett gelegt.

Baxter setzte sich zu ihr, während ein Arzt sie untersuchte und ihr eine kreislaufstützende Injektion gab.

»Das war sehr knapp!«, flüsterte er. Ivy Duncan schlug die Augen auf, als sie Joe Baxters Gesicht

sah, lächelte sie erleichtert. »Was ist passiert?«, fragte der Hauptkommissar des

Parapsychologic Department. »Erzählen Sie.« Ivy Duncan atmete schwer. Sie richtete sich auf und

berichtete: »Ich wollte mich mit Dr. Donnels treffen, um heimlich im Haus nach meinem Mann zu suchen. Dr. Donnels meinte eine Spur zu haben. Irgend jemand muß davon erfahren haben. Donnels wurde sicher aufgehalten oder weggebracht. Jedenfalls kam ein anderer und führte mich in den Keller der Klinik. Dort ist ein Raum voll mit medizinischen Geräten. Ein Bett steht auch dort. Und auf diesem Bett ist mein Mann gestorben. Schrecklich. Ich war schon nahe daran, auf diesem Bett zu sterben, aber die Stimmen der Toten haben mich befreit.«

»Wer hat Sie in den Keller gebracht?« Sie stöhnte laut auf. »Es war Dr. Archibald Lovell.« Joe Baxter antwortete kalt: »Das gibt es nicht, Mrs. Duncan:

Dr. Lovell ist in der Gummizelle einer Nervenheilanstalt. Er kann Sie nicht in den Keller geführt und bedroht haben. Es mußte einer gewesen sein, der sich nur das Gesicht des Doktors angeeignet hat.«

»Nein, nein, nein!«, wehrte Ivy Duncan ab. »Ich kenne Dr.

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Archibald Lovell seit so vielen Jahren: seine Gesten, seine Stimme, seinen Gang. Er war es und kein anderer.«

*

»Zu dumm, jetzt haben sie die Kräfte verlassen. Sie hat das Bewußtsein verloren!«

Baxter starrte auf Mrs. Duncan. Zu gern hätte er gewußt, wo der angebliche Dr. Lovell sich jetzt aufhielt.

Baxter ging aus dem Zimmer und bedeutete Viola, sie möge zu ihm kommen. Sie hatte auf dem Korridor gewartet.

»Hilf mir schnell«, flüsterte er. »Mrs. Duncan ist ohnmächtig geworden. Ich muß wissen, was da unten passiert ist. Kannst du ein wenig Gehirnspionage betreiben?«

Viola nickte lächelnd. Sie wandte sich um und ging direkt auf eine

Krankenschwester zu, die des Weges kam. »Mir ist plötzlich übel geworden. Dürfte ich mich in einem Zimmer ein wenig hinlegen?«

Die Schwester nickte: »Kommen Sie, da ist noch ein Zimmer frei.«

Sie führte Viola zwei Zimmer weiter. Die Italienerin bedankte sich, trat ein, verdunkelte die

Fenster, sperrte die Türe ab und legte sich flach aufs Bett. Sie sammelte alle ihre Gedanken und peilte damit das Gehirn der ohnmächtigen Mrs. Duncan an.

»Was ist mit diesem Dr. Lovell? Wo ist er geblieben, als Sie sich aus dem Keller schleppten?«

Stockend kamen die Antwortströme: »Er … liegt sicher noch unten … Es war ja auch ein schreckliches Dröhnen und Tosen … ja … er liegt da unten … Schnell … ehe jemand die Türen und die Wände zu den Geheimgängen schließt … Die Treppe, dann rechts, dann die Türe zum Öltankraum.«

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Langsam strömten Violas Gedanken wieder in ihr Gehirn zurück. Sie sammelte sich wieder und schlug die Augen auf. Mit einem Ruck sprang sie aus dem Bett, zog die Vorhänge wieder beiseite und sperrte die Tür auf. Sie wirkte etwas benommen, als sie heraustrat und direkt auf Baxter zusteuerte: »Ich glaube, ich kann jetzt den Weg nach unten beschreiben. Diesem Dr. Lovell scheint in den Kellerräumen etwas passiert zu sein.«

Baxter fragte erstaunt: »Mrs. Duncan wird ihn doch nicht besiegt haben?«

»Keine Spur«, lachte Viola. »Aber die Stimmen der Toten haben ihr geholfen und ihn erschreckt.«

Sie hatten die Treppe erreicht, über die sich Ivy Duncan gerettet hatte. Sie eilten hinab, passierten einen stockfinsteren Gang ohne Licht, und suchten eine Tür mit der Aufschrift: »Achtung – Gefahr – Öltanks!«

Die Tür war nicht versperrt. Sie traten ein und durchquerten den Raum. Doch dann gab es keinen Weg, der weiterführte. Da war keine Tür, kein Durchgang. Da gab es nur glatte Betonwände ohne geheime Türen.

Es war zwecklos, weiterzusuchen. Baxter hakte sich bei Viola ein und zerrte sie aus dem Raum. Er murmelte: »Es wird ja wohl noch andere Tankräume

geben in diesem Haus.« Sie suchten weiter und fanden tatsächlich eine weitere Tür.

Wieder betraten sie den Raum und untersuchten die Wände Millimeter um Millimeter.

»Halt! Da!« Viola hatte etwas Interessantes entdeckt. Sie näherten sich der Wand. Da gab es fadendünne Linien auf

dem Beton. »Hier ist eine Geheimöffnung eingelassen«, meinte Viola. Doch nirgendwo war eine Möglichkeit zu finden, mit der

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man die Öffnung hätte aufbringen können. Joe lächelte siegessicher: »Ich werde die Öffnung unter

imaginäre Hitze setzen. Dann wird das Schloß zu glühen beginnen. Und schon wissen wir, wo wir zu suchen haben.«

Joe trat einige Schritte zurück und streckte seine Hände aus. Allein mit Gedankenkraft brachte er Hitzewellen auf seine Handflächen und ließ diese gegen die Betonmauer strahlen. Es vergingen wenige Minuten, dann begann der Beton dort zu bröckeln, wo sich das Schloß der Öffnung befand.

Baxter sandte weiter seine Hitzestrahlen. Schließlich war das Schloß gänzlich geschmolzen und der

Zugang frei. Es interessierte Baxter, was sich hinter der Öffnung befand. Viola und der Hauptkommissar standen in einem gemütlich

eingerichteten Zimmer: Da gab es eine Polstergarnitur, einen Rauchtisch, eine Couch, einen Farbfernsehapparat und ein Schreibpult mit einigen medizinischen Notizen.

»Scheint der Zufluchtsort für einen Arzt zu sein!«, meinte Joe.

Viola fügte hinzu: »Aber der Vogel scheint ausgeflogen zu sein.«

Sie tasteten beide die Wände ab. Es gab keinen zweiten Ausgang. Der Bewohner dieses geheimen Unterschlupfs hatte sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht.

»Möchte wissen, um wen es sich handelt«, murmelte Baxter. Er trat an das Schreibpult heran und griff nach einem Blatt Papier, faltete es und steckte es ein.

Dann traten Viola und der Hauptkommissar den Rückweg an.

Die Italienerin murmelte ehrgeizig: »Verdammt, daß wir den Zugang zu den geheimnisvollen Laborräumen nicht finden konnten.«

»Laß nur«, konterte Joe Baxter. »Ich habe einen Plan. Wir

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werden morgen nacht mit einem Psycho-Disc und mehreren Tonbändern herkommen und im Haus eine Para-Anlage aufbauen. Und dann fordern wir die Stimmen der Toten heraus. Vielleicht verraten sie uns, wo das Zentrum der Experimente liegt.«

»Ich verstehe überhaupt nicht, warum uns die Stimmen der Toten nicht freiwillig helfen. Schließlich muß es doch in ihrem eigenen Interesse liegen, daß keine weiteren Menschen mehr ins Zwischenreich gesandt werden.«

Baxter wußte sofort eine Antwort darauf: »Bevor wir darüber urteilen, müssen wir die Toten selbst anhören. Und das werden wir morgen nacht tun.«

Sie hatten die Parterre-Räume der Bedford-Klinik erreicht und strebten den Dienstzimmern der Schwestern zu. Baxter trat ein und bat die leitende Schwester: »Kennen Sie die Handschriften Ihrer Ärzte im Haus?«

»Ja, doch«, entgegnete sie und nickte. Baxter reichte ihr den Zettel: »Wer, würden Sie sagen, hat das

hier geschrieben?« Sie blickte auf das Stück Papier und antwortete ohne Zögern:

»Das erkenne ich sofort: Diese steilen Buchstaben stammen von Dr. Conrad Reynolds.«

»Das ist seltsam«, murmelte Baxter und steckte die Notizen wieder ein: »Dr. Reynolds ist wegen Mordverdachtes flüchtig. Diese Zeilen aber sind ganz frisch. Die Tinte ist höchstens vor einer halben Stunde aufgetragen worden.«

Mit schlurfenden Schritten watschelte Olga Dussowa als Reinemachefrau durch die unteren Etagen der Klinik. Sie hatte noch nicht aufgegeben.

Sie hatte die vorgeschriebenen Zimmer gesäubert und die entsprechenden Mülleimer geleert.

Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, den geheimen Zugang zum Labor zu finden, in dem die Versuche mit den Sterbenden

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stattgefunden hatten. Dieser Zugang mußte doch zu finden sein.

Blitzschnell schoß Olga ein Gedanke durch den Kopf: Sie erinnerte sich, wie Joe ihr von einer Eisentür mit einer Warnplakette wegen der Öltanks erzählt hatte. Sie selbst aber konnte sich genau erinnern, eine rote Plakette gesehen zu haben. Es mußte also im gleichen Korridor noch eine Tür geben.

Langsam ging Olga immer wieder auf dem dunklen Korridor hin und her. Sie klopfte die Wände ab.

Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Unmittelbar vor der Rechtsabzweigung klang es hohl hinter der Mauer. Olga tastete die Mauerecke zu Beginn des Ganges ab. Und dann wußte sie: Ein Teil der Wand ließ sich verschieben. Damit verdeckte die Mauer dann den einen Korridor und öffnete den zweiten, in dem in eben derselben Weise Türen angebracht waren wie drüben. Nur die Plaketten an den Türen hatten andere Farben.

Jetzt war das Rätsel geklärt: Sie war durch eine andere Türe gegangen als Baxter und Viola.

Im Augenblick war nur mehr wichtig, jenen geheimen Hebel zu entdecken, der die Mauer zu verschieben vermochte.

Olga begann wieder die Wand abzutasten. Sie wußte, daß sie nahe an des Rätsels Lösung war. Jäh prallte sie von den Steinen zurück. Ein hysterisches

Kreischen hallte in ihren Ohren wider. Es glich dem Aufheulen einer Kreissäge, wurde immer lauter und lauter und ging dann in einen Sirenenpfiff von unerträglicher Lautstärke über.

Endlich hörte das Geräusch auf. Olga hörte eine Stimme, die zu ihr sprach: »Olga Dussowa,

laß die Finger von einer Sache, die nur wir untereinander auszumachen haben.«

Die Russin sprach langsam, aber bestimmt: »Ich weiß nicht,

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welche Stimme spricht. Aber ich möchte betonen, daß ich gekommen bin, das Verschwinden von 14 Patienten und einen Mord aufzuklären. Davon lasse ich mich nicht abbringen.«

»Aber es wird uns gelingen, dich an deiner Arbeit zu hindern. Wir scheuen vor nichts zurück.«

Olga wunderte sich, daß es plötzlich so still um sie her war. Sie tastete noch eine Weile nach einem versteckten Hebel in der Wand. Dann gab sie auf. Mit Joe und Viola würde das viel schneller gehen. Hauptsache war, daß sie den Zugang zu dem Labor kannte. Sie gab die Suche auf und griff wieder zu Eimer und Besen.

Rasch eilte sie hoch. Bei den letzten Stufen bemerkte sie, wie sie von einer

bleiernen Müdigkeit befallen wurde. Sie konnte kaum noch gehen.

Vor der letzten Stufe brach sie zusammen. Ihre Beine waren vollkommen gefühllos. Sie hatte sich in den vergangenen Tagen zuviel zugemutet.

Sie versuchte, sich mit den Händen aufzurichten. Ein grausiger Schreck zuckte durch ihr Gehirn.

Sie war am ganzen Körper gelähmt. Sie vermochte sich nicht einen Millimeter weiterzubewegen.

Hilflos lag sie da. Auch ihre Stimme versagte. Sosehr sie sich auch bemühte, sie brachte keinen Ton über

ihre Lippen. Ein Wärter kam vorbei, machte große Augen und beugte sich

zu Olga Dussowa herab. »Was ist mit Ihnen?«, fragte er entsetzt. Olga starrte ihn aus angstvollen Augen an. Der Krankenwärter hob Olga auf und trug sie zum

Untersuchungszimmer von Dr. Lovell. Dabei rief er laut: »Aus dem Weg, die Frau kann sich nicht mehr bewegen!«

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Zwei Krankenschwestern eilten ihm entgegen. Sie begleiteten ihn in das Untersuchungszimmer. Eine der beiden flüsterte: »Was ist mit ihr passiert?«

»Sie kann sich nicht mehr bewegen. Es muß ihr irgend etwas bei der Arbeit zugestoßen sein.«

Olga lag auf dem Untersuchungstisch. Da sie sich nicht verständlich machen konnte, war sie verzweifelt.

Für einige Sekunden vernahm sie eine Stimme in ihrem Inneren: »Hättest du die Finger von der Sache gelassen. Jetzt weißt du zu viel.«

Die Tür des Untersuchungszimmers sprang auf. Olgas Augen konnten den Mann sehen, der eintrat und auf

sie zuging. Es war Dr. Archibald Lovell. Oder zumindest ein Mann mit seinem Gesicht. Der Arzt winkte der Krankenschwester zu: »Sie können

gehen. Ich möchte mit der Kranken allein sein.« Olga durchzuckte ein heißer Strahl: Sie hörte zwar nicht, was

der Mediziner sagte. Doch sie konnte den Sinn der Worte an seinen Lippen ablesen:

Sie hatte Angst, er könnte sie jetzt töten. Falls er der große Unbekannte der Bedford-Klinik war, hätte er allen Grund dazu gehabt.

War er es aber wirklich? Und: Falls es sich nicht um Dr. Lovell handelte? Wer steckte

hinter seiner Maske? Der Arzt beugte sich über Olga und lachte. Olga konnte den

Sinn seiner Worte von seinen Lippenbewegungen ablesen: »Ich weiß genau, daß du eine Spionin bist. Ich habe zwar keine Ahnung, warum dir die Stimmen der Toten den Weg ins Labor verwehrt haben, warum sie mir helfen. Sie werden einen Grund dafür haben. Ich habe eine Art Waffenstillstand mit ihnen. Wenn dieser Waffenstillstand zu Ende ist, führe ich

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meine Experimente fort. Und dann bist du mir als Versuchsperson höchstwillkommen.«

Er richtete sich auf, ging zur Tür, öffnete und rief: »Schwester, kommen Sie bitte. Wir verabreichen der Patientin im Augenblick keine Medikamente. Wir werden Sie zuerst einmal ein paar Tage beobachten. Falls sich der Gesundheitszustand verschlimmert, bin ich sofort – bei Tag und bei Nacht – zu verständigen.«

Er machte eine Pause und fügte dann hinzu: »Ja, damit ich es nicht vergesse, Schwester: Rufen Sie doch im Hotel Maybird an und richten Sie Mr. Baxter vom Parapsychologic Department einen Gruß von mir aus. Seine Mitarbeiterin Olga Dussowa ist schwer erkrankt. Er möge doch sofort in die Klinik kommen. Es könnte sein, daß sie stirbt.«

*

Joe Baxter betrat sein Hotelzimmer und eilte ans Telefon. Die Stimme am anderen Ende der Leitung war sehr höflich:

»Hier Bedford-Klinik. Mr. Baxter persönlich?« »Ja, natürlich, was gibts denn?« »Ich soll Ihnen Grüße von Dr. Lovell ausrichten.« »Wie gehts ihm denn?« »Danke, bestens. Er mußte nur dringend weg, sonst hätte er

sie persönlich angerufen.« »Moment mal«, protestierte Baxter heftig. »Doktor Lovell ist

bereits wieder in der Bedford-Klinik?« »Ja, natürlich!«, lautete die Antwort. Rasch fragte Baxter: »Was hat er mir zu sagen?« »Er läßt Ihnen mitteilen, daß Mrs. Dussowa schwer erkrankt

ist und hier liegt.« »Mrs. Dussowa?«, fragte Baxter und ahnte Schlimmes. »Ja«, antwortete die Schwester am Telefon, »die Dame vom

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Parapsychologic Department, die sich als Reinemachefrau bei uns ausgegeben hat.«

»Ach so, das wissen Sie bereits in der Klinik?« erkundigte sich Joe Baxter.

Ein Lachen klang durch die Leitung: »Nein, natürlich nicht. Doktor Lovell hat es mir vorhin gesagt.«

»Was hat meine Assistentin denn?« »Sie ist völlig gelähmt, kann nicht hören und nicht reden.« Olga gelähmt, stumm und taub. Das konnte kein Unfall

gewesen sein. Das war eine gezielte Aktion höherer Mächte. Hastig fragte Baxter: »Wie steht es um Mrs. Dussowa?« »Nicht gut. Sie schwebt in Lebensgefahr!« »Danke, ich komme sofort«, murmelte Baxter und legte auf. Dann drehte er sich langsam zu Viola und sagte mit

zitternder Stimme: »Wir haben jetzt zwei verschiedene Feinde bekommen: nicht nur einen Mörder und wahnsinnigen Experimentator, sondern auch Mächte aus dem Reich der Toten. Ich frage mich nur, warum nun alle gegen uns sind. Ich dachte nämlich umgekehrt, daß wir mit unserer Tonbandsitzung die Mächte in dieser Affäre auf unsere Seite bringen und zur Mitarbeit überreden könnten. Das wird sich aber, nachdem was vorgefallen ist, kaum machen lassen.«

Er wandte sich wieder zum Telefon und wählte die Nummer der Nervenheilanstalt. Er ließ sich sofort mit dem Direktor verbinden.

»Hallo, Baxter, womit kann ich Ihnen dienen?« »Eine Frage. Befindet sich Dr. Lovell noch in Ihrem

Gewahrsam?« »Natürlich, den haben wir in seiner Gummizelle belassen.

Sicher ist sicher«, antwortete der Direktor. »Handelt es sich ganz sicher um denselben Mann, der bei

Ihnen eingeliefert wurde, also tatsächlich um Mr. Lovell?« »Kein Zweifel. Ich bin überzeugt, daß er es ist, wenn er auch

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inzwischen – wie Sie ja wissen – auf rätselvolle Weise ein fremdes Gesicht bekommen hat.«

Baxter wollte ganz sicher gehen: »Trotz des Gesichtes sind Sie sich Ihrer Sache sicher?«

»Unbedingt!« »Danke!« Baxter legte auf, lief aus dem Zimmer und rief

Viola zu, die ihm ganz verwirrt nachsah: »Rasch, wir müssen uns in die Bedford-Klinik bringen lassen. Olga ist in Gefahr. Der Mann, der sich offiziell als Dr. Lovell ausgibt und von seiner Mitwelt auch als derselbe anerkannt wird, hat sie in seiner Gewalt.«

Sie rannten die Hoteltreppe hinunter und baten um ein Taxi. Der Wagen fuhr binnen weniger Minuten vor. Es wurde eine atemberaubende Fahrt.

Vor der Klinik erhielt der Fahrer ein fürstliches Trinkgeld. Baxter und seine Assistentin eilten die Stufen hoch und gingen direkt zum Schwesternzimmer. Dort gab man bereitwillig Auskunft.

Baxter atmete auf, als er vor der Tür stand. Zu Viola flüsterte er: »Geschafft!«

Er öffnete die Tür und starrte sprachlos in den Raum. Das Bett war leer und frisch gemacht. Kein Mensch weit und breit zu sehen. Baxter machte kehrt. Er suchte auf dem Korridor nach einer

Krankenschwester. Endlich sah er eine und bat schnell: »Bringen Sie mich sofort zur leitenden Schwester, es geht um Leben und Tod.«

»Kommen Sie mit«, nickte die Schwester, führte die beiden einige Zimmer weiter und deutete dann auf eine Tür: »Da gehts hinein!«

Baxter, stieß die Türe auf. Erstaunt blickte die leitende Schwester von einer Schreibarbeit auf.

»Mein Name ist Joe Baxter, Hauptkommissar des

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Parapsychologic Department«, stellte er sich vor. »Wo ist Mrs. Olga Dussowa? Sie haben mich doch vorhin angerufen und mir mitgeteilt, daß es ihr sehr schlecht geht.«

Die Schwester nickte zustimmend und meinte dann bedauernd: »Sie haben recht, Mr. Baxter. Aber ihr Zustand hat sich ganz plötzlich noch mehr verschlimmert. Dr. Lovell hat eine sofortige Untersuchung vorgenommen und festgestellt, daß wir in der Klinik nicht die Verantwortung für den Fall übernehmen können. Er veranlaßte eine sofortige Überführung in die Watson-Station des Melbory-Hospitals. Dort ist man auf derartige Lähmungen spezialisiert. Ich wollte Sie im Hotel gleich informieren. Aber es hieß dort, Sie wären schon weggefahren.«

Baxter fragte rasch: »Darf ich von hier aus telefonieren?« »Ja, natürlich, Mr. Baxter, es tut mir leid, daß Sie

Unannehmlichkeiten bekommen haben.« »Schon gut«, sagte Baxter und fragte: »Ist Sie mit einem

Krankenwagen hingefahren worden?« »Ja, Dr. Lovell schimpfte, weil kein Fahrer aufzutreiben war.

Da hat er sich selbst ans Steuer eines Einsatzwagens gesetzt und ist mit der Patientin abgefahren.«

Baxter hatte inzwischen die Telefonnummer des Melbory-Hospitals gewählt und ließ sich mit der diensthabenden Schwester auf der Watson-Station verbinden.

Der Hauptkommissar fragte: »Ist Dr. Lovell vom Bedford-Krankenhaus schon mit seiner Patientin Olga Dussowa bei Ihnen eingetroffen? Die junge Dame ist gelähmt.«

Die Schwester antwortete erstaunt: »Ich weiß nicht, was Sie meinen!«

Baxter wiederholte: »Ihnen wurde die Einlieferung eines komplizierten Lähmungsfalles aus der Bedford-Klinik gemeldet. Eine gewisse Olga Dussowa.«

Die Krankenschwester verneinte: »Tut mir leid. Uns wurde

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weder eine Olga Dussowa bzw. eine junge Gelähmte gemeldet, noch wurde sie bei uns eingeliefert. Dr. Lovell befindet sich – wie ich der Zeitung entnommen habe – in einer Nervenheilanstalt.«

Sie legte auf. Baxter blickte auf die Uhr: »Aber sie müßten doch längst dort

sein. Da ist etwas faul an der Sache. Ich wußte, daß Olga in Lebensgefahr schwebt.«

Das Telefon läutete. Die Schwester hob ab. Sie war sehr verwirrt über das, was sie am anderen Ende des Drahtes hörte. Als sie auflegte, sah sie Baxter fassungslos an und murmelte zögernd: »Es ist etwas Schreckliches passiert, Mr. Baxter. Das Rettungsauto ist außerhalb von London in einer Kurve aus der Fahrbahn geraten und in die Themse gestürzt. Von Dr. Lovell und Mrs. Dussowa fehlt jede Spur.«

*

Rauchschwaden lagen über der riesigen Müllhalde von Saint Alvery. Die Hausratabfälle von halb London wurden dort von verschiedenen privaten und öffentlichen Transportunternehmen abgelagert.

Berge von alten Autoreifen wurden gerade verbrannt. Ein Schlachthaus hatte Gedärme und Fleischabfälle von sechs Kippern abgeladen.

Der 45jährige Larry Spencod saß oben auf seinem Bagger, raffte die Abfälle zusammen und trieb sie einem Feuerberg zu, in dem sie verbrannten und unter penetranter Geruchsentwicklung verkohlten.

Larry Spancod blickte angewidert auf die faulige Masse, die mit alten Konservendosen, Flaschen und riesigen Mengen von Papier durchsetzt war.

Plötzlich schrie er auf.

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Seine Augen traten aus den Höhlen. Er hielt den Bagger an. Er beugte sich über das Steuer und starrte in die Müllmasse.

Zuerst hatte er gedacht, daß ihn Wahnvorstellungen plagten. Doch er sah richtig: Vor ihm ragte ein Menschenkopf aus

dem Dreck. Ein blutverschmierter Kopf mit weit geöffneten Augen. Die Haare waren verklebt, der Mund zusammengepreßt.

»Ein Toter! Da liegt ein Toter!« Immer wieder brüllte Larry Spancod diese Worte, kletterte

von seinem Bagger herunter und stolperte über Geröll und Schmutz zur Hütte des Müllhaldenwärters.

»Bobby, Bobby!«, keuchte er. »Da vorn steckt eine Leiche. Du mußt mit mir kommen und es dir ansehen. Wir müssen die Polizei alarmieren.«

Bobby Sounders rappelte sich aus seinem Korbsessel hoch und stellte die Whiskyflasche weg.

Er erhob sich schweigend und humpelte mit seinen kranken Beinen dem Baggerführer nach. Endlich brummte er: »Du bist ja besoffen. Wie sollte denn auf die Müllhalde eine Leiche kommen. Da müßte ich etwas davon wissen. Ich halte doch Tag und Nacht dort Wache!«

Sie waren bei dem großen Müllhaufen angekommen, den Larry Spancod vorhin hatte ins Feuer schieben wollen.

»Da, schau dir das an. Eine Männerleiche.« Der Baggerführer erschauerte, wenn er daran dachte, daß er den Toten beinahe unter den Greifern seines Baggers gehabt hätte.

Langsam näherten sich die beiden Männer der Fundstelle. Jetzt stand Larry Spancod ganz nahe davor, beugte sich herab und stieß schließlich mit dem Fuß an den Totenkopf.

Die Männer schrien gleichzeitig auf. Der blutverschmierte Kopf begann die Müllhalde

hinabzurollen. Er hatte keinen Körper. »Verdammter Mist«, fluchte der Baggerführer. »Vielleicht

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habe ich die Leiche mit meinem Fahrzeug vorhin zerschnitten. Jedenfalls ist es besser, wir rühren nichts mehr an und holen die Polente.«

Sie stolperten wieder zum Müllwärterhaus zurück. Von dort fuhr Spancod mit einem Fahrrad zum nächsten Wirtshaus und rief die nächste Polizeidienststelle an. Erst dann genehmigte er sich einen doppelten Whisky.

Es vergingen keine zehn Minuten, als die ganze Gegend auf den Beinen war. Die Kunde von der Leiche auf der Müllhalde war vom Aufseher des Abladeplatzes schnellstens verbreitet worden.

Polizeisirenen echoten bereits übers Gelände. Hinter dem Funkstreifenwagen folgte ein Auto der

Gerichtsmedizin und ein Spezialeinsatzwagen von Scotland Yard.

Ächzend stieg Chefinspektor Callon aus dem Fahrzeug. Constabler Smith folgte ihm eilig.

Die Uniformierten stapften voran. Sie ließen sich vom Baggerführer zu der bewußten Stelle

führen. Zwei Polizisten, bis zum Bauch in Gummistiefeln und

Gummihosen, stiegen in den Abfallberg und näherten sich dem Totenkopf. Sie hoben ihn mit Plastikhandschuhen auf und brachten ihn zu Chefinspektor Callon. Der Polizeiarzt stand schon bereit. Auf einen Blick sagte er: »Der Kopf ist nicht auf der Müllhalde durch eines der Fahrzeuge vom Körper abgetrennt worden. Er muß vielmehr mit einem Messer abgeschnitten worden sein.«

»Nachschauen, ob der Rumpf auch irgendwo liegt!«, befahl Chefinspektor Callon. Für diesen Auftrag aber waren entschieden zu wenig Polizisten da. Der Einsatzwagen forderte drei Busse mit Polizei-Schülern aus London an. Binnen einer halben Stunde standen 200 Mann – ebenfalls mit

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Gummistiefeln und Gummihandschuhen ausgerüstet – an der Müllhalde für die Suchaktion bereit.

Auf ein Pfeifsignal marschierten sie los und untersuchten Zentimeter um Zentimeter, indem sie Schulter an Schulter den ganzen Haufen abmarschierten und durchstocherten.

Nach einer Viertelstunde näherten sie sich der Fundstelle des Totenkopfes.

Da stockte die Kette. Einem der Polizisten wurde übel. Er brach zusammen. Die

anderen liefen heran. Der Uniformierte war gleich auf zwei Totenköpfe gestoßen.

Er war ausgeglitten, niedergestürzt, hatte sich im Müll festgehalten und dabei auf zwei weitere Totenköpfe gegriffen.

Jetzt war bei der Müllhalde der Teufel los. Vorsichtig wurden die Schädel zum ersten Fund gebracht. Die Suchaktion wurde an der betreffenden Stelle intensiviert.

Die Bilanz war mehr als schauerlich: Die jungen Polizisten holten insgesamt 14 Totenköpfe aus dem Müll. Köpfe ohne Körper. Und bei allen sagte der Polizeiarzt überzeugt: »Hier war das Skalpell eines Arztes am Werk. Fragt sich nur, wo die übrigen Teile der Toten sind!«

Chefinspektor Callon schüttelte den Kopf: »Was muß das für ein Mensch sein, der solche Taten durchführt? Allein der Gedanke daran ist unerträglich. Na Prost, Mahlzeit, das wird eine Arbeit werden, bis wir wissen, wer die Opfer sind.«

Constabler Smith warf ein: »Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf, Chef, so dürfte es nicht schwer sein, die Leute zu identifizieren. Die Gesichter sind ja deutlich erkenntlich.«

Er zeigte auf einen der Köpfe und meinte: »Beispielsweise der kommt sogar mir bekannt vor. Ich glaube, ich habe das Gesicht schon einmal irgendwo gesehen. Es fällt mir nur im Augenblick nicht ein, wo.«

Smith griff sich an den Kopf und dachte nach.

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Das regte auch die Gehirnimpulse Chefinspektor Callons an. Er mußte zugeben: »In der Tat: Das Gesicht kommt mir verdammt bekannt vor!«

Einer der Uniformierten salutierte und sagte leise: »Ich weiß, wem dieser Kopf gehört. Ich habe den Mann in der Zeitung gesehen.«

»So reden Sie schon!«, forderte ihn Chefinspektor Callon auf. Die Antwort lautete: »Es ist der Schuhmillionär James

Duncan, der kürzlich auf rätselhafte Weise aus der Bedford-Klinik verschwunden ist.«

*

Irgendwo tropfte unentwegt Wasser von oben auf einen Stein. Es war dunkel ringsum. Es roch nach Moder.

Olga Dussowa vermochte sich noch immer nicht zu bewegen. Ihre Lippen versagten den Dienst. Sie lag da wie eine Tote. Ganz allein, ihrem Schicksal ausgesetzt. Der Arzt mit dem Gesicht Dr. Lovells war mit dem Rettungswagen unterwegs stehengeblieben, hatte Olga herausgeholt, und das Auto dann im Wasser versenkt. Nachher hatte er Olga in ein Haus an der Straße gebracht. Hier lag sie nun in einem finsteren Loch.

Endlich hörte sie Schritte. Eine Tür wurde aufgestoßen. Jäh fielen grelle Lichtstrahlen in Olgas Augen. Ihr Kopf begann zu schmerzen. Allmählich erkannte sie das Gesicht des Doktors über sich. Sie strengte sich an, um an der Bewegung seiner Lippen zu verstehen, was er sagte.

»Hier findet dich keiner. Und solange die Stimmen der Toten auf meiner Seite sind, solange mußt du mir gehorchen. Ich brauche dich, denn wenn ich wieder mit meinen Experimenten beginne, wirst du die Nächste sein, die an meine Apparate angeschlossen wird. Und vergiß nie: Was immer auch mit dir

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geschieht – es ist eine Gnade, in die Hände eines so großen Forschers zu gelangen!«

Olga wollte sich bewegen, doch es gelang ihr nicht. Olga Dussowa kam sich wie ein Wurm vor, der zusehen

mußte, wie er zertreten wurde. *

Joe Baxter rannte wie ein gereiztes Tier in seinem Hotelzimmer auf und ab: »Jetzt haben wir den Salat. Die 14 Menschen, nach denen wir vergeblich gesucht haben, sind tot. Und nicht nur das; unser feiner Mediziner, der mit ihnen experimentiert hat, schnitt ihnen noch feinsäuberlich die Köpfe ab und deponierte diese auf einer Müllhalde. Sauerei das Ganze!«

Viola verkrampfte verzweifelt ihre Hände. »Und keine Spur von Olga. Wenn ich mir vorstelle, daß auch sie in die Hände dieses Menschen geraten ist.«

»Jammern hat jetzt keinen Sinn. Wir müssen versuchen, so rasch als möglich Hilfe zu schaffen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Kerl derzeit Ruhe hat, Experimente durchzuführen.«

»Quatsch«, entgegnete Viola Oggi. »Der tötet Olga, weil sie zuviel weiß.«

»Das ist kein überzeugendes Motiv. Olga ist so gut wie tot. Sie ist gelähmt, kann nicht reden und hört nichts.«

»Wir müssen versuchen, Olgas Sinne anzupeilen«, schlug Viola vor. »Vielleicht erfahren wir auf diese Weise, wo sie ist.«

Joe nickte. Er holte ein Stück Kreide aus seinem Reisekoffer, kehrte

zurück, rollte den Teppich vom Parkettboden des Hotelzimmers fort und zeichnete einen magischen Kreis.

Viola nickte und legte sich in den weißen Ring, kreuzte die Arme über der Brust, schloß die Augen und sprach einige ihrer

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Zauberformeln. Ihr Geist wurde leicht wie ein Vogel und hob sich von ihrem Körper ab. Ihre Gedankenimpulse sandten weite Strahlen aus und suchten die Antwort einer vertrauten Seele: nämlich jener von Olga Dussowa.

Wie oft hatten Viola und Olga in Gefahrensituationen miteinander auf diese Weise Kontakt gehabt, obwohl die eine nicht wußte, wo die andere war.

Joe saß bei dieser Konzentrationsübung seiner Assistentin still daneben. Aus ihren Reaktionen versuchte er mitzuerraten, wo Olga sich aufhalten könnte.

Viola schickte ihre seelischen Kräfte in jene Richtung, in der der Rettungswagen mit Dr. Lovell dem Polizeibericht nach verunglückt war.

Fast eine Stunde kreisten Violas Gedanken und Wünsche über dieser Region und versuchten, vertraute Schwingungen aufzunehmen. Viola spürte wohl Vibrationen, doch weiter geschah nichts. Keine Reaktion.

Olga meldete sich nicht. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Sie wurde von den

Totenstimmen mit Gewalt zurückgehalten und selbst am magischen Denken behindert, oder aber sie war inzwischen ins Jenseits befördert worden und befand sich noch in einem Stadium, das ihr eine Kontaktaufnahme mit irdischen Lebewesen unmöglich machte.

*

Dr. Leon Duvaleux, Direktor des Parapsychologic Department, fuhr mit seinem Wagen aus der Stadt. Er wollte an der Peripherie von Paris gut essen gehen und einen Schluck Wein trinken.

Als er in die Rue Sonnerie einbiegen wollte, streikte das Lenkrad. Es drehte sich nicht mehr und die Räder konnten

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daher keine Richtung einschlagen. Der Wagen fuhr schnurgerade weiter. Dr. Duvaleux kam in arge Not, weil er den Blinker betätigt hatte und diesen schnell wieder abschalten mußte. Die anderen Autofahrer hinter ihm fluchten.

Erst jetzt dachte Dr. Duvaleux nach, warum er eigentlich instinktiv weitergefahren war.

Plötzlich wußte er es, das heißt, er fühlte es. Seine Mutter saß daheim in der Rue de Garvens, starrte in ihre Glaskugel und beorderte ihren Sohn in einer dringenden Angelegenheit zu sich. Und er gehorchte ihren Kräften, ohne sich dessen bewußt zu sein.

Lächelnd griff Dr. Leon Duvaleux ans Steuer und fuhr zum Haus seiner Mutter.

Madame Therese Duvaleux wartete schon auf ihn. Sie stand in der offenen Tür und lächelte dankbar: »Fein, daß du da bist. Komm gleich herein.«

Sie führte ihn in ihr Zimmer, in dem nur drei Kerzen brannten. Das Licht brach sich in der magischen Kugel auf dem Tisch. Auf einen Blick erkannte der Direktor des Parapsychologic Department, daß seine Mutter seit Stunden für ihn und seine Mitarbeiter tätig war.

Langsam sagte sie: »Auch ich habe versucht, Kontakt mit Olga aufzunehmen. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, doch sie ist nicht tot. Sie lebt. Sie ist in der Macht jener Totenstimmen, die aus dem Jenseits gerissen und in ein Zwischenreich gezwungen wurden.«

»Warum tun sie das um alles in der Welt?«, fragte Dr. Duvaleux.

»Das weiß ich noch nicht«, sagte die Wahrsagerin und fuhr fort: »Olga ist in großer Gefahr, nachdem 14 Menschen bisher einem Experiment zum Opfer fielen.«

Dr. Duvaleux beugte sich vor und ergriff die zarten Hände seiner betagten Mutter. »Wir stehen vor einem Rätsel. Von

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jenen 14 Menschen, die bei mysteriösen Versuchen an einem bisher unbekannten Ort in der Bedford-Klinik ums Leben kamen, haben wir die abgeschnittenen Köpfe gefunden. Was hat das zu bedeuten? Hängt das mit dem Experiment zusammen? Was ist mit jenen Patienten geschehen?«

»Ich glaube«, meinte Madame Duvaleux, »das kann uns nur einer beantworten: Nostradamus.«

Sie löschte die Kerzen, daß es im Raum ganz dunkel war. Dann wandte sie ihr Gesicht dem Kamin zu, über dem das Ölgemälde von Nostradamus angebracht war. Sie murmelte die gewohnten Beschwörungsformeln.

Plötzlich blitzte im großen Ölbild ein Licht auf. Ein Kranz von Strahlen umgab das Gemälde. Ganz deutlich wurde das Gesicht des Sehers bemerkbar. Seine Augen bewegten sich. Er wandte seinen Kopf in Richtung von Madame Duvaleux, lächelte gütig und murmelte: »Ich grüße Euch, Therese und Leon. Wie kann ich Euch helfen?«

Die Wahrsagerin begann zu sprechen: »Du kennst sicher unsere Sorgen.«

Er nickte: »Ich wäre nicht Nostradamus, wenn ich nicht längst darüber informiert wäre.«

»Dann wirst du uns auch sagen können, was die 14 Totenköpfe auf der Müllhalde außerhalb von London zu bedeuten haben!«

Seine Stimme wurde feierlich, wie bei allen Prophezeiungen, die er von sich gab: »Die Toten mußten ihre Köpfe opfern, weil der Experimentator einen letzten verzweifelten Versuch machte, die Seelen zu einer Aussage zu zwingen, die er sich von ihnen erhoffte. Die Seelen, die er aus dem Jenseits zurückholen wollte, gelangten durch einen Fehler nicht mehr in ihre Körper und blieben als zwischenweltliche Wesen existent: unglücklich und voll verzweifelter Gedanken. Es gab noch die Hoffnung mein großes Seherwort anzuwenden:

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Trenne den Kopf vom Körper und die Seele wird beide vereinigen! Ich habe das anders gemeint. Ich deutete damit an, daß eine geistige Trennung von Geist und Körper die Seele zur größten Kraftanstrengung zwingt, beide wieder zu vereinigen. Mit Kopf meinte ich den Geist. Der Arzt aber faßte es anders auf und handelte wörtlich. Darum diese grausigen Taten, die ihm zu keinem Erfolg verhalfen. Ich sage Euch: Er ist im Begriff, die Nerven zu verlieren.«

Madame Duvaleux räusperte sich und fragte dann Nostradamus: »Wer ist dieser Arzt? Kannst du uns seinen Namen nennen?«

Nostradamus schüttelte den Kopf: »Nein, ich darf euch den Namen nicht nennen, wenn ich selbst auch sehr wohl weiß, wer er ist. Ich würde damit Olga Dussowa in noch größere Gefahr bringen. Und das könnten wir alle nicht verantworten.«

*

Auf den Korridoren der Bedford-Klinik brannten nur noch die Notlichter. In den Krankenzimmern war es seit Stunden ruhig. Nur in den Dienstzimmern der Nachtschwestern gab es normales Licht.

Die Wanduhr beim Haupteingang des Spitals zeigte Mitternacht.

Baxter hatte gemeinsam mit Viola ganze Arbeit geleistet. In jedem Korridor war ein Tonband an den Stromkreis angeschlossen und mit einer Zentralsteuerung im Direktionszimmer gekoppelt. Auch im Keller waren die Magnetophone aufgestellt und warteten nur darauf, eingeschaltet zu werden.

Im Direktionszimmer hatte Baxter sein Hauptquartier aufgeschlagen. Dort stand auf dem Schreibtisch sein Psycho-Disc, die technische Verbindung zu den Verstorbenen.

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Davor war ein Mikrophon aufgestellt. Viola lief alle Geräte im Haus ab und sah nach, ob sie in

Ordnung waren und ob auch niemand etwas verändert hatte. Sie kam atemlos zurück, ließ sich in einen Sessel fallen und

sagte: »Ich denke, du kannst beginnen!« Baxter löschte das elektrische Licht im Zimmer und

entzündete nur eine kleine Kerze neben dem Psycho-Disc. Dann gab er Viola ein Zeichen mit der Hand. Seine Mitarbeiterin ließ sich zur Erde nieder, ahmte mit den Armen die Konzentrationsstellung eines indischen Jogi nach und murmelte Zauberformeln.

Baxter spürte eine unheimliche Luftbewegung. Das bedeutete: Die überirdischen Kräfte, die sich in der

Klinik aufhielten, wurden unruhig und fühlten sich aktiviert. Baxter legte Viola beide Hände auf den Kopf. Sie verstummte

sofort. Es war jetzt ganz still. Baxter streckte seine Arme aus, preßte die Finger fest

aneinander und rief feierlich: »Ihr Stimmen der Toten, die Ihr umherjagt und keine Rückkehr ins Jenseits findet! Wir rufen Euch! Wir wollen mit Euch sprechen. Fürchtet nicht, daß wir Euch böse gesinnt sind. Wir wollen Euer Seelenheil und werden sogar dafür kämpfen. Meldet Euch! Denn nur mit unserer Hilfe könnt Ihr ins Jenseits zurückkehren. Nur mit Eurer Hilfe können wir hier auf Erden unsere große Aufgabe erfüllen. Meldet Euch … Meldet Euch …!«

Doch keine einzige Stimme meldete sich. Der Hauptkommissar gab nicht auf. Er richtete sich auf,

streckte noch einmal seine Arme aus und rief abermals: »Stimmen der Toten! Ihr habt weder einen Körper noch einen Platz im Jenseits. Warum schützt Ihr einen Menschen, der schuld an Eurem Elend ist? Warum helft Ihr diesem Arzt, der lediglich weitere Menschen ins Verderben stürzen will?«

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Über die Korridore erklang ein höhnisches Lachen. Sekunden später ertönte eine Stimme: »Was wir tun, ist gut.

Maße dir nicht an, uns zu mahnen und uns auf andere Wege bringen zu wollen. Wir wissen, daß du gern den Namen des Arztes wissen möchtest, der mit viel Geschick ein Labor aufbaute, das bisher keiner fand. Wir kennen es, aber wir verraten das Versteck nicht. Wir wissen, wer dieser Mensch ist, aber du wirst es nie erfahren.«

Baxter brüllte förmlich aus sich heraus: »Ich verstehe nicht, warum Ihr einen Mann schützt, der Euch ins Unglück gestürzt hat.«

Wieder erklang das höhnische Lachen über dem Hauptkommissar. Dann drangen folgende Worte in sein Gehirn ein: »Wenn wir ihn dir verraten, wirst du ihn verfolgen, wirst ihn verhaften lassen und vor ein irdisches Gericht stellen. Wir wollen ihn für uns allein haben und allmählich mit ihm fertigwerden.«

»Ihr wollt Rache üben!« rief Baxter. »Nein … nein … nein!« kam es aus verschiedenen

Richtungen. »Wir wollen in erster Linie klären und wieder klären. Wir haben einen Vertrag mit dem Arzt geschlossen. Hält er sich daran, ist es gut. Bricht er die Abmachung, werden wir ihn vernichten. Dazu brauchen wir keine Menschen, die sich wichtigtun und sich in unsere Angelegenheiten einmischen.«

Baxter fragte lauernd: »Warum wollt Ihr so große Aktionen durchführen, wenn Ihr schon einmal im Jenseits wart und dort die Friedfertigkeit erfahren habt?«

Dröhnend donnerte eine Stimme: »Du machst dir Sorgen um Dinge, die dich nichts angehen. Wir waren nur sehr kurz im Jenseits, und wir haben eine Schwester unter uns, die jahrelang einer Teufelssekte in San Francisco angehörte. Sie hat gelernt, wie man mit bösen Menschen fertig wird und mit ihnen

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Verträge abschließt. Sie hat aber auch gelernt, wie man sie vernichten kann. Wenn Ihr Körper auch nicht mehr existiert – ihr Geist kennt alle Geheimnisse.«

»In der Teufelssekte lernt man doch, wie man das Böse anbetet«, warf Baxter ein, um den Wert der Aussage dieser Toten zu untergraben.

Da lachte die Stimme: »Alberner Mensch. Unsere Schwester wurde damals gewaltsam in die Teufelssekte eingeführt und hing ihr nur zum Schein an. Deshalb lernte sie, mit den Bösen zu leben und sie zu besiegen, ohne daß sie es merkten.«

Ein Chor stimmte mit ein: »Laß uns in Frieden unsere Arbeit tun. Wir helfen dir nicht zum Ziel.«

Die letzten Worte verloren sich wie ein Echo und kehrten dann mit doppelter Lautstärke in den Korridoren zurück.

Joe Baxter lagen noch viele Fragen auf der Zunge. Er äußerte sie zwar alle in dem dunklen Raum, jedoch vergebens, denn die Stimmen meldeten sich nicht mehr. Auch Luftschwingungen waren keine mehr wahrnehmbar.

Baxter holte mit Viola die Tonbandgeräte aus allen Teilen der Klinik. Sie spielten sie der Reihe nach ab und auf keinem war auch nur eine einzige Stimme zu hören.

»Habe ich mir vielleicht alles nur eingebildet?«, fragte er verstört.

Viola schüttelte den Kopf: »Nein, Joe: Ich habe die Stimmen der Toten gehört wie du.«

»Und deine Meinung?«, fragte Baxter schnell. »Wir müssen im Alleingang den Fall zu klären versuchen.

Aber zügig und schnell, denn sonst lösen ihn die Toten, und zwar so, wie wir es nicht wollen.«

»Hast du einen brauchbaren Vorschlag?« Viola nickte heftig: »Ich fliege sofort nach San Francisco und

nehme an einem Treffen der Teufelssekte teil. Vielleicht erfahre ich dort einiges über die Geheimnisse, mit denen man Bosheit

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bannt und mit Totenstimmen verfährt. Ich habe das Gefühl, die Reise wird nicht vergeblich sein.«

Baxter setzte sich. »Nur müssen wir zunächst den Namen der Person feststellen, die dem Teufelsklub angehörte, und um welche Sekte es sich hierbei handelte. In San Francisco gibt es viele dieser Art.«

Viola murmelte: »Das wird Direktor Duvaleux über Interpol herausbekommen. Ich habe da aber eine ganz besondere Idee …«

»Und die wäre?« wollte Baxter wissen. Die Antwort kam sofort: »In der Masse der Totenstimmen

war es bei der soeben erfolgten Sitzung nicht möglich, eine einzelne Wesenheit festzuhalten und zu befragen. In der Weihestunde der Teufelssekte aber kann man einzelne verstorbene Mitglieder rufen und mit ihnen sprechen. Und davon verspreche ich mir eine ganze Menge.«

Baxter lehnte sich zurück und konzentrierte sich auf das Büro seines Chefs. Gedankenblitze jagten mit Lichtgeschwindigkeit nach Paris, so daß Dr. Duvaleux ein Kribbeln und Stechen im Kopf verspürte. Er blickte von seiner Arbeit im Büro auf und schloß die Augen. »Hallo, Baxter, schön, daß Sie Ihren Chef anpeilen. Sie werden doch nicht etwa zuwenig zu tun haben?«

Baxter bombardierte seinen Chef sofort mit seinen wichtigsten Anliegen:

»Sie kennen doch die Namen jener 14 Personen, deren Stimmen in der Klinik Panik und Angst verbreiten? Lassen Sie bitte überprüfen, ob eine der verstorbenen Frauen längere Zeit in San Francisco gelebt hat. Vielleicht können Sie auch herausfinden, ob und mit welcher Teufelssekte sie in San Francisco in Verbindung stand.«

»Okay«, antwortete Direktor Dr. Leon Duvaleux. »Ich werde mein Bestes tun. Warten Sie und bleiben Sie auf Empfang.«

Baxter versprach es und ließ sich in einem tränceähnlichen

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Zustand in den Sessel zurückfallen. Viola starrte ihn erwartungsvoll an. Sie wußte, daß sie jetzt

kein Wort sagen durfte. Sonst war die Verbindung des telepathischen Gesprächs unterbrochen.

Endlich meldete sich Dr. Duvaleux wieder: »Hallo, Baxter?« »Ja, Chef, ich bin da und warte.« »Es handelt sich um die 43jährige Joan Croxham. Sie war mit

einem Magier verheiratet und gehörte der Teufelssekte des bekannten Musikers Charles Lable an. Die Sekte ist jetzt noch aktiv und residiert jeden Samstagabend in San Francisco, Kingsroad 13.«

»Danke, Chef!« Dr. Duvaleux fragte nur kurz: »Wer fliegt hin?« »Viola!« »Richten Sie Ihr meine Grüße und besten Wünsche aus. Sie

soll aufpassen, daß sie nicht von der Teufelssekte als Schwester geweiht und dabehalten wird. Die mögen hübsche Blondinen. Sie machen sich so wunderbar, wenn sie auf dem Opfertisch liegen und Liebesopfer darbringen.«

»Keine Sorge, Direktor. Wenn der Satan erkennt, was sie für ein Mundwerk hat, mit dem sie jeden Mann niederreden kann, wird er gern auf dieses Exemplar verzichten.«

Die telepathische Verbindung war unterbrochen. Viola sprang auf: »Ich habe zwar nicht gehört, was ihr da

gefunkt habt. Das letzte war jedenfalls privat. Und wie ich deiner Miene entnehmen konnte, wahrscheinlich irgend eine Spitze gegen mich. Es ist jammerschade, daß eine so wunderbare parapsychologische Erfindung wie die Gedankenübertragung über Länder und Meere hinweg von Euch so mißbraucht wird. Da sollte man doch nur wichtige Meldungen durchgeben.«

»Aber Viola-Kind, das war wichtig. Wir haben festgestellt,

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was du für ein bildschönes Wesen bist, wenn auch mit einem flinken Mundwerk.«

Viola zeigte die Zunge. Worauf Baxter seine Stirne runzelte: »Aber, aber, Frau

Kollegin. Sie gehen nicht mit dem nötigen Ernst an unseren Fall heran.«

*

Die Fenster im Saal waren mit schwarzen Tüchern verhängt. An den Wänden waren Eisenringe angebracht. Darin waren brennende Fackeln befestigt. In der Mitte des Raumes stand ein breiter Steintisch, über den ebenfalls ein schwarzes Tuch mit magischem Kreis gebreitet war.

Auf dem Steinboden lag das Teufelsbuch der Sekte. In einer Ecke hockten Mädchen mit Flöten und Trommeln. Noch war alles ganz ruhig. Plötzlich ertönte ein lauter

Trompetenstoß. Ein schwarzer Vorhang wurde am Eingang zur Seite

geschoben. Der Chef der Teufelssekte, Charles Lable, trat feierlich ein. Er war in ein schwarzes Tuch gehüllt, trug eine silberne Maske und einen Teufelshut mit zwei dicken Hörnern. Seine Fingernägel waren schwarz bemalt. Er machte ein ernstes Gesicht und führte Viola Oggi an der Hand. Hinter den beiden kamen die Sektenmitglieder: Frauen und Männer, alle in schwarze Tücher gehüllt. Sie sammelten sich um den Steintisch.

Ein Trommelwirbel hallte durch den Saal. Charles Lable hob den Kopf und rief: »Wir haben heute eine

neue Schwester unter uns. Sie hat eine Bitte, die wir ihr im Interesse unseres Herrn erfüllen müssen. Bei uns war einst eine Schwester namens Joan Croxham Mitglied. Sie wehrte sich gegen unsere Bräuche, deshalb ist es ihr auch nicht gut

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ergangen. Wir wollen mit ihr sprechen. Sie soll uns allen ein mahnendes Beispiel sein.«

Viola mußte innerlich lachen, denn es war ihr doch tatsächlich gelungen, Lable im Laufe eines dreistündigen Gespräches davon zu überzeugen, daß er damit seinem Herrn und Meister einen Dienst erwiese. Darum hatte er nichts dagegen einzuwenden, Viola in dieser Sache zu helfen.

Der Trommelwirbel verstärkte sich. Dann brach er jäh ab. Langsam stieg sie die Steinstufen zu dem Tisch empor und

legte sich hin. Die Männer begannen im Chor Lieder zu singen. Die Frauen blieben stumm, kamen näher und tasteten Viola ab. Dann trat der Satanspriester hinzu und malte ihr mit roter Farbe den magischen Kreis auf ihren Körper.

Viola Oggi schloß die Augen. Jetzt war sie berechtigt, im Kreise der Teufelsanbeter zu sein und ihre Geheimnisse mitzuhören.

Nun breitete der Satanspriester die Hände über Viola aus und rief: »Beginnt mit den Zaubergesprächen. Holt uns die Wesenheit Joan Croxhams herbei. Wir wollen Sie etwas fragen.«

Wieder begannen die Trommeln wild zu schlagen. Die Frauen setzten sich nieder und sprachen geheimnisvolle Texte in fremden Sprachen, um sich auf die Begegnung mit der Wesenheit vorzubereiten.

Die Stimmen wurden immer hysterischer, dann brachen sie jäh ab.

Plötzlich schwebte über Violas Körper eine andere Stimme, die gequält rief: »Was wollt Ihr von mir? Warum ruft Ihr in Euren Formeln immer wieder nach mir? Ich gehöre zu einer Gruppe von Totenstimmen, deren Dasein beklagenswert ist. Was soll ich bei Euch? Laßt mich wieder fort.«

Viola Oggi ergriff die Gelegenheit, setzte sich auf und fragte:

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»Du warst einmal Jean Croxham?« »Ja«, hallte es durch den Raum. »Du warst krank und kamst in die Bedford-Klinik in

London?« »Ja.« »Man hat dich, als es dir dort gesundheitlich schlecht ging,

heimlich in den Keller gebracht, deinen Körper in einem unterirdischen Labor an Apparaturen angeschlossen, um dein Sterben zu beobachten?«

»Ja.« »Deine Seele und dein Geist sind ins Jenseits aufgefahren,

wurden jedoch mit Gewalt für diesen Versuch wieder auf die Erde zurück geholt? Da das Experiment aber mißglückt ist, konntest du nicht in deinen Körper zurückkehren und bist jetzt eine rastlose Wesenheit ohne Hoffnung auf Rettung?«

»Ja«, antwortete die Stimme kraftlos und zitternd. Viola holte zum letzten Schlag aus und versprach sich davon

Erfolg: »Wer hat dich in den Keller gebracht und ins Jenseits befördert? Wer hat dich wieder zurückgeholt und dein derzeitiges Schicksal verschuldet, nur weil er einer fixen Idee nacheilt? Wer war es?«

Ein Schreien des Wesens erfüllte die Luft. Ein Keuchen und Stöhnen folgte, dann erklangen gequälte Worte: »Ich will dir ja helfen, wenn ich es auch nicht darf. Die anderen, zu denen ich gehöre, haben es verboten … Ich will dir wohl helfen, aber ich darf dir nur eines sagen.«

»So sag es schon«, forderte Viola Oggi. »Olga Dussowa, deine Freundin und Kollegin …« Hastig erkundigte sich Viola: »Ja, was ist mit ihr? Sprich

schon!« »Olga Dussowa liegt gelähmt in London. Einige hundert

Meter von der Stelle, wo der Rettungswagen ins Wasser stürzte, steht ein Landhaus. Dort wird sie versteckt gehalten.

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Ihr könnt ihr helfen, wenn Ihr sie findet. Zwei Bäder mit aufgekochtem Hexenkraut machen sie wieder gesund. Es ist nur ein Bann, der auf ihr liegt.«

Viola wollte genauere Angaben: »Was ist das für ein Haus? Wie können wir es finden?«

»Es ist das Landhaus von Doktor Conrad Reynolds.« Dann verebbte die Stimme. Die Fackeln erloschen. Es war stockfinster im Raum. Jäh

blitzte Licht auf und Musik erklang. Die Männer und Frauen begannen sich in wilden ekstatischen Tänzen zu drehen, bis sie vor Erschöpfung niedersanken und einschliefen.

*

In langsamem Tempo fuhr ein gelber Sportwagen die schmalen Serpentinen nach Stonewood empor und zweigte vor dem Dorf in den nahen Wald ab.

Schon nach wenigen Fahrminuten leuchtete das dunkelbraune Holz eines Jagdhauses zwischen den Bäumen hervor.

Carol Summers jauchzte: »Das ist ja wundervoll! So etwas habe ich mir immer schon gewünscht.«

Dr. Sam Donnels parkte den Wagen, sie stiegen aus und eilten zu dem Haus. Der junge Arzt meinte: »Ich habe das Grundstück mit dem Jagdhaus gemietet. Man kann sich hier so wunderbar von den Strapazen der wöchentlichen Arbeit im Krankenhaus erholen.«

Carol Summers lachte: »So eine Entspannung könnte ich als Journalistin ebenfalls gebrauchen. Es ist nett, daß Sie mich mal übers Wochenende hierher mitgenommen haben.«

Sie betraten das Haus und machten es sich gemütlich. Carol setzte Tee auf und richtete einige Sandwiches her. Dann setzten sie sich in die gemütliche Kuschelecke und begannen

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zu plaudern. Dr. Donnels erhob sich und legte eine Schallplatte auf. Dann

setzte er sich wieder zu Carol … Sie schmiegte sich eng an ihn an. Er drückte sie fest an sich, beugte sich über ihr Gesicht und

küßte sie. »Aber, Herr Doktor!«, mahnte sie scherzhaft. Sein Gesicht wurde plötzlich todernst: »Carol, ich muß mit

Ihnen reden. Ich war vom ersten Augenblick an von Ihnen fasziniert. Ich liebe Sie. Ich möchte nicht, daß wir hier ein Wochenende verbringen, ohne vorher über die Zukunft geredet zu haben.«

»Zukunft?«, fragte Carol Summers erstaunt. Dr. Donnels errötete leicht, wie es seine schüchterne Art war

und meinte dann unbeirrt: »Sie mögen mich vielleicht auslachen oder für altmodisch halten. Aber ich schlafe nicht so ohne weiteres mit einem Mädchen.«

Sie lachte: »Und ich dächte schon, ich wäre die Tausendste und bekäme vielleicht noch eine Prämie dafür.«

Er war sichtlich irritiert: »Lassen Sie bitte diese Scherze, Carol. Ich liebe Sie und möchte Sie heiraten. Ich glaube, Sie brauchen jemand in Ihrem Leben, der fest zu Ihnen hält. Außerdem habe ich das Gefühl, daß Sie in der Angelegenheit Duncan ein großes Erbe antreten werden. Und ich denke, da sollten Sie einen Mann zur Seite haben, auf den Sie vertrauen können.«

Carol fragte: »Es wird Ihnen aber doch wohl nicht ums Erbe gehen?«

Er blickte sie entsetzt an: »Es war dumm von mir, gerade darüber zu reden. Ihre Erbschaft ist mir völlig egal. Ich mache mir nichts aus Geld. Ich habe wirklich nur an Sie gedacht.«

Er küßte sie wieder. Es war ein gefühlvoller Kuß. Dennoch löste sie sich sanft: »Doktor Donnels, da ist so eine

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sonderbare Sache: Ich wiederum kann zu einem Mann nicht gleich ja sagen, wenn ich ihn erst so kurz kenne. Sie mögen es für unmoralisch halten, doch ich dachte, daß wir uns hier ein vergnügtes Wochenende machen, mehr nicht. Denken Sie doch nach, Doktor: Sie sind ein aufstrebender junger Arzt mit wenig Zeit. Ich eine Journalistin, die viel in der Welt umherreist. Wir hätten doch kaum Zeit füreinander. Da gäbe es doch bald Mißverständnisse und Klagen, vielleicht auch Streit.«

Er stammelte: »Soll das heißen, daß Sie ablehnen, mich zu heiraten?«

Sie lachte: »Machen Sie doch nicht so ein verzweifeltes Gesicht, Sam. Sie sind ein großes Kind. Lassen Sie uns doch fröhlich sein!«

Sie warf sich auf ihn, bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Dann flüsterte sie: »Und jetzt werden wir alles rund um uns vergessen und glücklich sein. Probleme wälzen können wir später noch.«

Sie drückte ihre Lippen auf seinen Mund. Sie sanken in die weiche Polsterung der Kuschelecke zurück.

*

Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Der neue Tag war angebrochen. Carol erwachte wie gerädert.

Dr. Sam Donnels hatte schon geduscht, war angekleidet und stand am Fenster. Unsicher sah er in den Wald hinaus.

»Sam«, murmelte Carol und meinte, als er sich umdrehte: »Nach unserer heutigen Nacht denke ich, daß es besser ist, wenn wir Kameraden bleiben, die sich freuen, wenn sie einander hin und wieder sehen. Erkennen Sie jetzt, daß es besser ist, zuerst zu leben und dann zu überlegen und zu planen?«

Er nickte: »Ich weiß, ich habe nicht die Qualitäten, die Sie an

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einem Mann für wünschenswert halten.« Sie verbesserte: »Ich glaube sogar, daß wir in keiner Weise

zusammenpassen.« »Ich liebe Sie trotzdem«, sagte er leise. »Wenn ich Sie nicht

heiraten kann, werde ich mich ganz der Medizin widmen.« »Tun Sie das, Sam«, antwortete Carol. »Vielleicht ist es für Sie

wirklich das Beste.« *

Dr. Sam Donnels wirkte verstört, als er in die Bedford-Klinik zurückkehrte. Er fragte die Oberschwester: »Hat es irgend etwas Besonderes während meiner Abwesenheit gegeben?«

Sie schüttelte den Kopf: »Nichts Besonderes. Mr. Baxter vom Parapsychologic Department hat heute nacht mit den Totenstimmen geredet, aber es ist nichts dabei herausgekommen, was ihm bei der Aufklärung des Falles weitergeholfen hätte.«

»Was ist mit Dr. Reynolds?«, fragte Dr. Donnels. »Hat man ihn schon aufgespürt?«

»Nein, aber es ist ziemlich sicher, daß er der geheimnisvolle Arzt war.«

Donnels schüttelte unwillig den Kopf: »Ich kann es einfach nicht glauben. Er war doch immer so ein guter Arzt.«

Der Doktor wollte schon gehen, da kam er noch einmal zurück und erkundigte sich: »Wie geht es eigentlich Mrs. Duncan? Hat sie sich erholt?«

»Einigermaßen!« »Ich werde mal nach ihr sehen. Auf welchem Zimmer liegt

sie jetzt?« »Immer noch oben in Nr. 56, wo wir sie zuerst hingebracht

hatten.« Dr. Donnels eilte aus dem Krankenhaus und besorgte sich

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einen Strauß Blumen. Damit kehrte er zur Klinik zurück und begab sich ans Bett von Mrs. Ivy Duncan.

Sie lächelte milde, als sie ihn erkannte: »Sammy-Boy, wie lieb, daß Sie nach mir schauen. Ich habe Böses in dieser Klinik erlebt. Ich denke, es ist besser, daß Sie so rasch wie möglich in eine andere Klinik überwechseln. Hier ist es einfach unheimlich.«

Dr. Donnels lachte: »Die Sache wird sich ganz bestimmt bald auf natürliche Weise klären.«

Ivy Duncans Lippen zitterten: »Sammy, ich weiß jetzt, daß mein Mann tot ist. Man hat ihn grauenhaft zugerichtet. Sein Kopf ist abgeschnitten worden. Ich habe jetzt nur noch eine Hoffnung: daß er endlich wieder die Rückkehr ins Jenseits findet.«

Dr. Donnels legte seine Hand zum Trost auf Mrs. Duncans zitternden Arm und betonte: »Mr. Baxter und sein Team werden das schon aufklären, Mrs. Duncan.«

»So sag doch endlich Tante Ivy zu mir«, sagte sie leise und hielt krampfhaft seine Hand fest.

Er schluckte und erklärte verlegen: »Ich danke Ihnen. Ehrlich gesagt, ich möchte immer bei Ihnen bleiben. Ich habe einige Enttäuschungen erlitten und möchte nur mehr für Sie, meine Wohltäterin, dasein.«

Mrs. Duncan schüttelte den Kopf: »Das darfst du nicht, Sammy-Boy, Du bist jung und wirst noch ein erfolgreicher Arzt werden. Du darfst dich nicht an eine alte Frau binden. Du mußt Jugend um dich haben.«

Er seufzte und senkte seinen Kopf: »Vielleicht hast du recht, Tante Ivy.«

Er eilte aus dem Zimmer, begab sich zur Oberschwester und erklärte entschlossen: »Ich möchte die Affäre mit den 14 verschwundenen Patienten so rasch wie möglich klären helfen. Ich habe da eine Spur: wenn jemand nach mir fragen sollte,

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dann sagen sie ihm bitte, daß ich zu Dr. Reynolds Landhaus fahre. Vielleicht erfahre ich dort aus den Unterlagen in seinem Arbeitszimmer, wohin er geflüchtet ist. Wir müssen den Mann schnellstens finden. Ich glaube, er ist sehr gefährlich.«

*

Mit dampfendem Kühlerwasser stoppte der Sportwagen Viola Oggis vor dem großen Landhaus mit den handgeschnitzten Fensterläden.

Baxter sprang als erster aus dem Wagen und musterte das Gebäude.

»Das muß die Villa von Dr. Reynolds sein! Los, suchen wir nach Olga!«

Sie eilten zur Tür und läuteten. Keine Antwort und keine Reaktion im Inneren des Hauses.

Baxter ging ums Haus herum, schließlich schlug er ein Fenster ein und stieg ein. Viola kam nach.

»Zuerst im Keller. Der Kerl, der Olga hierhergebracht hat, ist auf Kellerarbeit spezialisiert. Das hat er bereits in der Klinik zur Genüge bewiesen.«

Sie hasteten die Treppe hinunter und öffneten alle Türen. Nirgends eine Spur von Olga.

»Es muß hier ein besonders gutes Versteck geben«, brummte Baxter und musterte einen großen Kohlenberg. Instinktiv nahm der Hauptkommissar eine Schaufel, die an der Wand lehnte, und schob damit etliche Quadratmeter Kohle weg.

Tatsächlich: Vor Baxter und Viola wurde deutlich eine große Falltüre sichtbar. Baxter faßte nach dem Griff und zog sie auf. Eine Treppe führte hinunter.

Sie stiegen hinab. Es gab kein Licht, doch Baxter hatte vorsorglich eine Taschenlampe eingesteckt. Er knipste sie an und leuchtete den Raum aus. Sein erster Blick fiel auf eine

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dicke Holztür. Er öffnete sie und beleuchtete den Raum. In einer Ecke lag Olga Dussowa, starr wie eine Tote.

Baxter leuchtete ihr in die Augen. Sie flackerten ganz leicht und kaum merklich. Baxter wußte: Olga lebte!

Er teilte diese frohe Nachricht Viola mit. Die Italienerin kam ans Bett gelaufen, umarmte Olga, küßte sie auf die Stirn und flüsterte: »Gleich wirst du wieder gesund sein. Ich weiß das Geheimnis, das dich rettet.«

Sie wandte sich um und rannte aus dem Haus. Aus dem Wagen holte sie den kleinen Leinensack mit Hexenkraut, stürzte in die Küche des Hauses, setzte Wasser auf und braute die notwendige Medizin.

Baxter trug Olga ins Badezimmer hinauf und legte sie in die Wanne. Gemeinsam wurde sie von beiden Kollegen gebadet und abgerieben, dann geduscht, abgetrocknet und ins Schlafzimmer gelegt.

Baxter und Viola setzten sich zu Olga ans Bett und warteten. Olga lag zuerst wie gelähmt da und war nicht imstande, sich

mit den beiden auf irgendeine Weise zu verständigen. Endlich entrang sich ihrem Mund ein Seufzer. Das erste

Lebenszeichen nach Tagen. Baxter und Viola lachten vor Freude.

Minuten später bewegten sich Olgas Lippen. »Ich danke euch, ich merke schon, wie sich mein Zustand bessert.«

Sie setzte sich auf, begann langsam Arme, Beine, Hände und Füße zu bewegen. Sie stieg aus dem Bett und ging umher, als würde sie ein großes Wunder erleben. Noch immer wirkte sie sehr benommen.

Das war dann mit einem Mal vorbei. Olga lachte vor Glück. Sie warf sich zu Boden, rollte dahin, sprang auf und tanzte mit Joe und Viola im Zimmer umher.

Doch Joe brach die beginnende Feststimmung bald ab: »Ich muß den Fall zu Ende bringen. Ich habe auch schon eine Idee.

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Wir müssen ins Hotel zurück und alles für den großen Coup vorbereiten. Ich weiß jetzt, wie wir den geheimnisvollen Arzt in die Falle bekommen können.«

»Wie willst du das machen?« wollte Olga wissen, die allmählich merkte, daß ihre Gehirnimpulse wieder normal zu arbeiten begannen.

Joe Baxter erklärte ihr: »Ich werde einen Verkehrsunfall inszenieren. Ich werde dabei verletzt in die Klinik eingeliefert werden. Der Arzt im Rettungsauto muß einer von unseren Leuten sein. Er wird feststellen, daß ich im Sterben liege. Ich möchte wetten, daß mich der liebe gute Onkel Doktor aus dem Keller zu sich ins Labor holt. Und dann werde ich ihn endlich entlarven.«

Viola entgegnete: »Wie willst du das machen? Er hat doch das Gesicht Dr. Lovells!«

Joe erklärte weiter: »Du wirst mir helfen, Olga. Während sich Viola in meiner Nähe aufhält, um nach dem Rechten zu sehen, wirst du zu Dr. Lovell in die Nervenanstalt fahren. Du wirst Kontakt mit Guru Jogami in Paris aufnehmen und versuchen, die Sehnsucht Dr. Lovells nach seinem ursprünglichen Gesicht in übersinnliche Kräfte umzufunktionieren. Wenn ich den Täter entlarve und Ihr fest arbeitet, dann bricht der Bann, den die Toten geschaffen haben. Und Dr. Lovell erhält wieder sein Gesicht zurück. Das bedeutet: Entweder steht mir dann der rätselhafte Arzt mit seinem wahren Gesicht gegenüber …«

»Oder?«, wollte Olga neugierig wissen. Joe antwortete: »Oder es war tatsächlich Dr. Lovell, und im

Irrenhaus sitzt ein anderer.« Die drei verließen das Landhaus. Als sie den Wagen erreicht hatten, kam gerade Dr. Donnels

vorgefahren. Erstaunt musterte ihn Joe Baxter: »Lieber Doktor, was führt

Sie hierher?«

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Aufgeregt konterte Sam Donnels: »Ich suche Dr. Reynolds. Ich will zur raschen Aufklärung der mysteriösen und schrecklichen Geschehnisse in unserer Klinik beitragen. Ich denke mir, vielleicht kann ich aus Briefen oder Notizen in Dr. Reynolds Haus erkennen, wohin er geflüchtet sein kann.«

Joe Baxter hob abwehrend die Hand: »Ersparen Sie sich den Weg Ins Haus, lieber Doktor. Ich finde es schön, daß Sie mir helfen wollen, aber suchen Sie Dr. Reynolds nicht!«

»Ist er tot?«, fragte Dr. Donnels besorgt. »Nein, aber wenn er der Schuldige ist, den wir suchen, dann

wird er bald von selbst kommen.« »Wie meinen Sie das?« Baxter legte seinen Finger auf die Lippen: »Berufsgeheimnis,

lieber junger Freund.« *

Der Polizeiwagen fuhr in einem Höllentempo durch die Emery-Street, wenige hundert Meter von der Bedford-Klinik, entfernt. Blaulicht und Sirene waren eingeschaltet. Neben dem Fahrer saß Chefinspektor Callon. Er seufzte: »Was sich dieser Mr. Baxter alles einfallen läßt. Weh ihm, wenn der Trick mit dem Unfall nicht zum Erfolg führt. Und alles nur, weil er darauf besteht, daß in der Klinik Geisterstimmen zu hören sind. Und meine höhere Dienststelle glaubt diesen Unsinn. Nun ja, mir soll's recht sein.«

»Jetzt festhalten«, schrie der Polizist am Steuer. Er blickte auf die Uhr. Auf die Sekunde genau kam er an die Ecke Emery-Street und Holback-Road; Er verminderte in keiner Weise seine Geschwindigkeit. Er wußte, welcher Gefahr er sich dabei aussetzte. Bei dem inszenierten Unfall konnte es auf Leben und Tod gehen.

Der Einsatzwagen schoß auf die Kreuzung.

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In diesem Augenblick jagte Baxter mit einem Mietwagen wie ein Torpedo aus der Holback-Road hervor und steuerte direkt auf den Polizeiwagen zu.

Es gab ein Kreischen, Krachen und Donnern. Autoreifen und Bremsen quietschten. Metall stieß

gegeneinander. Scheiben klirrten. Die übrigen Verkehrsteilnehmer blieben erschüttert stehen.

Binnen weniger Minuten war ein zweiter Polizeieinsatzwagen zur Stelle. Die Uniformierten funkten ein Rettungsauto und zwei Feuerwehrwagen herbei. Die angeforderten Autos samt Mannschaft waren schnell zur Stelle.

Am Polizeiauto war nichts passiert. Chefinspektor Callon stand und zitterte am ganzen Leib. Der

Fahrer murmelte: »Mr. Baxter muß es schrecklich erwischt haben.«

Baxter war in den Trümmern des Mietwagens gar nicht zu sehen. Nur an einer eingedrückten Seitentüre rann Blut heraus. Feuerwehrmänner mußten den Verunglückten mit einem Schneidbrenner befreien. Sie verfrachteten ihn auf eine Decke. Von dort hoben ihn die Rettungsmänner auf eine Trage und schoben ihn in den Krankenwagen.

Als der Polizeiarzt – der als Rettungsarzt gekleidet war – den Verletzten sah, wurde er blaß: »Menschenskind, Baxter, was haben Sie denn da aufgeführt. So echt sollte dieser Unfall ja gar nicht aussehen!«

Mit matter Stimme, unter unsagbaren Schmerzen, murmelte der Hauptkommissar, während ihm ununterbrochen Blut aus dem Mund rann: »Es ist besser so. Dann geht der Arzt eher in die Falle!«

Nach diesen Worten verlor Joe Baxter die Besinnung. Besorgt meinte der Polizeiarzt zu einem Sanitäter: »Er

schwebt nicht gerade in Lebensgefahr, aber wenn er in diesem Zustand einen Kriminellen überführen und festnehmen will,

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dann muß ein Wunder geschehen.« Dann ordnete er an: »Fahren Sie sofort zur nahegelegenen

Bedford-Klinik. Die müssen den Schwerverletzten aufnehmen.«

Minuten später bog der Wagen in den Hof des Krankenhauses ein. Der Polizeiarzt übernahm selbst den Transport des Kranken ins Gebäude. Am Eingang kam ihm die leitende Schwester entgegen. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen: »Um Gottes willen, das ist ja Mr. Baxter, der in letzter Zeit so oft bei uns zu tun hatte! Was ist denn mit ihm passiert?«

Der Rettungsarzt erklärte ihr den Zusammenstoß mit einem Funkstreifenwagen. »Mr. Baxter ist schwerverletzt. Wenn Sie von mir eine Erklärung haben wollen: Kaum noch Chancen für ihn. Achten Sie darauf, daß er genügend Morphium erhält und keine allzugroßen Schmerzen hat. Und lassen Sie ihn von einem guten Arzt untersuchen und behandeln. Der soll sein Bestes tun. Hoffnung allerdings habe ich kaum noch.«

Der Polizeiarzt wartete, bis Baxter in sein Zimmer getragen und in ein Bett verfrachtet wurde. Die offenen Wunden waren schon auf der Fahrt im Rettungswagen versorgt worden.

Baxter lag reaktionslos da, atmete kaum und wirkte bereits wie tot. Doch er konzentrierte sich trotz seiner Schmerzen auf alles, was rund um ihn vorging.

Zuerst kamen vier Schwestern, die ihn weich betteten, ihm frische Wäsche anzogen und ihm Flüssigkeit einflößten. Dann gab ihm die Oberschwester eine beruhigende Injektion.

Bevor Baxter die Besinnung verlor, hörte er noch, wie eine der Schwestern zu einer Kollegin sagte: »Der Chef will, ihn sich selbst genau ansehen und mit ihm allein sein.«

Der Chef? An sich nannten sie hier nur Dr. Archibald Lovell den Chef. Als Baxter allmählich wieder zu sich kam, war sein erster

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Gedanke: Bin ich noch im Krankenzimmer? Oder hat man mich bereits in den Keller geschafft?

Baxter lag noch in seinem Zimmer. Aber er hatte gerade zur rechten Zeit die Besinnung wieder

gefunden. Die Tür öffnete sich, wurde zugedrückt und abgesperrt. Baxter befiel ein seltsames Gefühl. Er wußte, daß nun ein

gefährliches Abenteuer begann. Vielleicht sein gefährlichstes, weil er bisher immer bei allen Unternehmungen im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte war. Diesmal konnte er das nicht von sich behaupten. Er fühlte sich elend, hatte am ganzen Körper Schmerzen und konnte nur mit größter Mühe klar denken. Baxter wußte ja nicht einmal, ob er im Notfall fähig war, sich zu erheben und aufrecht zu stehen.

Jäh wurde er, aus seinen Gedanken gerissen. Ein Gesicht erschien vor seinen Augen und grinste ihn an. Es war Dr. Archibald Lovells Antlitz, unverkennbar mit den

dunklen Augen und den graumelierten Schläfen. »Mr. Baxter, es ist mir eine Freude, Sie jetzt auch noch zum

Patienten zu haben!« Baxter wollte etwas erwidern. Doch er entschied sich, sich

schlechter zu stellen, als er sich fühlte. Er stöhnte nur und verdrehte die Augen. Draußen saß Viola auf dem Korridor und sorgte durch ständige Konzentration dafür, daß Baxters Puls kaum noch fühlbar war.

Der Trick hatte Erfolg. Der Arzt mit Dr. Lovells Gesicht pfiff überrascht vor sich hin und murmelte dann: »Das muß jetzt verdammt schnell gehen. Der stirbt bald!«

Dann starrte er zur Zimmerdecke und lachte: »Das wird eine Sensation geben, wenn nun auch Hauptkommissar Baxter in der Klinik spurlos verschwindet.«

Er eilte zur Tür und horchte. Draußen war niemand, der hören konnte, was im Raum vorging. Er begab sich wieder

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zum Bett des Patienten und zog es zur Seite. Hinter dem Bett drückte er einen Knopf, der in die Wand eingelassen war. Ein kleines Kästchen öffnete sich selbsttätig. Darin wurden drei Hebel sichtbar. Der Doktor betätigte einen davon. Dort, wo zuvor das Bett gestanden hatte, bildete sich eine große Öffnung. Jetzt drückte der Doktor den zweiten Hebel. Blitzschnell schob sich eine Metallbrücke in die Öffnung. Jetzt rollte der Mediziner das Bett auf diese Metallbrücke, stellte sich dazu und betätigte den dritten Hebel.

Surrend fuhren sie in die Tiefe. Lachend schaute er nach oben. Er wußte, daß sich dank der

Automatik oben im Krankenzimmer alles wieder in den ursprünglichen Zustand versetzen würde. Sogar die Tür des Zimmers würde sich automatisch öffnen. Und wenn dann Minuten später jemand den Patienten besuchen wollte, so war er verschwunden, ohne das Zimmer verlassen zuhaben.

Langsam senkte sich der seltsame Aufzug in die Tiefe. Endlich hielt er an.

Der Arzt rollte das Bett mit Baxter über einen Holzsteg durch einen langen Korridor, der mit Asphalt ausgelegt war und in leichter Neigung in die Tiefe führte. Dadurch wurde das Rollen des Betts auf unzumutbare Weise beschleunigt. Baxter wurde es angst und bange. Der Doktor hielt sich fest und rannte mit. Plötzlich stieß er mit dem Bett vor einer Abzweigung gegen die Mauer.

Baxter schrie auf. Alle seine Knochen schmerzten so, als würde er von Kopf bis

Fuß in seine einzelnen Körperteile zerlegt. Der Arzt polterte mit ihm noch einmal um die Kurve. Diesmal reagierte Baxter überhaupt nicht mehr. Sein Körper

prallte plump gegen die unteren Gitterstäbe des rollenden Bettes.

Sein Kopf schlug hart auf das Metall auf.

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Er wollte sich zum Denken zwingen, wurde aber durch viele kleine schwarze Punkte, die auf einer glitzernden Fläche vor seinen Augen tanzten, irritiert.

Er fühlte noch, wie ihm die Sinne schwanden. Nur noch ein letzter Gedanke schoß durch seinen Schädel:

Jetzt ist alles aus. Ich verliere mein Bewußtsein. Jetzt kann er mit mir machen, was er will. Ich habe das Spiel zwischen Leben und Tod verloren.

*

Der Mann, der sich mit beiden Händen zitternd am Fenster der Zelle in der Nervenklinik anklammerte, war nur noch ein menschliches Wrack. Sein Körper bestand nur mehr aus Haut und Knochen und er sah aus wie der Tod höchstpersönlich.

Olga ließ sich vom Wärter in die Zelle einschließen, kam langsam auf den Patienten zu und flüsterte: »Dr. Archibald Lovell!«

Wie vom Blitz getroffen fuhr er herum und lächelte mit einem transparenten, dabei völlig anderen Gesicht: »Endlich einmal wieder jemand, der mich mit meinem richtigen Namen anredet.«

»Ich bin Olga Dussowa, eine Mitarbeiterin von Hauptkommissar Baxter …« stellte sich Olga vor.

Er atmete auf: »Können Sie mir helfen?« Sie antwortete: »Wir versuchen es gerade. Mr. Baxter ist

dabei, den Mann zu finden, der unter ihrem Namen und mit Ihrem Gesicht in der Klinik neue Opfer für seine makabren Versuche auswählt.«

Tränen rannen dem Patienten über die Wangen: »Ich kann Ihnen dabei nicht helfen. Ich weiß nichts. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Mitunter am Tag, da fühle ich plötzlich ein Zucken und Brennen am Hals. Ich greife hin und verbrenne mir dabei

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die Finger. Und wenn ich dann zum Spiegel stürze, lache ich vor Freude: Dann habe ich mein Gesicht wieder. Dann bin ich wieder der alte Dr. Lovell.«

Olga horchte auf. Das hatte auch Baxter nicht gewußt. Sie fragte: »Wollen Sie damit sagen, daß Sie Ihr Gesicht nicht für immer verloren haben. Sie verfügen also zeitweise darüber?«

»Ja«, nickte der Patient. »Es ist dann wieder für einige Stunden da. Mein Pech war nur, daß zu dieser Zeit bisher nie jemand in meine Zelle kam. Sonst hätte ich ja damit beweisen können, daß ich Dr. Lovell bin.«

Olga stellte nachdenklich fest: »Das ist hochinteressant. Wir wissen also jetzt, daß ein Arzt der Bedford-Klinik durch die Kraft der Toten für gewisse Zeiten – vermutlich mit Hilfe eines Zauberspruchs Ihr Gesicht anfordern kann, auf Wunsch aber wieder sein eigenes zurückbekommt.«

*

Joe Baxter riß die Augen auf. Er wußte nicht, wie lang er ohne Bewußtsein gewesen war.

Er blickte sich um. Zahllose Drähte führten von seinem Kopf weg zu einigen Meßinstrumenten und Apparaten. Baxter hob den Kopf. Er lag auf einem Bett und konnte Hände und Füße frei bewegen.

Mit dem Rücken zu ihm saß der Doktor. Er beobachtete rätselhafte Vorgänge auf einem Fernsehschirm.

Plötzlich drehte er sich um. Er hatte gemerkt, daß Joe Baxter zu sich gekommen war.

Der Hauptkommissar erkannte deutlich das Gesicht von Dr. Archibald Lovell, aus dessen Mund er hörte: »Es ist ein Höhepunkt in meiner Versuchsreihe, daß ich einen so berühmten parapsychologischen Kriminalisten vor mir habe und ihn unter genauer Beobachtung ins Jenseits schicken

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kann.« Baxter lachte verächtlich: »Doktor, Sie sind doch ein

Stümper. Sie haben bei 14 Patienten jedes Mal versagt. Es wird Ihnen niemals gelingen, Wesenheiten aus dem Jenseits zurück in ihre Körper zu holen, um damit Zeugen für das Leben nach dem Tode zu haben. Das geht nur auf medialer und okkulter Basis. Niemals aber mit medizinischen Geräten. Finden Sie sich damit ab!«

»Nein, mein Lieber«, lachte der andere irre. »Es wird mir gelingen. Ich werde es solange versuchen, bis es mir gelingt. Belinda wollte auch nicht mehr daran glauben. Darum mußte sie sterben.«

Baxter sagte drohend: »Wenn wir genau überlegen: Mußten nicht auch viele der anderen 14 Menschen durch Ihre Hand sterben, wenn nicht sogar alle? Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie wirklich gewartet haben, bis bei Ihren Versuchspersonen der natürliche Tod eingetreten ist.«

Er lachte Baxter frech ins Gesicht: »Ich mußte mitunter auch nachhelfen, doch die Leute waren ohnehin schon dem Tod geweiht. Genau wie Sie, Mr. Baxter. Und darum habe ich hier eine kleine Spritze, die Ihren natürlichen Tod beschleunigen wird.«

Der Mediziner trat einen Schritt zurück. Baxter sprach weiter und riß sich dabei die Drähte vom Kopf.

»Es hat auch wenig Sinn zu fliehen. Das ganze Haus ist umstellt. Und meine Assistentin Viola Oggi hat ein Gedankenband gebildet und weiß jetzt genau, wo wir uns befinden. Ein Polizeitrupp ist bereits auf dem Weg zum Labor. Er wird sich gewaltsam Zugang verschaffen, wo geheime Mauern und doppelte Türen den Weg versperren. Doktor, legen Sie das Gesicht von Dr. Lovell ab und gestehen Sie den Mord an Belinda und die Tötung Ihrer 14 Patienten, die Sie für Ihre Versuche sinnlos geopfert und nachher noch auf grausige

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Weise verstümmelt haben.« Der Arzt betätigte einen Knopf. Die Türe zum Labor rollte

auf. Dann drehte er sich um und rannte davon. Er rief: »Sie kriegen mich nicht, denn ich habe ein Abkommen mit den Toten. Sie haben versprochen, mir zu helfen.«

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da schwang ein Raunen durch den Raum. Es schwoll zu einem unerträglichen Kreischen an, brach aber dann abrupt ab und endete in einem unheimlichen Lachen. Baxter sah sich um. Das mußten die Stimmen der Toten sein.

Auch der Doktor stand wie angewurzelt, da. Und dann ließ sich eine tiefe Stimme vernehmen: »Doktor,

du hast unsere Hilfe verwirkt. Wir hatten einen Vertrag. Wir wollten dir helfen, wenn du deine Versuche aufgeben und keine neuen Menschen mehr in deinem Labor töten würdest.«

Voll Haß schrie der Arzt: »Ihr wolltet mir dafür aber in anderer Weise behilflich sein, zu Ansehen und Ehren zu kommen. Doch Ihr habt versagt. Alle meine Bemühungen sind kläglich gescheitert. Da wußte ich: Ich mußte wieder experimentieren, um ein weltberühmter Wissenschaftler zu werden.«

»Wir haben mit dir nichts mehr zu schaffen!« schrie eine Stimme. »Wir werden dich vernichten. Joe Baxter bekommt dich auf jeden Fall nicht!«

Der Arzt begann, über den langen Korridor zu stolpern. Immer wieder glitt er aus und fiel hin. Er raffte sich hoch und rannte weiter. Die Flucht wurde ihm nicht leicht gemacht. Joe Baxter war ihm auf den Fersen. Und über ihm schrien unheimliche Stimmen aus einer anderen Welt.

Hastig lief er die Treppe hoch, kam in den dunklen Korridor, sah sich ängstlich um und bog dann um die Ecke. Joe Baxter holte ihn zwar nicht ein, aber er blieb knapp hinter ihm.

»Gleich bin ich unter Menschen. Da oben in der Klinik könnt

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Ihr mir alle nichts tun!«, stammelte der Arzt. Plötzlich stieß er einen gellenden Schrei aus. Baxter verstand, warum. Der Mediziner stand im Korridor

vor einer Wand von Totenköpfen, Skeletthänden und leuchtenden Augen. Doch nicht allein diese makabre Wand zwang ihn zum Anhalten.

Die Toten holten zu ihrem letzten Schlag gegen ihren Feind aus.

Doch noch gab der Arzt nicht auf. Er hielt sich die Ohren zu, schloß die Augen und durchbrach die Wand der Totenköpfe. Er stolperte die Treppe hoch, lief mit ausgebreiteten Armen auf einige Polizisten zu, die dort mit Maschinenpistolen standen und rief: »Erschießt mich! Ich flehe euch an, erschießt mich!«

Im gleichen Augenblick machte er kehrt und lief die nächste Treppe weiter nach oben.

Baxter war nun ganz knapp hinter ihm und keuchte: »Doktor, bleiben Sie stehen. Legen Sie Ihr falsches Gesicht ab, ergeben Sie sich. Ich garantiere Ihnen: Sie werden so Ihren seelischen Frieden finden.«

Da gab der Mediziner Baxter einen Fußtritt und rannte ins nächste Stockwerk. Baxter konnte mit dem Flüchtenden nicht mehr Schritt halten. Dennoch bot er alle Kräfte auf, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

So erreichte der Arzt das letzte Stockwerk. Er warf sich gegen die Metalltür, die zum Dach der Klinik führte. Das Schloß gab nach. Er stand oben auf der Krankenhaus-Terrasse. Er wandte sich zurück und schlug um sich. Er drehte sich immer schneller und schneller: Dann brüllte er aus Leibeskräften.

Er drehte sich so, daß er an den Rand der Terrasse gelangte, breitete die Arme aus und stürzte sich in die Tiefe. Mit einem gellenden Aufschrei flog sein Körper durch die Luft und prallte auf dem Straßenasphalt hart auf.

Im selben Augenblick schlug das Schreien der Totenstimmen

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in ein dröhnendes Gelächter um. Joe Baxter blickte hoch und wußte: Endlich hatten jene 14

Patienten der Bedford-Klinik Frieden gefunden und kehrten für immer ins Jenseits zurück.

Rasch verließ der Hauptkommissar das Dach der Klinik und hastete die Treppe hinunter. Als er auf der Straße ankam, stand Viola Oggi bereits neben dem Arzt. Er war tot.

Viola ging Joe Baxter entgegen und sagte ernst: »Ich war dabei, als er starb. Plötzlich veränderte sich sein Gesicht und nahm seine ursprüngliche Form an. Ich habe mit Olga telepathischen Kontakt aufgenommen. Sie informierte mich, daß auch Dr. Lovell für immer sein Gesicht zurückerhalten hat.«

Baxter trat an den Toten heran und beugte sich zu ihm. Er blickte in das junge Gesicht von Dr. Sam Donnels hinunter.

*

Die Sonne schien milde in den Hof des Polizeihospitals in London-Nord. Joe Baxter saß in einem Rollstuhl, Viola Oggi führte ihn. Olga Dussowa ging daneben.

Chefinspektor Callon kam mit einem Strauß Blumen und lachte: »Na, wie geht es Ihnen heute, lieber Hauptkommissar?«

»Danke«, nickte Baxter. »Wie es einem eben geht, wenn man einen Autounfall mit einem Polizeieinsatzfahrzeug organisiert und dabei schlechter wegkommt, als man vorhatte. Aber Spaß beiseite: Ich fühle mich schon recht gut. Der Rollstuhl ist mehr zu meiner Bequemlichkeit da. Schließlich sollen meine Assistentinnen auch etwas arbeiten und den Chef gefälligst mal spazierenfahren. Ich denke, daß ich in ein paar Tagen wieder auf den Beinen sein werde. Die Leute hier versorgen und pflegen mich rührend.«

Olga gab Joe ein Küßchen auf die Stirn und meinte: »Du

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warst ja ein echter Held und hast zur Lösung des Falles Leben und Gesundheit aufs Spiel gesetzt!«

»Das tun wir drei doch fast immer«, lächelte Baxter und meinte nachdenklich: »Eigentlich ein raffinierter Kerl, dieser Doktor Donnels. Für sein Alter ganz schön ausgekocht. Er wollte ein berühmter Wissenschaftler werden und opferte dafür 14 Patienten seiner Klinik, darunter sogar seinen Gönner, Mr. Duncan. Die Leichen ohne Köpfe wurden in einem Keller der Klinik gefunden. Donnels ermordete auch das Callgirl Belinda, die ihm als Assistentin half und zu viel von seinen Experimenten wußte. Den Hauptverdacht lenkte er auf Dr. Lovell und Dr. Reynolds. Dieser unschuldige Dr. Reynolds wurde übrigens auf der Flucht nach Schottland aufgegriffen. Er hatte die Nerven verloren.«

Viola wollte noch etwas wissen: »Wie war das mit dem Vertrag, den er mit den Totenstimmen hatte?«

Baxter erklärte: »Er versprach, nicht mehr zu experimentieren. Dafür verlangte er Dr. Lovells Gesicht, um sich tarnen zu können und um uns irrezuführen. Aber er wollte auch Hilfe in seinen Werbungen um Carol Summers. Sie erwartete eine große Erbschaft. Sie wollte er zur Frau, aber die Sache klappte nicht. Da blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Vertrag mit den Toten zu brechen und weiter zu experimentieren. Er wollte um jeden Preis berühmt werden.«

Baxter unterbrach sich und seufzte: »Ich spüre das Kribbeln im Kopf meine Damen. Der Chef meldet sich aus Paris. Jetzt läßt er nicht einmal einen Mann im Rollstuhl in Frieden.«

Er lehnte sich zurück, schloß die Augen, konzentrierte sich auf Dr. Duvaleux und lachte: »Ich bin schon auf Empfang, Chef!«

Dr. Leon Duvaleux freute sich: »Wieder bald gesund, Baxter?«

»Das ist rührend, daß Sie sich um mich Sorgen machen«,

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antwortete der Hauptkommissar. »Keine Spur«, konterte der Direktor des Parapsychologic

Department. »Ich brauche Sie und Ihre Damen nur sehr rasch wieder für einen neuen Einsatz.«

»Was wärs denn?« »Für Sie eine Kleinigkeit. Ein Magier ist Witwer geworden

und wird seither von entsetzlichen Geistwesen verfolgt, die ihm seine eifersüchtige Frau zur Erde schickt. Vor allem macht ihn ein Gespenst aus einem Stausee schwer zu schaffen. Der Magier hat sich seit diesen Vorfällen in beunruhigender Weise verändert und neigt zu kriminellen Handlungen.«

»Wo spielt sich denn das Ganze ab?«, fragte Joe Baxter. »In der schönen Schweiz, mein Lieber. Ist das nicht herrlich?«

neckte Dr. Duvaleux. Baxter versprach, sich sofort nach seiner Genesung in Paris

einzufinden, um den Fall zu übernehmen. Dann brach der telepathische Kontakt ab.

Joe lachte seine beiden Begleiterinnen an und meinte verschmitzt: »Grüezi, Viola, Grüezi Olga! Unser nächstes Ziel ist das Schweizerland.«

Viola schwärmte: »Herrlich; Da gibts besten Käse, frische Milch, hohe Berge.«

Baxter fügte hinzu: »Und ein gefährliches Gespenst im Stausee.«

ENDE

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Vorschau

Das Gespenst aus dem Stausee

von Henry Ghost

Der junge Schweizer Magier Eric Struzzi ist verschuldet. Er wird nicht mehr umjubelt. Seine Tricks kommen nicht an. Um seine finanzielle Situation zu retten, plant er den perfekten Mord. Er läßt sich von seiner Frau scheiden und heiratet die Erbin eines reichen Industriellen. Da das Mädchen sehr häßlich ist, will er sie rasch wieder loswerden. Als die Besitzverhältnisse zwischen den beiden zugunsten Eric Struzzis geregelt sind, arrangiert der Magier einen Autounfall, bei dem seine Ehefrau in den Stausee stürzt und ertrinkt. Keiner vermutet einen Mord. Der Magier beginnt selbstsicher ein ausschweifendes Leben und finanziert eine neue Karriere auf den Varietebühnen. Eines Abends steht die Wesenheit seiner Frau bei der Vorstellung vor ihm. Sie ist aus dem Stausee gestiegen. Sie verfolgt ihren Mörder. Er verschweigt die Wahrheit und bittet das Parapsychologic Department um Hilfe. Joe Baxter und seine beiden Assistentinnen Viola Oggi und Olga Dussowa versuchen das Rätsel um die Frauenerscheinung zu lösen. Der Fall ist schwierig, weil sich die Wesenheit nicht gleich zu erkennen gibt. Und darum muß Joe Baxter zusehen, wie der Magier vom Jenseits her zu einem furchtbaren Mord gezwungen wird. Als er immer weiter töten will, riskieren die Mitarbeiter des Parapsychologic Department ihr Leben, um den Mörder zu einem erlösenden Geständnis zu zwingen …


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