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Das Grauen - Ulrich Tilgner...34 ZEITLUPE 9/2017 ZEITLUPE 9/2017 35 Während fast vier Jahrzehnten...

Date post: 03-Sep-2020
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© Aufgenommen im Restaurant Spitz, Zürich ZEITLUPE 9/2017 35 34 ZEITLUPE 9/2017 Während fast vier Jahrzehnten analysierte er für das deutsche und das Schweizer Fernsehen das Geschehen im Iran, im Irak und in Afgha- nistan, seit 2015 ist er pensioniert. Für den Journalisten Ulrich Tilgner sind Hintergrundwissen und Glaubwürdigkeit unerlässlich. TEXT: USCH VOLLENWYDER, FOTOS: BERNARD VAN DIERENDONCK K riege, Terroranschläge, Flüchtlings- ströme und Hungersnöte: Steht unsere Welt am Abgrund? Ich habe die Hoffnung auf eine bes- sere Welt aufgegeben. Die reichen Länder verteidigen ihren Wohlstand mit Zähnen und Klauen. Bündnis- überlegungen und Eigeninteressen des Westens und vor allem der USA verhindern Entwicklung und Aufbau in ärmeren Ländern – ich denke zum Beispiel an die dringend notwendige Wirtschaftsentwicklung in Afrika. Ohne sie werden in den nächsten Jahrzehnten Millionen von Afrikane- rinnen und Afrikanern Richtung Europa wandern. Ich bin als junger Journalist angetreten, um mit meinen Berichten etwas zur Verbesserung der Welt beizutragen. Ich lernte, dass es immer schlimmer war, als ich dachte. Und dass es immer schlimmer wird. Der Westen hat Angst vor dem Terrorismus … Dabei ist der Terrorismus gar nicht speziell gegen den Westen gerichtet, sondern gegen alles, was andere Ziele und kulturelle Ideale hat. Wenn es in Europa jedoch zwei, fünf oder zwanzig Tote gibt, wird wochenlang darüber berichtet. Wenn im Orient fünfzig, hundert oder hundertfünfzig Men- schen durch Terroristen sterben, liest man kaum etwas darüber. Ich war vor ein paar Wochen in Kabul: Am Tag vor meiner Ankunft riss eine Bombe einen Krater von neun Metern in den Boden. Es gab mindestens 150 Tote, die meisten waren Zivilisten. Allein von einer Mobilfunkfirma starben 36 Mitarbeitende. Dabei soll sich das Attentat gegen die deutsche Botschaft gerichtet haben. Ich schätze, dass durch Terroranschläge zehnmal so viele Moslems sterben wie Christen. Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Der Terrorismus heute ist das Ergeb- nis westlicher Interventionen im Orient. Die ehemalige Aussenministe- rin Hillary Clinton sagte, die US-Bera- ter hätten nach ihrem Abzug aus Pakistan Ende der Achtzigerjahre ein Chaos hinterlassen – «a mess», sagte sie wörtlich. In diesem Chaos konnte sich Terrorismus breitmachen. Und der ehemalige amerikanische Präsi- dent Barack Obama erachtete in einem Interview den IS als direkte Folge der amerikanischen Irakpolitik. muss man nicht gesehen haben Das Grauen INTERVIEW
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Page 1: Das Grauen - Ulrich Tilgner...34 ZEITLUPE 9/2017 ZEITLUPE 9/2017 35 Während fast vier Jahrzehnten analysierte er für das deutsche und das Schweizer Fernsehen das Geschehen im Iran,

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Während fast vier Jahrzehnten analysierte er für das deutsche und das Schweizer Fernsehen das Geschehen im Iran, im Irak und in Afgha- nistan, seit 2015 ist er pensioniert. Für den Journalisten Ulrich Tilgner sind Hintergrundwissen und Glaubwürdigkeit unerlässlich. TEXT: USCH VOLLENWYDER, FOTOS: BERNARD VAN DIERENDONCK

Kriege, Terroranschläge, Flüchtlings-ströme und Hungersnöte: Steht unsere Welt am Abgrund?Ich habe die Hoffnung auf eine bes-sere Welt aufgegeben. Die reichen Länder verteidigen ihren Wohlstand mit Zähnen und Klauen. Bündnis-überlegungen und Eigeninteressen des Westens und vor allem der USA verhindern Entwicklung und Aufbau in ärmeren Ländern – ich denke zum Beispiel an die dringend notwendige Wirtschaftsentwicklung in Afrika. Ohne sie werden in den nächsten Jahrzehnten Millionen von Afrikane-rinnen und Afrikanern Richtung

Europa wandern. Ich bin als junger Journalist angetreten, um mit meinen Berichten etwas zur Verbesserung der Welt beizutragen. Ich lernte, dass es immer schlimmer war, als ich dachte. Und dass es immer schlimmer wird.

Der Westen hat Angst vor dem Terrorismus … Dabei ist der Terrorismus gar nicht speziell gegen den Westen gerichtet, sondern gegen alles, was andere Ziele und kulturelle Ideale hat. Wenn es in Europa jedoch zwei, fünf oder zwanzig Tote gibt, wird wochenlang darüber berichtet. Wenn im Orient fünfzig, hundert oder hundertfünfzig Men-schen durch Terroristen sterben, liest man kaum etwas darüber. Ich war vor ein paar Wochen in Kabul: Am Tag vor meiner Ankunft riss eine Bombe einen Krater von neun Metern in den Boden. Es gab mindestens 150 Tote,

die meisten waren Zivilisten. Allein von einer Mobilfunkfirma starben 36 Mitarbeitende. Dabei soll sich das Attentat gegen die deutsche Botschaft gerichtet haben. Ich schätze, dass durch Terroranschläge zehnmal so viele Moslems sterben wie Christen.

Wie konnte es überhaupt so weit kommen?Der Terrorismus heute ist das Ergeb-nis westlicher Interventionen im Orient. Die ehemalige Aussenministe-rin Hillary Clinton sagte, die US-Bera-ter hätten nach ihrem Abzug aus Pakistan Ende der Achtzigerjahre ein Chaos hinterlassen – «a mess», sagte sie wörtlich. In diesem Chaos konnte sich Terrorismus breitmachen. Und der ehemalige amerikanische Präsi-dent Barack Obama erachtete in einem Interview den IS als direkte Folge der amerikanischen Irakpolitik.

muss man nicht gesehen haben „„Das Grauen

INTERVIEW

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INTERVIEW

Warum ist es so schwierig, selbst mit den heutigen Mitteln, den Terrorismus zu stoppen?Es ist einfach irr: Die USA verkaufen für weit über hundert Milliarden Dollar neuste Waffensysteme an die arabischen Golfstaaten. Von dort aus wird der islamistische Terrorismus finanziert. Die Drahtzieher sind gewiefte Leute, zum Teil gut ausgebil-det, und sie drängen an die Macht. Vor Kurzem war ich in Afghanistan und wurde ständig kontrolliert. Der Fahrer und der Übersetzer, zwei junge Af-ghanen, lachten: «Du bist Ausländer, alt und dick; sie denken, ein IS-Offi-zier sehe so aus.» Der IS verbreitet

Kriegsreporter werden. Aber als Korrespondent war es auch meine Aufgabe, über die verschiedenen Kriege in der Region zu berichten. Ich glaube nicht daran, dass heutige Kriegsreporter, die von Konflikt zu Konflikt reisen, ohne die Länder zu kennen, diese auch wirklich analysie-ren können.

Was hat sich in Ihrem Beruf in den letzten Jahren und Jahrzehnten am meisten verändert?Als 1991 der Krieg in Bagdad begann, machte ich maximal vier Berichte pro Tag. In den letzten Jahren war ich in kritischen Zeiten rund um die Uhr im Einsatz und fast pausenlos auf Sen-dung für das ZDF und das Schweizer Fernsehen. Ich hatte gar nicht mehr die Zeit und den nötigen Abstand, um das Geschehen zu analysieren. Die Berichterstattung ist schnelllebig und dadurch oberflächlich geworden; ich kann nicht mehr dahinterstehen. Den ersten Bruch mit meinem Berufsstand erlebte ich aber schon 1982.

Was geschah damals?1982, im Iran-Irak-Krieg, flog die irakische Armee unter Saddam Hus-sein Giftgaseinsätze gegen den Iran. Dieser schickte viele seiner Opfer zur Behandlung nach Europa. In Medien hiess es, der Iran würde seine Giftgas-opfer zu Propagandazwecken nach Europa fliegen. Das ist so unglaublich zynisch. Ich verstand die Medienwelt nicht mehr.

Nach allem, was Sie gesehen und erlebt haben: Können Sie noch ruhig schlafen? Ja, ich kann noch schlafen. Vielleicht hilft dabei mein abendliches Glas Rotwein. Aber auch der Abstand zu all dem, was ich gesehen und erlebt habe, tut mir gut. Zudem hatte ich mein ganzes Berufsleben über eine be-stimmte Strategie, um mit all dem Fürchterlichen umzugehen: Ich ver-drängte. Ich verdrängte wirklich. Ich habe mich nie um das Grauen geküm-mert. Ich habe mir keine Gräueltaten angeschaut. Ich habe kein einziges Enthauptungsvideo gesehen. Ich

„Die heutigen Terroristen sind eher Klein­kriminelle als gute Moslems.„

sich – und man erkennt ihn nicht auf Anhieb.

Warum sind Menschen bereit, für solche Befehlshaber ihr Leben zu geben?Die Terroristen rekrutieren ihr Fuss-volk heute bei den Beduinen, bei den Ärmsten der Armen. Die Vorstellung des durchschnittlichen Europäers über die Ursache des Terrorismus lautet ja: «Beten, noch mehr beten, Terrorist werden.» Ich sehe es anders: «Verzweifelt, noch verzweifelter, Terrorist werden.» Diese Menschen haben nichts mehr zu verlieren; darum glauben sie an die Zukunfts-

versprechen des IS. Das gilt übrigens auch für die meisten europäischen Jugendlichen, die sich für den IS in die Luft sprengen: Sie kommen oft aus unterprivilegierten Vierteln und haben keine Perspektive. Sie sind eher Kleinkriminelle und nicht gute Mos-lems, wie man uns weismachen will.

Warum gingen Sie als Journalist über-haupt in den Orient?Ich ging 1979 in den Iran, um den Sturz des Schahs und die iranische Revo lution zu beobachten. Ich lernte das Land kennen und wurde Bericht-erstatter zunächst für das deutsche Fernsehen. Keinesfalls wollte ich

Ulrich Tilgner: «Die Logik der Waffen. Westliche Politik im Orient», Orell-Füssli-Verlag, Zürich 2012, 264 Seiten, ca. CHF 26.90 (Taschenbuch).

INSE

RAT

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INTERVIEW

weigerte mich einfach. Ich weigerte mich auch, bei schrecklichen Szenen hinzuschauen. Meine Kameraleute – ich hatte immer Mitarbeitende aus den jeweiligen Ländern – haben nie tote Menschen gefilmt. Es gibt – oder besser gesagt gab – eine natürliche Scheu gegenüber dem Horror.

Haben Sie keine Erinnerungen an grauenhafte Szenen?Ich erinnere mich an ein Bild aus dem Iran-Irak-Krieg 1983. Ich sass an einem Abend mit dem Kameramann an der Hotelbar und sagte zu ihm: «Ich glaube, ich werde langsam ver-rückt; ich sehe ständig tote Menschen, die mich aus dem Wasser heraus anschauen.» Und der Kameramann antwortete: «Aber ja doch, da lagen alle diese Leichen auf dem Grund des Wassers – hast du die denn nicht gesehen?» Offensichtlich hatte ich sie wahrgenommen und zu wenig schnell in meinem Unterbewussten verdrängt. So konnten die schrecklichen Bilder am Abend wieder hochkommen.

Muss man das Grauen nicht gesehen haben, um es einordnen zu können?Warum denn? Ich brauche doch nicht hinzuschauen, wenn jemandem die Kehle durchgeschnitten wird; ich weiss doch, wie das bei Tieren geht und wie es in den Kühlräumen bei

„Vieles war mir früher wichtig, was heute in den Müll gehört.„

Metzgern aussieht. Ich brauche solche Schreckensbilder nicht, und ich will sie nicht. Das war mein Schutz in all den Jahren als Berichterstatter aus Kriegsgebieten.

Macht Ihnen der Tod Angst? Ich habe von den Moslems gelernt, dass der Tod Teil des Lebens ist. Ich brauchte etwas Zeit, das zu begreifen, aber ich habe es geschafft. Ich habe auch keine Angst davor. Meine Vor-fahren sind alle etwa sechzigjährig gestorben, und ich werde nächstes Jahr schon siebzig! Ich musste vor einiger Zeit die Prostata entfernen lassen; ich hatte Krebs und fragte den Arzt, ob sich der Eingriff noch lohne. Er meinte, an Prostatakrebs zu ster-ben, sei nicht angenehm ... Insofern habe ich bis jetzt Glück gehabt. Aber irgendwann ist es so weit, und dann

ist fertig. Das macht mir keine Sorgen. Dass nachher noch etwas kommt, glaube ich nicht.

Merken Sie, dass Sie seit zwei Jahren pensioniert sind?Ja, sehr. Ich habe weniger Stress und viel mehr Zeit zum Lesen, um Ent-wicklungen zu beobachten und da-rüber nachzudenken. Vieles war mir früher wichtig, was heute in den Müll gehört. Und mit dem, was ich einst wusste und studiert hatte, kann ich die Welt nicht mehr erklären. Sie verändert sich so rasant, dass man kaum noch nachkommt. Ich halte auch immer weniger Vorträge, weil ich nicht über Dinge sprechen kann, die ich nicht mehr kenne. Zudem merke ich, dass meine körperlichen Kräfte ebenfalls nachlassen.

Gehen Sie noch in den Orient?Ich fliege regelmässig hin, ich besuche meine Freunde im Nordirak, in Nord-afghanistan und im Iran. Ich werde vom Flughafen abgeholt, schlafe bei jemandem auf dem Sofa ... Ich erlebe die Länder heute anders: Ich fahre im Irak als alter Deutscher durch die Dörfer; als Journalist wäre das auf diese Art nie möglich gewesen. Ich kann immer noch wichtige Leute treffen, die mir jetzt ganz anders ge-genüberstehen als während meiner

Berufszeit und mir Dinge sagen, die sie nie in ein Mikrofon gesprochen hätten. Dabei sehe ich auch die vielen krea-tiven, innovativen jungen Menschen, die sich trotz widrigster Umstände ein besseres Leben schaffen – davon hat man in Europa ja keine Ahnung!

Was mögen Sie am Orient?Er fasziniert mich, weil die Entwick-lung der Welt in den vergangenen zwanzig Jahren durch den Orient und sein Verhältnis zum Westen geprägt wurde. Im Orient wurde Welt-geschichte geschrieben.

Ihre erste Frau war Iranerin, mit ihr haben Sie einen Sohn und eine Tochter.Ich habe meine erste Frau im Iran kennengelernt, meine Kinder sind Deutsche. Meine Tochter wird Lehre-rin, mein Sohn hat Wirtschafts-geschichte studiert. Beide sind welt-

offen und international. Sie gingen in Jordanien zur Schule und sprechen auch Persisch. Ich nenne sie gern «nus nus» auf Arabisch oder «nim nim» auf Farsi, das heisst «halb halb».

Ein Symbol dafür, dass Ost und West zusammengehören?Wirtschaftlich haben sich die beiden Regionen anders entwickelt; aber Orient und Okzident sind ein grosser Kulturraum; weltweit der einzige mit den drei monotheistischen Weltreligi-onen – dem Christentum, dem Juden-tum und dem Islam. Das Heilige Buch heisst Bibel, Thora oder Koran, der Höchste ist Gott, Jahwe oder Allah. Allen drei sind die gleichen ethischen Werte wichtig: Liebe, Gerechtigkeit und Frieden. Übrigens: Das arabische Begrüssungswort heisst «Salam» – Frieden. Die Moslems wünschen sich Frieden – nicht Terror. ❋

Kenner des Islam

Der Journalist und Buchautor Ulrich Tilgner, geboren am 16. Januar 1948 in Bremen, studierte Kulturwissenschaften und Wirt-schaftsgeschichte. 1976 wurde er Mitarbeiter des Süddeutschen Rundfunks, ab 1980

berichtete er als Korrespondent aus Ländern des Nahen und Mittleren Ostens sowie über den irakisch-iranischen Krieg. Zunächst war er in Jordanien stationiert, während des zweiten Golfkriegs 1991 und des Irak-Kriegs 2003 berichtete er aus Bagdad, ab 2002 leitete er das ZDF-Büro in Teheran. Seit Ende der Achtzigerjahre arbeitete er dann auch für das Schweizer Fernsehen. Seit 2015 ist Ulrich Tilgner pensioniert. 2003 wurde er mit dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis für Fernsehjournalis-mus ausgezeichnet. Ulrich Tilgner lebt mit seiner Frau, der Journalistin Elisabeth Stimming, in Hamburg. Aus erster Ehe hat er einen Sohn und eine Tochter.

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