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Das Grauen aus dem Eismeer

Date post: 03-Jan-2017
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Es war das erste Mal, dass die Nacht für den Robbenfänger Bill Bennett fast unheimlich war. Eiskalt fegte der Wind über das Schiff, das den Namen ›Black Hunter‹ trug.

Treibeis, so weit das Auge reichte. Es war März, und wie jedes Jahr um diese Zeit hatte hier in der Labrador-see das große Robbenschlachten begonnen.

Bill Bennett war einer der Männer, die dieses Handwerk, trotz des Pro-testes in der ganzen Welt, ausübten.

Er selbst sah sich deshalb nicht als schlechten Menschen. Er fand, dass das Töten von Jungrobben genauso ein Beruf sei wie jeder andere.

Bennett war im Begriff, sich zum Achterdeck zu begeben. Da ver-nahm er plötzlich ein Geräusch…

Bennett blieb stehen und blickte sich um. Die ›Black Hunter‹ wirkte verwaist. Die gesamte Mannschaft befand sich unter Deck.

Die meisten Männer lagen bereits in ihren Kojen. Es war ein harter, Kräfte raubender Tag für sie gewe-sen.

Bennett lauschte. Der Wind heulte und orgelte zwi-

schen den Aufbauten. Eiskristalle flirrten über die ›Black Hunter‹ hin-weg.

Nichts regte sich, und Bill Bennett fragte sich, wodurch das eigenartige Geräusch von vorhin entstanden war.

Da! In diesem Moment wiederholte es

sich. Diesmal kam es vom Achter-deck her.

Bennett, an und für sich kein furchtsamer Mensch, zuckte erschro-cken herum.

Verdammt noch mal, was war mit ihm los.

Normalerweise machte ihm die schwärzeste Nacht keine Angst. Doch diesmal hatte er das ungute Gefühl, dass sein Leben in Gefahr war.

Nervös nahm er seinen Haken-stock, mit dem er tagsüber so viele Robbenbabys erschlagen hatte, fester in die Hand.

Er misstraute jetzt sogar seinem eigenen Schatten.

Was ging um das Schiff herum vor? Was braute sich zusammen?

Bennett überlegte, ob er die Mann-schaft warnen sollte. Aber warnen wovor? Wenn er wegen der vernom-menen Geräusche Alarm schlug, würde er einiges zu hören kriegen.

Die Männer waren hundemüde und wollten ihre Ruhe haben. Es brauchte schon einen triftigen Grund, um diese Ruhe zu stören, deshalb beschloss Bennett, die Ursa-che der seltsamen Geräusche zu erforschen.

Vorsichtig schlich er über das Deck.

Der eisige Wind stemmte sich

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gegen ihn und zerrte an seinen Klei-dern. Am tintigen Nachthimmel zogen Wolken auf, die sich träge vor die helle Scheibe des Mondes scho-ben und ihn nicht mehr freigaben.

Bennett schauderte. Seine Augen versuchten die Fins-

ternis zu durchdringen. Das Rasseln einer Kette war zu hören.

»Ist da jemand?«, rief Bennett in die Dunkelheit hinein.

Er vernahm ein geisterhaftes Schleifen und dazu ein eigenartiges Patschen wie wenn jemand mit nackten Füßen über das eisbedeckte Deck tappen würde.

Der Robbenjäger schluckte beun-ruhigt. Er hob seinen Hakenstock, denn er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er von irgend-jemand oder irgendetwas angegrif-fen werden würde.

Der ungestüme Wind schien ihm zuzuraunen, er solle die Flucht ergreifen. Aber er gab sich ärgerlich einen Ruck und setzte seinen Weg entschlossen fort.

Plötzlich war da eine vage Bewe-gung in der Finsternis. Etwas kroch über den Boden nicht von Bill Ben-nett weg, sondern auf ihn zu.

Er presste die Kiefer fest zusam-men.

In der nächsten Sekunde erkannte er, was sich ihm näherte.

Eine Robbe war es. Größer als alle Robben, die Bennett

je gesehen hatte.

Ein kolosshaftes Tier beinahe, das nicht jenen harmlos-unschuldigen Blick anderer Robben hatte.

Dieser Blick war erfüllt von Hass und Aggression.

Bill Bennett begriff sofort, weshalb dieses Tier an Bord gekommen war.

Es wollte ihn töten!

*

Obwohl es bereits zweiundzwanzig Uhr war, war die Redaktionssitzung noch in vollem Gange.

Um den langen grünen Tisch waren alle Leute versammelt, die dem Redaktionsstab der Wochenil-lustrierten ›Big Star‹ angehörten.

›Big Star‹ war eines der engagier-testen Blätter in den Vereinigten Staaten. Ihrem Herausgeber und Eigentümer, dem fünfundsechzig-jährigen Howard Thanish, war kein Eisen zu heiß.

Er fasste sie alle an und hatte in der jüngsten Vergangenheit einige höchst verschlungene Finanztrans-aktionen von namhaften Persönlich-keiten, denen niemand eine unsau-bere Gangart zugetraut hätte, aufge-deckt.

Thanish hatte Polit-Skandale initi-iert und war einer der gefürchtetsten Stuhlbeinsäger des Landes.

Thanish und seine kaltschnäuzige Crew waren unbestechlich, und man konnte sie auch nicht einschüchtern.

Keinem noch so starken Druck von

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oben hatten diese Leute jemals nach-gegeben. Im Gegenteil, sie hatten jedes Mal aufs Neue den Wahrheits-gehalt des Spruches unter Beweis gestellt, dass Druck Gegendruck erzeugt.

Einflussreiche Leute hatten schon vergebliche Attacken gegen das gefährliche Blatt, das sich eines großen Leserkreises erfreute, gerit-ten und waren deswegen auf der Strecke geblieben, während der ›Big Star‹ seine Popularität von Jahr zu Jahr ausbauen konnte.

Nachdem die Mitarbeiter vom politischen Ressort zu Wort gekom-men waren und ihre Vorschläge dem Chef unterbreitet hatten, hörte sich Howard Thanish an, was ihm seine Finanzexperten an aktuellen Themen zu bieten hatten.

Während seine Mitarbeiter spra-chen, erweckte Thanish den Anschein, als würde er ihnen nicht zuhören, aber der Schein trog. Er registrierte jedes Wort, das im Sit-zungsraum gesprochen wurde.

Hin und wieder machte er sich Notizen, und wenn seine Mitarbeiter ausgesprochen hatten, entschied er sich für einen ihrer Vorschläge, oder er verwarf sie alle und bestimmte welches andere Thema sie behan-deln sollten.

Trotz seiner fünfundsechzig Jahre nahm es der grauhaarige Zeitungs-herausgeber an Agilität mit jedem um etliche Jahre jüngeren Journalis-

ten auf. An ihm schien die Zeit fast spurlos

vorübergegangen zu sein. Er hielt sich mit Schwimmen fit und verkraf-tete selbst die anstrengendsten Nachtsitzungen erstaunlich gut.

Er war hart zu sich selbst, und die-selbe Einstellung verlangte er auch von seinen Mitarbeitern, die für ihn ausnahmslos durchs Feuer gingen.

Howard Thanish war eine Art Galionsfigur, die man überall in den Staaten kannte und entweder ver-ehrte oder fürchtete. Gleichgültig stand diesem imposanten Mann nie-mand gegenüber, und genau das war es, wonach Howard Thanish zeit seines Lebens gestrebt hatte.

Nach den Finanzexperten breiteten die Wirtschaftsfachleute ihre Ideen vor Thanish aus, und an sie schlos-sen sich die Mitarbeiter des ›Green Corne‹ an wie die Leute, die für Tier- und Umweltschutzfragen zuständig waren, intern genannt wurden.

Wie nicht anders zu erwarten, brachten sie das brandaktuelle Thema Robbenjagd zur Sprache.

Es gefiel Howard Thanish, wie sehr sich dabei Tony Noon, ein jun-ger, gut aussehender Journalist, engagierte.

»Dieses grausame Blutfest, das Jahr für Jahr in der Labradorsee gefeiert wird, sollte endlich verboten werden!«, sagte Noon in scharfem Ton. »Ist es wirklich so wichtig, dass

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das Fell der Jungrobben zu Porte-monnaies und Schlüsselanhängern verarbeitet wird? Müssen Kragen und Besatzstücke für Skijacken und Hausschuhe unbedingt aus Robben-fell sein? Man sollte jenen Leuten, die all diese Dinge für unentbehrlich halten, unbedingt noch einmal klar machen, was sich dort oben im Eis-meer abspielt. Ein Bericht müsste es sein, der ihnen den Kauf dieser ›Wertsachen‹ für immer verleidet. Ich meine, wie oft wurde schon über dieses Morden berichtet, und trotz-dem sterben jedes Jahr noch immer Tausende von Robbenbabys. Das ist Wahnsinn. Hier wird eine ganze Tiergattung erbarmungslos ausge-rottet. Und mittlerweile interessiert sich auch kaum noch jemand dafür. Da ist es unsere journalistische Pflicht, das Bewusstsein der Bevöl-kerung mit einem aufrüttelnden und schonungslosen Artikel wieder zu wecken!«

Die Kollegen aller Ressorts nickten beifällig. Nur Howard Thanish rea-gierte nicht auf Tony Noons Brandrede.

Noons Freund Don Webber schlug in dieselbe Kerbe: »Man sollte eine Kampagne starten. Die Story müsste auf die Leser über mehrere Num-mern hinweg einhämmern. Ich bin davon überzeugt, dass das seine Wirkung haben würde.«

Thanish kritzelte auf seinem Notizblock herum.

Als keiner mehr etwas sagte, legte er seinen Kugelschreiber weg, hob den Kopf und schaute in die Runde.

»Das wär’s für diese Woche. Ich danke Ihnen, meine Herren.«

Die Journalisten packten ihre Unterlagen ein. Gemurmel. Stuhl-rücken. Allgemeiner Aufbruch.

Auch Tony Noon erhob sich. Don Webber massierte seine dicke

Knollennase und raunte: »Was mag jetzt wohl wieder in unserem Chef vorgehen? Er hat zu dem, was wir gesagt haben, überhaupt nicht Stel-lung genommen.«

Tony zuckte mit den Schultern. »Vielleicht haben wir unseren Fin-

ger auf eine Wunde gelegt.« »Wieso? Wie meinst du das?« »Möglicherweise besitzt seine Frau

einen ganz besonders prächtigen Mantel aus Seehundfellen.«

»Ich fürchte eher, den wahren Grund für seine Ablehnung hast du ihm in deiner flammenden Rede selbst geliefert: Kaum noch jemand interessiert sich heutzutage für Rob-benmord!«

»Ich werde dieses Thema noch ein-mal anschneiden. Vielleicht schon morgen wenn ich mit ihm unter vier Augen sprechen kann.«

Don Webber grinste. »Du kannst hartnäckiger und lästiger als ’ne Filzlaus sein.«

»Darin liegt das Geheimnis meines Erfolges.«

»Gehen wir noch einen zusammen

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schlucken?« »Okay.« »Mr. Noon!«, sagte in diesem

Augenblick Howard Thanish. »Und Miss Glace!«

Karen Glace, die hübsche rothaa-rige Fotoreporterin, und Tony Noon sagten wie aus einem Mund: »Ja, Sir?«

»Darf ich Sie beide bitten, noch einen Moment zu bleiben?«

»Selbstverständlich, Sir«, erwiderte Tony. Und zu seinem Freund Web-ber sagte er bedauernd: »Tut mir Leid, Don. Du musst deinen Schlum-mertrunk allein zu dir nehmen.«

»Das wäre weiter nicht schlimm, nur jetzt muss ich ihn auch selbst bezahlen«, sagte Webber schmun-zelnd.

»Ach, du hast damit gerechnet, dass ich einen ausgebe? Nun sieh mal an, dasselbe habe ich mir von dir erhofft.«

»Da sieht man, was daraus wird, wenn zwei Schnorrer aufeinander treffen«, sagte Don Webber und ver-ließ das Konferenzzimmer. Er war einer der Letzten.

Karen Glace begab sich zu Tony. Die beiden hatten bereits einige Male zusammengearbeitet und Auf-sehen erregende Berichte gebracht.

»Scheint so, als hätte der Chef wie-der einmal etwas Großes mit uns vor«, sagte die schöne Fotografin. Sie hatte meergrüne Augen und einen sinnlichen Mund. Ihre Nase

war klein, die Wangenknochen waren hoch angesetzt.

Mit ihrer makellosen Figur hätte sie als gut bezahltes Fotomodel arbeiten können, doch es befriedigte sie mehr, hinter der Kamera zu ste-hen und auf diese Weise schöpfe-risch tätig zu sein.

Ihre Bilder wurden von der Fach-welt sehr geschätzt. Sie hatte mit einigen davon bereits Preise gewon-nen. Die Auszeichnungen hingen bei ihr zu Hause an der Wand, und sie zeigte sie nicht ohne Stolz jedem, dem sie erlaubt hatte, sie zu besu-chen.

Da sie sehr wählerisch war, kamen nicht viele Männer in ihre Woh-nung. Tony Noon gehörte zu den wenigen, doch er hatte die Situation nicht ausgenutzt, denn Karen war damals nicht ganz nüchtern gewe-sen.

Howard Thanish erhob sich. Er blickte Tony Noon an und sagte: »Es hat mir gefallen, was Sie gesagt haben, Mr. Noon. Ich bin ganz Ihrer Meinung. Dem Robbenschlachten sollte ein Ende bereitet werden. So etwas lässt sich natürlich nicht von heute auf morgen bewerkstelligen, aber das stete Tropfen höhlt den Stein. Man muss den Menschen immer wieder, Jahr für Jahr, klar machen, dass dort oben in der Labradorsee großes Unrecht an der Natur begangen wird. Da ich Ihre Einstellung dazu schon seit langem

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kenne, bin ich der Ansicht, dass sich dieses Themas niemand engagierter annehmen würde als Sie. Ich wusste, dass Sie Ihr größtes Anliegen in der heutigen Redaktionssitzung vorbrin-gen würden, und habe Ihre nächsten Schritte deshalb schon vorwegge-nommen.«

»Sie erstaunen mich immer wieder aufs neue, Sir.«

»Ich? Wieso?« »Als ich vorhin sprach, hatte ich

den Eindruck, die Sache würde Sie überhaupt nicht interessieren.«

»Ich werde Ihnen beweisen, dass mir sogar sehr viel daran liegt, dass diese Robbenmorde endlich aufhö-ren, Tony«, sagte Howard Thanish mit vor Eifer funkelnden Augen. »Die kanadischen Fischerei-Inspek-toren geben nur selten Erlaubnis-scheine aus, die es Journalisten gestatten, das Robbenfanggebiet während der Jagdsaison zu betreten. Doch ich ließ meine Beziehungen spielen und erwirkte eine solche Erlaubnis für Sie beide. Was sagen Sie dazu?«

Tony grinste. »Ich bewundere Ihre weise Voraussicht und Ihre weit rei-chenden Beziehungen, Sir.«

»Ich ließ bereits alles für Sie arran-gieren«, sagte Thanish.

So war er. Voller Überraschungen. Man musste jederzeit damit rechnen dass er einen in den entferntesten Winkel dieser Welt schickte und sagte: »Ihre Maschine startet in einer

Stunde. Sie haben also nicht mehr viel Zeit zum Packen.«

»Wann reisen wir ab?«, erkundigte sich Karen Glace. Sie hatte nichts dagegen, ihre Zelte hier in New York für eine Weile abzubrechen. Sie war frei und ungebunden und stand ihrem Chef deshalb rund um die Uhr zur Verfügung.

Schon bevor sie für Thanish zu arbeiten angefangen hatte, hatte sie gewusst, dass ein Job auf sie wartete, der viel Zeit erforderte, und genau das war es gewesen, was sie gesucht hatte, denn sie liebte ihre Arbeit. Alles andere kam erst danach.

»Ihr Flugzeug geht morgen um neun«, sagte Howard Thanish.

Er entnahm einer Ledermappe, die vor ihm auf dem Tisch lag, die bei-den Erlaubnisscheine sowie zwei Flugtickets, die auf Karens und Tonys Namen ausgestellt waren.

Außerdem schrieb Thanish einen Scheck in Höhe von fünftausend Dollar aus. Mit diesem Betrag sollten Karen und Tony ihre Kosten decken und sich die passende Kleidung für ihre Expedition in das Eismeer zule-gen.

»Ich erwarte von Ihnen einen Bericht, der den Lesern unter die Haut geht«, sagte Thanish.

»Den kriegen Sie«, versprach Tony Noon.

»Und ich liefere die entsprechen-den Fotos dazu«, versprach Karen Glace.

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»Don Webber hat recht, wenn er sagt, dass wir auf die Leute einhäm-mern müssen«, sagte Thanish. »Wir werden den Bericht über fünf bis sechs Nummern ziehen. Verschießen Sie Ihr Pulver deshalb nicht gleich im Anreißer, sondern verteilen Sie die Sprengsätze geschickt auf die einzelnen Ausgaben.«

»Keine Sorge, Sir, mir wird der Zündstoff bestimmt nicht ausgehen.«

»Ich weiß, dass ich mich in jeder Beziehung auf Sie verlassen kann, Tony. Sie wissen, worauf es ankommt, damit eine Story die gewünschte Brisanz erhält. Sie haben völlig freie Hand. Ich bin davon überzeugt, dass Sie mich nicht enttäuschen werden.«

»Danke, Sir.« »Das Schiff, auf dem Sie mitfahren

werden, heißt ›North Ice‹. Der Name des Kapitäns ist Robin Lazare. Er weiß bereits, dass Sie kommen wer-den.«

Tony Noon lächelte. »Er und seine Mannschaft werden

uns nicht gerade ins Herz schließen.«

»Das ist auch nicht nötig. Vermei-den Sie aber tunlichst Diskussionen mit den Robbenfängern, denn wenn es zu einer Auseinandersetzung käme, hätten Sie die gesamte Schiffs-besatzung gegen sich, und das könnte für Sie beide schlimm enden, denn Robin Lazares Männer sind

verdammt raue Gesellen.« »Wir werden so friedlich sein wie

zwei fromme Pilger«, sagte Karen. »Ich wünsche Ihnen Glück und

viel Erfolg für dieses Unternehmen.« »Vielen Dank, Sir«, sagte Tony

Noon. Damit entließ Howard Thanish

seine beiden Mitarbeiter. Als Tony und das rothaarige Mäd-

chen das Konferenzzimmer verlie-ßen, ahnten sie noch nicht; dass sie eine Reise in die Hölle antreten wür-den. Schreckliche, unheilvolle Dinge hatten bereits ihren Lauf genommen.

Das Grauen hatte in den Eisfeldern im Norden Kanadas Einzug gehal-ten…

*

Diesem Grauen begegnete der Rob-benfänger Bill Bennett als Erster.

Er war ein hochgewachsener kräf-tiger Mann mit harten Muskeln. Er war wendig und gehörte zu jenen Jägern, die stets mehr Tiere erlegten als die andern. Sein Ehrgeiz ließ es nicht zu, dass er mit weniger Fellen zum Schiff zurückkehrte als die anderen Mitglieder der Besatzung.

Bennett starrte die Killerrobbe an. Er regte sich nicht, hielt seinen Hakenstock zum Schlag erhoben und wartete auf den Angriff des Tie-res, der seiner Ansicht nach jeden Augenblick erfolgen musste.

Noch nie hatte Bill Bennett erlebt,

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dass von einer Robbe so viel Aggres-sion ausgegangen war.

Normalerweise nahmen diese Tiere schon Reißaus, wenn sie nur die knirschenden Schritte der Jäger auf dem Eis vernahmen.

Doch diese Robbe fürchtete den Menschen nicht. Im Gegenteil, der Mensch musste das Tier fürchten.

Schneetreiben setzte ein. Es wurde rasch heftiger. Die Flocken bildeten einen weißen Schleier, hinter dem die Umgebung verschwand. Bennett sah nur noch die Robbe.

Ihre Bewegungen wirkten bei wei-tem nicht so unbeholfen wie jene ihrer Artgenossen. Geschmeidig und schnell glitt sie heran.

Sie öffnete ihr Maul und ließ ein feindseliges Knurren hören.

Bennett bemerkte, dass diese Robbe ungewöhnlich lange, kräftige Zähne hatte.

»Dich muss der Teufel geschaffen haben!«, stieß Bennett nervös her-vor.

Er war ziemlich unsicher, wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.

Immer näher kam das Tier. Patsch, patsch, patsch die Vorderflossen klatschten auf die vereisten Schiffs-planken.

Bill Bennett wich zurück, aber plötzlich blieb er störrisch stehen.

Verdammt noch mal, was war denn mit ihm los? Seit wann hatte er denn vor Robben Angst?

Zugegeben, dieses Tier war ein

besonders großes Exemplar, das einem schon einigen Respekt abrin-gen konnte, aber einige kraftvolle Hiebe mit dem Hakenstock würde selbst diese Riesenrobbe nicht über-leben.

Bennett wich keinen weiteren Schritt mehr zurück. Er wartete auf den richtigen Moment und drehte die Spitze des Hakenstocks nach vorn.

Als die Killerrobbe nahe genug herangekommen war, hieb Bill Ben-nett mit aller Kraft auf das Tier ein.

Er wollte dem Tier den metallenen Haken mit voller Wucht in den Kopf und ins Gehirn schlagen.

Doch das klappte nicht. Bennett war, als hätte er mit voller

Wucht auf Granit geschlagen. Das Tier wies nicht die geringste Verlet-zung auf.

Der Robbenfänger konnte das nicht fassen. Er riss verstört die Augen auf und vernahm im selben Moment das Patschen weiterer Rob-benflossen.

Dieses Teufelstier war nicht allein an Bord gekommen.

Durch die Dunkelheit schoben sich weitere plumpe Körper.

Immer mehr Killerrobben krochen durch das dichte Schneetreiben auf den Mann zu.

Sie kreisten ihn ein, ihm wurde Angst und Bange. Panik stieg in ihm hoch.

Sechs, sieben, acht Robben zählte

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er, und dahinter schienen noch mehr zu sein.

Die Tiere hatten den Spieß umge-dreht. Jetzt wurden sie nicht mehr gejagt, sondern sie machten Jagd auf Bill Bennett.

Verrückt war das, aber es war eine tödliche Tatsache, der der Robben-fänger zwangsläufig ins Auge sehen musste.

Der Ring der Robben zog sich um Bill Bennett immer enger zusam-men. Mit hochgehobenem Haken-stock drehte er sich immer schneller ruckartig um die eigene Achse.

Es war ihm nicht möglich, alle Robben im Auge zu behalten.

Welche würde ihn zuerst angrei-fen?

Er hatte das Gefühl, sein Herz würde hoch oben im Hals schlagen.

Wie viele Robbenbabys hatte er in den zehn Jahren, in denen er diesen blutigen Job nun schon ausübte, erschlagen?

Es waren viele gewesen. Sehr viele. Niemals wäre ihm der Gedanke

gekommen, dass sich diese Tiere eines Tages rächen würden.

Doch nun schien die Stunde der Rache angebrochen zu sein.

Die Tiere ließen es sich nicht mehr länger gefallen, dass man ihre wehr-losen Jungen abschlachtete.

Sie schlugen zurück! Als eine der Robben ihm ihre kräf-

tigen Zähne ins Bein hacken wollte, sprang er zur Seite.

Das Maul verfehlte ihn, aber auch hinter und neben ihm waren Rob-ben.

Sie waren überall. »Verdammt!«, schrie er. »Haut

ab!« Er schlug nach ihnen, doch ihre

Schädel waren hart wie Stein. Der Hakenstock prellte schmerzhaft in seinen Händen.

»Haut ab, verdammt!« Er trat nach den Tieren, versuchte

verzweifelt, ihren Kreis zu durchbre-chen, doch das ließen sie nicht zu.

Sie schnellten an ihm hoch, rissen ihn nieder.

Er landete in ihrer Mitte. Sie stürzten sich auf ihn, schienen

ihn mit ihren klumpigen Körpern erdrücken zu wollen.

»Nein! Neeiin!!« Er drehte sich zwischen ihnen auf

den eisüberzogenen Planken, der Stock war seinen Händen entfallen.

Er schlug mit den Fäusten und trat mit den Füßen um sich, doch er hatte nicht die geringste Chance gegen die Killerrobben.

»Neeeiin!!!« Seine verzweifelten Schrei gellten

durch die finstere, eiskalte Nacht, als die Robben ihre spitzen Zähne in seinen Körper schlugen, wieder und immer wieder, und ihn bei lebendi-gem Leib zerfetzten und zerrissen…

*

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»Ich bringe dich nach Hause«, sagte Tony Noon.

»Ich kann mir ein Taxi nehmen.« »Keine Widerrede!«, sagte Tony

mit gespieltem Ernst. »Wer von uns beiden hat, die Hosen an?«

»Optisch betrachtet du«, sagte Karen Glace. »Da ich aber auf reine Äußerlichkeiten nichts gebe…«

Tony winkte ab. »Spar dir deinen Atem. Der Chef bin ich, und es wird getan, was du sagst wie in jeder gut funktionierenden Ehe.«

Karen lachte. »Das ist ein Wort.« Sie verließen das ›Big-Star‹-Buil-

ding. Auf dem Parkplatz stand Tonys weißer Chevrolet.

Er schloss die Tür auf und ließ Karen einsteigen.

»Hoffentlich hast du einen guten Magen«, sagte Tony. »Du wirst ihn brauchen, wenn du die Robbenfän-ger auf ihrem Weg über das Eis begleitest.«

»Mach dir um mich keine Sorgen. Ich hab’ so etwas wie eine Sperre in mir. Wenn etwas zu schlimm wird, rastet sie automatisch ein, und ich werde zum Roboter.«

Tony setzte sich ans Steuer. Er zündete die Maschine und ließ gleich darauf den Chevy vom Park-platz rollen.

Karen wohnte auf Staten Island. Tony fuhr über die Verrazano Nar-

rows Bridge, durchfuhr Arrochar und Grasmere und erreichte schließ-lich die Old Town Station, hinter der

Karen Glace zu Hause war. Er stoppte den weißen Wagen in

zweiter Spur vor dem Gebäude, in dem Karen wohnte.

»Vielen Dank fürs Heimbringen, Tony.«

»Hab’ ich gern gemacht. Und mor-gen früh hole ich dich ab.«

»Gut. Wann?« »Acht Uhr.« »Okay. Gute Nacht, Tony.« »Gute Nacht, Baby. Träum von

mir.« »Warum wünschst du mir einen

Alptraum?« »Hinaus, du giftige Kröte!«, rief

Tony Noon grinsend. »Und vergiss nicht, ein paar heiße Höschen einzu-packen, du wirst sie brauchen!«

»Kümmer du dich lieber um deine Unterwäsche!« Karen stieg aus und kicherte.

»Was gibt’s denn da so albern zu kichern?«

»Ich habe dich mir gerade in der langen Unaussprechlichen vorge-stellt.«

»Ich sehe auch darin gut aus.« »Igitt!«, rief Karen Glace aus und

eilte davon. Sie neckten einander gern, ohne

dass die Sache je beleidigend wurde. Tony Noon wartete, bis seine Kol-

legin im Haus war, dann setzte er die Fahrt fort.

Er war mit seinen Gedanken weit weg: in der Labradorsee, wo soeben wieder das große Robbensterben

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begonnen hatte. Es war ihm schon lange ein Her-

zensbedürfnis, dieses Unrecht, das der Mensch am Tier beging, hart anzuprangern, und nun bot ihm Howard Thanish endlich die Gele-genheit dazu.

Er war entschlossen, seine Chance zu nutzen. Sämtliche Register, die ihm zur Verfügung standen, wollte er ziehen.

Sein Bericht sollte bei den Lesern nicht nur ein leichtes Unbehagen erzeugen nein, übel sollte ihnen wer-den, wenn sie die Serie lasen!

Er wusste, dass er das Zeug dazu hatte, die Leute zu packen, ihr Gewissen wachzurütteln und ihnen klar zu machen, dass man auch ohne das Fell eines Seehundes auskam.

Aber Tony Noon war kein hoff-nungsloser Träumer. Er war sich der Tatsache bewusst, dass es ihm allein nicht gelingen konnte, die Miss-stände im Eismeer abzuschaffen.

In den siebziger und achtziger Jah-ren war viel darüber berichtet wor-den, doch dann war das Thema in Vergessenheit geraten. Aber viel-leicht gelang es ihm ja, das Volk wie-der wachzurütteln, damit die Leute endlich wieder die Augen aufmach-ten und sahen, was geschah.

Zwanzig Minuten, nachdem er Karen zu Hause abgesetzt hatte, war auch er daheim.

Er fuhr mit dem Penthouselift zum Dachgeschoss hinauf und betrat

gleich darauf seine geräumige Jung-gesellenbude.

Nachdem er sich einen Drink gemixt hatte, überlegte er, was er alles auf die Reise mitnehmen wollte.

Einiges legte er sofort bereit, ande-res schrieb er auf einen Zettel.

Nachdem er sein Glas geleert hatte, ging er unter die Dusche. Er genoss das lauwarme Wasser auf seiner Haut.

Es machte ihn angenehm müde. Nachdem er sich ausgiebig abfrot-

tiert hatte, ging er zu Bett. Um nicht zu verschlafen, stellte er den Wecker.

Dann drehte er sich auf die Seite und schlief fast augenblicklich ein.

*

Der Fischerei-Inspektor Jim Gal-lagher legte die Spielkarten auf den Tisch und hob den Kopf.

Er konnte sich rühmen, ein über-aus feines Gehör zu haben, deshalb war er der einzige, der das Schreien Bill Bennetts vernommen hatte.

Nur ganz dünn war er durch das Heulen des Sturmes gedrungen.

Die drei Männer, die mit Gallagher am Kartentisch saßen, blickten den Inspektor irritiert an.

»Warum spielen Sie nicht weiter?«, fragte Spencer Burke, der Funker. Er war ein schmächtiger Bursche mit eingesunkenen Wangen und unzäh-

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ligen Falten um die Augen. »Da hat jemand geschrien«,

behauptete Jim Gallagher. Spencer Burke blickte in die

Runde. »Habt ihr was gehört?« Die Spieler schüttelten den Kopf. Einer von ihnen meinte grinsend:

»Wahrscheinlich hat Gallagher das mieseste Blatt, das ihr euch denken könnt, und nun möchte er sich trick-reich, aus der Affäre ziehen.«

Der Inspektor, ein feister Brocken mit struppigem Haar, erhob sich. »Es war der Schrei eines Mannes, der in größter Not ist. Wer kommt mit?«

»Ich bin froh, wenn ich nicht noch mal in die Kälte hinaus muss«, sagte der Mann, der dem Inspektor gegen-übersaß.

»Ich bleibe auch lieber in der Wärme«, sagte der Jäger links von Gallagher.

»Ich gehe mit Ihnen«, sagte der Funker. »Diese müden Schlapp-schwänze sind ja zu nichts mehr zu gebrauchen.«

»Du warst ja nicht von morgens bis abends auf dem Eis!«, maulten die Männer, die die Wärme nicht mehr verlassen wollten.

Jim Gallagher und Spencer Burke holten ihre dicken Jacken und eilten an Deck. Sie zogen ihre Wollmützen tief in die Stirn und kämpften sich durch den Schneesturm, der so hef-tig war, dass er ihnen den Atem

nahm. Nach wenigen Schritten blieb Gal-

lagher stehen. Er schaute sich miss-trauisch um.

»Glauben Sie, dass es so etwas wie einen sechsten Sinn gibt, Burke?«

»Nun, ich… ich weiß nicht…« »Dieser Sinn signalisiert mir

etwas.« »Was?« »Gefahr!«, behauptete Jim Gal-

lagher. »Irgend etwas stimmt hier nicht.«

»Und was?« »Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass

wir auf der Hut sein müssen. Und noch etwas weiß ich: Dass ein Mit-glied der Besatzung das Leben ver-loren hat.«

Gallagher stemmte sich gegen den heulenden Sturm. Er kämpfte sich Schritt für Schritt vorwärts.

Burke blieb in seiner Nähe, denn ihm war mulmig zumute. Nervös sah er immer wieder über die Schul-ter zurück, ohne die Gefahr erken-nen zu können, von der der Inspek-tor gesprochen hatte.

»Dort vorn!«, rief Jim Gallagher plötzlich. Er beschleunigte seinen Schritt.

Spencer Burke lief mit ihm durch die arktische Nacht. Sein Herz schlug aufgeregt gegen die Rippen.

Mit einem Mal wäre er lieber unter Deck bei den Kameraden gewesen, denn jetzt fühlte auch er ganz deut-lich die drohende Gefahr. Sein Atem

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ging stoßweise. Er erreichte mit Jim Gallagher eine

auf den Planken liegende Gestalt. Eine Gestalt, die in einer riesigen

Lache Blut lag, übel zugerichtet und verstümmelt, grauenhaft.

Gallagher fasste nach der Schulter des Mannes und drehte ihn auf den Rücken.

»Großer Gott!«, entfuhr es dem Funker, als er sah, wie furchtbar Bill Bennett zugerichtet worden war.

Seine Kleider waren zerfetzt, sein Körper war eine einzige klaffende Wunde. Der Kopf war halb zerbis-sen, und der linke Arm fehlte gänz-lich.

Das noch warme Blut dampfte in der eisigen Kälte.

Ein absolut grauenvoller Anblick. »Bennett!«, stieß Burke heiser her-

vor. »Er war unser bester Mann. Verdammt, was für eine Bestie…?«

Jim Gallagher stieß den Funker mit dem Ellenbogen an.

Und dann sah auch Spencer Burke sie.

Er traute seinen Augen nicht. Von allen Seiten watschelten sie heran.

Groß und bedrohlich sahen sie aus, und in ihrem Blick glitzerte die unbezähmbare Gier nach menschli-chem Leben.

Das Deck der ›Black Hunter‹ schien von diesen Ungeheuern über-sät zu sein.

»O Jesus!«, stieß der Funker ver-stört hervor. »Ich glaube, ich habe

den Verstand verloren.« »Das haben Sie nicht, Burke. Wir

sind tatsächlich von diesen Biestern umzingelt.«

»Wie kommen diese Riesenviecher an Bord?«

»Zerbrechen Sie sich lieber dar-über den Kopf, wie Sie verhindern können, dass Sie so enden wie Bill Bennett!«

Jim Gallagher erhob sich. Er holte eine Colt-Commander-Pistole aus der tiefen Tasche seiner Jacke.

»Noch nie habe ich gehört, dass Robben ein Schiff überfallen haben«, keuchte Spencer Burke. »Woher neh-men sie so viel Mut? Was hat sie so groß und kräftig gemacht?«

»Wir müssen versuchen, unter Deck zu gelangen. Bleiben Sie neben mir.«

»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Sie haben eine Waffe. Ich nicht.«

Die Männer rückten von dem blu-tigen Leichnam ab.

Burke war so aufgeregt, dass er auf dem vielen Blut ausrutschte. Wenn Gallagher ihn nicht blitzschnell gestützt hätte, wäre er hingefallen.

»Das ist ja eine regelrechte Inva-sion!«, stöhnte der Funker. »Wie viele schätzen Sie, dass es sind, Gal-lagher?«

»Kann ich nicht sagen. Jedenfalls sind es mehr, als ich Kugeln in mei-ner Pistole habe.«

»Wenn sie uns angreifen, muss

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jeder Schuss ein Treffer sein«, sagte der Funker. »Dann hauen die ande-ren eventuell ab.«

»Verdammt!«, entfuhr es Jim Gal-lagher.

Er hatte sich umgedreht und bemerkt, dass sich zwischen ihnen und dem Niedergang ein wahrer Robbenwall aufgebaut hatte.

»Schießen Sie!«, verlangte Spencer Burke. »Jagen Sie den Mistviechern Ihre Kugeln in den Schädel!«

Die Killerrobben rückten näher. »Verdammt noch mal, worauf

warten Sie?«, rief Burke. Jim Gallagher hob die Waffe. Er

zielte genau. »Drücken Sie endlich ab!«, drängte

Burke. Doch Gallagher ließ sich von ihm

nicht aus der Ruhe bringen. Er zog den Stecher seiner Waffe erst durch, als er sicher war, dass das Geschoss sein Ziel nicht verfehlen würde.

Laut krachend entlud sich die Waffe.

Der Schuss würde die gesamte Mannschaft aus den Kojen reißen, und das war gut so, denn Gallagher war davon überzeugt, dass er allein mit den Robben nicht fertig werden würde.

Die Kugel traf das Tier zwischen den Augen.

Das Projektil drückte sich am Rob-benschädel platt und jaulte als Quer-schläger davon.

Spencer Burke schüttelte fassungs-

los den Kopf. »Das gibt’s doch nicht! Das ist

unmöglich!« Hysterie erfasste ihn. Er steckte damit auch den Inspek-

tor an. Gallagher feuerte erneut. Und er

drückte noch einmal ab. Und vor jedem weiteren Schuss

zielte er weniger, bis er einfach nur noch drauflos ballerte.

Selbst als die Waffe leergeschossen war, drückte Jim Gallagher noch einige Male ab, ehe ihm das metalli-sche Klicken bewusst machte, dass sich keine Kugel mehr im Magazin befand.

Aufgeregte Schreie unter Deck. Beim Niedergang tauchten die ers-

ten Männer auf. »Helft uns!«, schrie Spencer Burke.

»Die Biester wollen uns umbringen!«

Drei Killerrobben trieben sich wie ein Keil zwischen Burke und den Fischerei-Inspektor.

Sobald die beiden Männer vonein-ander getrennt waren, gingen die Tiere zum Angriff über.

Fassungslos standen die anderen Robbenfänger da.

Der Kapitän der ›Black Hunter‹ befahl ihnen, Gewehre zu holen.

Die Männer rannten die Stufen hinunter, während Jim Gallagher und Spencer Burke sich der Angriffe kaum erwehren konnten.

Schüsse peitschten kurz darauf aber das Deck, doch auch die

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Gewehrkugeln vermochten den Kil-lerrobben nichts anzuhaben.

»Das müssen Höllenrobben sein!« schrie der Erste Maat. Er zielte auf das Auge eines Tieres und drückte ab.

Doch das Geschoss konnte das gefährliche Monster nicht nieder-strecken.

»Hier hat der Teufel seine Hand im Spiel!«, stellte der Kapitän fest.

»Wir brauchen Hilfe!«, rief einer seiner Männer. »Wir müssen funken d…«

Eine Robbe wandte sich ihm zu. Der Jäger sprang entsetzt zurück, doch das Tier erwischte ihn. Es packte mit den mächtigen Zähnen zu, riss ihn zu Boden, stürzte sich auf ihn und biss schnaufend auf ihn ein, wieder und wieder. Seine Schreie gellten Grauen erregend über das Deck, während er auf schrecklichste Weise sterben musste. Auch Burke, der Funker, schrie auf, als ihn zwei Robben erheblich ver-letzten.

Irgendwie gelang es ihm trotzdem, den Robbenring zu durchbrechen. Blutend schleppte er sich auf die Aufbauten zu.

Zwei Robbenmonster verfolgten ihn.

Er stolperte. Die Tiere holten auf. Mordlust glitzerte in ihren schwar-zen Augen.

Die rissen ihre Mäuler auf, die Körper zuckten nach vorn, doch ihre

kräftigen Zähne verfehlten den Mann.

Torkelnd erreichte er die Funkka-bine. Er riss die Tür auf, konnte sie hinter sich aber nicht mehr schlie-ßen, denn mehrere Robbenschnau-zen versetzten ihm einen harten Stoß, der ihn gegen das Funkgerät warf.

Mit zitternden Händen versuchte er das Funkgerät einzuschalten, doch das ließen die Robben nicht zu.

Sie griffen ihn vehement an. Obwohl er verletzt war, wehrte er

sich verzweifelt. Doch die Killerrob-ben bereiteten ihm ein grauenvolles, blutiges Ende.

Die Mannschaft der ›Black Hunter‹ verteidigte sich verbissen, doch die Killerrobben waren in der Überzahl, und man konnte sie mit keiner Waffe verletzen.

Ein Jäger nach dem andern musste sein Leben auf schreckliche Weise lassen.

Es grenzte an ein Wunder, dass Jim Gallagher immer noch auf den Beinen war.

Das Schiffsdeck war von dampfen-dem Blut überschwemmt. Männer brüllten, Tiere kreischten, Füße stampften, Flossen patschten auf den blutüberströmten Planken.

Eine Robbe versetzte Gallagher einen Rammstoß mit der Schnauze.

Der Inspektor torkelte zurück und stieß gegen den Schädel einer ande-ren Robbe.

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Das Tier wollte ihn mit einem schnellen Biss schnappen, doch Gal-lagher wuchtete sich rücklings dar-über.

Er rollte über den Rücken der Kil-lerrobbe, kam auf die Beine, schnellte hoch, sprang über das nächste Tier, das ihn stoppen wollte, und wich einer weiteren Bestie aus.

Was er nicht zu hoffen gewagt hatte, schaffte er: Er erreichte den Niedergang.

Helfende Arme streckten sich ihm entgegen. Er ergriff die Hände.

Sie rissen ihn nach vorn. Aber die Monsterrobben wollten

weder ihn noch irgendeinen anderen Mann auf diesem Schiff davonkom-men lassen. Sie setzten ihre Angriffe fort.

Gallagher sah, wie der Kapitän abgedrängt wurde und auf grauen-volle Weise sein Leben verlor.

Auch den Zweiten Maat erwischte es. Er wurde zerfetzt.

Der Inspektor wich mit zwei Jägern immer weiter zurück. Sie stie-gen die Stufen des Niederganges hinunter.

Eine Robbe folgte ihnen. Sie verletzte einen der Jäger so

schwer, dass er zusammenbrach. Daraufhin wirbelte Jim Gallagher herum und stürmte in panischer Furcht die Treppe hinunter.

Sein Fluchtziel war seine Kabine. Er wollte sich in sie einschließen.

Während er dorthin unterwegs

war, hörte er das schrille Schreien und Kreischen des zweiten Jägers.

Oben auf dem Deck starb in jeder Minute ein weiterer Mann. Es war schrecklich.

Jim Gallagher keuchte den Gang entlang. Als er seine Kabinentür erreichte, drehte er sich um.

Soeben tauchte am Ende des Nie-dergangs die Killerrobbe auf, die es auf sein Leben abgesehen hatte.

Seine Kopfhaut zog sich zusam-men. Er hetzte in die Kabine und schleuderte die Tür hinter sich zu. Er schob den Messingriegel vor und drehte den Schlüssel zweimal im Schloss herum.

Dann lehnte er sich verzweifelt an die Tür.

»Heilige Mutter Gottes, steh mir bei!«, rief er.

Die Schreie der sterbenden Män-ner machten ihn konfus. Er hörte die Killerrobben furchtbar wüten, und sein Herz klopfte so heftig, dass er glaubte, es müsse ihm zerspringen.

Die Tiere begannen das Schiff zu verwüsten. Ein fortwährendes Bers-ten und Krachen war zu vernehmen.

Dumpf klopften die Flossen des Robbenmonsters über den Gangbo-den. Jim Gallagher hörte deutlich, wie das Tier näher kam.

Er schwitzte Blut und Wasser. Jetzt setzten heftige Schmerzen

ein, die von seinen Wunden ausgin-gen.

Er blickte an sich hinunter und

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stellte fest, dass er stark blutete. Wenn er nichts gegen die Blutun-

gen unternahm, würde er wohl bald das Bewusstsein verlieren.

Die Killerrobbe erreichte Gal-laghers Kabinentür. Der Inspektor hörte sie schnaufen und hasserfüllte Laute ausstoßen.

Der Satan musste diese Tiere dazu getrieben haben, Rache zu nehmen, und sie taten es mit blutiger Grau-samkeit.

Gallagher hielt den Atem an, obwohl ihm das schwer fiel. Vor der Tür herrschte für einen kurzen Moment Stille.

Umso deutlicher waren die grausi-gen Laute zu hören, die auf Deck ausgestoßen wurden.

Als erneut ein Mann aufschrie, bekam Jim Gallagher eine Gänse-haut.

Er konnte sich nicht vorstellen, dass er mit dem Leben davonkom-men würde. Niemand auf der ›Black Hunter‹ würde den Überfall der Kil-lerrobben überleben. Rums!

Das Robbenmonster hatte seinen Schädel gegen die Tür gerammt. Jim Gallaghers Herz übersprang einen Schlag.

Der Stoß hatte ihn geschüttelt und ihm gleichzeitig gezeigt, wie viel Kraft in dieser Bestie steckte.

Rums! Ein weiterer Rammstoß traf die Tür.

Gallagher stemmte sich verzwei-felt dagegen. Seine Schulterblätter

pressten sich fest gegen das Holz. Beim dritten Stoß splitterte das

Holz. Der Riegel brach. Das Schloss

wurde aus seiner Verankerung gerissen.

Und beim vierten Rammstoß zer-brachen auch die Türangeln.

Jim Gallagher sauste mit der Tür durch die Kabine.

Er knallte gegen die Wand. Die Tür klapperte zu Boden, und

dann standen sie einander Auge in Auge gegenüber.

Der Mensch und das Tier. Das Monster und sein Opfer! Fast träge setzte sich die Killer-

robbe in Bewegung. Sie näherte sich dem Inspektor, der immerzu den Kopf schüttelte und verstört schrie: »Nein! Nein! O Gott, nein!«

Doch die Bestie kannte keine Gnade. Mitleidlos biss sie auf ihn ein, zerfleischte ihn, zerfetzte ihn, während er schrill kreischte und schrie.

Sein Ende war grauenvoll…

*

Howard Thanish hatte einmal mehr unter Beweis gestellt, dass er ein hervorragendes Organisationstalent besaß. Wenn dieser Mann etwas in die Hand nahm, dann war es so gut wie sicher, dass alles wie geschmiert lief.

Karen Glace und Tony Noon flo-

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gen von New York in Richtung Neu-fundland ab.

In St. John’s die 110.000-Einwoh-ner-Stadt ist die Metropole Neu-fundlands wurden Karen und Tony von einem Hubschrauber erwartet, der sie zur ›North Ice‹ bringen sollte.

Sie waren warm gekleidet, trugen pelzgefütterte Jacken, Pelzmützen und Pelzstiefel.

Tony verstaute sein und Karens Gepäck im Helikopter, einem Bell Jetranger. Der Pilot half ihm dabei.

»Ich bin schon ziemlich gespannt«, sagte Karen, bevor sie in den Hub-schrauber kletterte.

Sie hatte mehrere Fotoapparate mit auf die Reise genommen. Einen davon trug sie an einem Lederrie-men um den Hals, um ein paar Luft-aufnahmen schießen zu können, falls sich dazu Gelegenheit bot.

Tony war ihr beim Einsteigen behilflich. »Über eines müssen wir uns klar sein: Innige Freundschaften werden wir auf der ›North Ice‹ ganz bestimmt nicht schließen.«

»Ich brauche keine Freunde. Ich habe ja dich.«

»Freut mich, dass du das so siehst.«

»Wenn man mich ungehindert arbeiten lässt, bin ich schon zufrie-den.«

»Wir werden sehen, was uns in den Eisfeldern erwartet.«

Nachdem Tony Noon die Kanzel-tür geschlossen hatte, machte er dem

Piloten ein Zeichen: sein Daumen wies nach oben.

Der Mann am Steuerhorn nickte und ließ die Allison-Turbinen an.

Der Rotor kam in Bewegung. Er drehte sich immer schneller, und Augenblicke später hob der Heliko-pter vom Boden ab.

St. John’s, die älteste Stadt Nord-amerikas, blieb zurück.

Karen und Tony schauten nach unten.

Bald war von der felsstarrenden Küste Neufundlands nichts mehr zu sehen. Weite Eisflächen begannen sich unter ihnen auszubreiten.

Karen erblickte ein Robbenfänger-schiff.

Sie bat den Piloten, mit dem Heli-kopter etwas tiefer zu gehen, doch der Mann erklärte ihr, dass das in der Jagdzeit nicht erlaubt wäre.

»Kein Hubschrauber und kein Flugzeug darf in dieser Zeit niedri-ger als sechshundert Meter über die Robbenkolonie fliegen«, sagte der Pilot.

Karen half sich mit einem Teleob-jektiv und schoss die Aufnahmen, die sie haben wollte.

Die Journalisten erfuhren, dass die ›North Ice‹ vor einigen Tagen mit drei norwegischen und sechs kana-dischen Schiffen ausgelaufen war, um durch das Treibeis des Atlantiks in jene Gebiete vorzustoßen, in denen die Sattelrobben ihre Jungen zur Welt bringen.

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Nach zwei Flugstunden über glei-ßendem Eis entdeckte Tony Noon am Horizont die Schiffe.

Doch die ›North Ice‹ war nicht bei dem Konvoi, der von einem kanadi-schen Eisbrecher angeführt wurde.

Der Pilot machte das Schiff schließlich eine Flugstunde südwest-lich des Geleitzuges aus.

Blutige Schleifspuren führten von allen Richtungen über das Eis zu dem dunklen Schiffsrumpf.

Der Pilot wusste, dass die Mann-schaften der zehn Schiffe bereits zwanzigtausend Robben erbeutet hatten, obwohl die Fangsaison erst zwei Tage alt war.

Karen verschoss vor der Landung einen ganzen Film. Der Hubschrau-ber setzte nur kurz auf der Eisdecke auf.

Tony Noon und Karen Glace sprangen aus der Kanzel. Sobald sie ihr Gepäck an sich genommen hat-ten, kreiselte der Rotor wieder schneller, und die stählerne Libelle schraubte sich zum Himmel empor, der blau war, aber viele weiße Wol-kentupfer aufwies.

Die ›North Ice‹ war nicht gerade ein Prachtschiff. Ein ziemlich alter Kahn war sie, doch das störte Tony und Karen nicht. Sie hatten schon zu Hause gewusst, dass sie keine Reise auf einem Vergnügungsdampfer machen würden.

Über eine hölzerne Gangway gelangten sie an Bord. Kapitän

Robin Lazare kam ihnen entgegen. Er war ein großer Mann mit erns-

ten Augen. Sein Gesicht war von unzähligen schwarzen Bartstoppeln übersät.

Sein finsterer Blick ließ jede Freundlichkeit vermissen. Er war kalt und abweisend. Er schätzte keine Journalisten auf seinem Schiff.

Man hatte sie ihm aufgezwungen, und er hatte sich gefügt, aber man konnte von ihm nicht verlangen, dass er sie auch freudig an sein Herz drückte.

»Karen Glace und Tony Noon vom ›Big Star‹«, sagte Tony.

Robin Lazare nickte. »Ich weiß. Sie wurden uns bereits angekündigt. Vielleicht erfüllt es Sie mit einigem Stolz, wenn ich Ihnen sage, dass Sie hier draußen die einzigen Journalis-ten sind. Außer Ihnen hat niemand einen Erlaubnisschein erhalten.«

»Man könnte das als eine Art Aus-zeichnung ansehen«, meinte Karen.

»Ich würde sagen, Ihr Chef hat bessere Beziehungen als alle ande-ren Zeitungsherausgeber Deshalb sind Sie hier.«

»Wir werden versuchen, so unauf-fällig wie möglich zu arbeiten«, ver-sprach Tony Noon.

»Meine Männer sind über Ihren Besuch nicht gerade erfreut, wie Sie sich denken können.«

»Sind Sie es denn?«, fragte Karen. »Was erwarten Sie von mir? Was

wir hier tun, ist unser Job. Jeder

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Mensch muss irgendeiner Arbeit nachgehen. Dies ist die unsere. Wir wissen natürlich, dass Ihnen und vielen anderen Menschen nicht gefällt, was wir machen. Das bedeu-tet, dass Sie Hetzartikel verfassen werden, um Ihre Leser aufzuwie-geln. Was wird die Folge sein? Man wird uns das Leben hier draußen noch schwerer machen, als es ohne-dies schon ist.«

»Wir werden objektiv berichten«, sagte Tony Noon.

Kapitän Lazare winkte ab. »Das könnten Sie nur dann, wenn Sie selbst schon mal als Robbenfänger Ihren Lebensunterhalt verdient hät-ten. Man muss eine Sache immer von zwei Seiten betrachten. Sie sehen uns als grausame Schlächter, während wir nichts weiter tun, als Geld verdienen, damit wir mit unse-ren Familien über die Runden kom-men.«

»Ich werde auch das schreiben«, versprach Tony.

»Wie haben Sie sich Ihren Aufent-halt auf der ›North Ice‹ vorgestellt?«, wollte der Kapitän wissen.

»Wir möchten mit Ihren Männern über die Eisfelder ziehen«, sagte Karen.

»Glauben Sie, es lässt sich einer gern dabei zusehen, wie er drei Wochen alte Robbenbabys erschlägt? Noch dazu, wenn er weiß, dass er fotografiert und in Ihrem Blatt angeprangert wird.«

»Ich bin sicher, dass es einigen Ihrer Leute nichts ausmachen wird, wenn ich sie bei ihrer Arbeit fotogra-fiere.«

Der Kapitän wiegte den Kopf. »Das gibt Ärger. Ich kann ihn förm-lich riechen. Er hängt bereits über diesem Schiff.«

Tony zog unwillig die Brauen zusammen. »Was soll das, Kapitän? Nun sind wir hier, und Sie können uns nicht mehr abwimmeln. Sie wer-den sich an unsere Anwesenheit gewöhnen müssen.«

»Wenn Sie meinen Männern bei der Arbeit in die Quere kommen…«

»Ihre Männer werden ihren Job tun und wir den unseren«, stellte Tony Noon fest. »Wir werden sie an nichts hindern. Sie können genauso arbeiten, als wären wir nicht hier.«

»Das glauben Sie doch selbst nicht.«

»Wir haben einen Erlaubnisschein, Kapitän Lazare. Sie täten gut daran, sich damit abzufinden, denn los werden Sie uns erst, wenn wir unsere Reportage abgeschlossen haben.«

»Dem Kerl, der Ihren Schein aus-gestellt hat, sollen beide Arme abfaulen.«

»Würden Sie uns jetzt bitte unsere Kabinen zeigen?«, fragte Tony Noon frostig.

»Meinetwegen. Kommen Sie mit.« Der Kapitän drehte sich um und

marschierte los. Um das Gepäck der

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beiden Passagiere kümmerte er sich nicht.

Sie trugen es selbst. Die ›North Ice‹ glich einem Geis-

terschiff. Fast die gesamte Mann-schaft war auf Robbenfang. Die Männer würden erst am Abend zurückkehren.

Die beiden Kabinen, die Karen und Tony zur Verfügung standen, glichen kleinen Gefängniszellen.

Die Wände waren grau, das Bett war unansehnlich. Es gab je einen Tisch und zwei Stühle.

Als der Kapitän sah, wie Karen die Nase rümpfte, sagte er: »Sie befin-den sich hier nicht im Waldorf-Asto-ria, Miss Glace.«

»Dessen bin ich mir bewusst, Kapi-tän Lazare, denn ins Waldorf-Asto-ria würde man Sie vermutlich nicht hineinlassen.«

»Sie sollten Ihre spitze Zunge lie-ber im Zaum halten, Miss. Ich könnte Ihnen Ihren Aufenthalt auf der ›North Ice‹ ziemlich verleiden.«

»Davon bin ich überzeugt. Ange-fangen haben Sie damit ja bereits.«

»Das reicht, Karen!«, mischte sich Tony Noon ein, damit es zwischen dem Mädchen und dem Kapitän nicht gleich am ersten Tag zu einer Auseinandersetzung kam.

»Na«, sagte Robin Lazare knur-rend, »das kann ja heiter werden.«

Er wandte sich um und ging. »Idiot!«, sagte Karen. »Konntest du nicht deinen Mund

halten?«, fragte Tony vorwurfsvoll. »Hör mal, ich habe doch nicht zu

sticheln angefangen. Warum wen-dest du dich mit deinen Vorwürfen nicht an ihn?«

»Weil er auf diesem Schiff das Sagen hat.«

»Ich habe keine Angst vor ihm.« »Ich auch nicht, aber ich finde es

vernünftiger, zu versuchen, mit dem Kapitän auszukommen. Er kann uns eine Menge Schwierigkeiten machen, wenn wir ihn verärgern.«

»Das soll er mal versuchen, dann sorge ich dafür, dass er von oben eins aufs Haupt kriegt.«

»Du bist undiplomatisch.« »Ich mag Menschen nicht, die

mich nicht mögen.« »Sag bloß, du leidest darunter.« »Vielleicht tu ich das.« »Hör zu, Karen. Wir wissen, wie

diese Robbenfänger über uns den-ken. Wir sind ein Dorn in ihrem Fleisch. Solange wir…«

Sie unterbrach ihn, fiel ihm ins Wort.

»Zum Teufel mit deiner Diploma-tie, Tony! Ich verlange, dass man mich respektiert und nicht so behan-delt, als wäre ich hierher gekommen, um etwas Unrechtes zu tun!«

»In den Augen der Robbenfänger ist es etwas Unrechtes.«

»Aber kleine wehrlose Robbenba-bys erschlagen das ist etwas Rechtes, nicht wahr?«

»Was soll das, Karen? Willst du

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jetzt deinen Zorn an mir auslassen? Du kennst meine Einstellung doch! Ich bin ein Gegner dieses professio-nellen Tötens. Wenn wir wollen, dass das eines Tages aufhört, müs-sen wir die Menschen objektiv infor-mieren, und das können wir nur, wenn wir uns von niemandem beir-ren lassen. Mit dem Kapitän zu strei-ten, bringt nichts. Dadurch erschwe-ren wir uns nur selbst unsere Arbeitsbedingungen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das willst.«

Karen seufzte. »Entschuldige, Tony, aber dieser Kapitän Lazare hat mich auf die Palme gebracht.«

»Komm wieder herunter, Karen.« »Du hast Recht. Ich werde von nun

an versuchen, mit Lazare und seinen Männern auszukommen. Irgendwie wird’s schon gehen.«

Karen trat an das Bullauge und blickte hinaus.

Grellweiß war die Eisdecke, auf die die Sonne schien.

»Ein paradiesischer Platz für die Robben wenn es uns habgierige Menschen nicht gäbe«, sagte Karen traurig.

»Eines Tages wird es verboten werden, Robben zu töten, und wir werden mit Stolz darauf verweisen können, dass wir dazu beigetragen haben.«

Als der Abend anbrach, kehrten die Robbenjäger von ihrem kräfter-aubenden Zwölf-Stunden-Job zurück.

Scheinwerfer wurden eingeschal-tet. Die Männer breiteten die erbeu-teten Felle aus, die mit Seewasser überspült wurden, damit der Speck der an der Innenseite haftete, eine Eisschicht bekam, die verhindern sollte, dass die Pelze während der Heimreise im wärmeren Klima ran-zig wurden.

Karen und Tony waren an Deck. Sie sahen den Jägern bei ihrem bluti-gen Handwerk zu.

Karen ließ den Verschluss ihrer Fotoapparate unzählige Male kli-cken.

Die Männer warfen ihr grimmige Blicke zu, doch keiner sagte etwas.

Und Karen ließ sich nicht stören, weiter ihre Aufnahmen zu machen.

Über der ›North Ice‹ hing ein sau-rer Gestank von Fisch, Blut und Tran. An ihn würden sich Karen und Tony erst gewöhnen müssen. Im Augenblick fanden sie ihn beide noch fast unerträglich.

Die Temperatur sank auf minus fünfundzwanzig Grad Celsius. Die Jäger beeilten sich, mit den Fellen fertig zu werden.

Um acht Uhr gab es Abendessen. Bei der Gelegenheit stellte Kapitän

Lazare die beiden Passagiere vor. Abweisende Blicke, wohin Karen

und Tony auch schauten. Sie hatten nichts anderes erwartet.

»Wer hat denn die gerufen?«, murrte einer am Ende des langen Tisches.

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»Genau«, pflichtete ihm ein ande-rer bei. »Die sollen gleich morgen wieder dahin zurückkehren, wo sie hergekommen sind.«

»Ihr werdet euch unseren Passa-gieren gegenüber korrekt verhalten!«, sagte der Kapitän mit donnernder Stimme. »Solltet ihr mit Miss Glace oder mit Mr. Noon Schwierigkeiten haben, so kommt ihr zu mir. Keiner trägt seine Diffe-renzen mit den Passagieren selbst aus, habt ihr mich verstanden? Ich kann verstehen, dass ihr über die Anwesenheit dieser beiden Journa-listen nicht erfreut seid, aber nun sind sie nun einmal hier, und wir werden versuchen, mit ihnen auszu-kommen.«

»An uns soll es nicht scheitern«, sagte Tony Noon.

»Hört, hört!«, rief jemand spöt-tisch.

Während des Essens war die Atmosphäre ziemlich angespannt.

Der Erste Maat, sein Name war Burt Harris, musterte Tony mit unverhohlener Feindseligkeit.

Harris war ein bulliger Typ mit mächtigen Pranken. Sein Gesicht wies an manchen Stellen Flecken auf. Erfrierungen, die er sich auf sei-nen zahlreichen Fahrten in die Ark-tis zugezogen hatte.

Nach dem Essen verschwanden die meisten Jäger in ihre Kojen, Har-ris brannte sich eine Zigarette an und blies Tony den Rauch über den

Tisch ins Gesicht. Der Mann wollte stänkern, doch

Tony Noon hatte nicht die Absicht, sich aus der Reserve locken zu las-sen.

Er saß neben dem Kapitän, dessen Platz an der Schmalseite des Tisches war. Karen Glace saß neben Tony, und neben dem Ersten Maat saß der Fischerei-Inspektor Angus Spry, der die Fahrt als Aufsichtsperson mit-machte, damit die Jäger keine so sel-tenen Robbenarten wie die Klapp-mützen erlegten.

»Sie werden uns anschwärzen, wie’s nur geht, stimmt’s?«, knurrte Burt Harris.

»Ich möchte mit Ihnen nicht über meine Arbeit sprechen«, gab Tony zurück.

»Verdammt, Sie sollten sich ganz schnell diesen überheblichen Ton abgewöhnen, Noon!«, brauste der Erste Maat auf. »Hier draußen sind Sie auf uns angewiesen. Wir könn-ten Ihnen das Leben ziemlich vergäl-len, wenn Sie nicht umgänglicher werden.«

»Sie können mit mir reden, über was Sie wollen, Harris. Mir ist jedes Thema recht, nur dieses eine nicht, denn in diesem Punkt vertreten wir zu verschiedene Ansichten!«

»Das kann man wohl sagen. Sie haben nämlich keine Ahnung von unserem Job!«

»Ich bin hier, um mich zu infor-mieren.«

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»Sie sind doch schon mit einer vor-gefassten Meinung hierher gekom-men!«

»Burt!«, sagte der Kapitän mah-nend.

»Ach was, ich kann diese Zei-tungsschmierer nicht ausstehen! Diese verdammten Besserwisser die ihre Schreibmaschine in Salzsäure tauchen, bevor sie einen Bericht ver-fassen…«

»Sie haben ein ganz falsches Bild von uns Journalisten, Mr. Harris.«

»Habe ich das?« »Ja. Zum Beispiel schreibe ich

meine Artikel nicht auf einer Schreibmaschine, sondern mit dem Computer.«

»Jetzt wollen Sie auch noch witzig sein, was? Sie wollen uns doch nur als blutrünstige Bestien hinstellen und uns am liebsten unsere Jobs nehmen!«

Bevor Burt Harris weiter stänkern konnte, erhob sich Tony Noon. »Komm, Karen. Wir gehen in die Falle. Gute Nacht, meine Herren.«

Die Anwesenden antworteten mit einem unwilligen Gebrumm.

Als Tony und das Mädchen den Raum verlassen hatten, sagte Kapi-tän Lazare: »Sie wollen einen Jäger auf seinem Weg über das Eis beglei-ten. Ich möchte, dass du dieser Jäger bist, Burt.«

»Ich?«, brauste der Erste Maat auf. »Sag mal, hast du den Verstand ver-loren?«

»Das ist ein Befehl!«, herrschte Lazare den Mann an.

»Steck dir deinen Befehl sonst wohin!«

»Burt!« »Mir gehen die Nerven durch,

wenn ich die beiden ständig hinter mir habe.«

»Sie werden dich begleiten basta!«, sagte Robin Lazare in einem Tonfall, der keinen weiteren Widerspruch mehr duldete.

»Wovor haben Sie Angst?«, fragte Angus Spry den Ersten Maat. »Sie haben nichts zu befürchten. Sie tun nichts Ungesetzliches.«

»Mein Gesicht wird im ›Big Star‹ erscheinen.«

»Unser aller Gesichter werden im ›Big Star‹ erscheinen, daran lässt sich nun mal nichts mehr ändern«, sagte Kapitän Lazare.

»Und mit welchen Unterzeilen?« »Wir haben uns nichts vorzuwer-

fen, Burt. Wir tun, was uns das Gesetz erlaubt. Wenn diese Leute etwas anprangern wollen, kann es nur dieses Gesetz sein!«

*

Karen blieb vor der Tür ihrer Kabine stehen. »Die ›North Ice‹ gleicht einem Pulverfass, seit wir an Bord sind«, sagte sie.

»Man wird sich an unsere Anwe-senheit gewöhnen. Du musst den Männern nur Zeit lassen«, erwiderte

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Tony Noon. »In ein paar Tagen wer-den sie von uns kaum noch Notiz nehmen, und sie werden auch nichts mehr dagegen einzuwenden haben, wenn wir sie bei ihrem blutigen Job fotografieren.«

»Aber sie werden uns nach Mög-lichkeit aus dem Weg gehen.«

»Das tut nicht weh.« »Wir werden auf dieser Fahrt

ziemlich isoliert sein.« »Wir werden’s überleben«, sagte

Tony Noon schmunzelnd. »Gute Nacht, Karen.«

»Gute Nacht, Tony. Bis morgen.« Karen betrat ihre Kabine. Tony

hörte, wie sie abschloss, und ging weiter.

Nachdem er seine Kabine betreten hatte, drehte auch er den Schlüssel im Schloss herum.

Er verzichtete darauf, Licht zu machen, trat an das Bullauge und blickte in die Nacht hinaus.

Jetzt schimmerte die Eisfläche bläulich.

Tony entdeckte nahe dem Schiff einen riesigen schwarzen Fleck auf dem Eis.

Der Fleck bewegte sich mit einem Mal, und Tony Noon stellte fest, dass es sich um eine Robbe handelte.

Das Tier war so groß wie ein Wal-ross. Tony hatte nicht gewusst, dass es so große Robben gab.

Die Robbe kroch noch näher an das Schiff heran. Von irgendwoher traf sie ein Lichtstrahl.

Tony erschrak, als er die Augen der Robbe sah. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass in den Augen eines Tieres so viel Hass und Mordlust sein konnten.

Diese Robbe gierte nach menschli-chem Leben, und sie hatte Zähne, die allein zum Töten gewachsen waren.

*

Nur wenige Sekunden blieb die Robbe im Lichtschein. Dann wandte sie sich um und entfernte sich mit einer Wendigkeit, die ihr Tony Noon aufgrund ihrer Größe und ihres Gewichts niemals zugetraut hätte.

Überwältigt blieb der Journalist noch eine ganze Weile am Bullauge stehen.

Als er sich dann in die Koje legte, musste er noch lange an diese riesige Robbe denken, deren einziger Lebensinhalt das Töten zu sein schien, und er hoffte, einem solchen Biest niemals zu begegnen.

Am nächsten Morgen fragte Tony den Kapitän während des Früh-stücks: »Welchen Mann können wir begleiten?«

»Ich habe den Ersten Maat dafür bestimmt«, sagte Robin Lazare, »In Ordnung.«

»Aber vorläufig wird nichts dar-aus.«

»Wieso nicht?« »Wir müssen die Robbenjagd

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unterbrechen.« »Doch nicht unseretwegen?« »Man hat seit mehr als vierund-

zwanzig Stunden nichts mehr von der ›Black Hunter‹ gehört. Da wir uns der Position, die die ›Black Hun-ter‹ zuletzt durchgegeben hat, am Nächsten befinden, hat man uns gebeten, mal nach dem Rechten zu sehen.«

»Hegen Sie irgendeine Befürch-tung, Kapitän?«

»Vielleicht ist bloß das Funkgerät ausgefallen. Es wird sich herausstel-len.«

Gleich nach dem Frühstück nahm die ›North Ice‹ Fahrt auf. Der scharfe Bug brach sich unaufhaltsam durch das Eis.

Die Felle, die die Jäger am Vortag an Bord gebracht hatten, waren inzwischen durch und durch gefro-ren. Sie wurden in großen Contai-nern verstaut.

Karen lehnte an der Reling. Der kalte Wind spielte mit dem roten Haar, das aus ihrer Fellmütze her-ausragte.

Die Sonne strahlte ihr grell ins Gesicht und ließ Tony in allen Ein-zelheiten erkennen, wie schön dieses Mädchen war.

Er erzählte ihr von der riesigen Robbe, die er in der Nacht beobach-tet hatte.

»Warum hast du mit dem Kapitän nicht darüber gesprochen?«, fragte Karen.

»Denkst du, das hätte ihn interes-siert?«

»Aber der Ausdruck in den Augen dieser Robbe…«

»Ich bin überzeugt, Lazare und seine Männer hätten mich ausge-lacht, wenn ich ihnen davon erzählt hätte. Aber ich habe mich nicht getäuscht. Dieser Blick ging mir wie ein Messer unter die Haut und machte mir Angst.«

Zwei Stunden war die ›North Ice‹ nun schon auf der Suche nach der verschollenen ›Black Hunter‹

Die Jäger waren ärgerlich, weil die Zeit immer kürzer wurde, in der sie ihr Tagespensum erfüllen sollten.

Endlich wurde die ›Black Hunter‹ gesichtet.

Es hatte den Anschein, als würde sie im Eis festsitzen.

Kapitän Lazare benutzte ein Fern-glas, um das Schiff genauer zu sehen. Der Funker der ›North Ice‹ rief fortwährend die ›Black Hunter‹, wie es ihm Kapitän Lazare aufgetra-gen hatte, doch von der ›Black Hun-ter‹ kam keine Antwort.

»Irgend etwas stimmt da nicht!«, sagte Lazare.

»Was vermuten Sie?«, fragte Tony Noon, der mit Karen Glace auf die Kommandobrücke gekommen war.

Lazare hatte die beiden zuerst ver-jagen wollen, aber dann hatte er tief Luft geholt und sich beherrscht.

»Kann ich jetzt noch nicht sagen. Weit und breit ist kein Mensch zu

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sehen«, sagte der Kapitän. »Das macht mich stutzig. Die Mannschaft müsste sich eigentlich auf dem Eis befinden.«

»Vielleicht eine Nahrungsmittel-vergiftung«, meinte Karen.

»Das hätte die ›Black Hunter‹ über Funk gemeldet. Man hätte Hilfe angefordert«, sagte der Kapitän. »Doch nichts dergleichen geschah. Die ›Black Hunter‹ gab auf einmal kein Lebenszeichen mehr von sich, und das finde ich mehr als eigenar-tig.«

Die ›North Ice‹ nahm Kurs auf das Schiff, stampfte kraftvoll durch das Treibeis.

Robin Lazare ließ sich vom Ersten Maat ein Megaphon bringen, und als die ›North Ice‹ nahe genug an die ›Black Hunter‹ herangekommen war, rief der Kapitän hinüber: »Ahoi, ›Black Hunter‹! He, ihr da drüben! Hört ihr mich?«

Robin Lazare rief den Kapitän der ›Black Hunter‹. Doch niemand ant-wortete.

Stille. Totenstille! Auch auf der ›North Ice‹. Die

Mannschaft stand an der Reling und blickte ernst zur ›Black Hunter‹ hin-über.

»Der Sache wollen wir gleich mal auf den Grund gehen«, entschied Robin Lazare. Er rief ein paar Namen.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn

wir mitkommen?«, fragte Tony Noon.

»Würden Sie hier bleiben, wenn ich’s Ihnen befehlen würde?«, ant-wortete der Kapitän mit einer Gegenfrage.

»Nein.« »Na also.« Karen Glace lud eine ihrer Kame-

ras mit einem neuen Film. Dann ver-ließ sie mit Tony Noon, dem Kapitän und seinen Männern die ›North Ice‹.

Das Packeis knirschte unter den Schritten des kleinen Trupps. Die Mienen der Jäger waren hart und verschlossen.

Karen fotografierte einige der Gesichter.

Die Männer merkten es nicht. Mit finsterem Blick schritten sie über das Eis, auf die ›Black Hunter‹ zu.

Als sie das Heck des Schiffes erreichten, stieß einer der Männer einen verblüfften Laut aus.

Auf dem Eis lagen mehrere Män-ner. Es ließ sich auf einen Blick erkennen, dass sie alle tot waren.

Lazare eilte zu dem Ersten. Der Mann war furchtbar zugerichtet.

Das steif gefrorene blutige Bündel war kaum noch als Mensch wieder-zuerkennen. Beide Arme waren aus-gerissen. Sie lagen links und rechts ein paar Meter weiter.

Karen spürte, wie sich ihr Magen beim Anblick der Leiche zusammen-krampfte, doch im selben Moment wurde sie zum Roboter.

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Page 30: Das Grauen aus dem Eismeer

Mechanisch schoss sie ihre Bilder. Auch von den anderen Toten. Sie waren alle gleich übel zugerichtet.

»Wie wenn Raubtiere über sie her-gefallen wären«, sagte Kapitän Lazare erschüttert.

»Gibt es hier auf dem Eis Wölfe?«, fragte Tony Noon.

»Ich habe noch nie welche gese-hen«, antwortete Lazare. »Und Wölfe verstümmeln ihre Opfer auch nicht derart und reißen ihnen die Glieder aus dem Leib. Schauen Sie sich die Männer an. Das waren keine Wölfe!«

Kapitän Lazare und die Leute, die ihn begleiteten, begaben sich an Bord des Schiffes. Auf ihrem Weg entdeckten sie immer wieder Tote.

Die Jäger schwärmten aus. Sie hofften, wenigstens einen

Überlebenden zu finden. Das Schiff war arg verwüstet. Die

Aufbauten waren zertrümmert, Männer, teils mit Waffen in ihren Händen, lagen auf den vereisten Planken, selbst schon zu Eis erstarrt.

Sie sahen entsetzlich aus, einige waren regelrecht in Stücke gerissen worden. Das Deck war mit ihrem gefrorenen Blut überzogen.

Karen fotografierte auch das, obwohl dieses Grauen nicht unmit-telbar mit ihrem Auftrag zusammen-hing.

In der Funkkabine lag ein ver-stümmelter Mensch.

Lazare hastete die Stufen des Nie-

derganges hinunter. Tony Noon begleitete ihn.

Sie entdeckten eine aufgebrochene Kabinentür und einen Mann, den Lazare für den Fischerei-Inspektor Jim Gallagher hielt.

Eindeutig zu identifizieren war der grauenvoll zugerichtete Leichnam nicht mehr.

»Erschütternd«, sagte Lazare mit belegter Stimme, und zum ersten Mal merkte Tony Noon, dass sich unter der rauen Schale dieses Man-nes ein weicher Kern befand.

»Grauenvoll«, presste Tony her-vor. »Wer hat die gesamte Besat-zung dieses Schiffes ausgerottet?«

»Ich weiß es nicht. Ich kann es mir nicht erklären. Seit hier draußen auf den Eisfeldern Robben gejagt wer-den, hat es so etwas noch nicht gege-ben.«

Vielleicht hätte Tony die Erklärung für dieses schreckliche Massaker gehabt. Die riesige Robbe von der vergangenen Nacht kam ihm wieder in den Sinn. Wenn es nun mehr von dieser Sorte gab…

Ihnen hätte Tony all das, was sie auf der ›Black Hunter‹ vorgefunden hatten, zugetraut.

Sollte er dem Kapitän von der Rie-senrobbe erzählen? Würde Lazare ihm glauben?

»Was werden Sie jetzt tun?«, erkundigte sich Tony, anstatt von der Robbe zu reden.

»Für uns gibt es hier keine Arbeit

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Page 31: Das Grauen aus dem Eismeer

mehr«, sagte Robin Lazare. »Alle Mann sind tot. Ich kann nur noch eine Funkmeldung absetzen. Danach wird ein Schiff kommen und die ›Black Hunter‹ aufbringen.«

Sie kehrten auf das Deck zurück. »Irgendein Überlebender?«, fragte

der Kapitän seine Männer. Sie schüttelten stumm den Kopf.

Es war keiner unter ihnen, den das, was sie auf diesem Schiff gesehen hatten, kalt gelassen hätte.

*

Sie verließen die ›Black Hunter‹ und gingen wieder an Bord der ›North Ice‹.

Der Kapitän informierte die Män-ner, die er nicht mit nach drüben genommen hatte, kurz.

Danach trug er dem Funker auf, die entsprechende Meldung durch-zugeben.

Fünfzehn Minuten später stampfte die ›North Ice‹ weiter, und eine halbe Stunde danach gingen die Jäger von Bord, um ihre Arbeit auf-zunehmen.

Karen Glace und Tony Noon ver-ließen mit dem Ersten Maat das Schiff. Die Begleitung war ihm in höchstem Maße zuwider, doch er sagte nichts.

Auf dem Eis lagen Robben. Die Alttiere flüchteten vor den

knirschenden Schritten des Mannes im orangeroten Ölzeug in ihre Eislö-

cher. Unbeholfen versuchten die Rob-

benbabys hinterherzukriechen doch sie kamen nicht weit, denn Burt Har-ris war mit seinem Hakenstock stets schneller.

Mitleidlos schlug er zu, und der Haken bohrte sich in die weichen Leiber der Robbenbabys.

Sie schrien und brüllten zum Herz-erbarmen, aber Burt Harris hatte keine Gnade mit ihnen.

Er schlug, stach und schnitt uner-müdlich.

Kapitän Lazare folgte mit dem Schiff den Blutspuren auf dem Eis und ließ die Fellbündel einsammeln.

Manchmal juckte es Tony Noon in den Fingern, doch er durfte Harris nicht in seiner Arbeit behindern. Er konnte nur zusehen oder wegsehen, wenn es ihm besonders schlimm vorkam.

Doch auch das half wenig, denn dann hörte er noch immer das ver-zweifelte Brüllen der Robbenbabys und die brutalen Schläge des Haken-stocks.

Tony formulierte im Geist den Anreißer seiner Story. Seine Gedan-ken schweiften dabei aber immer wieder ab, und er musste an die große Robbe denken.

Er war davon überzeugt, dass sie ihn getötet hätte, wenn er ihr auf dem Eis entgegengetreten wäre.

Sie war eine Killerrobbe gewesen! Während Burt Harris ein Tier häu-

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Page 32: Das Grauen aus dem Eismeer

tete und Karen Glace ihn dabei mehrmals fotografierte, fragte Tony: »Sagen, Sie, Mr. Harris, gibt es Kil-lerrobben?«

»Nein.« »Sie können sich also nicht vorstel-

len, dass eine Robbe Sie angreift und tötet?«

»Sie laufen alle weg. Sie sehen es ja.«

»Ich spreche von größeren Exem-plaren, mit gefährlich großen Zäh-nen.«

»So etwas gibt es nicht, Mr. Noon.« »Wer hat Ihrer Ansicht nach dann

die Mannschaft der ›Black Hunter‹ überfallen und zerfleischt?«

»Das weiß ich nicht. Auf jeden Fall waren das keine riesigen Killerrob-ben.«

Burt Harris richtete sich auf und ging weiter. Karen und Tony blieben ihm auf den Fersen. Es schien ihm nichts mehr auszumachen, dass sie bei ihm waren.

Sie waren ihm nicht im Weg, er konnte ungehindert seinen Job tun, also hatte er auch keinen Grund, sich über sie zu ärgern.

Ärgern würde er sich erst müssen, wenn die Artikelserie erschien, und er überlegte, ob sich letztlich daraus nicht noch Kapital schlagen ließ. Vielleicht war es möglich, die Zei-tung zu verklagen und Schadener-satz wegen Ruf Schädigung zu for-dern. Ein cleverer Anwalt würde ihm da bestimmt den richtigen Tipp

geben können. Burt Harris beschloss, diese Idee

vorerst mal im Auge zu behalten. Aber er kannte sich und wusste,

dass er ziemlich impulsiv war, und deshalb konnte seine Friedfertigkeit, die er den Journalisten im Augen-blick entgegenbrachte, auch nur von kurzer Dauer sein.

Sie brauchten ihn nur mit einer unbedachten Bemerkung zu reizen, und schon war er auf hundert.

*

Als die Dämmerung einsetzte, kehrte der Erste Maat mit seinen bei-den Schatten um.

Als Tony mit Karen auf dem Schiff allein war, fragte er: »War es sehr schlimm für dich?«

»Ich konnte es kaum noch ertra-gen.«

»Die Wurzel dieses Übels sind nicht die Männer, die die Robbenba-bys töten.«

»Ich weiß, Tony«, seufzte Karen. »Ich weiß.« Sie hob den Blick. »Wenn ich an die ›Black Hunter‹ denke, überläuft es mich kalt.«

»Ich bin davon überzeugt, dass es Killerrobben gibt. Ein Exemplar habe ich in der vergangenen Nacht zu Gesicht bekommen, aber ich bin sicher, dass es mehr davon gibt. Es muss mehr geben, wenn man in Betracht zieht, was sich auf der ›Black Hunter‹ abgespielt hat.«

32�

Page 33: Das Grauen aus dem Eismeer

»Wirst du auch darüber berichten?«

»Ja.« Sie begaben sich in ihre Kabinen

und machten sich für das Abendes-sen zurecht. Als sie dann an dem langen Tisch saßen, fiel Tony Noon auf, dass der Erste Maat glasige Augen hatte.

Harris musste einiges geschluckt haben.

Vielleicht, um seine Aversion gegen die beiden Reporter hinunter-zuspülen.

Er sah nicht nach links und nicht nach rechts, konzentrierte sich nur auf seinen Bohneneintopf und ver-schlang ihn mit sichtlichem Heiß-hunger.

»Mir kam zu Ohren, dass Sie über Riesenrobben mit gefährlich großen Zähnen sprachen, Mr. Noon«, sagte der Kapitän, während er den leeren Teller zurückschob und nach seinem Bierglas griff.

Jetzt blickte Harris kurz auf. Er war mit dem Essen ebenfalls fertig, schaute Tony kurz an, senkte den Blick aber gleich wieder.

»Mr. Harris sagt, so etwas gebe es nicht«, meinte Tony.

»Gibt es auch nicht«, brummte Harris.

»Könnte es nicht sein, dass diese Gegend von einer Robbengattung heimgesucht wurde, die bislang nie hier gelebt hat?«, fragte Tony.

»Es gibt auf der ganzen Welt keine

Killerrobben«, behauptete Harris. »Wo also sollten sie herkommen?«

»Wie ist es möglich, dass ich in der vergangenen Nacht ein solches Tier gesehen habe?«, fragte Tony Noon.

Die ganze Zeit über war Gemur-mel im Raum gewesen. Doch plötz-lich war es so still, dass man eine Stecknadel zu Boden fallen gehört hätte.

»Sie haben was?«, fragte Kapitän Lazare überrascht.

»Ich habe eine solche Killerrobbe gesehen.«

»Sie haben geträumt«, behauptete der Erste Maat.

»Moment mal, Burt!«, wies der Kapitän den Maat zurück. »Lass Mr. Noon erst mal erzählen.«

»Du glaubst doch so einen Quatsch nicht etwa, Robin.«

»Wenn ich daran denke, was der Mannschaft der ›Black Hunter‹ zugestoßen ist, weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll, Burt.«

Lazare wandte sich an Tony Noon. »Warum haben Sie mir von dieser

Killerrobbe nichts erzählt, Mr. Noon?«

»Ich dachte, Sie würden mir nicht glauben.«

»Nahmen Sie an, Burt Harris würde Ihnen glauben?«

»Nein.« »Warum haben Sie’s dann ihm

erzählt?« »Wir waren lange Zeit draußen auf

dem Eis. Da habe ich’s dann eben

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Page 34: Das Grauen aus dem Eismeer

mal erwähnt.« »Killerrobben«, sagte der betrun-

kene Maat. »Pah!« »Sei jetzt still, Burt!«, verlangte

Kapitän Lazare. Sein Ton war schroff.

Nun schaute er Tony an und ver-langte von diesem, er solle die Kil-lerrobbe beschreiben.

Danach sagte der Kapitän mit düs-terer Stimme: »Ich weiß nicht, wie Sie über die Mächte der Finsternis denken. Ich habe mich mit diesen Dingen eine Zeit lang eingehend befasst.«

Tony starrte den Kapitän erstaunt an. »Wie meinen Sie das?«

»Der Hölle ist jedes Mittel recht, um die Menschheit in Angst und Schrecken zu versetzen«, behauptete Kapitän Lazare. »Denn unser Grauen, unser Leid, unsere Not und unsere Verzweiflung sind für das Böse ein guter Nährboden.«

Tony war mehr als verwundert. Der Kapitän des Robbenfängers ent-puppte sich als äußerst abergläu-bisch, und Tony fragte. »Wenn ich Sie richtig verstehe, dann hat der Teufel ein paar Bestien auf die Welt geschickt, die uns das Leben schwer machen sollen?«

»Das scheint mir der Fall zu sein«, sagte Kapitän Lazare. »Wir haben gesehen, dass fast alle Männer auf der ›Black Hunter‹ bewaffnet gewe-sen sind. Sie hielten in ihren starr gefrorenen Händen Revolver,

Gewehre und Hakenstöcke dennoch sind sie alle tot. Denn Geschöpfe, die die Hölle hervorbringt, kann man mit weltlichen Waffen nicht töten, dazu bedarf es geweihter Waffen, die von den Kräften des Lichts unterstützt werden.«

Der Erste Maat erhob sich schwer-fällig und verließ kopfschüttelnd den Raum. Einige Jäger schlossen sich ihm an.

Kurz nach ihnen begaben sich auch Karen Glace und Tony Noon in ihre Kabinen.

Kapitän Lazare fragte den Fische-rei-Inspektor: »Was halten Sie davon?«

Angus Spry hob die Schultern. »Ich hoffe, Sie haben nicht recht.«

»Das hoffe ich auch«, sagte Robin Lazare.

Er stierte vor sich hin, und vor sei-nem geistigen Auge tauchten noch einmal die schrecklich verstümmel-ten Leichen von der ›Black Hunter‹ auf.

*

Tony Noon saß mit dem Kugel-schreiber bewaffnet am Tisch seiner Kabine. Er brachte seine Eindrücke und Erlebnisse zu Papier. Später wollte er am Text dann feilen, ihn präzisieren und die Stacheln spitzen, die den Lesern schmerzhaft in die Haut eindringen sollten.

Mit Hilfe von Karens Bildern

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Page 35: Das Grauen aus dem Eismeer

würde die Reportage zu einem ech-ten Schock für das Gewissen der Menschen werden.

Drei Seiten hatte Tony bereits eng voll geschrieben, als es klopfte.

»Ja, bitte?« Es war nicht abgeschlossen. Die Tür öffnete sich, und Burt Har-

ris trat ein. Ein Blick in seine wässrigen Augen

verriet Tony, dass der Mann nun schon sternhagelvoll war.

Der Erste Maat leckte sich die Lip-pen und grinste breit.

»So fleißig, Noon?« »Und Sie so spät noch unterwegs,

Harris?«, gab Tony zurück. »Die Neugierde trieb mich in Ihre

Kabine. Ich möchte mal sehen, was Sie sich so alles zusammen gespon-nen haben.«

Tony Noon nahm das letzte Blatt und legte es mit der beschriebenen Seite auf die beiden anderen.

Er tat es so, dass Burt Harris erken-nen musste, dass es hier noch nichts zu lesen gab, und er legte seinen Kugelschreiber auf die Blätter.

Der Erste Maat verstand. Er griente. »Sie wollen mich kei-

nen Blick auf Ihr Geschmiere werfen lassen?«

»Warten Sie, bis es gedruckt ist. Dann können Sie sich die Illustrierte an jedem Kiosk kaufen.«

»Ich möchte es aber jetzt lesen!« »Harris, warum gehen Sie nicht

schlafen?«

»Spielen Sie sich bloß nicht als mein Kindermädchen auf, Noon! Das kann ich nämlich nicht vertra-gen. Niemand hat mir Vorschriften zu machen!«

Tony hätte sagen können, was er wollte. Der Erste Maat hätte in sei-ner Verfassung alles in die falsche Kehle gekriegt, weil er das einfach wollte.

»Nun kommen Sie schon. Zeigen Sie mir Ihr Meisterwerk, Noon!«

»Es sind nur Notizen und Stich-worte. Sie würden Sie nicht einmal verstehen. Wahrscheinlich können Sie nicht mal meine Handschrift lesen!«

Harris setzte sich mit unsicheren Schritten in Bewegung. Sein glasiger Blick war auf das Papier gerichtet.

»Besser, Sie gehen«, sagte Tony Noon ärgerlich. Er erhob sich und nahm eine aggressive Haltung ein. »Verlassen Sie meine Kabine, Harris, sonst…«

Der Erste Maat blieb stehen und hob eine Braue. »Sonst? Mann, wol-len Sie mir etwa drohen? Was pas-siert denn, wenn ich Ihre Kabine nicht verlasse, he?«

»Ich beschwere mich beim Kapitän über Sie.«

»Wissen Sie, was Sie und der Kapi-tän mich können, Noon? Soll ich’s Ihnen sagen?«

»Nicht nötig.« »Kreuzweise könnt ihr mich! Und

jetzt will ich endlich lesen, was Sie

35�

Page 36: Das Grauen aus dem Eismeer

geschrieben haben. Was steht denn Ehrenrühriges auf diesen Blättern, dass ich sie nicht sehen darf?«

Burt Harris streckte die Hand nach den Blättern aus.

Tony Noon stieß ihn brüsk zurück. Seine Augen funkelten. »Jetzt reicht’s, Harris! Machen Sie, dass Sie hinauskommen!«

Der Erste Maat holte tief Luft. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer wütenden Grimasse. Für einen Moment sah es so aus, als würde er sich auf Tony stürzen.

»Ich will Ihnen einen guten Rat geben, Noon, weil Sie mir so sympa-thisch sind: Fassen sie mich nie wie-der an. Hören Sie? Nie wieder, sonst erleben Sie Ihr blaues Wunder. Ich mach Hackfleisch aus Ihnen, Sie ver-weichlichter Stadtmensch! Ich bre-che Ihnen sämtliche Knochen im Leib. Schreiben Sie sich das gut hin-ter Ihre Ohren, und denken Sie beim nächstenmal daran!«

Der Erste Maat machte auf den Hacken kehrt und verließ die Kabine des Journalisten.

Tony Noon atmete erleichtert auf. Eine Schlägerei mit Burt Harris hätte schlimm ausgehen können.

Der Mann war stark wie ein Bulle und hatte gewaltige Fäuste. Der Alkohol verlieh ihm gewiss zusätzli-che Kräfte.

Nein, es wäre kein Honiglecken gewesen, mit Harris zu kämpfen, aber Tony hätte sich nicht davor

gescheut, den Kampf anzunehmen, wenn es dazu gekommen wäre.

Während Harris die Tür zuklappte, nahm Tony die beschrie-benen Blätter auf und legte sie in die Tischschublade, die versperrbar war.

Er drehte den Schlüssel im Schloss herum, zog ihn ab und steckte ihn ein.

*

Indessen dachte Burt Harris noch nicht im Entferntesten daran, in die Koje zu kriechen.

Er klopfte an der nächsten Tür. »Ja?«, rief Karen Glace drinnen. Auch sie hatte noch nicht abge-

schlossen. Der Erste Maat öffnete und trat ein.

»Ist es erlaubt?«, fragte er breit grinsend.

»Sie sind ja schon drinnen«, gab das rothaarige Mädchen zurück. Ihre Kleider hingen an einem Haken.

Das hübsche Mädchen trug einen weißen Frotteemantel. Er reichte bis zu ihren Knöcheln und schmiegte sich weich an ihre schwellenden Hüften.

»Sexy«, sagte Burt Harris, und nickte. »Sehr sexy sehen Sie aus, Miss Glace.«

Er schloss die Tür. Das gefiel Karen nicht. Ihr Gesicht

nahm einen kalten, abweisenden

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Page 37: Das Grauen aus dem Eismeer

Ausdruck an. »Was wollen Sie, Mr. Harris?« »Oh, ich wollte mich erkundigen,

ob die Fotos gut geworden sind, die Sie heute von mir gemacht haben.«

»Das weiß ich noch nicht. Die Filme müssen erst entwickelt wer-den.«

»Tun Sie das nicht hier an Bord?« »Ich bin dafür nicht ausgerüstet.

Ich werde die Filme in New York ausarbeiten. Im ›Big-Star‹-Labor.«

Harris zog die Oberlippe zwischen seine Zähne. »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie sehr schön sind, Miss Glace?«

»Ich höre das häufig.« »Aber Sie hören es immer wieder

gern, nicht wahr?« »Natürlich.« »Sie haben nur einen Fehler.« »Welchen?« »Dass Sie Fotoreporterin sind.« »Ich bitte deshalb um Entschuldi-

gung«, sagte Karen sarkastisch. Der Erste Maat wischte sich mit

einer fahrigen Bewegung über die Augen. »Sagen Sie, haben Sie unter diesem weißen Fummel nichts mehr an?«

Karen hob ärgerlich den Kopf. »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht, Mr. Harris.«

»Verdammt, Sie sind die einzige Frau im Umkreis von vielen Meilen, und Sie sind noch dazu bildschön. Das muss einen Mann ja verrückt machen!«, keuchte der Erste Maat.

»Willst du mich morgen wieder auf meinem Weg über das Eis begleiten, Girlie? Ja? Dann musst du jetzt ein bisschen nett zu mir sein.«

Harris machte einen schnellen Schritt vorwärts. Ehe Karen es ver-hindern konnte, riss er ihr den Frot-teemantel vor dem Busen auf.

Die glasigen Augen fielen ihm bei-nahe aus dem Kopf.

»Lieber Himmel, ist das eine Pracht!«, stieß er überwältigt hervor.

Karen gab ihm eine schallende Ohrfeige, doch er lachte nur und versuchte sie zu küssen.

Sie kratzte ihn, sie schlug ihn, sie biss ihn in die Hand, doch er ließ nicht von ihr ab.

Knurrend versuchte er sie aufs Bett zu werfen.

Karen war machtlos. Der Mann hat Bärenkräfte.

Sie bäumte sich wild auf. Sie ver-suchte ihn mit den Füßen zu treten, stieß dabei einen der Stühle um, doch davon ließ der betrunkene Erste Maat sich nicht beeindrucken.

Er schleppte sie zur Koje, und Karen Glace hatte keine Möglichkeit, ihn an dem zu hindern, was er tun wollte.

*

Tony Noon war im Begriff, sich aus-zuziehen, da hörte er nebenan das Gepolter. Er dachte sofort an Burt Harris und dass Karen ernste

37�

Page 38: Das Grauen aus dem Eismeer

Schwierigkeiten mit dem betrunke-nen Robbenjäger hatte.

Tony stürmte aus der Kabine. Er stieß die Tür von Karens Kabine auf.

Das Mädchen war halb nackt. Es lag auf dem Bett, und Burt Harris war drauf und dran…

Tony stürzte sich auf den Ersten Maat. Seine Hände packten den bul-ligen Kerl bei den Schultern, er riss ihn zurück.

Harris stieß einen unwilligen Laut aus. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst mich nie wieder anfassen, du Hundesohn?«

Er ballte die Hände zu Fäusten und schlug zu.

Tony duckte sich und konterte blitzschnell.

Karen bedeckte auf dem Bett ihre Blößen. Sie war kreidebleich und biss sich auf die Lippen.

Harris schlug erneut daneben, weil Tony es verstanden hatte, sich auch ein zweites Mal vor der Furcht ein-flößenden Faust in Sicherheit zu bringen.

Diesmal krachte Harris’ Faust gegen die Wand.

Der Erste Maat schrie auf. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz.

»Na, warte!«, grollte er. Er versuchte eine plumpe Finte,

die Tony Noon jedoch sofort durch-schaute. Der Journalist stellte sich darauf ein und verpasste seinem Gegner einen unverhofften Kinnha-ken.

Harris’ Fäuste fielen nach unten. Der Bullige stolperte über seine

eigenen Füße und landete hart auf dem Boden.

»Das sollte reichen!«, sagte Tony. Harris wusste nicht, wie ihm

geschehen war. Er hatte dem Stadt-menschen so viel Kampfkraft nicht zugetraut.

»Wenn Sie noch mal versuchen, sich an Miss Glace zu vergreifen, mache ich Sie so fertig, dass Sie drei Tage lang Ihren Beruf nicht ausüben können.«

Der Erste Maat stand umständlich auf. Ein dünner Blutfaden sickerte aus seinem Mundwinkel.

Er wischte ihn ab und sagte voll Hass: »Verdammt, Noon, das hätten Sie nicht tun sollen! Das wird Sie teuer zu stehen kommen!«

»Ich habe keine Angst vor Ihnen.« »Wir gehen morgen wieder über

das Eis, du Bastard. Du solltest künf-tig gut auf dich aufpassen, denn es könnte leicht passieren, dass du mit dem Schädel versehentlich unter meinen niedersausenden Haken-stock gerätst.«

Schwerfällig wandte sich der Erste Maat um und entfernte sich. Tony blickte Karen an. »Bist du okay?«

»Ja. Ich danke dir.« Karen erhob sich. »Wenn du mir nicht zu Hilfe gekommen wärst, hätte mich dieses Tier…«

Tony Noon erzählte, dass diese Auseinandersetzung bereits in sei-

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ner Kabine in der Luft gehangen hatte.

»Es hat dazu kommen müssen«, sagte Tony. »Dieses Gewitter wird unser Verhältnis zu Burt Harris gereinigt haben. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so schnell mit ihm fertig werden würde.«

Karen lehnte sich an Tony. Er legte seine Arme um sie.

»Ich habe jetzt Angst um dich, Tony«, sagte die Fotoreporterin. »Der Mann hat einige gefährliche Drohungen ausgesprochen. Du soll-test es dem Kapitän sagen…«

Tony winkte ab. »Man sagt viel, wenn man zornig ist und etwas getrunken hat. Ich bin davon über-zeugt, dass Harris sich morgen, wenn er wieder nüchtern ist, bei uns entschuldigen wird.«

»Harris? Niemals. Der hasst uns wie die Pest.«

»Ich bin sicher, wir haben nichts von ihm zu befürchten.«

Tony strich beruhigend über das rote Haar seiner Kollegin, und er verspürte plötzlich den unbändigen Wunsch, sie zu küssen.

Aber er tat es nicht, sondern wünschte ihr nur eine gute Nacht, verlangte von ihr, sie möge hinter ihm die Tür abschließen, und kehrte in seine Kabine zurück.

Er lag bald in der Koje und dachte über Burt Harris nach. Es erfüllte ihn mit Genugtuung, den Mann verprü-gelt zu haben.

Der würde es sich schwer überle-gen, ob er Karen noch einmal zu nahe treten sollte.

Tony lächelte. Als er Karen in sei-nen Armen gehalten hatte, hatte er gespürt, wie sie gezittert hatte. So schutzbedürftig war sie gewesen, und er ertappte sich bei dem Gedan-ken, dass es ihm ganz und gar nichts ausgemacht hätte, diese Beschützer-rolle an Karens Seite für immer zu übernehmen.

Langsam wurde er müde. Er schloss die Augen und rekelte

sich. Plötzlich ein Schrei! So marker-

schütternd, dass es Tony Noon im Bett förmlich hochriss…

*

Tony kleidete sich in fieberhafter Hast an. Zuletzt sprang er in die Stiefel, und dann hetzte er aus der Kabine.

Atemlos erreichte er das Deck. Aufgeregte Männer liefen an ihm

vorbei. Er wollte wissen, was pas-siert war, doch keiner ließ sich von ihm aufhalten.

Tony erblickte Kapitän Lazare an der Reling. Er und ein paar von sei-nen Männern starrten mit verkante-ten Augen in die Dunkelheit.

»Was ist geschehen?«, fragte Tony. Irgendwo fielen Schüsse. »Die Scheinwerfer!«, schrie Robin

Lazare. »Verdammt noch mal, so

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richtet doch endlich die Scheinwer-fer auf das Eis!«

Männer kletterten an den eisernen Lichtmasten hoch. Grelle Strahlen-bündel zerschnitten die arktische Nacht.

»Was ist geschehen?«, fragte Tony Noon noch einmal.

Einer der Lichtkegel wischte über die gerippte Eisfläche. Er streifte etwas Großes.

»Da!«, schrie Lazare, der keine Zeit fand, Tony zu antworten.

Der Journalist hatte das große Schwarze auch gesehen.

Ein Tier war es gewesen. Eine Robbe. Eine Riesenrobbe. Sie entfernte sich vom Schiff. Aber

nicht allein. Sie hatte eine Beute bei sich.

Einen Mann! Und sie schleppte ihn von der

›North Ice‹ fort. Der Mann lebte noch. Soeben brüllte er wieder verzwei-

felt. Die Scheinwerfer suchten ihn und

das riesige Tier. Er schlug um sich, versuchte sich

von der Killerrobbe loszureißen. Seine Jacke war zerfetzt, und er

musste schreckliche Wunden davon-getragen haben, denn sein Blut war dunkelrot über das Eis verschmiert.

Und er schrie, schrie und schrie. Die Lichtkegel waren nun alle auf

das Robbenmonster gerichtet. Wie-

der krachten Schüsse. Die Kugeln schlugen vor der

Robbe ins Eis. Ein Projektil traf das Höllentier, doch es passierte nichts!

»Wer ist der Mann?«, fragte Tony den Kapitän.

»Burt Harris, unser Erster Maat«, erwiderte Robin Lazare.

»Wie ist es dazu gekommen?« »Das wissen wir nicht. Wir hörten

ihn schreien, stürmten an Deck und sahen, wie dieses Biest ihn fort-schleppte.«

Harris gelang es in diesem Moment, sich loszureißen. Er schaffte es, auf allen vieren mehrere Yards zurückzukriechen.

Aber dann packte ihn die Killer-robbe wieder und schleppte ihn wei-ter fort vom Schiff.

Harris begann wieder zu schreien vor Angst, Panik und Schmerz.

Lazare brüllte seine Befehle über das Deck. Alle verfügbaren Männer verließen die ›North Ice‹, um Burt Harris zu Hilfe zu eilen.

Die Killerrobbe verschwand hinter einigen aufragenden Eisbrocken und tauchte mit ihrem schreienden Opfer in die Dunkelheit der Nacht ein.

Tony Noon lief neben dem Kapi-tän.

Lazare warf dem Journalisten einen gehetzten Blick zu. »Ver-dammt, Noon, warum sind Sie nicht auf dem Schiff geblieben?«

»Ich möchte helfen!« Der Kapitän fasste in seine Jacken-

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tasche. »Dann nehmen Sie wenigstens das

hier!« Er drückte Tony eine Pistole in die Hand. »Sie können die Knarre bis auf weiteres behalten. Ich hab’ noch eine zweite!«

Tony steckte die Pistole ein und rannte mit den Robbenfängern wei-ter.

Harris’ Schrei verstummte. Tony merkte, wie sich seine Kopf-

haut zusammenzog. Wenn der Erste Maat nicht mehr in der Lage war, zu schreien, bedeutete das, dass die Kil-lerrobbe ihn tot gebissen hatte?

Die laufenden Männer verließen die Lichtbündel, die starr auf das Eis gerichtet waren. Niemand war mehr an Bord, der die Scheinwerfer bedient hätte.

Die Jäger tauchten in die Nacht ein. Sie schwärmten aus.

Manche von ihnen hasteten mit schussbereiten Revolvern durch die Finsternis. Andere wiederum hielten ihre Gewehre im Anschlag, und einige waren nur mit ihrem Haken-stock bewaffnet, mit dem sie tags-über pausenlos getötet hatten.

Von Burt Harris kam kein Lebens-zeichen mehr.

Die Jäger riefen ihn. Sie verlang-samten ihren Schritt, je weiter sie sich von der ›North Ice‹ entfernten.

Sie misstrauten dem Frieden und der Stille hier draußen auf dem wei-ten Eisfeld.

Wo war die Killerrobbe? Wohin

hatte sie ihr Opfer verschleppt? Was war aus dem Ersten Maat gewor-den?

Tony machte den Kapitän auf eine Blutspur aufmerksam.

»Harris’ Blut vermutlich«, sagte er. »Verdammt«, knirschte Kapitän

Lazare. Er blieb kurz stehen. Aus der Dun-

kelheit drangen die knirschenden Schritte der anderen Männer an sein Ohr.

»Harris!«, riefen sie immer wieder. Doch Harris antwortete nicht. »Was meinen Sie, Noon? Ob wir

für Burt noch etwas tun können?«, fragte der Kapitän und ging weiter.

»Keine Ahnung.« Plötzlich nahm Tony eine Bewe-

gung in der Finsternis wahr. »Lazare!«, stieß er aufgeregt her-

vor. »Yeah«, dehnte der Kapitän. Er hatte das schemenhafte Wesen

ebenfalls erblickt und zog seine zweite Pistole aus der Jackentasche.

Die Riesenrobbe huschte beinahe lautlos durch die Nacht, und so schnell, dass ihr die Männer fast nicht folgen konnten.

»Hierher!«, schrie Robin Lazare. »Hier ist das Biest!«

Die ausgeschwärmten Jäger eilten herbei.

Jetzt schrie Burt Harris auf einmal wieder.

Es waren schreckliche, grausige Schreie, die den Männern das Blut in

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den Adern gefrieren ließen. Sie stürmten über das Eis. Die Robbe zerrte den Mann auf

einen großen schwarzen Fleck zu. »Großer Gott, nur das nicht!«, stieß

Robin Lazare entsetzt hervor. »Schießt, Leute! Schießt! Bringt die Bestie um, sonst ist Burt verloren!«

Der große schwarze Fleck war ein Loch in der Eisdecke.

Die Robbenjäger ballerten, was das Zeug hielt.

Doch ihre Geschosse prallten wir-kungslos von der Killerrobbe ab. Niemand konnte verhindern, dass sie das Wasserloch erreichte.

Burt Harris schrie verzweifelt. Dann verschwand das Riesentier

mit ihm im Atlantik, und das schreckliche Schreien brach ab.

Als Kapitän Lazare und seine Männer das Loch im Eis erreichten, konnten sie nichts mehr für den Ers-ten Maat tun.

Die Robbe hatte den Mann in die kalten Fluten hinab gerissen.

Erschüttert standen die Robbenjä-ger um das schwarze Wasserloch, und so mancher fragte sich in die-sem Augenblick: Wer wird der Nächste sein?

*

Mit schleppenden Schritten kehrten Kapitän Lazare und seine Männer auf die ›North Ice‹ zurück.

»So etwas habe ich in meinem gan-

zen Leben noch nicht gesehen«, sagte Robin Lazare. Seine Stimme klang rau und brüchig.

»Was werden Sie nun unterneh-men?«, fragte Tony.

Der Kapitän hob die Schultern und schwieg. Er ließ den Journalisten ste-hen und wandte sich seinen Män-nern zu, um ihnen einige Anweisun-gen zu geben.

Tony begab sich unter Deck. Karen fing ihn ab. Sie trug noch

immer oder schon wieder ihren wei-ßen Frotteemantel und bat Tony in ihre Kabine zu kommen.

Er schälte sich aus den warmen Kleidern und setzte sich.

Karen wollte wissen, was gesche-hen war, und Tony erzählte es ihr.

Das Mädchen senkte daraufhin den Blick.

»Ich konnte Burt Harris nicht aus-stehen«, sagte sie, »aber jetzt tut es mir Leid um ihn.«

Tony erhob sich und trat an das Bullauge. Die Scheinwerfer waren inzwischen abgeschaltet worden. Eine finstere Nacht umgab das Schiff.

»Irgendwo dort draußen braut sich etwas zusammen«, sagte Tony leise. »Eine ungeheure Gefahr kommt auf uns zu, ich fühle es. Wenn man sich vor Augen hält, was der Besatzung der ›Black Hunter‹ zugestoßen ist…«

Karen trat zu Tony. »Befürchtest du, dass uns dasselbe Schicksal droht?«

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»Ich hoffe, dass es nicht so ist.« »Hast du mit dem Kapitän darüber

gesprochen?« »Der lässt sich von mir nicht in

seine Arbeit dreinreden. Es wäre das vernünftigste, mit den anderen Schiffen des Konvois Funkkontakt aufzunehmen und die Labradorsee so schnell wie möglich zu verlassen, aber dazu ist Kapitän Lazare bestimmt nicht zu bewegen. Er wird die Fahrt fortsetzen, und es wird zu weiteren blutigen Zwischenfällen kommen.«

Karen schluckte. »Aber Lazare hat doch am meisten Angst. Sein Gerede über die Hölle…«

»Seine Geldgier ist größer als sein Aberglaube, so fürchte ich, Karen.«

»Was wird geschehen, Tony?« »Ich bin kein Hellseher, aber ich

kann mir vorstellen, dass die Rob-benjäger morgen auf dem Eis beson-ders arg wüten werden. Sie werden gewissermaßen einen Vergeltungs-schlag führen wegen Burt Harris… Und in der darauf folgenden Nacht werden die Killerrobben zurück-schlagen.«

Karen schauderte. »Dann steht uns in dieser Eiswüste ja einiges bevor.«

»Damit müssen wir rechnen.« Neuerliche Aufregung auf dem

Schiff. »Kommen wir in dieser Nacht

denn nicht mehr zur Ruhe?«, fragte Karen Glace erschrocken.

Tony Noon zog seine warmen

Kleider wieder an. »Warte draußen einen Augenblick

auf mich, Tony. Ich möchte diesmal mitkommen«, sagte Karen. »Ich ziehe mich nur schnell an.«

Sie brauchte nicht länger als zwei Minuten. Dann hastete sie mit Tony Noon den Gang entlang.

Sie eilten die Stufen hinauf und erreichten das Deck.

Die Robbenfänger standen in Gruppen beisammen und redeten aufgeregt durcheinander.

Tony und Karen begaben sich zu Kapitän Lazare, der mit zwei Män-nern sprach.

»Was ist nun schon wieder los?«, erkundigte sich Tony.

Der Kapitän blickte ihn ernst an und erwiderte: »Angus Spry, unser Fischerei-Inspektor, ist spurlos ver-schwunden.«

*

Es wurden Sturmlampen ausgege-ben. »Wir müssen ihn suchen«, sagte Kapitän Lazare. »Das gesamte Schiff haben wir bereits auf den Kopf gestellt. Auf der ›North Ice‹ ist er mit Sicherheit nicht. Also muss er sich irgendwo auf dem Eisfeld befin-den.«

»Er war doch dabei, als wir Burt Harris zu helfen versuchten«, sagte Tony Noon: »Ich habe ihn gesehen.«

»Ja, er war dabei. Aber ich entsinn mich nicht, ihn noch gesehen zu

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haben als wir das Wasserloch erreichten«, sagte Robin Lazare.

»Kann es sein, dass er sich in der Dunkelheit verlaufen hat?«, fragte Karen.

»Ich glaube, hier draußen ist alles möglich, Miss Glace.« Der Kapitän seufzte schwer. »Nun geht es Schlag auf Schlag. Es ist schon schlimm, den Ersten Maat zu verlieren, aber noch viel schlimmer ist es, wenn von einem Schiff der Fischerei-Inspektor plötzlich spurlos verschwindet.«

Auch Tony Noon bekam eine Sturmlampe, als er sich bereit erklärte, an der groß angelegten Suchaktion teilzunehmen.

»Sie«, sagte Robin Lazare zu Karen, »sollten lieber nicht von Bord gehen, Miss Glace.«

»Ich komme mit«, erwiderte das Mädchen entschieden.

»Ich kann für Sie keine Verantwor-tung übernehmen.«

»Das brauchen Sie nicht, die über-nehme ich für mich selbst, Kapitän.«

»Egal, was auf dem Eis passiert, Karen, du bleibst in meiner Nähe, okay?«, sagte Tony Noon.

»Okay.« Zum zweiten Mal in dieser Nacht

gingen die Robbenfänger von Bord. Aber diesmal begleitete sie die Furcht, denn jeder von ihnen hatte vor Augen, was Burt Harris zugesto-ßen war.

Sie bildeten eine lange Lichter-kette, entfernten sich voneinander

auf Rufweite und brüllten unent-wegt Angus Sprys Namen in die Nacht hinein.

Die Temperatur fiel. Es konnte nicht mehr viel bis Minus dreißig Grad fehlen. Ein Wind kam auf, und die Männer vermummten ihre Gesichter.

Auch Karen und Tony schlossen ihre Gesichtsmasken, sodass nur noch die Augen zu sehen waren.

Trübe erhellte der Schein der Sturmlaterne ihre Umgebung.

»Was meinst du Tony«, sagte Karen.

Ihre Stimme klang gedämpft durch die Maske. »Wird einer von uns den Inspektor finden?«

Tony Noon schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Ich befürchte, ihn hat dasselbe Schicksal ereilt wie Burt Harris.«

*

Wenn man von ihm sprach, dann hieß es allgemein nur ›Der Franzose‹. Gemeint war damit Geor-ges Cassell, ein gebürtiger Pariser, der mit zwanzig Jahren nach Mon-treal übergesiedelt war.

Ein Jahr später hatte es ihn nach Neufundland verschlagen, und seit dieser Zeit nahm er regelmäßig an den alljährlichen Robbenjagden teil.

Zehn Jahre übte er diesen harten Job nun schon aus.

Er konnte Ziehharmonika spielen

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und trug häufig zu einer Bomben-stimmung an Bord bei.

In all den Jahren, die er schon hier draußen verbracht hatte, war immer alles glatt verlaufen. Ohne Aufre-gungen, ohne Ärger. Es war ein kräfteraubender, aber ungefährli-cher Job gewesen.

Doch plötzlich war das anders geworden.

Georges Cassell dachte an die Männer von der ›Black Hunter‹, und es überlief ihn sofort eiskalt.

Cassell schaute nach rechts. Er selbst war das vorletzte Glied in der langen Kette. Das Letzte war Judd Quaid, ein Bursche, der weder Tod noch Teufel fürchtete, was Cassell von sich nicht behaupten konnte.

In ihm war die Urangst, die in jedem Menschen wohnt, besonders stark ausgeprägt.

Am Tag war er für alles zu haben, doch wenn es dunkel wurde, beschlich ihn ein unangenehmes Gefühl, deshalb wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, sich bei Ein-bruch der Dunkelheit zum Beispiel noch auf einem Friedhof aufzuhal-ten. Das hätte er einfach nicht fertig gebracht.

Und es war ihm auch nicht mög-lich, seelenruhig einen finsteren Kel-ler zu betreten.

Man kann sich also vorstellen, wie sich der Franzose hier draußen auf dem nächtlichen Eisfeld fühlte.

Er hasste es, allein durch die Fins-

ternis zu schreiten, deshalb näherte er sich mehr und mehr Judd Quaid.

»Sag mal, kannst du denn nicht Abstand halten?«, rief Quaid ärger-lich.

»Reg dich nicht künstlich auf. Wir finden Angus Spry ja sowieso nicht.«

»Wer sagt das?« »Ich weiß es. Der Inspektor kommt

nicht mehr zum Vorschein, verlass dich drauf. Folglich hat es nicht den geringsten Zweck, ihn zu suchen.«

Judd Quaid hob seine Sturmlampe hoch. Er leuchtete dem Franzosen damit ins vermummte Gesicht.

»Du hast Schiss, was?« »Blödsinn.« »Ich kann die Angst in deinen

Augen sehen.« »Was du nicht alles kannst«, spot-

tete Georges Cassell. »Ich hab’ für heute genug vom Eis.«

»Versuch mal, dich in Angus Sprys Lage zu versetzen.«

»Lieber nicht, dann wäre ich jetzt tot«, sagte der Franzose.

»Vielleicht ist der Inspektor nur verletzt. Er liegt hier irgendwo herum und hofft zähneklappernd und von höllischen Schmerzen gepeinigt, dass man ihn findet und zum Schiff zurückbringt…«

Cassell schüttelte den Kopf. »Ich sage dir, der Mann ist tot. Für den können wir nichts mehr tun. Des-halb hat es auch keinen Sinn, sich seinetwegen die Nacht um die

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Ohren zu schlagen.« Quaid ließ die Lampe sinken.

»Mann, ich hoffe nur, dass ich nie-mals auf deine Hilfe angewiesen sein werde. Heute sehe ich dich zum ersten Mal so, wie du wirklich bist. Du bist nicht der sympathische Kumpel, mit dem man Pferde steh-len kann. Du bist ein hundsgemeiner Feigling, der nur an sich selbst denkt und den Kameraden einfach verre-cken lässt.«

Cassell wurde zornig. »Verdammt Judd, so darfst du mit mir nicht reden!«

»Wieso nicht? Verträgst du die Wahrheit nicht?«

»Du nimmst sofort zurück, was du gesagt hast!«

»Nicht eine Silbe!« »Du verdammter Halunke!« Georges Cassell riss seinen Haken-

stock hoch. Er schlug damit zu, doch Judd

Quaid parierte den Hieb mit seinem Stock.

Verblüfft starrte Quaid den Fran-zosen an.

»Du hättest mir tatsächlich den Schädel eingeschlagen. Sag mal, hast du den Verstand verloren?«

Judd Quaid versetzte dem Franzo-sen einen kraftvollen Stoß.

Georges Cassell taumelte mehrere Schritte über das unebene Eis. Die Sturmlampe entfiel ihm, zerschellte auf dem Eis und erlosch.

Cassell stand unschlüssig da.

Er wusste nicht, ob er mit Quaid kämpfen, sich entschuldigen oder einfach davonrennen sollte.

Auch Judd Quaid regte sich nicht. Stille herrschte. Und in dieser Stille war plötzlich

das Patschen von Flossen zu hören. Quaid drehte sich um. Er hob die

Sturmlampe. Noch konnte er nichts sehen. Der eisige Wind ließ seine Gesichtshaut erstarren.

Georges Cassell wagte kaum noch zu atmen, nachdem er das Patschen vernommen hatte. Ihm war, als würde eine unsichtbare Hand seine Kehle zudrücken.

Sein Herz schlug schneller. Seine Augen waren furchtgeweitet.

Die Sturmlampe pendelte in Judd Quaids hochgehobener Hand hin und her. Das unstete Licht zeichnete gespenstische Schatten auf das Eis.

Cassell hätte am liebsten die Flucht ergriffen, und ihm war nicht klar, warum er das nicht schon längst getan hatte.

Die unheimlichen Geräusche kamen näher.

Und einen Augenblick später schob sich eine riesige Robbe in den Lichtkreis der Sturmlampe.

*

Jetzt stockte sogar dem mutigen Judd Quaid der Atem. Er hatte ein so großes Tier noch nie gesehen.

Die Robbe starrte ihn hasserfüllt

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an. Er versuchte die Aufregung hinun-

terzuschlucken. Dass er von Georges Cassell keine Unterstützung erwar-ten durfte, war ihm klar.

Er war so gut wie allein, stand die-sem Robbenmonster nur mit einem Hakenstock bewaffnet gegenüber.

Das Tier stieß einen feindseligen Laut aus.

Quaid fragte sich, ob es dieselbe Robbe war, die sich Burt Harris geholt hatte. Oder war es eine andere?

Wie viele gab es von dieser Furcht einflößenden Sorte?

Judd Quaid wich nicht von der Stelle. Er war entschlossen, mit der Killerrobbe zu kämpfen. Sie sollte mit ihm nicht so leichtes Spiel haben wie mit Burt Harris.

Ihn hatte sie vielleicht überrum-pelt, aber das würde hier nicht klap-pen.

»Judd!«, presste der Franzose auf-geregt hervor. Seine Augen waren auf das riesige Tier geheftet. »Judd, komm! Wir hauen ab! Stell dich die-sem Biest nicht zum Kampf! Es wird dich töten!«

»Dann sterbe ich wenigstens wie ein Mann mit der Waffe in der Hand. Und nicht wie eine feige Memme…«

»Du bist verrückt, Judd! Lass uns fliehen!«

Die Riesenrobbe setzte sich in Bewegung. Schnaufend näherte sie

sich Judd Quaid. Störrisch blieb der Mann stehen. Keinen Schritt wich er zurück. »Ich mach dich fertig, du

Mistvieh!«, knurrte er. Eiskalte Mordlust glitzerte in den

schwarzen Augen der Killerrobbe. Sie riss ihr Maul auf und zeigte dem Jäger die großen, kräftigen Zähne.

Und dann griff sie unvermittelt an. Quaid schlug zu. Das Metall des Hakenstocks

klirrte. Obwohl Judd Quaid die Schnauze getroffen hatte, wies das Tier nicht die geringste Verletzung auf.

Er schmetterte ihr den Stock erneut auf die normalerweise so empfindliche Schnauze.

Der Hieb erzielte abermals keine Wirkung.

Als Judd Quaid zum dritten Mal zuschlagen wollte, zuckte das aufge-rissene Maul auf den Jäger zu.

Ein schreckliches Krachen war zu hören, als die Robbe ihm das rechte Bein zerbiss.

Er stürzte, und die Monsterrobbe warf sich auf ihn.

Cassell sah, dass Quaids Bein fast völlig abgetrennt war.

Schnaufend schlug die Robbe dem kreischenden Mann immer wieder die spitzen Zähne in den Leib, dann schnappte sie nach seinem Kopf und zerbiss ihn zu Brei!

Als Georges Cassell das sah, verlor er vor Grauen beinahe den Ver-

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stand. »Hilfe!«, brüllte er, so laut er

konnte. »Hierher! Hiiilfeee!« Die Killerrobbe hob den Kopf und

richtete ihren grausamen Blick auf ihn. Er sollte ihr nächstes Opfer sein.

Der Franzose wirbelte in großer Panik herum und ergriff Hals über Kopf die Flucht.

Er wusste, dass er um sein Leben lief, und die Todesangst schien sei-nen Füßen Flügel zu verleihen.

Dennoch sah es nicht danach aus, als könnte er der Killerrobbe ent-kommen.

Mit einer Schnelligkeit, die unglaublich war, nahm das Tier die Verfolgung des Mannes auf.

Überdeutlich vernahm der Mann das Patschen der Flossen hinter sich.

Er schrie ohne Unterlass, wagte keinen Blick zurückzuwerfen.

Mehrmals glitt er auf dem Eis aus. Immer wieder konnte er das

Gleichgewicht wieder finden und seine Flucht fortsetzen.

Doch dann stolperte er über eine Eisnase und schlug lang hin.

Die Mütze fiel ihm vom Kopf und rollte davon. Der Wind verwandelte seinen Schweiß in eiskalte Tropfen.

Er wälzte sich herum. Die Killer-robbe war schon da.

»Hilfe!«, schrie er wieder. »Warum hilft mir denn keiner? Hört ihr mich nicht? Ich bin es, Cassell!«

Doch er hatte sich zu weit von den anderen Robbenfängern entfernt. Sie

konnten seine verzweifelten Schreie nicht hören.

»Ich will nicht sterben! Ich will nicht…!«

Die Monsterrobbe schnappte nach ihm, bekam seinen Arm zu fassen und biss den Arm mit lautem Knacken durch!

Cassell schrie und kreischte wie von Sinnen.

Noch einmal schnappte die Bestie zu. Diesmal bohrten sich die spitzen Zähne in Cassells Körperseite, und wieder schrie er auf.

Die Robbe schleppte ihn mit sich fort. Sie eilte mit ihrem Opfer durch die Dunkelheit und auf ein Eisloch zu.

Es war nicht dasselbe, durch das Burt Harris in die Tiefe gezerrt wor-den war. Es handelte sich auch nicht um dieselbe Robbe.

Als Cassell das Wasserloch sah, hakte sein Verstand vollends aus. Er brüllte wie am Spieß, doch auch das vermochte ihn nicht zu retten.

Die Killerrobbe warf sich mit ihm in die eiskalten Fluten.

Der Kälteschock ließ Cassell erstar-ren.

Er wollte weiter schreien, doch das Meerwasser stürzte in seinen aufge-rissenen Mund und brachte ihn zum Verstummen.

Schnell ging es mit ihm in die Tiefe.

Er versuchte sich verzweifelt los-zureißen, doch es war fraglich, ob er

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mit dem Leben davongekommen wäre, wenn ihm das gelungen wäre, denn er hätte das Loch im Eis wohl kaum wieder gefunden.

Außerdem konnte er mit einem Arm nicht mehr schwimmen.

Immer tiefer zerrte die Robbe ihr strampelndes Opfer in die eisige Finsternis, hinab in einen grausa-men, schrecklichen Tod…

*

Zwei Stunden waren die Männer auf dem Eis unterwegs, doch sie konn-ten von Angus Spry nicht die geringste Spur entdecken.

Entmutigt kehrten sie auf die ›North Ice‹ zurück.

Kapitän Lazare ließ seine Mann-schaft antreten und stellte zu seinem Entsetzen fest, dass zwei weitere Männer fehlten: Judd Quaid und der Franzose.

Das veranlasste ihn, auf dem Schiff Wachen aufzustellen. Der Rest der Mannschaft durfte sich in die Koje legen.

Auch Karen Glace und Tony Nohn suchten ihre Kabinen auf.

Für den Rest der Nacht passierte nichts mehr.

Um fünf Uhr früh waren die Rob-benfänger bereits wieder auf den Beinen.

Tony und Karen begegneten ver-bitterten, grimmigen Gesichtern. Während des Frühstücks wurde

kaum gesprochen. Vier Stühle blieben am Tisch frei:

der von Angus Spry, der von Burt Harris, der von Judd Quaid und der von dem Franzosen.

Die Mannschaftsstimmung war noch nie so schlecht gewesen. Die Leute schienen es an diesem Morgen kaum erwarten zu können, auf die Jagd zu gehen. Irgendwie war der Wunsch nach blutiger Rache in ihnen allen.

»Wozu haben Sie sich entschlos-sen?«, fragte Tony Noon den Kapi-tän.

»Wir machen weiter.« »Das ist meiner Ansicht nach der

größte Fehler, den Sie begehen kön-nen, Kapitän«, sagte Tony so, dass es die Mannschaft nicht hören konnte.

»Sehen Sie sich die Männer an«, gab der Kapitän ebenso leise zurück. »Die lassen sich jetzt nicht von dem abhalten, was sie sich vorgenommen haben. Ich wäre verrückt, wenn ich mich ihnen in den Weg stellen würde.«

»Denken Sie an die Mannschaft der ›Black Hunter‹.«

»Das tue ich unentwegt, Mr. Noon.«

»Diese Leute haben alle ihr Leben verloren!«

»Was würden Sie an meiner Stelle tun?«, fragte Robin Lazare.

»Das einzig Richtige.« »Und was wäre das?« »Ich würde mich über Funk mit

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dem Konvoi in Verbindung setzen und allen Kapitänen klar machen, in welcher Gefahr wir uns befinden, und dann würde ich verlangen, dass sämtliche Schiffe die Eisfelder der Labradorsee verlassen.«

»Man würde mich auslachen und für verrückt erklären.«

»Wenn die ›North Ice‹ und die anderen Schiffe bleiben, wird bald keiner mehr etwas zu lachen haben, darauf können Sie Gift nehmen, Kapitän Lazare!«, sagte Tony Noon eindringlich. »Sie haben mit eigenen Augen gesehen, dass man diesen Killerrobben nicht einmal mit Gewehren beikommen kann. Womit wollen Sie sich denn verteidigen, wenn die Robbenmonster massiert angreifen?«

»Umkehren kommt nicht in Frage. Meine Männer brennen darauf, es den Robben heimzuzahlen!«

»Sie lassen ihre Wut an den falschen Tieren aus, Kapitän. Jene, die uns gefährlich werden können, tauchen nur nachts auf. Wo sie tags-über sind, weiß niemand.«

»Wir können die Jagd nicht abbre-chen, Mr. Noon. Wie stellen Sie sich das vor?«

»Die Männer der ›Black Hunter‹ mussten ihre Jagd abbrechen. Soll es dazu auf der ›North Ice‹ auch kom-men?«

»Wir bleiben!« »Das kann uns alle unter Umstän-

den das Leben kosten. Sind Sie sich

dessen bewusst?« Robin Lazare kam mit seinem

Gesicht so nahe an das von Tony Noon heran, dass sich die Nasen-spitzen der beiden Männer fast berührten.

»Hören Sie zu, Noon. Ich bin der Kapitän auf diesem Schiff. Deshalb geschieht auf der ›North Ice‹ das, was ich sage, und Sie täten gut daran, die Entscheidungen, die ich treffe, zur Kenntnis zu nehmen. Sollte es Ihnen auf meinem Schiff jedoch nicht mehr gefallen, so steht es Ihnen frei, von Bord zu gehen. Die Eisdecke ist dick genug, Sie kön-nen auf ihr weit von hier fortkom-men.«

Dann erhob er sich und verließ den Raum.

*

An diesem Tag erbeuteten die Jäger fast 15.000 Robben. Sie gönnten sich von morgens bis abends keine Pause. Sie töteten jedes Tier, das sie entdeckten, ohne zu bedenken, dass sie damit ihre Situation nur noch mehr verschlimmerten, denn die Kil-lerrobben würden zurückschlagen, das war gewiss.

Vielleicht schon in der kommen-den Nacht.

Karen Glace und Tony Noon begleiteten an diesem Tag verschie-dene Jäger auf ihrem Weg über das Eis. Unwillkürlich verglichen sie

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deren Arbeitsmethoden mit jenen des Ersten Maats, und sie kamen zu der Erkenntnis, dass Burt Harris der geschickteste Mann von allen gewe-sen war.

Wahrscheinlich war er deshalb der Erste gewesen, den sich die Höllen-robben von der ›North Ice‹ geholt hatten.

Als die Dämmerung einsetzte, kehrten die Jäger zur ›North Ice‹ zurück. Die üblichen Arbeiten folg-ten.

Blut floss vom Deck des Schiffes und gefror zu dicken Eiszapfen an der Bordwand.

Karen wies darauf und sagte: »Ich hätte nicht geglaubt, dass ich mich daran gewöhnen könnte.«

»Der Mensch stumpft sehr schnell ab. Deshalb verstehen diese Männer nicht, dass sich die Welt über ihren Job aufregt. Für sie ist es eine Arbeit wie jede andere.«

Tony Noon hob den Kopf. Karen hatte den Eindruck, er

würde die Luft prüfend durch die Nase einziehen. So als wollte er Wit-terung aufnehmen.

»Was riechst du außer dem Blutge-stank, der ständig über diesem Schiff hängt?«

»Die Zeichen stehen auf Sturm«, sagte Tony Noon ernst.

»Liegt etwas in der Luft?« »Da bin ich ganz sicher.« »O Tony, was machen wir nur? Ich

möchte nicht so enden wie die Män-

ner von der ›Black Hunter‹.« »Ich habe versucht, den Kapitän zu

bewegen, das Feld zu räumen, du hast es gehört, aber er will nichts davon wissen.«

»Müssen wir sterben Tony?« Tony Noon legte seinen Arm um

Karens Schultern. »Ich habe heute den ganzen Tag

darüber nachgedacht, wie wir das verhindern können.«

»Deshalb warst du so schweigsam. Ist dir eine Idee gekommen?«

»Vielleicht. Aber ich möchte jetzt noch nicht darüber reden.« Tony beobachtete die Jäger bei ihrer Arbeit. »Wer von ihnen wird mor-gen nicht mehr dabei sein?«

»Hör auf damit, du machst mir Angst«, sagte Karen, und ging in die Kabine.

Kapitän Lazare kam auf Tony zu. »Ein neuer Abend«, sagte Robin

Lazare ernst. »Sie sind davon über-zeugt, dass der ›North Ice‹ ein ähnli-ches Schicksal wie der ›Black Hun-ter‹ bevorsteht, nicht wahr?«

»Mehr denn je«, erwiderte Tony Noon.

»Und wieso das?« »Weil Ihre Männer heute um fünf-

zig Prozent mehr Robben getötet haben als an den Tagen davor.«

»Das war die Wut.« »Die Vergeltung wird postwen-

dend folgen.« »Ich werde wieder Wachen auf-

stellen.«

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»Das tun Sie doch nur, um Ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Zweck hat es nämlich keinen. Was erreichen Sie damit denn schon?«

»Dass die Männer Alarm schlagen, sobald sich eine von diesen ver-dammten Killerrobben blicken lässt.«

»Na schön, und was ist damit gewonnen, Kapitän? Nichts außer dass wir wissen, dass die Robben-monster kommen, denn aufhalten oder einen Angriff zurückschlagen, das können wir nicht, das sollte Ihnen doch inzwischen klar gewor-den sein.«

Lazare schüttelte trotzig den Kopf. »Ich bin noch nie vor etwas wegge-laufen, Noon.«

»Jetzt können Sie das auch nicht mehr, denn jetzt ist es dafür zu spät.«

Lazare senkte den Blick. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Umständlich kramte er in seinen Taschen herum und holte eine ver-beulte Zigarettenpackung heraus.

Er hielt sie Tony hin und fragte: »Auch eine?«

»Nein, danke. Ich rauche nicht.« »Sie haben wohl überhaupt keine

Laster, was?« »Vielleicht doch. Wer weiß.« »Haben Sie meine Kanone noch?« »Ja. Möchten Sie sie zurück

haben?« »Nein, nein. Behalten Sie sie

ruhig.«

Der Kapitän zündete sich seine Zigarette an. Er wandte sich dabei vom Wind ab.

»Kommen Sie nachher in meine Kabine«, sagte er, als das Stäbchen brannte. »Ich hab’ noch zwei Reser-vemagazine für Sie.«

*

Tony holte sich die Magazine vor dem Abendessen. Als er an die Kabi-nentür des Kapitäns klopfte und dann eintrat, sah er die Waffe auf dem Tisch liegen, und Lazare war gerade dabei, sämtliche Kugeln aus den Magazinen zu nehmen.

»Man kann den Killerrobben mit herkömmlichen Geschossen nichts anhaben«, sagte der Kapitän. »Des-halb werde ich versuchen, die Pro-jektile zu präparieren. Wenn wir Glück haben, klappt es. Wenn nicht, dann habe ich es wenigstens ver-sucht.«

Nachdem sämtliche Patronen vor ihm auf dem Tisch lagen, holte er sein Taschenmesser.

Er begann, damit ein eigenartiges Zeichen in die Kugeln zu ritzen.

»Was ist das für ein Zeichen?«, wollte Tony wissen.

»Es ist ein Symbol der Weißen Magie. Angeblich soll es sehr stark sein und bisweilen eine vernich-tende Wirkung auf alles ausüben, was vom Bösen geschaffen wurde.«

»Mit anderen Worten, dieses Sym-

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bol könnte eine Killerrobbe töten?« »Das hoffe ich jedenfalls. Ob es tat-

sächlich der Fall sein wird, wird sich herausstellen.«

»Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Sie können die geritzten Patronen

wieder in die Magazine tun.« »Okay.« Lazare arbeitete gewissenhaft. Ein

schlampig geritztes Symbol wäre ohne jede Wirkung gewesen.

Vierundzwanzig Patronen bearbei-tete der Kapitän. Als er mit der letz-ten fertig war, legte er aufatmend das Messer weg.

»Sie kennen sich mit Okkultismus und Magie recht gut aus, was?«, frage Tony.

»Sie halten mich für abergläubisch, richtig?«, fragte der Kapitän zurück.

»Nun ja ich selbst bin inzwischen auch davon überzeugt, dass diese Monsterrobben keine natürlichen Geschöpfe sind.«

»Ich stamme aus einer Gegend, wo man noch an Geister, Dämonen und den Teufel glaubt«, erklärte Lazare. »Und Sie? Woher kommen Sie?«

»Über mich gibt es nicht viel Wis-senswertes«, sagte Tony Noon und zuckte mit den Schultern. »Ich bin in New York aufgewachsen, meine Eltern ließen sich scheiden, als ich zwölf war. Ich blieb bei meiner Mut-ter, die sich aber nicht viel um mich scherte, dafür aber fast jede Woche einen neuen ›Onkel‹ mit nach Hause brachte. Ich studierte Journalistik,

arbeitete für den ›Long Island Observer‹ und kam nach zwei Jah-ren von da direkt zu Howard Tha-nish. Er hat mich von der Konkur-renz abgeworben. Das war nicht schwierig für ihn, denn ich wollte sowieso weg.« Tony lächelte. »Das ist eigentlich schon alles.«

»Mh«, brummte Lazare. Dann reichte er Tony die Pistole. »Damit Sie sich sicher fühlen.«

»Danke, Kapitän.« Tony steckte die Pistole ein, verabschiedete sich von Lazare und ging in seine Kabine.

Er legte sich in die Koje und schlief bald ein…

Schüsse und heisere Schreie an Deck weckten ihn, rissen ihn aus dem Schlaf…

*

Auf dem Deck schrien die Männer. Wieder fielen Schüsse.

Tony Noon schlüpfte in seine Jacke, er drückte sich die Pelzmütze auf den Kopf und eilte aus der Kabine.

Als er das Deck erreichte, Lazares Pistole in der Faust, sah er, dass er sich wenigstens im Augenblick nicht aufzuregen brauchte.

Nirgendwo tauchte eine Killer-robbe auf, und die beiden Robbenjä-ger, die er erblickte, hatten ihr Gewehr geschultert.

Tony eilte auf sie zu, doch ehe er

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sie erreichte, rief Kapitän Lazare ihn an: »Mr. Noon! He, Mr. Noon!«

Tony drehte sich um. Der Kapitän kam auf ihn zu, ein

begeistertes Strahlen in seinen Augen.

Seine Brust war stolzgeschwellt. »Was war los, Kapitän? Warum

wurde geschossen?« »Ein paar von diesen Riesenbies-

tern ließen sich blicken. Meine Män-ner haben sofort das Feuer eröffnet, und die Mistviecher haben Reißaus genommen. Ja, Noon, Sie hören rich-tig. Meine Männer haben die Mons-terrobben verjagt.«

»Glauben Sie das wirklich, Kapi-tän?«

»Natürlich. Sie etwa nicht?« »Aber Sie wissen doch selbst am

besten, dass man diesen Tieren mit gewöhnlichen Kugeln nichts anha-ben kann.«

»Aber die Biester sind nun mal abgehauen.«

»Das hat bestimmt einen anderen Grund.«

»So? Welchen denn?« »Vermutlich wollen uns die Killer-

robben erst einmal in Sicherheit wie-gen, und dann platzen sie mitten in die Euphorie hinein und tun das, woran sie keiner hindern kann.«

Lazare stieß zwischen den zusam-mengepressten Kiefern hervor: »Sie sollen nur kommen…«

»Und was dann?« »Wir werden sie zum Teufel

jagen.« »Mann, womit denn? Machen Sie

doch endlich die Augen auf, Kapi-tän! Sie können die Robbenmonster nicht aufhalten.«

»Abwarten, Noon. Abwarten.« »Was werden Sie tun?« »Wir müssen versuchen zu verhin-

dern, dass die Killerrobben die ›North Ice‹ stürmen.«

»Und wie?« »Es gibt dämonenbannende Zei-

chen. Wenn wir die rings um das Schiff anbringen würden…«

Robin Lazare trommelte mitt-schiffs seine Männer zusammen.

»Herhören!«, rief er. »Mr. Noon ist davon überzeugt, dass die Killerrob-ben noch in dieser Nacht unser Schiff angreifen werden, und mögli-cherweise hat er damit Recht. Wie ihr inzwischen mitbekommen habt, handelt es sich bei diesen Tieren um keine gewöhnlichen Robben. Sie sind nicht nur größer, sondern auch nicht zu verletzen, deshalb wäre es wohl kaum möglich, sie davon abzuhalten, die ›North Ice‹ zu stür-men, wenn sie das wirklich vorha-ben. Wir sollten einem solchen Even-tualfall vorbeugen, damit wir uns hinterher nicht den Vorwurf zu machen brauchen, wir hätten nicht alle Möglichkeiten, unser Leben zu schützen, ausgeschöpft.«

Reglos standen die harten Männer da. Keiner von ihnen hatte Angst, obwohl das Leben von allen nur

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noch an einem seidenen Faden hing, aber das wussten sie nicht.

»Ich kenne dämonenbannende Zeichen«, sprach der Kapitän weiter. »Ich lasse jetzt Farbe und Pinsel an euch ausgeben und werde die Vorla-gen anfertigen, und ihr werdet die Zeichen rings um das Schiff haarge-nau auf das Eis übertragen.«

Kapitän Lazare ließ die Farbtöpfe an Bord bringen und zeichnete mit einem Kohlestift die dämonenban-nenden Symbole auf mehrere Blät-ter.

Die Blätter wurden an die Robben-fänger ausgeteilt.

Auch Elliott Ladd, ein Kerl, der für seine Aufsässigkeit bekannt war, erhielt eine von den Skizzen.

Der Mann grinste spöttisch. »Soll ich mir dieses Zeichen nicht auch aufs Gesicht schmieren, um ganz sicher zu sein?«

»Sie tun, was ich angeordnet habe!«, brüllte der Kapitän ihn an.

»Verdammt noch mal, das ist doch blödsinnig!«

»Es steht Ihnen nicht zu, darüber zu urteilen, Ladd. Sie haben aus-schließlich meine Anweisungen zu befolgen, ist das klar?«

»Aber ja, Kapitän. Ich bin ja so froh, dass Sie für mich denken, denn ich selbst hab’ ja nur Puderzucker im Schädel.«

»Sie sagen es«, knurrte Lazare. »Und jetzt gehen Sie an die Arbeit, Ladd!«

»Bin schon weg, Kapitän, und ich verspreche Ihnen, dass Sie mit mei-nem Kunstwerk zufrieden sein wer-den. Ich werde was aufs Eis schmie-ren, das Picasso alle Ehre machen würde.«

»Reden Sie nicht so viel! Ver-schwinden Sie endlich, Mann!«, sagte Lazare verärgert.

Elliott Ladd trottete davon. »Ein unangenehmer Bursche«,

sagte Lazare mit gerümpfter Nase. »Ich hätte ihn nicht mitgenommen, wenn ich einen anderen Mann an seiner Stelle gekriegt hätte, aber es bot sich keiner mehr an.«

Die Robbenjäger gingen mit Laza-res Skizzen, einem Eimer voll Farbe und einem Pinsel von Bord.

Elliott Ladd war einer der Letzten. Lustlos machte er sich an die Arbeit.

»Vertrottelt ist das, was man da von einem erwachsenen, mündigen Mann verlangt«, maulte er. »Mitten in der Nacht dämliche Zeichen aufs Eis schmieren. Wenn ich das zu Hause erzähle, lachen die sich garantiert halbtot.«

Ladd betrachtete Lazares Skizze. »Was soll’s«, brummte der Rob-

benfänger. »Wenn’s der Chef befoh-len hat, dann muss ich es eben tun…«

Er tauchte den Pinsel in die blaue Farbe.

Als er damit den ersten Strich zog, vernahm er ganz in der Nähe auf einmal ein eigenartiges Geräusch,

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und ihm war, als würde das Eis unter seinen Füßen kurz erbeben.

»Was hat denn das nun wieder zu bedeuten?«, murmelte der Robben-fänger verdrossen.

Er wandte sich um. Die Eisdecke gab einen singenden

Ton von sich, und dann brach sie knirschend auseinander.

Eine tiefschwarze Spalte entstand, die mehr und mehr aufklaffte.

Elliott Ladd erklärte sich das damit, dass es im Eis eine Spannung gegeben hatte, die nun zu groß geworden war und die Scholle zum Bersten gebracht hatte.

Er wollte sich umdrehen und seine seiner Meinung nach sinnlose Arbeit fortsetzen, da glaubte er, im leicht gekräuselten Wasser eine Bewegung wahrzunehmen.

Und einen Augenblick später durchstieß die Meeresoberfläche der riesige Kopf einer gefährlichen Kil-lerrobbe.

*

Karen Glace ging in ihrer Kabine ruhelos auf und ab, dann trat sie ans Bullauge und blickte in die arktische Nacht hinaus.

Sie beobachtete die Männer, die von Bord gegangen waren. Sie eilten über das Eis und bemalten es.

Einesteils war Karen froh, jetzt nicht draußen in der Kälte sein zu müssen. Andernteils aber wäre sie

gern in Tonys Nähe gewesen. Sie seufzte und versuchte nicht an

das Schicksal zu denken, das die Besatzung der ›Black Hunter‹ ereilt hatte.

Da sah sie, wie sich unweit von ihrem Bullauge das Eis plötzlich spaltete. Breit klaffte es auf.

Das Mädchen erschrak, denn der Sprung der Eisscholle erschien ihr ein Auftakt zum Angriff der Rob-benmonster zu sein.

Und da durchstieß so ein riesiges Tier auch schon mit seinem Kopf die Wasseroberfläche.

Karen Glace schrie unwillkürlich auf.

»Jetzt geht es los!«, stieß sie nervös hervor. »Der Himmel stehe uns bei!«

*

Elliott Ladds Augen verengten sich. »Wenn du denkst, du könntest mich mit deiner Größe beeindrucken, du verdammtes Mistvieh, dann hast du dich getäuscht!«, knurrte er.

Die Killerrobbe bewegte kurz ihre Schwanzflossen und glitt wie ein Torpedo aus dem Wasser.

Sie riss das Maul weit auf und näherte sich fauchend dem Robben-fänger.

»Aha!«, presste Ladd hervor. »Hungrig bist du. Okay. Da! Friss!«

Er schleuderte dem Tier den Farb-topf in den Rachen.

Die Robbe zermalmte den Blechbe-

56�

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hälter. Blaue Farbe tropfte aus ihrem Maul.

»Noch nicht satt?«, fragte Elliott Ladd.

Er griff nach seinem Messer, das er stets bei sich trug, riss es aus der ledernen Scheide.

Er wollte der Bestie die Arterie zwischen den Vorderflossen auf-schlitzen. Er war davon überzeugt, dass das eine verwundbare Stelle der Killerrobbe sei.

Das Robbenmonster rutschte über die glatte Eisscholle auf den Jäger zu.

Ladd nahm sein Messer fester in die Hand.

Die Klinge war lang und scharf und lief nach einem sanften Schwung nach oben spitz zu. Elliott Ladd konnte damit umgehen wie der Chirurg mit dem Skalpell.

Eiskalt wartete er. Die Robbe senkte den Kopf. Als ihr Maul nach vorn stieß,

sprang Elliott Ladd zur Seite. Seine Messerhand zuckte dem Tier

entgegen. Die Klinge ratschte über das Fell

des Höllenwesens, und Ladd stellte erstaunt fest, dass die Bestie nicht die geringste Schramme davongetra-gen hatte.

Doch davon ließ sich der Jäger noch nicht entmutigen. Er zielte auf die Arterie des Monsters.

Blitzschnell stieß er zu. Die Killerrobbe schnappte nach

seinem Arm, verfehlte diesen aber. Ladds Messer traf die Stelle, die er

für verwundbar hielt. Er drückte nach und setzte die Spitze steil an, doch sie vermochte dem Tier keinen Millimeter in die Haut zu dringen.

Das machte Ladd unsicher. Plötzlich wusste er nicht mehr, wie

er dem Robbenmonster beikommen konnte. Die Bestie war doch gefähr-licher, als er wahrhaben wollte.

Er wich zurück, doch die Killer-robbe ließ ihn nicht entkommen. Sie versetzte ihm einen harten Schlag mit der Vorderflosse.

Er fiel. Er kam nicht einmal mehr dazu,

zu schreien. Dafür gellte beim Heck der ›North

Ice‹ der Todesschrei eines Mannes auf…

*

Kapitän Lazare zuckte zusammen als hätte jemand einen Stromstoß durch seinen Körper gejagt.

»Verdammt!«, entfuhr es ihm. »Jetzt geht es los!«, stieß Tony

Noon aufgeregt hervor. »Robben!«, brüllte einer der Jäger.

»Killerrobben! Sie greifen an!« Der Kapitän wandte sich um und

brüllte: »Alle Mann auf die Posten!« Die Robbenjäger hasteten über das

Deck der ›North Ice‹. Jene Männer, die die Symbole auf

das Eis malen sollten, schafften es

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nicht mehr, an Bord zu kommen. Sie wurden von den Killerrobben

getötet. Einem von ihnen wäre es beinahe

gelungen, das Deck zu erreichen, doch ehe er seinen Fuß auf das Schiff setzen konnte, packte ihn eine Bestie und warf ihn aufs Eis, wo sich sofort mehrere Robbenmonster auf ihn stürzten und ihn erbarmungslos in Stücke rissen.

Tony Noon zog seine Waffe. Ein Robbenschädel tauchte auf. Tony schoss.

Aber er hatte zu überhastet gefeu-ert, und die präparierte Kugel hatte ihr Ziel verfehlt.

Vierundzwanzig Patronen standen ihm zur Verfügung.

Eine hatte er bereits verfeuert. Nun waren es nur noch dreiund-

zwanzig. Er musste sparsam damit umge-

hen. Einen Fehlschuss wie diesen durfte

er sich nicht mehr leisten. Jede Kugel musste sitzen. Jeder

Schuss musste unbedingt ein Treffer sein.

Tony eilte unter Deck. Karen Glace erwartete ihn voller

Ungeduld. »Die Robben!«, stieß sie hervor.

»Sie sind überall!« Sie wies auf das Bullauge. »Es werden immer mehr, Tony.«

Der Journalist nahm das Mädchen in seine Arme. »Hör zu, Karen! Vor-

läufig bist du nirgendwo sicherer als hier. Bleib in der Kabine! Verlasse sie unter keinen Umständen.«

»Aber…« »Auf dem Deck ist der Teufel los.

Dort oben hast du keine Chance.« Schüsse knallten. Ein Bersten und

Krachen erfüllte die Nacht. »Ich halt’s hier drinnen kaum noch

aus«, sagte Karen. »Du musst!«, erwiderte Tony

Noon eindringlich. »Ich verlasse mich auf dich!«

»Bleib bei mir, Tony!« »Das kann ich nicht. Ich muss wie-

der nach oben. Vielleicht kann ich die Katastrophe noch abwenden!« Tony Noon ließ das Mädchen los. »Vielleicht gelingt es mir, die Rob-benmonster mit meinen präparierten Geschossen abzuschrecken. Wenn ich es schaffe, einige dieser Bestien zu vernichten, werden sich die andern vielleicht zurückziehen.«

Tony eilte davon. »Sei vorsichtig!«, rief Karen ihm

nach. Tony hetzte die Stufen des Nieder-

ganges hoch. Oben tauchte der Kopf einer Killerrobbe auf.

Das Tier fauchte feindselig. Weit war das Maul aufgerissen.

Tony sah die überlangen Zähne der Bestie und stoppte jäh.

Obwohl er schrecklich aufgeregt war, zielte er diesmal so gewissen-haft wie möglich.

Erst dann zog er den Stecher

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durch. Brüllend löste sich der Schuss. Die Bestie kippte zuckend zur

Seite. Schwarzer Qualm stieg aus ihren

Nasenlöchern. Zitternd verendete sie.

Tony Noon durchraste ein unbe-schreibliches Triumphgefühl. Der Tod dieser Riesenrobbe zeigte ihm, dass er und mit ihm Karen und die Besatzung der ›North Ice‹ eine echte Chance gegen die Bestien hatte.

Tony erreichte das Deck. Es war mit Robben übersät. Dazwischen lagen tote Männer.

Einer der Jäger kämpfte verzwei-felt um sein Leben. Die Killerrobbe trieb ihn in die Enge.

Sie verletzte ihn, doch als sie ihn töten wollte, feuerte Tony Noon auf sie, und seine Kugel streckte die gefährliche Bestie nieder.

Kapitän Lazare hatte sich mit eini-gen Männern auf die Aufbauten zurückgezogen und sich dort ver-schanzt.

Auch er schoss mit präparierten Kugeln und hatte schon einige der Monsterrobben niedergestreckt. Deshalb blieben sie auf Abstand, aber sie ließen sich nicht verscheu-chen.

»Licht!«, hörte Tony Noon ihn brüllen. »Schaltet die Scheinwerfer ein!«

Das Flutlicht flammte einen Moment später auf.

Tony sah den Mann, dem er soeben das Leben gerettet hatte. Der Verletzte rannte humpelnd zur Lei-ter, die zum Auslug hinaufführte. Er dachte wohl, dort oben, hoch über dem Deck, würde er vor den Killer-robben sicher sein.

Auch Tony glaubte das, aber es sollte sich als Irrtum herausstellen.

Der blutende Mann kletterte trotz seiner Verletzungen mit erstaunli-cher Schnelligkeit die Sprossen hin-auf.

Es ist verblüffend, wozu der Mensch fähig ist, wenn er in Panik ist. In einer solchen Verfassung wächst er über sich selbst hinaus und kann Dinge tun, die ihm unter normalen Umständen unmöglich wären.

Höher, immer höher kletterte der Mann.

Die Robben konnten ihm nicht fol-gen.

Da sie ihn aber nicht entkommen lassen wollten, warfen sie sich mit ihren riesigen klumpigen Leibern wild gegen das eiserne Gestänge, und sie schafften das, was Tony Noon nicht für möglich gehalten hätte.

Sie rissen das Gestänge mit verein-ten Kräften aus der genieteten und verschraubten Verankerung.

Zuerst schwankte das Gestell. Der verletzte Mann erreichte

gerade den Blechkasten und ver-kroch sich darin.

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Da brachen die eisernen Traversen aus dem Deck und neigten sich mehr und mehr der Schiffsmitte ent-gegen.

Als die letzte Stütze abriss, krachte der Ausflug mit großer Wucht auf das Deck.

Der Mann, dem Tony Noon das Leben gerettet hatte, wurde aus dem Blechkasten herausgeschleudert und landete vor den Mäulern mehrerer Killerrobben, die über ihn herfielen und ihn grausam zerfleischten.

Diesmal war es Tony nicht mehr möglich, ihm zu helfen, denn im sel-ben Augenblick wurde er selbst von zwei Scheusalen attackiert.

Er wich zurück und feuerte. Die Kugel schrammte über den

Hals des Tieres und riss die Haut auf. Das Robbenmonster warf sich herum und stieß ein markerschüt-terndes Gebrüll aus.

Es leckte sich die stark blutende Wunde.

Tony drückte noch einmal ab, und dieser Schuss streckte das zweite Tier nieder.

Ehe ihn eine weitere Bestie angrei-fen konnte, kletterte er die Aufbau-ten hoch.

Kapitän Lazare war leichenblass. Er hatte viele Männer verloren und

hatte endlich erkannt, dass er besser auf Tony Noon gehört und die Gegend mit seinem Schiff verlassen hätte, als noch Zeit dafür war.

»Wenn wir das hier überleben,

können Sie mir so lange in die Fresse hauen, wie Sie wollen«, sagte Lazare zerknirscht.

»Das werde ich. Darauf können Sie sich verlassen.«

»Ich hab’s verdient! Verdammt noch mal, warum habe ich nicht auf Sie gehört, Noon?«

»Weil Sie ein verdammter Idiot sind!«

»Sie haben ja so recht.« »Leider kommt Ihre Einsicht zu

spät, Lazare.« Der Kapitän blickte Tony bestürzt

an. »Wird uns dasselbe Schicksal ereilen wie der Besatzung der ›Black Hunter‹?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Tony Noon ernst.

*

Schüsse. Todesschreie. Poltern und Krachen. Die Geräusche zermürbten Karen Glace in ihrer Kabine. Sie hielt es plötzlich nicht mehr länger in dem engen Raum aus.

Tony hatte sie zwar gebeten hier zu bleiben, doch sie wurde allein mit ihrer Angst nicht mehr fertig.

Sie musste raus aus diesem Raum. Ganz gleich, wie schlimm es dann kommen würde.

Hastig verließ das Mädchen die Kabine.

Sie eilte den Gang entlang. Über ihr war das Stampfen von Schritten zu hören. Robben stießen schaurige

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Laute aus. Schüsse fielen immer wieder. Karen lief die Treppe hoch. Sie

keuchte, als sie oben ankam. Ein Robbenmonster wandte sich

sofort ihr zu. Karens Herz, übersprang einen

Schlag. Sie wich seitlich aus. Da vernahm sie hinter sich das

grimmige Knurren einer weiteren Bestie, und diese versuchte sofort, ihre kräftigen Zähne in Karens Bein zu schlagen.

Die Fotoreporterin brachte sich mit einem weiten Sprung in Sicherheit.

Eine dritte und eine vierte Robbe hatten es plötzlich auf das Leben des Mädchens abgesehen.

Karen begriff, dass es ein schwerer Fehler gewesen war, die Kabine zu verlassen. Vorläufig wäre sie dort unten vor diesen Bestien sicher gewesen.

Doch eine Rückkehr war jetzt nicht mehr möglich. Die Killerrobben hat-ten Karen den Weg zum Niedergang abgeschnitten.

Sie näherten sich dem vor Angst bebenden Mädchen mit gebleckten Zähnen, drängten sie mehr und mehr auf den Schiffsrand zu.

Karens verzweifelter Blick suchte Tony, doch sie konnte ihn nir-gendwo entdecken.

Die Bestien attackierten Karen. Zweimal hatte das Mädchen

großes Glück. Um ein Haar wäre es verletzt worden.

Immer mehr Killerrobben umring-ten Karen Glace.

Rückwärts gehend erreichte sie den Schiffsrand. Sie versuchte, kei-nes der Tiere aus den Augen zu las-sen.

Als ein Robbenschädel vorwärts-zuckte, reagierte Karen darauf mit einem raschen Schritt zurück.

Ihr Fuß trat ins Leere. Sie warf entsetzt die Arme hoch

und wollte den Sturz irgendwie ver-hindern, doch das gelang ihr nicht.

Sie fiel von Bord. Und eine von den Killerrobben

ließ sich sofort hinterherfallen. Schwer landete das Tier auf dem weißen Eis.

Karen hatte das Gefühl, sich meh-rere Knochen gebrochen zu haben. Sie hatte starke Schmerzen und war benommen.

Sie wollte sich erheben, aber sie schaffte es im Augenblick noch nicht.

Knurrend kroch das Robbenmons-ter auf sie zu.

Als sie in die mordlüsternen Augen der Bestie blickte, war ihr klar, dass sie nun ihr Leben verlieren würde.

*

Tony Noon sah Karen nicht sofort. Einer von Lazares Männern machte ihn auf das Mädchen aufmerksam.

Er glaubte, graue Haare zu krie-

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gen, als er sah, wie die Bestien das�Mädchen auf den Schiffsrand zudrängten.

Jetzt fiel sie. Tony Noon sprang auf. Es war

wohl das schmerzlichste Erlebnis in seinem Leben, das mit ansehen zu müssen.

»Karen!«, schrie er, und seine Stimme überschlug sich.

Als er bemerkte, dass eines der Robbenbiester sich vom Schiff fallen ließ, war er nicht mehr zu halten.

Er wollte Karen zu Hilfe eilen. Doch die Robbenfänger packten

ihn und hielten ihn zurück. »Lasst mich los! Loslassen!«,

brüllte Tony Noon. Er versuchte die Hände die ihn fest

hielten, abzuschütteln. »Seien Sie vernünftig, Noon!«,

sagte Lazare. »Das Mädchen ist ver-loren. Sie können nichts mehr für sie tun!«

»Loslassen!«�»Sie bringen sich damit um,�

Noon!« »Ich muss zu ihr!« »Das hat keinen Zweck mehr,

Noon!« »Verdammt noch mal, befehlen Sie

Ihren Männern, sie sollen mich los-lassen, Lazare!«

Der Kapitän nickte den Leute zu. Ihr Griff lockerte sich.

Tony sprang von den Aufbauten auf das Deck hinunter.

Eine Killerrobbe schnellte herum

und stürzte sich auf ihn. Er tötete sie mit einem einzigen

Schuss. Zwei weitere Robbenmonster

wichen vor ihm zurück. Keuchend erreichte er den Schiffs-

rand. Teufel, wenn er zu spät kam, dann waren Lazare und seine Män-ner daran schuld.

Er sah Karen. Sie lag auf dem Eis, und ganz nah

bei ihr war die Killerrobbe. Tony zielte auf das Tier. Seine

Hand zitterte vor Aufregung. Er nahm die zweite Hand zu Hilfe,

hielt die Waffe fest und jagte zwei Kugeln durch den Lauf.

Das gefährliche Scheusal brach tödlich getroffen zusammen. Sein Körper fiel auf das Mädchen.

Karen stieß einen grellen Schrei aus und kämpfte sich atemlos unter dem toten Tier hervor.

Tony nahm hinter sich eine Bewe-gung wahr.

Er kreiselte herum, konnte aber nicht mehr verhindern, dass er von einer Killerrobbe mit einem kraftvol-len Rammstoß von Bord befördert wurde.

Er landete neben Karen, war sofort wieder auf den Beinen und war dem Mädchen beim Aufstehen behilflich.

»Warum bist du nicht in der Kabine geblieben?«

»Es tut mir so Leid, Tony.« »Bist du verletzt?« »Vorhin dachte ich es, aber nun

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habe ich keine Schmerzen mehr.« Auf dem Schiff wütete der erbit-

terte Kampf zwischen Mensch und Tier weiter. Doch auch auf dem Eis waren noch Killerrobben.

Sie eilten von allen Seiten heran. Tony und Karen wollten an Deck

der ›North Ice‹ zurückkehren, doch die Robbenmonster hinderten sie daran.

Tony Noon sah nur eine Möglich-keit, den Bestien zu entkommen, und das war eine gefährliche Flucht über das Eis.

Er verfeuerte seine letzten Patro-nen aus dem ersten Magazin. Danach lud er die Pistole hastig nach.

Verfolgt von einer Robbenschar liefen Tony und Karen über die Eis-schollen. Zwischendurch gab es immer wieder weit aufklaffende Spalten, in denen kleine Eisplatten schwammen, die umzukippen droh-ten, wenn die Fliehenden über sie hinwegeilten.

Manche Spalten im Packeis konn-ten Tony und das Mädchen nicht überwinden. Es geschah mehrmals, dass sie am Ende einer riesigen Eis-fläche anlangten und nicht mehr weiterkonnten.

Dann mussten sie umkehren und ihr Glück anderswo versuchen. Und die Killerrobben kamen ihnen immer näher!

Karen biss tapfer die Zähne zusammen. Sie lief, so schnell sie

konnte. Tony hielt sie bei der Hand, um zu

verhindern, dass sie auf dem Eis ausglitt und stürzte.

Karens Kräfte ließen nach. Tony merkte es, aber er hetzte mit ihr wei-ter.

Ihre Hand wäre der seinen beinahe entglitten. Er packte fester zu. »Tony…«

»Weiter, Karen! Weiter!« »Ich kann nicht mehr!« Tony Noon blieb stehen. Er schoss die vordersten Tiere ab. Sie brachen zusammen, und die

anderen Höllenwesen verschanzten sich hinter den Kadavern.

»Ich bin am Ende!«, stieß Karen verzweifelt hervor. »Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten!«

»Wenn du umfällst, werde ich dich tragen.«

»Wir können nicht ewig vor diesen Scheusalen fliehen, Tony. Irgend-wann erwischen sie uns doch, und das wissen sie!«

»Noch haben sie uns nicht«, ent-gegnete Tony Noon.

Weit, weit hinten strahlte die Flut-lichtanlage der ›North Ice‹.

Was mochte sich dort jetzt wohl abspielen? Gab es noch Lebende auf dem Unglücksschiff?

Kapitän Lazare hatte er seinen Starrsinn inzwischen bezahlen müs-sen?

»Weiter!«, sagte Tony zu Karen. »Es hat doch keinen Sinn mehr!«

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»So etwas will ich von dir nicht hören!«

Tony riss das Mädchen mit sich. Sie stolperte hinter ihm über die Eis-schollen, und als sie wirklich nicht mehr konnte, nahm er sie auf seine Arme und trug sie über das Eis.

Die Killerrobben blieben ihnen auf den Fersen. Sie verzichteten darauf, sich ihren Opfern zu nähern, beschränkten sich vorläufig darauf, sie halbtot zu hetzen.

Tony verlangte sich das Letzte ab. Doch es nutzte nicht. Als er das Ende der Scholle

erreichte und keine Möglichkeit sah, zur nächsten Eisfläche überzusetzen, begriff er, dass er sich geschlagen geben musste.

Schwer keuchend stellte er Karen ab.

»Es ist jetzt bei Gott nicht der rich-tige Zeitpunkt dafür, Karen, aber vielleicht werde ich nie wieder Gele-genheit haben, dir zu sagen, dass ich dich liebe.«

Das Mädchen weinte still, und er küsste ihr die Tränen von den Wan-gen.

Dann drehte er sich um und schaute den Killerrobben entgegen, die eine breite Front gebildet hatten.

»Es sind viele«, sagte Karen leise. Sie hatte recht. Es waren mehr, als Tony an Patro-

nen zur Verfügung hatte…

*

Kapitän Robin Lazare sah Karen Glace und Tony Noon über das Eis fliehen. Er beobachtete die schwar-zen Schatten, die ihnen folgten, und er wünschte den beiden alles Glück dieser Welt.

»Gebe Gott, dass sie durchkom-men«, murmelte der Kapitän.

Auf der ›North Ice‹ gab es nur noch neun Lebende. Der Rest der Besatzung war von den Monsterrob-ben auf grausigste Weise getötet worden.

Eine schreckliche Bilanz, und sie würde noch viel schrecklicher wer-den, bevor der Tag im Osten graute.

Lazare gab sich keiner Illusion hin. Sie hatten alle keine Chance mehr, waren dem Tod geweiht.

Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann sie sterben würden.

Die Killerrobben zertrümmerten die ›North Ice‹ systematisch. Zwei Jäger wurden von den Bestien in ihrem Versteck aufgestöbert.

Sie flohen über das Deck. »Hierher!«, rief ihnen Lazare zu.

»Kommt hierher!« Doch die Robben verstellten ihnen

den Weg zur Kommandobrücke, und Lazare musste im Schein des Flutlichts zusehen, auf welche grau-envolle Weise die Männer ihr Leben verloren.

Das war zu viel für die angegriffe-nen Nerven des Zweiten Maats.

Er jagte mehrere Kugeln durch den

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Lauf seines Gewehrs und brüllte: »Warum macht ihr nicht auch mit uns endlich Schluss, ihr verdamm-ten Bestien?«

Lazare packte den Zweiten Maat und schüttelte ihn. »Seien Sie still!«

»Ach, haben Sie auf diesem Toten-schiff immer noch das Sagen, Kapi-tän? Sie können sich an einer Hand abzählen, wie viele Befehle Sie mir noch erteilen können!«

»Halten Sie den Mund!« »Wir werden auf die furchtbarste

Weise krepieren, die man sich vor-stellen kann…«

Lazare schlug den Zweiten Maat ins Gesicht. »Mann, reißen Sie sich zusammen!«

»Ich bleibe keine Minute länger auf diesem schwimmenden Sarg!«, schrie der Zweite Maat. »Tony Noon und das Mädchen haben das einzig Richtige getan: Sie sind abgehauen, und auch ich werde mein Heil in der Flucht suchen!«

»Sie werden trotzdem sterben!« »Dann hab’ ich’s wenigstens ver-

sucht«, erwiderte der Zweite Maat. Er sprang von den Aufbauten hin-

unter. Sofort verfolgten ihn zwei Killer-

robben. Er schoss auf sie, doch seine

Kugeln prallten von ihren Körpern ab.

Er versuchte, ihnen in Richtung Bug zu entkommen. Dabei verfing sich sein Ölzeug im Gestänge der

Reling. Er konnte nicht mehr weiter. Verzweifelt versuchte er, von der

Reling loszukommen. Er riss und zerrte am Stoff, während die Tiere immer näher an ihn herankamen.

Aus nächster Nähe verfeuerte er seine letzten Patronen auf die Bes-tien. Dann drehte er das Gewehr um und schwang es wie eine Keule hoch.

Doch er hatte keine Chance. Die Monsterrobben sprangen ihn an, bis-sen zu, zerrten ihn auf die Planken, und dann fielen sie über den krei-schenden, wehrlosen Mann her, ris-sen ihn in Stücke.

Lazare bekam auch den Tod dieses Mannes mit.

Diese entsetzliche Belastung zerrte an seinen Nerven.

Nun verschonten die Killerrobben die Männer auf den Aufbauten nicht mehr länger. Von allen Seiten griffen die Tiere an.

Lazare und seine Männer wehrten sich verbissen.

Doch jeder von ihnen wusste, dass er auf verlorenem Posten kämpfte.

Ihnen allen war klar, dass sie den nächsten Sonnenaufgang nicht erle-ben würden.

Einen nach dem andern sah Robin Lazare sterben. Bald waren nur noch außer ihm zwei Männer am Leben.

Die Gewissheit, ohnedies sterben zu müssen, entmutigte ihn so sehr, dass er es aufgab, weiterzukämpfen.

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Er wollte seinen Tod nicht noch weiter hinausschieben, denn dieses lange Warten auf das Ende verkraf-teten seine zerschlissenen Nerven nicht mehr.

Sein Gesicht erstarrte zu einer unbewegten Maske. Er richtete sich auf und trat bis zum Rand der Auf-bauten vor.

Unten starrte die Robbenmeute zu ihm herauf. Die Bestien rissen ihre Mäuler hasserfüllt auf, doch Lazare hatte keine Angst mehr vor ihnen.

Er hoffte, dass es schnell gehen würde.

Dann schloss er die Augen und kippte langsam nach vorn.

Einen Sekundenbruchteil lang sah es so aus, als würde er in der Luft hängen bleiben.

Aber dann stürzte er mitten zwi-schen die Killerrobben.

Seine Hoffnung erfüllte sich nicht. Sein Tod war grausam und qualvoll.

Gellend hallten seine schrecklichen Schreie über die Weite des nächtli-chen Eismeers…

*

Die Robbenfront schob sich langsam näher an Tony Noon und das Mäd-chen heran.

Karen versuchte ihrem Ende tapfer entgegenzusehen.

»Ist es schwierig, zu sterben, Tony?«

»Ich weiß es nicht. Versuch nicht,

daran zu denken.« »Seltsam, ich habe noch nie daran

gedacht, was nach dem Tod sein wird. Was erwartet mich? Wie geht es nachher weiter? Geht es über-haupt weiter?«

»Die Religionen sagen Ja.« »Wie denkst du darüber?« »Ich glaube auch, dass mit dem

Tod für uns noch nicht alles aus ist.« »Ob wir beisammenbleiben dür-

fen?« »Schon möglich.« »Dann würde es mir nicht so viel

ausmachen…« »Denk nicht mehr daran, Karen.« »Ich muss, denn diese Killerrobben

werden uns noch in dieser Nacht töten, Tony.«

Eines der Robbenmonster setzte zum Angriff an.

Tony richtete seine Pistole auf die Bestie, und als das Tier losstürmte, feuerte er.

Aber er schoss in seiner Aufregung daneben, und erst der zweite Schuss setzte das Biest außer Gefecht.

Die Killerrobben wurden ungedul-dig. Sie wollten mit den beiden Men-schen endlich fertig werden.

Deshalb starteten sie einen massi-ven Angriff.

Tony schlug ihn mit seinen präpa-rierten Kugeln zurück.

»Wie viele Patronen hast du jetzt noch?«, fragte Karen zitternd.

»Acht.« »Das reicht nicht.«

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»Ich weiß.« »Es sind zwölf oder dreizehn Rob-

ben.« »Vielleicht geschieht ein Wunder«,

sagte Tony Noon. Die Killerrobben drängten nun auf eine Entschei-dung.

Immer wieder krachte Tonys Waffe, und jeder Schuss war jetzt ein Treffer.

Von den dreizehn Killerrobben blieben acht auf der Strecke, dann war auch das dritte Magazin leer geschossen, und Tony Noon ließ die Pistole achtlos fallen.

Die Waffe war wertlos geworden. Er legte seinen Arm um Karens

Mitte und drückte sie an sich. Er spürte, wie die Todesangst sie

schüttelte. Die fünf Schattenwesen näherten

sich ihnen mit hasssprühenden Augen.

Tony Noon stellte verwundert fest, dass die Tiere mit einem Mal nicht mehr so wendig waren.

Sie schleppten sich schwerfällig auf ihre Opfer zu, und jede Bewe-gung schien ihnen enorm viel Kraft abzuverlangen.

Was hatte das zu bedeuten? Wel-che wundersame Kraft lähmte die Robbenmonster?

Der anbrechende Tag war es! Im Osten war ein heller Streifen

am Horizont zu sehen. Die Zeit der Schattenwesen ging

zu Ende. Es war Zeit für sie, in das

Reich der Finsternis zurückzukeh-ren.

Doch das wollten sie noch nicht, denn ihre Gier nach Tonys und Karens Leben versuchte sich über die Gesetze, nach denen sie leben mussten, hinwegzusetzen.

Eine der Killerrobben schaffte es, vor den andern bei Karen und Tony zu sein.

Die beiden erstarrten und hielten sich fest umklammert. Sie waren bereit, gemeinsam zu sterben!

Doch als das Monster sie töten wollte, wurde es vom ersten Strahl der aufgehenden Sonne getroffen.

Der gleißende Lichtspeer traf diese und die vier anderen Bestien, und das Wunder, von dem Tony Noon gesprochen hatte, geschah.

Die Robben brachen heulend zusammen.

Sie wälzten sich unter unsäglichen Qualen auf dem Eis, während ihr Fell zu rauchen begann und auf-platzte.

Kochendes Fleisch kam zum Vor-schein.

Es war ein grauenvoller Anblick. Zuerst brachen ihre klumpigen

Leiber auf, dann fielen sie auseinan-der, doch schließlich blieb nichts mehr von ihnen übrig.

Auch die von Tony Noon getöte-ten Tiere lösten sich auf.

Es hatte den Anschein, als hätte es diese schrecklichen Bestien nie gege-ben.

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Karen brach erneut in Tränen aus. Diesmal weinte sie vor Freude und Glück. Sie fiel Tony schluchzend in die Arme.

Er stolperte und fiel mit ihr um, und sie rollten glücklich über das Eis.

*

Im Osten kletterte die grelle Sonne am Himmel hoch, und Tony hatte sich über ihr Erscheinen noch nie so sehr gefreut wie an diesem Morgen.

Der Tag hatte ihn und Karen geret-tet.

Sie standen auf. »Was nun?«, fragte Karen. »Wir müssen zur ›North Ice‹ zurück«, sagte Tony.

Das Mädchen erschrak. »Was willst du da?«

»Willst du tagelang über das Eis irren? Wir werden einen Funk-spruch absetzen und auf Rettung warten.«

»Vorausgesetzt, die Funkanlage ist noch intakt.«

»Wenn nicht, wird sich eines der Schiffe vom Konvoi auf die Suche nach der ›North Ice‹ machen wie es auch bei der ›Black Hunter‹ der Fall war.«

»Ich habe Angst vor dem, was wir auf der ›North Ice‹ vorfinden wer-den, Tony.«

»Wir müssen trotzdem zurück, weil wir keine andere Wahl haben. Vielleicht gibt es Überlebende.«

Tony Noon glaubte das zwar nicht, aber er sagte es wegen Karen, damit sie nicht länger zögerte, mit ihm zu gehen.

Es war ein weiter Weg bis zur ›North Ice‹. Als sie das Schiff erreichten, herrschte Totenstille.

Karen wich nicht von Tonys Seite. Diesmal berührten sie die vielen Toten mehr als damals, als sie mit auf die ›Black Hunter‹ gegangen war.

Denn mit diesen Leuten hatte sie eine Zeit lang zusammengelebt, sie hatte sie alle gekannt.

Tony musste einen zerfetzten, blu-tigen Leichnam von der Tür der Funkkabine fortzerren.

Er fummelte an dem Gerät so lange herum, bis er die richtige Fre-quenz erwischte, und dann setzte er seinen erschütternden Bericht ab, den er mit der Bitte verband, man möge Karen und ihn so rasch wie möglich von hier wegholen.

Gegen Mittag traf ein Schiff vom Konvoi ein.

Da sich der Vorfall von der ›Black Hunter‹ wiederholt hatte, blieb der Konvoi nicht länger in den Eisfel-dern der Labradorsee. Sie liefen ihren Heimathafen auf Neufundland an, und das Robbenschlachten hatte zumindest für dieses Jahr ein Ende.

Was keiner noch so aufrüttelnden Artikelserie im ›Big Star‹ gelungen wäre, hatte die Höllenmacht mit einem einzigen blutigen Schlag

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erreicht.�

*

Ein Jahr verging. Karen und Tony hatten geheiratet, und die Noons erwarteten Nachwuchs.

Als eines Abends Tony nach Hause kam, bemerkte er, dass seine Frau ernster war als sonst.

»Was hast du?«, fragte er. »Wir haben wieder März«, sagte

Karen. »Ein neuer Beginn der Rob-benfängersaison. Es werden wieder Schiffe zu den Robbenkolonien aus-laufen, und es wird alles wieder von vorn anfangen.«

»Wir haben mit unseren Berichten getan, was wir konnten, Karen. Jedermann weiß von den Gefahren, die in der Labradorsee lauern. Wenn die Schiffe trotzdem auslaufen, brauchen wir uns keine Vorwürfe zu machen.«

Tony nahm seine Frau in die Arme und küsste sie.

Sie wussten beide, dass sie das, was sie in den Eisfeldern des Nor-dens erlebt hatten, nie vergessen würden, aber sie nahmen sich vor, nie mehr davon zu sprechen, denn dann konnten sie wenigstens so tun, als hätten sie’s vergessen.

ENDE

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