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DANUSER, Hermann_Wie Schreibt Dahlhaus Geschichte

Date post: 10-Nov-2015
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Texto sobre Dahlhaus
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M u z y k a l i a VIII · Zeszyt niemiecki 2 Wie schreibt Dahlhaus Geschichte? Das Kapitel Lied-Traditionen (1814-1830) aus Die Musik des 19. Jahrhunderts H e r m a n n D a n u s e r Die Diskussion um Geschichtsschreibung innerhalb der Musikwissenschaft seit den 1970er Jahren wird zu einem schiefen Dialog, wenn auf der einen Seite Autoren, die selbst Musikgeschichten – mit welcher thematischen Eingrenzung auch immer – geschrieben haben, zu Fragen der Historik und Historiographie schweigen, als läge eine Methodenreflexion der eigenen Praxis außerhalb ihres Aufgabenfeldes, und auf der anderen Seite Autoren, die sich mit theoretischen und methodologischen Postulaten ausgiebig zu Worte melden, selbst gar keine eigene musikhistorische Produktion aufweisen, als würde solche Abstinenz die Glaubwürdigkeit ihrer Forderungen nicht empfindlich schmälern. Carl Dahlhaus – und auch darin gründet seine Wirkung auf die Musikwissenschaft – hat demgegenüber beide Seiten verbunden. Bei diesem Musikforscher und -schriftsteller, der in seinem akademischen Studium an der Universität Göttingen in den Jahren 1947-1952 in den Nebenfächern Deutsche Philologie und Kunstgeschichte studiert hatte, halten sich Theorie und Praxis, methodisches Denken und ausgeführte Geschichtsschreibung, in fruchtbarer Spannung die Balance. In diesem Beitrag will ich versuchen, das Verhältnis zwischen Historik und Historiographie bei ihm näher zu ergründen und es punktuell zu kommentieren. 1 Im Mittelpunkt stehen die beiden Bücher, die Dahlhaus selbst in diesem Sinne aufeinander bezogen hat: Grundlagen der Musikgeschichte (Köln 1977) bzw. Die Musik des 19. Jahrhunderts (Neues Handbuch der Musikwissenschaft 6, Wiesbaden und Laaber 1980). 2 Ihr Verhältnis suche ich aber nicht von oben nach unten so zu bestimmen, daß die Musikgeschichte zum Exemplum der Historik schrumpfte, sondern umgekehrt von unten nach oben, indem ich von der geschriebenen Erzählung, dem Narrativ, ausgehe und zum Horizont der Grundsätze, die das 1 Dieser Beitrag ist der deutsche Text des Vortrags Cómo escribe historia Dahlhaus? El capítulo ›Tradiciones del Lied (1814-1830)‹ de »La música del siglo XIX«, den ich auf freundliche Einladung von Juan José Carreras im Rahmen des Kolloquiums Música e historiografía en la obra de Carl Dahlhaus in Zaragoza Ende März 2003 gehalten habe. Er stellt die durch Fußnoten ergänzte und durch einen zusammenfassenden Schlußteil erweiterte originale Fassung des Textes dar. Um der Leserschaft den Bezug zum Dahlhausschen Text zu erleichtern, wird dieser nach der Ausgabe Carl Dahlhaus – Gesammelte Schriften in 10 Bänden hier im Anhang abgedruckt. Die Zitationen werden nicht mit Seitenangaben, sondern nach Absätzen nachgewiesen. Carl Dahlhaus, 19. Jahrhundert II: Theorie / Ästhetik / Geschichte: Monographien (Gesammelte Schriften, Bd. 5), hg. v. Hermann Danuser in Verbindung mit Hans-Joachim Hinrichsen und Tobias Plebuch, Redaktion: Burkhard Meischein, Laaber 2003, S. 102-109. Die Schriften von Carl Dahlhaus werden nach dieser Edition (GS mit Band und Seitenzahlen) zitiert, für weitere, hier nicht erfaßte Querverweise sollte das Sachregister im Supplementband zu Rate gezogen werden. Die Druckfassung dieses Textes wurde abgeschlossen vor dem anläßlich Dahlhaus’ 80.Geburtstag organisierten Internationalen Symposion Carl Dahlhaus und die Musikwissenschaft: Werk, Wirkung, Aktualität Mitte Juni 2008 in Berlin (Staatliches Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz und Humboldt-Universität), dessen Beiträge zum Druck gebracht werden sollen. Die von mir in diesem Rahmen geleitete Runde zum Thema Jenseits der New Musicology: Perspektiven der Musikhistoriographie umfaßt Beiträge von Birgit Lodes (Musikhistoriographie ohne Kunstwerke? Carl Dahlhaus und die Alte Musik), Juan José Carreras (Nationale Musikhistoriographie im europäischen Kontext), Reinhard Strohm (Der musikalische Werkbegriff in Moderne und Postmoderne) und Anne C. Shreffler (Zur Historiographie Neuer Musik nach 1945). 2 GS 1, S. 11-155; GS 5, S. 11-392. 1
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  • M u z y k a l i a VIII Zeszyt niemiecki 2

    Wie schreibt Dahlhaus Geschichte?Das Kapitel Lied-Traditionen (1814-1830)

    aus Die Musik des 19. Jahrhunderts

    H e r m a n n D a n u s e r

    Die Diskussion um Geschichtsschreibung innerhalb der Musikwissenschaft seit den 1970er Jahren wird zu einem

    schiefen Dialog, wenn auf der einen Seite Autoren, die selbst Musikgeschichten mit welcher thematischen

    Eingrenzung auch immer geschrieben haben, zu Fragen der Historik und Historiographie schweigen, als lge eine

    Methodenreflexion der eigenen Praxis auerhalb ihres Aufgabenfeldes, und auf der anderen Seite Autoren, die sich mit

    theoretischen und methodologischen Postulaten ausgiebig zu Worte melden, selbst gar keine eigene musikhistorische

    Produktion aufweisen, als wrde solche Abstinenz die Glaubwrdigkeit ihrer Forderungen nicht empfindlich

    schmlern. Carl Dahlhaus und auch darin grndet seine Wirkung auf die Musikwissenschaft hat demgegenber

    beide Seiten verbunden. Bei diesem Musikforscher und -schriftsteller, der in seinem akademischen Studium an der

    Universitt Gttingen in den Jahren 1947-1952 in den Nebenfchern Deutsche Philologie und Kunstgeschichte studiert

    hatte, halten sich Theorie und Praxis, methodisches Denken und ausgefhrte Geschichtsschreibung, in fruchtbarer

    Spannung die Balance. In diesem Beitrag will ich versuchen, das Verhltnis zwischen Historik und Historiographie bei

    ihm nher zu ergrnden und es punktuell zu kommentieren. 1

    Im Mittelpunkt stehen die beiden Bcher, die Dahlhaus selbst in diesem Sinne aufeinander bezogen hat:

    Grundlagen der Musikgeschichte (Kln 1977) bzw. Die Musik des 19. Jahrhunderts (Neues Handbuch der

    Musikwissenschaft 6, Wiesbaden und Laaber 1980). 2 Ihr Verhltnis suche ich aber nicht von oben nach unten so zu

    bestimmen, da die Musikgeschichte zum Exemplum der Historik schrumpfte, sondern umgekehrt von unten nach

    oben, indem ich von der geschriebenen Erzhlung, dem Narrativ, ausgehe und zum Horizont der Grundstze, die das

    1 Dieser Beitrag ist der deutsche Text des Vortrags Cmo escribe historia Dahlhaus? El captulo Tradiciones del Lied (1814-1830) de La msica del siglo XIX, den ich auf freundliche Einladung von Juan Jos Carreras im Rahmen des Kolloquiums Msica e historiografa en la obra de Carl Dahlhaus in Zaragoza Ende Mrz 2003 gehalten habe. Er stellt die durch Funoten ergnzte und durch einen zusammenfassenden Schluteil erweiterte originale Fassung des Textes dar. Um der Leserschaft den Bezug zum Dahlhausschen Text zu erleichtern, wird dieser nach der Ausgabe Carl Dahlhaus Gesammelte Schriften in 10 Bnden hier im Anhang abgedruckt. Die Zitationen werden nicht mit Seitenangaben, sondern nach Abstzen nachgewiesen. Carl Dahlhaus, 19. Jahrhundert II: Theorie / sthetik / Geschichte: Monographien (Gesammelte Schriften, Bd. 5), hg. v. Hermann Danuser in Verbindung mit Hans-Joachim Hinrichsen und Tobias Plebuch, Redaktion: Burkhard Meischein, Laaber 2003, S. 102-109. Die Schriften von Carl Dahlhaus werden nach dieser Edition (GS mit Band und Seitenzahlen) zitiert, fr weitere, hier nicht erfate Querverweise sollte das Sachregister im Supplementband zu Rate gezogen werden. Die Druckfassung dieses Textes wurde abgeschlossen vor dem anllich Dahlhaus 80.Geburtstag organisierten Internationalen Symposion Carl Dahlhaus und die Musikwissenschaft: Werk, Wirkung, Aktualitt Mitte Juni 2008 in Berlin (Staatliches Institut fr Musikforschung Preuischer Kulturbesitz und Humboldt-Universitt), dessen Beitrge zum Druck gebracht werden sollen. Die von mir in diesem Rahmen geleitete Runde zum Thema Jenseits der New Musicology: Perspektiven der Musikhistoriographie umfat Beitrge von Birgit Lodes (Musikhistoriographie ohne Kunstwerke? Carl Dahlhaus und die Alte Musik), Juan Jos Carreras (Nationale Musikhistoriographie im europischen Kontext), Reinhard Strohm (Der musikalische Werkbegriff in Moderne und Postmoderne) und Anne C. Shreffler (Zur Historiographie Neuer Musik nach 1945).2 GS 1, S. 11-155; GS 5, S. 11-392.

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  • M u z y k a l i a VIII Zeszyt niemiecki 2

    Einzelne tragen, weite. Veranlat durch einen eigenen Forschungsschwerpunkt 3, greife ich aus dem letztgenannten

    Werk den Abschnitt Lied-Traditionen aus Kapitel I: 1814-1830 heraus, der sich mit Schubert und der Genese des

    romantischen Liedes beschftigt, und beleuchte diesen Text, ein Beispiel fr Dahlhaus

    Musikgeschichtsschreibung, vor dem Hintergrund der in den Grundlagen skizzierten Geschichtstheorie. Damit die

    Analyse verstndlich wird, folge ich der Gliederung des Textes und fasse die Abstze des Kapitels in meinem

    Kommentar in sechs Sektionen zusammen.

    Das Verhltnis beider Bcher ist nicht eindimensional: Weder kodifiziert die Historik der Grundlagen

    nachtrglich eine bereits abgeschlossene musikhistoriographische Arbeit, noch setzt Die Musik des 19. Jahrhunderts ein

    vorgngig formuliertes theoretisches Konzept pragmatisch um. Beide Bereiche Historik und Historiographie sind

    vielmehr selbstndig, aber auch in Wechselwirkung aufeinander bezogen. Dies wird noch deutlicher sichtbar, wenn

    wir den Kreis der Quellen in Dahlhaus uvre erweitern, wie es die in den Jahren 2000-2008 im Laaber-Verlag

    erschienene Ausgabe Carl Dahlhaus Gesammelte Schriften in 10 Bnden ermglicht, deren erster Band (Allgemeine

    Theorie der Musik I: Historik Grundlagen der Musik sthetik) auer dem Buch Grundlagen der Musikgeschichte

    noch 18 weitere Texte des Autors zur Historik vereinigt. Fr ein Verstndnis des Abschnitts Lied-Traditionen sind

    darber hinaus die Aufstze Zur Problematik der musikalischen Gattungen im 19. Jahrhundert und Traditionszerfall

    im 19. und 20. Jahrhundert einschlgig 4, in denen der Autor die Idee eines Systemcharakters der musikalischen

    Gattungen entwickelt und die Erosion von Tradition untersucht.

    Abschlieend werde ich die Resultate der Untersuchung noch in dem Sinne kontextualisieren, da ich

    nach deren Stellenwert innerhalb jngerer Paradigmata der Musik- und Geschichtswissenschaft frage. Dahlhaus, ein

    herausragender Musikhistoriker des 20. Jahrhunderts, bedarf zwei Jahrzehnte nach seinem Tode keiner Apologie.

    Unsere Aufgabe ist es vielmehr, in Kenntnis seiner Leistungen nach eigenen Wegen zu suchen, wozu nur eine kritische

    Lektre beitragen kann

    I. Ist aller Anfang schwer? (Abs. 1)

    In Grundlagen der Musikgeschichte illustriert Dahlhaus die Frage nach dem Anfang bei Geschichtsschreibung durch

    ein Exemplum aus dem hier einschlgigen Gegenstandsbereich: Wenn etwa der Satz, da am 19. 10. 1814 Franz

    Schubert Gretchen am Spinnrade komponierte, den Anfang eines musikgeschichtlichen Kapitels bildet, so ist er

    keineswegs eine bloe Mitteilung, deren Sachgehalt sich in dem erschpft, was sie unmittelbar sagt. Die uere

    Stellung des scheinbar unverfnglich deskriptiven, in Wahrheit jedoch von einem Deutungssystem getragenen Satzes

    ist vielmehr Ausdruck einer Behauptung ber den Ursprung des romantischen Liedes. Da er aus seiner Position durch

    einen Bericht ber die Entstehung eines Liedes von Weber oder Spohr verdrngt werden knnte, ist kaum vorstellbar. 5

    3 Die beiden hier thematisierten Bcher von Carl Dahlhaus waren der wichtigste Referenzpunkt fr mein Buch Die Musik des 20. Jahrhunderts, das erstmals 1984 im Laaber-Verlag erschienen ist. Beim Dahlhaus-Kolloquium in Zaragoza 2003 bezog ich mich allerdings auf ein damals laufendes gattungshistorisches Editionsprojekt, das 2004 unter dem Titel Musikalische Lyrik (Bd. 8,1 und 8,2 in der von Siegfried Mauser herausgegebenen Reihe Handbuch der musikalischen Gattungen) im Laaber-Verlag verffentlicht wurde.4 Carl Dahlhaus, Zur Problematik der musikalischen Gattungen im 19. Jahrhundert, in: Gattungen der Musik in Einzeldarstellungen. Gedenkschrift Leo Schrade, hg. v. Wulf Arlt (u. a.), Bern/Mnchen 1973, S. 840-895 (GS 6, S. 377-433); Carl Dahlhaus, Traditionszerfall im 19. und 20. Jahrhundert, in: Studien zur Tradition in der Musik. Kurt von Fischer zum 60. Geburtstag, hg. v. Hans Heinrich Eggebrecht und Max Ltolf, Mnchen 1973, S. 177-190 (GS 1, S. 180-195).5 Grundlagen der Musikgeschichte, in: GS 1, S. 47. Das Datum beruht auf der Tatsache, da Schubert eine Reinschrift des Liedes auf diesen Tag datiert hat. Dieser locus classicus der Historiographie liest sich zum Beispiel bei Paul Stefan (Franz Schubert, Berlin 1928, S. 112) wie folgt: Und drei Tage nach diesem Lied [Das Mdchen aus der Fremde], am 19.Oktober 1814 Schubert paukte wohl schon mit den Schulbuben , ist ein erstes Liedwerk hchster Meisterschaft da, eben die erste Komposition nach Goethe:

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    In der Tat knnte in Dahlhaus Historie der zitierte Satz, der eine ereignisgeschichtliche Tatsache kein

    Datum darstellt, kaum den Beginn der Erzhlung bilden. 6 Er formuliert ein Faktum, Dahlhaus aber schreibt

    Geschichte nicht berichtend, sondern reflektierend. Die Vorstellung, eine musikhistorische Epoche sei durch die

    Komposition eines bahnbrechenden Werkes ber Nacht initiiert worden, wre fr Dahlhaus, der die Exzesse einer

    Heroengeschichtsschreibung bekmpfte, fr welche Komposition und Auffhrung epochaler Werke einem

    Schlachtverlauf entsprechen, wenig berzeugend gewesen. Die Komposition von Gretchen am Spinnrade durch

    Schubert wird in seinen Lied-Traditionen denn auch als ereignisgeschichtliches Faktum nicht mehr direkt erwhnt,

    wohl aber durch die Nennung der Jahreszahl beim Werk indirekt vorausgesetzt. Das Werk hat sich von seiner Genese

    gelst, es ist zu einem isolierten Objekt der Geschichtsschreibung geworden.

    Zu einer reflektierenden Historiographie gehrt es, da man nicht mit der Tr ins Haus fllt. Gretchen am

    Spinnrade wird denn auch und darin erweist sich Dahlhaus als ein Konservativer, der den Kanon interpretiert, aber

    nicht umstrzt im 5. Absatz an eine Stelle des Kapitels gesetzt, wo es in der Flle der Kontextualisierung ganz

    anders zu sprechen beginnt als zu Beginn einer historischen Narration.

    Wie fngt demgegenber das Kapitel Lied-Traditionen an? Die Gewohnheit, Franz Schubert als

    romantischen Klassiker zu apostrophieren, drckt einerseits aus, da die geschichtliche Nhe zu Beethoven vor

    allem zu den Werken zwischen opus 74 und 97 ebenso fhlbar ist wie die zu Schumann, besagt jedoch auch, da

    Schubert als romantischer Komponist zum Klassiker des Liedes geworden ist.

    Ein solcher Erffnungssatz soll Fragen mehr stimulieren als beantworten; Vagheit und Ambivalenz zeigen

    seine Initialfunktion an. Da Dahlhaus statt mit einem unwiderlegbaren Faktum mit einer historiographischen

    Hypothese in der Nhe eines Paradoxons beginnt, offenbart gleich zu Beginn, da seine Art, Geschichte der Musik zu

    schreiben, sich weniger auf Daten als auf frhere Narrationen bezieht. Zwei Hypothesen erlutern die Initiale

    romantischer Klassiker: 7 einerseits die diachrone Positionierung Schuberts zwischen Beethoven und Schumann,

    die, scheinbar problemlos, ins Wanken gert, wenn man sich klarmacht, da Beethoven selbst von E. T. A.Hoffmann

    als Romantiker nicht als Klassiker bezeichnet wurde und Schumann in seiner Liedkunst nur sehr bedingt an

    Schubert anschlo; andererseits der Tropus von Schubert als einem Klassiker des Liedes, hier przisiert durch das

    Attribut romantischer Komponist. Diese Formel hat Dahlhaus in Grundlagen systematisch skizziert, ohne dort

    allerdings auf den Klassiker des Liedes Schubert hinzuweisen. 8 Der erste Absatz von Lied-Traditionen kndigt

    programmatisch das Ziel des Kapitels an: Und von der Mannigfaltigkeit der Traditionen, nicht von der Einheit einer

    Liedidee mu ein Versuch ausgehen, den geschichtlichen Charakter des Schubert-Liedes wie des europischen

    Kontextes, von dem es sich abhob, zu erfassen. Schuberts Klassizitt resultiert nicht aus einer etablierten Norm, einem

    fixen Modell auch der Musikwissenschaftler Dahlhaus verfolgte keine bestimmte Agenda, kein Projekt 9 ,

    sondern grndet in einer Mannigfaltigkeit von Traditionen, die zu schildern Aufgabe des nun folgenden Kapitels ist.

    Gretchen am Spinnrad. Dieser 19.Oktober war nach Bie [Oscar Bie, Franz Schubert: sein Leben und sein Werk, Berlin 1925]der Geburtstag des neuen deutschen Liedes.6 Zur Unterscheidung zwischen Datum und Faktum vgl. a. a.O., S. 38-48.7 In Alfred Einsteins Buch Die Romantik in der Musik findet sich beispielsweise die Kapitelberschrift Der romantische Klassiker: Schubert (Vaduz 1950, S. 107-124).8 Grundlagen der Musikgeschichte, in: GS 1, S.93 f. Einem Vortragszyklus der Hochschule fr Musik und Theater Hannover im akademischen Jahr 1984/85 lag dieser Gedanke zugrunde; vgl. Gattungen der Musik und ihre Klassiker, hg. v. Hermann Danuser, Laaber 1988; darin Elmar Budde, Franz Schubert und das Lied. Zur Rezeptionsgeschichte des Schubert-Liedes, S. 235-250.9 Vgl. James Hepokoski, The Dahlhaus Project and Its Extra-musicological Sources, in: 19th-Century Music 14 (1991), S. 221-246.

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    II. Beethoven im Hintergrund (Abs. 2)

    In Grundlagen der Musikgeschichte argumentiert Dahlhaus deutlich gegen jene Form der

    Heroengeschichtsschreibung, deren Niederschlag in der Musikhistoriographie die Orientierung an den groen

    Komponisten bildet, doch hebt er zugleich durch Zitation des Alfred Einsteinschen Buchtitels Gre in der Musik die

    historische Relevanz dieser Kategorie gegenber einer Wertdifferenzen nivellierenden Sozialgeschichtsschreibung

    hervor. 10 Es stellt sich daher die Frage, aus welchen Grnden und zu welchen Zwecken Dahlhaus im zweiten Absatz

    von Lied-Traditionen, um einen geschichtlichen Kontext fr das Schubertsche Lied zu skizzieren, die allgemeine

    gattungsgeschichtliche Situation des Liedes personalisiert und ohne weitere Begrndung, als wre Beethoven selbst

    Grund genug an Schuberts lterem Wiener Kollegen exemplifiziert. Ziel ist, im Sinne einer Einleitung, dreierlei:

    Erstens kann damit nach den beiden explizit Beethoven gewidmeten Kapiteln aus Die Musik des 19. Jahrhunderts

    (Beethoven-Mythos und Wirkungsgeschichte, Beethovens Sptstil 11) ein Gattungsfeld des Komponisten

    ergnzend nachgetragen werden, das zu seinen Lebzeiten eine viel grere Bedeutung besa als heute. Zweitens bietet

    das im Blick auf Schubert verfolgte Ziel die Chance, die Vielfalt auch des Beethovenschen Liedschaffens

    eindrcklich herauszustellen. Und drittens wohl der unmittelbare historiographische Grund verschafft dieser Ansatz

    dem Autor die Mglichkeit, die um 1800 gegebene gattungsgeschichtliche Vielfalt am uvre eines einzigen

    Komponisten aufzuzeigen Die Skala dessen, was ein Band mit Beethovens Smtlichen Liedern umfat,

    erstreckt sich . . . heit es bei Dahlhaus , so da die Wahl Beethovens mit ihrem quellenmigen Fokus die

    Geschichte fast von selbst zum Sprechen bringt, whrend eine historische Rekonstruktion, die verschiedene

    Komponisten bercksichtigte, solcher Evidenz entbehrte und den Ruch einer heterogenen, zuflligen Auswahl trge.

    Die von Dahlhaus in diesem zweiten Absatz aufgerufenen Lieder und Gesnge Beethovens erstrecken

    sich von vor 1793 12 (das Lied im Volkston Das Blmchen Wunderhold, op. 52,8) bis 1813 13 (die Ode An die

    Hoffnung, op. 94) und umfassen so verschiedene Gattungen wie Scena ed Aria, Ariette, Kavatine, Ode und weitere

    Lied- bzw. Gesangsformen. Der Anfangssatz des Abschnitts setzt Beethoven gegenber Schubert im Blick auf

    geschichtli-

    chen Kontext und sthetischen Abstand in eine doppelte Wertperspektive: Wer den Beethovenschen Liedern und

    Gesngen, die fr den geschichtlichen Kontext des Schubert-Liedes durchaus reprsentativ sind, gerecht werden

    mchte, darf die Tatsache, da Beethoven ihnen geringere Bedeutung zuma als anderen Gattungen, nicht ohne

    weiteres mit dem Eindruck eines fhlbaren sthetischen Abstands zur Schubertschen Liedidee zu dem historischen

    Urteil verquicken, das Lied sei bei Beethoven noch unentwickelt. Dahlhaus sprachliche Strategie, Beethoven

    immer den Plural (Lieder und Gesnge), Schubert jedoch den Singular (das Schubert-Lied, die Schubertsche

    Liedidee) zuzuweisen, lt sein Vorsichtsschild zusammenschmelzen. Wenn der Kollektivsingular dem Klassiker des

    Liedes, Franz Schubert, vorbehalten bleibt wie der mit Dahlhaus befreundete Historiker Reinhart Koselleck beim

    Geschichtsbegriff selbst eine Singularisierung (von Geschichten zu der Geschichte) in der Sattelzeit des

    ausgehenden 18. Jahrhunderts erkannt hatte 14 , wre zu prfen, inwieweit solche Begriffe nicht zu der von Dahlhaus

    abgelehnten Idee eines Schubert-Liedes hinberschillern. Dieser zweite Absatz erfllt eine historiographische

    10 Grundlagen der Musikgeschichte, in: GS 1, S. 17-19.11 GS 5, S. 82-95.12 So bei Dahlhaus datiert; bei MGG 2, Personenteil 2, Sp. 795 f. etwas spter angesetzt: um (vor?) 1795.13 Dahlhaus nimmt nach Kinsky-Halm mit 1813 das Jahr eines Entwurfs fr Beethovens zweite Komposition dieses Gedichts. In MGG 2 (a. a.O., Sp. 799) ist die Entstehungszeit auf 1815 angesetzt, 1816 erschien das Lied im Druck.14 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 19842, S. 47-66.

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    Funktion fr das ganze Kapitel, an die Stelle der Schubertschen Liedidee vielfltige Lied Traditionen zu setzen,

    was hier an Beethovens Lied-uvre auf knappstem Raum gezeigt wird. Der Begriff geschichtlicher Kontext des

    Schubert-Liedes wirft allerdings die Frage auf, ob eher ein synchron-simultaner oder ein diachron-aufgefcherter

    Kontext geltend gemacht werde. Die erwhnte Selektion gibt zur Antwort: ein diachron-aufgefcherter Kontext. Der

    historische Zeitrahmen des Buches, mit dem das 19. Jahrhundert anno 1814 beginnt, wird in diesem Fall um zwanzig

    Jahre zurckversetzt, um einen angemessenen temporalen Tiefengrund zu gewinnen. Der Konzentration auf

    Beethoven fallen andere wichtige Liederkomponisten der Epoche wie Johann Friedrich Reichardt zum Opfer. Der

    historiographischen Absicht, eine Einleitung mit Beethoven im Hintergrund zu schreiben, ohne diesen zum Vorlufer

    Schuberts zu stempeln, werden sogar wichtige Teile des Beethovenschen Lied-uvres selbst geopfert. Da

    Dahlhaus nicht nach den Funktionen der aufgerufenen Lied-Gattungen und deren Sitz im Leben fragt 15, teilt dieser

    Absatz mit dem gesamten Kapitel, ja mit dem autonomiesthetischen Fundament seiner Musikgeschichte des 19.

    Jahrhunderts im ganzen. Es hat dies zur Konsequenz, da die verschiedenen Gattungen des Liedes vor allem formal

    bestimmt werden, statt da ber die dichterischen Inhalte und Zweckbestimmungen ihr Kunstgehalt ermittelt wrde.

    Dahlhaus Weigerung, Beethovens angestammte Vorlufer-Rolle innerhalb der Lied-Gattung mit

    ausgleichender Gerechtigkeit gegenber dessen titanenhafter berlegenheit in der Instrumentalmusik fortzuschreiben,

    entspricht seiner Kritik am historiographischen Organismus-Denken, das die frhere Stilgeschichtsschreibung bei

    Guido Adler beherrschte. 16Indem Dahlhaus die einzelnen Gattungstypen aus konkret aufgerufenen Werken bzw.

    Liedern herleitet, schafft er einen knappgefaten berblick ber ein Gattungssystem in nuce mit einer aufflligen

    Auslassung: Ausgerechnet Beethovens grtes lyrisches Werk, der Zyklus An die ferne Geliebte, bleibt unerwhnt;

    bereits im ersten Satz des Kapitels hatte Dahlhaus den Radius des Beethovenschen Schaffens bis op.97, zum

    Klaviertrio in B-Dur, gezogen, nicht aber bis op.98, diesem Liederkreis. Warum? An anderer Stelle des Kapitels

    I wird von diesem Zyklus wie von anderen Beethovenschen Vokalwerken als von einem Einzelwerk gesprochen,

    das nicht den Status eines klassischen Musterwerkes der Liedgattung einnehme, den Schubert, nicht Beethoven

    bestimmt habe. 17 Das Argument, obzwar richtig, begrndet nicht, warum dieses Werk innerhalb eines berblicks, der

    den Beethovenschen Liedern und Gesngen . . . gerecht werden mchte, ausgespart wird. Da der historiographische

    Zweck einer Einleitung eine allzu groe Differenzierung ausschliet, mute der Autor dem Erzhlzweck, eine Folie an

    Diversitt fr die nachfolgende Schubert-Darstellung zu schaffen, bewut eine Grenze setzen. Beim

    interessantesten, aber auch kompliziertesten Werk einer Beziehung zwischen Beethoven und Schubert htten sich die

    Probleme konkreter rezeptionshistorischer Forschung wohl nicht mehr im Rahmen einer Strukturgeschichte lsen

    lassen, welche zwar diachrone Elemente enthlt (die Jahreszahlen der erwhnten Lieder werden genannt), die

    Chronologie jedoch nicht zur Richtschnur des Erkenntnisinteresses macht, sondern diverse Liedtypen im Raum einer

    Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 18 ins Auge fat, ohne einen historischen Proze zu schildern.

    15 Vgl. Grundlagen der Musikgeschichte, in: GS 1, S. 32 f.; auch Heinrich W. Schwab, Musikalische Lyrik im 18. Jahrhundert bzw. Norbert Miller, Das Lied in der Lyrik des 18. Jahrhunderts, in: Musikalische Lyrik, hg. v. Hermann Danuser (= Handbuch der musikalischen Gattungen, Bd. 8), Laaber 2004, Teil 1, S. 349-407 bzw. S. 408-434.16 Grundlagen der Musikgeschichte, in: GS 1, S. 22-26.17 Die Musik des 19. Jahrhunderts, in: GS 5, S. 85.18 Vgl. Grundlagen der Musikgeschichte, in: GS 1, S. 120f.; sowie Dahlhaus Rede zur Annahme des Frankfurter Musikpreises, a. a.O., S. 324-330.

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    III. Exemplum im Strukturraum oder: Wie wird Gretchen am Spinnrade kontextualisiert? (Abs. 3-6)

    Wenn Dahlhaus historische Narration, wie angedeutet, nicht mit Gretchen am Spinnrade direkt einsetzen kann, stellt

    sich nun die Frage, auf welche Weise er verfhrt, um diesem Markstein der Gattungsgeschichte Schuberts Opus 2

    einen angemessenen Kontext zu verschaffen. Die Antwort auf diese Frage erstreckt sich ber nicht weniger als vier

    Abstze.

    In Abs. 3 ffnen zeitgenssische Quellen einen historischen Raum. Die an Beethovens uvre aufgezeigte

    Vielfalt von Liedtypen, die einer keineswegs leicht berschaubaren Landschaft gleicht, erscheint zum Kontrast

    zweier Pole geformt, um mit einem dialektischen Bewegungsmodell einen historischen Proze veranschaulichen

    zu knnen. In den drei Quellen wird ein eigentliches Lied (Quellen von 1824, 1826) bzw. ein allgemein

    lyrischer Charakter (Quelle von 1801) gattungskonstituierend anderen Formen entgegengestellt, in den beiden

    erstgenannten, auf Schubert bezogenen Quellen freyen Gesngen, Capricen oder Phantasien (1824) bzw.

    durchkomponirten Stcken (1826), in der dritten Quelle einem sogenannten Durch-Komponieren der

    Lieder (1801).

    Auffllig an den drei Zitaten ist zunchst, da Dahlhaus hier das Tempus wechselt. Obwohl das Prsens,

    in dem die Beethoven-Landschaft der Smtlichen Lieder als ein Gattungssystem im Raum eines edierten Bandes

    sichtbar gemacht wird, fr die Zitation einer publizierten Quelle, deren Text heute noch gleich lautet wie am Tag

    ihrer Verffentlichung, htte beibehalten werden knnen, nimmt Dahlhaus hierfr in Abs. 3 die Vergangenheitsform:

    ber Schubert hie es 1824 . . .. 19 Das Imperfektum offenbart die Funktion des Abschnitts, einen Hintergrund fr die

    historische Erzhlung der Schubertschen Entwicklungsgeschichte zu schaffen. Die zitierten Quellen, so bedeutend

    sie sind, fungieren nicht als ein Zweck, der eine auch nur in Grundzgen erschpfende Erluterung verdiente.

    Setzte sie Dahlhaus eigenwertig in die Narration ein, so mte er sie auf ganz andere Weise historisch untersuchen. Bei

    den beiden erstgenannten Zitationen aus der Allgemeinen Musikalischen Zeitung mten Grundregeln der historischen

    Rezeptionsforschung angewandt werden, indem zumindest die Quelle, der Autor der Rezension sowie ihr

    Gegenstand welche Lieder Schuberts hier zur Sprache gelangen nher zu beschreiben gewesen wren. All dies

    findet nicht statt, die Zitate dienen statt der historischen Forschung der Historiographie. Sie evozieren einen

    allgemeinen Hintergrund, vor dem in den nachfolgenden Abstzen die Geschichte sich prozehaft verdichten lt.

    Anhand des ersten Zitates (Hr. Fr. S. schreibt keine eigentlichen Lieder und will keine schreiben . . ., sondern freye

    Gesnge, manchmal so frey, da man sie allenfalls Capricen oder Phantasien nennen kann) liee sich zwar mit der

    rezeptionstheoretischen Kategorie sthetische Distanz (Hans Robert Jau 20) eine Nhe Schuberts zu einer Eroica-

    Rezension von 1805 aufzeigen 21, welche diese Symphonie als Phantasie bestimmt, doch jede theoretische

    berfrachtung wrde den historiographischen Zweck der Passage, einen Hintergrund fr das Folgende zu stiften, nur

    beeintrchtigen. Verglichen mit den Erfordernissen einer przisen Historie nutzt die Historiographie hier Vagheit als

    Mittel.

    Dem entspricht die Tatsache, da die drei Zitate nicht in chronologischer Reihenfolge erscheinen, sondern von

    1824 und 1826 auf 1801 zurckgreifen. Diese schlichte, aber wirksame Manahme steht einer oberflchlichen Ursache-

    19 Kursivierung nicht original.20Hans Robert Jau, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: Rezeptionssthetik. Theorieund Praxis, hg. v. Rainer Warning, Mnchen 1975, S. 126-162, hier S. 133-136.21 Da heit es in einem Konzertbericht: Diese lange, fr die Ausfhrung uerst schwierige Komposition ist eigentlich eine sehr weit ausgefhrte, khne und wilde Phantasie. Allgemeine musikalische Zeitung 8 (1805), Sp. 321, zit. n.: Ludwig van Beethoven. Die Werke im Spiegel seiner Zeit. Gesammelte Konzertberichte und Rezensionen bis 1830, hg. v. Stefan Kunze, Laaber 1987, S. 50.

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    Folge-Mechanik im Wege und schafft, indem sie die Quellen zur Schubert-Rezeption mit einer Goethe-Quelle aus einer

    Zeit verbindet, da Schubert noch ein Kleinkind war, unangestrengt einen Eindruck historischer Raumtiefe. Die zitierten

    Quellen dienen dem Zweck, die berwindung des eigentlichen Liedes durch Schubert, der einen anderen Typus

    schuf, plastisch herauszuarbeiten (ohne ihn aber unter Referenz auf die Dedikation von Opus1, Der Erlknig,

    in bekannter Weise gegen Goethe zu kontrastieren).

    Abs. 4 markiert sodann den bergang zum Schubertschen Komponieren, der erste Satz verankert die zuvor

    allgemein aufgerufene gattungssthetische Dichotomie zwischen unvariiertem, reinem Strophenlied und

    durchkomponiertem Gesang in Schuberts uvre: Unter Schuberts frhesten Gesngen finden sich Strophenlieder wie

    Der Jngling am Bache (1812), die Goethes Liedsthetik entsprechen, neben lyrisch-dramatischen Szenen wie

    Hagars Klage (1811), die einer anderen Gattung angehren . . . Dann erfolgt der entscheidende Schritt der

    entwicklungsgeschichtlichen Narration: Die Liedformen aber, zu denen sich Schubert um 1814 vortastete, sind weder

    durch das eine noch durch das andere Extrem geprgt. Auch hier geht es um Erzhlung, um Historiographie,

    nicht um ein historisches Bild im ganzen, zu dem die von Schubert vor Opus1 und Opus 2 geschriebenen Lieder

    gehren wrden, wie auch ein Hinweis darauf, da sich noch im Zyklus Die schnenMllerin (1823) nicht wenige

    unvariierte Strophenlieder finden. Darum geht es hier nicht. Der Geschichtsschreiber mu aus Fakten rigoros

    selektieren, um seine Geschichte zu erzhlen. Und Dahlhaus Narration bereitet den Zentralschauplatz vor, in dem

    das hier erst Angedeutete durch Interpretation eines Werkes konkretisiert wird.

    So verdichtet sich in Abs. 5 die Erzhlung geradezu dramatisch zu einem Knoten, der einen Hhepunkt im

    Kapitel darstellt: Gretchen am Spinnrade (op. 2). Der Autor, der seinen Hegel gelesen hat, weist diesem Lied nicht

    einfach einen Ort innerhalb eines Panoramas zu, das wie an Beethoven erlutert auch andere Modelle kennt. Fr

    einen Moment wird Kunst- zu Ereignisgeschichte, indem Schubert zwei einander gegenberstehende Lied-modelle im

    Jahre 1814 zu einer dialektischen Entwicklung nutzt und Gretchen am Spinnrade hervortreibt. Aber Dahlhaus steht

    einer Ereignisgeschichtsschreibung, wie in Grundlagen dargelegt 22, allzu skeptisch gegenber, als da er diese

    Mglichkeit narrativ zu einem historischen Faktum stilisierte. Er versteckt den historischen Proze in einer

    bloen Hypothesenstruktur:Wer nach einer entwicklungsgeschichtlichen Formel sucht, knnte behaupten, da aus dem

    zunchst unvermittelten Nebeneinander von Durchkomposition und Strophik einem Nebeneinander, das in einer

    Differenz der Gattungstraditionen begrndet war schlielich 1814, in Gretchen am Spinnrade (op. 2), eine fr die

    Geschichte des Liedes im 19. Jahrhundert entscheidende Vermittlung hervorgegangen sei: eine von strophischer

    Simplizitt wie von Detailstckelung gleich weit entfernte, zwischen zyklischer Anlage und variiertem Strophenlied in

    der Schwebe gehaltene musikalische Form.

    Das Werk wird also nicht einfach als Beispiel prsentiert, es wird gedrngt, ja schlagend prgnant eingefhrt.

    Es folgt eine knappe Skizze der Form (ABACADA 23); auf den Ort und die Figuration des Strophengedichts im

    ersten Teil von Goethes Tragdie Faust auch auf die Frage, ob Goethe es fr Musik als gesungenes Lied oder fr

    Sprache als Monolog gedacht hatte geht Dahlhaus aber nicht ein. Wenn sich die Diachronie zum historischen Knoten

    schrzt, dann sieht sich der strukturgeschichtliche Ansatz allerdings mit der Frage konfrontiert, ob nicht diese

    Schilderung von Opus 2 genau das in Absatz1 der lteren Liedgeschichtsschreibung Vorgeworfene tue: eine einzige

    Liedidee fr das Schubert-Lied zu skizzieren.

    22 Grundlagen der Musikgeschichte, in: GS 1, S. 124-142.23 Vgl. Albrecht Riethmller, A-A, A-A' und A-B, in: Vom Erkennen des Erkannten. Musikalische Analyse und Editionsphilologie. Festschrift fr Christian Martin Schmidt, hg. v. Friederike Wimann (u. a.), Wiesbaden 2007, S. 27-32.

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    Um dem mglichen Einwand entgegenzutreten, nimmt Dahlhaus in Abs. 6 die Emphase, die er dem Lied

    Gretchen am Spinnrade zugewiesen hatte, wieder zurck. Die eben geuerte Modell-These sei ungengend, es

    handele sich eher um die Konfiguration eines Problems. Nur eine auf Daten und uerliche Fakten fixierte

    Musikhistoriographie knnte eine solche Revokation verwerfen, die reflektierende jedoch, die Dahlhaus favorisiert,

    besttigt damit ihre narrative berlegenheit, denn ein durchgehender Argumentationszug schtzt sie vor einer blo

    kumulierenden Faktenhufung.

    IV. Gattungssthetischer Idealtypus mit drei Exempeln (Abs. 7-11)

    An dieser Stelle seiner Erzhlung steht Dahlhaus vor der Schwierigkeit, einerseits nach einer einheitlichen

    Geschichtsschreibung zu streben, welche den Text vor einer blo additiven Struktur bewahrt, andererseits aber auch

    der im ersten Absatz vorgetragenen, jetzt noch einmal wiederholten Kritik am lteren Ideal des Liedes 24 Rechnung

    zu tragen. Der Idealtypus im Sinne Max Webers 25 stelle statt eines fixen, aus immer gleichbleibenden

    Konstituentien zusammengesetzten Modells hier eine Konfiguration dar, deren tragende Elemente in

    flexiblen, von Fall zu Fall wechselnden Relationen untereinander um des Kunstcharakters des Einzelliedes willen

    stnden (Abs. 6). So werden in den Abs. 7 und 8 die folgenden Faktoren genannt:

    Musik als Abbild der inneren und ueren Form des Gedichts

    lyrischer Ton, Weise im Sinne Herders

    Ausgleich zwischen Differenzierung und Integration der musikalischen Struktur zwecks Konstituierung eines

    Werkes

    verschiedene Gattungstraditionen . . . unter dem Sammelnamen Lieder und Gesnge gebndelt

    Warum geht Dahlhaus, dessen Gattungstheorie die institutions- und sozialgeschichtliche Dimension der Musik

    mit ihren gesellschaftlichen Funktionen impliziert 26, bei der historiographischen Einlsung im Kapitel Lied-

    Traditionen auf deren Sitz im Leben berhaupt nicht ein, wo doch im gegebenen Falle bei den Schubertiaden

    Geselligkeit und Kunsterfahrung hochinteressant ineinanderspielen? Hierfr war wohl die Ablehnung der

    biographischen Methode leitend 27, die Dahlhaus wenig berzeugend mit dem Werkcharakter der

    Kunstliedgattung korrelierte. Zwar erkennt er in der Transformation der musikalischen Struktur, die von einer Trgerin

    des Gedichtvortrags zu einem Werk werde, einen zentralen Aspekt der Gattungsgenese, doch die historische

    Beschreibung des Vorgangs erscheint, auch weil die Zyklus-Kategorie ausgespart wird, eigentmlich labil. Trotz

    der berhmten Opera des frhen Schubert (Der Erlknig, Gretchen am Spinnrade) bleibt die Gleichsetzung

    eines Liedes mit einem Werk eine fragliche Konstruktion, die, wenn das Lied in einen Zyklus, einen Kreis

    oder eine Folge integriert wird, an Plausibilitt gewinnt, denn dann gilt der Zyklus, nicht das Einzellied als Werk.

    Und Werk bleibt fr den Dahlhaus der Grundlagen in erster Linie das autonome, aus seinen gesellschaftlichen

    Voraussetzungen gelste Kunstgebilde.

    24 Kursivierung nicht original.25 Vgl. u. a. Grundlagen der Musikgeschichte, in: GS 1, S. 30, S. 129ff.; auch Epochen und Epochenbewutsein in der Musikgeschichte, in: GS 1, S. 303-319, hier S. 317 ff. Vgl. Philip Gosset, Carl Dahlhaus and the Ideal Type, in: 19th Century Music 12 (1989), S. 49-56.26 Vgl. u. a. den Aufsatz Was ist eine musikalische Gattung?, in: GS 1, S. 348-358.27 Vgl. u. a. Grundlagen der Musikgeschichte, in: GS 1, S. 32 f., sowie die Glosse Wozu noch Biographien? (1975), in: GS 10, S. 267f. Zur Funktion als einer Kategorie der musikalischen Sozialhistoriographie vgl. Grundlagen der Musikgeschichte, a. a.O., S. 128-133.

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    Fr die drei Exempel der Abs. 9-11 wre demnach zu fragen, ob sie die in den Abs. 6-8 erhobenen

    Forderungen beachten und die behauptete Pluralitt von Lied-Traditionen in Umrissen veranschaulichen. Es handelt

    sich um: Wanderers Nachtlied (Goethe, 1815), dessen lyrischer Ton der Gattung Kavatine, nicht dem Lied

    zuzuschreiben sei (Abs. 9), Gruppe aus dem Tartarus (Schiller, 1816/17), eine durchkomponierte lyrisch-epische

    Szene (Abs. 10), sowie Halt, das dritte Lied aus der schnen Mllerin (Mller, 1823), eines der wenigen

    durchkomponierten Lieder des Zyklus, dessen Zusammenhalt durch Vorder- und Nachsatzanalogien Dahlhaus

    schildert (Abs. 11).

    Die Historiographie strkt die Plausibilitt der Exempel: Erstens whlt Dahlhaus Stcke aus, deren

    Kenntnis er bei der Leserschaft voraussetzen kann, so da er mit wenigen analytischen Bemerkungen mehr zu

    erreichen vermag als bei weitgehend unbekannten Liedern. Zweitens beschreibt seine reflexive Historiographie im

    Gegensatz zu einer pdagogischen Darstellung weniger Regelflle als Ausnahmen. Die Normen und Modelle werden

    beim Leser als bekannt vorausgesetzt, Abweichungen davon veranschaulichen eine Pluralitt von Formen und

    Gattungen des Liedes nach Art einer kontrollierten Verfremdung. 28 Und drittens illustrieren die Beispiele die

    Erkenntnis, da fr die Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, im Unterschied zu frheren Epochen, die Kategorie

    musikalische Gattung keine normative Geltung mehr besitzt, ihr Status vielmehr von Fall zu Fall heuristisch zu

    eruieren bleibt. 29 Der Sonderstatus jedes Beispiels sttzt demnach die These, da das einzelne Lied gegenber

    hergebrachten Normen den Vorrang habe, weil erst aus einer individuellen Konfiguration, nicht aus reproduzierten

    Gattungsregeln sein Kunstcharakter hervorgehe.

    V. Vokale und instrumentale Lyrik: drei Parallelen (Abs. 12-15)

    Mit dem Abs. 12 beginnt Dahlhaus, nachdem die Schubert-Historiographie abgeschlossen ist, eine neue Phase des

    Kapitels, die eine groe Zsur vom Vorangehenden trennt. Im Versuch einer umfassenden

    Musikgeschichtsschreibung verknpft der Autor hier zwei Gebiete seines Gegenstandes auf riskante Weise miteinander:

    einerseits die Tatsache, da musikalische Lyrik, wiewohl vokalen Ursprungs, sich auch jenseits des Gesangs

    instrumentalmusikalisch manifestiert hat besonders deutlich im 19. Jahrhundert , und andererseits die Tatsache, da

    die Liedgattung keineswegs auf die deutsche Sprache eingegrenzt ist, sondern als anthropologische Konstante in

    Lndern unterschiedlichster Sprachen und Kulturen ihre Bedeutung besa und bis heute besitzt. Da Dahlhaus diese

    beiden voneinander unabhngigen Gebiete des Gegenstandes (Lied-Traditionen) ineinander verschrnkt und

    zusammen abzuhandeln sucht, fhrt bei allem Respekt gesagt zu einem Dokument des Scheiterns. Warum hat

    Dahlhaus auf die Mglichkeit verzichtet, die Parallelen zwischen vokaler und instrumentaler Lyrik und das

    auerdeutsche Lied in aufeinanderfolgenden Abschnitten unabhngig voneinan- der zu behandeln? Sollte er blo einen

    Ort gesucht haben, wo er das von ihm verschmhte nicht-deutsche Lied er nennt die englische domestic ballad

    sowie die franzsische romance und mlodie als Looser in eine no win-Situation plazieren konnte?

    Nachdem der bisherige argumentative Gang von vorbildlicher Klarheit war, wird bei diesen Abstzen nun eine

    Interpretation ntig, denn die Bedeutung scheint in der Struktur der erzhlten Geschichte nur noch hchst vermittelt auf.

    28 A. a.O., S.66, dort bezogen auf das Problem der Traditionskritik.29 Hierzu ganz zentral der Aufsatz in der Gedenkschrift Leo Schrade (Anm. 4), in: GS 6, S. 377-433. In den Grundlagen der Musikgeschichte heit es dazu (GS 1, S. 141): Nicht, da die Gattung, der eine Komposition angehrte, gleichgltig geworden wre (das geschah erst im 20. Jahrhundert); aber sie wurde zu einem sekundren Bestimmungsmerkmal des primr als Individuum und nicht als Exemplar begriffenen Kunstwerks.

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    Nachdem in Abs. 12 eine Parallelitt zwischen Liedern und Klavierstcken als Thema der kommenden

    Abstze aufgerufen wird Dahlhaus lt es in der Schwebe, ob er nur Schubert (und den in Klammern erwhnten

    Tomc ek) oder eine Gattungsanalogie im allgemeinen anvisiert , nennt er in Abs. 13 das Nebeneinander von wenigen

    Werken mit ausgeprgtem Kunstcharakter und einer massenhaften Produktion zu geselligen Zwecken, die als

    Nicht-Kunst zu apostrophieren sei. In der Tat teilen die Gattungen Lied und Lyrisches Klavierstck im

    Vergleich zur Symphonie eine unaufwendige Realisierbarkeit, was damals Voraussetzung fr eine Massenproduktion

    war.

    Sehr problematisch erscheint indes Dahlhaus Entscheidung, die Massenproduktion von Liedern, obwohl

    hierfr auch aus dem deutschsprachigen Feld berreichlich Beispiele zur Verfgung gestanden htten, mit englischen

    und franzsischen Exempla zu dokumentieren: der bereits erwhnten domestic ballad, zumal ihrem viktorianischen

    Typ, und der franzsischen romance, die eines kunstvolleren Zweiges zum Trotz eine fatale Neigung zur

    Salonsphre offenbare. Dahlhaus bezieht hier mit den Romanzen von Boieldieu und Mhul seine historische

    Reflexion auf einen Gegenstand,n dessen Kenntnis er bei seiner Leserschaft nicht voraussetzen konnte, und rckt sie

    damit, ob gewollt oder nicht, in eine Tradition nationaler deutscher Musikhistoriographie, die seinen

    wissenschaftshistorischen Ort als vor 1968 kenntlich macht.

    Zwar konzediert der Autor: Im einzelnen ist es allerdings manchmal schwierig, Grenzen [scil. zwischen

    Kunst und Nicht-Kunst] zu ziehen, die nicht von Vorurteilen diktiert sind. Zurckgestellt wird das Max

    Webersche Postulat der Grundlagen, zwischen den in der Geschichte objektiv vorhandenen Wertbeziehungen,

    deren Rekonstruktion dem Historiker obliege, und seinen subjektiven Wertungen klar zu unterscheiden. Es scheint

    vielmehr, als habe Dahlhaus eigene Wertung die Wertbeziehungen zwischen deutschem Lied, englischer

    ballad und franzsischer romance gefrbt. 30 Bereits durch die Struktur der Narration entsteht ein Bild, welches

    ein kunstvolles deutsches Lied gegen das bloer Geselligkeit dienende nichtdeutsche Lied kontrastiert ein Zerrbild auf

    beiden Seiten, denn selbstverstndlich gab es sowohl Kunst in nicht-deutscher musikalischer Lyrik als auch und

    zwar reichlich eine kunstlose Massenproduktion zu geselligen Zwecken im deutschen Liede. 31

    Infolge dieser Disposition blieb zudem, wie angedeutet, die Parallelitt zwischen Vokal- und

    Instrumentallyrik in Abs. 13 auf der Strecke und mu vom Autor zu Beginn des Abs. 14 rekapituliert werden, damit

    die logische Struktur der Geschichtserzhlung verstndlich bleibt. Dabei verknpft er die historische Narration mit

    einer weiteren These und hlt so die Bewegung des Gedankens in Flu: War demnach die Spaltung in Werke mit

    Kunstcharakter einerseits und Gebrauchsmusik andererseits beim Lied wie beim Klavierstck besonders schroff und

    deshalb besonders milich weil zur Tradition dieser Gattungen ein Simplizittsideal gehrte, das zum

    Kunstanspruch allmhlich in Gegensatz geriet , so war doch in beiden Gattungen das Formproblem durch eine

    hnliche Dialektik gekennzeichnet.

    Nach Dahlhaus begngt sich die Formkategorie in musikalischer Lyrik mit einem einfachen formalen

    Umri, sie gibt sich also mit einer Rahmenfunktion zufrieden, die eine durchgehende Motivik ausfllen kann,

    entbehrt aber der Gestaltungsautonomie anderer Gattungen. In der Tat belegen eine solche Charakteristik die Begriffe

    30 Vgl. a. a.O., S. 87-95.31 Vgl. hierzu Philip Gossets Kritik der englischen bersetzung von Dahlhaus Buch Die Musik des 19. Jahrhunderts (Nineteenth Century Music, translated by J. Bradford Robinson, Berkeley: University of California Press), unter dem Titel Up from Beethoven in: The New York Review of Books (36) 1989, Nr. 16 (October 26).

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    Strophenlied oder Liedform, wie seit Adolf Bernhard Marx die instrumentalmusikalische ABA-Bogenform

    irrefhrend genannt wird.

    Diesen Komplex beschliet in Abs. 15 die dritte These, derzufolge Einzelgattungen wie Ballade, Romanze,

    Rhapsodie, Elegie, Nocturne, Berceuse (nicht genannt wird das Lied ohne Worte gegenber einem Lied mit

    Worten) sich mehr durch ihren spezifischen Ton unterscheiden als durch ihre Form. Diese fr den

    Formanalytiker Dahlhaus bemerkenswerte Erkenntnis rumt einem analytisch schwer greifbaren sthetischen

    Phnomen den Vorrang ein vor kompositionstechnisch nachweisbaren Sachverhalten. Um sie zu veranschaulichen,

    werden drei Balladen einander gegenbergestellt: Chopins g-Moll-Ballade fr Klavier, Schuberts Erlknig sowie

    Loewes Brgschaft, wobei die letzteren eine geschlossene bzw. nicht-geschlossene Form der gemischten Gattung

    exemplifizieren.

    VI. Drei Darstellungsweisen: Ballade Arie Lied (Abs. 16 und 17)

    Offenkundig ist bei einer Musikhistoriographie, die ein ganzes Jahrhundert von 1814 bis 1914 in einem

    einzigen Band darstellt, die Mglichkeit eingeschrnkt, die den Gang der Argumentation bestimmenden Thesen zu

    erlutern. Die Unterschiede im Ton, welche so das Postulat in Abs. 15 die Lied-Gattungen strker determinieren

    als die Differenzen der musikalischen Form, werden, so sehr diese These auch einleuchten mag, ber die bloe

    Behauptung hinaus nicht weiter aufgefchert und nher begrndet. Offenkundig affiziert das Ziel einer allgemeinen

    Musikgeschichtsschreibung den Grad der argumentativen Ausdifferenzierung des Textes. Die Kategorie Ton

    wird allerdings im letzten Komplex des Kapitels, den Abs. 16 und 17, unter dem Signum Darstellungsweise

    definiert als das Verhltnis zum Publikum oder den Zuhrern und im Dreieck von Autor, Snger und Zuhrer

    gattungstheoretisch umrissen, wobei sich hier die historische Narration wieder zum Allgemeinen wendet und den

    Rahmen des fokussierten Zeitraums (1814-1830) berschreitet. Da der Autor darauf verzichtet hat, durch

    Zwischentitel oder eine numerische Hierarchisierung la Wittgensteins Tractatus (1.2.1.3 etc.) seinen Prosatext

    weiter zu gliedern, kann der logische Status der beiden letzten Abstze verschieden begriffen werden: Erstens kann

    er dies liegt meiner Interpretation zugrunde als ein eigenstndiger Komplex verstanden werden, der die

    historische Narration der Lied-Traditionen zu Ende fhrt; zweitens kann er als ein Unterabschnitt des vorangehenden

    Abs. 15 begriffen werden, der die Idee des einer Gattung eigentmlichen Tons weiter ausfhrt; und drittens

    lt sich aus dem Umstand, da die Errterung von drei Fllen einer Darstellungsweise hier in zwei Abstze

    gegliedert ist (was hinsichtlich der logischen Struktur der Historiographie eine Erklrung erforderte), folgern, da die

    Darstellungs- weise zum Schlu des Kapitels vor dem Hintergrund der Frage errtert wird, ob in einem Stck

    musikalischer Lyrik der Autor dem Publikum offen zugewandt oder aber verborgen bleibe.

    Unter diesen Aspekten sind die drei aufgerufenen Gattungen tatschlich voneinander unterschieden: die

    Ballade (und Romanze) als Erzhlgedicht, bei dem ein Rezitator oder Rhapsode sei er nun der Autor des Werkes

    oder ein Interpret sich direkt an ein Publikum wendet, es anspricht und in solcher Kommunikationshaltung

    sein Stck realisiert; die Arie (aus Oper oder Kantate) als Rollengedicht, bei welchem der Autor zurcktritt, da die

    vortragende Person nicht fr sich oder fr den Autor spricht, sondern eine jeweils definierte Rolle zu verkrpern hat;

    und schlielich das Lied wie Dahlhaus hinzufgt: im engeren Sinne als eine Gattung, bei welcher Autor-

    und Rollenkategorie aufgehoben sind im Status eines musiklyri- schen Ich. 32Den Absatz und damit das Kapitel

    32 Vgl. dazu Karl Pestalozzi, Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik, Berlin 1970; Reinhold Brinkmann, Musikalische Lyrik im 19. Jahrhundert bzw. Hans Joachim Kreutzer, Musikalische Lyrik zwischen Ich-Ausdruck und

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    beschliet, indem er den Gedanken zur These verdichtet rhetorisch zugespitzt und in knapper Pointierung , der

    Satz: Die Zuhrer, bei der Ballade essentiell, sind beim Lied akzidentell. So fhrt Dahlhaus den Bogen der

    Argumentation am Ende des Kapitels wieder zur Liedgattung zurck und rundet durch eine letzte

    Kontextualisierung das den Lied-Traditionen gewidmete Kapitel der Musik des 19. Jahrhunderts im Sinne einer

    allgemeinen Problemstellung mit ffnendem Gestus ab. Um Schuberts Sonderstellung nicht anzutasten, vertieft er den

    Ton jedoch nicht zu jener Kategorie eines sthetischen Kommunikations-zusammenhangs, der im europischen

    Kontext verschiedener Lnder und im sozialen Kontext verschiedener Schichten also unabhngig vom Kunstcharakter

    der einzelnen Gebilde manifest werden knnte. 33 Die Horizontffnung verharrt im allgemeinen.

    Carl Dahlhaus offenbart auch in diesem nher fokussierten Kapitel des Hauptwerks Die Musik des 19.

    Jahrhunderts allgemeine Zge seiner Historiographie und ihres wissenschaftsgeschichtlichen Kontextes. Die Idee der

    Freiheit, die Westdeutschland und ganz besonders West-Berlin, wo Dahlhaus von 1967 an lebte und lehrte, sich aufs

    Panier geschrieben hatten, besa nach der nationalsozialistischen Diktatur im Dritten Reich und gegenber der SED-

    Diktatur in der Deutschen Demokratischen Republik fr seine Musikgeschichtsschreibung eine prgende Kraft.

    Formen der Historiographie, die in jenen beiden Systemen offizielle Geltung hatten, lehnte er ab. Auf der einen Seite

    waren dies ein Biographismus, welcher kunstgeschichtliche Dokumente nach Verstehensformen des Lebens,

    bzw. ein nationaler oder gar rassischer Substantialismus, der die Erscheinungen nach Stil- oder

    Organismusmodellen bergreifend determinierte 34, auf der anderen Seite eine Historiographie, welche aus einer

    Interessengebundenheit menschlicher Erkenntnis die Geschichtsschreibung politischen Zielen unterordnete und den

    alten Lehrsatz von der historia als einer magistra vitae noch auf die Gegenwart bertrug.

    Die Kronzeugen frherer Geschichtstheorie, auf die sich Dahlhaus berief, waren Johann Gustav Droysen und

    Max Weber. Ihnen gegenber hatte er noch die Erfahrung einer Avantgarde voraus, welche die Historizitt von

    Kunst unterstrich. Wie sein Weggefhrte Rudolf Stephan respektierte Dahlhaus zwischen Neuer und Alter Musik jenen

    unaufhebbaren Graben nicht, den das Fach Musikwissenschaft in den 1940er und 1950er Jahren noch kategorisch

    erklrte. Die Themen von Dissertation und Habilitationsschrift und die Teilnahme an den Darmstdter Ferienkursen fr

    Neue Musik schlossen einander keineswegs aus. Im Gegenteil, im Aufsatz Was ist musikalischer Historismus? heit es

    am Schlu: Durch Distanzierung vom Vergangenen aber schafft er [scil. ein Historiker, der Historismus als Denkform

    begreift] Platz fr Neues. Aus dem Historismus, der These von der substantiellen Geschichtlichkeit musikalischer

    Werke, kann ohne Gewaltsamkeit die Konsequenz gezogen werden, da eine Zeit sich in ihrer eigenen Musik

    wiedererkennen sollte, statt sich an eine frhere anzuklammern. Der Historismus als Denkform und der Geist der

    Avantgarde sind also durchaus nicht unvereinbar, sie sttzen sich sogar eher, als da sie sich durchkreuzen. 35

    Dahlhaus vertrat theoretisch und praktisch keinen naiven Historismus, er schlo sich auch nicht einem der

    drei Modelle Nietzsches an einem monumentalischen, antiquarischen oder kritischen Historismus 36 , vielmehr

    realisierte er einen selbstreflexiven oder, wie er sagte, sentimentalischen Historismus, der eine wachsende

    Rollenspiel: Die romantische Epoche, in: Danuser, Musikalische Lyrik, Teil 2 (Anm. 3), S.9-138; Edward T. Cone, The Composers Voice, Berkeley: University of California Press, 1974.33 Vgl. hierzu etwa Jeffrey Kallberg, Chopin at the Boundaries: Sex, History, and Musical Genre, Cambridge, Mass., und London 19982.34 Vgl. Wolf Lepenies Vortrag Nationalsozialismus und Kunst bei der Matinee zur Erffnung der Ausstellung verstummte stimmen. Die Vertreibung der Juden aus der Oper 1933 bis 1945 in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin am 18.Mai 2008.35 GS 1, S. 171-179, hier S. 179.

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    Nhe als wachsende Ferne erfhrt.37 Insofern seine intellektuelle Physiognomie durch einen unstillbaren Drang

    geprgt war, Vorgegebenes reflexiv zu durchdringen, um es gebrochen in Eigenes zu verwandeln, und der Historismus

    keine naive Anhnglichkeit an berliefertes, sondern im Gegenteil den Keim zu permanenter Traditionskritik

    implizierte, charakterisierte Dahlhaus, wenn er vom Historismus als einer Denkform sprach, zugleich sich selbst.

    Eine plane Auflistung des Unvollstndigen und Zerstckelten, wie die berreste der Vergangenheit, von

    Jahr zu Jahr grer in Zahl und Kontextualisierbarkeit, dem Betrachter erscheinen, war fr Dahlhaus kein Ziel der

    Geschichtsschreibung; er folgte Wilhelm von Humboldts These, ein Historiker werde seiner Aufgabe nur gerecht,

    wenn er es durch die Phantasie

    ergnzt und verknpft. 38 Mehr als seine Kollegen beherzigte er andererseits auch Droysens Warnung vor drei

    Illusionen der Fiktion des vollstndigen Verlaufs, der Illusion des ersten Anfangs und definiten Endes sowie

    der Illusion eines objektiven Bildes der Vergangenheit 39 , die ein Historiker bei der Narration zu gewrtigen habe,

    um dem Faktischen keine unangemessenen Darstellungsformen des Fiktiven berzustlpen, wie es beim Vorbild

    des historischen Romans fr die Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert im Falle Rankes geschehen war. Man

    kann die Art und Weise, wie Dahlhaus Musikgeschichte erzhlt, als Antwort auf Droysens Warnung lesen, indem er

    zugleich dessen Begriff Tatsache in modernem Sinn noch radikalisierte: Die Tatsachen die der Historiker

    erzhlt, sind selbst die Momente seiner Gedankenreihe; er denkt sozusagen in Formen von Tatsachen, so wie der

    Maler nicht von irgendwelcher Abstraktion her seine Figuren ordnet und seine Farben; sondern sein Gemlde denkend,

    setzt er die Farben nebeneinander . . . Je mehr der Historiker in Tatsachen denkt, desto besser wird er erzhlen; denn

    so erzhlend wird er jeder Tatsache, die er anfhrt, die ganze Wucht ihrer Bedeutsamkeit, den Nachweis eines in

    der Entwicklungskette wesentlichen Moments geben. 40

    So knnen wir uns Dahlhaus, wenn er Musikgeschichte schreibt, als einen Autor vorstellen, der Tatsachen als

    Hypothesen zu seiner Erzhlung modelliert. Mochte er auch gelegentlich, wenn er ber die Trennung des

    Historikergeschfts zwischen Forschung und Darstellung sinnierte, daran gezweifelt haben, ob er ein

    Musikforscher sei nur die Dissertation, die er unpubliziert lie, stellt eine von eigener Darstellung unabhngige

    Forschungsleistung dar , so stand fr ihn die Erfahrung, da er ein Musikschriftsteller war, doch auer Frage. 41Weil er

    nicht glaubte, eine vergangene Geschichte spiegeln zu knnen, flossen in seiner Arbeit Forschen und Darstellen aufs

    36 Friedrich Nietzsche, Unzeitgeme Betrachtungen 2: Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Mnchen 1988, Bd. 1, S. 243-334, hier S. 258 ff.37 Grundlagen der Musikgeschichte, in: GS 1, S. 12, S. 71 f.38 Wilhelm von Humboldt, ber die Aufgabe des Geschichtsschreibers, in: ders., Werke, hg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 1, Darmstadt 1960, S. 585-606, hier S. 586.39 Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen ber Enzyklopdie und Methodologie der Geschichte, hg. v. Rudolf Hbner, Darmstadt 19675 , S. 144, S. 152, S. 306. Vgl. dazu Hans Robert Jau, Der Gebrauch der Fiktion in Formen der Anschauung und Darstellung der Geschichte, in: Formen der Geschichtsschreibung. Beitrge zur Historik, hg. v. Reinhart Koselleck (u. a.), Bd. 4, Mnchen 1982, S. 415-451.40 Johann Gustav Droysen, Historik. Rekonstruktion der ersten vollstndigen Fassung der Vorlesungen (1857), Grundri der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/58) und der letzten gedruckten Fassung (1882), hg. v. Peter Leyh, Stuttgart/Bad Cannstatt 1977, S. 233 f., zit. n.: Wolfgang Hardtwig, Formen der Geschichtsschreibung: Varianten des historischen Erzhlens, in: Geschichte. Ein Grundkurs, hg. v. Hans-Jrgen Goertz, Reinbek 20012, S. 169-188, hier S. 174; vgl. hierzu Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860, Berlin/New York 1996, S. 418 ff.41 Mir gegenber hat sich Dahlhaus einmal mndlich als einen Musikschriftsteller mit dem Brotberuf des Hochschullehrers bezeichnet. Vgl. die Auszge aus der Dissertation (GS 10, S. 17-136) und die diesem Band beigefgte Edition des gesamten Textes auf CD-ROM.

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    engste ineinander. Dem Passus der Grundlagen, wo Dahlhaus von Tatsachen als Hypothesen spricht, kommt daher

    ein selbstreflexiver Schlsselstatus zu. 42

    Die Rhetorik hatte auf einer ersten Ebene zumindest fr Dahlhaus ausgedient, denn eine

    Musikgeschichtsschreibung mit einer identittsstiftenden Rolle fr eine Nation, ein Volk, eine Kunstrichtung

    etc., die durch Zuspitzung positiver und Herabsetzung negativer Darstellungselemente sich der Propaganda

    annherte, wollte er vermeiden. Zur Strkung der Argumentation benutzte er jedoch sehr wohl Strategien einer

    juridischen Rhetorik, wenn er etwa fr Schuberts Opus 2 die Pole der Gattungssituation (nicht-variiertes Strophenlied

    vs. Durchkomposition) bei der Wiederholung in Abs. 5 pejorativ verschrft (strophische Simplizitt vs.

    Detailstckelung), um Gretchen am Spinnrade noch heller leuchten zu lassen. Eine antiquarische Liebe zum

    Vergangenen um seiner selbst willen war Dahlhaus Sache nicht. Die Flle, die seine Schriften auch das fokussierte

    Kapitel auszeichnet, entsprang keiner Liebe zum Einzelnen, sondern einer Liebe zum Denken, zur Reflexion.

    Dabei muten die Argumente intersubjektiv nachvollziehbar sein, denn nur so konnte die Historiographie ihren

    Anspruch auf eine kontrollierbare, rationale Erzhlung einlsen. 43

    Ein Revolutionr und Bilderstrmer war Dahlhaus darum nicht. Er wollte das Rad der

    Musikgeschichtsschreibung im Ausgang von einer Tabula rasa nicht neu erfinden. Im Sinne Hayden Whites, doch ohne

    dessen metahistorisches Begriffsarsenal konstruierte er weniger einen Gegenstand ab ovo, als da er ihn vorfand,

    vernderte und ins Eigene schmiedete. 44 Dahlhaus war also ein Revisionist ein Autor, der an bestehende Narrationen

    anknpfte, sie neu zusammenfgte, mit Exempeln anders kontextualisierte und dadurch den musikhistorischen Horizont

    der zweiten Hlfte des 20. Jahrhunderts entscheidend erweiterte.

    Am Ende des Grundlagen-Kapitels Was ist eine musikgeschichtliche Tatsache?, einer Auseinandersetzung mit

    Droysen, wird der Konstruktionscharakter der Erzhltechnik 45 zum Satz zugespitzt: Geschichtliche Fakten

    sind, pointiert ausgedrckt, zu nichts anderem da, als Geschichtserzhlungen und Strukturbeschreibungen zu fundieren

    oder aber, negativ gewendet, die Meinungen frherer Historiker als brchig zu erweisen. 46 Dieser Satz blieb kein

    abstraktes Postulat, auf ihm basiert vielmehr Dahlhaus eigene musikgeschichtliche Erzhlkunst.

    Die stilistischen Mittel, die er aufbietet, dienen, wie verschieden und mannigfaltig sie auch sind, in

    transzendentalem Sinn dem Zweck, dem Leser zu verdeutlichen, da die Erzhlung keine verflossene Vergangenheit

    abbildet, keine geordnete oder willkrliche Folge von Daten wiedergibt, sondern da die Lektre ihn zum Zeugen

    42 Grundlagen der Musikgeschichte, in: GS 1, S. 41 f.43 Als ich Carl Dahlhaus eine Entgegnung auf eine Glosse in der Neuen Zeitschrift fr Musik (Wozu nochBiographien?) Mitte der 1970er Jahre in die nchste Seminarsitzung brachte, hat er sie gleich im nchsten Heft, indem er nur einen ber ihn selbst geschriebenen Teil herausstrich, verffentlicht. Eine solche kritische Stellungnahme, auch gegen seine eigene Darstellung, war fr ihn willkommen, Reflexion und Dialog gehrten zur Wissenschaft selbst. Lucien Febvre uerte 1933 in seiner Antrittsvorlesung am Collge de France: Am Ursprung jeder wissenschaftlichen Errungenschaft steht der Nonkonformismus. Die Fortschritte der Wissenschaft entspringen aus der Zwietracht. So wie die Religionen aus der Ketzerei erwachsen. Opportet haereses esse. (bersetzung Ulrich Raulff) L. Febvre, Ein Historiker prft sein Gewissen, in: Wie Geschichte geschrieben wird, mit Beitrgen von Fernand Braudel, Lucien Febvre u. a., Berlin 1990 und 1998, S. 15-29, hier S. 28.44 Dies impliziert, da die Form, in der sich historische Ereignisse dem knftigen Erzhler prsentieren, eher vorgefunden als konstruiert wird. So Hayden White, Das Problem der Erzhlung in der modernen Geschichtstheorie, in: Theorie der modernen Geschichtsschreibung, hg. v. Pietro Rossi, Frankfurt a.M. 1987, S. 57-106, hier S. 58 (bersetzung Margit Smuda). Vgl. die Bcher von Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore/London 19902; Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism, Baltimore/London 19904; The Content of the Form. Narrative Discourse and HistoricalRepresentation, Baltimore/London 1990.45 Grundlagen der Musikgeschichte, in: GS 1, S. 47.46 A. a.O., S. 45-48, hier S. 48. Bedauerlicherweise hat der Historiker Otto Gerhard Oexle, als er bei der Jahrestagung der Gesellschaft fr Musikforschung in Lbeck im Herbst 2003 sprach, Dahlhaus Grundlagen der Musikgeschichte von 1977 nicht erwhnt und darum seinen gewichtigen Ausfhrungen den Boden unter den Fen weggezogen vgl. Was ist eine historische Quelle?, in: Die Musikforschung 57 (2004), S. 332-350.

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    einer intellektuellen Bewegung in der Gegenwart macht, eines aus Pro und Contra, Hin und Wider gefgten Diskurses.

    Diese Historie, Schauplatz eines intellektuellen Ringens, gewinnt ihren Rang dadurch, da im Kopf des Erzhlers

    immer mehrere Seiten Platz nehmen und im Streit der Argumente sich zu Worte melden. In den Satzgebilden, die oft

    mit einerseits andererseits angelegt sind und durch numerierte Abschnittszhlung eine geordnete Flle

    dokumentieren, herrscht eine Erzhltechnik, die ein Vorbild im juridischen Diskurs hat ein Richter darf den Grundsatz

    audietur et altera pars sowenig preisgeben wie die Gerichtsrede die Widerlegung der Gegenargumente und die

    darum Gegenpositionen in die Erzhlung einbezieht. Bereits dadurch, da sie ernst genommen und zu einem Teil der

    Narration geformt werden, hebt sich Dahlhaus von einer frheren Geschichtsschreibung ab, welche die Gegenseite

    verdrngt oder polemisch abgetan hatte.

    Im Kapitel Lied-Traditionen hat dieses Verfahren einen Ort in Absatz6, wo Dahlhaus im Sinne einer

    refutatio die in Absatz 5 durch glnzende Argumentation gewonnene Erkenntnis einer spezifisch Schubertschen

    Liedsthetik in Gretchen am Spinnrade zurcknimmt, offenbar weil er sprt, da sie in Widerspruch zu dem am Anfang

    des Kapitels postulierten Pluralismus zu geraten droht. Die Bewegung des Gedankens im Sog selbstkritischer Narration

    stuft die Quintessenz von Absatz 5 im nchsten Absatz zu einer bloen Mglichkeit herab, um dem Miverstndnis

    vorzubeugen, Schuberts Opus 2 sei fr alle seine Lieder ein Modell.

    Der Titel des Kapitels (Lied-Traditionen) ist insgeheim polemisch, richtet sich sein Plural doch gegen eine

    frhere Gattungshistoriographie, die ihren Gegenstand im unhinterfragten Singular als besondere, echte, deutsche

    Gattung perspektivierte. Dieses nationalklassisch-monumentalische Gattungsbild soll revidiert werden, wie der Plural

    des Titels und der im ersten Absatz proklamierte europische Kontext ankndigen. Ein unendlicher Plural

    allerdings, wie ihn das Ende der Introduktion als Gegenpol zum Singular ungezhlte Gattungen von Gesngen

    aufruft, erffnet keine praktikable Erzhltechnik und dient vor allem dem Zweck, ber den Topos der Unsagbarkeit

    den Schreibflu berhaupt in Gang zu setzen. Die beiden dem Lied im ersten Absatz zugewiesenen Bedeutungen

    einerseits ein durch Schubert geprgter Typus, andererseits ein Sammelname fr ein Bndel von Gattungen ,

    stecken den Rahmen fr eine Dramaturgie ab, die dem Singular wie dem Plural Rechnung tragen kann. Eine bloe

    Addition verschiedener Phnomene zu einem Gattungsplural wrde jedenfalls der Dahlhausschen Historiographie

    keineswegs gengen, bte sie doch ein zuflliges Bild faktischer Heterogenitt, nicht einen durch historische Reflexion

    geordneten Zusammenhang des Mannigfaltigen.

    Ohne die Pluralflle zu einer schlechten Unendlichkeit auszudehnen, fhrt Dahlhaus wie oben skizziert

    durch seine Erzhltechnik den idealtypischen Singular wieder ein: Er berlt Beethoven das reiche, wenig profilierte

    Feld der Lieder und Gesnge, das er am Ende von Abs. 8 im Blick auf Schubert nur flchtig streift, aber nicht

    entwickelt, und reserviert fr ihn jene Singularformeln Klassiker des Liedes, das Schubert-Lied oder die

    Schubertsche Liedidee, die voller Probleme stecken. Handelt es sich bei Dahlhaus Absage an die Historiographie

    groer Mnner 47 wie bei seinem Bekenntnis zur europischen Kontextualisierung der deutschen Liedgattung etwa

    um ein Lippenbekenntnis? Auf jeden Fall korrespondiert sie bei ihm nicht mit einer Strukturgeschichte, welche statt

    einer von ihnen realisierten Ereignisgeschichte auf allgemeine Gegebenheiten, Institutionen, soziale Verhltnisse etc.

    zielte. Dahlhaus Allergie gegen eine Biographik, die er mit Sozialgeschichte verkoppelt 48, um beide Teildisziplinen

    beiseite lassen zu knnen, prgt auch wie erwhnt dieses Kapitel, in dem er das Doppelbild Beethoven Schubert,

    ein Paar aus dem Heldenraum der deutschen Musikgeschichtsschreibung, auf dem Gebiet der Liedgattung zu einem 47 Vgl. Grundlagen der Musikgeschichte, in: GS 1, S. 17 f.48 So z.B. a. a.O., S. 33.

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    zeitversetzten Duell zweier groer Mnner ausmalt, bei dem der 27 Jahre ltere Beethoven narrativ zum

    Trger eines Kontextes herabgesetzt und Franz Schubert wieder zum wahren Protagonisten, zum primo uomo

    assoluto der Gattung, erhoben wird. Ist der Verzicht auf Biographik und Sozialgeschichte, den Dahlhaus

    Gattungstheorie in keiner Weise abdeckt 49, etwa der Preis fr das Entrebillet zum historiographischen Schachbrett, auf

    dem der Erzhler sein Spiel spielen, seine Narration gestalten kann? Da Beethovens Opus98, dessen Werk-Status

    vllig unbezweifelbar ist, verschwiegen wird, liee sich dann einer historiographischen Anxiety of influence

    zuschreiben. 50

    Vier Lieder oder Gesnge umreit Dahlhaus im einzelnen, er schreibt in Lied-Traditionen also nicht nur ber

    Musik, sondern bringt musikalische Werke, wie er sie erkannte, zur Sprache, um sie zum Verstehen zu bringen.

    Allgemeine Ausfhrungen, Analysen von Tropen und Daten historische Fakten im weiten Sinne wechseln so mit

    einer Zoom-Perspektive, die an ausgewhlten Werken immer wieder neu Gesehenes, neu Gehrtes, neu Gedachtes

    zur Anschauung bringt. Dieser Wechsel zwischen Allgemein- und Zoom-Perspektive stellt eine historiographische

    Antwort auf ein Grundproblem dar, welches Dahlhaus als die Schwierigkeit charakterisiert hat, zugleich eine

    Geschichte der Kunst zu schreiben, die eine Geschichte der Kunst wre. 51 Die allgemeinen Abschnitte (Abs. 1-4, 6-8,

    12-17) tragen bei zum ersten der Geschichte , whrend die Zoom-Analysen (Abs. 5, 9-11) zum zweiten der Kunst

    beitragen. Der Wechsel schafft eine Dramaturgie in fnf Teilen, die in nuce die Prinzipien verzahnt, das Allgemeine

    konkretisiert und umgekehrt das Einzelne kontextualisiert. Erzhltechnisch sind die beiden Schichten wechselseitig so

    aufeinander bezogen, da eine Dynamik des Denkens entsteht: Sobald die abstrakten, sthetischen Grundstze zu einer

    Exemplifi-kation am Einzelgebilde hinstreben, wie es in den besprochenen Abs.3-6 bzw. 7-11 geschieht, beginnen

    beide Ebenen anders zu sprechen, als wenn sie blo fr sich selbst in statischen Feldern figurierten.

    Der Konstruktionscharakter von Dahlhaus Geschichtsschreibung manifestiert sich auf stilistischer Ebene in

    der Art und Weise, wie die historischen Tatsachen als Stze mit Subjekt und Prdikat formuliert sind. Bei der

    Prdikation fllt eine Neigung zum Optativ auf (z.B. Abs.2: wer . . . gerecht werden mchte; Abs.5: Wer . . .

    sucht, knnte behaupten etc.), die sprachlich vermittelt, da die Rede keine objektiven Fakten zeichnet, sondern

    vom Historiker entworfene, subjektiv modellierte und verantwortete Fakten. Um so strker sticht dagegen das

    programmatische Ziel in Abs.1 durch sein indikativisches mu hervor.

    Analog dazu setzt der Historiker sich die Tarnkappe des Skeptikers und Ironikers auf, wenn er in seiner

    reichen Prosa die Subjektposition dessen markiert, der die Geschichte erzhlt oder schreibt. Bereits Droysen hatte an

    Rankes Figur des vom Roman abgezogenen allwissenden Erzhlers Kritik angemeldet, und Dahlhaus kndigt nun

    auch dem von Droysen bewahrten generellen Ich der Menschheit wenn auch vorsichtig die Gefolgschaft auf. 52

    Die beiden strksten Subjekt-Positionen, das wir und das ich, werden vermieden: Jenes entspricht einem

    lteren Narrativittsmodell, das eine geistige Gemeinschaft zwischen Historiker und Leser suggeriert und in dem das

    Erbe der monumentalischen Historiographie, eine Nation zu bilden und zu fhren, noch nachwirkt, dieses aber

    entspricht einem jngeren Narrativittsmodell, das derzeit bis zum modischen confessional mood reicht, das dem

    Adressaten indes sprachlich die Mglichkeit zu einer eigenen, auch abweichenden Position einrumt. Dahlhaus

    49 So im Aufsatz Was ist eine musikalische Gattung? (1974), in: GS 1, S. 348-358.50 Vgl. dazu als Stimme der deutschsprachigen Musikwissenschaft Andreas Meyer, Ensemblelieder in der frhen Nachfolge (1912-17) von Arnold Schnbergs Pierrot lunaire op. 21. Eine Studie ber Einflu und misreading, Mnchen 2000 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schnen Knste, Bd. 100).51 Grundlagen der Musikgeschichte, in: GS 1, S. 27 ff., S. 116-123.52 A. a.O., S. 74, S. 79ff.

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    bevorzugt demgegenber eine argumentativ ins Neutrale zurckgezogene Position, die das Subjekt in die Bewegung des

    Gedankens hineinzieht und den Menschen in der Argumentation aufhebt. In den Grundlagen spricht er, um sich

    selbst zu apostrophieren, vom modernen Historiker 53 , hier, im Kapitel Lied-Traditionen, taucht oft ein man

    oder ein wer, der auf. Als spiegelte sich die Biographik-Abstinenz im Stil des Historikers, nimmt der Autor

    Dahlhaus damit sich selbst zurck wie er es auch weder im Alltag noch im Beruf ntig hatte, seine Persnlichkeit

    aufzuspreizen und in Geltung zu setzen. Aufgrund solcher Stilmerkmale ist Dahlhaus ein typisch moderner

    Reprsentant der westlichen Geschichtsschreibung im Nachkriegsdeutschland 54, wo Historiker wie Reinhart Koselleck

    oder Thomas Nipperdey auch nicht mehr die Sprachfiguren eines Heinrich von Treitschke verwendeten, dessen Wir-

    Stil einer national-monumentalischen Geschichtsschreibung in der Katastrophe des Nationalsozialismus implodiert und

    versunken war. 55Dahlhaus Sprachkunst, sein literarischer Rang 56, beruht also darauf, da die Geschichte, die er

    erzhlt, vom Leser immer als eine von vielen mglichen Geschichten, aber eine besonders plausible, berzeugende,

    fesselnde und bereichernde, erfahren werden soll. Die Hufung von Konjunktiv, Optativ etc. macht den Leser zum

    Trger einer offenen, selbstreflexiven Form der Darstellung. Diese Stilfigur hat ihre Vorbilder in der Geschichte des

    modernen Romans, der die Erzhlerinstanz seit Cervantes komplex spiegelt, und auch ein Pirandello-Stck wie

    Cos (se vi pare) scheint nachzuklingen. In diesem Sinne steht das Kapitel Lied-Traditionen ein fr eine

    Historiographie, deren Faktizittsgehalt nach Aristoteles die Erzhlung eines Besonderen, das wirklich

    geschehen ist durch einen virtuellen berschu sich zur Dichtung der Erzhlung eines Allgemeinen, das

    geschehen knnte hinbewegt. 57

    Summary

    How Does Dahlhaus Write History? The chapter Lied-Traditionen (1814-1830) from Die Musik des 19.

    Jahrhunderts The author analyses a chapter of music history by Carl Dahlhaus with reference to the questions

    both explicitly posed and unmentioned to which the text can be considered a response. This also offers an

    opportunity to compare this musical historiography with the premises laid out by the author in Grundlagen der

    Musikgeschichte [The Foundations of Music History] (1977) and locate these within the context of scientific history. It

    transpires that Dahlhaus is a practitioner of a decidedly modern, self-reflexive type of musical historiography in the

    sense of a sentimentalist historicism, but at the same time also continues some of the main lines of earlier genre

    historiography like his predecessors, he still sees Schuberts Lieder as the solitary peak of the Lied traditions

    in the European context around 1820.

    53 A. a.O. Vgl. Siegfried Kracauer, Geschichte Vor den letzten Dingen, Frankfurt a.M 1973, und die Bnde der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik, zu der Dahlhaus gegen Ende seines Lebens hinzustie, v. a. Bd. 5: Geschichte Ereignis und Erzhlung, hg. v. Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel, Mnchen 1973, sowie Bd. 12 (in dem drei Texte von Carl Dahlhaus enthalten sind): Epochenschwelle und Epochenbewutsein, hg. v. Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck, Mnchen 1987.54 Vgl. Anne C. Shreffler, Berlin Walls. Dahlhaus, Knepler, and Ideologies of Music History, in: The Journal of Musicology 20 (2003), S. 498-525.55 Vgl. Wolfgang Hardtwig, Formen der Geschichtsschreibung (Anm. 39), S. 184 f.56 Vgl. die fr das Berliner Dahlhaus-Symposion (siehe oben Anm. 1) angekndigten Referate von Norbert Miller und Tobias Plebuch ber den Schriftsteller Carl Dahlhaus.57 Im neunten Kapitel von Aristoteles Poetik heit es: Aus dem Gesagten ergibt sich auch, da es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen knnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mgliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, da sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt . . .; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, da der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen knnte. (Aristoteles, Poetik, griechisch/ deutsch, bers. und hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1999, S. 29)

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    Lied-Traditionen

    Carl Dahlhaus

    Abs. 1

    Die Gewohnheit, Franz Schubert als romantischen Klassiker zu apostrophieren, drckt einerseits aus, da die

    geschichtliche Nhe zu Beethoven vor allem zu den Werken zwischen op. 74 und 97 ebenso fhlbar ist wie die

    zu Schumann, besagt jedoch auch, da Schubert als romantischer Komponist zum Klassiker des Liedes geworden

    ist. Das Lied ist strenggenommen ebensowenig eine Gattung wie das Instrumentalstck. Vielmehr handelt es sich

    einerseits um einen durch Schubert geprgten Typus, der auf franzsisch le lied hie und bei dessen Aneignung

    tschechische, norwegische oder englische Komponisten wie Smetana, Grieg oder Stanford zu deutschen Texten griffen,

    andererseits um einen Sammelnamen fr ein Bndel von Gattungen, deren Besetzungen vom Solo ber das Duett oder

    das Quartett bis zum Chor und deren Formen von der einfachen Strophenwiederholung ber die durchkomponierte

    Kavatine oder das Rondo bis zur Rhapsodik einer Odenkomposition im Geiste Klopstocks reichen. Und von der

    Mannigfaltigkeit der Traditionen, nicht von der Einheit einer Liedidee mu ein Versuch ausgehen, den geschichtlichen

    Charakter des Schubert-Liedes wie des europischen Kontextes, von dem es sich abhob, zu erfassen. Die Mglichkeit,

    den Liedtypus, durch den Schubert Epoche gemacht hat (und der nicht zusammenfllt mit dem Inbegriff seiner

    smtlichen Lieder), in seiner Besonderheit zu verstehen, wird verstellt, wenn man ihn von vornherein zum

    Idealtypus des Liedes erhebt, neben dem die brigen Typen oder Gattungen, statt ihre sthetische Selbstndigkeit zu

    wahren, zu unvollkommenen Varietten verblassen. Es wre falsch, eine Ariette, eine Kavatine, eine Romanze oder

    eine Ode an einer Liedsthetik zu messen, die von Gretchen am Spinnrade (1814) oder von Wanderers Nachtlied

    (1815) abstrahiert ist. Und eine historische Darstellung, die ohne es allerdings kra auszusprechen zu dem

    Resultat gelangt, da die in einer Geschichte des Liedes versammelten heterogenen Gebilde nur zum geringsten Teil

    echte Lieder seien, verzerrt unter dem Zwang einer Idee des Liedes eine musikgeschichtliche Realitt, in der

    ungezhlte Gattungen von Gesngen nebeneinander existieren.

    Abs. 2

    Wer den Beethovenschen Liedern und Gesngen, die fr den geschichtlichen Kontext des Schubert-Liedes durchaus

    reprsentativ sind, gerecht werden mchte, darf die Tatsache, da Beethoven ihnen geringere Bedeutung zuma als

    anderen Gattungen, nicht ohne weiteres mit dem Eindruck eines fhlbaren sthetischen Abstands zur Schubertschen

    Liedidee zu dem historischen Urteil verquicken, das Lied sei bei Beethoven noch unentwickelt. Die Skala dessen,

    was ein Band mit Beethovens Smtlichen Liedern umfat, erstreckt sich mit ungezhlten Abstufungen und

    Differenzierungen vom Lied im Volkston wie Das Blmchen Wunderhold (op. 52, Nr. 8; vor 1793) bis zur Scena ed

    Aria wie Ah! Perfido (op.65; 1796), ohne da wegen der kontinuierlichen formtypologischen bergnge von

    Ah! Perfido ber An die Hoffnung (1813) und Der Wachtelschlag (1803) bis zu Mignon (1809) die Extreme

    prinzipiell auszuschlieen wren und ohne da feststnde, wo eigentlich die Grenze der Gattungen lag, die

    Beethoven als Parerga ansah. Die Metastasio-Vertonungen (op. 82; vor 1800) sind, in Beethovens eigener

    Terminologie, Arietten, sei es buffa oder seriosa; La Partenza (1797/98), gleichfalls nach Metastasio, ist, nach

    der Definition in Kochs Musikalischem Lexikon (1802), eine Kavatine: eine kurze Arie, in welcher wenig

    Wiederholungen der Worte und melismatische Sylbendehnungen gebraucht werden, und die besonders keinen zweyten

    Theil hat. Die Himmel rhmen des Ewigen Ehre (op. 48, Nr. 4; 1802) wre als Hymne, An die Hoffnung (op.94;

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    1813) als Ode zu definieren (sofern man unter einer Ode den dithyrambischen, differenzierten Typus versteht, den man

    im 18. Jahrhundert Pindarische Ode nannte). Der Wachtelschlag schlielich besteht, obwohl die Textgrundlage

    strophisch ist, aus zwei durchkomponierten und durch ein Rezitativ voneinander getrennten Kavatinen und wre

    demnach als Reduktionsform der Solokantate zu bestimmen (den Zusammenhalt der Teile vermittelt ein ostinates

    Motiv). Beethoven scheint auerdem, mag auch die Relation zwischen den Titeln der Sammlungen op. 52 und 75 und

    deren Inhalten nicht eindeutig sein, zwischen Liedern und Gesngen unterschieden zu haben: Marmotte (op. 52,

    Nr. 7; um 1793) ist ein Lied; Mignon (op. 75, Nr. l) in variierter Strophenform mit schroffem Kontrast innerhalb

    der Strophen und Neue Liebe, neues Leben (op. 75, 2; 1809) in Sonatenform ohne Durchfhrung sind

    Gesnge.

    Abs. 3

    ber Schubert hie es 1824 in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung: Hr. Fr. S. schreibt keine eigentlichen

    Lieder und will keine schreiben [. . .], sondern freye Gesnge, manchmal so frey, da man sie allenfalls Capricen

    oder Phantasien nennen kann. Und 1826: Fr das eigentliche Lied scheint er weniger geeignet zu seyn, als fr

    durchkomponirte Stcke. Unter dem eigentlichen Lied verstand man das (nicht variierte) Strophenlied, dessen

    Simplizitt Goethe 1801 in den Tag- und Jahresheften mit dem Argument gerechtfertigt hatte, da die

    Differenzierung des Ausdrucks von Strophe zu Strophe eine Sache des Vortrags und nicht der Komposition sei.

    Er [der Schauspieler und Snger Wilhelm Ehlers] war unermdet im Studieren des eigentlichsten Ausdrucks,

    der darin besteht, da der Snger nach Einer Melodie die verschiedenste Bedeutung der einzelnen Strophen

    hervorzuheben, und so die Pflicht des Lyrikers und Epikers zugleich zu erfllen wei. Hiervon durchdrungen, lie er

    sichs gern gefallen, wenn ich ihm zumutete, mehrere Abendstunden, ja bis tief in die Nacht hinein dasselbe Lied mit

    allen Schattierungen aufs pnktlichste zu wiederholen; denn bei der gelungenen Praxis berzeugte er sich, wie

    verwerflich alles sogenannte Durch-Komponieren der Lieder sei, wodurch der allgemein lyrische Charakter ganz

    aufgehoben und eine falsche Teilnahme am einzelnen gefordert und erregt wird.

    Abs. 4

    Unter Schuberts frhesten Gesngen finden sich Strophenlieder wie Der Jngling am Bache (1812), die Goethes

    Liedsthetik entsprechen, neben lyrisch-dramatischen Szenen wie Hagars Klage (1811), die einer anderen Gattung

    angehren, also den Goetheschen Postulaten nicht unterworfen sind. Die Liedformen aber, zu denen sich Schubert um

    1814 vortastete, sind weder durch das eine noch durch das andere Extrem geprgt. Es scheint vielmehr, als habe

    Schubert eine Idee des Liedes vorgeschwebt, die er einerseits durch eine Technik der Durchkomposition, die sich in

    musikalische Detailmalerei verlor, gefhrdet sah, andererseits durch Fgsamkeit gegenber dem Prinzip des

    Strophenliedes, einem Prinzip, das die Verwirklichung des Kunst- und Werkcharakters, den Schubert von Anfang an fr

    das Lied als musikalische Form in Anspruch nahm, wenn nicht unmglich, so doch schwierig machte.

    Abs. 5

    Wer nach einer entwicklungsgeschichtlichen Formel sucht, knnte behaupten, da aus dem zunchst unvermittelten

    Nebeneinander von Durchkomposition und Strophik einem Nebeneinander, das in einer Differenz der

    Gattungstraditionen begrndet war schlielich 1814, in Gretchen am Spinnrade (op. 2), eine fr die Geschichte des

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    Liedes im 19. Jahrhundert entscheidende Vermittlung hervorgegangen sei: eine von strophischer Simplizitt wie von

    Detailstckelung gleich weit entfernte, zwischen zyklischer Anlage und variiertem Strophenlied in der Schwebe

    gehaltene musikalische Form. Primr handelt es sich um eine Refrainform (A B A C A D A); andererseits sind

    die Teile B, C und D durch partielle Refrainform (A B A C A D A); andererseits sind die Teile B, C und D

    durch partielle bereinstimmung (T. 14-17 und 43-50) oder durch die kompositionstechnische Analogie, die zwischen

    den sich steigernden modulierenden Sequenzen besteht (T. 22-29, 55-62 und 85-92), so eng aufeinander bezogen,

    da man von Strophenvariation sprechen kann.

    Abs. 6

    Die Konstruktion einer dialektischen Entwicklung, die in einem Idealtypus des Liedes terminiert, gengt allerdings

    nicht, um einer Liedkunst gerecht zu werden, die weniger in Abwandlungen eines Formideals das gleichsam die Mitte

    des Formenbestandes bildet als vielmehr in wechselnden Lsungen eines Formproblems besteht, das eine

    generelle, paradigmatische Lsung nicht zult. Von einem zwischen variiertem Strophenlied und zyklischer Anlage

    schwebenden Formideal auszugehen also die Durchkomposition und das einfache Strophenlied als extreme,

    periphere, erst unter bestimmten Bedingungen gerechtfertigte Formen zu betrachten , ist zwar prinzipiell mglich,

    bleibt aber ein der Schubertschen Liedsthetik, die eher mit dem Begriff der Konfiguration als mit dem des Modells

    zu fassen ist, uerliches Analyseverfahren. Denn das Problem, das Schubert umkreiste, bestand darin, zwischen

    Kriterien und Postulaten, die sich manchmal ergnzen, manchmal aber auch ausschlieen oder durchkreuzen, einen

    immer wieder anderen Ausgleich zu finden, der sich im Gelingen des einzelnen, individuellen Werkes bewhrt.

    Abs. 7

    Zum einen sollte die Musik als Abbild der ueren wie der inneren Form des Gedichts, das ihr zugrunde lag,

    erscheinen, wobei die Akzentuierung des einen oder des anderen Moments zum Teil von der Gattung abhing, der ein

    Lied angehrte. Zum anderen sollte, wie es bereits Herder vom Lied als Gedicht gefordert hatte, auch musikalisch ein

    lyrischer Ton getroffen werden: Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gemlde; seine Vollkommenheit liegt im

    melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung, den man mit dem alten treffenden Ausdruck Weise nennen

    knnte. Fehlt diese einem Liede, hat es keinen Ton, keine poetische Modulation, keinen gehaltenen Gang und

    Fortgang derselben habe es Bild und Bilder und Zusammensetzung und Niedlichkeit der Farben, so viel es wolle, es

    ist kein Lied mehr.

    Abs. 8

    Sodann sollte der Anspruch auf einen Kunstcharakter gewahrt bleiben, der sich im Ausgleich zw


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