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Christliches Profil und jesuanische Irritation. Wenn ......an den katholischen Fachhochschulen...

Date post: 28-Jun-2020
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Christliches Profil und jesuanische Irritation. Wenn kirchliche Unternehmen vom Evangelium lernen... Am 16. Januar 2017 wurde Christa Garvert aus den Diens- ten der Marienhaus Unternehmensgruppe Waldbreitbach verabschiedet. Mehr als drei Jahrzehnte war Christa Garvert für die Mari- enhaus Unternehmensgruppe tätig. Nach dem Beginn im Träger als Leiterin der Krankenpflegeschule in Bonn und in ihrer Verantwortung für die Aus-, Fort- und Weiterbil- dung war sie 1995 die erste weltliche Krankenhausoberin und ab 2000 Geschäftsführerin – zunächst in der Marien- haus GmbH, nach der Umstrukturierung in der Marienhaus Holding GmbH. Sie war Vorsitzende des Aufsichtsrates und nahm in verschiedenen Beteiligungsgesellschaften die Rol- le der Gesellschaftervertreterin wahr. Der Vorstand der Marienhaus Stiftung hat den Wunsch von Christa Garvert erfüllt und zu ihrem Abschied die Füh- rungskräfte der Unternehmensgruppe zu einem Diskurs ins Forum Antoniuskirche auf dem Waldbreitbacher Klos- terberg eingeladen. Diskurs im Forum Werteorientierte Unternehmenskultur im Spannungsfeld der aktuellen Herausforderungen im Gesundheitswesen Zunächst sprach die Ministerpräsidentin des Landes Rheinland-Pfalz, Frau Malu Dreyer, zum Thema: Rahmenbedingungen und ethischer Gestaltungsspielraum – die gesundheitspolitische Perspektive
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Christliches Profil und jesuanische Irritation. Wenn kirchliche Unternehmen vom Evangelium lernen... Am 16. Januar 2017 wurde Christa Garvert aus den Diens-ten der Marienhaus Unternehmensgruppe Waldbreitbach verabschiedet. Mehr als drei Jahrzehnte war Christa Garvert für die Mari-enhaus Unternehmensgruppe tätig. Nach dem Beginn im Träger als Leiterin der Krankenpflegeschule in Bonn und in ihrer Verantwortung für die Aus-, Fort- und Weiterbil-dung war sie 1995 die erste weltliche Krankenhausoberin und ab 2000 Geschäftsführerin – zunächst in der Marien-haus GmbH, nach der Umstrukturierung in der Marienhaus Holding GmbH. Sie war Vorsitzende des Aufsichtsrates und nahm in verschiedenen Beteiligungsgesellschaften die Rol-le der Gesellschaftervertreterin wahr. Der Vorstand der Marienhaus Stiftung hat den Wunsch von Christa Garvert erfüllt und zu ihrem Abschied die Füh-rungskräfte der Unternehmensgruppe zu einem Diskurs ins Forum Antoniuskirche auf dem Waldbreitbacher Klos-terberg eingeladen. Diskurs im Forum Werteorientierte Unternehmenskultur im Spannungsfeld der aktuellen Herausforderungen im Gesundheitswesen Zunächst sprach die Ministerpräsidentin des Landes Rheinland-Pfalz, Frau Malu Dreyer, zum Thema: Rahmenbedingungen und ethischer Gestaltungsspielraum – die gesundheitspolitische Perspektive

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Danach folgte ein Vortrag von Herrn Prof. Dr. Heribert Gärtner von der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen: Christliches Profil und jesuanische Irritation. Wenn kirchliche Unternehmen vom Evangelium lernen... Es war der letzte öffentliche Vortrag von Herrn Prof. Dr. Heribert Gärtner. Sein Leben auf dieser Erde fand am 24. Januar 2017 sein Ende. Wir mussten am 25. Februar 2017 Abschied nehmen “von diesem mitreißenden Lehrer und theoriebegeisterten Wis-senschaftler, einem leidenschaftlichen Schüler in der Nach-folge des Jesus von Nazareth, diesem großzügigen Freund, Bruder und „Vater“ vieler Menschen.“ (aus der Anzeige zu seiner Abschiedsfeier) Herr Prof. Dr. Heribert Gärtner war Professor für Ma-nagement und Organisationspsychologie an der Katholi-schen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Honorarprofessor für Pflegesystemforschung an der Pflegewissenschaftli-chen Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschu-le Vallendar, Initiator und langjähriger Vorsitzender der Planungskommission zur Gründung der Pflegewissen-schaftliche Fakultät in Vallendar. Dazu schreibt seine Kollegin an der KatHo Köln, Prof. Gertrud Hundenborn:

Diesen Stationen seines akademischen Wirkens waren Le-bens- und Berufsphasen vorangegangen, die sich im Rück-blick zum Bild einer konsequenten und lebensbegründen-den Integration der jesuanischen Botschaft in sein berufli-ches Wirken und sein persönliches Leben runden und wel-che sich nicht in intellektueller Auseinandersetzung er-

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schöpfte, sondern in eine überzeugte und authentische persönliche Christusnachfolge mündete. Den am 17. März 1955 im Kraichgau in Nordbaden gebo-rene Heribert W. Gärtner führte das Studium der Theolo-gie, Philosophie und Psychologie an die Universität Frei-burg. Nach Abschluss seines Studiums als Diplom-Psychologe und einer Zeit als wissenschaftlicher Assistent an der Universität war es die Caritasakademie in Freiburg, die den sozialwissenschaftlichen Leiter einer der traditi-onsreichsten katholischen Akademien in Deutschland so-wohl den Fragen der professionellen Pflege und der Pfle-gebildung als auch der Arbeit der katholischen Verbände gegenüber aufschloss. In der Zusammenarbeit der katholi-schen Akademien für Pflegeberufe und der katholischen Verbände wuchs sein Engagement für eine durch das Evangelium bestimmte christliche Pflege ebenso wie für eine entsprechende Unternehmenskultur in den Einrich-tungen der Alten- und Krankenhilfe. Die gesellschaftlichen Spannungsverhältnisse zwischen unterschiedlichen Wer-torientierungen griff er in seiner Dissertationsschrift „Zwi-schen Management und Nächstenliebe. Zur Identität des kirchlichen Krankenhauses“ systematisch auf, mit der er 1994 an der Universität Freiburg promovierte. In dieser historischen Umbruchphase erkannte er frühzei-tig das unverzichtbare Engagement der katholischen Ver-bände und Einrichtungen im beginnenden Akademisie-rungsprozess der Pflegeberufe. Die Zusammenarbeit, die er als sozialwissenschaftlicher Leiter der Caritasakademie gepflegt hatte, setzte er nach seinem Wechsel als Professor und Gründungsdekan an die Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen konsequent fort, jetzt in einer konzertierten Aktion der katholischen Hochschulen und Verbände im Akademisierungs- und Professionalisie-

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rungsprozess der Pflegenden mit Leitungs- bzw. Lehrver-antwortung. Frühzeitig erkannte er die Notwendigkeit, die an den katholischen Fachhochschulen verankerten Pflege-studiengänge durch eigene Forschungsstrukturen abzusi-chern und weiterzuentwickeln. Das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung e.V. (DIP) als Gemeinschafts-initiatve der Fachbereiche Pflege- und Gesundheitswesen der katholischen Hochschulen sowie der überregional im Bereich der Pflege tätigen katholischen Verbände ist ganz wesentlich auf die Mitinitiative von Heribert W. Gärtner zurückzuführen und weist ihn als klugen und begabten Netzwerker aus. Das DIP wurde bereits 1999 als erstes Institut an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen gegründet, und Prof. Gärtner war von 2003 bis 2009 dessen Vorstandsvorsitzender. Seine Weitsicht und seine strategischen Kompetenzen ließen ihn bereits wenig später erste Kontakte zur Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar (PTHV) initiieren, wo schließlich die Gründung der ersten universitären Fakultät für Pflegewis-senschaft im deutschsprachigen Raum gelang, die u.a. frühzeitige Promotionsmöglichkeiten für Pflegende eröff-nete. Sein tiefer Glaube an die jesuanische Botschaft führte schließlich zur Verwirklichung eines lang gehüteten Traums, den er zunächst mit nur wenigen Menschen teilte: In der 2006 von ihm mit gegründeten „Kommunität der Heiligen Anargyroi - Kosmas und Damian“ sah er Auftrag und Möglichkeit zugleich, das Wirken Jesu Christi in der heutigen Zeit ganz konkret weiterzuführen. Mit ihm enga-gierten und engagieren sich nach seinem überraschenden und plötzlichen Tod viele Menschen nach dem Vorbild der beiden christlichen Heiler sozial und monetär ‚umsonst‘.

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Ebenso wie Prof. Dr. Gärtner waren und sind Netzwerke ein Grundanliegen von Christa Garvert. Über viele Jahre war sie ehrenamtlich im Vorstand des Katholischen Pfle-geverbandes e.V. aktiv und begleitete mit ihrem umfassen-den Wissen die Verschmelzung mit der Caritasgemein-schaft für Pflege- und Sozialberufe e.V. Im November 2016 gründete sie mit mehreren Gleichge-sinnten die Franziskus-Stiftung für Pflege. Christliche Wer-te fördern und sie Pflegenden und anderen im Gesund-heitswesen Tätigen erfahrbar und erlebbar zu machen im Sinne von: „Gottes JA zum Menschen – Grund für unser JA zum Menschen“ stellt Christa Garvert in eine Reihe mit Prof. Heribert Gärtner, der sie zur Stiftungsgründung stets ermutigte. Denn eine ganzheitliche christliche Werteorien-tierung ist das entscheidende Fundament, um in allen Be-reichen karitativer Organisationen eine Leuchtturmfunkti-on einzunehmen. Diese Orientierung forderte und fordert sie in Gremien wie dem Katholischen Krankenhausver-band Deutschland e.V., in der Stiftung Bildung des KKVD und im Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung stets ein. Als Vorstand des Katholischen Pflegeverbandes e.V. und als Vorstand der Franziskus-Stiftung für Pflege ist es uns Ehre und Auftrag den letzten Vortrag von Prof. Heribert Gärtner zu veröffentlichen und wir danken Heribert Gärt-ner und Christa Garvert für dieses „Miteinander unterwegs sein“ um DEUS CARITAS EST im Hier und Heute zu erfah-ren.

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Christliches Profil und jesuanische Irritation. Wenn kirchliche Unternehmen vom Evangelium lernen. 1 Prof. Dr. Heribert W. Gärtner, Köln-Vallendar Vortrag beim „Diskurs im Forum“ 16.1. 2017 aus Anlass der Verabschiedung von Christa Garvert: Werteorientierte Unternehmenskultur im Spannungsfeld der aktuellen Her-ausforderungen im Gesundheitswesen; der Vortragsstil wurde für das Manuskript beibehalten und um einige An-merkungen ergänzt. Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Herr Dr. Scheid, Vielen Dank für diese ehrenvolle Einladung anlässlich der Verabschiedung von Christa Garvert. Nachdem die Frau Ministerpräsidentin so eindrücklich zu den Rahmenbedin-gungen und den ethischen Gestaltungsspielräumen ge-sprochen hat, möchte ich etwas dazu sagen, wie kirchliche Unternehmen vom Evangelium lernen können. Es erfolgt damit eine Fokussierung auf die betriebliche Perspektive. Vom Evangelium zu lernen scheint mir nützlich, wenn aus kirchlichen Unternehmen, christliche werden und bleiben sollen. Es gibt zwei Quellen, um zu begreifen, was es mit dem Christentum auf sich hat: 1. Man sieht es bei Menschen, die versucht haben aus dem Evangelium zu leben, denken Sie an Mutter Rosa, und bei solchen, die es auch heute versuchen. Und 2. Man versteht es, indem man sich mit den zentralen Tex-ten beschäftigt, welche uns in den heiligen Schriften über-liefert sind. So lade ich Sie ein, dass wir eine halbe Stunde zusammen beim Markusevangelium, dem ältesten der vier kanonischen Evangelien, in die Schule gehen. Zwei kurze

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Ein-Blicke auf mein Thema seien versucht: Ein klinisch-organisationaler Blick und ein Führungsblick. Ich starte mit dem klinischen Blick und zwei Geschichten: Die erste: „Und es kommt zu ihm ein Aussätziger, der ihn um Hilfe bittet, auf die Knie fällt und ihm sagt. Wenn Du willst, kannst Du mich rein machen. Und weil sich ihm vor Mitleid die Eingeweide umdrehten, streckte er seine Hand aus, be-rührte ihn und sagt ihm: Ich will, werde rein! Und sofort ging der Aussatz von ihm weg, und er wurde rein. Und er schnaubte ihn an, warf ihn sofort hinaus und sagt: Sieh zu, dass Du zu niemandem etwas sagst, sondern los, zeig Dich dem Priester und bringe für Deine Reinigung dar, was Mo-se festgesetzt hat – ihnen zum Zeugnis. (MK, 1,40-44; Übersetzung Martin Ebner)2 Mit der Bezeichnung Aussatz als Sammelbegriff für viele Hautkrankheiten hat man einen diffusen medizinischen Befund. Hautkrankheiten führten damals wegen der gene-rell unterstellten Ansteckungsgefahr zur präventiven sozi-alen Isolation. Sogenannte Aussätzige lebten am Rande der Wohnsiedlungen und durften bestimmte Städte, z. B. Jeru-salem nicht betreten. Ein solcher Befund hatte nicht nur sozial massive Folgen, sondern machte nach jüdischem Ge-setz auch kultisch unrein und führte damit auch zu einer religiösen Exklusion. Leute mit Aussatz galten als tot. Sie hatten den Kontakt zu Gesunden zu meiden und mussten, sobald sie Menschen sahen, präventiv rufen: unrein, un-rein. Der Mann in der Geschichte hält sich nicht daran und überschreitet die vorgesehene Grenze der Aussonderung, er bricht ein Gesetz. Jesus lässt dies zu; auch er bricht da-mit ein Gesetz. Wir haben es also mit einer wirklichen Grenzüberschreitung zu tun. Die Pointe der Geschichte ist nicht, dass Jesus die Heilung gelingt, sondern wie sie ihm

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gelingt. Jesus heilt mit der Methode der Kraftübertragung; er berührt den Unberührbaren und heilt ihn damit; es voll-zieht sich leibhafte Kommunikation. Mit dieser Berührung infiziert sich Jesus nach der damaligen Überzeugung. Wenn das jemand mitbekommen hat und es öffentlich wird, gilt auch Jesus als religiös unrein und gehört damit in die soziale Isolation. Nachvollziehbar, dass er ziemlich barsch sagt, dass der Geheilte gefälligst den Mund halten und die üblichen Riten zur sozialen Reintegration bei den Priestern der religiösen Gesundheitsbehörde in Jerusalem machen soll, ohne zu sagen, wie ihm die Heilung passiert ist. Der Geheilte hält sich dann im Weiteren nicht daran. Machen wir uns klar, die Geschichte ist ca. 40 Jahre nach Jesu Tod geschrieben. Dem Verfasser des Evangeliums ging es mit dem Einbezug dieses Textes in sein Evangelium auch darum, seiner Gemeinde klar zu machen, was in der Jesusbewegung wichtig war und was in der Gemeinde, auch nach Jesu Tod, als sein Vermächtnis wichtig bleiben soll: Der jesuanische Heilungsauftrag, der weiterleben soll durch die Schülerinnen und Schüler und der Zugang von ansonsten gesellschaftlich marginalisierten Gruppen zur markinischen Gemeinde. Die zweite Geschichte spielt zweitausend Jahre später. Auf einer Inneren Station liegt ein schwerkranker junger Pati-ent bei dem man feststellt, dass er auch noch Krätze hat. Zwei Schwestern hatten sich angesteckt. Nachdem dies bekannt wurde, meldete sich die halbe Station krank, die andere Hälfte weigerte sich das Isolierzimmer zu betreten, in das man den Patienten inzwischen gelegt hatte. So übernahm die Stationsleitung, korrekt vermummt, wäh-rend ihres Dienstes diese Aufgabe mit. Nach ihrem Dienst war der Patient pflegerisch unversorgt. Der Gesundheits-

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zustand des Patienten verschlechterte sich und eine Verle-gung auf die Intensivstation wäre medizinisch erforderlich gewesen. Die Verlegung durch den Stationsarzt erfolgte nicht. Kurze Zeit später ist der Patient verstorben. Es wa-ren bisher keine Angehörigen aufgetaucht und es meldeten sich auch keine. Damit war der Fall abgeschlossen. Es wurde auf der Stati-on öffentlich nicht mehr darüber gesprochen. Die beiden Geschichten sind kurz hintereinander erzählt worden. Ich las mit einer Gruppe von Leuten, die im Klini-schen Kontext tätig sind, vier Monate lang jede Woche das Markusevangelium auf Führung und Organisation hin. Wir lasen diese Aussätzigen-Geschichte, beschäftigten uns mit der exegetischen Interpretation des Textes; danach gab es wie immer ein offenes Gespräch zu den Resonanzen, die diese Geschichten bei uns auslösen.3 Es handelt sich also um eine Art „klinische und managerielle Wort-Gottes-Interpretations- und Resonanzgemeinschaft.“ Jemand der die ganze Zeit geschwiegen hatte, sagte ziemlich ange-spannt: Ich muss Euch etwas erzählen, was vor ein paar Tagen in meinem Krankenhaus passiert ist; es war ein kirchliches Krankenhaus. Nachdem die Geschichte von dem jungen Mann mit Krätze erzählt war, schwiegen wir längere Zeit. Die jesuanische Geschichte löste die andere, die klinische, aus. Es gibt drei Themen, die die beiden Ge-schichten miteinander verbinden: Das eine Thema ist die soziale Isolation. In der jesuanischen Geschichte wird sie durch die Begegnung mit Jesus aufgehoben. In der Klinik-geschichte endet sie in der partiellen Einsamkeit. Nach dem Dienstschluss der Stationsschwester kam niemand mehr. Das zweite Thema ist die leibhafte Kommunikation.

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Die jesuanische Berührung führt zur Heilung. In der Kli-nikgeschichte wird leibhafte Kommunikation radikal ver-mieden, weil gefürchtet. Der Schutzkleidung als zweite Haut, welche leibhafte Kommunikation der Pflegekräfte ermöglicht hätte, wird archaisch misstraut. Das dritte Thema ist der Tod: Jemand, der durch die Krankheit als sozial tot galt, kommt in der Jesusgeschichte wieder zum Leben. In der zweiten Geschichte endet die Isolationser-fahrung mit dem physischen Tod. Wenn man diese beiden Geschichten aufeinander zu liest, wird klar, wo die Frage nach der christlichen Identität kirchlicher Krankenhäuser zu landen hat: Im pflegerischen und medizinischen Produktionsprozess. Wer die Zimmer-türen auf Station mit der Bereitschaft zum Sehen aufmacht, kann viele Geschichten sehen und berichten. Die jesuani-sche Logik dieser Aussätzigenheilung heißt: Nicht fliehen, sondern entgegen vielleicht nachvollziehbarer menschli-cher Reaktionen, standhalten, ja sogar Nähe suchen, sich berühren lassen und berühren, natürlich mit dem notwen-digen Schutz vor Ansteckung. Normalerweise bannt Professionalität irrationale Ängste, das macht den Unterschied zu Laien aus. Diese Bannung ist in dem Beispiel offensichtlich nicht gelungen. Interessant ist, dass alle, außer der Stationsleitung, sich geweigert ha-ben, das Isolierzimmer zu betreten und dass es nicht zu ei-ner Verlegung auf die Intensivstation kam, trotz medizini-scher Indikation dafür. Als Systemtheoretiker fallen mir zwei Vermutungen ein: 1. Ich denke, dass hier keine orga-nisationalen Erwartungen wirksam waren. So konnten ir-rationale Ängste und wahrscheinlich auch Ekel als kollek-tives Vermeidungsverhalten im Sinne von Abwehr durch-

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schlagen. Dieses kollektive Vermeidungsverhalten (Walter A. Öchsler) verhindert die Möglichkeit von Selbstreflexion auf der Ebene der Station; die Thematisierungsschwelle und die erfahrene Bedrohung waren offensichtlich hoch genug, sodass niemand auf der Station darüber offen dar-über reden wollte oder konnte. So gab es keine von den Profis als Sollen erfahrbare Norm, welche die Personen und das soziale System Station erreicht hätte. Falls es sie gegeben hat, war diese organisationale Sicherung rausge-flogen und somit zeitweise unwirksam. 2. Wenn sich aufgrund fehlender Erwartungen seitens der Organisation, die natürlich über die Führungskräfte per-sonalisiert sein müssen, keine Erwartungserwartungen4 auf Seiten der Mitarbeiter ausbilden, dann passiert, was passiert. Worauf man sich dann noch verlassen kann, ist die Routine. Und das war kein Fall für Routine. Damit sie mich nicht falsch verstehen: Routine ist gut.5 Oh-ne am Patienten orientierte Routinisierungsprozesse wäre es rein zeitlich unmöglich, sich dem Einzelnen in angemes-sener Weise zuzuwenden. Zugleich kann die derzeitige Präferenz von gelungener Routinisierung in Form von Ver-fahrensanweisungen innerhalb des Qualitätsmanagements dazu führen, dass der angestrebte Sinn, sich leichter dem Einzelnen zuwenden zu können, auf dem Kopf gestellt wird. Leute können –aus unterschiedlichen Gründen - notwendige Abweichung verlernen. Das Kriterium der In-dividuierung, das Sehen des Einzelnen, steht aber über der Routine und erfordert von dem einzelnen Mitarbeiter die fallbezogene Beurteilung über die Anwendung der Routine oder ihre Modifikation in die Abweichung, also hermeneu-tische Fallarbeit. Und diese Fähigkeit zur Umschaltung auf

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Individuierung muss natürlich organisational gewollt sein, sonst gibt es nur Konflikte. Für ein christliches Kranken-haus ist die Umschaltung von Routine auf Individuierung und umgekehrt, keine Option, die man einfach ausschalten kann. Die Einmaligkeit der Patientin und des Patienten ist in der jüdisch-christlichen Überlieferung theonom be-gründet. Es kommt Gott selbst ins Spiel und begegnet uns in diesen Menschen. Sie werden zum Merkmal des göttli-chen Gerichts. (Mt 25, 31-46) Im Markusevangelium wen-det sich Jesus in den Heilungsgeschichten immer dem Ein-zelnen zu. Es gibt dort keine Kollektivheilung. Dabei geht es um die Fähigkeit zur Unterscheidung: Können z.B. die Krankenschwestern und Pfleger unterscheiden, bei wem sie die „Waschstraße“ durchziehen und beim wem sie die-se unterbrechen müssen. Oder: merkt eine Ärztin, bei wem ihre übliche Visitenfrequenz von ca. 3 Minuten ausreicht und wo es jenseits des Betriebsritus mal 7 Minuten sein müssen. Ich möchte im Sinne des Konzeptes einer narrativen Ethik noch auf eine zweite Folgegeschichte hinweisen, die in der beschriebenen klinisch-manageriellen Interpretationsge-meinschaft durch die Aussätzigenerzählung evoziert wur-de: Eine Krankenschwester sagte nach dem erwähnten Schweigen: „Auch ich habe eine Geschichte. Bei uns gab es einen Mann mit offenen Wunden, er hatte Maden in seinen Wunden und musste deshalb gebadet werden. Niemand wollte das tun. Ich habe mich durchgerungen und erklärte mich dazu bereit. Nachdem ich dem Mann mit einem Lifter in die Badewanne geholfen hatte, setzte ich mich auf einem Stuhl neben die Badewanne und wir begannen zaghaft zu reden. Der Mann erzählte immer mehr von seinem Leben und unser Reden wurde immer intensiver. Irgendwann

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kamen die Maden aus dem Wasser nach oben. Es störte mich nicht mehr“; soweit die Geschichte. Die Schönheit des Miteinanderseins hatte die Zerstörung des Körpers und die Hässlichkeit, der aus den Wunden entweichenden Tiere überlagert und überstrahlt. Es entstand Schönheit im Hässlichen. Auch bei dieser Geschichte handelt es sich wie bei der Aus-sätzigenheilung um eine Grenzüberschreitung, es ist eine professionelle Grenzüberschreitung. Die Schwester, eine Frau, sitzt neben einem Mann, der nackt in der Badewanne liegt. Das Wasser ist zum Schutz gefärbt. Und sie bleibt da-bei sitzen und beginnt Kontakt aufzunehmen. Subjekt wendet sich Subjekt zu. Bei dem Vollzug des medizinischen Behandlungsbades begegnen sich zwei Menschen und es entsteht etwas, was mein Kollege Siebolds „klinische Inti-mität“ nennt, in der ermöglichenden Parallelität von medi-zinischem Bad und personaler Hinwendung. Diese Paralle-lität ist wichtig, weil sie hilft, sich zu distanzieren und sich dadurch diese sehr persönliche Situation von einer priva-ten grundlegend unterscheidet. Die Schwester selbst war über diesen Verlauf überrascht und hat nicht damit ge-rechnet. Sie benutzt zur Beschreibung der Situation eine ästhetische Kategorie und sagte: „das war schön in dem Badezimmer“ und dies angesichts von Maden, die aus den Wunden im Wasser hochstiegen. Hier geschah die jesuani-sche Umkehrung von Rand und Mitte, Peripherie und Zentrum, wie wir sie in den markinischen Heilungsge-schichten immer wieder finden. Hier geschah Heilung. Wenn wir Heilung sagen, entdecken wir dass Markus in seinen Heilungsgeschichten vier unterschiedliche griechi-sche Wörter dafür gebraucht.

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Wir stoßen dabei auf eine interessante semantische Viel-falt (vgl. z.B. Mk 1,31; 1,34; 1,40; 3,2; 3,4; 5,29; 6,13): Zu-erst therapeuo, von dem unser Wort Therapie herkommt; es meint be-dienen, freundlich behandeln, verehren, gut sorgen, pflegen, heilen. Dann iaomai , darin steckt iatros der Arzt, als wiederherstellen und wiedergutmachen, hei-len; katharizo, das wird in der Aussätzigengeschichte ver-wandt und bedeutet, als für rein erklären, reinigen, befrei-en; und als viertes soso als gesundmachen, am Leben erhal-ten, retten, aufrichten, glücklich entkommen. Wenn wir all dies tun: bedienen, freundlich behandeln, verehren, pfle-gen, heilen, wiederherstellen, wiedergutmachen, retten, aufrichten, reinigen, befreien, glücklich entkommen lassen, handeln wir in der Spur des jesuanischen Heilshandelns. Wir tun dann das, was der biblische Sprachgebrauch mit heilen meint. Für ein christliches Krankenhaus wird damit sofort klar, dass mit diesem semantischen Raum nicht nur das Handeln von Ärztinnen und Ärzten, sondern auch je-nes der anderen therapeutischen Berufe erfasst wird, auch wenn die Klinik natürlich ein Medizinbetrieb ist. Führen wir uns vor Augen: 1/3 des Markusevangeliums sind Heilungsgeschichten. Das Christentum ist eine Hei-lungsreligion, eine therapeutische Religion, auch wenn wir es geschafft haben, in der Außenwirkung daraus vor allem eine Spezialagentur für dogmatische und moraltheologi-sche Fragen zu machen, mit einer großen Spezialabteilung für Schlafzimmer. Wir haben zurzeit einen Papst, der die-sen Eindruck massiv korrigiert. Die Kirche ist nicht für sich selber da; „eine selbstreferenzielle Kirche ist krank“, sagte der damalige Kardinal Bergoglio in seinem Statement beim Vorkonklave.6 Und er sagt es seither immer wieder. Papst

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Franziskus verwendet für die Sinnbestimmung der Kirche u.a. eine klinische Organisationsmetapher. Kirche sei einem Feldlazarett vergleichbar. Sie brauche die Fähigkeit, „Wunden zu heilen und die Herzen der Men-schen zu wärmen – Nähe und Verbundenheit. Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht. Man muss einen Schwerverwundeten nicht nach Cholesterin und nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen, dann können wir von allem anderen sprechen. Die Wun-den heilen, die Wunden heilen… Man muss ganz unten an-fangen“, so Papst Franziskus im Interview mit Antonio Spadaro SJ.7 Sehr geehrte Damen und Herren, christliche Krankenhäu-ser haben das Potenzial zu jesuanischen Orten der Heilung zu werden, sie können erfahrbare Orte wirkmächtiger Zei-chenhandlung des Evangeliums werden und sie sind es. Es heißt oft: Ja, wenn wir Zeit hätten, dann könnten wir... Mein Eingangsbeispiel „schwerkranker Patient und dazu noch Krätze“ hat nicht viel mit Zeit zu tun! Und ich könnte viele Organisations- und Therapiegeschichten erzählen, die wir in den letzten Jahren in organisationsdiagnosti-schen Studien erhoben haben, die nichts mit Zeit zu tun haben. Natürlich kann ich auch viele Geschichten berich-ten, die sehr wohl etwas mit Zeit zu tun haben, deshalb ist der Kampf und Streit um die geeigneten Rahmenbedin-gungen natürlich absolut wichtig. Aber wenn ich betrieb-lich-klinisch beobachte, dann eröffnet sich auch ein Kon-tingenzraum: Nicht selten kann ich mich in Situationen so oder so verhalten. Manches kann wirklich anders sein, auch ohne zusätzliches Geld oder Personal.

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2. Der Führungsblick: Vom Evangelium inspirierte Füh-rungspraxis Ich komme zu meinem zweiten Ein-Blick, dem Führungs-blick. Es ist eine Binsenweisheit, dass an den Führungs-kräften, vor allem an jenen in den Produktionsprozessen, Entscheidendes hängt. Sie sind das Modell, an denen Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter organisationale Erwartun-gen ablesen können, das wirkt viel stärker als Papiere, auf denen steht, was man will. Bei der Stationsleitung in mei-nem Eingangsbeispielspielt spielt das vermutlich – wenn auch als Ausfallsymptom - auch eine Rolle. Von den offe-nen Augen der Führungskräfte und ihrem offensiven Mut hängt auch ab, was gesehen und thematisiert wird. Können wir vom Evangelium etwas zu Führung lernen? Fragen wir erneut das Markusevangelium8: Der Text des Evangeliums macht klar, dass es in der mar-kinischen Gemeinde Funktionenausdifferenzierung gab. Es wird dort ganz selbstverständlich von „Ersten“ geschrie-ben, also gab es unterschiedliche Aufgaben. Nicht alle machten das Gleiche und es gab offensichtlich Leute, die besondere Verantwortung übernommen haben. In einer antiken Gesellschaft, in der der pater familias, der Haus-vorstand, so entscheidend war und das Patronats- und Kli-entelwesen eine so große Rolle spielte, nicht weiter ver-wunderlich. Markus hielt es aber für notwendig, sich hier-zu korrigierend zu äußern. Es war wohl bei den Führungs-leuten in der Gemeinde etwas aus dem Ruder gelaufen, was nicht seinen Vorstellungen über Führung in der Jesus-bewegung entsprach. Deshalb führt er uns die grundle-gende Gleichheit aller vor Augen.

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Funktionendifferenzierung bei grundlegender Gleich-heit aller In Kapitel 10, 28-31 finden wir ein interessantes Auslas-sungsphänomen. Als Antwort auf die Aussage des Petrus, dass sie alles verlassen hätten, um ihm nachzufolgen sagt Jesus: „Amen, ich sage euch, keiner ist, der verließ Haus oder Brüder oder Schwestern oder Mutter oder Vater oder Kinder oder Äcker wegen meiner und wegen des Evangeli-ums willen ohne dass er empfängt Hundertfaches: jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker unter Verfolgungen und im kom-menden Äon ewiges Leben. Viele Erste aber werden Letzte sein und die Letzten Erste.“9 Entscheidend ist, dass in der zweiten Aussagenreihe der Vater nicht genannt wird. Da-mit spart Markus bewusst den pater familias10 als Chef des Hauses, des oikos, als zentrales und kleinstes Ord-nungsprinzip antiker Gesellschaft, neben Kaiserhaus und Adel, für die gemeindliche Ordnung aus. Er plädiert in der Gemeinde für eine zentrale Leerstelle, die Gott allein vor-behalten bleibt. Wenn die Stelle des pater familias unbe-setzt ist, sogar ausfällt, sind alle Schwestern und Brüder, das gilt auch für die Ersten, die es ohne Zweifel gibt. Wir finden bei Markus somit das Modell der Egalität bei gleich-zeitiger Funktionendifferenzierung vor. Die Ersten gehö-ren zu den Nachfolgenden und sind nicht ihr Gegenüber, auch wenn sie manchmal vorangehen oder vom Schluss her versuchen, „die Herde“ voranzutreiben. Die Vorstel-lung von der Dienstgemeinschaft ist davon gar nicht weit weg; nur darf sie keine ideologische Größe bleiben, die keine Verhaltenskorrelate hat.

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Die Erkenntnis im Miteinander unterwegs sein: Die Ers-ten sind wie Diener und Sklaven Im Mittelteil des Evangeliums ist Jesus mit den Schülerin-nen und Schülern unterwegs auf dem Weg von Cäsarea Philippi nach Jerusalem, dem Ort seiner Hinrichtung (8, 27- 10, 45). Im Unterwegssein klärt er sie auf, wie er sich das Selbstverständnis der Führungsleute in seiner Jesus-bewegung vorstellt. Der Text ist strukturiert durch eine dreifache Ankündigung von Jesu Leiden und seiner Aufer-stehung. Auf jede dieser Ankündigungen erfolgt ein Schü-lerunverständnis mit einer anschließenden Belehrung der Schüler. Die Zwölf, also der innere Führungskreis, werden bei Markus als „chronische Missversteher“ der jesuani-schen Sendung dargestellt. Allen voran Petrus, der nach der ersten Leidensankündigung keinen ans Kreuz gebrach-ten Messias, sondern einen „Siegermessias“ will. Jesus nennt ihn deshalb ziemlich barsch „Satan“ und nordet ihn mit dem Aufruf „hinter mich“ wieder auf Nachfolge ein (Mk 8,33). Man isoliert zwar gerne das petrinische Messiasbe-kenntnis, aber es ist nicht ohne Passionssummarium und die Zurechtweisung des Petrus zu verstehen. Nach der zweiten Leidensankündigung diskutierten die Schüler auf dem Weg, wer der Größte sei. Es ist ihnen peinlich als Je-sus danach fragt, worüber sie geredet haben. Das Bedürf-nis nach sozialem Vergleich und Absetzung voneinander, gab es offenbar schon immer. Jesus macht in seiner Ant-wort den Ersten zum Letzten und zum Diener aller. Dann legt er noch eins drauf und holt vom Rand ein Kind zu sich in die Mitte und macht es zu seinem Identifikationsmodell (vgl. Mk 9, 30-37). Kinder waren in der damaligen Zeit Re-präsentanten des Endes der sozialen Leiter. Wer ein Kind aufnimmt, nimmt ihn, Jesus, auf und den, der ihn gesandt

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hat. (Mk 9,37) Nach der dritten Leidensankündigung geht es in guter antiker Tradition um die Ehrenplätze rechts und links von Jesus; stellen wir uns einen Thronsaal vor oder ein antikes Speisezimmer. Die wichtigsten Leute sit-zen bzw. liegen rechts und links vom Herrscher oder Hausherrn. Wo du sitzt, ist eine Frage der Ehre und des Status. Zwei von den Zwölfen, Jakobus und Johannes wol-len diese Sonderbehandlung, worüber sich die anderen, vielleicht eifersüchtig, aufregen. Die jesuanische Antwort ist eine deutliche Exhorte über Macht und Machtmiss-brauch. Jetzt wird aus dem Ersten nicht nur ein Diener, sondern sogar ein Sklave, so sollen sich die Ersten verste-hen (vgl. Mk 10, 33-45). Der markinische Jesus will, dass es in seiner Jesusbewegung nicht so ist, wie sonst im Leben. (Mk 10,43). Hier werden selbstverständliche soziale Ord-nungszusammenhänge paradoxiert und damit umgedreht. Markus macht klar: Führungsaufgaben sind nur funktional zu begreifen. Es gibt Erste, aber sie werden mit den Metaphern des Dieners und Sklaven identifiziert. So bleibt auch heute die Frage für die Ersten: Was heißt denn, Diener und Dienerin zu sein, ohne zu verleugnen der und die Erste zu sein, sondern beides in eine paradoxe Identifizierung zu bringen. Klar ist nach Markus, dass man Statusmerkmale schon mal bei Seite lassen kann, aber es geht noch darüber hinaus. Solche Führungsleute sind be-reit, sich auf das unauflösbare Spannungsfeld zwischen dem im Evangelium proklamierten Reich Gottes und der Logik der Welt (der Organisationen) einzulassen.11

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Was meint dienen? Was ist aber nun eine Dienerin und Diener: Sie nehmen die Perspektive ihres Herrn ein und richten auf diese Perspek-tive konsequent ihr Handeln aus. In der markinischen Les-art geschieht dies nicht gegen Geld oder wegen der rechtli-chen Abhängigkeit als Sklave, sondern wegen der Erfah-rung mit ihm, Jesus, und wegen Jahwe, seinem Gott. Jesus selbst, der andere König hat dieses Modell vorgemacht. Deshalb sollen die Schülerinnen und Schüler es ihm nach-tun. Dienen heißt also radikal die Perspektive des anderen einnehmen, vom anderen her zu denken und dies in mein Handeln einzubeziehen. Und ich füge hinzu: unter Einbe-ziehung der beruflichen Kompetenz und des Verstandes. Dieser Perspektivenwechsel ist auf der Erkenntnisebene fast banal, auf der Handlungsebene außerordentlich her-ausfordernd und auch in klinischen Interaktionszusam-menhängen nicht selbstverständlich. In Führungssituatio-nen wird das Dienen noch dadurch komplizierter, dass als Bezugspunkt nicht nur eine Person oder Personengruppe erscheint. Es sind in der Regel mehrere Bezugspunkte, In-teressenskonstellationen, und auch Rahmenbedingungen, deren Perspektive zu berücksichtigen sind. Damit ist klar; es gibt oftmals keine einfachen Lösungen. Dienen kann somit auf der Führungsebene vermutlich nur, wer über Ambiguitätstoleranz verfügt, also Unterschiedliches in Gleichzeitigkeit aushalten kann, und vor Paradoxieerfah-rungen nicht davon läuft. Wechseln wir die Ebene und sagen es konkret: So wäre es eine Aufgabe des organisationalen Dienens, wenn sich der Chefarzt einer gastroenterologischen Station mit den Visi-tenzeiten beschäftigen würde und auch mit der Pflege dar-über spräche. Im Stationszimmer ließ er zur Problemlö-

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sung einen Zettel aufhängen, auf dem steht: „Angehörige sollen Ärzte nur zu Visitenzeiten ansprechen. Bitte infor-mieren Sie die Angehörigen darüber.“ Niemand jedoch weiss und kann sagen, wann die Visiten wirklich stattfin-den. Alle bleiben ratlos zurück. Kein Beitrag zur Lösung, sondern zur Paradoxieverschärfung. Auf der Ebene der Person wäre es z. B. eine Aufgabe des Dienens, wenn ein Oberarzt sich endlich mit einem der Stationsärzte richtig beschäftigen würde. Er hat Probleme mit dem Arztbrief-schreiben und stellt selten einen ganz fertig, fängt den nächsten vorher an, und dies solange, bis sich die Situation zeitlich zuspitzt. Das führt zu verzögerten Entlasszeiten von Patienten und manchmal zu Flurbetten. Von der erfah-renen Stationsschwester lässt sich der junge Arzt aus Sta-tusgründen nicht helfen. Der Oberarzt muss den jungen Kollegen nicht nur ermahnen, sondern ihn fördernd und fordernd unterstützen. Das kostet etwas Zeit, aber die In-vestition würde sich vermutlich lohnen und diese proble-matische Form „individualisierter Selbstorganisation“ sinnvoll begrenzen. Es geht darum „jesuanische Egalität“ in Organisationen zu realisieren, die weitgehend hierarchisch strukturiert sind und zugleich zu wissen, dass Hierarchie kein Schimpfwort ist, sondern ein soziales Ordnungsprinzip, das sich auch bewährt hat. Ich bin der Überzeugung, dass aus dieser Gleichzeitigkeit der Gegensätze z. B. von Egalität und Hie-rarchie kreative Lösungen erwachsen können, die für Or-ganisationen und die darin arbeitenden, lebenden und auch leidenden Menschen nützlich sind. Ich komme zum Schluss: Vielleicht leben wir gegenwärtig in einer Epoche, in der wir kirchlich in gewisser Weise vor

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die Zeit der Kaiser Konstantin und Theodosius und der sich formierenden Reichskirche des 4. und 5. Jahrhunderts „zurückkehren“ können und neue Perspektiven des kirch-lichen Lebens denk- und fühlbar werden. Der derzeitige Bischof von Rom zeigt in seinem Modell des „absoluten Monarchen als Antimonarchen“ hierzu einen interessanten Weg auf. Er führt uns zurück zum Evangelium als der ent-scheidenden Quelle des Christentums. Aus dem Evangeli-um bekommen wir die Inspiration für die kantigen Maß-stäbe unseres Handelns. Deshalb braucht es für das Arbei-ten in Kliniken, Heimen und ambulanten Diensten in kirch-licher Trägerschaft nicht nur Leute, welche die christlichen Werte akzeptieren, sondern dazu noch einige Menschen, auch unter den Leitungsleuten, die sich heute als Schüle-rinnen und Schüler des Jesus von Nazareth, also als Nach-folgende verstehen. Ich denke dabei gar nicht zuerst an die Berufschristen, wie Priester und Ordensleute, sondern an Sie und mich, an die Stationsleitung, den Oberarzt und die Leiterin des Rechnungswesen. Wertegemeinschaft ist gut, aber es braucht auch einige, die ihre berufliche Tätigkeit in solchen Einrichtungen auch als Nachfolgegemeinschaft verstehen. Liebe Christa, ich habe meine Überlegungen mit großer Freude Dir zum Dank gesagt. Ich wünsche Dir, dass Du in Deiner Beratungstätigkeit mit Deiner großen Erfahrung vielen Führungskräften zu Paradoxiefähigkeit und Ambi-guitätstoleranz verhelfen kannst. Ich danke Ihnen fürs Zuhören!

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In seiner letzten E-Mail vom 17. Januar 2017 um 21.13 Uhr an Christa Garvert schreibt Herr Prof. Dr. Heribert Gärtner „... ich habe zwar öffentlich geredet, aber vor allem für Dich. Und ich mutmaße, so wie ich Dich kenne, dass es Dir in Deinem Arbeiten genau um diese zwei Perspektiven ging und auch geht: der klinischen und der Führungsperspektive...!“

Foto: KatHO NRW

Dieses Vermächtnis von Herrn Prof. Dr. Heribert Gärtner ist für Christa Garvert Ansporn und Verpflich-tung das Erbe von Herrn Prof. Dr. Heribert Gärtner aufzunehmen und weiterzuführen.

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Literaturhinweise 1Vortrag beim „Diskurs im Forum“ 16.1. 2017 aus Anlass der Verabschiedung von Christa Garvert: Werteorientierte Unternehmenskultur im Spannungsfeld der aktuellen Herausforderungen im Gesundheitswesen; der Vortragsstil wurde für das Manuskript beibehalten und um einige Anmerkungen ergänzt. 2 Viele Einsichten für mein Markusverständnis verdanke ich dem Kommentar von Martin Ebner: Das Markusevangelium. 2. Aufl. Stuttgart 2009; für die Periko-pe vgl. auch Peter Müller: Nicht nur rein, auch gesund (Heilung eines Aussätzi-gen). In: Ruben Zimmermann (Hg.): Kompendium der frühchristlichen Wunder-erzählungen. Bd.1: Die Wunder Jesu. Gütersloh 2013, 221-234. 3 Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt a. M. 2016 4 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frank-furt 1987, 396-399 u. 411-417. 5 Niklas Luhmann: Lob der Routine. In: Ders.: Politische Planung. Opladen 1971, 113.142. 6 Blog.radiovatikan.de/Die Kirche, die sich um sich selber dreht: Theologischer Narzissmus vom 27. 03.2013. 7 Das Interview mit Papst Franziskus Teil 1. In: Stimmen der Zeit, online exklusiv (03.10.2015, 20.43), 11f. 8 Heribert W. Gärtner: Kleine Hinweise zum Profil christlicher Einrichtungen. Von Markus lernen. In: Anzeiger für die Seelsorge. Heft 1 (2015), 20-23. 9 Vgl. zur Interpretation: Bärbel Bosenius: Der literarische Raum des Markus-evangelium (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament Bd. 140). Neukirchen-Vluyn 2014, 351-356. 10 Martin Ebner: Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen. Das Urchristen-tum in seiner Umwelt 1. Göttingen 2012. 11 Heribert. W. Gärtner: Was passiert, wenn das Evangelium in die Organisation kommt? Anmerkungen zur doppelten Paradoxiebildung und zum Paradoxiema-nagement in kirchlichen Einrichtungen. In: George Augustin u. a. (Hg.): Christli-ches Ethos und Lebenskultur. Paderborn 2009, 503-529.


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