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CCHHRRIISSTTLLIICCHH -- KKRRIITTIISSCCHH -- AAKKTTUUEELLLL · kreis, zu dem zu dieser Zeit auch...

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ZEITSCHRIFT FÜR DAS INTERDISZIPLINÄRE GESPRÄCH C CH HR RI IS ST TL LI IC CH H - - K KR RI IT TI IS SC CH H - - A AK KT TU UE EL LL L Heft 3/4, 67. Jahrgang, November 2011 Anton Webern als (De)Konstrukteur musikalischer (Un)Sicherheit von Dominik Skala Bildung im Zusammenspiel von Anspruch und Vertrauen von Patrick Becker Ist Gott ein sicherer Fels? Auf den Spuren des Moseliedes in Dtn 32 von Christiane Schneider Der Würde würdig werden? Philosophie als Lebensform von Christian Göbel Das Papstamt Geschichte und Theologie einer umstrittenen Institution von Matthias Reményi „Ein Gott, der hoffen lässt“ Predigt in St. Hedwig Berlin von Gerhard Nachtwei KAVD Katholischer Akademikerverband Deutschlands
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Page 1: CCHHRRIISSTTLLIICCHH -- KKRRIITTIISSCCHH -- AAKKTTUUEELLLL · kreis, zu dem zu dieser Zeit auch Anton Webern (1883-1945) gehört.2 Was tun diese Komponisten? Das ‚alte‘ System

ZEITSCHRIFT FÜR DAS

INTERDISZIPLINÄRE

GESPRÄCH

CCHHRRIISSTTLLIICCHH -- KKRRIITTIISSCCHH -- AAKKTTUUEELLLL

Heft 3/4, 67. Jahrgang, November 2011

Anton Webern als (De)Konstrukteur musikalischer(Un)Sicherheitvon Dominik Skala

Bildung im Zusammenspiel von Anspruch und Vertrauenvon Patrick Becker

Ist Gott ein sicherer Fels?Auf den Spuren des Moseliedes in Dtn 32von Christiane Schneider

Der Würde würdig werden?Philosophie als Lebensformvon Christian Göbel

Das PapstamtGeschichte und Theologie einer umstrittenen Institutionvon Matthias Reményi

„Ein Gott, der hoffen lässt“Predigt in St. Hedwig Berlinvon Gerhard Nachtwei

KAVDKatholischerAkademikerverbandDeutschlands

Page 2: CCHHRRIISSTTLLIICCHH -- KKRRIITTIISSCCHH -- AAKKTTUUEELLLL · kreis, zu dem zu dieser Zeit auch Anton Webern (1883-1945) gehört.2 Was tun diese Komponisten? Das ‚alte‘ System

INHALT

Editorial .................................................................................................................. 03

Anton Webern als (De)Konstrukteur musikalischer (Un)SicherheitDominik Skala .................................................................................................... 04

Bildung im Zusammenspiel von Anspruch und VertrauenPatrick Becker .................................................................................................... 13

Ist Gott ein sicherer Fels?Auf den Spuren des Moseliedes in Dtn 32

Christiane Schneider ......................................................................................... 21

Der Würde würdig werden?Philosophie als Lebensform

Christian Göbel .................................................................................................. 29

Das PapstamtGeschichte und Theologie einer umstrittenen Institution

Matthias Reményi .............................................................................................. 40

„Ein Gott, der hoffen lässt“Predigt in St. Hedwig Berlin

Gerhard Nachtwei .............................................................................................. 56

Aus Kirche und Gesellschaft ................................................................................... 60

Bücher und Zeitschriften ......................................................................................... 66

IMPRESSUMRENOVATIO - Zeitschrift für das interdisziplinäre GesprächHerausgeber: Katholischer Akademikerverband Deutschlands (KAVD)Präsidium: Präsident: Peter Burs (Essen), Vizepräsidenten: Dr. Bernhard M. Hillen (Schriftführer; Troisdorf) und Dr.med. Kartz-Bogislav Baller (Schatzmeister; Bad Soden-Salmünster)weitere Vorstandsmitglieder: Dr. Stephan Handy (Parchim), Andreas Hölscher (Berlin), Bernd Lörch (Karlsruhe), Dr.med. Ulrich Rehlinghaus (Essen)Redaktion: Andreas Hölscher (Teltow, V.i.S.d.P.)Redaktionsbeirat: Peter Burs (Essen), Prof. Dr. Albert Franz (Dresden), Dr. Bernhard M. Hillen (Troisdorf), Prof. Dr. Elisabeth Jünemann (Paderborn), Damian Kaiser(Marl), Dr. Ulrich Rehlinghaus (Essen), Prof. Dr. Peter Roggendorf (Aachen), Prof. Dr. Peter Treier (Wuppertal)Redaktionsanschrift: Katholischer Akademikerverband, Postfach 20 01 31, 45757 Marl, Hülsstr. 23, 45772 Marl, Telefon: (0 23 65) 572 90 90, Fax: (0 23 65) 572 90 91, E-Mail:[email protected], Internet: www.kavd.deBezugsbedingungen: RENOVATIO erscheint in der Regel quartalsweise. Die Redaktion behält sich die Ausgabe von Doppelnummern vor. Eine gemeinsame Ausgabe mit„evangelische aspekte“ ist inhaltsgleich. Der Bezugspreis für Mitglieder des KAVD und Kooperierender Verbände ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Bezugspreis für Nicht-mitglieder: Jahresabonnement 25,00 Euro, inkl. Versandkosten. Konto: Pax-Bank Köln (BLZ 370 601 93) 219 580 18.Bestellungen an: Katholischer Akademikerverband Deutschlands (KAVD), Postfach 20 01 31, 45757 Marl.Nachdruck und Vervielfältigung mit Genehmigung und Quellenangabe gestattet. ISSN 0340-8280

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EDITORIAL

Wie in den vergangenen Jahrenhaben wir die Preisträger des Publikums-preises der Salzburger Hochschulwoche2011 als Autoren gewinnen können. Dervom Katholischen AkademikerverbandDeutschlands gestiftete Publikumspreiswurde bereits zum sechsten Mal vergeben.Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftleraller Fachrichtungen waren eingeladen,einen Vortrag zum Thema der Hochschul-wochen „Sicher unsicher“ einzureichen.Kriterien waren kommunikative Transfer-leistung, inhaltliche Originalität und fach-wissenschaftliche Qualität.

Am Ende des 19. Jahrhundertskommt das traditionelle Dur-Moll-Systeman seine Grenzen. Anfang des 20. Jahrhun-derts brechen Schönberg und sein Schüler-kreis die Dur-Moll-Tonalität auf in Rich-tung freie Atonalität. Alle zwölf Tonquali-täten erhalten den gleichen Wert. DominikSkala geht in seinem Beitrag der Fragenach, wie sinnvolle Musik entsteht, wenndie traditionelle Tonalität wegbricht. AmBeispiel des dritten Satzes „Sehr bewegteViertel“ aus Anton Weberns Orchesterstük-ken zeigt der Autor, wie bei diesem Kom-ponisten traditionelle und neuartige Kom-positionsmethoden aufeinandertreffen, mitbewährten Mustern gearbeitet wird unddoch völlig Neues entsteht.

Im Zusammenspiel von intellek-tueller Herausforderung und sicherer, ge-borgener Umgebung sieht Dr. PatrickBecker die Voraussetzungen für gelingen-des Lernen. Er folgert daraus, dass es auchin der universitären Lehre noch viel zu än-dern gibt. Christiane Schneider zeigt an-hand der Verwendung des Bildes „Gott alsFels“ im Moselied von Dtn 32, dass GottesRache und Barmherzigkeit zusammenge-hören. „Das Gericht ist eingebettet in Zu-flucht und Rettung. Es handelt sich um eineVerhältnisbestimmung von Gericht und

Rettung bei Vorrang der Rettung. DieseSpannung gehört konstitutiv zum alttesta-mentlichen Gottesbild und führt uns dieNotwendigkeit von Ambivalenztoleranzvor Augen.“

Ein weiterer Höhepunkt der ver-gangenen Hochschulwoche war die Fest-rede von Dr. Alois Glück, Vorsitzender desZentralkomitees der deutschen Katholiken.Er ortet in unserer Gesellschaft höchst pro-blematische Entwicklungen: die Entkoppe-lung des Anspruchs auf Freiheit und derBereitschaft, Verantwortung zu überneh-men, den Wandel vom langfristigen zumkurzfristigen Denken und den ökonomi-schen Selbstbetrug in der Wohlstandsrech-nung. „Wir mogeln uns vorbei durchständige Neuverschuldung und führeneinen Lebensstil auf Kosten der Zukunfts-und Lebenschancen der nachkommendenGeneration – und wir tun es ohne schlech-tes Gewissen“, mahnte Glück.

Zugleich gab er Denkanstöße füreinen Weg aus der Krise. Er forderte eineneue Kultur der Verantwortung: der Ver-antwortung für sich selbst, die Mitmen-schen, das Gemeinwesen und die Nach-kommen. „Es braucht die Bereitschaft unddie Fähigkeit zur Veränderung, Rahmenbe-dingungen, in denen die Politik in Zu-kunftsaufgaben investiert, obwohl es sichwahlpolitisch nicht lohnt.“ Das Ziel sei eineöffentliche Debatte, die Gesellschaft müsseaktiv werden. „Als Christen haben wirkeine Patentrezepte als Antwort. Aber wirhaben aus unserer Religion und dem dar-aus entwickelten Wertesystem wichtigeOrientierungen für unser Handeln. Die Zu-kunft gehört nicht den Ängstlichen, die Zu-kunft gehört den mutigen Realisten.“ Indiesem Sinne wünsche ich Ihnen eine an-regende Lektüre.

Andreas Hölscher

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n fast allen geisteswissenschaftlichenDisziplinen gibt es Diskussionen dar-

über, ob bestimmte Epochen oder Ereig-nisse innerhalb der Geschichte des je-weiligen Fachs eher im Sinne eines Bruchsoder einer Kontinuität mit dem bisher Er-reichten gelesen werden können. Gleich-zeitig hängt mit solchen Momenten epis-temischer Natur oftmals auch die Frage zu-

sammen, ob eine Wissenschaft mo-dernetauglich und gegenwartspro-duktiv – also mehr als bloßer Mu-seumsstoff – ist oder nicht. Philoso-phen etwa fragen, ob man nach Kantnoch Philosophie betreiben darf, wieman es vorher getan hat, und Theolo-gen streiten darüber, inwiefern bei-spielsweise das Zweite VatikanischeKonzil im Gegensatz zu oder geradein sinnvollem Zusammenhang mitder bisherigen Kirchengeschichtesteht.1

Auch die Musikwissenschaft istvor allem mit Blick auf eine Schwelleinnerhalb der Musikgeschichte immerwieder besonders herausgefordert,auf den Übergang vom 19. ins 20.Jahrhundert, der verbunden ist mitdem Schlagwort vom Übergang der‚Tonalität‘ in die so genannte ‚Ato-nalität‘. Ganz unabhängig davon je-doch, ob man die sich dort ab-zeichnenden Entwicklungen im Sinneeiner homogenen und konsequenten

Entwicklung liest (wie etwa schon ArnoldSchönberg selbst es in Bezug auf die Har-monie tut) oder ob man eher der Herme-neutik eines radikalen Bruchs anhängt,kann man feststellen: Im ausgehenden 19.Jahrhundert stößt das bisher tragende to-nale System aus Dur und Moll immer mehran seine Grenzen. Die klanglichen undspannungsmäßigen Ausdrucks- und Kon-

Dominik Skala studiert Schulmusik, Musiktheorie, Katholische Theologie und Ge-schichtswissenschaften in Freiburg i.Br.; 2011 Staatsexamen in Musik mit einer analyti-schen Arbeit zu den freiatonalen Orchesterstücken Anton Weberns.

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Anton Webern als (De)Konstrukteur musikalischer (Un)Sicherheit

Dominik Skala

v.l.: Erzbischof Dr. Alois Kothgasser, Salzburg, undder 1. Preisträger des Publikumspreises der SHW:Dominik Skala, Freiburg

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struktionsmöglichkeiten, die sich aus denKonventionen dieser Tonalität ableiten las-sen, scheinen weitgehend ausgereizt.

Ich bin versucht zu sagen: Die Si-tuation des Komponisten im Anbruch die-ser musikalischen Moderne ist die desmodernen Menschen überhaupt: Sicherhei-ten, die einen Sinn garantieren, brechen aufoder brechen sogar ganz weg. Das spürenauch die Komponisten, und sie wagen denSchritt über bisher geltende Systeme hin-aus. Wir befinden uns in den ersten Jahrendes 20. Jahrhunderts. Hauptprotagonistensind die Wiener Komponisten ArnoldSchönberg (1874-1951) und sein Schüler-kreis, zu dem zu dieser Zeit auch AntonWebern (1883-1945) gehört.2

Was tun diese Komponisten? Das‚alte‘ System aus Dur und Moll – also dieHarmonik, die die Musik von Bach bisMahler trägt – lebt davon, dass die einzel-nen Töne einer Tonart mit unterschiedli-chen Wertigkeiten ausgestattet sind, ge-koppelt an ihren Platz in der Tonleiter. Esgibt – verallgemeinert gesprochen – Grund-töne mit ruhendem Charakter und Span-nungstöne, die nach Auflösung in dieGrundtöne streben. Die sich daraus ablei-tenden Zusammenklänge bilden bis datodas harmonische Zentralmoment der west-europäischen Musik.

Der entscheidende Schritt, die ‚re-volutionäre kompositorische Tat‘, bestehtnun darin, allen zur Verfügung stehendenTönen – es sind in der chromatischen Skalazwölf an der Zahl – den gleichen klangli-chen und strukturellen Wert zuzusprechen.Das Tonmaterial wird aus dem Korsett alterFunktionalität entlassen, die Bausteine derMusik ‚entsichert‘.3 Die musikgeschicht-liche Situation, die ich im Folgenden skiz-zieren möchte, ließe sich wohl am bestenals „freie Tonalität“ bezeichnen. In derFachliteratur hat sich auch die Bezeichnung

„Freie Atonalität“ eingebürgert.4 Die Pro-blematik und die Herausforderungen dieser‚entsicherten‘ Situation liegen auf derHand: Die traditionelle Harmonik in Durund Moll war nicht nur Trägerin der klang-lichen Konventionen. Sie garantierte dar-über hinaus auch die Form eines jedenMusikstückes. Das wird sofort einsichtig,wenn man bedenkt, dass es Zeit braucht,Spannung auf- und abzubauen, Zeit abergenau die Dimension ist, in der Musik sichhorizontal artikuliert. Die Frage, die in die-ser Situation im Raum steht, ist also dienach anderen Parametern musikalischerArt, die das Aufspannen eines sinnvollenBogens ermöglicht, wenn die traditionelleHarmonik dieses nicht mehr leistet. Oder,kurz gesagt: Es geht um die Suche nachMomenten, die Zusammenhang stiften undso etwas wie musikalischen ‚Sinn‘ garan-tieren.

Dieses Problem – das Ringen umSinn und Zusammenhang mitten unter ‚ent-sicherten Klängen‘ – lässt sich exempla-risch nachvollziehen am Werk des Kom-ponisten Anton Weberns. Im Folgendensoll der Satz „Sehr bewegte Viertel“ ausseinen posthum kompilierten und veröf-fentlichten „Orchesterstücken“ aus demJahr 1913 untersucht werden.5 Hier lässtsich – so die Ausgangshypothese – in para-digmatischer Art und Weise das Ringeneines modernen Komponisten zeigen. Esgeht um die Frage nach musikalischemSinn und Zusammenhang vor dem Hinter-grund einer ‚entsicherten‘ Situation. DasStück scheint dabei lesbar im Sinne einerAuseinandersetzung um eine authentische,den Herausforderungen der Moderne sichstellende Klangsprache. Und diese Ausein-andersetzung geschieht, gut dialektisch,indem Webern sich abarbeitet an den Vor-gaben der musikalischen Tradition, in dieer selbst hineingewachsen ist und auf die erkritisch reflektiert.

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(De)Konstruktion I:Vom Umgang mit der Tradition

Die angesprochene Auseinander-setzung über den Umgang mit traditionel-len kompositorischen Mitteln und derAbgrenzung davon zeigt sich bereits beieinem Blick auf die Gesamtform des Stü-

ckes. Es besteht nur aus vierzehn Takten –übersichtlich, aber mit einer großen Zahl anGegensätzen. Zwei Hälften stehen kontra-stiert gegenüber, die Zäsur in der Mitte hateine abgrenzende, aber auch eine vermit-telnde Funktion. Im Folgenden soll so vor-gegangen werden, dass aus allen drei Teilen– Teil I, die Zäsur und Teil II – exempla-risch Momente aufgezeigt werden, die füreher ‚traditionelle‘ (Teil I) oder aber füreher ‚neuartige‘ (Teil II) Kompositions-techniken stehen.6 Anschließend versucheich darzustellen, welche Aussage sich ausdieser Musik in Bezug auf die Herausfor-derung im Umgang mit Sicherheit und Un-sicherheit in der Moderne gewinnen lässt.

Zunächst zur kompositorischenGestaltung der ersten Hälfte – immer vordem Hintergrund, dass durch den Wegfallder Dur-Moll-Tonalität keine ‚schönen‘Klänge im Sinne einer klassisch-romanti-schen Klangästhetik mehr zu erwarten sind:Schon der Blick auf den Beginn machtdeutlich, dass Webern mit aus der musika-

lischen Tradition bekannten und legiti-mierten Mitteln komponiert. Die Eröff-nungstakte arbeiten mit dem Schema ‚klas-sischer‘ Phrasenbildung, dem Spannungs-aufbau und Spannungsabbau. Die öffnendeTrompetengestalt wird ergänzt von derschließenden Phrase der Klarinette (vgl.zum Folgenden Abb.1).

Im Detail heißt das: Die drei Mo-tive, die zusammen die Phrase der Trom-pete bilden, sind gekennzeichnet durchpunktierte Rhythmen, innerhalb derergroße Intervalle aufwärts für eine öffnendeTendenz sorgen. Dabei gewährleisten okta-videntische Anfangs- und Schlusstöne (a‘– a‘‘) zusätzlich eine gewisse Konsistenzim Phrasenbau. Gleichermaßen sinnvoll or-ganisiert ist die Fortsetzung durch die Kla-rinette. Oktavidentischer Anfangs- undSchlusston (es) werden verbunden durcheine kaskadenhaft fallende, rhythmischuniforme Geste, deren abwärts gerichteteIntervalle den spannungslösenden unddamit auf die Trompete antwortenden Cha-rakter evozieren.

Ein zweites Beispiel dafür, dassWebern in der ersten Hälfte des Stückesseine musikalischen Aussageabsichten mittraditionellen Mitteln organisiert, bieten diefolgenden Takte. Es werden verschiedeneKlangschichten übereinander gesetzt, unteranderem Flöten, Hörner und Posaunen,

Abb.1 – Öffnen und Schließen der Phrase durch Trompete und Klarinette (T.1/2)

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dazu eine grundierende Blechbläserschicht.

Exemplarisch aus dieser Fülleherausgestellt sei hier die Phrase der Po-saune (vgl. zum Folgenden Abb.2). In ihrermotivischen Gestaltung (Punktierung) derTrompete verwandt, erklärt sich ihr stei-gernder Zug aus der Verdichtung vonRhythmus und Intervallik auf kleiner wer-dendem Raum. Die Triolen gegen Endeschaffen eine zusätzliche Intensivierung.Melodisch durchschreitet die Phrase einenTonumfang von über zwei Oktaven (H-ges‘), die Melodie wird unregelmäßig li-near an aufsteigenden lokalen Spitzentönenentlang geführt.

Kurz gesagt: Auch die hier ver-wendeten Mittel, die Verknappungspro-zesse rhythmisch-metrischer Art sowie diekontinuierlich angelegte melodische Stei-gerung, sind Momente, die bereits die klas-sisch-romantische Tradition unter demStichwort Steigerung der rhythmischen undharmonischen Frequenz kennt und nutzt.

Zusammenfassend mit Blick aufden ersten Teil können wir also Folgendesfesthalten: Webern komponiert musikali-sche Zusammenhänge mit Mitteln, die auchdie Tradition vor ihm kennt und schätzt. Essind dies u.a. der Spannungsaufbau und -abbau durch Öffnen und Schließen vonPhrasen sowie die Intensivierung vonSpannung innerhalb einer Phrase durch die

Steigerung der rhythmischen und harmoni-schen Frequenz.

Chromatische Kulmination:Peripetie in der und durch die Totale

Die Akkordfolge in Takt 6/7, dieden ersten Teil abschließt, ist ein struktu-reller Höhepunkt des Orchesterstücks,Zäsur und vermittelndes Element zugleich(vgl. zum Folgenden Abb.3). Und das informaler wie in inhaltlicher Hinsicht: For-mal, also die rein kompositionstechnischeSeite betrachtend, wird in den Akkordendieser Zäsur das zur Verfügung stehendeMaterial totalisiert: Alle im chromatischenRaum zur Verfügung stehenden Töne wer-

den zunächst gestaffelt, dann gleichzeitigzum Klingen gebracht. Das Akkordische,wichtiges Moment einer traditionellen Ton-sprache, wird an seine Grenzen geführt.Webern gestaltet das so, dass er zunächstden Ambitus der einzelnen Akkordespreizt. Dies geschieht in teilweise ergän-zender Intervallsymmetrie in den Außen-stimmen: Der Halbton der Oberstimmenzwischen Akkord 1 und 2 findet sich in derUnterstimme zwischen Akkord 2 und 3, fürden Tritonus gilt das Umgekehrte. Darüberhinaus wird sukzessive die Zahl der am je-weiligen Klang beteiligten Instrumente er-höht, die zunächst komplementär (d.h.partiell ergänzend) alle zwölf im chromati-schen Tonraum zur Verfügung stehendenTöne anbringen. Dadurch entsteht ein

Abb.2 – Posaunenphrase T.3-5: Intensivierung der Binnenspannung

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klanglicher Sog, der auf den letzten der vierAkkorde hinzielt, in dem dann alle zwölfTonqualitäten gleichzeitig erklingen.

Die inhaltliche Funktion dieserklanglichen und affektiven Kulminationlässt sich als konsequente Fortführung unddialektische Ausdeutung des Kontruktions-geschehens im ersten Teil des Stückes in-terpretieren. Das ist so zu verstehen, dassdie Aufbietung der chromatischen Totale,d.h. aller vorhandenen Tonqualitäten, alsInbegriff von absoluter, historisch legiti-mierter Konstruktivität gelesen werdenkann. Eine plakativere Form der techni-schen Kontrolle von Prozess und Materialscheint nicht vorstellbar.

Im selben Moment – und deshalbist die Betonung des dialektischen Charak-ters dieser Stelle von Bedeutung – schlägtdie musikalische Sprache hier um: Ein‚Darüber hinaus‘ im Sinne weiterer For-matierung durch oben vorgestellte, ‚klassi-sche‘ Mittel wie Öffnen und Schließen, diemusikalischen Zusammenhang garantieren,ist nicht mehr möglich.

(De)Konstruktion II:Durch Altes zu Neuem

Der zweite Teil desStückes nimmt die-ses Moment einer bisan die Grenzen derSpannung getriebe-nen Musik auf und,so möchte ich weiterinterpretieren, disku-tiert kompositorischeElemente, die jen-seits dieser überreiz-ten historischen Mit-tel – oder vielleichttreffender gesagt: dieim Diesseits der Mo-derne – musikali-schen Sinn und Zu-

sammenhang stiften. Dies geschieht dabeiin der Lesart, wie sie Adorno als genuinesMoment der „Philosophie der neuenMusik“ einfordert, nämlich, dass „[e]rst imfragmentarischen, seiner selbst entäußertenWerk [...] der kritische Gehalt frei [wird].“8

Wie sich dieser Prozess kompositorischvollzieht, machen wiederum drei Beispieleexemplarisch deutlich.

Mit Blick auf den Übergang ausdem letzten Akkord in den zweiten Teillässt sich zunächst feststellen, dass ein-zelne, floskelhafte melodische Bestandteileaus der ersten Hälfte, die an die Klarinet-tenphrase T.2 erinnern, nur noch gestalthaftgebrochen und in mehrerer Hinsicht modi-fiziert auftauchen: Statt der Holzbläser istes nun das Blech, das die Motivik auf-nimmt, des weiteren werden Stimmenübereinandergelegt und in der ersten undzweiten Stimme statt mit einem absteigen-den mit einem aufsteigenden Zug versehen.Auch die harmonische Struktur folgt in ge-wisser Stringenz dem Vorhergehenden.Bringt der vierte Akkord alle zwölf Tonhö-hen in vertikaler Gleichzeitigkeit, positio-

Abb.3 – Aufbau derKulmination T.6/7

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niert die Phrase der Posaune dieses Ton-material in horizontalisierter Form. DerTonvorrat ‚klappt auf‘. Dadurch öffnet sichneuer Raum, in dem musikalische Ereig-nisse unter neuen Vorzeichen stattfindenkönnen (vgl. Abb.4).

Abb.4 – Erste Horizontalisierung der chroma-tischen Totale

Ein weiteres Beispiel für die Nut-zung dieses Raums bieten die Folgestellen:Die Horizontalisierung setzt sich fort. Dasvorher in massiver Gleichzeitigkeitpräsentierte Tonmaterial wird nun,nochmals verfeinert, nacheinandersubtil zur Darstellung gebracht.Einzelne Töne und Klangkombina-tionen wirken plötzlich durch ihreinzelnes oder paarweises Erklin-gen geradezu intim. Webern instru-mentiert innerhalb eines einzigenTaktes nicht weniger als 13 Klang-kombinationen. Er schafft so eineneigenständigen Gehalt, der sichsatztechnisch aus dem größtmögli-chen Kontrast zum Vorhergehendenlegitimiert (vgl. Abb.5).

Drittens setzt sich im ge-samten weiteren Verlauf dieseszweiten Teils die aktive Dekon-

struktion der akkordischen Totale fort (vgl.Abb.6): Drei Stellen bringen Anklänge die-ser Idee wieder, die Ganzheit aller zwölfTöne wird allerdings nicht mehr erreicht.Dieser Zersetzungsprozess kommt in Kom-bination mit anderen Parametern nochdeutlicher zur Geltung: Die jeweiligen Ge-stalten erscheinen zunächst in versetzterForm. Dadurch verblasst auch auf metri-

schem Gebiet jeder Anspruch vonTotalität. Sodann werden gleich-zeitige Klangereignisse auf einzelne Instrumentengruppen reduziert (Kla-rinetten) und schließlich mit der Re-duktion auf den zweitönigen Pau-kenwirbel in T.12,5 (c-f) nur nochals rudimentäres Element einstigerchromatischer Fülle belassen.9

Zusammenfassend ist mit Blickauf den zweiten Teil ein Zwischen-fazit zu ziehen: Webern schafft Neu-es, indem er erstens vorhandene In-halte übernimmt und anverwandelnd

rezipiert (das Klarinettenmotiv dient zurÜberleitung durch die Posaunen), sodannmusikalische Prozesse horizontalisiert (dieTotale schlägt um in ausdifferenzierte

Abb.5 – Klangkombinationen in T.8

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Klangkombinationen) und diese Formenschließlich fragmentarisiert (Reduktion aufeinzelne Instrumente und Intervalle).

Fragment im Möglichkeitsraum:die (Un)Sicherheit der freien Atonalität

Was bedeutet das alles nun füreine Aussage über den Gesamtgehalt desStückes, vielleicht aber auch für die Musikder freitonalen Phase insgesamt? Zweimögliche Lesarten möchte ich anbieten,ohne zu verhehlen, welche ich für gewinn-bringender halte. Die erste ist, gewisser-maßen eine ‚kulturpessimistische‘ Brilleaufzusetzen und einen Verfall zu diagnosti-zieren: In Weberns Stück wird die Musik inihren bewährten, konstruktiven Sinnge-bungsstrukturen aufgegeben. Die traditio-nelle Harmonik fällt weg, und auchweitere, die musikalische Form garantie-rende Parameter (wie vorgestellt: Öffnenund Schließen, Spannungsintensivierung)haben spätestens mit der Zäsur in der Mittedes Stückes ausgedient. Stattdessen wird,wie dargestellt, mit Klangkombinationenexperimentiert oder konstruierte Momenteder Vergangenheit werden nur fragmenta-risch entstellt und unverbindlich in den mu-sikalischen Raum geworfen.

Die andere Lesart dagegen ist diefolgende: Die kompositorische Erkenntnis,

mit den konventionellen Mitteln des Aus-drucks an eine Grenze gelangt zu sein,zwingt zu einer Neuorientierung grund-sätzlicher Art, immer im Hinblick auf dieFragen: Wie wird Musik sinnvoll, so dasssie auch die geistigen und technischen Be-dingungen der eigenen Zeit integriert? Wasist an musikalischer Verbindlichkeit nochvoraussetzbar und haltbar?

Meine Überzeugung ist, dass derKomponist Anton Webern sich diesen Her-ausforderungen positiv stellt. Das erste er-wähnenswerte Produkt seiner Musikscheint mir die Möglichkeit, jenseits desnach traditionellen Vorgaben formatiertenRaums (wie er es im ersten Teil tut) Frei-räume zu eröffnen, die der zweite Teilzeigt. Des Weiteren stellt sich die Art undWeise des Umgangs mit den Resten musi-kalischer Tradition als typisch ‚modern‘dar: Einzelne satztechnische oder harmoni-sche Aspekte verlieren zwar ihren absolu-ten Anspruch, verschwinden aber nichtganz. Sie werden weiterhin rezipiert undkönnen im Rahmen einzelner, individuel-ler Situationen als Fragmente auch uner-setzbare Bedeutung haben; allerdings – undich wiederhole die meiner Meinung nachauch entlastende Einschränkung – ohneden bis aufs Letzte begründbaren Anspruchvon Unersetzbarkeit. Webern, um es knappzu fassen, konstruiert also Neues, indem er

Abb.6 – Fragmentarisierung der chromatischenTotale

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dekonstruiert; er schafft Platz für diesesNeue, indem er überkommene Sicherheitenaufgibt – freilich immer mit dem Risikoverhandelbarer Unsicherheit. Das schein-bar Destruktive eines Verlassens bewährterMittel der Sinngebung wird unter solchenVorzeichen positiv und produktiv lesbar. Eserlaubt ein Optieren und Operieren in Mög-lichkeitsräumen. Und das, so meine Über-zeugung, ist eine Errungenschaft nichtausschließlich musikalischer Moderne, aufdie man als Hineingeborener in eine sichderart ausdeutende Zeit wohl kaum wirdverzichten wollen.

Anmerkungen

1 Vgl. beispielhaft zur Philosophie Paul Guyer(Hg.), The Cambridge companion to Kant andmodern philosophy (The Cambridge compan-ions to philosophy, religion and culture), Cam-bridge u.a. 2006; zur Theologie WolfgangBeinert (Hg.), Vatikan und Pius-Brüder. Anato-mie einer Krise (Theologie kontrovers), Frei-burg/Basel/Wien 2009.2 Zur Biographie Weberns vgl. u.a. Hans undRosaleen Moldenhauer, Anton von Webern.Chronik seines Lebens und Werkes, Zürich1980.3 Gerne wird in diesem Zusammenhang von„Zwölftonmusik“ oder „Dodekaphonie“ ge-sprochen. Darum handelt es sich hier allerdingsgerade nicht. „Dodekaphonie“ ist ein Begriff,der sich auf ein erst knapp 15 Jahre später vonArnold Schönberg geprägtes System bezieht,das die – wie beschrieben – „freigelassenen“Töne doch wieder in Reihen und deren Umkeh-rungen einordnet.4 Diese Bezeichnung hat sich durchgesetzt – beiallen Schwierigkeiten sprachlicher Art, diedamit einhergehen, ein Stück als ‚a-tonal‘, als‚nicht-klingend‘ zu bezeichnen.5 Vgl. die Partitur Orchestra Pieces (1913). Fromthe composer’s autograph manuscripts in theMoldenhauer Archive, New York: Carl Fischer1971, 14-17; eine Einspielung mit den Berliner

Philharmonikern unter Pierre Boulez liegt vorbei der Deutschen Grammophon CD DDD 0289457 6372 9 GX 6.6 Die Analyse eines Musikstückes kann immernur unter bestimmen Gesichtspunkten erfolgen.Eine totale Erklärung leisten zu wollen, diesämtliche technischen wie ausdrucksmäßigenMomente erfasst, wäre vermessen. Außerhalbder Betrachtung im vorliegenden Versuch blei-ben u.a. Untersuchungen zur – keinesfalls will-kürlichen – harmonischen Struktur sowie zumAffektgehalt, in dem es sich in seiner über weiteStrecken massiven dynamischen Präsenz vomWebernschen Stil teils deutlich absetzt; zu an-deren Versuchen, der Musik Weberns analytischHerr zu werden vgl. Mark Delaere, FunktionelleAtonalität. Analytische Strategien für die freia-tonale Musik der Wiener Schule (Veröffentli-chungen zur Musikforschung 14), Wilhelms-haven 1993; Friedhelm Döhl, Webern. WebernsBeitrag zur Stilwende der Neuen Musik. Studienüber Voraussetzungen, Technik und Ästhetik derKomposition mit 12 nur aufeinander bezogenenTönen (Berliner musikwissenschaftliche Arbei-ten 12), München/Salzburg 1976.7 Bereits dieses Mit- und Gegeneinander ver-schiedener melodisch, rhythmisch und satztech-nisch eigenständiger Schichten ist unter demKomplex polyphon-kontrapunktischer Arbeit inder Tradition europäischer Kunstmusik phäno-menologisch bestens legitimiert. 8 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuenMusik, Frankfurt/Main 2003, 119; zur Webern-Deutung Adornos vgl. außerdem ders., Antonvon Webern, in: Musikalische Schriften III (GS16/3), Frankfurt am Main 1997, 110-125; ders.,Anton von Webern, in: Musikalische SchriftenIV (GS 17), Frankfurt am Main 1997, 204-209.– Mit der Erwähnung des Ansatzes der Entäu-ßerung des Werkes ins Fragment ist freilichnoch keine gesamtästhetische Theorie musika-lischen Sinns geleistet, die Adornosche Heran-gehensweise bietet aber m.E. eine Vorlage, aufder das kompositorische Werk der WienerSchule in seiner tatsächlichen Dialektik an derGrenze des über (moderne) Kunst (allzumal)Aussagbaren auch sprachlich greifbar gemacht

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werden kann.9 Darüber hinaus und rückwendend auf den er-sten Teil des Stückes wäre zu erwähnen, dassdie im Laufe dieses Prozesses angewiesenenSpieltechniken schemenhaft auf die spezifi-schen Gestalten des ersten Teils zurückblenden:Flatterzunge bzw. Tremolo erinnern an die frü-here Flötenphrase, Triller in Horn und Klarinetteblenden zurück auf die symphonische Bläser-schicht. Der jeweilige, im ersten Teil charakte-ristische und exponierte Eigenstand ist jedocherloschen. Vielmehr fließen sämtliche Momentein einer chimärenhaften, nun fragmentarischzersetzt sich darstellenden Idee ehemaliger kon-struktiver Gewalt zusammen.

Anmerkung der Redaktion:Beim Vortrag in Salzburg beindruckten vorallem die musikalischen Darstellungen zumBeitrag, welche in der Printversion leider nichtwiedergegeben werden können.

Die Jury des Publikumspreises mit den Preisträgern: v.l.n.r.: Prof. Dr. Andreas Michael Weiß, Dipl.-Theol. Christiane Schneider (3. Preisträgerin) , Andreas Geffert, Dominik Skala (1. Preis-träger), Dipl.-Theol. Andreas Hölscher, Dr. Patrick Becker (2. Preisträger), Hochschulpfarrer P. Johannes Haas OSFS und Prof. P. Dr. Emmanuel Bauer OSB

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itte stellen Sie sich vor, Sie würdeneinem – Ihrem? – Baby eine dieser vie-

len pädagogisch wertvollen Spielsachenkaufen und in den Kinderwagen hängen.Was würden Sie sich denken, wenn dasBaby Ihr Spielzeug ignoriert, wenn es kei-nerlei Anstalten macht, es tatsächlich zu be-nutzen? Wahrscheinlich würden Sie einanderes kaufen, weil Sie irgendeinenGrund vermuten, der erklärt, warum dasBaby gerade dieses Spielzeug nicht mag.

Nun stellen Sie sich bitte vor, auchdieses und auch das nächste Spiel-zeug wird vom Baby links liegen ge-lassen. Noch drastischer: Stellen Siesich bitte vor, was in Ihrem Kopf vor-gehen würde, wenn das Baby älterund älter wird, aber keinerlei Inter-esse daran zeigt, Ihre liebe- und mü-hevoll vorexerzierten Sprachübungennachzuahmen. Das Kleinkind beginntnie, Worte auszusprechen und be-stimmten Dingen zuzuordnen, ja esverlässt nicht einmal Gestammel sei-nen Mund. Das Kind hat schlichtwegkeine Lust auf Sprachlernen.

Eine erschreckende Vorstellung.Ich gehe davon aus, dass Sie mit demKind über lang oder kurz bei einemArzt vorstellig werden würden. EinKind, das nicht lernen will, ist krank,und wahrscheinlich sogar sehr krank.Wie geartet auch immer die Diagnoseausfallen wird, es gilt, ein Problem zu beheben.

Warum eigentlich? Warum darf ein Kindnicht einfach lernfaul sein, warum darf esnicht so bleiben, wie es ist? Sicherlich, wirErwachsene werden die Lebensfähigkeit,die Berufsbefähigung und viel- leicht auchdie Selbsterfüllung angeben, die von einemletztlich lebenslangen Lernprozess abhän-gen, dessen Anfang nun mal in den erstenLebensjahren gelegt wird. Aber was ist,wenn das dem Baby egal wäre? Das kön-nen Sie sich nicht vorstellen?

Dr. Patrick Becker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Systematische Theologie ander Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen.

Bildung im Zusammenspiel von Anspruch und Vertrauen

Patrick Becker

v.l.: Präsident des KAVD Peter Burs und der 2. Preisträger des Publikumspreises der SHW:Dr. Patrick Becker, Aachen

B

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In der Tat ist genetisch sicherge-stellt, dass jedes Baby lernen will – auchwenn hier das Wörtchen „will“ steht, umeine Willensentscheidung geht es geradenicht, das Baby kann gleichsam nicht an-ders als zu wollen. Lernen ist also ein na-türlicher Vorgang, dessen Fehlen tatsäch-lich im Wortsinne eine Fehlfunktion dar-stellt und keine Frage persönlicher Vorlie-ben. Dennoch waren meine Eingangsfra-gen nicht sinnlos. Wir müssen lediglich einpaar Jahre später auf die Lernbiographievon Kindern und Jugendlichen sehen.Warum gibt es 12-Jährige, die Angst vorder Schule haben, warum gibt es wissbe-gierige und desinteressierte Kinder, warumerscheinen manche Pubertierende als lern-faul, wo sich in ihrem Leben doch geradeunglaublich spannende Änderungsprozesseabspielen usw. Kurz: Warum haben die ei-nen Kinder und Jugendlichen Lust auf Ler-nen und die anderen nicht?

An dieser Stelle lohnt der Blick indie Motivationsforschung. Hier suchen Pä-dagogen nach den Variablen, die die Vor-bedingungen von Lernprozessen gestaltenund damit mitbestimmen, wie viel Lust einKind z.B. darauf hat, am Morgen aufzuste-hen und in die Schule zu gehen. Mit die-sem Beitrag will ich jedoch einen anderenBlickwinkel einnehmen, nämlich den nochjungen der Neurodidaktik. Dazu ist es erstnötig, die Disziplin der Neurodidaktik vor-zustellen, danach werde ich einige Grund-prinzipien für Lernprozesse skizzieren, umdann eine Teilantwort auf die gestelltenFragen zu versuchen. Abschließend will ichdaraus Konsequenzen für das Lernen undLehren an Schulen und Universitäten for-mulieren.

1. Zur Neurodidaktik

Die Neurodidaktik ist ein Kind des Hypes,der um die naturwissenschaftliche Gehirn-forschung Ende des 20. Jahrhunderts ge-

macht wurde. Der US-ameri-- kanischeKongress erklärte die 1990er-Jahre sogarzur „Dekade des Gehirns“. Der Erkennt-nisfortschritt dieser Jahre ist in der Tat be-eindruckend. Und so zeichnet sich ab, dasssich die Neurowissenschaften zur neuenLeitdisziplin entwickeln, so wie dies vorziemlich genau 100 Jahren der Physik ge-lang. In beiden Fällen lag der Grund derAnerkennung in einem rasanten Erkennt-nisgewinn der jeweiligen Disziplin. Und sowie beim Wechsel zum 20. Jahrhundert dieHoffnung geäußert wurde, mittels der Phy-sik die gesamte Welt erklären zu können,wird den Neurowissenschaften zur Zeit voneinigen ihrer Vertretern eine nahezu allum-fassende Erklärungskraft zugesprochen –zumindest bei Fragen, die den Menschenbetreffen. Nicht nur unsere Gefühle und un-sere Willensfreiheit, sondern auch unsereSinnsuche und der Glaube an Gott werdeninzwischen unter Rekurs auf das neuronaleGeschehen erklärt. Daher muss den Neuro-wissenschaften auch mit einiger Skepsisbegegnet werden, zumindest wenn eineForm von Allerklärungsanspruch erhobenwird. Deshalb sei zuerst auf die Schwächender Neurowissenschaften und daraus fol-gend der Neurodidaktik hingewiesen.

Wer die Erkenntnisse der Hirnfor-schung nüchtern sortiert, wird feststellen,dass wir zwar auf der Mikroebene des ein-zelnen Neurons weitgehendes Wissen er-worben haben, dass dieses auf der Ma-kroebene der Gehirnareale aber deutlichausgedünnt und auf der Mesoebene derVernetzung sogar kaum noch nennenswertist. Wir können auf der Mikroebene denAufbau eines Neurons, die elektrische unddie chemische Signalweitergabe präzisenachvollziehen und darstellen. Wir könnenauf der Makroebene einige wesentlicheFunktionen der Gehirnorgane angeben,auch wissen wir manches über die Plastizi-tät des Gehirns (Plastizität meint, dass esGehirnbereiche gibt, die vielfältige Funk-

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tionen übernehmen können, was dann be-sonders deutlich zutage tritt, wenn ein Ge-hirnbereich bei einem Unfall zerstört wirdund dessen Aufgaben nach einigem Trai-ning von einem anderen übernommen wer-den). Aber wir können nicht auf derMesoebene erklären – oder gar prognosti-zieren –, wie welche Informationen wo ab-gespeichert werden, warum welche Infor-mationsverarbeitung wo stattfindet undschon gar nicht, warum welche Areale wieBewusstsein erzeugen. Damit bleiben diezentralen Vorgänge im Gehirn nachwievorunerklärbar.

Ob es auf der Mesoebene prinzi-pielle Verstehensgrenzen für die empirischeHerangehensweise der Hirnforschung gibt,soll an dieser Stelle nicht weiter diskutiertwerden. Solange die Hirnforschung nichtden Anspruch erhebt, das Bewusstseinselbst auf den Seziertisch zu legen, darf ihrnoch einiger Erkenntnisgewinn zugetrautwerden. Allerdings soll auf eine konkretemethodische Schwäche hingewiesen wer-den, die die zur Verfügung stehende Mess-technik verschuldet.

Der große Fortschritt setzte in den90er-Jahren des letzten Jahrhunderts insbe-sondere wegen der bahnbrechenden Mög-lichkeiten der bildgebenden Verfahren ein.Die bunten Hirnkarten, welche neuronaleAktivitäten verbildlichen, verleiten den un-bedarften Betrachter zu der Vermutung, eswerde das menschliche Denken dingfestgemacht. Deshalb ist daran zu erinnern,dass beide gängige Verfahren – die Posi-tronenemissionstomographie (PET) unddie funktionelle Magnetresonanztomogra-phie (fMRT) – nur den Stoffwechsel (ins-besondere den Blutfluss) sichtbar machen,der in den jeweiligen Gehirnregionen vor-liegt.

Auch wenn eine Korrelation vonneuronaler Aktivität mit dem Stoffwechsel

nicht zu bestreiten ist, scheint eine Gleich-setzung nicht immer zulässig; aus der Neu-robiologie selbst gibt es Stimmen, die voreiner überzogenen Interpretation der durchPET und fMRT gewonnenen Daten war-nen. Was die bisherigen Messverfahren aufkeinen Fall hergeben, ist die direkte Beob-achtung der neuronalen Vorgänge, also diekonkrete Signalweitergabe und -verbrei-tung im neuronalen Netzwerk. Genau daswäre aber notwendig, wenn auf empiri-schem Wege die Gesetze und Funktions-weise der Vernetzung auf der Mesoebeneanalysiert und begriffen werden sollen. So-lange aber die Mesoebene empirisch nurschwer erschlossen werden kann, werdenwesentliche Vorgänge der Neurobiologiebestenfalls indirekt zugänglich, wenn nichtganz verschlossen bleiben.

Das heißt als Zwischenfazit: DieNeurowissenschaften arbeiten nicht direktan mentalen Vorgängen, sondern beobach-ten Zellstoffwechselprozesse, die die bio-logische Basis für die Informationsverar-beitung im Gehirn darstellen. Das gibt derempirischen Hirnforschung und der daraufaufbauenden Neurodidaktik eine klareGrenze, da lediglich eine Grundstruktur desLernens erfasst wird. Der Ulmer PädagogeUlrich Herrmann schränkt den Anspruchder Neurodidaktik daher folgendermaßenein: „Beim heutigen Stand der Neurodi-daktik kann es sich nicht um mehr handeln(…) als eine neue Sicht auf Voraussetzun-gen, Strukturen und Prozesse von Ge-dächtnis und Lernen (…), nicht aber vonhöheren kognitiven Verstehens- und Denk-prozessen. Die neue neurodidaktischeSicht“, fährt er fort, „besteht (…) darin,dass Begünstigungen und Widrigkeitenbeim organisierten schulisch-unterrichtli-chen Lernen in ihren Voraussetzungen,Strukturen und Prozessen (…) aus neuro-wissenschaftlicher Sicht interpretiert undaufgrund neurowissenschaftlicher Einsich-ten modifiziert werden.“1 Mit dieser Pro-

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grammansage von Ulrich Herrmann bleibtdie Hoheit der (konventionellen) Pädago-gik und Lernforschung unangetastet, eswird jedoch mit der Neurodidaktik einneues Instrument für das Verständnis vonLernprozessen und ihren Voraussetzungengeschaffen – und es wird deutlich, warumich mir in der Neurodidaktik eine Antwortauf meine gestellte Frage nach Bedingun-gen für die Lust auf das Lernen erwarte.

Manfred Spitzer, einer der imdeutschsprachigen Bereich prominentestenNeurodidaktiker, bringt das Programm derNeurodidaktik folgendermaßen auf denPunkt: „Was der Magen für die Verdauung,die Beine für die Bewegung oder dieAugen für das Sehen sind, ist das Gehirnfür das Lernen“2, erklärt er. Wer sich mitdem Gehirn beschäftigt, wird also zwangs-läufig etwas über das Lernverhalten vonMenschen erfahren, vielleicht auch einneues Bild des Lernens entwickeln. Diesesneue Bild will ich in wenigen Zügen an die-ser Stelle skizzieren.

2. Neurobiologische Grundlagen des Lernens

Das Gehirn stellt ein Netzwerk aus etwa100 Milliarden Neuronen (vielleicht sogareine Billion – die Schätzungen divergierenweit) dar, die jeweils mit bis zu 10.000Synapsen miteinander verbunden sind. Fürden Laien überraschend ist, dass die Funk-tionsweise des Gehirns und damit die ge-samte Komplexität unseres Denkens aufdem digitalen Ja-Nein-Prinzip basiert: Daseinzelne Neuron „feuert“ (so der allge-meine Sprachduktus) oder nicht. Die ge-samte Informationsverarbeitung auf derEbene des Gehirnes entsteht dadurch, dassdiese minimalistische Grundfunktion in dasgenannte Netzwerk mit seiner ungeheurenGröße eingebunden ist.

Lernen bedeutet, dass dieses rie-sige Netzwerk umgebaut wird. Die Anzahlder Neuronen selbst verändert sich dabeiverblüffenderweise im Laufe des gesamtenLebens kaum. Wenn sich daher das Volu-men des Großhirns im ersten Lebensjahrverdreifacht, liegt dies allem voran daran,dass die Vernetzung der Neuronen massivzunimmt. Das Gehirn lernt also, indem essich besser vernetzt. Dazu werden am An-fang auch Verbindungen geschaffen, diesich nicht bewähren und daher wieder still-gelegt werden. Das Gehirn befindet sich soin einem ständigen Umbauprozess.

Daraus folgt, dass die Struktur desGehirns die persönliche Lernbiographie re-präsentiert. Lernprozesse konstituieren dasGehirn, wie ohne Gehirn keine Lernpro-zesse stattfinden können. Dieses Grund-prinzip des Umbaus hat für das Verständnisvon Lernen gravierende Folgen, die sich anSchulen und Hochschulen niederschlagenmüssen, es aber noch lange nicht ausrei-chend tun.

Wenn Lernen nur im Prozess desUmbaus der bestehenden Strukturen ge-schieht, heißt das für die Pädagogik, dassdas Gehirn assoziativ lernt, indem es Neuesmit Bekanntem verbindet. So erklärt dieNeurobiologie zum einen, warum aller An-fang schwer ist: Es ist mühsam und lang-wierig, neue Strukturen im Gehirn aufzu-bauen, ungleich leichter fällt es uns, in un-serem Fachgebiet weiteres Wissen zu er-gänzen. „Lernen ist ein sich selbst stabi-lisierender und verstärkender Prozess: Jepräziser man über etwas bereits weiß, destoleichter fällt das Hinzulernen passender In-halte“, fasst der Pionier der NeurodidaktikGerhard Friedrich zusammen.3

Zum anderen wird aus dem asso-ziativen Lernprozess heraus verständlich,dass Lernen immer Konstruktion bedeutet.Unser Gedächtnis stellt keinen Speicher

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dar, der mittels eines Trichters beliebig ge-füllt werden kann. Lernen ist ein aktiverProzess, der bestehende Strukturen um-baut. Jeder Umbau geschieht allerdings in-nerhalb eines bestehenden Settings, des-halb kann eine neue Information nicht un-beeinflusst vom Bisherigen aufgenommenwerden. Umgekehrt heißt das, dass dieStrukturierung der Gehirnfunktionen inAbhängigkeit von ihrer Nutzung geschieht– unser Gehirn entwickelt sich so, wie wires benutzen. Das hat unter anderem dieKonsequenz, dass Intelligenz nur zu einemTeil eine Folge der genetischen Anlagen ist.Viel mehr noch rührt Intelligenz daher, in-wieweit das Gehirn im Leben trainiertwurde. Ein untrainiertes Gehirn verküm-mert, auch wenn es noch so leistungsstarksein könnte.

Noch ein dritter wichtiger Aspektist mit dem assoziativen Lernvorgang ver-knüpft. Im Gehirn werden emotionale undkognitive Seiten nur beschränkt getrennt.Dies entspricht unserer Selbstwahrneh-mung, nach der wir uns zwar immer wie-der um eine nüchterne Betrachtung vonSachverhalten bemühen, das aber nie zu100 Prozent gelingt. Jede von außen kom-mende Information wird automatisch mitGefühl und Bedeutung versehen, nochbevor sie unser Bewusstsein erreicht. Sowird eine Information im limbischen Sys-tem etwa als angenehm oder unangenehmmarkiert, als wichtig oder unwichtig.

Dies beeinflusst nicht nur unsereGefühlslage, sondern hat die Aufgabe zusteuern, welche Informationen unsere Auf-merksamkeit erhalten und überhaupt insBewusstsein vordringen. Denken undEmotionen sind untrennbar miteinanderverknüpft, da jede Information einen „so-matischen Marker“ (Antonio Damasio) er-hält. Gefühlsneutrales Lernen kann daherprinzipbedingt nicht stattfinden. Ob ichSpaß am Lernen habe, bestimmen insbe-

sondere diese somatischen Marker.

Damit wird wiederum deutlich,warum Lernen einen Konstruktionsprozessdarstellt. „Lerninhalte [werden] nicht com-puterähnlich in Dateien gespeichert, son-dern mittels Assoziationen, die nicht nurOrte und Inhalte, sondern auch Gefühle,Bilder, Ereignisse, Gerüche, Tasterfahrun-gen usw., vor allem auch Situations- undKontextmerkmale umfassen“, fasst PeterGasser zusammen.4 Ob ich mir einen Sach-verhalt merken kann, liegt also auch daran,wie ich mich in der Lernumgebung fühleund ob mir der Lehrer sympathisch ist.Damit gerät der Lernkontext in den Blick.Eine entspannte Atmosphäre, ein geschütz-ter Raum und Vertrauen sind zentrale Vor-aussetzungen, damit sich Neugierde undKreativität entfalten können.

Da dieser Konstruktionsprozessprinzipbedingt immer stattfindet, lernenwir auch immer. Unser Gehirn ist zum le-benslangen, beständigen Lernen konstru-iert. Wenn wir uns in einer reizarmenUmgebung aufhalten, wird unser Gehirnebenso umgebaut, aber tendenziell leis-tungsschwächer. Die umfassende Vernet-zung des Gehirns führt dazu, dass auch dasLernen umfassend in dem Sinne geschieht,dass wir nicht unvermittelte Einzelfaktenspeichern, sondern komplette Konstellatio-nen. Das Gehirn ist zum Lösen von kon-kreten Problemen und zum Lernen vonProblemlösungen optimiert, es soll einenÜberlebensvorteil in komplexen Situatio-nen bieten und damit insbesondere sozialeInteraktion ermöglichen. Das Auswendig-lernen von Datenblättern ist evolutiv nichtvorhergesehen.

Diese biologische Feststellunglässt sich leicht mit unseren Erfahrungen inEinklang bringen: Es fällt uns schwer undkostet hohe Anstrengungen, einzelne Datenohne Zusammenhänge und Anknüpfungs-

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punkte auswendig zu lernen, während un-sere Neugierde in anderen Bereichen, beidenen wir einen Zusammenhang mit unssehen, schier unermesslich ist. Der gleicheJugendliche, der nicht gerne in die Schulegeht, lernt für ein Computerspiel nahezunebenbei komplexe Regeln und Welten.Wir nehmen nahezu unbemerkt und mühe-los auf, was emotional positiv belegt istoder was Menschen in unserem Umfeld be-trifft. Der Mensch hat von Natur aus eineangeborene, unerschöpfliche Neugierde aufetwas, bei dem er eine Lebensrelevanz er-kennt bzw. womit eigene Erfahrungen ver-knüpft sind.

3. Konsequenzen für Bildung an Schulenund Hochschulen

Mit diesen Grundprinzipien, die uns dieGehirnforschung über das Gehirn verrät,sind wir schon bei meiner eingangs ge-stellten Frage gelandet. Jeder Mensch lerntgrundsätzlich immer, weil das Gehirn garnicht anders kann. Wenn Albert Einsteinam Fließband der ersten Automassenpro-duktion seiner Zeit gelandet wäre, dannhätte sein Gehirn ebenso beständig gelernt,es hätte jedoch genau die Bereiche der hö-heren Physik nicht ausgebildet. Und zwarschon aus Selbstschutz, weil: Wie soll einbegnadeter Physiker am Fließband glück-lich werden? V.a. aber deshalb, weil dieentsprechenden Bereiche nicht trainiertwerden. Wolf Singer hat einige zentrale Er-kenntnisse erbracht, wie das Gehirn aufneuronaler Ebene lernt: Etwa dadurch, dasshäufig benutzte Synapsen verstärkt werden.Synapsen, die nicht benutzt werden, wer-den stillgelegt. So wäre es dann am Fließ-band den Synapsen ergangen, die Einsteinspäter bei der Entwicklung der Relativi-tätstheorie zum Durchbruch verhalfen.

Das ergibt für die Schulen ein Pa-radox: Vielleicht sind manche Kinder nurdeshalb nicht leistungsfähig und werden

auf einer niedrigeren Schule gehalten, weilsie nicht auf einer höheren Schule sind, undstecken deshalb in einem Teufelskreis.Vielleicht kann man niedrigere Sozial-schichten deshalb eher in die Schubladegeistiger Armut stecken, weil für ihre Ver-treter die entsprechende geistige Heraus-forderung zur Ausbildung einer höherenIntelligenz gefehlt hat? Positiv formuliertgibt die Hirnforschung der Politik die Auf-gabe mit, für gerechte Bildungschancen füralle Kinder zu sorgen. Die Genies sindnicht auf bestimmte soziale Schichten be-grenzt, aber sie können nur dort entstehen,wo eine entsprechende herausforderndeBildung besteht.

Damit wage ich eine erste Teil-antwort auf meine Eingangsfrage. Lust amLernen gibt es immer dort, wo entspre-chende Herausforderungen bestehen, diefür den Lernenden Sinn ergeben. Was sinn-voll ist, hängt vom jeweiligen Lernstandab. Für ein Kleinkind ergibt es Sinn, mit-tels beständig wiederholter Greifvorgängedie Motorik zu schulen. In der Hochschulemag auch mitunter das stupideste Auswen-diglernen als sinnvoll erachtet werden,wenn den Studierenden klar ist, wozu siedas Auswendiggelernte benötigen. Dieses„Wozu“ muss jedoch immer im Blick sein.Das, glaube ich, ist eine Herausforderung,die noch immer in unseren Bildungssyste-men sträflich vernachlässigt wird – zumin-dest dort, wo ich einen näheren Einblickbesitze: an den Universitäten.

An den Universitäten wird näm-lich manchmal geradezu paradigmatischdarauf wert gelegt, dass Bildung Selbst-zweck sei, keine weitere Begründung be-nötige und damit ihren Sinn in sich trage.Zumindest in Deutschland folgt dann dieBerufung auf Humboldt, der ein derartigesBildungsziel propagiert habe. Hat er aller-dings nicht – denn an der Humboldt’schenUniversität wurden Juristen, Mediziner und

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Theologen ausgebildet. Es gab also ein kla-res Wozu.

Zurück zu meinen Eingangsfra-gen. Dass wir Menschen Herausforderun-gen benötigen, um zu lernen, und dassdiese Herausforderungen für uns in einemverstehbaren Kontext stehen müssen, istnur die eine Hälfte der Antwort, die mir dieHirnforschung zu geben scheint. Ich würdees zwar als Herausforderung empfinden,zum Mond zu reisen, und da ich ein reise-freudiger Mensch bin, würde mir auch derSinn dieser Herausforderung einleuchten.Aber die Aufgabe ist für mich ein paarNummern zu groß. Eine Herausforderung,die meinen Lerneifer weckt, muss alsonoch eine zweite Komponente besitzen: siemuss für mich angemessen sein. Angemes-sen heißt, dass ich mich ausreichend sicherfühlen muss, dass ich mit der Herausforde-rung umgehen kann, ohne Ressourcen zuverschwenden oder mich lächerlich zu ma-chen.

Das klingt einerseits banal. Diedahinter stehende Herausforderung will ichanhand eines Versuches aufzeigen. Zueinem Affenbaby, das sich in einem geräu-migen Käfig befand, wurde ein ihm frem-der Gegenstand gelegt. Beim einen Malwar die Mutter des Affenbabys mit anwe-send, beim anderen Mal nicht. Das Verhal-ten des Affenbabys war wie ausgewechselt:Im ersten Fall ging es beherzt auf das Ob-jekt zu, kam noch einmal zur Mutter zu-rück, und traute sich schließlich, das Objektgenau zu inspizieren. Im zweiten Fall hattees vor dem Objekt Angst und verstecktesich. Damit wir Neues lernen können, brau-chen wir also auch Sicherheit und Ver-trauen. „Vertrauen ist das Fundament, aufdem alle unsere Entwicklungs-, Bildungs-und Sozialisierungsprozesse aufgebautwerden“, hält Gerald Hüther als Ergebnisdes Affenversuches fest.5 D. h., dass einevornehmliche Aufgabe eines Pädagogen/

einer Pädagogin darin besteht, eine ver-trauensvolle Umgebung zu schaffen unddem Niveau der Lernenden angemesseneHerausforderungen zu kreieren. Leistungs-stress und Versagensängste sind natürlicheGegner des nachhaltigen Lernens. Wird dasbei Prüfungen immer gebührend berück-sichtigt? Oder ist das Bulimie-Lernen (aus-wendig lernen, in der Prüfung auswerfenund vergessen) nicht doch systembedingt?

4. Zur Gestaltung von Lernprozessen

Wir sind nun beim Thema dieser ganzenHochschulwoche angelangt: Für einensinnvollen Lernprozess benötigen wir einegelungene Mischung aus Sicherheit undUnsicherheit. Im Titel dieses Vortrags habeich diese als Zusammenspiel von Anspruchund Vertrauen präzisiert. Ich möchte diesesdadurch abschließend verdeutlichen, dassich einige Konsequenzen und Fragen for-muliere, die sich aus der Neurodidaktik er-geben.

Die zentrale Erkenntnis der Neu-rodidaktik lautet, dass Lernen einen Pro-zess darstellt, und zwar einen Prozess, derprinzipbedingt immer stattfindet. UnserGehirn kann gar nicht anders als lernen, daes sich beständig umbaut. GehirngerechtesLernen muss also erstens als Prozess statt-finden. Zweitens muss gehirngerechtesLernen ganzheitlich erfolgen, also keinAuswendiglernen von Einzelfakten umfas-sen, sondern Problemlösestrategien fürHerausforderungen, deren Relevanz dieLernenden erkennen. Drittens beachtet ge-hirngerechtes Lernen die emotionale Seite,also insbesondere die Beziehungsebenezwischen den Lernenden und Lehrendenund zwischen den Lernenden untereinan-der. Lernen muss eben nicht jeder für sichalleine, wie es gerne heißt, sondern Lernenfindet immer in einem Beziehungsgesche-hen statt.

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„Wer also Kindern nicht einfachnur mehr Wissen vermitteln, sondern sie zukompetenten, starken und selbstbewusstenPersönlichkeiten erziehen will, muss in Be-ziehungen denken und in Beziehungsfä-higkeit investieren“, schlussfolgert GeraldHüther.6 Er fordert daher eine Kultur derWertschätzung, der Ermutigung und dergemeinsamen Anstrengung. Damit wirddas Rollenbild von Lehrenden sowohl inSchulen als auch Universitäten vehementhinterfragt. Spielt die Reflexion der Bezie-hungsebene bei der Ausbildung zur Lehre-rin oder zum Universitätsdozenten dieRolle, die hier gefordert wird? Können un-sere Lehrenden in Beziehungen denken?

Denken wir überhaupt in Lern-Prozessen? Wären dazu nicht andere Prü-fungsformen nötig als die punktuellenAbschlussprüfungen, in denen zudem oftgenug lediglich Faktenwissen abgefragtwird? Erhalten Lernende ausreichend Ge-legenheit, ihren eigenen Lernprozess zu ge-stalten, selbst auf Lösungssuche zu gehenund damit das Meistern von Herausforde-rungen in Eigentätigkeit zu lernen? Oderverstehen wir unter Bildung, Schülern undStudentinnen unsere fertigen Konzepte zupräsentieren? Wie viele Rückmeldungenwerden in Lernprozessen gegeben? Kön-nen Lernende in Kleingruppen vielleichtzur gegenseitigen Kritik angeleitet und an-geregt werden? Können in schulischen unduniversitären Lernprozessen auch Themennach den Wünschen der Lernenden aufge-griffen und bearbeitet werden, oder bestehtein enges Wissenskorsett – das im Extrem-fall auch noch an den Interessen der Ler-nenden vorbeigeht?

Ich vermute, dass die Neurodi-daktik ein anderes Rollenbild nahelegt, alsich es zumindest im universitären Kontexterlebe. An Schulen mag die Situation an-ders, differenzierter sein. Aber auch hierdürften meine Fragen durchaus ihre Be-

rechtigung haben. Eine zentrale Aufgabeder Lehrenden besteht demnach darin, Er-folgserwartung zu signalisieren, Suchbe-wegungen zu fördern und das Selbstbe-wusstsein der Lernenden zu stärken. Mei-ner persönlichen Erfahrung nach machtLehre unter diesen Bedingungen vielFreude – und zwar beiden Seiten. Exakt dasist die Grundbotschaft der Neurodidaktikund die Antwort auf meine eingangs ge-stellte Frage, und damit möchte ich meinenKurzvortrag beschließen: Wir können beiLernenden aller Lebensalter die Begeiste-rung für das Lernen wachhalten, wenn wirLernen als einen Entwicklungsprozess imUmgang mit sinnvollen Herausforderungenverstehen und Lehren als Begleitung dabei.Das betrifft Studenten und Schülerinnengleichermaßen wie Senioren und das ein-gangs genannte Baby, auch wenn sicherlichjeweils neu nachzudenken ist, wie dieseEinstellung konkret umzusetzen ist.

Anmerkungen1 Herrmann, Ulrich (Hg.): Neurodidaktik.Grundlagen und Vorschläge für gehirngerechtesLehren und Lernen, Weinheim/Basel 22009, 9.2 Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschungund die Schule des Lebens, Berlin 72009, XIII.3 Friedrich, Gerhard: „Neurodidaktik“ – eineneue Didaktik?, in: Ulrich Herrmann (Hg.):Neurodidaktik, Weinheim-Basel 22009, 272–285: 274.4 Gasser, Peter: Gehirngerecht lernen, Bern2010, 345 Hüther, Gerald: Die Bedeutung sozialer Er-fahrungen für die Strukturierung des menschli-chen Gehirns, in: Zeitschrift für Pädagogik 50(2004), 487-495: 492.6 Hüther, Gerald: Die Ausbildung von Meta-kompetenzen und Ich-Funktionen während derKindheit, in: Ulrich Herrmann (Hg.): Neurodi-daktik, Weinheim-Basel 22009, 99-108: 108.

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„Ein‘ feste Burg ist unser Gott …“ – diesesvon Luther verfasste Lied ist weit überseine protestantischen Ursprünge hinausbekannt. Vor allem die erste Zeile ist zueiner feststehenden Wendung für Trost inSituationen der Gefahr und Bedrängnis ge-worden. Angesichts der heutigen „hoch-gradig unsicheren Lebenswelten“1 er-scheint diese „feste Burg“ vielleicht geradeals erstrebenswertes Ziel, wo alle Sehn-süchte nach Sicherheit und Geborgenheitzur Ruhe kommen. Denn: Wie schön wäre

es, zumindest in Gott eine „festeBurg“, einen Ort der Sicherheit unddes Schutzes, eine verlässliche Zu-flucht zu finden?! – Aber ist der bib-lisch bezeugte Gott überhaupt eine„feste Burg“, ein sicherer Zufluchts-ort?

Das Bild der „festen Burg“für Gott ist den Psalmen entnom-men.2 In den Psalmen, den GebetenIsraels und der Kirche, gibt es einbreites Wortfeld, das in der Bedeu-tung von Gott als „sicherem Zu-fluchtsort“ verwendet wird.3 Dazugehört neben der „Burg“ oder „Fes-tung“ auch die Metapher von Gott als„Fels“ – verbindend ist die dahinter-liegende Vorstellung vom „Flucht-felsen“, einer hochgelegenen „Berg-feste“, die zur sicheren Zuflucht wer-den kann.4

Die Bezeichnung Gottes alsFels ist in der allgemein-verbreiteten Redevon Gott ein weniger präsentes Bild, imAlten Testament wird diese Gottesmeta-pher jedoch an prominenten Stellen ver-wendet – so auch im Moselied in Dtn 32,dem sog. „Schwanengesang des Mose“5,seinem Abschiedsgesang und „Vermächt-nis“ kurz vor seinem Tod.

Dieses Bild von Gott als Fels inDtn 32 soll in diesem Beitrag näher unter-sucht werden, nämlich unter der Fragestel-lung: Bietet dieser Fels – und damit derbiblisch bezeugte Gott – wirklich Sicher-

Dipl.-Theol. Christiane Schneider ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Alttestament-lichen Lehrstuhl der Universität Bonn bei Prof. Dr. Ulrich Berges.

Ist Gott ein sicherer Fels?Auf den Spuren des Moseliedes in Dtn 32

Christiane Schneider

v.l.: Dr.med. Kartz-Bogislav Baller und die 3. Preis-trägerin des Publikumspreises der SHW:Christiane Schneider

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heit? Oder ist es eine vermeintliche, einescheinbare Sicherheit, eine Illusion? Giltsie bedingungslos? Durch wen oder was istsie möglicherweise eingeschränkt?

Die Rede von Gott als Fels

Zur Rede von Gott als Fels6 findet sich inder einschlägigen Fachliteratur ein breiterKonsens: Demnach ist „der feststehende,unerschütterliche Fels in übertragener Be-deutung stereotypes Bild für die Hilfe Got-tes […], für den von ihm gewährten Schutz[…], die bei ihm gefundene Geborgenheit[…], sein rettendes Handeln […] und seineunerschütterliche Treue […].“7 Die Identi-fizierung JWHWs mit diesen Eigenschaf-ten ist so stark, dass der Fels nicht bloßesBild für Gott bleibt, sondern auch als Got-tesname und Ehrentitel verwendet werdenkann.8

Gott als Fels im Moselied (Dtn 32)

Form und Inhalt

Der Text par excellence, der diese Meta-pher besonders häufig – nämlich siebenMal – und sehr pointiert verwendet, ist Dtn32, das sogenannte „Moselied“. DieserText sticht allein auf formaler Ebene durchzwei Merkmale besonders hervor: zumeinen die Tatsache, dass hier ein „Lied“9,ein poetischer Text inmitten der Erzählun-gen und Gesetzessammlungen des Deute-ronomium vorliegt. Lieder stehen innerhalbder Prosatexte des Alten Testaments anSchlüsselstellen und sind Kristallisations-punkte theologischer Reflexion. Zum an-deren gehört das „Lied“ mit seiner Positionam Ende des Deuteronomium – und aucham Ende des gesamten Pentateuch – zu denletzten Worten des Mose vor seinem Todund ist damit gewissermaßen sein „theolo-gisches Vermächtnis“.10

Bereits diese zwei Merkmale – dieliterarische Form als „Lied“ und die End-position – lassen vermuten, dass es sichhier um einen theologisch bedeutsamenText handelt, der in der Frage nach demGottesbild Wesentliches zu sagen hat.

Inhaltlich stellt der Text von Dtn32 eine Rede – in der literarischen Formeines Liedes – des Mose an das Volk Israeldar. In einer Rückblende erinnert Mose anIsraels Erwählung durch JHWH, den bibli-schen Gott, und dessen große Fürsorge fürdas Volk. Doch das Volk wurde seinemGott untreu und diente anderen Göttern.Daraufhin ergreift in dieser Moserede Gottselbst – von Eifersucht gepackt – das Wortund hält eine flammende Rede, die Israelmit dem Gericht droht. Das Lied endet mitder Aussicht, dass JHWH Rache übt an denGegnern, seine Diener jedoch von ihm ent-sühnt, also freigesprochen werden.

Das zweiseitige Gottesbild in Dtn 32

In diesem sehr langen und dichten Textwird in vielfältiger Weise von Gott – undseiner Beziehung zu seinem Volk Israel –gesprochen. Auf der einen Seite werdenseine „positiven Seiten“ hervorgehoben:Gott ist Israels Vater und Schöpfer (V 6),er behütet Israel wie seinen Augapfel undsorgt sich wie ein Adler um seine Jungen(V 10f), er nährt Israel mit Früchten,Honig, Öl, Butter, Milch, fetten Tieren,Brot und Wein (V 13f). Es kommen aberauch seine „dunklen Seiten“ zur Sprache:Angesichts der Untreue seines Volkes wirdGottes Eifersucht und sein Zorn geweckt(V 21f), so dass JHWH selbst schließlichsagt: „Ich will Unheil über sie häufen,meine Pfeile will ich gegen sie aufbrau-chen“ (V 23). Gott will Rache und Vergel-tung üben.

Das ist ein Gottesbild, das (zu-mindest heutigen Leserinnen und Lesern)als problematisch und schwierig, zumin-dest aber als anstößig erscheint. Der Text

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wirft also die Frage nach dem Gottesbildoder – genauer gesagt – nach der Integra-tion gewalthaltiger Elemente in das Got-tesbild auf.11

Die Felsmetapher in Dtn 32

Der kurze Überblick hat deutlich gemacht,dass es eine reiche Gottesmetaphorik inDtn 32 gibt. Es soll an dieser Stelle aus-schließlich um die Rede von Gott als Felsgehen. Dass das natürlich nur ein Aus-schnitt, ein Mosaikstein aus dem Gesamt-gottesbild dieses Textes ist, versteht sichvon selbst. Die Rede von Gott als Fels istaber keineswegs marginal in diesem Text,der wie ein vielfarbiges Bild oder ein poly-phones Musikstück von Gott spricht. Ganzim Gegenteil: Die Rede von Gott als Felszieht sich wie ein Leitmotiv12 durch diesentheologisch dichten Text.

Von besonderer Bedeutung ist dieTatsache, dass dieses Motiv genau siebenMal verwendet wird. Schon 1985 hatGeorg Braulik darauf aufmerksam ge-macht, dass die Verwendung von 7er-Rei-hen oder Motiven im Deuteronomium stetseine spezielle Bedeutung hat,13 dass sie„immer einen besonderen Akzent“14 setzenund somit „Zentralwörter und Schlüssel-aussagen des Deuteronomiums“15 hervor-heben. So ist davon auszugehen, dass dieVerwendung der Felsmetapher in diesemtheologischen Spitzentext am Ende desDeuteronomium keineswegs willkürlichgewählt, sondern im Gegenteil, mit Be-dacht gewählt und eingesetzt ist.

Textanalyse

Was sagt dieser Text aber nun über Gott alsFels? Um das Bedeutungsspektrum dieserMetapher in der Rede von Gott näher zuanalysieren, sollen nun in einem kurzenDurchgang die sieben Belege untersuchtwerden.

Die ersten drei Belege stellen inbesonders deutlicher Weise JHWHs Treueund liebevolle Sorge Israels Untreue ge-genüber.

V 4 führt direkt zu Beginn desLiedes quasi leitmotivisch die Metaphervom Fels ein. Der Vers bildet somit gleich-sam das Fundament des kommenden Lie-des, das die Beziehung Gottes zu seinemVolk reflektiert: Gott ist der Fels, er ist treuund gerecht16. Nur auf diesem Hintergrundkann die wechselvolle und leidenschaft-liche Geschichte Gottes mit seinem Volkverstanden werden.

Nach dieser Ouvertüre und derBeschreibung Gottes liebender Fürsorgewird in V 15 herausgestellt, dass Israel sei-nem Gott jedoch untreu wurde und ande-ren Göttern diente. In diesem Vers wirdGott als Fels mit Schöpfung und mit Ret-tung (möglicherweise in Anspielung aufden Exodus) in Verbindung gebracht – alsomit zwei Momenten, die für die Identitäts-bildung des Volkes Israel zentral sind.

Auch der dritte Beleg (V 18) kon-trastiert Gottes Treue mit Israels Untreue.Gott der Fels erscheint hier als der Zeu-gende und Gebärende, d.h. gleichzeitig inder Vater- und Mutter-Rolle.

Gott der Fels ist somit insgesamtals ein gerechter und treuer Begleiter durchdie Geschichte vorgestellt, als Schöpfervon Welt und „individuellem“ Leben sowieRetter aus Knechtschaft.

Der Schluss des Liedes ist vorallem von der Gegenüberstellung des Got-tes Israels, JHWH, und den anderen Göt-tern, den „Götzen“, geprägt.

V 31 stellt zum einen die Unver-gleichlichkeit des Gottes Israels gegenüberdem Gott der Gegner heraus. Hier ist derFels bereits zu einer solch etablierten Got-tesbezeichnung geworden, dass sogar derGott der Gegner als Fels bezeichnet wer-den kann. Doch es wird auch der Unter-schied deutlich gemacht: „ihr Fels ist nicht

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wie unser Fels“ – „… der wahre Fels/ derwahre Gott“ wäre sinngemäß wohl hinzu-zufügen.

Der letzte Beleg für Gott als Fels(V 37) ist eine spitz formulierte AnfrageGottes an sein Volk. Der Ausdruck Felswird auch hier für andere – nämlich „nich-tige“ – Götter verwendet. Trotzdem wird ermit dem Zusatz „Zuflucht suchen“ verbun-den – die ironische Frageweise impliziertaber, dass das Volk bei den falschen Göt-tern Zuflucht gesucht hat – nicht beiJHWH, dem wahren und einzigen Fels, derim Gegenteil zu den Götzen wirkliche Zu-flucht bietet.

Was lässt sich aus der Analysedieser sechs Belege festhalten? Der als Felsbezeichnete Gott ist vollkommen, Recht,treu, ohne Ungerechtigkeit, gerecht und ge-rade (V 4), er ist Schöpfer und Retter (V15), der Zeugende und Gebärende (V 18),anderen Göttern überlegen (V 31) und einOrt der Zuflucht (V 37). All diese parallelverwendeten Attribute und Metaphern – so-wohl persönliche wie „Zeuger“ oder „Ge-bärer(in)“ als auch unpersönliche wie„Recht“ und „Treue“, „Rettung“ und „Zu-flucht“ – erläutern das Bild des Felsennäher. Somit scheint nach der kurzen Ana-lyse dieser sechs Stellen die Verbindungdes Felsen mit Sicherheit, Schutz und Ge-borgenheit bestätigt. Dieser Befund decktsich genau mit den anfangs zitierten Aus-sagen der Fachliteratur.

Der mittlere der sieben Belegefordert einen genaueren Blick. V 30 for-muliert in Form einer rhetorischen Fragedie Überlegenheit JHWHs über andereGötter bzw. geht von deren Machtlosigkeitaus: Wer, wenn nicht JHWH könnte somächtig sein und Feinde in die Fluchtschlagen? Wie könnte so etwas sein, „wennnicht, weil ihr Fels sie verkauft und JHWHsie ausgeliefert hat“?

Zum einen wird also die Überle-genheit JHWHs über andere Götter ausge-sagt. Eine zweite Beobachtung ist in

diesem Kontext jedoch viel wesentlicher:Dass JHWH auch ausliefern (סגר) kann(vgl. das letzte Kolon des Verses), ist schoneine sehr steile Aussage.17 Überraschend istan dieser Stelle jedoch die Kombination derFelsmetapher mit dem Verb „verkaufen“18.(מכר) Der Fels – das Symbol für Sicher-heit und Zuverlässigkeit – kann Menschenverkaufen und preisgeben! Das scheint pa-radox und unmöglich.

Um diese theologisch brisanteAussage besser verstehen zu können, mages helfen, nach ähnlichen Aussagen imAlten Testament zu suchen. Denn auchwenn die Felsmetapher für Gott gemeinhinmit seiner Hilfe, Sicherheit und Zufluchtkonnotiert ist, gibt es doch einige wenigeStellen im Alten Testament, die wie Dtn32,30 ein negatives Gottesbild im Zusam-menhang mit der Felsmetapher zeichnen.In Jes 8,14 steht die Gottesmetapher Felsim Kontext der Gerichtsansage über Israelund Juda, JHWH wird demnach zum„Stein des Anstoßes, zum Fels des Strau-chelns“. In Hab 1,12 steht die Felsmetapherim Kontext von Gerichtsansagen und auchin den aramäischen Belegen in Dan 2,35.45steht sie im Zusammenhang von Gerichts-bildern. In Dtn 32,30 wird zwar nicht ex-plizit Gerichtsvokabular verwendet, dochdie analogen Stellen und der weitere Kon-text des Liedes legen nahe, auch diesenVers im Zusammenhang von Gerichtsansa-gen zu lesen.

Verfolgt man die Spur von Ge-richtsaussagen in Dtn 32 – ganz unabhän-gig von der Felsmetapher –, fällt auf, dassdie Rede vom Gericht und auch der RacheGottes dort weit verbreitet ist. Sie gipfelt inder Spitzenaussage Gottes (V 35): „Meinist die Rache und die Vergeltung“. DieseRede von Gott als Richter und Vergelter er-scheint so unmittelbar möglicherweise alsproblematisch. Dazu ist jedoch zunächst zubedenken, dass „Rache“ in der alttesta-mentlichen und altorientalischen Welt kei-neswegs – wie im heutigen Sprachge-

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brauch – eine willkürliche Selbstjustizmeint. „Rache“ ist in der antiken Welt eineInstitution, die innerhalb der Rechts- undGesellschaftsordnung liegt. Sie ist einRechtsinstrument, das eingesetzt wird, umetwas wieder „ins Recht zu setzen“, um„Ausgleich“ zu schaffen. Wenn Gott alsofür sich beansprucht, Rache zu üben, liegtdie Kompetenz für diesen ausgleichendenRechtsakt bei ihm und seiner göttlichenGerechtigkeit – und eben nicht in mensch-lichen Händen.19

Das Moselied macht aber auchdeutlich, dass selbst diese göttliche Ge-rechtigkeit nicht das letzte Wort hat. Direktim Anschluss an die provokant erschei-nende Aussage Gottes „Mein ist die Racheund die Vergeltung“ (V 35) heißt es überihn, dass er zwar richtet, sich aber auch er-barmen wird über seine Diener (V 36).Schließlich lautet es abschließend, dassGott Rache üben wird an seinen Gegnern,dass er sein Volk jedoch entsühnen, alsofreisprechen wird (V 43). Selbst die göttli-che Rache ist somit eingehegt von GottesErbarmen und Vergebung.

Doch wie verhalten sich die gött-liche Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu-einander – oder, speziell in Bezug auf dieFelsmetapher gefragt, in welchem Verhält-nis stehen diese zwei scheinbar paradoxenKonnotationen der Felsmetapher – „Ret-tung, Schutz, Zuflucht“ auf der einen, „Ge-richt“ auf der anderen Seite?

Zur Beantwortung dieser Frage ist eshilfreich, auf die Komposition des Mose-liedes als Ganzer zu schauen: Der „sper-rige“ Vers 30 ist der mittlere der siebenFels-Belege. In diesem so kunstvoll ange-legten und theologisch wohl komponiertenText ist davon auszugehen, dass dieser Versin seiner zentralen Stellung durchaus mitBedacht so gesetzt und formuliert wurde.Diese negative Aussage über Gott steht inder Mitte der positiven Aussagen über Gottals Fels: das Gericht ist sozusagen „einge-bettet“ in die Aussagen über Gott als Ort

der Zuflucht und Rettung.20

Theologischer Ertrag

Was kann angesichts dieser Beobachtungennun auf die anfänglichen Fragen hin gesagtwerden? Bietet Gott als Fels Sicherheit?

Diese überblicksartigen Überle-gungen haben gezeigt, dass der Fels zwarfür Sicherheit und Zuflucht bei Gott stehenkann, dass diese Sicherheit aber nicht ohneVorbehalt gilt. Wer sich von Gott abwen-det, der findet keinen Schutz bei ihm.Wichtig ist an dieser Stelle – und das machtdas Moselied in Dtn 32 sehr deutlich –,dass die Initiative für dieses Verwerfendurch Gott nicht bei Gott, sondern bei denMenschen liegt, und zwar bei denen, diesich von ihm abgewandt, die sich gegen ihngestellt haben: Gott hat sich gesorgt undbemüht, das Volk hingegen ist abgefallen.Doch auch das darauf folgende Gericht istkeine blinde Wut, sondern ein Herstellenvon Rechtsordnung nach seiner göttlichenGerechtigkeit, die letztlich noch von seinerBarmherzigkeit umfangen ist. Doch auch,wenn das Gericht elementar zum alttesta-mentlichen Gottesbild gehört – wie es dieUntersuchung der Felsmetapher hier deut-lich gemacht hat –, gibt es kein einfachesNebeneinander dieser „zwei Seiten“ Got-tes, sondern eine feine Differenzierung undVerhältnisbestimmung, die den Schwer-punkt auf den schützenden, rettenden undSicherheit gebenden Aspekt legt. Das Ge-richt Gottes ist umfangen von Gottes ret-tender Sicherheit und Geborgenheit.

Bietet Gott als Fels also Sicherheit?„Ja“ und „nein“ möchte man antworten.Bei ihm ist Zuflucht und gleichzeitig Ge-richt – auch wenn diese beiden Größennicht gleichwertig nebeneinander stehen.Gott ist sicher und unsicher zugleich. Indieser paradox anmutenden Formulierungzeigt sich eine Ambivalenz, die nicht nur inder Felsmetapher, sondern weit darüber

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hinaus im alttestamentlichen Gottesbildverankert ist. Es gäbe viele weitere Bei-spiele – nicht zuletzt den zentralen V 39 inDtn 32: Gott ist der, „der tötet und lebendigmacht; der schlägt und heilt“.

Diese Ambivalenz, diese Span-nung gehört konstitutiv zum alttestament-lichen Gottesbild. Es kann darum nichtrichtig sein, aus einem wie auch immer mo-tivierten Streben nach einfachen und kla-ren Lösungen, vielleicht auch nach Sicher-heit und Eindeutigkeit, diese Ambivalen-zen aus dem Gottesbild zu entfernen. Denndiese Ambivalenzen machen nicht zuletztdeutlich, dass Gott sich einer einfachen Do-mestizierung nach den Regeln unsererLogik entzieht.21

Die Wahrnehmung und Erhaltungdieser spannungsvollen und kontrastieren-den Sprechweise von Gott ist nicht nur ele-mentar für die Entwicklung einer Biblisch-en Theologie.22 Auch für die Entwicklungeines Glaubens, der sich angesichts vonSpannungen und Brüchen unserer komple-xen Lebenswelten als tragfähig erweisenkann, ist eine solche Ambivalenztoleranzvonnöten.

Anmerkungen1 So diagnostiziert der Ankündigungstext zu denSalzburger Hochschulwochen 2011.2 Das Lied ist von Martin Luther in Anlehnungan Ps 46 gedichtet worden.3 Vgl. das breite Spektrum von Begriffen mit derBedeutung „Zuflucht“, „Zufluchtsort“, „Berg-feste“, „Burg“ etc.: שגב ,מצודה ,מחסה ,מעוז ,מעוןg .מ4 Beispielhaft für das Wortfeld sei hier Ps 18 ge-nannt, der zu Beginn eine umfangreiche Aufli-stung dieser Begriffe anführt: „Herr, du meinFels, meine Burg, mein Retter, mein Gott, meineFeste, in der ich mich berge; mein Schild undsicheres Heil, meine Zuflucht.“ (Ps 18,3; EÜ)5 Der Ausdruck stammt von Gerhard von Rad,Deuteronomium, ATD 8, Berlin 1965, 143. 6 Das hebr. Äquivalent dafür ist צור, das imAlten Testament als Metapher für Gott/ Götter

ca. 34mal verwendet wird (vgl. Kirsten Nielsen,Metaphors and Biblical Theology, in: Pierre vanHecke (Hg.), Metaphor in the Hebrew Bible,BEThL 187, Leuven 2005, 263-273, hier 265).Daneben existiert noch das sinnverwandte סלע,das in ähnlicher Weise, jedoch weitaus seltenerverwendet wird (vgl. Ernst Haag, Art. סלע,ThWAT 5, 873). Ich beschränke mich hierwegen der Fokussierung auf Dtn 32 auf die Un-tersuchung des Lemmas צור. Auch die Fragenach dem religionsgeschichtlichen Ursprungdieser Redeweise für Gott kann hier aus Platz-gründen nicht untersucht werden.7 Adam S. van der Woude, Art. צור, THAT II,542. Es lassen sich leicht weitere Belege für dieBeschreibung Gottes durch das Bild des Felsenfinden: Heinz-Josef Fabry, Art. צור, ThWAT 6,981, spricht von der „Beständigkeit“; L. JulianaM. Claassens, ‘I kill and I give life’: Contrastingdepictions for God in Deuteronomy 32, in:OTEs 18,1 (2005) 35-46, hier 36 von „stead-fastness, strength, refuge and stability“; GeorgFischer, „Der Fels“. Beobachtungen im Umfeldeiner theologischen Metapher, in: ChristianeKarrer-Grube u.a. (Hg.), Sprachen - Bilder -Klänge. Dimensionen der Theologie im AltenTestament und in seinem Umfeld. FS R. Bartel-mus, AOAT 359, Münster 2009, 23-33, hier 32von einem Gott, der „absolut zuverlässig, treuund beständig“ ist; Michael P. Knowles, „TheRock is perfect“: Unusual Imagery for God inDeuteronomy XXXII, in: VT 39,3 (1989) 307-322, hier 309 von „refuge and security“.8 Vgl. die stets parallele Verwendung mit ande-ren JHWH-Epitheta in Dtn 32; vgl. THAT, 542;ThWAT 981 ,צור; Georg Braulik, Das Deutero-nomium und die Geburt des Monotheismus, in:Ernst Haag (Hg.), Gott, der einzige. Zur Entste-hung des Monotheismus in Israel (QD 104),Freiburg i.Br. 1985, 115-159, hier 155. Dass das Verständnis dieser Metapher für Gottim griechischen Denken an seine Grenzenkommt, wird deutlich, wenn die Septuaginta anden entsprechenden Stellen nie mit „Fels“ über-setzt, sondern stattdessen jeweils vereindeuti-gend „Gott/ θεός“ verwendet (vgl. zu diesemProblemfeld Staffan Olofsson, God is my Rock.

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A Study of Translation Technique and Theolog-ical Exegesis in the Septuagint, CB.OTS 31,Stockholm 1990, zu Dtn 32 bes. 38-40.)9 Vgl. die Einleitungs- und Abschlussformel inDtn 31,30 und 32,44: „Mose sprach … dieWorte dieses Liedes“. 10 Abschiedsworte oder „letzte Worte“ habennicht nur im Alten Testament eine besondereBedeutung; vgl. für den alttestamentlichen Be-reich u.a. die Erzählungen vom Tod Jakobs, Jo-sefs, Josuas und Davids. 11 Dass in diesem Text sehr unterschiedliche Me-taphern für Gott verwendet werden, die z.T. wi-dersprüchlich zu sein scheinen, greift Claassensin ihrem Artikel „I Kill and I Give Life“. Con-strasting depictions for God in Deuteronomy 32auf; ähnlich auch Nielsen, die diese Vielfalt derMetaphern als Grundlage für die Ausarbeitungeiner Biblischen Theologie ansieht (explizit263: „to use the variety of metaphors for God“).12 Vgl. ThWAT 981 ,צור; ebenso Fischer, 23. 13 Vgl. Braulik, Deuteronomium, 155; pointier-ter in ders., Die Funktion von Siebenergruppie-rungen im Endtext des Deuteronomiums, in:Friedrich V. Reiterer (Hg.), Ein Gott – Eine Of-fenbarung. Beiträge zur biblischen Exegese,Theologie und Spiritualität, FS N. Füglister,Würzburg 1991, 37-50, hier 40. 14 Braulik, Funktion, 49. 15 Ebd. 16 Vgl. die sehr ähnliche Verbindung vom „Felsohne Ungerechtigkeit/ Falschheit“ in Ps 92,16,dem Ende des Sabbatpsalmes, das gleichzeitigden Schlussvers der Mosekomposition Ps 90-92bildet. 17 Die Verbindung von סגר hiph. (ausliefern) mitJHWH/ Gott als Subjekt findet sich an mehrerenStellen im Alten Testament: außer in Dtn 32,30noch in Ijob 11,10; 16,11; Ps 78,48.50.62; Klgl2,7; Am 6,8 (in der Negation in Ps 31,9).18 Die Verbindung von צור (Fels) und מכר (ver-kaufen) ist einzig im Alten Testament. 19 Vgl. Rüdiger Lux, Ein Gott, der tötet? Gottund die Gewalt im Alten Testament, in: Wolf-gang Ratzmann (Hg.), Religion – Christentum– Gewalt. Einblicke und Perspektiven, Leipzig2004, 11-37, hier 22. Dass sich mit dieser Er-

läuterung nicht die gesamte Problematik einesgewalthaltigen Gottesbildes verflüchtigt hat,versteht sich natürlich von selbst. 20 Andeutungsweise wird das auch bei Fischer,31 deutlich: „Die Verwendung dieser markan-ten Metapher für Gott geht zumeist in zweiRichtungen“, nämlich als „Vertrauensbekennt-nisse“ (31) und „Metapher der Konfrontationund Bewusstmachung“ (31). Als Beispiele führter jedoch Dtn 32,15.18 sowie Jes 17,10 an, wo-durch deutlich wird, dass er nicht die Gegen-überstellung von „Schutz“ und „Gericht“ durchGott meint, sondern „Gottes Rettung undSchutz“ vs. „Israels Abwendung“. Dass er die„zwei Richtungen“ der Metapher nicht im Sinneiner ambivalenten Gottesmetapher versteht,wird auch in seinem Schlussfazit deutlich: „‚DerFels‘ – mit diesem Bild stellt das AT Jhwh alsabsolut zuverlässig, treu und beständig vor.“(32).21 Vgl. Claassens, 45. 22 Vgl. Claassens, 36 sowie insgesamt den An-satz von Walter Brueggemann in seiner Theolo-gie des Alten Testaments (Theology of the OldTestament. Testimony, dispute, advocacy, Min-neapolis 1997). Vgl. auch auf systematischerSeite Gregor M. Hoff mit seiner Forderung,Ambivalenzen in der Rede von Gott „nicht alsSchwäche oder Einschränkung, sondern als An-lass und Motor theologischer Reflexionsarbeit“zu sehen (Gregor M. Hoff, Offenbarungen Got-tes? Eine theologische Problemgeschichte, Re-gensburg 2007, 126).

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(1) Vers 4Der Fels, vollkommen ist sein Tun, denn alle seine Wege sind Recht; ein Gott der Treue und ohne Ungerechtigkeit, gerecht und gerade ist er.

(2) Vers 15b… und es [= Israel] verwarf den Gott, der es gemacht hat, und es verachtete den Fels seiner Rettung.

(3) Vers 18An den Fels, der dich gezeugt hat, hast du nicht mehr gedacht und du hast vergessen den Gott, der dich geboren hat.

(4) Vers 30b… wenn nicht, weil ihr Fels sie verkauft und JHWH sie ausgeliefert hat.

(5/6) Vers 31 (2 Belege)Denn nicht wie unser Fels ist ihr Fels,so urteilen unsere Feinde.

(7) Vers 37Und er [= JHWH] wird sagen: Wo sind ihre Götter? Wo ist der Fels, bei dem sie Zuflucht gesucht haben?

Die sieben Belege für Gott als Fels in Dtn 32Übersetzung

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Einleitung

Lebendige Philosophie hat ihren Prüfsteinim Leben. Schon die klassische Philoso-phie ist immer auch Lebensklärung. Diese,lang vergessene, Einsicht gewinnt neue Po-pularität z.B. in der sog. „philosophischenPraxis“ in den USA wie in Deutschland.Für ihre philosophische Existenz bezeich-neten hellenistische Denker Menschen als„Philosophen“; so nannte etwa der Kir-chenhistoriker Sokrates Scholastikos imvierten Jahrundert den Mönchsvater Eva-grius aufgrund seines beispielhaften Le-benswandels einen „Philosophen der Tat“1.Doch ist jeder ethisch werdenden Philoso-phie ein Bildungsauftrag innerlich, der sich– auch im Hochschulbereich – in der per-sönlichen Praxis, im Lehren durch Näheund Beispiel erfüllen muss. Ein heute po-pulärer Gebrauch des Wortes „akademisch“(im Englischen mehr noch als im Deut-schen) als ‚von bloß theoretischem Inter-esse (und eigentlich irrelevant)‘2 verkenntseine Herkunft aus den Lehr- und Lebens-gemeinschaften im Schulbetrieb der Antike(namentlich Platons Akademie), derenLehrprogramm auf eine ganzheitlicheTransformation der Studenten zielte. Aller-dings behält gerade damit auch Philoso-phiegeschichte ihren Wert, besteht doch ihrvornehmlicher Sinn darin, im Blick auf dieWeisheit der Alten auch Anregung für daseigene Dasein zu geben. Ohne das kommtlebendige Philosophie nicht aus.

Die folgenden Reflexionen be-leuchten in Teil 1 dieses Verständnis von„Philosophie als Lebensform“, führen dannaber (Teil 2) zu einem Problem im Blickauf einen Zentralbegriff der Ethik: dieMenschenwürde. Denn im Gegensatz zumheute gängigen Verständnis ist der philoso-phischen Lebenskunst Menschenwürdenicht bloß Faktum, sondern, wie im Titeldes Beitrags angedeutet, Aktualisierungs-auftrag. Zugleich werfen meine Bemer-kungen Schlaglichter auf die wesenhafteNähe zwischen Philosophie und Theologievor allem in praktischer Hinsicht. Diese Di-mension der Philosophie wird gerade imHochschulbetrieb relevant, also dort, woChristen eine akademische Ausbildung er-halten, besonders, wenn sie sich in eine nä-herhin ‚geistliche Existenz‘ einüben. MeinAugenmerk wird dabei auf der performati-ven Erfüllung einer – bei Theologen wiePhilosophen und in allen geistlichen Beru-fen – auf Wahrheit und Weisheit ausgerich-teten Existenz liegen.

1. Philosophie als Lebensform1.1 Antikes Erbe

Philosophie ist keine abstrakte Wissen-schaft, sondern seit ihren griechischen An-fängen praktisch-existentielle Lebensform,eine integrative Weise, das wahre Potenzialdes Menschseins zu entwickeln und ein„geprüftes Leben“ (Sokrates) zu führen: inDisziplin, Verantwortlichkeit, Vernünftig-keit, die Balance zwischen sapientialer

Prof. Dr. Christian Göbel lehrt Philosophie am Assumption College in Worcester, Massachussetts (USA).

Der Würde würdig werden?Philosophie als Lebensform

Christian Göbel

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Kontemplation und ethischer Praxis wah-rend, sinnschöpfend, auf der Suche nachSeelenfrieden und Glückseligkeit. Sokratesund seine Schüler nehmen die delphisch-pythischen Leitsprüche „Erkenne Dichselbst!“, „Werde, was Du eigentlich bist“und „Alles in Maßen!“ zum Anlass ihresPhilosophierens. Es ist das Verdienst P. Ha-dots, diesen Aspekt der antiken Philosophieals Lebenshilfe unter den Leitmotiven desLeben-, Reden-, Sterben- und Lesen-Ler-nens wieder bewusst gemacht zu haben. Siefindet Ausdruck in konkreten Übungen, diesie ihren Schülern an die Hand gibt. Darinhat sie eine asketische Dimension, wobeiaskesis schlicht „Übung“ meint: es werdenTexte gegeben, um die Lebensführung desLesers zu beeinflussen; „Askese“ beziehtsich auf die inneren Tätigkeiten des Den-kens und Wollens. Hadot nennt dies „exer-cices spirituels“; sie bewirken eine Trans-formation der ganzen Person3.

Dieser ars vitae (Cicero, De fini-bus III 2,4) liegt die dualistische Anthropo-logie Platons zugrunde. Hier mag ein Blickauf den kleinen – heute oft als nicht au-thentisch abgetanen – Dialog Alkibiadesgenügen, der immerhin über Jahrhundertein der Akademie den Lesekanon eröffnete4.Dort bedeutet die delphische Mahnunggnothi seauton, der Mensch solle seineSeele erkennen, als Ort vernünftiger Ein-sicht (129b-133c). Nachdem die Geistseeleals das Beste im Menschen erkannt ist, sollsie aber auch „auf das Beste gedeihen“(Apologie 30b). Deshalb mahnt Sokrates zuSelbstsorge (Alkibiades 124b); Philosophiewird zum Lebensstil, ihr Zentralmotiv, dieSelbsterkenntnis, zur „Lehre von der inne-ren Läuterung“ (Hadot) im Dienst anthro-pologisch-psychologischer Eigentlichkeit.Diese praktische Anwendung ist zugleichvon erkenntnistheoretischer Notwendig-keit, weil nur die Reinigung der Vernunft-Seele von allem Körperlich-Individuellendie göttliche Perspektive des Einen undAllgemeinen ermöglicht. So werden Epi-

stemologie und Metaphysik existentiellund ethisch, auf eine Weise, die Hadot inAnlehnung an Platons Umschreibung derPhilosophie als „Streben nach dem Tod“(Phaidon 61d) „Sterben-Lernen“ nennt.

Das steht in Verbindung mit demZentralmotiv des „Leben-Lernens“. Zu„leben lernen“ bedeutet den Wandel vonunauthentischem zu authentischem Leben.Der philosophische Weg beginnt bei diäte-tisch-medizinischen Ratschlägen zur Be-herrschung des Triebhaften, das vor allemfür Leid und Unordnung im Leben verant-wortlich gemacht wird. Philosophie ist„Therapie für die Leidenschaften“ und„Medizin der Seele“5. Um die praktischeUmsetzung der Einkehr ins Ich bemühtsich besonders die Stoa, deren Weg ins In-nere darin gipfelt, den daimon freizulegen,d.i. die urbildliche-ideale Persönlichkeit,der der Mensch seine empirische Persön-lichkeit immer mehr anzugleichen hat6. Dasgeschieht, indem nach der leiblichenSelbstsorge auch das Denken von allemÄußerlichen befreit wird. „Was begehrstDu noch, wenn die Vernunft ihre Pflichttut?“, fragt Marc Aurel (Selbstbetrachtun-gen IV 13), der genau dies als sokratischeSelbstprüfung versteht (III 6).

Diese Art von Philosophie alsSelbstsorge leben die Griechen in ihrenSchulgemeinschaften, die Wissen undWeisheit gewidmet sind. Christliche Mön-che führen diese Tradition fort, so dassetwa für Benedikt das Kloster zur scholaChristi wird (RB, Prol). Die Kirchenväterteilen das asketische Verständnis der Philo-sophie auch aus einem theologischenGrund: die philosophischen Fortschritts-und Reinigungswege sind, als Würdig-Werdung der Gottes-Schau, Grundlage derchristlich-mystischen Aufstiegswege. Sokönnen sie nicht nur an die theoretische,sondern auch an die praktische Traditionantiker Philosophie anknüpfen, wenn siesich bald selbst als „Philosophen“ bezeich-nen (Evagrius, Augustinus, Justin, Cle-

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mens)7.Das wesentliche Element des

christlichen wie des philosophischen Wegszur Wahrheit ist ein ihr angemessener Le-bens-Wandel, das Einüben in eine be-stimmte Lebensweise, an deren Beginneine Selbst-Besinnung steht. Schon Sokra-tes und Platon begreifen diese „Umkehr derSeele“, z.B. im „Höhlengleichnis“, als emi-nent pädagogische Aufgabe (Politeia 518b;s.a. Apologie 30e). Damit deutet sich ein –in den hellenistischen Schulen wie im Chri-stentum – grundlegender Zusammenhangvon Selbst- und Seelsorge an, der ein we-sentliches Element des hellenistischenSchulbetriebs wie auch jeder Form christli-chen Zusammenlebens werden wird. Seel-sorge ist nicht nur Sorge für die eigeneSeele, sondern bedarf auch des Anderen(des ‚Meisters‘), der dem Selbst auf derSuche nach seiner Eigentlichkeit behilflichist. Als Lebensform hat Philosophie immereine pädagogische Dimension: keine Ethikohne Pädagogik. Bildung aber ist selbst„exercice spirituel“. Das hat seine Urformin der sokratischen Bildung, deren Me-thode der elenktische Dialog ist: eine gei-stige Übung, in der es weniger auf denGesprächsinhalt ankommt, sondern darauf,den Partner in Dialog mit sich selbst zubringen, um sich selbst zu erkennen(Hadot). Weisheit wird nur erreicht durchauthentische Gegenwart sich und anderengegenüber. So kann die kunstvoll voneinem philosophischen Lehrer geführteRede „Seelenführung“ (Phaidros 271c)sein und zur philosophischen Freiheit füh-ren, die zuerst Selbstdistanz ist, eine Dis-tanz des Philosophierenden zu seinemmomentanen Sein im Blick auf das We-sentliche.

Nun darf die Rückbesinnung aufdie existentielle Dimension der Philosophienicht bei einer bloß geistesarchäologischenHermeneutik antiker Texte stehen bleiben,sondern es gilt, sie auch praktisch wieder-zugewinnen. Die – stets aktuelle – antike

Weisheit bietet besondere Anregung dazu;sie ist noch immer geeignet, Grundfragendes Daseins zu erhellen. Doch ist die exi-stentielle Dimension der Philosophie – dasentgeht weniger Hadot als seinen Schülern– niemals ganz verschwunden.

1.2 Die praktisch-existentielle Dimensionpostantiker Philosophie

1. Schon die These, dass die Ausfächerungder wissenschaftlichen Disziplinen an denmittelalterlichen Universitäten und die Pro-fessionalisierung der Philosophie zur Ab-lösung des spekulativen Denkens voneinem asketisch-ganzheitlichen Lebens-wandel geführt habe, der nun auf die Klö-ster beschränkt bleibe8, ist fragwürdig:schließlich sind viele große Denker weiterOrdensleute. Doch auch die metaphysischeBetrachtung bewahrt ethische Inspirations-kraft, z.B. die Wahrheitstheorien der gro-ßen mittelalterlichen Denker: Augustinus(354-430) entwirft (in De libero arbitrio)nicht nur einen Gottesbeweis aus der Wahr-heitsfähigkeit des Menschen; das Wechsel-spiel zwischen Glaube und Vernunft, dassein Leben und Denken formt, erschöpftsich niemals in der Betrachtung, sondernübersteigt sich stets praktisch. Als Lebens-form übernimmt der Glaube das existen-tielle Element der antiken Philosophie; der„Grund solchen Philosophierens“ ist alleinder Wunsch, „glückselig zu werden“ (Decivitate Dei 19,1,3). Das aber beinhalteteine ethische Konsequenz: der Glaubendemuss seine Erkenntnis leben, dem Aufstiegzu Gott (der Einkehr ins Innere) den Ab-stieg zur Welt (die Wendung nach Außen)folgen lassen9. Anselms (1033-1109) Wahr-heitsbegriff birgt von Beginn an eine theo-logische und ethische Dimension, die aufsein Freiheitsverständnis abstrahlt: Wahr-heit ist nicht bloß äußerliche adaequatio,sondern Rechtheit: etwas ist wahr, wenn esseiner Zweckbestimmung entspricht, alsotut, was es soll, und der Wille ist wahr und

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frei, wenn er „wollen will, was er wollensoll“10. So paart sich, wie auch bei Thomas(1225-1274), Wahrheit mit Wahrhaftigkeit,so dass Aussage- und Lebenswahrheit, ve-ritas in verbis und veritas in factis, über-einkommen11. Hier erlangen einigeGrundbegriffe der aristotelischen Meta-physik, Modaltheorie und Nichtwider-spruchsprinzip, ethisch-performative Be-deutung, nach dem in der NikomachischenEthik formulierten Grundsatz: „Im Gebietdes Praktischen muss man die Wahrheitnach dem Leben und den Werken beurtei-len“ (1179a). Die Weiheliturgie der Dia-kone fasst das in die Worte: „Was Duverkündest, erfülle im Leben“. Dass diesein stetes Üben, ein geistig-geistliches Ein-formen in Wahrheit und Wahrhaftigkeit er-fordert, also tatsächlich exercice spirituelist, ist stets bekannt. Zugleich erfordert esmoralische Bildung. Wie gesagt: in ihrerpädagogischen Ausrichtung ist Philosophievor allem praktisch. Gerade deswegen ver-liert Philosophie, die ein Interesse an Bil-dung behält, niemals ihre ethisch-exis-tentielle Dimension.

2. Auch die explizite Praxis geistiger Übun-gen hört nicht zu Beginn des Hochmittel-alters auf: das bekannteste Beispiel sind die„Exerzitien“ des hl. Ignatius (1491-1556).Doch auch in der neuzeitlichen Philosophiegibt es Ansätze praktischer Ganzheitlich-keit. Als Beispiel sei nur I. Kant (1724-1804) genannt, der oft als Inbegriff des imabstrakten System der Welt entrücktenDenkers erscheint, auch wenn er sich aus-drücklich zum „Primat des Praktischen“bekennt. Hier ist entscheidend, welch exi-stentielle Wirkung seine Texte entfaltenkönnen. Auch der so oft zerpflückte kate-gorische Imperativ12 ist nicht nur Zentral-formel eines letztlich doch spekulativenSystems. Vielleicht müssen wir ihn als gei-stige Übung zu lesen lernen (schließlich istdas „Lesen-Lernen“ diejenige unter denvon Hadot herausgestellten Übungen, die

wir, im Umgang mit Texten der Vergan-genheit, zu praktizieren haben) und in denKontext eines idealistischen Entwurfs ein-ordnen, dessen Ziel, das „Reich derZwecke“, nur im steten Einüben, als Trans-formation der ganzen Person, ja der ganzenGesellschaft, zu erreichen ist. Dem katego-rischen Imperativ und der deontologischenEthik Kants wird gern die praktische Taug-lichkeit in Konfliktsituationen abgespro-chen13 – doch geht der Vorwurf dann zukurz, wenn es Kant um ein ethisches Klimageht, das Konfliktsituationen vermeidet.

Dass er als geistige Übung ver-standen werden kann, legt auch ein – viel-leicht überraschender – Vergleich mitIgnatius nahe, der in seinen Exerzitien, inden „Regeln für die Almosenverteilung“,eine Vorform bietet, die ganz im Sinn Ha-dots „exercice spirituel“ ist. Sie lautet: „Ichwill mir einen Menschen vorstellen, denich niemals gesehen oder gekannt habe unddem ich in dem Amte und dem Stande,worin er sich befindet, alle Vollkommen-heit wünsche. Und nach jenem Maße, nachdem ich ihn bei seiner Art der Almosenver-teilung gern die rechte Mitte halten sähe…,nach eben diesem Maße werde ich selbst estun, nicht mehr und nicht weniger, und ichwerde mich an dieselbe Regel und Maßbe-stimmung halten, die ich gern dem anderenwünsche, und die ich als recht erachte“ (Nr.339).

Zwar bietet Ignatius – dem dasklassische, nur semiformale Prinzip derrechten Mitte primäres Maß des Handelnsbleibt – noch nicht ausdrücklich eine allge-meine Vernunftform des kategorischen Im-perativs, doch geht er dadurch, dass er aufder Metaebene die Maxime des eigenenHandelns vom persönlichen Bezug undVorteil löst, ganz im Sinne Kants über diesog. „goldene Regel“ der Ethik hinaus14.Auch dem Anderen Vollkommenheit zuwünschen – und damit der Menschheit einHandeln nach den ihr würdigen Prinzipienalthergebrachter Sittlichkeit – deckt sich

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mit dem zweiten der Zwecke, die nachKant zugleich Pflichten sind: „eigene Voll-kommenheit und fremde Glückseligkeit“(Metaphysik der Sitten, Tugendlehre =MST, A5).

Der Charakter des ignatianischenImperativs als geistige Übung wird da-durch verstärkt, dass ihm mehrere Übun-gen zur Antizipation der Todesstundefolgen, die mit der hellenistischen Praxisnahezu identisch sind und als Maßstab desmoralischen Selbsturteils im Hier und Jetztdienen. Ihr Grundgedanke ist eine Frage,die noch F. Nietzsche (1844-1900) in sei-ner Version eines kategorischen Imperativs,der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“,aufnimmt: nach Ignatius muss ich mich fra-gen, ob ich in der Rückschau zur Todes-stunde mit meinem Leben zufrieden sein,es vor dem Richterstuhl Gottes bejahenkann. Nach Nietzsche muss ich angesichtsder ewigen Wiederkehr des Gleichen meinejetzige Handlung vorbehaltlos bejahen kön-nen – so, als ob ich immer wieder mit ihrkonfrontiert würde15.

Die Verwandtschaft zwischenIgnatius und Kant zeigt jedenfalls auf zwei-fache Weise, dass auch das neuzeitlicheDenken die existentielle Dimension be-wahrt, wenn 1.) auch jemand wie Ignatiusim antiken Sinn in seiner Lebensweisheitund -Praxis als „Philosoph“ erkannt wirdund wenn 2.) eine ethische Zentralformelwie der kategorische Imperativ nicht nurals Philosophem analysiert, sondern in sei-ner die ganze Person betreffenden transfor-mativen Wirkung erkannt wird. Dass KantsEthik als idealistischer Umriss eines nochnicht eingelösten Versprechens menschli-cher Größe gelesen werden kann, zeigtschließlich seine Betonung der integralenRolle der Bildung als Weg zu diesem Ziel.Er spricht von einer „Pflicht zur Bildung“als „Pflicht [des Menschen], um derMenschheit, die in ihm wohnt, würdig zusein“ (MST, A 15; Anthropologie, A 321).

1.3 Gesellschaftliche Relevanz

So hat der philosophische Lebens-Wandelhöchste gesellschaftliche Relevanz. Ineinem pädagogischen Kontext, der sichnicht in verzweifelten Momentreaktionenauf schlechte PISA-Testwerte erschöpft,kann gelebte Philosophie zur Antwort aufgesellschaftliche Unordnung werden undentspricht dem seit einiger Zeit wiederer-starkten Interesse an einer umfassenden Er-ziehung, die zum Wohl einer geordnetenGesellschaft Struktur und Disziplin ver-langt16..Noch ist die tiefere Werte-Orientie-rungslosigkeit nicht behoben, dochscheinen zumindest die sekundären Tugen-den wie Pflicht, Sitte, Treue und Höflich-keit wieder in Mode zu kommen: weil sieals Anfang der Bewältigung sozialer Pro-bleme verstanden werden, die sich in Acht-losigkeit, und Unhöflichkeit, Vandalismus,Gewalt und Kriminalität ausdrücken. DieseRenaissance der Tugenden, die sich in vie-lerlei Hinsicht mit dem philosophischenLebensentwurf der Antike deckt, ist alsoGegenbewegung zur Verrohung der Ge-sellschaft und Ausdruck eines Sehnensnach einem intakten Gemeinwesen.

Solche Bemühungen konvergie-ren mit einer christlich-humanistischen, tu-gendethischen Lebensorientierung. Im 19.Jahrhundert, mit der Herausforderung kon-frontiert, der Gesellschaft neue Ordnung zugeben, wurden in diesem Geist sogar neueOrden gegründet, z.B. die „Augustiner-As-sumptionisten“ im postrevolutionär-laizi-stischen Frankreich durch EmmanuelD’Alzon (1810-1880). Ihr Einsatz machtauch die Mitglieder dieser Gemeinschaften– im antiken Sinn – zu „Philosophen derTat“. Zugleich besteht eine überraschendeVerwandtschaft zu Philosophen ihrer Zeit,z.B. Nietzsche, der nicht nur selbstprokla-mierter „Antichrist“ ist, sondern vielleichtauch „heimlicher Gottsucher“ (E. Biser)und jedenfalls voller Respekt für die Ver-dienste der Orden um die Bewahrung der

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abendländischen Kultur17. Sie alle sind ir-ritiert von den sozialen Umwälzungen: vonden bürgerlich-sozialistischen Revolutio-nen und der Säkularisation oder (im FallNietzsches) vom Deutsch-FranzösischenKrieg als Bedrohung der Kultur. Natürlichsind die Wege verschieden, auf denen sieden Gefahren zu begegnen hoffen: D’Al-zon will die Gesellschaft durch Re-Chri-stianisierung heilen, Nietzsche träumtdavon, die Krise durch eine neue Philoso-phie und rein weltliche ‚Religion‘ zu über-winden. Die Strategien aber sind ähnlich:D‘Alzons Ideal, die „Gesellschaft mitchristlichem Geist zu durchwirken“, unddie Gründung seiner Ordensgemeinschaf-ten mit starker Betonung des Laienengage-ments18 steht bei Nietzsche der – kaumbeachtete – Ausruf gegenüber: „Wir wer-den wieder Klöster brauchen, und wir wer-den die ersten fratres sein“ (KSB 3, 130).Die konkreten Inhalte sind unterschiedlich,gemeinsam ist aber der Wunsch nach Re-und Transformation der Gesellschaft durchdie Strahlkraft von geistigen Gemeinschaf-ten, die aus dem Streben nach Weisheitleben, doch mitten ‚in der Welt‘ agierenund die Menschen bilden.

Dabei ist D’Alzons Bildung vondem Ziel getragen, dass seine Schüler „dievon Gott angebotenen geistlichen Ressour-cen schätzen lernen, ihre Schwachheit ab-legen und ihre Würde wiederherstellen“19.Dieser Grundsatz konvergiert mit der phi-losophischen Idee, dass der Mensch seinerWürde würdig zu werden habe. Die Würdedes Menschen ist damit nicht nur Datum,sondern Auftrag und Postulat. Das jedochscheint dem heute gängigen Verständnisdes Begriffs als unbedingte und unverfüg-bare Größe zu widersprechen. Die Frage,der wir uns im zweiten Teil zuzuwendenhaben, lautet also: ist es zulässig, dass imKontext der Philosophie als Lebensform„Würde“ den Charakter eines Modalbe-griffs erhält?

2. Der Würde würdig werden? 2.1 Zum Begriff der Menschenwürde

Meine Antwort ist ein klassisches „Ja –Aber“. Dass der Begriff modale Elementehat, liegt zunächst daran, dass er in sichmehrdimensional ist. Ursprünglich ist erdeskriptiv, anthropologische Bestimmung:der Mensch hat eine besondere Stellung,d.h. Würde, weil er – das ist seine „spezifi-sche Differenz“ – vernunftbegabtes Lebe-wesen ist (so die philosophische Begrün-dung) oder (theologisch) nach dem BildeGottes geschaffen (Gen 1,26) und im Gott-Menschen Jesus Christus in die innertrini-tarische Beziehung aufgenommen ist20.

Vor diesem Hintergrund ist dieRede vom „Recht auf Würde“ semantischmissverständlich. Der anthropologischenGrundbedeutung nach kann die Würde desMenschen faktisch nicht „angetastet“ wer-den. Aber natürlich meint der Grundsatz„Die Würde des Menschen ist unantastbar“(Art 1.1 GG) als Fundamentalnorm desRechts mehr; der Ist-Satz hat hier normati-ven Gehalt21 – und trägt der zweiten Di-mension des Würdebegriffs Rechnung: derethischen Konsequenzen der anthropologi-schen Bestimmung. Hier wird Würde prä-skriptiv. Freilich besteht auch hier eineMehrschichtigkeit: die ethische Würdekann objektive wie subjektive (passive wieaktive) Bedeutung haben; sie bezeichnetRechte wie Pflichten22. Natürlich tritt in derethisch-politischen Diskussion die Bedeu-tung der Würde-Pflichten hinter dieWürde-Rechte zurück. „Menschenwürde“wird expliziert und materiell gefüllt, woNaturrecht positiv wird, so dass in den amMenschenrechtsethos orientierten Grund-rechten jedem eine Menschen-würdige Be-handlung garantiert ist23. Auch darf dieFrage, was der Mensch sei und wie er wür-dig Mensch sei, nicht in die Bestimmungs-gewalt politischer Gruppen geraten24.Damit wird jedoch die andere, aktive Seiteeines würdigen Menschseins, die sich in

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den ‚asketischen‘ Bemühungen der Philo-sophie niederschlägt, nicht obsolet.

2.2 Universalität und Bildungsauftragder asketischen Philosophie

Hier spitzt sich die Frage zu: Ist die philo-sophische Lebensform als ‚menschlicheWürdigkeit‘ nicht einer bestimmtenGruppe vorbehalten? Vielleicht – doch gehtes hier, bei allem Geist, nicht um eine reinvergeistigte Existenz. Es geht nur darum,auf modellhafteWeise authentisch Menschzu sein. Damit ist jeder exklusive Elitaris-mus vom Grund her ausgeschlossen. Zielder philosophisch inspirierten Bildung istes gerade, diese Haltung zu weiten, bis dasethische Klima der ganzen Gesellschaftvom Menschenrechtsethos durchdrungenist, ja es geht – z.B. in einer Initiative derUNESCO – um ein „Global Ethics Pro-ject“. Der modal-postulative Charakter phi-losophischer ars vitae ist somit aus dreiGründen gerechtfertigt25:

2.2.1 Mensch zwischen Sein und Sollen

Erstens, weil er der Natur des Menschenentspricht und somit universellen Charakterhat. Hier ist der deskriptive Aspekt desWürdebegriffs entscheidend: Er verweistauf den Begründungszusammenhang zwi-schen Anthropologie und Ethik. Im Wesendes Menschen sind Sein und Sollen keinGegensatz, nicht als naturalistischer Fehl-schluss, sondern weil es im besten aristote-lischen Sinn ‚dynamisch‘ ist: seine Wirk-lichkeit ist von Vermögen gekennzeichnetund damit auf Entwicklung angelegt (vgl.Politik 1252b). Hier findet die teleologi-sche Ontologie des Aristoteles ihre anthro-pologische Umsetzung und ethischeEinlösung. Seiner Natur nach hat derMensch eine „Potenz“ des Gutseins; siemuss nur ausgelebt werden. Er ist ein Wer-dewesen.26 Ähnlich dynamisieren philoso-phische ars vitae und moralische Bildung

das Mensch-Sein in ein Sein-Sollen, dassich aber aus einem natürlichen Sollen-Seinnährt und das antike Gegenspiel zwischen„Erkenne Dich selbst“ und „Werde, was Dubist“ reflektiert. Das bereitet menschlicheErfüllung und Glückseligkeit, in vernünfti-ger Sittlichkeit, nicht Selbstüberantwortungan all das nicht-spezifisch Menschliche imMenschsein.

So besteht Hoffnung für konkreteProjekte moralischer Bildung; und aktuelle,natur- und sozialwissenschaftliche Beweisefür den moralischen common sense (z.B. inM. Mahlmanns „Universalgrammatik derMoral“27) bestätigen nur die uralte Einsichtvon Philosophie und Theologie: dass derMensch nicht nur animal rationale, son-dern auch morale ist, v.a. als Funktion derpraktischen Vernunft, deren Autonomievon der Antike über die Scholastik bis indie Neuzeit als Wesenskern würdigenMenschseins betont wird. Doch das freieethische Entscheidungsurteil im Horizontvon Sittengesetz und Naturrecht kommtnicht ohne Disziplin, askesis und ein ‚mo-ralisches Training‘ aus, in dem man sichdurch Vorbild und Übung ins Gutsein ein-gewöhnt. Das ist es, was Aristoteles hexisnennt. Erziehung – als sokratische Seelen-führung – hilft, das sittliche a priori zu ak-tualisieren. So ist sie Instrument derMenschwerdung, dient dem Ideal eines Le-bens im Einklang mit der eigenen Natur(Stoa) und ist wahrhaft exercice spirituel,in dem die philosophische Begründungs-frage, ob der Mensch gut sei, zur Fragewird: Will ich gut sein?

2.2.2 Selbst- und Fremdethik

Die Forderung nach einer philosophischenExistenz wird zweitens auch nie zu einemmoralischen Rigorismus werden, weil eshier zuerst um Selbstdisziplinierung, alsoeine selbstethische Dimension geht.Menschlicher Moral wohnt ein natürlichesParadox zwischen höchsten Forder-

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ungen des Selbst an sich und wohlwollen-der Milde gegen andere inne, die an KantsZweckpflichten erinnert, aber auch an dieHöchstform eines solchen „Paradoxes“ (G.Theißen) in der jesuanischen Moral, in dermaximale ethische Forderungen einem un-bedingten, nie enden-wollenden Verge-bungswillen gegenüberstehen. Beispielhaftfür eine ähnliche Haltung in der antikenPhilosophie ist der oft als purer Hedonistgeschmähte Begründer der kyrenaischenSchule, Aristipp (ca. 435-356), der in Wirk-lichkeit sokratische Sorge um Selbster-kenntnis und eine integrative Ethik pflegt.So sehr Aristipp hofft, dass sich auch an-dere als Vernunftwesen ernst nehmen – inseinem Fremdurteil findet er zu einem bei-spielhaften Sein-Lassen des Anderen, indem die in der Schulphilosophie gewöhn-lich rigoros vorangetriebene Entfaltung desSollens im Sein in eine unbedingteMenschlichkeit zurückgenommen wird.Überhaupt taucht der Begriff „Menschlich-keit“ (anthropismós) zum ersten Mal beiAristipp auf (nicht, wie oft gesagt, bei Pa-naitios in der mittleren Stoa). Er sagt: „Lie-ber ein Bettler als ungebildet sein; demBettler fehlt es nur an Geld – dem Unge-bildeten aber an Menschlichkeit“ (DL II70). Damit ist zwar wieder der Bezug zuBildung und Vernunft hergestellt, dochnicht als rein äußerliche Frage von Stil undKunstgenuss, sondern Menschlichkeit er-füllt sich bei Aristipp – wie die zahlreichenLebenszeugnisse bei Diogenes Laertios be-legen – als unbedingtes Mit- und Fürseinauch gegenüber gesellschaftlichen Außen-seitern wie Sklaven und Prostituierten. Zu-gleich bringt Aristipp eine der Zentral-übungen der antiken Lebensphilosophie zuihrer fremdethischen Anwendung: denFokus auf den gegenwärtigen Augenblick(berühmt geworden im Horaz’schen carpediem), der nicht nur die eigene Lebensfüh-rung von der Last von Potentialis und Ir-realis befreit („Was wäre, wenn…?“),sondern auch das Fremdurteil, das zur un-

bedingten Annahme der Eigentlichkeit desAnderen im Je-Jetzt wird.28

2.2.3 Die asymmetrische Verschränkungvon Würde-Rechten und -Pflichten

Dass die philosophisch-würdige Lebens-form niemals unmenschlich wird, liegt drit-tens daran, dass die aktive und passiveDimension der Würde, Rechte und Pflich-ten, auf eigentümliche, asymmetrischeWeise ineinander verschränkt sind. Wersich für das vernünftige Miteinander alssittlich entscheidet, handelt zunächst inÜbereinstimmung sowohl mit der eigenenWürde wie mit der Würde des Anderen: ichhandle eines Menschen würdig, wenn ichden Anderen nach seiner Würde behandle.(Das gilt übrigens auch für die christlicheBegründung der Würde mit der Gottes-ebenbildlichkeit: ich habe den Anderennicht nur mit Würde zu behandeln, weil erGottes Ebenbild ist, sondern weil ich alsGottes Ebenbild praktische Vernunft habe– und Liebe29). Menschliche Ethik baut, zuRecht, auf das – von der Antike bis J.Rawls (A Theory of Justice) – als Garantvon Gerechtigkeit gesehene symmetrischeLeitprinzip „der Gegenseitigkeit“. DasMenschenrechtsethos hält aber daran fest,dass Moral auch ein asymmetrisches Ele-ment impliziert: den Anspruch auf die Ach-tung seiner Würde verliert auch der nicht,der selbst nicht ‚würdevoll‘ handelt, werdie Rechte anderer verletzt und natürlichauch, wer nicht zur philosophischen arsvitae findet; sie wird unbedingt zugestan-den30.

Das folgt geradezu christlicherMaximalmoral, die von einem Prinzip derNichtgegenseitigkeit lebt: zwischenmensch-liche Nächstenliebe (agape/caritas) wirdgeschenkt auch ohneGegenseitigkeit. Kon-kret ist sie einfacher zu verwirklichen, alsman meinen mag: als praktisches Dasein inmoralisch relevanten Situationen, Hilfe, wosie gebraucht ist, ohne auf Gegenleistung

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zu schielen. Darauf, und auf die Verinner-lichung dieser asymmetrischen Verschrän-kung von Würde-Rechten und -Pflichten,dringt die Transformation der Gesellschaft,die philosophische wie christliche Bildungzum Ziel haben. Erreicht werden kann einso hohes Ziel nur im dauernden, die ganzePerson in Anspruch nehmenden ‚Exerzi-tium‘.

3. Schluss: Christliche Caritas alsErfüllung der Nichtgegenseitigkeitmenschlicher Moral

Dass Menschen tatsächlich – entgegen allerSkepsis Rawls‘ – das moralische Vermögenbesitzen, unbedingte, nichtgegenseitigeLiebe zu praktizieren, belegt z.B. das päd-agogische Verhältnis zwischen Lehrendenund Lernenden. Denn wahre pädagogische‚Liebe‘ ist weniger platonischer eros alsvielmehr Beispiel christlicher caritas: eineunbedingte Sorge und der Wille, etwas(Wissen) mit anderen zu teilen, ohne dafüranderes zurückzuerwarten.

Mehr aber noch findet es seinenAusdruck in Phänomenen christlicherMenschlichkeit, die der akademischen Aus-bildung aller geistlich-geistigen Berufe –zu denen neben TheologInnen, Religions-und GemeindepädagogInnen auch Sozial-arbeiterInnen und Pflegekräfte zählen –ihre wesentlichen Bildungsziele und ihrenSeinsgrund geben: im Willen zur Seelsorge(ob im priesterlichen Dienst oder gesell-schaftlichen Engagement der Laien) sowiein der Hingabe der Lehrerinnen, Sozialar-beiter oder des Pflegepersonals. Wer in die-sem Feld tätig ist, wird durch stete,hingebende Selbstdisziplin zu wahren„Philosophen der Tat“. Und wo das vonethischer Reflexion begleitet ist, ist es imbesten Sinn Hadots und der Antike „exer-cice spirituel“, Glück- und sinnsetzendeTätigkeit. Ihr christtheologischer Bedin-gungsgrund aber – als Kern des Begrün-dungsverhältnisses zwischen Religion und

Moral, das im Schöpfungsgedanken zurückzur skizzierten Modalanthropologie alsGrund aller ethischen Bildung führt – istnicht die philosophisch wie biblisch theo-unlogische Leistungsangst vor einemDrohgott, sondern die befreiende Einsicht,dass sich hier ein Vermögen Ausdruck ver-schafft, das Gabe und Auftrag Gottes istund Seiner unbedingten Liebe entspringtund nacheifert31.

Anmerkungen1 PG 67, 516A.2 Als Beispiel diene die Äußerung des engli-schen Kommentators beim WM-Spiel Deutsch-land-England 2010, der die Frage, ob einenglischer Spieler, der beim Stand von 1:4 seinezweite Gelbe Karte sah und somit in einem hy-pothetischen Viertelfinalspiel gesperrt wäre, für„just an academic question“ hielt.3 Vgl. P. Hadot: Ecercices spirituels et philoso-phie antique. Paris ²1987, hier 82 (dt. Philoso-phie als Lebensform).4 Vgl. dazu C. Göbel: Griechische Selbster-kenntnis. Platon – Parmenides – Stoa – Aristipp.Stuttgart 2002, 170ff.5 So z.B. Epikur und Cicero (Disp. Tusc. II 4).Zum Ursprung des Gedankens in der älterengriechischen Philosophie (Platon u.a.) vgl. z.B.S. Clark: „Therapy and Theory Reconstructed:Plato and his Successors“, in: J. Ganeri; C. Car-lisle (Hg.): Philosophy as Therapeia. Cam-bridge 2010, 83-102. 6 G. Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd.1. Leipzig 1907, 35.7 Vgl. z.B. Evagrius, Epistula fidei 1,14; Augu-stinus, De vera religione 5,8; dazu C. Göbel:„Fides und Ratio bei Augustinus und Anselm“,in: N. Fischer (Hg.): Augustinus – Spuren undSpiegelungen seines Denkens. Bd. 1. Hamburg2009, 37-69.8 A. Davidson fasst Hadots Kritik am Verlust desExistentiellen in der postantiken Philosophie inseiner Einführung zur englischen Ausgabe vonHadots Philosophy as a Way of Life. Oxford1995, 31ff. zusammen.

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9 Hier erhält jede Gotteserkenntnis ihren prakti-schen Sinn; vgl. dazu, im Blick auf die Confes-siones, N. Fischer: „Einleitung“, in: Augustinus:Suche nach dem wahren Leben (ConfessionesX). Hamburg 2006, LXIVff.10 De veritate 4; vgl. De libertate arbitrii 8.11 Hier nach E. Schockenhoff: Zur Lüge ver-dammt? Freiburg 2000, 68ff. – Ehrlichkeit undOffenheit, auch die Kongruenz zwischen Sagenund Denken und Ehrlichkeit sich selbst gegen-über, sind schließlich Mittel der Seelenhygieneund Voraussetzung eines zufriedenen Daseins. 12 Die bekannten Versionen des kategorischenImperativs aus der Grundlegung zur Metaphysikder Sitten (= GMS) und der Kritik der prakti-schen Vernunft sind: „Handle nur nach derjeni-gen Maxime, durch die du zugleich wollenkannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!“bzw. „Handle so, dass jeder Zeit dein Handelnzur Maxime des Handelns erhoben werdenkann!“; eine dritte Version Kants zeigt den Maß-stab und Übergang zur materialen, also inhalt-lich bestimmten Ethik an, indem sie den„Menschen“ als „Selbstzweck“ zum Ziel allenHandelns macht (GMS, A 64f.).13 Vgl. z.B. S. Blackburn: Ethics. Oxford 2003,102ff.14 Vgl. GMS, A 68. – NB: Auch die goldeneRegel erfordert natürlich eine Anwendung derVernunft, sie hat aber keine reine Vernunftform(die Vernunft ist instrumentell tätig, zum Zweckeigennütziger Ziele) und ist, nach Kant, hinter-gehbar.15 Zahlreiche Interpreten, von G. Simmel und K.Jaspers über R. Löw bis R. Safranski, haben die-sen Aspekt aufgenommen und dargestellt, denNietzsche selbst zu einer Zentraldeutung seinesWiederkunftsgedankens gemacht hat (z.B. inFröhliche Wissenschaft, § 341).16 Beleg dafür sind verschiedene Magazintitel(Focus, Spiegel), Reportagen und Bücher, dar-unter H.W. Opaschowski: Das Moses-Prinzip.Die 10 Gebote des 21. Jahrhunderts. Gütersloh2006, aber auch schulische Reformen wie Un-terrichtsreihen zu „Anstand und Benehmen“und die partielle Wiedereinführung von Kopf-noten.

17 F. Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Stu-dienausgabe. München 1986 (= KSB), Bd. 8,28.18 Dazu zählen v.a. Werke der Bildungsarbeit fürKinder wie Erwachsene aus bildungsfernenSchichten (Arbeiter, Soldaten), aber auch sozial-karitatives Engagement (u.a. als außerkurrika-ler Teil der Bildung an den Schulen D’Alzons)sowie die christliche Mission v.a. in Osteuropa.19 E. D’Alzon: To Educators at Assumption (Hg.R. Lamoureux). New London 2009, 92 (Übers.C.G.).20 Und Menschen haben gleicheWürde, weil siegleichermaßen vom göttlichen Vater angenom-men sind.21 S. dazu R. Ferber: „Das normative ‚ist‘ unddas konstative ‚soll‘“, in: Archiv für Rechts- undSozialphilosophie 74 (1988), 184-199.22 Beleg dafür, dass die aktive Seite gern über-sehen wird, ist noch ein Bundespräsident, dersich zurückzieht, weil er die Würde-Rechte sei-nes Amtes beschädigt sieht und ihm die Kraftschwindet, an seinen Würde-Pflichten festzu-halten. Das Beispiel ist durchaus relevant für dieMenschenwürde, denn der Begriff kommt ja vonder dignitas, die Cicero dem besonderen Amtzuschreibt (z.B. dem Richter der noch heute mit„Euer Ehren“ tituliert wird), und wurde erst aufdie „besondere Stellung“ (Scheler) oder „Funk-tion“ (Aristoteles) des Menschen im Sein über-tragen.23 Im deutschen Grundgesetz stellt deswegenArt. 1.2 eine Folgerung aus der Feststellung derMenschenwürde als Grundnorm in Art. 1.1(s.o.) dar: „Das Deutsche Volk bekennt sichdarum zu unverletzlichen und unveräußerlichenMenschenrechten als Grundlage jeder mensch-lichen Gemeinschaft, des Friedens und der Ge-rechtigkeit in der Welt“ (Art. 1.2 GG). 24 Wozu das führen kann, lehrt nicht nur die Ge-schichte, sondern noch all jene politischenSpannungen und Bürgerkriege der Gegenwart,die in ethnisch-kulturellen Differenzen gründen.So sind z.B. im andauernden Krieg in Ru-anda/Ostkongo Gebildete der verschiedenenVolksgruppen zwar bereit, Menschen volleRechte zuzugestehen – nicht aber, die Angehö-

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rigen anderer Gruppen (Hutu/Tutsi) voll alsMenschen anzusehen. 25 Vgl. zum Folgenden insgesamt C. Göbel:„Bildung und Intelligenz“, in: Ders.: Antike undGegenwart. Griechische Anmerkungen zu ethi-schen Fragen unserer Tage. Hildesheim 2007,265-384.26 E. Bisers „Modalanthropologie“ sieht denMenschen als „uneingelöstes Versprechen“: ersei „das sich selbst in die Hand gelegte plasti-sche Wesen, das Möglichkeitswesen, dem alssolchem eine neuartige Anthropologie ent-spricht, die im Unterschied zur klassischen alsModalanthropologie bezeichnet werden muss.Denn der Mensch ist aufgrund seiner Geistbe-gabung und Fähigkeiten ein Versprechen, aber,wie dem hinzugefügt werden muss, das immernoch uneingelöste Versprechen“ (E. Biser: „DerMensch – Das große Versprechen. Unterwegszu einem christlichen Menschenbild“, in: Poli-tische Studien 56 [2005], 53; vgl. ausführlicherDer Mensch – das uneingelöste Versprechen.Entwurf einer Modalanthropologie. Düsseldorf1995).27 Vgl. M. Mahlmann: Rationalismus in derpraktischen Theorie: Normentheorie und prak-tische Kompetenz. Baden-Baden 2008. Er ist –wie auch M. Hauser: Moral Minds.How NatureDesigned Our Universal Sense of Right andWrong. New York 2006 – von dem LinguistenN. Chomsky und seiner Idee einer „Universal-grammatik“ beeinflusst. Hauser hat zudem imInternet einen „Moraltest“ mit bisher ca.300.000 Teilnehmern veröffentlicht:http://moral.wjh.harvard.edu/index2.html.28 Es handelt sich dabei um eine ethische Einlö-sung des megarischen Modalbegriffs, der Mög-lichkeit nur als Modalmoment des Wirklichen,also stets nur aus dem Blick auf das Jetzt-Wirk-liche bestimmt. Zur Neubewertung Aristippsvgl. Göbel 2002, 238-292.29 Vgl. dazu auch Gaudium et Spes 12ff.30 Deshalb ist im Titel meines Beitrags dieGrundidee einschränkend nur als Frage formu-liert.31 Diesen Gedanken hat wiederum E. Biser inzahlreichen Publikationen so eindrücklich her-

ausgestellt, u.a. in Einweisung ins Christentum.Düsseldorf ²1997. Leider leiden noch immerauch unzählige Christen unter der „religious il-literacy“, die selbst das Evangelium Jesu in denverstörenden Sog einer Drohgottidee zieht (vgl.S. Prothero: Religious Literacy. San Francisco2007; vgl. weiter auch meinen Beitrag „AntikeSelbsterkenntnis und ökumenische Philosophie.Auf dem Weg zum christlichen Übermenschen“,in: Göbel 2007, 195-248).

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ugegeben: Der Titel dieses Beitrags istvermessen. Denn in einem kurzen

Textbeitrag auch nur einen groben Über-blick bieten zu wollen über Geschichte undTheologie des Papstamtes ist völlig un-möglich. Ich will mich deshalb auf die fol-genden drei Themenkreise beschränken:Die erste Frage bezieht sich darauf, wiesich das Papstamt allmählich in den erstenJahrhunderten aus den Diensten und Äm-tern der noch jungen Urkirche herausgebil-det hat. Zentral ist hier die Person desPetrus. Zweitens sind dann einige markantePunkte aus der langen Geschichte dieser In-stitution zu benennen, in denen sich dertheologische Gehalt dieses wohl umstrit-tensten und faszinierendsten Amtes Schrittfür Schritt entwickelt hat. Hier geht es mirum eine doppelte Spannung; der Spannungnämlich zwischen dem theologischen An-spruch und der historischen Wirklichkeitdes Papstamtes einerseits und der Span-nung zwischen zwei miteinander konkur-rierenden Verfassungsideen der Kircheandererseits, dem sog. Papalismus und demKonziliarismus. Und schließlich soll ineinem dritten Schritt die aktuelle Gestaltdes Papstamtes zum Gegenstand werden.Ich werfe dazu einen Blick auf die letztenbeiden Konzilien und frage auf Basis dieserKonzilstexte nach der heutigen Situation.

1. Die Figur des Petrus und die Anfängedes Papstamtes

Der Petrusdienst im Neuen TestamentEs gibt in der Gründungsphase der Kircheweder einen fest umrissenen Amtsbegriff,noch gibt es eine klare Unterscheidung ver-schiedener Ämter und Aufgaben in denjungen Gemeinden. All das sind historischeEntwicklungen, die erst nach und nachstattfinden und die Jahrhunderte brauchen,ehe sie sich konsolidieren. Schon gar nichtkann man sagen, dass der historische Jesuseben dieses oder jenes Amt in einem wört-lichen Sinn eingesetzt habe. Das gilt nichtnur für das Papstamt, sondern für schlecht-hin jedes Amt in der Kirche. Wenn es einenverbindenden Überbegriff für all die unter-schiedlichen Ämter und Aufgaben der Ur-gemeinde gibt, so ist es der Dienstbegriff(gr. diakonia). Hierunter lässt sich all daszusammenfassen, was hilft, das sozialeMiteinander der Urgemeinde zu organisie-ren. Dieses gegenseitige einander Dienenorientiert sich dabei am Dienst Jesu Christifür die Seinen, der nicht gekommen ist,sich „bedienen zu lassen, sondern um zudienen“ (Mk 10,45) und der unter seinenJüngern ist wie einer, der dient – wie eindiakonos, wie ein Diener, so heißt es wört-lich (Lk 22,27). Das Moment des Dienstesist der Kerngehalt und das Grundcharakte-ristikum aller kirchlichen Ämter – auch undgerade des Papstamtes. Dienst ist in sozial-geschichtlicher Hinsicht das Gründungs-

Prof. Dr. Matthias Reményi lehrt als Juniorprofessor Systematische Theologie am Seminar für Katholische Theologie der FU Berlin.

Das PapstamtGeschichte und Theologie einer umstrittenen Institution

Matthias Reményi

Z

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wort eines jeden kirchlichen Amtes, und esist in theologischer Hinsicht gefüllt mitdem Auftrag an den jeweiligen Amtsträger,es dem Vorbild Jesu gleichzutun und wieJesus selbst das eigene Leben als ein Dienstfür andere, als Pro-Existenz zu gestalten.

Historisch wurzelt das Amt desPapstes in der Sonderstellung und Füh-rungsrolle Petri in der Urgemeinde. SeitLeo I. (440-461) nehmen die Päpste ganzausdrücklich für sich in Anspruch, nichtnur Nachfolger, sondern auch Stellvertre-ter des hl. Petrus auf Erden zu sein. Dieklassische Belegstelle zur Begründung desPapstamtes als umfassender Leitungsdienstin der Tradition Petri ist seit alters her dasFelsenwort Jesu und die Übergabe derSchlüssel des Himmelreiches – und damitder Binde- und Lösegewalt – an Petrus (Mt16,18-19). Der Beiname Kephas, den wohlder irdische Jesus dem Fischer Simon über-trägt, wird hier ekklesiologisch gedeutet.1

Petrus ist nun (nachösterlich) der Fels, aufdem die Kirche bleibend aufruht. DieserDienst ist einmalig und bleibend an die Per-son Petri gebunden. Anders steht es mit derSchlüsselgewalt, die in der vollmächtigenAuslegung des Evangeliums und damit inder Ausübung der Disziplinar- und Lehrau-torität zu sehen ist: sie ist prinzipiell dele-gierbar.2 Eventuell bis in die vorösterlicheSituation hinein reicht sodann der Kern desvon Lukas tradierten Wortes Jesu, er habefür Petrus gebetet, dass dessen Glaube an-gesichts drohender Anfechtungen nicht er-lischt. Es folgt die Beauftragung Petridurch den Herrn: „Und wenn du dich wie-der bekehrt hast, dann stärke deine Brüder“(Lk 22,31f).

Auch im dritten der drei klassi-schen ntl. „Primatstexte“3 geht es um dieIndienstnahme zur Hirtensorge: „Weidemeine Lämmer“ bzw.: „Weide meineSchafe“ (Joh 21,15-17) – mit diesen Wor-ten bestellt der Auferstandene Petrus zumDienst an der endzeitlichen Heilsgemeinde.Gerade diese letzte Stelle ist bedeutsam,

weil das Johannesevangelium natürlich zu-nächst und zuerst Jesus Christus selbst alsden eigentlichen Hirten der Seinen zeich-net (vgl. Joh 10). Damit wird in der Ge-samtperspektive des Evangeliums dieÜbertragung der Hirtensorge an Petrus zumVikariatsdienst, zur stellvertretenden Auf-gabe. Vor allem aber will der Text aus-drücklich aus der nach-petrinischen Pers-pektive gelesen werden, denn die sich un-mittelbar anschließende Todesprophetie inJoh 21,18f setzt aufseiten der Leser die de-taillierte Kenntnis vom Tod des Petrus vor-aus. Auf diese Weise wird der Leser durchdie Textstruktur ganz automatisch zum Pro-blem der Petrusnachfolge gelenkt: Wersorgt sich nun, nach dem Tod Petri, für dieHerde des Herrn? Damit ist zumindest imRichtungssinn des Textes die „Frage nachder Sukzession […] in den Blick gerückt“.4

Freilich: Von einem NachfolgerPetri ist im gesamten Kanon an keiner ein-zigen Stelle auch nur ein Wort zu lesen.Man wird aus diesen drei Stellen also nichtfolgern dürfen, dass hier von der Stiftungeines formellen, von der Person ablösbarenAmtes die Rede ist oder Petrus gar in einemmodernen Sinne der erste Papst war. Aberaus ihnen spricht doch nicht nur eine au-ßerordentliche Hochachtung vor dem Cha-risma des Petrus, sondern auch die An-erkennung seiner besonderen Rolle undseiner herausgehobenen Funktion zunächstim vorösterlichen Jüngerkreis Jesu unddann später in der jungen Christenge-meinde. Das ist durch eine ganze Reihe anhistorisch gesicherten Umständen gut be-legt: Petrus ist zusammen mit seinem Bru-der Andreas der Erstberufene der Jesus-Jünger (Lk 5,10f parr). Ebenfalls sicherkommt ihm eine ganz herausgehobeneStellung im Zwölferkreis in Jerusalem zu:Er steht an erster Stelle (Mt 10,2parr) underfreut sich einer besonderen Wertschät-zung Jesu (Mk 5,37par; Mk 9,2parr; Mk14,33par – hier gemeinsam mit Jakobusund Johannes). Er ist Sprecher des vor-

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österlichen Jüngerkreises (Mk 8,29parr;Joh 6,68f). Er ist es, der verschiedenenTextquellen zufolge dem auferstandenenHerrn zuerst begegnet (Lk 24,34; 1 Kor15,5). Dabei wird die Figur Petri durchausnicht glorifiziert, sondern ganz realistischauch in ihren Schattenseiten gezeichnet.Man denke nur an die harsche Kritik, die ervon Jesus mehrfach erfährt (Mk 8,33par;Mk 14,37par) und an seinen dreimaligenVerrat in der Nacht des Leidens Jesu. Pe-trus ist in Größe und Versagen, in Nach-folge und Scheitern, der – wie es JoachimGnilka ausdrückt – „exemplarische Jün-ger“,5 der vorlebt, was Nachfolge aus-macht: sich im Zeugnis von Wort, Tat undLeben durchlässig machen auf das, was imGlauben ergriffen wurde.

Diese Sonderrolle bleibt ihm auchnachösterlich zugeschrieben. Das zeigt ins-besondere die Apostelgeschichte in allerEindrücklichkeit. Er ist der Leiter der Jeru-salemer Urgemeinde (Apg 1,15-26; 2,14-42; Gal 1,18; 2,6-10) und nimmt in dieserFunktion auch primatiale Aufgaben wahr(Apg 5,1-11). Er eröffnet die Heidenmis-sion (Apg 10,1-11,18) und spielt eine ganzzentrale Rolle auf dem sog. Apostelkonzil(Apg 15,6-29) zu Jerusalem um das Jahr49. Damit ist er nicht nur Typus – d.h. Re-präsentant; prägendes Vorbild; Erstling,dem nachzueifern ist – des Jüngers, son-dern, wie Rudolf Pesch notiert, „auch desApostels und des universalkirchlich beauf-tragten ‚Felsens‘, ‚Schlüsselträgers‘ und‚Hirten‘ bzw. ‚Episkopos‘.“6

All das zeigt: Das NT kennt zwarnicht ein speziell definiertes und ausge-formtes Petrusamt, wohl aber eine „petri-nische Funktion“, die sich als Hirtensorge –und damit als ein faktischer Leitungsdienst– auf das Funktionieren des Gesamtsys-tems der noch jungen Gemeinde beziehtund dieser solchermaßen als Ganzer dienst-bar ist. Als dann in späterer Zeit mit Blickauf die Großkirche die strukturelle Not-wendigkeit eines solchen umgreifenden

Leitungsamtes nicht nur offensichtlichwird, sondern auch institutionell verortetwerden muss, findet man im ursprüngli-chen Dienst des Fischers Simon das uni-versale kirchliche Leitungsamt grundge-legt. Weil zwar nicht jede seiner konkretengeschichtlichen Ausgestaltungen, wohlaber dieser Petrusdienst als solcher imEvangelium fundiert sowie schlechterdingskonstitutiv für die Kirche ist und ihr we-sentlich zugehört, lässt er sich zutreffendals ein ius divinum bezeichnen. Dass dabei– wie gezeigt – im historischen Gang derDinge der Entdeckungs- und der Begrün-dungszusammenhang zeitlich auseinander-fallen, verschlägt daran nichts.

Petrus und RomWie kommt es, dass sich etwa ab dem drit-ten Jahrhundert ausgerechnet die Vorsteherder Christengemeinde in Rom als Nachfol-ger Petri ansehen? Von einer linearen apo-stolischen Sukzession des petrinischenDienstes ist ja im ntl. Kanon nirgends dieRede – und schon gar nicht von einer Ver-ortung dieser Vollmacht beim Vorsteher derGemeinde in Rom. Hier spielt gewiss dieüberragende politische Bedeutung der StadtRom als (bis zur Zeit Konstantins) Haupt-stadt des römischen Reiches eine ganz we-sentliche Rolle. Wie und wann allerdingsPetrus erstmalig in Kontakt mit der christ-lichen Gemeinde in Rom tritt, liegt imDunkel der Geschichte. Der um das Jahr 55entstandene Römerbrief weiß nichts voneiner Anwesenheit des Petrus in derReichshauptstadt: Petrus wird in diesemBrief gar nicht genannt; wäre er aber zudieser Zeit in Rom gewesen, hätte sich Pau-lus ganz gewiss auf ihn in irgendeinerWeise bezogen. Das früheste literarischeZeugnis von der Anwesenheit Petri in Romfindet sich im Ersten Clemensbrief (1 Clem5,1-7), also erst gegen Ende des erstenJahrhunderts.

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Historisch nicht abschließend ge-wiss, aber doch sehr wahrscheinlich ist le-diglich das Doppelmartyrium von Petrusund Paulus in Rom um das Jahr 67 unterKaiser Nero. Ebenfalls im Letzten unsi-cher, aber doch schon ab dem zweiten Jahr-hundert gut bezeugt und bald allgemeinverehrt ist die Grabstätte des Petrus unterdem heutigen Petersdom. Diese – wennman so sagen kann – doppelte ApostolizitätRoms, repräsentiert durch das doppelteMartyrium der beiden Apostelfürsten Pe-trus und Paulus, darf sicherlich als ein ent-scheidender Grund für die allmählicheHerausbildung der Vorrangstellung des rö-mischen Bischofs gelten.7

Klar ist aber auch, dass diese Vor-rangstellung sich noch weit über das ersteJahrhundert hinaus nicht auf eine einzelneBischofsgestalt, sondern auf die römischeKirche als solche bezieht, in der das apo-stolische Erbe der beiden Urzeugen treu be-wahrt und die solchermaßen zum Garantder unverfälschten Lehre wird. Denn zudieser Zeit kennt man in Rom keinen ein-zelnen Bischof an der Spitze, sondern einkollegiales Leitungsgremium, das gemein-schaftlich die Geschicke der Gemeinde lei-tet. So schreibt Ignatius von Antiochien zuBeginn des 2. Jahrhunderts der ganzen Ge-meinde Roms nicht nur den „Vorsitz […]im Raum des Gebietes der Römer“ zu, son-dern darüber hinaus den „Vorsitz in derLiebe“ (IgnRm, Praesc.).8 Erst Irenäus vonLyon legt dann eine konkrete Namenslistevor, um in eins mit der so belegten aposto-lischen Sukzession die Ursprungstreue undWahrheit des christlichen Glaubens zu be-gründen. Den Vorsitz im Glauben schreibtaber auch er nicht einer Person, sondern derrömischen Kirche als solcher zu: „Denn mitdieser Kirche muss ihrer besonderen Grün-dungsautorität wegen jede andere Kircheübereinstimmen […]. In ihr ist […] die Tra-dition, die auf die Apostel zurückgeht, al-lezeit aufbewahrt worden“ (Adv. Haer. III,3,2).9 Freilich erwies sich diese von Irenäus

vorgelegte Namensliste als ebenso legen-där wie alle anderen römischen Bischofsli-sten der ersten beiden Jahrhunderte. Ob esdie angeblichen ersten Nachfolger des Pe-trus wirklich gegeben hat – Linus, Cletus,Evaristus, Alexander I., Sixtus I. usw. – wirwissen es schlicht nicht und werden eswohl nie erfahren. Sie werden deshalb inden offiziellen Papstlisten immer mit einemFragezeichen versehen.

Historisch gesichert ist erst dasEpiskopat Victor I. gegen Ende des zwei-ten Jahrhunderts: Er will im Osterfeststreitallen anderen Gemeinden den Termin fürdas Osterfest verbindlich vorschreiben,kann sich damit aber – und das ist bezeich-nend – nicht durchsetzen. Schon hier wirddeutlich, dass die Institution des Papsttumseine auf die westliche Kirche bzw. das lateinisch sprechende Abendland be-schränkte Größe werden wird. Aufs Ganzegesehen gilt für die ersten Jahrhunderte derKirche in der Tat wohl das Wort des Kir-chenhistorikers Klaus Schatz, der zu Pro-tokoll gibt: „Hätte man einen Christen um100, 200 oder auch 300 gefragt, ob es einenobersten Bischof gibt, der über den ande-ren Bischöfen steht und in Fragen, die dieganze Kirche berühren, das letzte Wort hat,dann hätte er sicher mit Nein geantwor-tet.“10

2. Geschichtliche Markierungen: Das Papstamt im Wandel

Von Anfang an ist daher mit der Geschichtedes Papsttums11 eine doppelte Spannungverbunden: Zum einen gibt es nämlich eineSpannung zwischen dem sich immer deut-licher herauskristallisierenden Anspruchauf universale Leitungskompetenz des rö-mischen Bischofs und der tatsächlichenWirklichkeit in der jeweiligen geschichtli-chen Situation. Das muss bereits Victor vonRom erleben, als er mit seinem Terminvor-stoß zum Osterfest scheitert. Das müssenaber auch jene Nachfolger Victors erleben,

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die schon früh für sich universale Lei-tungskompetenz in Anspruch nehmen,auch wenn sich das nicht immer mit ihrenkonkreten faktischen Einflussmöglichkei-ten deckt.

Die ersten Päpste im modernenSinn des Wortes, die sich ganz ausdrück-lich auf den Primat der sedes apostolica be-rufen, auf den Vorrang des ApostolischenStuhls in der Einzahl und damit auf dieRechtsnachfolge des Apostels Petrus imSinne einer universalen und gesamtkirchli-chen Leitungsvollmacht, sind im spätenvierten Jahrhundert Damasus I. (366-384)und Siricius (384-399). Mit ihnen beginntein Prozess, der das Papsttum fortan prä-gen wird: Der Vorrang der römischen Orts-kirche wird zum Vorsitz des römischenBischofsstuhls (der cathedra Romana), undder geistliche Vorsitz in Glaubenstreue undLiebeszeugnis wird zum juristischen Pri-mat. Der Umstand, dass dem Bischof vonRom im vierten Jahrhundert zunehmenddas Schlichtungs- und Entscheidungsrechtin gemeindlichen Streitfällen aus der Pro-vinz zugeschrieben wird, Rom also zuneh-mend als Appellationsinstanz angefragtwird, wird das Seinige dazu beigetragenhaben. Das gilt allerdings nur für den We-sten und wird im Osten nie akzeptiert, wiesich überhaupt die Einflusssphäre der Päp-ste immer auf den Westen konzentriert.

Dass aber die Macht dieser Päpsteim vierten und fünften Jahrhundert faktischbegrenzt ist, obgleich sie wohl als ersteeinen universalen Leitungsanspruch für dieGesamtkirche in Anspruch nehmen, zeigtdas zweite Spannungsfeld, das das Papst-tum bereits seit seinen Anfängen begleitetund prägt: Die Rede ist von der Spannungzwischen dem personalen (oder: primatia-len) und dem synodalen (oder: kollegialen)Leitungsprinzip in der Kirche, das sich inden Schlagworten vom sog. Papalismus,d.h. der Überzeugung, dass sich in der Per-son des Papstes der oberste und höchste Ju-risdiktionsprimat über die gesamte Kirche

bündelt, und dem sog. Konziliarismus nie-dergeschlagen hat, dessen Vertreter derÜberzeugung sind, dass diese Leitungs-vollmacht dem Bischofskollegium und des-sen vornehmstem Versammlungsorgan,dem allgemeinen Konzil, zukommt. Denndie eigentliche Musik spielt nach der Ver-legung des Sitzes der Reichshauptstadt vonRom nach Konstantinopel im Jahr 330unter Konstantin auch kirchlicherseits imOsten des Reiches, und die Position der rö-mischen Bischöfe ist dabei mitnichten inder ersten Reihe zu suchen. So wird daserste ökumenische Konzil im Jahre 325 inNizäa von Kaiser Konstantin einberufen.Papst Silvester I. ist lediglich durch zweiabgesandte Presbyter vertreten und spieltinhaltlich keine Rolle. Auf dem Konzil vonKonstantinopel (381) ist weder Papst Da-masus I. – man erinnere sich: er formuliertals Erster den absoluten Vorrang der sedesapostolica Romana – noch irgendein römi-scher Legat vertreten. Auf dem dritten öku-menischen Konzil in Ephesus im Jahr 431ist Papst Coelestin I. (422-432) ebenfallsnicht anwesend.

Einzig Leo der Große (440-461),der maßgeblich dazu beiträgt, dass dasPapsttum nicht nur dem Anspruch nach,sondern auch faktisch zur zentralen Macht-instanz der Weltkirche wird, hat einen ge-wissen Einfluss auf das vierte Konzil, dasim Jahr 451 in Chalcedon zusammentritt.Zwar wird auch dieses Konzil von derweltlichen Macht, näherhin von KaiserinPulcheria und ihrem Gatten Marcian, ein-berufen. Aber die Legaten Leos haben im-merhin den Vorsitz inne. Vor allem aberwird ein berühmtes Lehrschreiben Leos,der sog. Tomus Leoni, in Chalcedon verle-sen und dient als Grundlage des Konzils-beschlusses über das Verhältnis vongöttlicher und menschlicher Natur in JesusChristus. So hat man zwar in Chalcedongerufen: „Petrus hat durch Leo gespro-chen“. Aber das bedeutet mitnichten, dassdamit ab sofort der Leitungsprimat des Bi-

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schofs von Rom fraglos anerkannt gewesenwäre, wie besonders eindrücklich die Ana-thematisierung des Honorius (Papst von625-638) auf dem dritten Konzil von Kon-stantinopel im Jahr 680/681 belegt.

Auf der anderen Seite bewirkt dieVerlegung des kaiserlichen Hofes nachKonstantinopel, dass sich der Bischof vonRom innerhalb des nun christlich geworde-nen Reichs zunehmend als dominanterMachtfaktor im Westen stabilisieren undprofilieren kann. Er gewinnt mehr undmehr politisch an Gewicht. Zugleich ahmter auch immer stärker den monarchisch-absolutistischen Leitungsstil des Kaisersnach.12 So betont Papst Gelasius I. (492-496) wie vor ihm kein anderer den römi-schen Jurisdiktionsprimat. Der Stuhl Petrihat seiner Ansicht nach „das Recht […],jede Kirche zu richten, während niemanddas Recht hat, über ihn zu Gericht zu sit-zen“.13 Hier wird der Sache nach erstmaligdas sich als enorm wirkmächtig erweisendePrinzip Prima sedes a nemine iudicatur(der erste Sitz, d.h. Rom, wird von nie-mandem gerichtet) formuliert.14 Es kommtzu dem, was man die Zwei-Gewalten-Theorie oder auch die Zwei-Schwerter-Lehre genannt hat, d.h. das Miteinanderund eben oft genug auch das Gegeneinan-der von geistlicher und weltlicher Macht inder Leitung des Reiches. Nochmals Gela-sius in einem Schreiben an den oströmi-schen Kaiser Anastasios aus dem Jahr 494:„Es sind zwei, ehrwürdiger Kaiser, vondenen diese Welt prinzipiell regiert wird:die heilige Autorität der Päpste und die kö-nigliche Gewalt (auctoritas sacra pontifi-cum et regalis potestas).“15

In dieser wechselvollen Ge-schichte liegen Elend und Glanz des Papst-tums oft nahe beieinander. Das vielleichteindrücklichste Beispiel dafür ist die Zeitum die erste Jahrtausendwende. Das sog.saeculum obscurum – man lässt es in derRegel mit dem Mord an Papst JohannesVIII. im Jahre 882 beginnen und mit der

Absetzung von gleich drei konkurrieren-den, mehr als zweifelhaften Papstgestaltenim Jahr 1046 enden – trägt seinen Namennicht ohne Grund: Das Papsttum ist in derHand einiger weniger römischer Adelsge-schlechter und droht zu einem weltlichenFürstentum zu werden, dessen Oberhäup-ter sich wechselseitig absetzen, verbannenoder umbringen lassen. Und doch folgtkurz darauf eine der kraftvollsten Gestaltenauf dem Stuhl Petri, die dem Papsttum zuungeahnter Dominanz verhilft: GregorVII., Papst von 1073-1085. Berühmt wirder durch sein Verbot der Investitur, demsich der deutsche König Heinrich IV. abernicht beugen will. Den darauf entbrennen-den Machtkampf kann Gregor für sich ent-scheiden, Heinrich IV. wird exkommuni-ziert und muss 1077 eine spektakuläreBußwallfahrt zum Papst unternehmen, densprichwörtlich gewordenen Gang nach Ca-nossa. Politisch erreicht Gregor VII. damitdie libertas ecclesia, die Freiheit der Kir-che von der Vorrangstellung der weltlichenMacht. Theologisch allerdings schraubt erden Rang des Papstamtes in schwindeler-regende Höhen. Denn die von Gregor VII.im Jahr 1075 zusammengestellte Liste voninsgesamt 27 Thesen – der sog. Dictatuspapae – liest sich in der Summe wie einevorweggenommene Proklamation despäpstlichen Unfehlbarkeitsdogmas: DerPapst kann Kaiser absetzen (Nr. 12), darfseinerseits aber von niemandem gerichtetwerden (Nr. 19), was – wie gezeigt – na-türlich den historischen Realitäten aufsDeutliche widerspricht. Sein Rechtsurteilkann von niemandem aufgehoben werden,er allein kann das Urteil aller aufheben (Nr.18). Mehr noch: Faktisch ist jeder kano-nisch geweihte römische Bischof durch dieVerdienste des heiligen Petrus unzweifel-haft heilig (Nr. 23).16Auch wenn diese The-sen in Vielem eher theologisches Pro-gramm denn kirchliche Realität darstellen,so zeigen sie doch das neu erwachte Selbst-bewusstsein des Papsttums in aller Ein-

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drücklichkeit an. Eine theologische Liniebricht sich Bahn, die sich mit dem Schlag-wort „Papstkirche“17 bezeichnen lässt unddie in der dogmatischen Fixierung despäpstlichen Jurisdiktionsprimates und derdamit verbundenen Unfehlbarkeit in Lehr-entscheiden ex cathedra durch das ErsteVatikanische Konzil ihren Endpunkt er-fährt.

Ganz auf dieser Linie liegt einJahrhundert später Innozenz III. (1198-1216). Er, der für sich exklusiv den Titeldes Stellvertreters Christi auf Erden in An-spruch nimmt, sagt von sich selbst, er sei„in die Mitte gestellt zwischen Gott und dieMenschen, geringer als Gott, aber größerals der Mensch“.18 Wenn allerdings die pa-radoxe Denkfigur der nochmaligen Steige-rung eines Superlativs angebracht ist, dannbeim Vergleich des Dictatus papae GregorVII. aus dem Jahre 1075 mit der am 18.November 1302 von Bonifaz VIII. – Papstvon 1294-1303 – abgefassten, aber erst am15. August 1303 veröffentlichten BulleUnam sanctam. Denn dort heißt es wört-lich: „Wir erklären, sagen und definierennun aber, dass es für jedes menschliche Ge-schöpf unbedingt notwendig zum Heil ist,dem Römischen Bischof unterworfen zusein“ (DH 875).19 Natürlich lassen sichdiese Spitzensätze aus Unam sanctam ausder Konkurrenzsituation heraus erklären, inder Bonifaz VIII. mit dem französischenKönig Philipp dem Schönen steht, der imGegensatz zum einzig auf seine Pfründeachtenden Papst ein fast schon modern zunennendes, die Entwicklung hin zu natio-nalstaatlicher Eigenständigkeit vorweg-nehmendes Regiment führt.20 Aber es istschon ein einmaliger (und aus heutigerSicht durchaus zweifelhafter) Höhepunktin der Papstgeschichte, auf welche WeiseBonifaz VIII. hier die Zwei-Gewalten-Theorie eines Gelasius oder Augustinus aufdie Person des Papstes hin bündelt: In denHänden der Kirche – und damit ihres ober-sten Hirten, des Stellvertreters Christi auf

Erden – liegen „zwei Schwerter […], näm-lich das geistliche und das zeitliche […].Beide […] sind in der Gewalt der Kirche“(DH 873).

Nicht nur theologisch, sondernauch machtpolitisch beginnt hier eine Spur,die 1870 endet – wenn auch ganz gegen-läufig zum theologischen Programm, näm-lich mit dem Niedergang des Kirchen-staates am 20. September 1870: Nie wiederhat das Papsttum so viel weltliche Machtbündeln können wie zu dieser Zeit im spä-ten Mittelalter. Die Zeit danach ist in dieserHinsicht eine Zeit des fortschreitenden Nie-dergangs. Was direkt auf Bonifaz folgt, istbekannt: das abendländische Schisma alseine epochale Krise nicht nur des Papst-tums, sondern der Kirche insgesamt.21 DasKonzil von Pisa will im Jahr 1409 die Spal-tung zwischen Rom und Avignon überwin-den, verurteilt den römischen wie denfranzösischen Papst und wählt einen eige-nen Kandidaten. Weil aber die beiden an-deren nicht zurücktreten wollen, verschlim-mert sich das Schisma noch, so dass ausder, wie ein zeitgenössischer Chronistschreibt, „verruchten Zweiheit eine ver-fluchte Dreiheit von Päpsten“ wird.22

Und doch beginnt sich mit demKonzil von Pisa ein Denken wieder neuBahn zu brechen, das unter den Stichwor-ten konziliare Idee bzw. Konziliarismus fir-miert und das seine inhaltlichen Wurzelnbereits in den ersten ökumenischen Konzi-lien der noch jungen Christenheit hat. Wäh-rend ‚konziliare Idee‘ ähnlich wie‚synodales Prinzip‘ schlicht das kollegialeMoment kirchlicher Leitungsstruktur be-nennt, drückt das oft als Kampfbegriffmissbrauchte Schlagwort ‚Konziliarismus‘die Überzeugung aus, dass nicht der Papstals Einzelperson, sondern eine allgemeineKirchenversammlung das höchste Be-schlussorgan der Kirche darstellt. Der Kon-ziliarismus gilt deshalb als das kritischeKorrektiv zu einem einseitig übersteigertenPapalismus, sozusagen als dessen direkter

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Gegenbegriff. Und es ist ganz gewiss keinZufall, dass diese Idee im historischen Mo-ment der größten Krise des Papsttums wie-der neu erwacht und sich auch inentsprechenden kirchlichen Verlautbarun-gen niederschlägt. So formuliert bereitsPisa im Jahr 1409: „Dieses Konzil ist einallgemeines Konzil […], es repräsentiertdie gesamte katholische Kirche und hat dasRecht, als oberster Richter auf Erden überdiese Angelegenheit zu erkennen, zu ent-scheiden und zu bestimmen“.23 Faktischkann allerdings erst das von 1414-1418 ta-gende Konzil von Konstanz im Jahr 1417mit der Wahl Martin V. das abendländischeSchisma beenden. Zugleich ist es jenesKonzil, das am 6. April 1415 das Spitzen-dokument des Konziliarismus verabschie-det, nämlich das Dekret Haec sancta. Darinheißt es u.a.: „Die im Heiligen Geist recht-mäßig versammelte [Synode], die ein Ge-neralkonzil bildet […], hat ihre Gewaltunmittelbar von Christus. Ihr ist jeder, un-abhängig von Stand oder Würde, wäre sieauch päpstlich, in dem, was den Glaubenund die Ausrottung des besagten Schismasund die allgemeine Reform der Kirche Got-tes an Haupt und Gliedern betrifft, zum Ge-horsam verpflichtet.“24 Der zweite Artikeldieses Dekretes verallgemeinert diese Aus-sage und definiert so die Superiorität einesjeden rechtmäßig zustande gekommenenallgemeinen Konzils als oberste Autoritätder Kirche. Es ist bis heute eine nicht ab-geschlossene Debatte, wie diese Aussagentheologisch zu werten sind: Handelt es sichhier überhaupt um ein ökumenisches Kon-zil im vollen Sinn des Wortes? Immerhinwurde es ja nicht von der Gesamtkirche,sondern nur von einem von drei „Päpsten“(dem im Laufe des Konzils abgesetzten, Pi-saner Papst Johannes XXIII. im Zusam-menspiel mit dem deutschen KönigSigismund) einberufen! Und zweitens:Wollten die Konzilsväter mit Haec sanctaüberhaupt eine allgemeine Lehre definie-ren, oder nur einem konkreten Notstand ab-

helfen? Vor allem aber ist bis heute strittig,wie diese Aussagen von Konstanz im Ver-hältnis zur Kirchenkonstitution Pastor ae-ternus des Ersten Vatikanischen Konzils zuwerten sind, also jenem Dokument, in demder päpstliche Jurisdiktionsprimat unddavon abgeleitet die päpstliche Unfehlbar-keit dogmatisiert werden.

3. Zur gegenwärtigen Gestalt des Papstamtes

Das Erste Vatikanische Konzil: Pastor aeternus (1870)Werfen wir also einen Blick auf die beidendogmatisch zentralen Aussagen des ErstenVatikanischen Konzils, das 1869 einberu-fen und im Jahr darauf unvollendet abge-brochen wird. Es handelt sich nicht nur umSpitzendokumente der Papsttheorie, son-dern sie sind auch wichtig, um die Debattenauf dem II. Vatikanischen Konzil (1962-1965) nachvollziehen zu können. 1870 de-finiert das Erste Vaticanum in der dog-matischen Konstitution Pastor aeternuszwei zentrale Sätze, den Jurisdiktionspri-mat und die Lehrinfallibilität. Während derJurisdiktionsprimat dem Papst die unein-geschränkte Leitungs- und Entscheidungs-vollmacht in der katholischen Kirchezuschreibt, besagt der Begriff der Lehrin-fallibilität, dass unter gewissen, fest defi-nierten Umständen päpstlichen Lehrent-scheiden ein unfehlbarer Charakter eignet.

Mit Blick auf den Jurisdiktions-primat wird zunächst eingeschärft, dass derApostolische Stuhl die höchste Autorität inder Kirche inne hat, sein einmal getroffe-nes Urteil also von niemandem neu erörtertoder gar neu beurteilt werden darf, aus-drücklich auch nicht von einem ökumeni-schen Konzil. Dann heißt es wörtlich: „Werdeshalb sagt, der Römische Bischof besitzelediglich das Amt der Aufsicht bzw. Lei-tung, nicht aber die volle und höchste Jurisdiktionsvollmacht über die gesamteKirche, nicht nur in Angelegenheiten, die

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den Glauben und die Sitten, sondern auchin solchen, die die Disziplin und Leitungder auf dem ganzen Erdkreis verbreitetenKirche betreffen […]: der sei mit dem Ana-thema belegt“ (DH 3064).

Der zweite dogmatische Satz überdas Papsttum ist eigentlich eine innereKonsequenz dieses ersten, sozusagen des-sen logische Bedingung der Möglichkeit.Denn wenn ein solches Urteil des Papstesunanfechtbar sein soll, dann muss es auchnotwendigerweise wahr sein. So kommt eszur Definition der Lehrinfallibilität, alsoder päpstlichen Unfehlbarkeit in Fragen desGlaubens und der Sitten: „Wenn der Römi-sche Bischof ex cathedra spricht, das heißt,wenn er in Ausübung seines Amtes alsHirte und Lehrer aller Christen kraft seinerhöchsten Apostolischen Autorität entschei-det, dass eine Glaubens- oder Sittenlehrevon der gesamten Kirche festzuhalten ist,dann besitzt er mittels des ihm im seligenPetrus verheißenen göttlichen Beistandsjene Unfehlbarkeit, mit der der göttlicheErlöser seine Kirche bei der Definition derGlaubens- oder Sittenlehre ausgestattetsehen wollte; und daher sind solche Defi-nitionen des Römischen Bischofs aus sich,nicht aber aufgrund der Zustimmung derKirche unabänderlich“ (ex sese, non autemex consensu Ecclesiae, irreformabiles esse;DH 3074).

Die Interpretation dieser beidendogmatischen Sätze ist außerordentlichschwierig – erinnert sei nur an den FallKüng, der sich genau hierum dreht. Wich-tig ist in diesem Zusammenhang das Fol-gende: Der Schwerpunkt der Aussage liegtauf dem Jurisdiktionsprimat, also auf derBetonung der universalen Leitungsvoll-macht. Die Unfehlbarkeitsdefinition ist die-ser zugeordnet als ein sie ermöglichenderAspekt. Eine möglichst stabile Fixierungder Jurisdiktionsvollmacht ihrerseits schienaber angesichts der Bedrohung der Kirchevon innen (Gallikanismus) und von außen(Liberalismus, Modernismus, Säkularis-

mus etc., aber auch nationalstaatliche Ein-griffe in binnenkirchliche Strukturen), dersich weite Kreise des Katholizismus im 19.Jahrhundert angesichts politischer und ge-sellschaftlicher Umwälzungsbewegungenausgesetzt sahen, als das einzig probateMittel, um Gefahren von der Kirche abzu-wenden und deren Einheit und Freiheitbestmöglich zu sichern. Insofern kann mandogmenhermeneutisch bei einer Interpreta-tion dieser Sätze durchaus sowohl die zeit-geschichtlichen Umstände als auch dieDifferenzierung zwischen zugespitzterAussageform und eigentlicher Aussageab-sicht in Anschlag bringen, wobei Letzterein der Sicherung kirchlicher Einheit undFreiheit zu suchen sein dürfte.25

Zweitens bleibt der Papst auch inAusübung seiner Leitungsvollmacht stetsTeil der Kirche und spricht in diesem Sinneniemals ihr gegenüber. Um das zu verdeut-lichen, wurde vor die Unfehlbarkeitsaus-sage von den Konzilsvätern 1870 ein sog.historischer Passus zwischengeschaltet(DH 3069), der verdeutlicht, dass die Päps-te vor solchen Entscheiden stets den Ratder Bischöfe eingeholt haben, um sicher-zugehen, auch wirklich im Sinne der apos-tolischen Tradition der Kirche zu urteilen.Unfehlbar ist in diesem Sinne also die Kir-che als Ganze. Eben das sagt ja auch die ei-gentliche Definition, wenn sie von jenerUnfehlbarkeit spricht, „mit der der göttli-che Erlöser seine Kirche [!] ausgestattetsehen wollte“ (DH 3074). Insofern sagt –drittens – der im Schlussteil des Infallibili-tätsdogmas angefügte Zusatz, solche Ent-scheide seien „aus sich, nicht aber aufgrundder Zustimmung der Kirche unabänder-lich“ (DH 3074), lediglich aus, dass solcheEntscheide keiner nachfolgenden und zu-sätzlichen allgemeinkirchlichen, d.h. bi-schöflichen oder konziliaren Ratifikationbedürfen. Eine gewissermaßen autonome,den Entscheiden der Gesamtkirche voran-gehende und von ihr abgelöste Willkür-Unfehlbarkeit des Papstes ist damit gerade

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nicht gemeint.26

Viertens schließlich ist ein Hir-tenbrief der deutschen Bischöfe aus demJahr 1875 hermeneutisch bedeutsam, indem die Bischöfe die Anschuldigung Bis-marcks, mit dem Vaticanum I würden siezu bloßen Beamten Roms degradiert,scharf zurückweisen. Die Bischöfe insis-tieren in diesem Schreiben auf ihrer blei-benden bischöflichen Vollmacht und Hir-tensorge für die ihnen anvertrauten Diöze-sen und weisen nachdrücklich auf die dog-matischen Grenzen der vatikanischen De-finition hin (DH 3112-3116). Dieser Hir-tenbrief wurde am 4. März 1875 in einemApostolischen Schreiben von Pius IX. aus-drücklich als offizielle Interpretation dervatikanischen Dogmen bestätigt (DH3117).

Das Zweite Vatikanische Konzil: Lumen gentiumWie geht das Zweite Vatikanische Konzil,das von 1962-1965 in Rom tagt, mit dieserHypothek um? Schließlich wird es ja u.a.auch deshalb einberufen, um das unvollen-det abgebrochene I. Vaticanum zu einemAbschluss zu bringen. Um es vorweg zusagen: Es rückt einerseits auf der Textebenekein Jota von den Entscheiden des Vorgän-gerkonzils ab. Andererseits legt es aber inseinen vielen Einzeldokumenten einen Ge-samtduktus an den Tag, der eigentlich dieBischofskollegialität und die damit ver-bundene konziliare Idee stärkt. Von zentra-ler Bedeutung sind hier einige Passagen ausder dogmatischen Konstitution über dieKirche Lumen gentium. Fast wörtlich wie-derholt dort das Kapitel 25 die zentralenPassagen aus Pastor aeternus, wenn es andie Unfehlbarkeit erinnert, mit der Christusseine Kirche ausgestattet sehen wollte, unddann mit Blick auf den Papst betont: „Die-ser Unfehlbarkeit freilich erfreut sich derRömische Bischof, das Haupt des Kollegi-ums der Bischöfe, kraft seines Amtes,wenn er als oberster Hirt und Lehrer […]

eine Lehre über den Glauben und die Sit-ten in einem endgültigen Akt verkündet.Daher werden seine Bestimmungen zuRecht aus sich und nicht aus der Zustim-mung der Kirche heraus unveränderlich ge-nannt“ (LG 25,3). Andererseits aber kommteben diese Unfehlbarkeit auch dem Kolle-gium der Bischöfe zu, wie im unmittelba-ren Anschluss betont wird: „Die der Kircheverheißene Unfehlbarkeit wohnt auch derKörperschaft der Bischöfe inne, wenn siedas oberste Lehramt zusammen mit demNachfolger des Petrus ausübt“ (LG 25,3).27

Ganz ähnlich einige Seiten zuvorin Kapitel 22. Auch dort wird beides betont,und beides wird aufs Engste miteinanderverflochten – die Leitungsautorität des Bi-schofskollegiums und die ihres Vorsitzen-den, des Bischofs von Rom: „Der Stand derBischöfe […], in dem die Körperschaft derApostel beständig fortdauert, tritt zusam-men mit seinem Haupt, dem RömischenBischof, und niemals ohne dieses Haupt,auch als Träger der höchsten und vollstän-digen Vollmacht gegenüber der gesamtenKirche auf“ (LG 22,2). Fakt ist demnach,dass das Kollegium der Bischöfe unter undmit seinem Haupt, dem Römischen Bi-schof, Träger der höchsten und vollen Lei-tungskompetenz der katholischen Kircheist. Fakt ist aber zugleich, dass diese Kom-petenz des Bischofskollegiums in keinerWeise den uneingeschränkten Jurisdikti-onsprimat des Bischofs von Rom be-schneidet. Denn auch für das ZweiteVatikanische Konzil gilt: Der Papst ist frei,jederzeit und gegenüber jedem Glied derKirche seine höchste und volle Leitungs-kompetenz auszuüben.28 So formuliert LG22 eben auch, obiges Zitat einleitend (undbekräftigt dies im weiteren Gang des Ab-schnitts durch Zitation der einschlägigenntl. Primatstexte): Der „Römische Bischofhat gegenüber der Kirche kraft seinesAmtes, nämlich des Stellvertreters Christiund des Hirten der ganzen Kirche, dievolle, höchste und allgemeine Vollmacht,

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die er immer frei ausüben kann“ (LG 22,2).Damit entlassen die Konzilsväter die Kir-che in eine immer wieder neu diskutierteund auch immer wieder neu zu diskutie-rende Dialektik von kollegialer und prima-tialer Leitungsvollmacht.

Historisch verstehbar wird diesesNebeneinander von konziliaren und papa-len Ansätzen, wenn man sich die Ge-schichte vor Augen führt, in der Lumengentium entstand. Denn eine Analyse derverschiedenen Textvorlagen, Debattenver-läufe und nachfolgenden Textkorrekturenzeigt, dass eine große Majorität der Kon-zilsväter einen Neuaufbruch aus der vomErsten Vaticanum vorgegebenen primatia-len Zuspitzung der Leitungsvollmachtwollte, eine Minorität der Väter aber mitaller Macht versuchte, den bisherigen sta-tus quo zu halten.

Theologisch verstehbar wird dasalles freilich nur, wenn man sich die ge-meinsame Basis beider Autoritätsformenvor Augen führt. Diese gemeinsame Basisnämlich liegt in der Unfehlbarkeit des gan-zen Gottesvolkes, dem der Beistand desHeiligen Geistes verheißen ist und das des-halb als ein Ganzes in Glaubensdingennicht irren kann. So schließt LG 25 seineAussagen zur Unfehlbarkeit von Papst undBischöfen mit den Worten: „Diesen Be-stimmungen […] kann wegen der Wirk-samkeit desselben Heiligen Geistes, durchwelche die gesamte Herde Christi in derEinheit des Glaubens bewahrt wird undfortschreitet, die Zustimmung der Kircheniemals fehlen“ (LG 25,3). Damit wird zu-nächst gesagt, dass all diese Definitionennur bindend sind aufgrund einer allgemei-nen Zustimmung der Kirche, die sich ih-rerseits der Führung durch den Geist Gotteserfreut. Im Hintergrund steht freilich derGedanke des sensus fidei, des gemeinsa-men Glaubenssinns der Gläubigen, dervom Geist geleitet nicht irren kann. LG 12unterstreicht das in aller Deutlichkeit: „DieGesamtheit der Gläubigen […] kann im

Glauben nicht fehlgehen, und diese ihre be-sondere Eigenschaft macht sie mittels desübernatürlichen Glaubenssinns des ganzenVolkes […] kund“ (LG 12,1). Mit anderenWorten: Sollte der Papst eine Aussage alszu glauben vorlegen, die nachweislich demallgemeinen Glaubenssinn des Gottesvol-kes widerspricht, so kann diese Aussageper definitionem nicht endgültig, irrefor-mabel und unfehlbar sein.29 Vielmehr gilt:Unfehlbar im strengen, absoluten Sinn desWortes ist Gott allein. Bereits die Unfehl-barkeit des Volkes Gottes ist deshalb ledig-lich eine abgeleitete und analoge, weil siesich aus der unfehlbaren Leitung und Füh-rung des Gottesgeistes speist. Die Unfehl-barkeit des bischöflichen und päpstlichenLehramtes steht demgegenüber jedoch –wenn man so sagen kann – in einer Analo-gie zweiten Grades, weil sie sich ihrerseitsin eins mit der stellvertretenden Repräsen-tation Christi als dem Haupt seiner Kircheaus dem Gedanken der vollmächtigen Re-präsentation des Gottesvolkes speist unddie Unfehlbarkeit der ganzen Kirche sol-cherart zur Voraussetzung und Möglich-keitsbedingung hat.

Offene SituationGelöst ist die Spannung damit aber nochnicht – und sie wird sich wohl auch nichtrestlos entwirren lassen. Entsprechend un-übersichtlich und offen ist auch die heutige,tagesaktuelle Situation. Wohin der Weggehen wird, weiß keiner. Auf der einenSeite ist an die Enzyklika Ut unum sint –zu Deutsch: Auf dass sie alle eins seien –von Johannes Paul II. aus dem Jahr 1995zu erinnern, in der er die Hoffnung äußert,„eine Form der Primatsausübung zu finden,die zwar keineswegs auf das Wesentlicheihrer Sendung verzichtet, sich aber einerneuen Situation öffnet“ (Nr. 95), und in derer deshalb an die nichtkatholische Chri-stenheit die Bitte äußert, mit ihm in dieserSache in einen „brüderlichen, geduldigenDialog“ (Nr. 96) einzutreten. Es ist wohl

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kein Zufall, dass in der theologischen Fach-literatur zum Thema im Nachgang zu die-ser Enzyklika eine Vielzahl an Publika-tionen zu verzeichnen ist, die diese Impulseaufgreifen und weiterzudenken versuchen.

Auf der anderen Seite aber stehtdie sichtbare Tendenz, immer mehr Kom-petenzen von den Ortsbischöfen abzuzie-hen und in Rom zu verankern; fast so, alswollte die Kurie als verlängerter Arm derpäpstlichen Jurisdiktionsgewalt gelten.Ganz aktuell ist hier eine römische In-struktion mit dem Titel Universae ecclesiaevom Mai 2011 zu nennen, die sich um dennäheren Umgang mit der seit 2007 wiederallgemein zugelassenen, sog. außerordent-lichen Form der alten Liturgie kümmert.30

Die für diese Instruktion verantwortlichevatikanische Kommission namens EcclesiaDei erklärt nun in diesem Dokument, derHl. Vater habe ihr für den Bereich ihrer Zu-ständigkeit eine „ordentliche, stellvertre-tende Hirtengewalt“ (Nr. 9) verliehen.Diese ihr verliehene Hirtensorge übt sie da-durch aus, „dass sie als hierarchischer Obe-rer die ihr rechtmäßig vorgelegten Rekursegegen einzelne Verwaltungsakte von Ordi-narien entscheidet, die dem Motu propriozu widersprechen scheinen“ (Nr. 10),m.a.W. dass sie also ggf. ortsbischöflicheFestlegungen wieder aufheben wird, dieden päpstlichen Erlass von 2007 nicht imrömischen Sinne umsetzen. Die Bischöfewerden ausdrücklich ermahnt, in ihremVorgehen der Gesinnung (im Original:mens) des Papstes zu folgen (Nr. 13). Wört-lich heißt es weiter: Im Fall von Auseinan-dersetzungen oder begründeten Zweifelnüber gottesdienstliche Feiern in der formaextraordinaria wird die Päpstliche Kom-mission Ecclesia Dei entscheiden“ (Nr.13).31 Mir will scheinen, dass angesichtssolcher Töne die Befürchtung JohannesRösers, hier verschöben sich dramatischdie Gewichte zwischen den Kompetenzender Ortsbischöfe und denen einzelner Ku-rienkommissionen, nicht von der Hand zu

weisen ist.32

Ein anderes Beispiel: Im März2006 verzichtete Papst Benedikt XVI. frei-willig auf den Titel „Patriarch des Abend-landes“, der seither im Päpstlichen Jahr-buch keine Erwähnung mehr findet.33 Wasbei erstem Augenschein als ein hoffnungs-volles ökumenisches Signal verstandenwerden könnte, entpuppt sich bei nähererBetrachtung als zumindest deutungsoffen;ist es doch eben jener Titel, der am bestenverdeutlichen kann, dass der Papst den an-deren Patriarchaten auf Augenhöhe undohne Superioritätsgestus begegnet. Immerwieder wurde darauf hin- gewiesen – undnicht zuletzt vom heutigen Papst selbst34 –wie wichtig es sei, beim Amt des Bischofsvon Rom zwischen universalkirchlichemPrimat und lateinischem Patriarchat zu dif-ferenzieren, um Verwaltungs- und Juris-diktionsvollmachten einerseits und Ein-heitsdienst am Glauben andererseits theo-logisch besser unterscheiden und herme-neutisch präziser fassen zu können.35 Nunsteht die Frage im Raum, ob dieser Schrittetwa als eine Absage an die Patriarchal-struktur insgesamt und folglich als einenochmalige Zuspitzung des primatialenAnspruchs auch über die orthodoxenSchwesterkirchen zu lesen sein muss.

Was bleibt angesichts dieser un-übersichtlichen Situation? Zum einen undganz unbestreitbar die grundlegende Fest-stellung der bleibenden und unaufgebbarenBedeutsamkeit des Petrusdienstes als desAmtes der Einheit – auch und gerade inökumenischer Hinsicht. Das gilt nicht nurmit Blick auf die Orthodoxie, sondern auchfür das interkonfessionelle Gespräch mitden Kirchen der Reformation. Erwähnt seian dieser Stelle nur Wolfhart Pannenberg,der aus reformatorischer Perspektive be-tont: „Ein solcher Dienst an der Einheit derChristen im apostolischen Glauben istgrundsätzlich auch auf der Ebene der Ge-samtkirche, in Bezug auf die ganze Chris-tenheit nötig“.36 Dabei gesteht Pannenberg

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durchaus zu, dass aus historischen Gründenam ehesten der Bischof von Rom für einsolches Amt der Einheit stehen kann, derVorrang Roms also unbefangen anerkanntwerden solle. Zugleich aber betont er die Notwendigkeit einer „theologische[n]Reinterpretation und praktische[n] Um-strukturierung“37 des Papstamtes, undmeint damit die Unterordnung unter denPrimat des Evangeliums und die Unter-scheidung zwischen Primat und Jurisdikti-onsgewalt. Auch die institutionalisiertenökumenischen Gespräche auf amtlich-offi-zieller Ebene haben inzwischen gezeigt,dass die Existenz eines ortsübergreifendenkirchlichen Leitungsamtes kein schlechthinkirchentrennendes Faktum mehr ist, wie-wohl freilich in der konkreten inhaltlichenGestaltgebung noch erhebliche Differenzenliegen.

Zum zweiten gilt es, das histori-sche Bewusstsein von der steten Differenzzwischen Anspruch und Wirklichkeit desPapsttums wachzuhalten – dies aus Grün-den der Gelassenheit gegenüber konkretenkirchenpolitischen Tageskonstellationen,aber auch aus Gründen der rechten Demutim eigenen Kirche-Sein. So sehr die Ein-richtung des Petrusdienstes als solchem einAmt de iure divino darstellt, so sehr sindseine historischen Entwicklungen und ta-gesaktuelle Ausgestaltung menschlichenRechts, ein Ausdruck der Suche der pil-gernden Kirche, im Gang durch die Zeitdem Gebot der Einheit im Glauben zu ent-sprechen.

Und schließlich gilt es zum Drit-ten, auf die – je nach Sichtweise: Bewah-rung oder Wiederherstellung – der Balancezwischen primatialen und kollegialen Lei-tungsstrukturen in der Kirche zu achten.Dabei geht es nicht nur um das Verhältnisvon Orts- und Universalkirche, d.h. um dasMiteinander der einzelnen Bischofskirchevor Ort und Roms als Vertreterin der Uni-versalkirche, sondern es geht auch um dieDignität der mittleren Ebene, also der re-

gionalen Bischofskonferenzen oder Parti-kularsynoden, die strukturell wertgeschätztwerden müssen. Hermeneutisch führt das –neben dem kritischen Blick auf ganz kon-krete Machtinteressen – zurück zur Fragenach einer angemessenen Interpretationeinmal getroffener dogmatischer Festle-gungen. Es käme einer kirchlichen Selbst-aufgabe gleich, wollte man allen Ernsteseine Rücknahme dogmatisch mit höchsterVerbindlichkeit getroffener Lehrentscheideeinfordern. Es käme aber auch einer kirch-lichen Selbstaufgabe gleich, wollte mansich einer beständigen hermeneutischenVergegenwärtigung und einer je neuen si-tuativen Applikation solcher dogmatischerFestlegungen verweigern, insofern Kirchesich immer als eine pilgernde, streitendeund reformbedürftige Kirche im Gangdurch die Zeit verstanden hat. Gerade mitBlick auf die einseitigen Spitzensätze desErsten Vatikanischen Konzils schwankt dietheologische Debatte hier zwischen einemeher reduktiven, limitierenden und einemergänzenden, fortschreibenden Ansatz:Während die Vertreter einer restriktiven In-terpretationslinie eine rechtlich auf Dauerbindende Selbstbeschränkung dahingehendins Spiel bringen, dass der Papst verbind-lich erklären solle, auf bestimmte Rechteverzichten zu wollen, versuchen die Ver-fechter einer ergänzenden Interpretation,einseitige Spitzenformulierungen durch Er-gänzung des je anderen Pols auszutarieren.Sie sehen sich dabei ganz in der hermeneu-tischen Tradition von Lumen gentium, dasja eben so verfahren ist.38 So oder so sprichtin jedem Falle nichts gegen, aber alles füreine beständige Relecture und hermeneuti-sche Fortschreibung der beiden letzten va-tikanischen Konzilien: Warum also nichteine rechtlich fixierte und präzisierte Aus-gestaltung der Kollegialität, Subsidiaritätund Synodalität der Kirche als Ganzer undder bischöflichen Leitungsvollmacht imBesonderen?39 Dass das der Autorität desuniversalen Leitungsamtes keinen Schaden

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zufügen, sondern ganz im Gegenteil dieMöglichkeiten einer Realisierung seineramtlichen Aufgaben, nämlich Dienst an derEinheit zu sein, in unserer späten Moderneganz erheblich erweitern würde, zeigen dieÜberlegungen Hermann J. Pottmeyers zujener Gestalt des Papstamtes, die er mit derChiffre „Communio-Primat“ charakteri-siert: „In einer Kirche, die sich zunehmendals communio von Einzelkirchen gestaltensoll und muss, gewinnt der Petrusdienst anBedeutung – nicht als allgegenwärtige,alles bestimmende Regelungsinstanz, wohlaber als Wächteramt in subsidiärer Funk-tion, als Zentrum der communio und alswirksames Zeichen und Werkzeug für dievon Gott gegebene und aufgegebene Ein-heit der Kirche“.40

Anmerkungen1 Vgl. J. Gnilka, Der Petrusdienst – Grundle-gung im Neuen Testament und Ausprägung inder frühen Kirche, in: P. Hünermann (Hrsg.),Papstamt und Ökumene. Zum Petrusdienst ander Einheit aller Getauften. Regensburg 1997,9-24, 11.2 Vgl. ebd., 18.3 So die Charakterisierung dieser drei Stellen beiR. Pesch, Die biblischen Grundlagen des Pri-mats (QD 187). Freiburg 2001, 43.4 Vgl. ebd. 45. Zum Gesamten vgl. ebd., 30-46.5 J. Gnilka, Der Petrusdienst (Anm. 1), 10.6 R. Pesch, Grundlagen (Anm. 3), 67.7 Vgl. G. Denzler, Das Papsttum. Geschichteund Gegenwart. München 32009, 13-17. Aus-führlicher zum Romaufenthalt Petri vgl. W.Klausnitzer, Der Primat des Bischofs von Rom.Entwicklung – Dogma – Ökumenische Zukunft.Freiburg 2004, 127-149.8 Zitiert aus: Die apostolischen Väter (Schriftendes Urchristentums I), hrsg. v. J. Fischer. Darm-stadt 2004, 183. Zu dieser Stelle vgl. ebd., 129fsowie W. Klausnitzer, Primat (Anm. 7), 155-160.9 Irenäus von Lyon, Adversus Haereses. Gegendie Häresien III (FC 8/3), übers. v. N. Brox.

Freiburg 1995, 31, zitiert nach: W. Klausnitzer,Primat (Anm. 7), 161. Vgl. zum Text ebd., 161-166.10 K. Schatz, Der päpstliche Primat. Seine Ge-schichte von den Ursprüngen bis zur Gegen-wart. Würzburg 1990, 14.11 Einen guten historischen Überblick bietenneben den einschlägigen Lexika-Artikeln – hierherausragend Art. Papsttum, in: RGG 6 (42003)866-902 – G. Denzler, Papsttum (Anm. 7) sowieH. Fuhrmann, Die Päpste. Von Petrus zu Bene-dikt XVI. München 32005. Die folgende Dar-stellung orientiert sich an diesen Titeln.12 Bis dahin, dass Papst Silvester I. in den kai-serlichen Palast Konstantins eingezogen ist.Vgl. G. Winkler, Der Jurisdiktionsprimat derPäpste und die Imitatio imperii des Mittelalters,in: W. Neidl; F. Hartl (Hrsg.), Person und Funk-tion (FS Hommes). Regensburg 1998, 211-222,hier 212.13 Zitiert bei G. Denzler, Papsttum (Anm. 7), 33.14 Vgl. K. Schatz, Primat (Anm. 10), 95-98.15 Zitiert bei G. Denzler, Papsttum (Anm. 7), 34.16 Vgl. Dictatus papae, abgedruckt in: K.Schatz, Primat (Anm. 10), 218f und (von Schatzübernommen) W. Klausnitzer, Primat (Anm. 7),199f. Gerade die Frage nach der Amtsheiligkeithat Anlass zu Spekulationen gegeben. Dahintersteht wohl zum einen die geschichtliche Erin-nerung an die öffentliche Bußpraxis des Früh-mittelalters, die einen Entzug aller kirchlichenÄmter zur Folge hatte. Da der Papst dieser Buß-disziplin (so ja auch These 19) nicht unterliegt,d.h. ihrer aufgrund mangelnder eigener schwe-rer Sünden offensichtlich nicht bedarf, ist eineihm zukommende Form der Heiligkeit gefolgertworden. Zum anderen spiegelt sich in dieserThese – so K. Schatz, Primat (Anm. 10), 113 –die „Petrusmystik […] Gregors. Er glaubt, ineiner mystischen Einheit mit Petrus zu stehen,der in ihm handelt, denkt und spricht.“ ZumDictatus papae insgesamt vgl. W. Klausnitzer,Primat (Anm. 7), 199-214.17 H. Fuhrmann, Päpste (Anm. 11), 123: „DerWeg, den Gregor VII. eingeschlagen hat, ist derWeg zur Papstkirche. Was dem einzelnen zumHeile gereicht und was in der Kirche rechtens

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ist, bestimmt der Papst.“18 Zitiert in H. Fuhrmann, Päpste (Anm. 11),128. Ebd. auch der Hinweis auf die Inanspruch-nahme des Titels Vicarius Christi.19 Vgl. W. Klausnitzer, Primat (Anm. 7), 224-229. 20 Aus diesem Konflikt erklärt sich auch die zeit-liche Spanne zwischen Abfassung und Publika-tion: Bonifaz wollte ein in der Zwischenzeitangedeutetes Einlenken Philipps abwarten. Erstnach dem endgültigen Bruch mit Philipp IV.veröffentlicht er die Bulle. Detaillierte undkenntnisreiche Ausführungen zu den Hinter-gründen der Bulle bei K. Ubl, Die Genese derBulle Unam Sanctam: Anlass, Vorlagen, Inten-tion, in: M. Kaufhold (Hrsg.), Politische Refle-xionen in der Welt des späten Mittelalters /Political thought in the age of scholasticism (FSMiethke). Leiden 2004, 129-149.21 Vgl. H. Fuhrmann, Päpste (Anm. 11), 148-154.22 Zitiert bei G. Denzler, Papsttum (Anm. 7), 63.23 Zitiert ebd., 63.24 J. Wohlmuth (Hrsg.), Dekrete der ökumeni-schen Konzilien. Band 2: Konzilien des Mittel-alters. Paderborn 2000, 409. Zu Haec sanctavgl. W. Klausnitzer, Primat (Anm. 7), 235-254sowie K. Schatz, Primat (Anm. 10), 139-142.Bei Klausnitzer (ebd., 215.237) und Schatz(ebd., 220) jeweils Abdrucke der zentralen Text-passage.25 So das Argument bei J. Brosseder, „Visionen“eines „Petrusdienstes“ im 3. Jahrtausend. Zumtheologischen und ekklesiologischen Horizonteines Amtes universalkirchlicher Einheit, in: J.Brosseder; W. Sanders (Hrsg.), Der Dienst desPetrus in der Kirche. Orthodoxe und reformato-rische Anfragen an die katholische Theologie.Frankfurt/M 2002, 103-124, hier 115-118.26 Zur Interpretation vgl. hier neben K. Schatz,Primat (Anm. 10), 187-200 und W. Klausnitzer,Primat (Anm. 7), 369-427 noch H. Pottmeyer,Die Rolle des Papsttums im dritten Jahrtausend(QD 179). Freiburg 1999, 30-94 sowie in prä-gnanter Zusammenfassung O.-H. Pesch, Katho-lische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung.Band 2: Die Geschichte Gottes mit den Men-

schen (Ekklesiologie, Sakramentenlehre, Escha-tologie). Ostfildern 2010, 263-272.27 Zitiert wird aus P. Hünermann (Hrsg.), DieDokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils.Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Latei-nisch-deutsche Studienausgabe (HThK Vat. II,Band 1). Freiburg 2004, hier 119. Zur Interpre-tation vgl. den Kommentar zu LG von Hüner-mann in HThK Vat. II, Band 2, 263-582, hierbes. 404-460.28 Von diesen beiden Prämissen ausgehend ent-wickelt Hünermann ebd., 425f seine Interpreta-tion von LG 22,2.29 So nicht nur Hünermann ebd., 441, sondernebenso G. L. Müller, Der römische Primat. EinAnsatz zu seiner dogmatisch-theologischen Be-gründung, in: MThZ 38 (1987) 65-85, hier 84:„Eine eindeutig eigenwillige, nicht aus demKonsens des Zeugnisses der Kirche über ihreapostolische Überlieferung von einem Papst alsDogma behauptete Lehre wäre aus sich herausund nicht erst durch eine nachträgliche Feststel-lung der Kirche reformabel.“30 Die Instruktion Universae ecclesiae enthältdie näheren Ausführungsbestimmungen zur An-wendung des von Benedikt XVI. im Jahr 2007erlassenen Motu Proprio Summorum Pontifi-cum, das den bis 1962 gebräuchlichen, altenMessritus als außerordentliche Form der Litur-gie wieder allgemein erlaubt.31 Die Zitate sind übernommen aus der offiziel-len deutschen Übersetzung des rechtsverbindli-chen lateinischen Textes. Sie ist leicht einsehbarunter: http://www.vatican.va/roman_curia/pon-tifical_commissions/ecclsdei/documents/rc_com_ecclsdei_doc_20110430_istr-universae-ecclesiae_ge.html32 Zur Einschätzung des jetzigen Dokumentsvon 2011 vgl. J. Röser, Statt Weite neue Enge?,in: CiG 63 (2011) vom 29. Mai 2011.33 Vgl. C. Böttigheimer, Veränderung in der Ti-tulatur des Papsttums – ein ökumenisch bedeut-samer Schritt?, in: Cath(M) 61 (2007) 42-55.34 C. Böttigheimer, Veränderung (Anm. 33), 45fverweist auf J. Ratzinger, Art. Primat, in: LThK8 (21963) 761-763, bes. 763 sowie auf J. Rat-zinger, Primat und Episkopat, in: ders., Das

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neue Volk Gottes. Entwürfe zur Ekklesiologie.Düsseldorf 1969, 121-146, 142f.35 Neben den Genannten vgl. hier außerdem H.Hoping, Einheit der Kirchen und Petrusdienst.Zur ökumenischen Zukunft des Papstamtes, in:ders. (Hrsg.), Konfessionelle Identität und Kir-chengemeinschaft. Münster 2000, 89-108, 101;W. Kasper, Das Petrusamt in ökumenischer Per-spektive, in: S. Hell; L. Lies (Hrsg.), Papstamt.Hoffnung, Chance, Ärgernis. Innsbruck 2000,211-233, 229f; J. Brosseder, „Visionen“ eines„Petrusdienstes“ im 3. Jahrtausend. (Anm. 25),109ff.36 W. Pannenberg, Evangelische Überlegungenzum Petrusdienst des römischen Bischofs, in: P.Hünermann (Hrsg.), Papstamt und Ökumene.Zum Petrusdienst an der Einheit aller Getauften.Regensburg 1997, 43-60, 43.37 Ebd., 48.

38 Vgl. W. Klausnitzer, Primat (Anm. 7), 441-450.39 So auch (neben vielen anderen gleichlauten-den Stimmen) das abschließende Plädoyer desBeitrags von G. Wassilowsky, Art. PapsttumIII.4-5, in: RGG 6 (42003) 889-897, 897.40 H. Pottmeyer, Rolle (Anm. 26), 137.

OratioDeus, solus fons vitae,luminis et veritatis:

famulis tuis ad cognoscendamveritatem eiusque testimoniumin mundo dandum congregatisda spiritum veritatis, virtutemet confessionem, humilitatem

et ignem tui amoris.

O Gott! Du bist die einzige Quelle des Lebens,

des Lichtes und der Wahrheit. Gib Deinen Dienern und Dienerinnen, diesich zusammengeschlossen haben, um inDeine Wahrheit einzudringen und für sie

Zeugnis zu geben in der Welt: den Geist der Wahrheit, den Mut des Be-kenntnisses,die Kraft der Demut und das

Feuer Deiner Liebe!

GEBET DES KATHOLISCHEN AKADEMIKERVERBANDESDEUTSCHLANDS (KAVD)

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Wie ich zu Ratzinger kam

1970 las ich mit Begeisterung das Bucheines jungen Theologieprofessors „Einfüh-rung in das Christentum“. Sein Name lau-tete Joseph Ratzinger. Wenig spätererreichte mich die Anfrage eines Professorsaus Erfurt, ob ich nicht eine Dissertation imFach Dogmatik schreiben wolle. Nur mitBedenken sagte ich zu. Denn gerade erstwar ich als Kaplan voller Elan in die Ge-meindeseelsorge eingestiegen und konntemir auch nichts Besseres als die Seelsorgevorstellen. Das Thema kam dann aber auchaus der Seelsorge: „Dialogische Unsterb-lichkeit. Eine Untersuchung zu Joseph Rat-zingers Eschatologie und Theologie“. Undes war wohl nur meinem jugendlichenÜbermut wie dem Mut meines Doktorva-ters Lothar Ullrich zuzuschreiben. Dennwie kann man sich mit einem Theologenbefassen, der noch lebt und weiter schreibt.Und von dem man nicht wissen kann, wasaus ihm noch werden wird. Als ich mit derArbeit fertig war, war Ratzinger in RomPräfekt der Glaubenskongregation. Und in-zwischen ist er Papst Benedikt XVI.

Die Ausgangsfrage

Der Auslöser dieser 1986 erschienenenDissertation ist eine Geschichte, die ich ausZeitgründen nur kurz erzählen kann, wobeieiniges von ihrem Reiz abgehen wird. EineMutter erzählte in einem der damals zahl-reichen Familienkreise von ihrem vierjäh-rigen Sohn. Der versuchte ein Küken zu

retten, das von den anderen Küken ständiggehackt wurde. Alles vergeblich, das Kü-ken starb. Um dem Kind die innere Ruhezurückzugeben, begrub die Mutter gemein-sam mit ihren anderen Kindern das Kükenim Garten und stellte ein kleines Kreuz auf.Dennoch konnte der Junge abends nichteinschlafen: Das Küken müsse nun in derkalten, nassen Erde liegen. Die Muttersuchte den Jungen zu trösten mit dem Hin-weis, dass das Küken inzwischen beim lie-ben Gott im Himmel sei. Aber der Jungewollte es sicher wissen. Er grub am ande-ren Tag nach, stürzte dann weinend zurMutter in die Küche: „Du hast mich belo-gen, das Küken liegt noch immer in derErde.“ In ihrer Not suchte die Mutter nacheinem Ausweg: „Weißt du, das ist sicherwie bei Dr. Möckel nebenan, da müssen dieLeute manchmal auch sehr lange warten.Wahrscheinlich sind jetzt so viele gestor-ben, dass es eine Weile dauert, bis dasKüken dran ist“. Der Junge lässt sich damitberuhigen. Abends beschließt die Muttermit ihrem Mann einen frommen Betrug.Sie graben das Küken aus und an andererStelle wieder ein, damit der Junge es nichtfindet, falls er noch einmal nachsieht.

Zunächst haben wir uns im Fami-lienkreis köstlich amüsiert. Dann aberführte diese Geschichte zu einer heftigenDiskussion. Bei mir löste diese Geschichteeine Frage aus, die bis heute anhält: Wiekann man kritischen Menschen unsererZeit die Auferstehungsbotschaft nahe brin-gen?

Dr. Gerhard Nachtwei ist Propst der Propstpfarrei St. Peter und Paul in Dessau.

„Ein Gott, der hoffen lässt“Predigt in St. Hedwig Berlin*

Gerhard Nachtwei

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Die „Ein/Siebtel-Vernunft“

Es ist ein Markenzeichen der TheologieRatzingers, dass er zeigen will, dass derGlaube letztlich nicht gegen die Vernunftund die Vernunft nicht gegen den Glaubenstehen kann. Hier geraten wir in spannen-des aber schwieriges philosophisches Ge-wässer. Dazu müsste man ein Seminarhalten, aber ich habe nur eine Predigt zurVerfügung. Doch ich muss immer wiederauch einfachen Menschen eine Antwortgeben. Mit Ratzingers Theologie im Hin-terkopf, versuche ich es etwa Kindern imErstkommunionkurs so zu erklären. Sie er-zählen mir, dass sie ausgelacht werden,weil sie an Gott glauben, den man nichtsehen kann. Aber frage ich sie: Ist denn derSatz: „Ich glaube nur das, was ich sehe,klug?“ Ich habe als Kind öfter gehört: „Ichglaube nur, dass ein Pfund Rindfleisch einegute Suppe gibt.“ Ist es aber vernünftig, zusagen: „Es existiert nur, was ich mit mei-nem Verstand begreifen kann.“ Das Bei-spiel eines Eisbergs kann weiterhelfen: Ichsehe vom ihm nur ein Siebentel, sechs Sie-bentel sind unter Wasser, bleiben mir ver-borgen. Darum ist etwa die Titanicuntergegangen. Wenn ich Sie alle z.B. vormir sitzen sehe, sehe ich von jedem vonIhnen sozusagen nur die Spitze des Eis-bergs. Ihr Inneres, Ihre Seele, das was Siewirklich sind, ahne und spüre ich, aberkann es nie ganz sehen. Ist dann nicht ver-nünftig, bei meinem Blick in die Weltdavon auszugehen, dass es mehr gibt, alsich sehen und verstehen kann. Nach Rat-zinger rühren wir damit an das GeheimnisGottes und der Schöpfung: „Wenn aberVerstehen Begreifen unseres Umgriffen-seins ist, dann heißt dies, dass wir es nichtnoch einmal umgreifen können; es gewährtuns Sinn eben dadurch, dass es uns um-greift.“

Wenn aber der Glaube stirbt

Zu mir kommt eine Frau, die völlig amEnde ist: „Ich glaube an nichts mehr: Nichtan meine Familie, nicht an die Kirche, nichtan Sie, nicht an Gott, nicht an die Men-schen, nicht an mich selber.“ Danach einelange Stille. Die Hilflosigkeit der Frauspringt auf mich über. Nach etlicher Zeitsage ich, mehr rutscht es mir heraus: „AberGott glaubt an Sie.“ Wieder Stille. Plötzlichhebt die Frau den Kopf: „Was haben Sieeben gesagt?“ Ich stocke: „Ich habe gesagt:Aber Gott glaubt an Sie?“: „Und stimmtdas?“ Ich antworte: „Ich glaube es. Ichglaube sogar, Gott hat mir den Satz ebeneingegeben“. „Wenn das stimmt, dann än-dert sich alles“, antwortet die Frau. Bevorsie geht, schiebt sie mir wortlos eine Ra-sierklinge über den Tisch. Ratzinger:„Ohne das Wort ohne den Sinn, ohne dieLiebe kommt der Mensch in die Situationdes Nicht-mehr-Leben-Könnens, selbstwenn irdischer Komfort im Überfluss vor-handen ist.“ Aus dem Sumpf der Unge-wissheit, des nicht Leben-Könnens kannsich der Mensch nicht durch eine Kette vonVernunftschlüssen selbst herausziehen.Dies gelingt so wenig, wie der absurde Ver-such Münchhausens, sich an den eignenHaaren aus dem Sumpf zu ziehen. Mensch-lich und christlich ist nach Ratzinger: Ichvertraue mich einer größeren Vernunft,einem tieferen Sinn an. Nicht das verzwei-felte: „Cogito ergo sum. Ich denke, also binich,“ des Descartes, sondern das befrei-ende: „Amo, ergo sum. Ich werde geliebt,also bin ich.“ Für mich übrigens ist die inder Welt wirkende Liebe der stärkste Got-tesbeweis. Wenn Gott mit der Kraft seinerLiebe nicht immer in der Welt und bei unsMenschen am Wirken wäre, hätten wir unsalle schon längst gegenseitig ausgerottetoder uns das Leben genommen. Und in un-serer von Krisen- und Hoffnungslosigkeitgeschüttelten Zeit: Wer außer Gott kannuns Gewissheit geben, dass es nicht eines

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Tages doch noch dazu kommen kann?

Ein Gott, der hoffen lässt

„Wer bin ich eigentlich für Sie?“ fragt michein Gefangener in der JVA Dessau. (DieArbeit im Gefängnis gehört zu meinen Auf-gaben als Gemeindepfarrer.) Er fährt fort:„Ich bin kein Christ, bin nicht getauft. Ichhab Schlimmes gemacht. Ich weiß nichteinmal, ob ich an Gott glauben kann.“ Ichantworte ihm: „Sie sind ein Mensch. Dasheißt: Sie sind ein Geschöpf Gottes, vonGott gewollt und geliebt. Sie sind in seinenAugen etwas ganz Besonderes. Das habenSie bisher vielleicht noch nicht so sehenkönnen. Aber die Gespräche mit Ihnen las-sen mich ahnen, dass Sie dabei sind, zu ent-decken und zu entfalten, was Gott in Siehinein gelegt hat. Das Schlimmste wäre,wenn Sie sich aufgeben. Dann könnte ichnur heulen und Gott auch.“ Gott: Wer istdas?

Mein Gott ist größer als Deiner

Es geschah in einem kleinen Städtchen bei Halberstadt zu DDR-Zeiten. Der Do-zent einer Parteihochschule besucht seineSchwester. Bei diesem Besuch macht ersich über seinen Neffen lustig, der begeis-tert erzählt, dass er jetzt in die Kirche undzum Pfarrer geht. Die Mutter des lernbe-hinderten Jungen hört von der Küche ausdas Gespräch mit an und wird zunehmendwütender auf ihren arroganten Bruder.Letztlich macht er sich über ihr Kind lustig,von dem er weiß, dass der Junge in derSchule nicht so recht mitkommt. Plötzlichkontert der Kleine: „Du Onkel glaubst auchan was.“ „So und an was?“, fragt überlegender Onkel. „Du glaubst an Erich Honnek-ker.“ Und dann legt der Junge nach und er-weist sich darin als großer Theologe undsozusagen als kleiner Ratzinger: „Abermein Gott ist größer als deiner.“ Zu den in-nerweltlichen Utopien und Zukunftsver-

sprechen hat sich Ratzinger immer wiederkritisch geäußert und ist damit auch selbstin die Kritik geraten. Die Geschichte zeigtuns, dass alle Versuche, das Paradies aufErden zu schaffen, auch die kirchlichen,gescheitert sind. Wir selbst sind Zeitzeugenund zum Teil auch Mitgestalter des Zu-sammenbruchs der kommunistischen Ideo-logie. Und das Schreckliche an solchenMenschheitsverheißungen: Oft endet derVersuch mit Umerziehungslagern, Bespit-zelung und Terror. Gilt nicht auch gegen-über den Versprechungen der Wohlstands-und Wellnessgesellschaft der Satz des klei-nen Jungen: „Aber mein Gott ist größer alsdeiner.“

„Was hat das Christentum den Menschen gebracht?“

fragt eine Lehrerin zu DDR-Zeiten dieKlasse. Alle antworten pflichtgetreu:„Nichts Gutes usw.“ Dann will die Lehrerindie schüchterne Uta bloßstellen. Sie weiß,dass sie in die Kirche geht: „Uta, bist du an-derer Meinung.“ Und Uta nimmt ihren gan-zen Mut zusammen und sagt: „Ja.“ Dochdie Lehrerin bohrt weiter: „Und was?“ Utasteht wieder auf und sagt: „Die Hoffnung“und setzt sich. Und das sitzt. Eine großeTheologin, diese Uta, eine kleine Ratzin-gerin.

Aber klingt das alles nicht zu schön?

Wenn wir auf die Kirche blicken und aufuns selbst, sollten wir dann lieber nicht sogroße Töne schwingen? Freilich gibt es vielbösartige unberechtigte Kritik. Aber wiegehen wir mit Versagen und Schuld um?Ratzinger will mit seiner Theologie nichtintellektuelles Glasperlenspiel betreiben,sondern den Menschen helfen, Glauben,Hoffnung und Liebe im Alltag zu leben.Wieder will ich versuchen, das Problem inein Bild zu übertragen: Bachs Weihnachts-oratorium bleibt großartige Musik, auch

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wenn der Chor schräg singt und die Instru-mente nicht gut gestimmt sind. Unsere Kir-che liefert schon manchmal eine jämmer-liche Aufführung der Botschaft von Gott,der alles ins Leben gerufen hat und dieSchöpfung vollenden wird. Wie sagt Tün-nes zu Schäl: „Der Chef ist schon in Ord-nung. Aber das Bodenpersonal.“ Wirmüssen Christ sein und Kirche ständigüben, wie es ein Chor und Orchester tunmüssen. Grundmotiv sollte uns RatzingersSatz aus der Einführung ins Christentumsein: „Nicht der konfessionelle Parteige-nosse ist der wahre Christ, sondern derje-nige, der durch sein Christsein wahrhaftmenschlich geworden ist.“

Zum Himmel – Zum Vortrag über den Himmel

Wenn man gestorben ist, so soll es zweiSchilder geben: „Zum Himmel“ und „ZumVortrag über den Himmel“. Wohin würdenSie gehen? Vielleicht gibt es da ein typischdeutsches Verhalten. Ich habe in meinerlangjährigen Beschäftigung mit der Theo-logie Ratzingers immer wieder besondersgeschätzt, dass sie direkt in das geistlicheLeben, in die Liturgie einmünden will. Fei-ern wir so die Eucharistie als Begegnungmit dem Gott, der keinen Menschen ab-schreibt, sondern uns für alle hoffen lässt.Das ist unser Gottes- und Menschendienst.Mit einem Wort Ratzingers: „Man ist nichtChrist, weil nur Christen ins Heil kommen,sondern man ist Christ, weil für die Ge-schichte die christliche Diakonie Sinn hatund von Nöten ist.“

Hoffnung für alle und alles: ImGeheimnis der Liebe Gottes ist selbst daskleine Hühnchen aus der Anfangsge-schichte aufgehoben, wenn wir auch nichtwissen, wie. Eine Kirche, gemeinsam mitdem Papst, die das verkündet und lebt,muss keiner fürchten.

Hoffnung für alle, auch für dieToten: Gerade auch für die Leidenden, die

Geschundenen, Kaputtgespielten der Ge-schichte. Gegen eine Kirche, die das ver-kündet und zu leben versucht, muss wohlkeiner demonstrieren.

*AnmerkungPredigt vom 18. September 2011 anlässlich desBesuches von Papst Benedikt XVI. in der Ka-thedrale St. Hedwig in Berlin.

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ZdK-Präsident Alois Glück: Dankfür Würdigung des Gesprächskrei-

ses „Juden und Christen“ beim Zentral-komitee der deutschen Katholiken durchPapst Benedikt XVI.

Sehr herzlich hat der Präsident des Zen-tralkomitees der deutschen Katholiken(ZdK), Alois Glück, Papst Benedikt XVI.dafür gedankt, dass er das Wirken des Gesprächskreises „Juden und Christen“beim ZdK im Rahmen seiner Begegnungmit der jüdischen Gemeinde gewürdigt hat.

„Wir freuen uns über die Würdigung deslangjährigen Engagements für Dialog, gegenseitige Wertschätzung, Verständnisund Versöhnung, das der Gesprächskreis‘Juden und Christen’ beim ZdK in den ver-gangenen 40 Jahren geleistet hat“, soGlück. „Es zeigt sich ganz deutlich: Unse-rem Heiligen Vater liegt das versöhnte Mit-einander mit dem Judentum sehr amHerzen. Dies ist ein konstantes Leitmotivseines Pontifikats in der Tradition desZweiten Vatikanischen Konzils.“

„Unsere Kirche braucht die Erfahrun-gen und Charismen der Frauen“Zum 30. Jahrestag der Erklärung der deut-schen Bischöfe „Zu Fragen der Stellungder Frau in Kirche und Gesellschaft“

„Die Erklärung der deutschen Bischöfevon 1981 ist ein wichtiger Wegweiser fürdie notwendige Weiterentwicklung unsererKirche“ erklärt der Präsident des Zentral-komitees der deutschen Katholiken (ZdK),Alois Glück, anlässlich des 30. Jahrestagesder Erklärung der deutschen Bischöfe „ZuFragen der Stellung der Frau in Kirche undGesellschaft“. Die damals für die Gesell-schaft beschriebenen Positionen und Auf-

gaben seien in beachtlichem Umfang Wirk-lichkeit geworden, für unsere Kirche geltedies nicht in vergleichbarer Weise, be-schreibt der ZDK-Präsident die Situation.

„Die Zukunft unserer Kirche wird ent-scheidend davon abhängen, wie Frauensich in die Gestaltung und Leitung unsererKirche einbringen können“, betont AloisGlück. Das Bischofswort vom 21.9.1981habe zu seiner Zeit wegweisende inhaltli-che Impulse gesetzt. „Realitätsnah undoffen stellt uns dieser Text ein Modell derPartnerschaft von Männern und Frauen inKirche und Gesellschaft vor Augen, dasauch heute noch visionäre Züge trägt“, sagtAlois Glück.

„Wir brauchen in vielen Diözesen, Organi-sationen und Laienräten weitere Anstren-gungen, um die Charismen und Kompe-tenzen von Männern und Frauen auf allenEbenen wirksam werden zu lassen“, betontder ZdK-Präsident. Im begonnenen Dia-logprozess müsse dies vorrangig auf dieAgenda gesetzt werden. Darüber hinaus seidie Frage nach der Zulassung von Frauenzum Diakonat weiterhin ungeklärt.

„Ich freue mich, dass es uns mit der Kam-pagne ‚Frauen bewegen Kirche‘ auf derHomepage und der Facebook-Seite desZdK gelungen ist, einen Beitrag zur Erin-nerung an die wichtige Erklärung der deut-schen Bischöfe zu leisten“, fügt AloisGlück hinzu. „Die individuellen Glaubens-zeugnisse vieler Frauen aus dem ZdK zei-gen die Vielfalt der Positionen und desEngagements von Frauen, ohne die unsereKirche in Deutschland nicht vorstellbarist.“

KIRCHE UND GESELLSCHAFT

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Die Brisanz der kulturellen Konflikte istgrößer als die der sozialen Konflikte!ZdK-Präsident Glück hielt einen Festvor-trag zum Abschluss der Salzburger Hoch-schulwochen„Die prägenden Konfliktmuster unsererZeit sind in unseren Gesellschaften und in-ternational zunehmend kulturelle Konflikteund nicht mehr soziale Konflikte. Das sindim Kern unterschiedliche Wertvorstellun-gen von Gegenwart und Zukunft. DieseKonfliktmuster polarisieren immer mehrdie einzelnen Gesellschaften und die inter-nationale Entwicklung.“ Diese Aussage stellte der Präsident desZentralkomitees der deutschen Katholiken(ZdK), Alois Glück, in den Mittelpunkt sei-nes Festvortrags zum Abschluss der Salz-burger Hochschulwochen am Sonntag, dem7. August 2011. „Sicher unsicher“ war dasThema der 80. Salzburger Hochschulwo-chen. Die Begegnung von Menschen unter-schiedlicher religiöser und kultureller Prä-gungen werde zunehmend zum Kon-fliktfeld, führte Glück aus. In den europä-ischen Gesellschaften sei dies insbesonderein dem Spannungsfeld Zuwanderung spür-bar. Angst vor Identitätsverlust und Über-fremdung bei gleichzeitiger Unsicherheitüber die eigenen Werte führten immer mehrzu stimmungsgebundenem und ängstlichengesellschaftlichen Klima. Das gleiche Mu-ster sei sowohl in ganz Europa als auch inder globalisierten Welt verstärkt wirksam.Gegenwärtig ist nach Glücks Überzeugungdie innere Situation in vielen Gesellschaf-ten geprägt von tiefer Verunsicherung undgleichzeitig anhaltender Verdrängung derUrsachen vieler Krisen. Der Präsident desZentralkomitees brachte seine Analyse aufden knappen Nenner: „Unsere heutige Artzu leben ist nicht zukunftsfähig, wederökologisch und ökonomisch, aber auchnicht im Hinblick auf die damit verbunde-nen menschlichen Erfahrungen.“„Die Kehrseite der Wohlstands- und

Wachstumsgesellschaften wird für dieMenschen immer mehr zur bedrückendenErfahrung“, warnte Glück. „Der hektischeLebensrhythmus, die Geschwindigkeit desWandels, das Immer-höher-schneller-wei-ter überfordert immer mehr Menschen.Dieses Leitbild ist nicht mehr Faszinationund Inbegriff von Fortschritt, sondern wirdimmer mehr als Bedrohung empfunden.“Der ZdK-Präsident sieht die Gefahr einesextremen Pendelschlages weg vom naivenFortschrittsglauben hin zu einer ebenso un-differenzierten Verweigerung notwendigerVeränderungen und Entwicklungen mit derFolge völlig irrationaler Verhaltensweisenund Entwicklungen. Daraus entstehe auchein regelrechter Härtetest für die Demokra-tie.„Die Aufgabe unserer Zeit heißt, eine zu-kunftsfähige Kultur zu entwickeln unddafür die Weichen entsprechend zu stel-len“, formulierte Glück als Schlussfolge-rung und Ziel. Für eine solche zukunfts-fähige Kultur nannte er als Grundlagen daschristliche Menschenbild mit der unantast-baren Würde des Menschen und eine neuentfaltete Kultur der Verantwortung. ImMaßstab Nachhaltigkeit sieht er die ent-scheidende Orientierung für den Weg in dieZukunft. „Die Aufgabe Nachhaltigkeit istdie zentrale Aufgabe des 21. Jahrhunderts!Die große Herausforderung ist, aus der Fas-zination und der Bequemlichkeit der Über-flussgesellschaft in eine Kultur des be-wussten Umgangs mit den Gütern zu wech-seln. Die Möglichkeiten unserer Zeit nut-zen – aber auch loslassen können unddavon nicht abhängig werden – das ist einsouveräner Lebensstil, das ist - christlichgesprochen - zeitgemäße Askese. Das istder Weg zu einer bewussten Lebensführungund damit zu einem Leben mit Tiefgangund Sinnfindung“. Ebenso bedeutsam seiaber auch, so Glück weiter, die Innovati-onskraft, also die Bereitschaft und die Fä-higkeit zur Veränderung und zur Weiter-entwicklung.

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Bundeskanzlerin beruft ZdK-Präsiden-ten Alois Glück in den „Rat für Nach-haltige Entwicklung“Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hatden Präsidenten des Zentralkomitees derdeutschen Katholiken (ZdK), Alois Glück,in den „Rat für Nachhaltige Entwicklung“berufen. Glück nimmt diesen Platz in derNachfolge des Essener Bischofs Dr. Franz-Josef Overbeck ein. Der ZdK-Präsidentdankte für die Berufung und bekräftigteseine feste Überzeugung: „Nachhaltigkeitheißt vor allem, über die momentane Nütz-lichkeit hinaus langfristig zu denken undentsprechend Zukunftsverantwortung zuübernehmen“. Dies betreffe die Politik wiealle Bürgerinnen und Bürger.

Der von der Bundesregierung im Jahr 2001eingerichtete „Rat für Nachhaltige Ent-wicklung“ berät die Bundesregierung beider Weiterentwicklung der Nachhaltig-keitsstrategie und schlägt Projekte zur Um-setzung der Strategie vor. Eine weitereAufgabe des Rates ist die Förderung desgesellschaftlichen Dialogs zur Nachhaltig-keit. Ihm gehören 15 Personen des öffent-lichen Lebens an.(Mehr Informationen unter: www.nachhal-tigkeitsrat.de)

ZdK-Präsident Glück begrüßt wissen-schaftliche Forschungsprojekte zur Auf-arbeitung sexuellen MissbrauchsDer Präsident des Zentralkomitees derdeutschen Katholiken (ZdK), Alois Glückbegrüßt, dass die Deutsche Bischofskonfe-renz den Auftrag zu zwei wissenschaftli-chen Forschungsprojekten zu den Fällensexuellen Missbrauchs erteilt hat. „Dies ist ein erneuter Ausdruck des ein-deutigen Willens der deutschen Bischöfezur entschiedenen Aufklärung der Miss-brauchsproblematik in der katholischenKirche sowie zu ihren Wurzeln und zueiner wirksamen Prävention.“

Es sei zu hoffen, so der ZdK-Präsident,dass auch eventuelle tiefer liegende Gründefür die Missbräuche ans Tageslicht kom-men würden, damit auch hieraus die not-wendigen Schlussfolgerungen gezogenwerden könnten. Die Beauftragung unab-hängiger Institutionen zeige, dass die ka-tholische Kirche entschlossen und über-zeugend alles tue, um den Opfern gerechtzu werden und um künftige Missbrauchs-fälle möglichst zu vermeiden.

ZdK-Präsident Glück: PID-Entschei-dung ist Bruch mit einem bewährten ge-sellschaftlichen KonsensMit großer Enttäuschung hat das Zentral-komitee der deutschen Katholiken (ZdK)den Beschluss einer begrenzten Zulassungder Präimplantationsdiagnostik durch denDeutschen Bundestag aufgenommen. ZdK-Präsident Alois Glück sieht in der Legiti-mation der Embryonenauslese einen Bruchmit einem viele Jahre währenden gesell-schaftlichen Konsens. Zwar werde damitargumentiert, dass mit der nun beschlosse-nen Regelung für eine überschaubare An-zahl betroffener Paare und Familien dieAussicht auf die Verbesserung einer beson-ders schwierigen Lebenssituation bestehe.Doch es sei absehbar, dass die Gesellschaftdafür einen hohen Preis zahlen werde. DieErklärung des ZdK-Präsidenten im Wort-laut:„Mit der heutigen Entscheidung hat derDeutsche Bundestag einen viele Jahre wäh-renden gesellschaftlichen Konsens gebro-chen. Bei der Reform des Schwanger-schaftskonfliktgesetzes 1995 wurde be-wusst eine embryopathische Indikation füreinen straffreien Schwangerschaftsabbruchausgeschlossen. Nun wird im Fall derkünstlichen Befruchtung in einigen, mög-licherweise bald in zahlreichen Fällen er-laubt, Embryonen allein auf der Grundlageihrer genetischen Eigenschaften zu töten.Dies bedeutet eine dramatische Diskrimi-

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nierung insbesondere behinderten mensch-lichen Lebens. Es ist damit zu rechnen,dass der Legitimation der Embryonenaus-lese weitere Versuche zur Aushöhlung desGleichbehandlungsrechts aller Menschenfolgen werden.Ich halte den heute eingeschlagenen Wegfür falsch und gefährlich. Zwar wird damitargumentiert, dass mit der nun beschlosse-nen Regelung für eine überschaubare An-zahl betroffener Paare und Familien dieAussicht auf die Verbesserung einer beson-ders schwierigen Lebenssituation besteht.Doch die Gesellschaft wird dafür absehbareinen hohen Preis zahlen müssen. Es gilt nun, unter den gegebenen Umstän-den weiter für die Würde und das Rechtjedes Menschenlebens einzustehen. Einebesondere Herausforderung für unsere Ge-sellschaft liegt dabei in der Entlastung undUnterstützung von Menschen mit Behinde-rung und ihrer Familien. Es bleibt unserePflicht, ihnen ein Leben in Würde und mit-ten in unserer Gesellschaft zu ermöglichen.Ich danke allen, die sich auf den unter-schiedlichen Ebenen – im Bundestag, inden Parteien, im Deutschen Ethikrat, in katholischen Verbänden und Diözesanrätenoder im persönlichen Kontakt mit Abge-ordneten im Wahlkreis – für ein Verbot derPID eingesetzt haben. Auch wenn wir unserZiel nicht erreicht haben, war das Engage-ment doch als kraftvolles Zeugnis christli-cher Weltverantwortung in einer Zeit desgesellschaftlichen Gegenwindes nicht ver-gebens.“

ZdK-Präsident Glück gegen ärztlicheUnterstützung beim Freitod Für ein ausdrückliches Verbot der ärzt-lichen Beihilfe zur Selbsttötung spricht sichder Präsident des Zentralkomitees der deut-schen Katholiken (ZdK), Alois Glück, aus.Anlässlich des bevorstehenden DeutschenÄrztetags begrüßt er die entsprechendePassage in der Neufassung der Berufsord-

nung der Ärzte, die der Vorstand der Bun-desärztekammer dort als Antrag einbringt.„Ich danke der Bundesärztekammer fürdieses deutliche Signal, nachdem in denMonaten zuvor denkbar erschien, dass dasärztliche Standesrecht in der Frage des as-sistierten Suizids gelockert würde. Nunwird im Antrag an den Deutschen Ärztetagklar zum Ausdruck gebracht, dass Ärztekeine Hilfe zur Selbsttötung leisten dür-fen“, unterstreicht Glück. Denn die Gefahrsei unabweislich, dass ohne eine solcheKlarstellung der assistierte Suizid ange-sichts eines Mangels an palliativmedizini-scher Versorgung als ärztliche Leistungbehandelt werden könnte. „Es muss unshingegen um den konsequenten Ausbau derpalliativmedizinischen Versorgung gehen.Diesen Anspruch müssen wir gerade inDeutschland aufrecht erhalten, wo dieWürde des Menschen am Beginn und Endeseines Lebens intensiver als in den meistenanderen Ländern diskutiert wird“, fordertder ZdK-Präsident. „Ich hoffe, der Deut-sche Ärztetag bestätigt diesen Kurs, der dieAngst vieler Menschen vor schlimmemLeiden am Lebensende ernst nimmt undaufgreift, aber nicht vor der herausfordern-den Situation kapituliert“.

ZdK-Präsident Alois Glück benennt Po-sitionen und Themen zum Dialogprozessin der katholischen KircheVor der Vollversammlung des Zentralko-mitees der deutschen Katholiken (ZdK) amFreitag, dem 13. Mai 2011, in Erfurt hat derPräsident Alois Glück Positionen und The-men skizziert, mit denen das ZdK den Dia-logprozess in der katholischen Kirche inDeutschland mitgestalten will.Ziel des Prozesses müsse es sein verlore-nes Vertrauen wieder zurückzugewinnen,so Glück in seinem Bericht zur Lage. Daswerde aber nur möglich, wenn besondersdie Erfahrung und die Perspektive der Ent-täuschten ernstgenommen würden. Mit

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Selbstgerechtigkeit könne kein Vertrauenzurückgewonnen werden. „Voraussetzungfür Vertrauen ist auch Transparenz, Nach-vollziehbarkeit von Entscheidungen undder richtige Umgang mit Macht undMachtausübung“, so der ZdK-Präsident.Darum brauche die Kirche wirklich denDialog, nicht nur Gespräche. Dialog seieine Haltung, zu der zuhören, ernst neh-men, Bereitschaft zur Veränderung gehöre.Glück wörtlich: “Wir werden nicht nach-lassen, echten Dialog einzufordern.“ Dieweitere Entwicklung werde entscheidenddavon abhängen, dass eine kultivierte, kon-struktive Debattenkultur auf der Basis desgegenseitigen Respekts gepflegt werde.Wenn dem kritischen, dem unbequemenPartner im Dialog die Verankerung imGlauben und in der Kirche abgesprochenwerde, sei ein fruchtbarer Austausch nichtmöglich.

Glück betonte, dass die Vertiefung desGlaubens und die Reform von Strukturenkeinen Gegensatz darstellten. Zwar löstenStrukturveränderungen nicht automatischdie Probleme der Kirche, aber die Kirchewerde mit ihren Strukturen erlebt und sielebe in diesen Strukturen. Die Menschenvon heute müssten sich in diesen Struktu-ren wiederfinden können. Grundlage desGesprächsprozesses müsste die Ergebnissedes Zweiten Vatikanischen Konzils sein.Wichtig sei, dass die Kirche und ihre Ge-meinschaften und Strukturen nicht Selbst-zweck seien. Es gelte sich immer wiederauf die Kernaufgabe zu besinnen: die Bot-schaft des Evangeliums den Menschen inihrer jeweiligen Lebenssituation, in der je-weiligen Zeit zugänglich zu machen. Die-ser Aufgabe müsse alles zu- und unter-geordnet werden.Im Weiteren benannte Alois Glück exem-plarisch einige Themenbereiche, die dasZdK unter anderem nach seiner Überzeu-gung in den Dialogprozess einbringensollte. Wörtlich führte er aus:

„Wir müssen mit aller Macht LebendigeGemeinden erhalten. Wir dürfen sie nichtrein versorgungsstrategischen Überlegun-gen opfern. Kirche muss vor Ort erfahrbarsein und als Volk Gottes zusammenkom-men. Wir müssen in unserer Kirche Frauen mehrVerantwortung geben. … Die Charismenvon Frauen kommen nach wie vor in unse-rer Kirche nicht ausreichend vor. Wir brauchen Fortschritte in der Ökumene,auch dies steht heute auf der Tagesordnung.Wir müssen darüber reden, wie wir dieSprach- und Handlungsunfähigkeit in Fra-gen der kirchlichen Sexualmoral überwin-den. Menschen brauchen Rat, Hilfe undOrientierung, wie sie ihre Sexualität ver-antwortlich, menschenwürdig in gelingen-den Partnerschaften leben können. …Wir wollen, dass die Laien in ihrer Stellungals mündige Christen ernst genommen wer-den, und zwar erst genommen werden inihrer Kirche. Viele Katholikinnen und Ka-tholiken finden sich in einem tiefgreifen-den Identitätskonflikt wieder. In beruf-lichen, gesellschaftlichen und privaten Zu-sammenhängen wird von ihnen Mündig-keit, Eigenständigkeit und Selbstverant-wortung erwartet, im Raum der Kirche abererfahren sie sich gleichzeitig als Objekteiner Leitung und Belehrung, auf die siekeinerlei Einfluss haben und die zu oft nursehr zögerlich zu Gesprächen bereit ist. Das sind einige Fragen, denen wir uns alsZdK stellen werden, ob gelegen oder unge-legen. Dass wir uns mit ihnen auseinander-setzen, gehört zum Kernbestand unsererinnerkirchlichen Identität und zu unsererAufgabe, denkenden und fragenden Men-schen in dieser Kirche eine Heimat zugeben. Ich halte es dabei aber für besonderswichtig, und hier appelliere ich an Sie alle,dass wir uns als ZdK nicht nur mit inner-kirchlichen Themen beschäftigen, sondernauch mit den politischen Fragen unsererZeit, mit allem, was uns als Kirche und alsChristen gesellschaftlich herausfordert –

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auch übrigens im Dialog mit der Bischofs-konferenz. Es geht um unser Zeugnis in derWelt und mitten unter den Menschen!Diesen verschiedenen und wichtigen Be-mühungen muss der Dialogprozess dienen.Er ist eine Chance. Es ist ein Kairos! Las-sen Sie uns dazu unseren Beitrag leisten,Schritt für Schritt. Mit Mut und Gelassen-heit.”

ZdK-Präsident Glück zur Diskussionum EnergiewendeFür einen möglichst raschen Ausstieg ausder Kernenergie hat sich der Präsident desZentralkomitees der deutschen Katholiken(ZdK), Alois Glück, ausgesprochen. Vor-aussetzung dafür, dass dies gelingen könne,sei eine ehrliche und offene Diskussionüber die Risiken und Chancen aller Ener-giealternativen und Handlungsoptionen,betonte Glück am Freitag, dem 13. Mai2011 in seinem Bericht zur Lage vor derZdK-Vollversammlung in Erfurt.Um zu dem notwendigen gesellschaftli-chen Konsens zu kommen, sei eine Güter-abwägung zwischen verschiedenen Alter-nativen sowie Chancen und Risiken not-wendig, die sich klar der Risikominimie-rung als Bewertungsmaßstab verpflichtetwisse, so Glück.Anders als nach der Katastrophe vonTschernobyl im Jahr 1986 stünde heute einbeachtliches und weiter ausbaubares Po-tential von umweltverträglichen und rege-nerativen Energien zur Verfügung, derenEinsatz mit wesentlich weniger Risikenund denkbaren Schadensauswirkungen ver-bunden sei als der Einsatz fossiler Brenn-stoffe. „Wir müssen alles dafür tun, denAusbau der regenerativen Energien auszu-weiten. Das ist ein konkreter Einsatz zurBewahrung der Schöpfung“, so der ZdK-Präsident wörtlich.Gleichzeitig mahnte er, bei der ethischenBewertung auch die wirtschaftlichen undsozialen Auswirkungen eines solchen Um-

stellungsprozesses zu berücksichtigen. Erkönne Folgen habe für die Leistungs- undWettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft unddamit verbunden für den Arbeitsmarkt, fürdie Sozialverträglichkeit der Energiepreiseund für das Landschaftsbild in Deutsch-land.Ausdrücklich forderte der Präsident desZdK einen glaubwürdigen und einheitli-chen „Stresstest“ für alle Kernkraftwerkein der EU. „Ein Schadensfall in Europatrifft uns alle und hätte unvorstellbare Aus-wirkungen! Es ist geradezu absurd, wenndurch EU-Richtlinien Details z.B. der Si-cherheitsvorschrift für Haushaltsgeräte vonNaturschutzgebieten und Wasserschutzge-bieten festgelegt werden, wenn Europaaber in dieser fundamentalen Frage, in derwir in Europa eine Schicksalsgemeinschaftsind, zu einer gemeinsamen entsprechendstrengen Regelung nicht in der Lage ist“.Bei der Gestaltung des Umbauprozessesmuss nach Auffassung von Glück die Si-cherheit für das Gelingen Vorrang gegen-über der Geschwindigkeit des Prozesseshaben: „Auch wenn es für die politischenParteien und gesellschaftlichen Gruppenreizvoll sein mag, sich hier gegenseitig mitihren Laufzeitvorschlägen zu unterbieten“.Abschließend erinnerte der Präsident desZdK daran, dass gerade die Diskussion umdie Energiewende auch eine Diskussionüber die Zukunft der Gesellschaft, über denLebensstil, die Verantwortung für die nach-kommenden Generationen und nicht zu-letzt für die Weltgemeinschaft ist. „In derGestaltung der Energiewende wird sichentscheiden, ob wir endlich ernst machenmit den Themen Zukunftsverantwortungund Nachhaltigkeit und ob wir als Gesell-schaft zu einem langfristig ausgerichtetenKurswechsel in der Lage sind“.

Dr. Bernhard Hillen ist in seiner Eigen-schaft als Vizepräsident des KAVD Mitgliedim ZdK und berichtet regelmäßig über dieArbeit des ZdK in der Renovatio.

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Unter der Herrschaft der Perser. Israel erfindet sich neu

Der Gott Israels hat denpersischen König erwählt!Wer hätte gedacht, dassdas in der Bibel steht – be-sonders da sich heute dieStaaten Israel und Iran po-litisch wie religiös feind-

lich gegenüber stehen. Doch tatsächlichwurden in den 200 Jahren des persischenWeltreichs – 539 bis 333 v. Chr. – für dieBibel und das Judentum entscheidendeWeichen gestellt. Der Perserkönig Kyruserlaubte den exilierten Judäern, in ihre Hei-mat und in die zerstörte Stadt Jerusalem zu-rückzukehren und wird dafür vom Prophe-ten Deuterojesaja als von Gott gerufenerMessias gefeiert. In dieser Situation be-ginnt die jüdische Glaubensgemeinschaftüber Gott und die Schriften der Tora zu dis-kutieren – und es zeigen sich ganz unter-schiedliche Meinungen, etwa ob Ehen mitausländischen Frauen erlaubt oder striktverboten sind. Unter dem Einfluss der reli-gionspolitisch toleranten Perserkönige ent-steht so ein beachtlicher Teil des AltenTestaments.

Diese Ausgabe von „Welt und Umwelt derBibel“ untersucht, wie und wo sich das per-sische Erbe in den biblischen Schriften nie-dergeschlagen hat. Findet es sich etwa inder Vorstellung des einen Schöpfers oder inBildern von Engeln und Dämonen? DasHeft zeigt in besonderer Weise, wie dieBibel aus dem altorientalischen Kontextbesser zu verstehen ist.

Bedeutende Orte der Bibel.Jubiläumsausgabe 15 Jahre WUB.

Mose am Gottesberg, dieArche Noah am Ararat,Jesu Geburt in Betlehem… die Verfasser der bibli-schen Texte verankern dieErzählungen bewusst ankonkreten Orten. Es ist

nicht beliebig, wo bestimmte Erzählungenspielen: in Städten, Dörfern, an Brunnen,auf Bergen, an Flüssen, Seen, in Wüsten,auf Pfaden oder Straßen. Manche Orte er-halten geradezu eine eigene theologischeAussage, wie Babylon, Betlehem, Jerusa-lem, Sodom oder Megiddo. Sie werdenzum Symbol für die bedrohliche Groß-macht, den kommenden Messias, das ReichGottes, das Böse schlechthin oder für Harmageddon, den Ort der endzeitlichenSchlacht.

Die Spuren dieser Orte zu suchen und zuerforschen ist ein spannendes Unterfangen– sowohl archäologisch als auch exege-tisch. Seit 15 Jahren informiert die Zeit-schrift „Welt und Umwelt der Bibel“vierteljährlich über Archäologie, Kunst,(Religions-)Geschichte und Theologie rundum die Bibel. Die Jubiläumsausgabe stelltbesonders faszinierende Orte der Bibel vor,vom Berg Ararat bis zum Sinai, vom TotenMeer bis zum See Gennesaret und von Je-rusalem bis Ephesus.

Barbara Leicht

66 RENOVATIO 3/4 - 2011

BÜCHER UND ZEITSCHRIFTEN

Einzelheft € 9,80; 4 Ausgaben im Jahr € 36,- (Abo) Erhältlich bei:Katholisches Bibelwerk e.V., Postfach 150365, 70076 Stuttgart; Telefon: 0711/61920-50,

Fax: 0711/61920-77; [email protected], www.weltundumweltderbibel.de

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KAVD - EigenverlagPostfach 20 01 31, 45757 Marl

Publikumspreis der Salzburger Hochschulwochenfür junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

Im Rahmen der Salzburger Hochschulwochen2012 schreibt das Direktorium der SHW zumsiebten Mal einen Publikumspreis für wissen-schaftliche Kommunikation aus. GraduierteWissenschaftlerInnen aller Fachrichtungen derJahrgänge 1977 und jünger werden herzlich ein-geladen, sich zu bewerben.

Verantworten bildet den Imperativ jeder Zeit. Indas 21. Jahrhundert führt er mit eigener Brisanzein. Er leitet in den arabischen Ländern den Pro-test gegen die Herrschenden an und bringt dieprotestierenden Jugendlichen in Spanien auf dieStraße. Er übt Druck auf Entscheider-Eliten aus,die unter dem Verdacht stehen, sich auf Kostender Allgemeinheit zu bereichern. Die Forderungnach Verantwortung gegenüber der Zukunft kon-frontiert mit den Schulden, die wir gemachthaben – den ökologischen wie den wirtschaftli-chen. Die Salzburger Hochschulwoche 2012setzt hier an. Sie greift den Imperativ verantwor-ten als Motiv unterschiedlicher Ortsbestimmun-gen auf. Wo stehen wir – als Christinnen undBürger? Welche Verantwortungsräume tun sichauf – kirchlich, gesellschaftlich? Welche Pro-blemszenarien belasten unsere Zukunftserwar-tungen – und welches religiöse und wissen-schaftliche Kapital können wir einsetzen, sie zubestehen?

Erbeten werden Texte im Umfang eines 25-minütigen Vortrags zum Thema der SalzburgerHochschulwoche vom 6. bis 12. August 2012:„verantworten“. Vortragssprache ist Deutsch.Die Jury, bestehend aus Univ.-Prof. P. MMag. Dr. Emmanuel Bauer, Andreas Geffert, Dipl.-Theol. Andreas Hölscher, Dr. Martin Rötting undProf. Dr. Andreas-Michael Weiß, wählt drei Bei-träge aus. Das Publikum der Salzburger Hoch-schulwochen wird die PreisträgerInnen am 9. August 2012 bestimmen. Kriterien sind fach-wissenschaftliche Qualität, inhaltliche Originali-tät sowie die kommunikative Transferleistung.Der Preis zielt in besonderem Maße auf die Ver-mittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse an einbreiteres Publikum.

Die Preise werden vom Katholischen Akademi-kerverband Deutschlands gestiftet.

1. Preis € 1.000,— 2. Preis € 500,— 3. Preis € 300,—

Reisekosten und Unterkunft eines Vortragendenübernimmt das Direktorium der SalzburgerHochschulwochen (Kosten für Bahnfahrten 2.Klasse bis zu einer Gesamthöhe für Hin- undRückfahrt von maximal 300 Euro).

Zugelassen sind ausschließlich Bewerbungeneiner Einzelperson. Nicht berücksichtigt werdenBeiträge, deren VerfasserInnen ein wissenschaft-liches Naheverhältnis zu einem Mitglied der Juryhaben (z.B. laufende Begleitung einer Disserta-tion oder Habilitation). Mit dem Publikumspreisist der Abdruck des Vortrags im Tagungsbandverbunden.

Die Manuskripte müssen bis zum 1. Mai 2012(Poststempel) eingereicht werden. Um eine un-abhängige Jury-Entscheidung zu gewährleisten,muss die Zusendung zwei Umschläge enthalten,die jeweils mit einem identischen Passwort zuversehen sind. Kuvert A enthält alle relevantenAngaben zur Person sowie einen Text-Datenträ-ger, Kuvert B den anonymen Redetext.

Bis zum 1. Juli 2012 werden alle EinsenderInnenbenachrichtigt. Die Manuskripte und Unterlagenkönnen nicht zurückgesendet werden.Weitere Informationen bezüglich des Themasund der Preis-Modalitäten erteilt das Sekretariatder Salzburger Hochschulwochen.

Die Zusendungen sind zu richten an:Salzburger Hochschulwochen„Publikumspreis“Mönchsberg 2AA-5020 Salzburg


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