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Carsten Gansei: Leben im Ontotext oder K¼nstlerische

Date post: 04-Feb-2022
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Die Herzheizkärper der Versweltverwaltung Das schwarze Tintenflussschicksal Von Buchweltschäpferlist und -liebe Die grässte und schwerste Aufgabe für Dichter Wortfleischloses Leseliebeslebensglück Der Krimi im Leben und im Lesen Lies dich selbst! Auf den Zeilen aus Lese-Sterbestoff Das Gästebuch in den Buchweltbezirken Der verklagte Werkautor Eine wirksame Todesverhütung Kahnfahrt mit Leser Gerontologisches über Buchpersonen Gedichtweltwetterwechsel Die Gedichtweltgazellenbetrachtung Die Verfasser von Verfassern Gute Veränderung in einem leeren Zeilenzukunftsraum Der beste Einfall der Buchweltverwaltung Vor einer verschlossenen Zeilenwohnungstür Gegen "Es war einmal. .. " Häuser mit künstlichem Erdbeben Ernte in einer Verswirklichkeit Vom Leben, Laufen und Lesen Heilung eines Liebeskummers Die zwei Pässe Gefahr für eine alte, kostbare Sinnpfütze Der Roman aus nur einem Satz und nur einem Bild auf jeder Seite Ein ausgezeichnetes Liebesbriefpapier Reiner Zeilentisch Der Leser im Tempelwort Sorgen um eine Wasserkunst Zum Problem der Entwurfsweite in Gedichtweltbezirken Poetik und Philosophie Die Homerische Sujetwelt in Goethes "Faust" Der Sujetweltbegriff und seine Voraussetzungen bei Goethe Von der Bedeutung der allgemeinen Sujetzeit für den Entwurf der Anfangsabschnitte des Sujetfeldes in deutschen Märchen Über die ontotextologische Matrize in literarischen Textstrukturen 112 113 114 114 115 116 117 118 120 122 123 124 124 125 Carsten Gansei: 126 Leben im Ontotext oder Künstlerische Rebellion 127 128 gegen das Sch icksal 131 135 137 Der Beginn von Giwi Margwelaschwilis Roman "Die große Korrek- 137 tur" führt direkt hinein in das Zentrum einer faszinierenden Poetik. 138 Da ist ein Trupp von zwölf schwer bewaffneten "Real personen" 138 unterwegs nach Bethlehem, um einen möglichen Kampf gegen 139 140 "Buchpersonen" zu führen. Von diesen "Buchpersonen" ist gewiß, 140 daß sie solange unbesiegbar bleiben, wie sie sich im Rahmen der 141 vorgeschriebenen Geschichte bewegen. Die "historische Gesamt- 141 situation", in der die zwölf Freiwilligen eingesetzt werden, wird 142 143 vom Führer der Gruppe auch als "der Text" bezeichnet. In "ihrem" 143 Text also können die Buchpersonen sich frei bewegen und sind wie 144 die mythische FigurdesAntäus unsterblich. DieeinzigeChance, sie wenigstens auf eine gleichberechtigte Ebene mit den "eintreten- 147 den" sterblichen "Realpersonen" zu stellen, besteht darin, ihnen 169 "den Boden unter den Füßen" durch Veränderungen im "Text" zu entziehen. 180 Es geht in Giwi Margwelaschwilis Roman also letztlich um eine 209 :;11\, "Text-Korrektur". Wie hoch dieser gesetzte Anspruch ist, wird in 5
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Die Herzheizkärper der Versweltverwaltung Das schwarze Tintenflussschicksal Von Buchweltschäpferlist und -liebe Die grässte und schwerste Aufgabe für Dichter Wortfleischloses Leseliebeslebensglück Der Krimi im Leben und im Lesen Lies dich selbst! Auf den Zeilen aus Lese-Sterbestoff Das Gästebuch in den Buchweltbezirken Der verklagte Werkautor Eine wirksame Todesverhütung Kahnfahrt mit Leser Gerontologisches über Buchpersonen Gedichtweltwetterwechsel Die Gedichtweltgazellenbetrachtung Die Verfasser von Verfassern Gute Veränderung in einem leeren Zeilenzukunftsraum Der beste Einfall der Buchweltverwaltung Vor einer verschlossenen Zeilenwohnungstür Gegen "Es war einmal. .." Häuser mit künstlichem Erdbeben Ernte in einer Verswirklichkeit Vom Leben, Laufen und Lesen Heilung eines Liebeskummers Die zwei Pässe Gefahr für eine alte, kostbare Sinnpfütze Der Roman aus nur einem Satz und nur einem Bild auf jeder Seite Ein ausgezeichnetes Liebesbriefpapier Reiner Zeilentisch Der Leser im Tempelwort Sorgen um eine Wasserkunst Zum Problem der Entwurfsweite in Gedichtweltbezirken

Poetik und Philosophie Die Homerische Sujetwelt in Goethes "Faust" Der Sujetweltbegriff und seine Voraussetzungen bei Goethe Von der Bedeutung der allgemeinen Sujetzeit für den Entwurf der Anfangsabschnitte des Sujetfeldes in deutschen Märchen Über die ontotextologische Matrize in literarischen Textstrukturen

112� 113� 114� 114� 115� 116� 117� 118� 120� 122� 123� 124� 124� 125 Carsten Gansei:� 126 Leben im Ontotext oder Künstlerische Rebellion� 127� 128 gegen das Sch icksal 131� 135� 137 Der Beginn von Giwi Margwelaschwilis Roman "Die große Korrek­�137� tur" führt direkt hinein in das Zentrum einer faszinierenden Poetik. 138 Da ist ein Trupp von zwölf schwer bewaffneten "Real personen" 138�

unterwegs nach Bethlehem, um einen möglichen Kampf gegen�139� 140 "Buchpersonen" zu führen. Von diesen "Buchpersonen" ist gewiß,� 140 daß sie solange unbesiegbar bleiben, wie sie sich im Rahmen der� 141 vorgeschriebenen Geschichte bewegen. Die "historische Gesamt­�141�

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Es geht in Giwi Margwelaschwilis Roman also letztlich um eine 209� :;11\, "Text-Korrektur". Wie hoch dieser gesetzte Anspruch ist, wird in

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dem Augenblick offenbar, da sich enthüllt, in welchen "Text" die Freiwilligen einzugreifen gedenken: Es ist das "Buch der Bücher", die Bibel. Störend und eben darum korrekturbedürftig an diesem großen Text erscheint, daß über zweitausend Jahre eine Reihe von ebenso blutigen wie unwürdigen Ereignissen so oft wiedererstehen wie "Realköpfe" (Leser) zum "Buch der Bücher" greifen. Die Kreuzigung Christi bildetdabei nur einen tödlichen Endpunkt. Sieht man die heilige Schrift als "Buchbezirk" an, dann entbehrt es nicht einer gewissen Logik, dem "Text" die Leiden Christi anzulasten und den Buchbezirk gewissermaßen als "Leidensgefängnis" zu wich­ten.

Was wäre, wenn Christus in einen anderen Buchbezirk versetzt würde? Könnte es funktionieren, bestimmte textuelle Besonderhei­ten, die grausiger Natur sind, zu tilgen? Wäre nicht als Endergebnis sogar die bis in alle Ewigkeit vorprogrammierte Kreuzigung Christi zu verhindern? Genauso denken Giwi Margwelaschwilis "Realper­sonen". "Es ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit", wird argumentiert, "daß unser Heiland in dem Buchbezirk ... bis auf den heutigen Tag unausgesetzt gepeinigt wird, wo doch all die Leiden, welche er dereinst in dem entsprechenden Realbezirk auf sich nahm, zu unser aller Erlösung schon vollauf genügt hätten."

Diese Art der "ewigen Wiederkehr des Immergleichen" (Fried­rich Nietzsche) erscheint in der Tat unverantwortlich. Es geht nunmehr darum, "einige ziemliche blutige Unebenheiten dieser Geschichte auszuglätten". Gelänge es nämlich, das Zusammen­spiel der Elemente der Darstellungsebene zu verändern, könnte es zur Korrekturvon bestimmten "Ereignissen" kommen. Dabei ist den "Korrektoren" klar, daß die "operativen Eingriffe" in die Geschichte nicht so weit gehen können, ihren "grundsätzlichen Kurs (die Hauptbetätigungen und -sachen ihrer Buchpersonen)" zu verän­dern und damit "etwas Andersartiges in den Stoff hineinzubringen". Der Text um Bethlehem soll nur in dem Maße variiert werden, wie

gesichert bleibt, daß damit der "Sinn der Gesamtgeschichte" nicht zu Schaden kommt. Es ist zwar erstrebenswert, den Heiland Chri­stus endlich von seinem immer wieder in "Realköpfen" (Lesern) rekonstruierten Schicksal zu erlösen, aber eben (noch) nicht reali­sierbar. Was dagegen möglich erscheint, ist ein ganz am Beginn der Geschichte liegendes grausiges Vorkommnis aus dem Text fallen zu lassen: Im Matthäus-Evangelium werden nach Erhalt der Nach­richt von der Geburt des Heiland auf Befehl des Herodes alle Knaben bis zu zwei Jahren von ausgesandten Schergen getötet. Diesen ,,'antithematischen Auswuchs'" auf der Darstellungsebene zu tilgen, zieht das Kommando aus. Ein solches Unternehmen hat exakte logistische Überlegungen zurVoraussetzung. Denkbarwäre auch gewesen, die drei Weisen aus dem Morgenland mit der Nachricht von der Geburt Christi abzufangen, ehe sie am Hof des Herodes eintreffen. Aber dieser Plan findet seine Grenze - im "Text". Als absolute Nebenpersonen bleiben die Weisen unbe­stimmt: "Denn erstens war der genaue Termin ihres Erscheinens im Bezirk immer unsicher: bis auf den genauen Bezirkstag und die Bezirksstunde niemals zu bestimmen. In der ganzen Geschichte gab es keinen einzigen Anhaltspunkt darüber. Zweitens war die konkrete Stelle, von wo diese Weisen in den Buchbezirk eintrafen, ebenso unbestimmt, d. h. in der Geschichte gar nicht näher fixiert. Ja, selbst die Nationalität der Weisen war nicht belegt, so daß man nicht einmal wissen konnte aus welcher geographischen Richtung sie in dem Buchbezirk erwartet werden mußten. Nach den Quellen sind die Weisen nur als Weise vom Morgenland bezeichnet. Aber der Morgenländer gibt es viele, und mit diesem Begriff allein ist noch keine Klarheit gegeben."

Allein um rauszubekommen, wer die Weisen sind oder wann sie eintreffen, wäre der gesamte "biblische Buchbezirk" mit einem Heer von beobachtenden "Realpersonen" zu besetzen gewesen. Darum erklärt sich, daß die Korrektur einen anderen - wenn auch

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militanteren - Weg zu gehen beschlossen hat: Die Schergen des Herodes sind abzufangen und zu besiegen ...

Bücher im Buch oder Literatur über Literatur

Der reale "Realleser" erkennt, wo eine Quelle für Giwi Margwe­laschwilis Romanwelten liegt: es ist das Arsenal der Weltliteratur. Der Autor nutzt dabei für sein Erzählkonzept eine lange Tradition von Texten, nämlich solchen, in denen Bücher über Bücher ge­schrieben werden.

Die Kette möglicher Bezugspunkte reicht damit weit zurück. Schon die "Aeneas" des Vergil spielt auf die ",lias" und die "Odyssee" des Homer an. Dante wiederum bezieht sich auf Vergil. Der "Don Quichote" des Cervantes ist Leser eben jener Ritterroma­ne, die zu parodieren der Erzähler sich vorgenommen hat. Der junge Werthervon Goethe liest Klopstock und Homer und kurz vor (seinem Tod Lessings "Emilia Galotti". Die Beispiele ließen sich fortsetzen, und sie bestätigen-wie Ralph-RainerWuthenow gezeigt hat - ganz verschiedene Varianten von Büchern im Buch: Die {Reflexion über andere Bücher durch fiktive Helden, fingierte Lek­

'~ türe mit ironischer Absicht, Wirkung des Gelesenen als dramati­sche Vergegenwärtigung. Bei letzterem handelt es sich wie in Bildern von Manet, Watteau, C. D. Friedrich oder Vermeeer van Delft um das wirkliche Motiv vom "Buch im Buch". Es ist dies die wohl bekannteste wie faszinierendste Erscheinungsform der Ver­dopplung des Gelesenen, und sie sieht zumeist so aus, daß der Held ein Buch findet, in dem ihm seine eigene Geschichte vor Augen steht. Was zuvor geschrieben worden sein muß, erfährt nun eine Realisierung. Der Held erfährt gewissermaßen sein vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges Schicksal-beim Lesen ... Das Leben erscheint so als ein Text, den es zu entziffern gilt.

Novalis hatte in dieser Hinsicht im "Heinrich von Ofterdingen" mit dem Motiv des "Buches im Buch" gespielt: Sein Protagonist Heinrich bekommt bei einem Einsiedler die Gelegenheit, in ge­heimnisvollen Büchern zu kramen, und er macht dabei eine Entdeckung: ,,Er blätterte mitunendlicher Lust umher. Endlich fiel ihm ein Buch in die Hände... Es hatte keinen Titel, doch fand er noch beim Suchen einige Bilder. Sie dünkten ihm ganz wunderbar bekannt, und wie er recht zusah, entdeckte er seine eigene Gestalt ziemlich kenntlich unterden Figuren... Er traute kaum seinen Sinnen, alser bald auf seinem Bilde die Höhle, den Einsiedler und den Alten neben sich entdeckte..." Der weitere Lebensweg Heinrichs stellt sich dann im wesentlichen auch als eine Erfüllung dessen dar, was in dem ge­heimnisvollen Buch in verschlüsselter Form zu erkennen war.

Spätestens seit der Frühromantik hat diese Art der Reflexion über Literatur für die Autoren eine erhöhte Bedeutung. Das hängt auch damit zusammen, daß ein Schreiben auf naive Weise nicht mehr möglich erscheint, denn heimlich schreibt die Vergangenheit mit­Literatur spiegelt sich in literatur. Genau das ist ein Prinzip, das Michael Ende zu einem Angelpunkt seiner "Unendlichen Ge­schichte" gemacht hat. Der Erfolg, den dieser Text bei Kindern und Erwachsenen hatte, liegt nicht zuletzt in dem phantastischen Kunst­griff begründet, seinen Bastian vom Leser zum Akteur zu machen. Bastian, der es zunächst für unmöglich hält, daß in einem gedruck­ten Buch etwas vorkommt, "was nur in diesem Augenblick und nur für ihn zutraf", wird langsam zu der Stelle geführt, wo er entdeckt: "Was da erzählt wurde, war seine eigene Geschichte! Und die war in der Unendlichen Geschichte. Er, Bastian, kam in dem Buch vor, für dessen Leser er sich bis jetzt gehalten hatte!"

Arno Schmidt ("Zettels Traum") oder Elias Canetti ("Die Blen­dung") bezeugen die Affinität zum Motiv des "Buches im Buch" ebenso wie Anna Seghers "Reisebegegnung", Ulrich Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W." oderVolker Brauns "Unvollendete

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Geschichte". Giwi Margwelaschwili nennt als eine Art Vorbild in der deutschen Literatur Goethes "Faust", und an der "Helena­Episode" exemplifiziert er die Folgen, die sich aus der "ontotexto­logischen Synthese" einer '"realen"-fiktiven und einer '"irrealen"­fiktiven Welt ergeben ("Die homerische Sujetwelt in Goethes 'Faust"'). Und es ist auch kein Zufall, wenn er auf die lateinameri­kanische Literatur um Borges als Anregung verweist.

Der Leser als Held

Wollte man aus dem literaturwissenschaftlichen Beziehungsgefüge AUTOR - TEXT - lESER den Gegenstand von Giwi Margwe­laschwilis Textwelten isolieren, dann wäre dies die Konstellation von Text und leser. Ihr Verhältnis zueinander umkreist er und hat dafür eine eigene Terminologie entwickelt: Da finden sich auf der Text- bzw. Darstellungsebene Begriffe wie "Buchwelt", "Buchbe­ (zirk", "Buchweltheld", "Buchperson", "Buchweltverwaltung". Der Mikrokosmos der "Textwelt" läßt sich erweitern, und dann ist von "Textweltwirklichkeit", "Textweltfiguren", "Gedichtweltbezirken", "Versverwaltung" oder "Zeilenwohnung" die Rede.

Was in germanistischer Terminologie in das Umfeld von rezep­ ,'I'

tions- und wirkungsästhetischen Untersuchungen fällt, nämlich der leser, wird nunmehr zur "Realperson" oder zum "Realkopf". Doch mit der Text-leser-Beziehung "thematisisiert" der Autor etwas, was keineswegs erst in den Diskursen der Rezeptionsästhetik eine Rolle gespielt hat. Anfänge finden sich auch hier bereits in der Poetik des Aristoteles, die ja keineswegs "nur" Darstellungsästhetik ist, son­dern auch Wirkungsästhetisches meint. Wer mit der Trägödie Furcht und Mitleid auszulösen gedenkt oder den leser erregen will, macht Aussagen über die WIRKUNG von Texten und weniger über ihre Strukturen.

Jean Paul Sartre war es, der in seinem Essay "Qu 'est - ce que la literature" auf die Rolle des lesers hinwies, der Mitschöpfer des literarischen Werkes ist. Das Schreiben des Autors stifte einen Pakt zischen ihm und dem leser. Hinlänglich bekannt ist auch die These, daß das Werk nur seiner Potenz nach existiert. Erst im lesen wird es ein Werk der Wirklichkeit nach. Von Paul Valery schließ­lich stammt der Hinweis, "die Ausführung des Gedichts ist das Gedicht".

Und genau das macht es so schwer, Giwi Margwelaschwilis Poetik in die diskursive Form zu bringen, besser ist es, als realer "Realkopf" die Texte zu lesen. Das ist nummehr möglich, da in deutschen Verlagen in kurzer Zeit ein kleiner Teil der bisherigen "Schubladentexte" in gediegenen Ausgaben erschienen ist: "Kapi­tän Wakusch. Autobiographischer Roman" (Südverlag. Konstanz 1991), "Die große Korrektur. Erstes Buch: Das böse Kapitel" (Rütten & loening. Berlin 1991), , "Muzal. Ein georgischer Roman" (Insel Verlag. Frankfurt a. M. und leipzig 1991), "Der ungeworfene Handschuh. Ontotextologische Versuche." (Rütten & loening. Berlin 1992).

Die Beschreibung der Text-Welten macht deutlich, in welchem Maße bei Giwi Margwelaschwili das gefordert ist, was man allge­meinhin den "aktiven leser" nennt. Und das ist einer, der "seine Phantasie spielen läßt", um so "die existenzthematische Klammer derTextweltmenschen lösen zu helfen, auch selber in die Ereignisse der Buchweltbezirke miteinzugreifen, dort die besseren (un-, viel­leicht auch antithematischen) lösungen zu den TextweItproble­men zu finden und die Buchpersonen daraufhin zu orientieren." Dabei hilft der Autor in gewisser Weise nach. In der Buch-Praxis sieht das so aus: "Was wäre wenn" es dem "Realleser" gelänge ­gerade in dem Augenblick helfend einzugreifen, da sich von einem Baume ein Blatt senkte, ein Blatt, das folgenreich sein würde für die Geschichte. Es ist nämlich das Blatt, welches jene Stelle bedeckte,

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die Siegfrieds hörnernen Panzer undicht macht. Und "was wäre wenn" in Friedrich Schillers "Der Handschuh" das Fräulein Kuni­gunde den Handschuh nicht zu den kämpfenden Bestien hinunter geworfen hätte? Der Welt(Literatur) wären dramatische Konstella­

tionen "erspart" geblieben - im Falle Siegfrieds "der epische Buchweltkrieg zwischen Osten und Westen" - aber eben auch jene Stoffe, von denen sie lebt.

Die entstehenden Text-Welten bedeuten eine Anregung des Lesers durch das Spielen mit bekannten Bedeutungen. Zu diesem Zweck suchtderAutor nach Möglichkeiten, die "ontothematische Klammer",

das "Thema", in dem die "Buchweltpersonen" zu leben haben bzw. "gelesen werden", somit das "Gefüge ihres Welttextes aufzulockern" und ihnen die Chance zu geben, sich nach unabhängig ("un-" bzw. "heterothematisch") zu entfalten. Für Margwelaschwili ist eben das ein Reflex auf den "ideologischen Weltkäfig", in dem er - wie viele andere - zu leben hatte. Die Freiheit des Textes bedeutet Weltoffen­heit- wenn auch nurfür den Augenblick des Schreibens und Lesens. Man könnte dies auch als radikalen ästhetischen Ausdruck für eine Poetik der Toleranz und Demokratie sehen. "Fiktion als Befreiung aus dem Zwangskontext" hat Detlef C1außen das mit Blick auf Giwi Margwelaschwilis Biographie genannt. Im großen Roman "Muzal" findet das eine fast kongenial zu nennende Realisierung.

Der Muzal oder Fiktion als Befreiung

Der Anfang des "Muzal" kann als spielerische Einführung in die Text­und Bedeutungswelten von Giwi Margwelaschwili gelesen werden. Der Leser wird zunächst über Unterschiede "informiert", die die Beziehungen zwischen "Realköpfen" und "Buchpersonen" ausma­chen: Während sich die Verhältnisse bei den "Realweltmenschen" über Verwandschaft, Freundschaft, Liebe usw. herstellen, ist für die

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"Buchwelthelden" einzig das "Thema" maßgeblich. Es verbindet die verschiedenen Buchfiguren miteinander. Vom "Thema" wird ihr "Buchlebenslauf" bestimmt, immer und immer wieder - so oft ein Leser seinen "Real kopf" in das Buch steckt. Dagegen revoltiert letztlich der (Buch)Held, Muzal. Der Pferdedieb vom Bergvolk der Kisten wird schon auf den ersten Seiten der Ballade "Aluda Ketelauri" des georgischen Dichters Wascha Pschawela durch Alu vom feind­lichen Hirtenvolk der Chewsuren im Zweikampf getötet. Der

Erzähler Muzal kann dagegen nichts tun: "Denn wie die meisten Realpersonen gegen ihr Leben, so können

wir nichts gegen unser Buch unternehmen. Ja, ich darf, wenn ich ehrlich bin, meinem Gegner persönlich nichts nachtragen. Er ist,

t nachdem er mich getötet hat, im Grunde doch sehr gut zu mir

beziehungsweise zu meinem Leichnam. So schneidet er mir nicht

II die Rechte ab und ist- kann man mehrverlangen? -todunglücklich

über meinen Tod. Wir sind jetzt auch sehr gute Freunde geworden und gehen oft, wenn unser Buch geschlossen ist, wenn uns kein Realkopf zur Vorstellung aufgeschlagen hat, zusammen auf Gem­senjagd in dem wilden Hochgebirge unseres thematischen Buchre­

viers." Die Beziehung, die Muzal und Alu durch das (Buch)themi

vorgegeben ist, isttödlich. Und darum erscheintesso (buch)unlogisch nicht, daß sie sich daraus zu befreien suchen. An die Stelle des Abschlagens der rechten Hand als Zeichen des Sieges setzen sie die Geste des Händeschüttelns als Signal für Versöhnung, Koexistenz und Toleranz. Und beide träumen von einer Reise zum realen Leser. Die Realisierung des Traumes hätte (buch)weltliche Konse­quenzen, indem er die "Erlösung aller Realpersonen, welche wie Muzal als Buchbezirksgefangene an den Geschichten (Gedichten) teilnehmen müssen" in Aussicht stellt. Doch die chewsurische Regie­rung übt Zensur aus, läßt die (Buch)Grenzen streng bewachen und

Raketen auf das Kistenland richten ...

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Die beiden Helden können sich nur durch eine "Realkopfreise" in das "Bewußtseinsstromgebiet" des "Reallesers" retten. Und Muzal formuliert seine Hoffnung so: "Ich halte den Glauben an die Leserköpfe heute für die einzig vernünftige Religion in den Themis, denn wenn diese Köpfe es im Prinzip vermöcht haben, den weißen Merani und wie weiße Taube bei uns im Themi zu verwirklichen, I

so müssen, so werden sie fähig sein, auch meine guten Trümpfe, vor allem den Händedruck, hier einmal zustande zu bringen." Das ist Appell und Hoffnung in einem! (

Der "Muzal" ist kein realistischer Text in den "Formen des Lebens" über die Beschädigung von Individualitäten in "geschlos­senen Gesellschaften", es ist eine Parabel und ein philosophischer IRoman. Und es ist die Realisierung von Demokratie durch die ,11~

Struktur des Textes, ästhetisierte Toleranz! ,~,

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:'1

Phantastischer Real ismus 'I

In einer Art von phantastischem Realismus schlüpft der Autor immer wieder in den Part des (hoffentlich) phantasievollen Lesers, für den das Lesen eben nicht nur ein Zusammenbuchstabieren von Wortbedeutungen ist. Giwi Margwelaschwili verläßt die gegebene Darstellungsebene mit "ihrem" Thema. Er geht von der Frage aus, was die "Buchpersonen" in der Zeit tun, da die "Realleser" nicht im Buch lesen. In den Augenblicken, da das Buch zugeklappt im Regal steht, haben die "Buchpersonen" die Chance, sich frei ("unthema­tisch") zu bewegen, sie entfalten ihr "semantisches Eigenleben".

Von daher ist zu erkläre'l, daß Margwelaschwili zwei Existenz­weisen von literarischen Figuren sieht: In einer ersten erscheinen die Figuren als das, was sie herkömmlich sind. "Faust" ist "Faust", also jener, der "ewig strebend sich bemüht". "Mephisto ist "Mephi­sto" und damit der "Geist, der stets verneint". Damit sind beide

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thematisch, fastaufewig, fixiert. Immer wieder rekonstruieren Leser mit der Darstellungsebene die jeweiligen (traditionellen) Sinnge­bungen. Im literaturunterricht hat das seine Entsprechung in der ermüdenden Frage gefunden, "was uns denn der Dichter sagen wollte" oder worin das "Thema" der Erzählung, des Romans, der Novelle ... bestehe. In der von Giwi Margwelaschwili favorisierten zweiten Existenzweise der Figuren werden alle thematischen Seile gekappt. Den Figuren wird ihre Freiheit gegeben, sie bewegen sich unabhängig von ihrer durch das Thema festegelegten Struktur. Es ist eigentlich das Durchspielen einer zweiten, dritten oder vierten Welt in der fiktiven, und es erinnert dies an ein Vorgehen, das man vielleicht auch als eine Variante eines "praktizierten Radikalen Konstruktivismus" bezeichnen könnte.

Giwi Margwelaschwili befreit die Figuren von ihrem "Thema", inszeniert damit neue Leseweisen und "konstruiert" einen neuen Text. Im "ontotextologischen Vorwort" erklärt er zudem sein Kon­struktions-Prinzip : Wenn die "Bild"- und "Standbildfenster" ge­schlossen werden, ist das ein Zeichen dafür, daß alle bisherigen überlieferten Sinne und Leseweisen zu vergessen und die festgefüg­ten semantischen Bindungen zu lösen sind. Man könnte sich die Figuren als Personen auf einer Bühne vorstellen, die nur dann ihre Rollen spielen, wenn der Leser sie liest. Wird die Bühne zugemacht, haben sie (endlich) die Chance, ihr Eigenleben zu entfalten. Wenn der Erzähler davon spricht, den Buchfiguren ihr Schicksal zu erleichtern, dann sind in Wirklichkeit die Leser angesprochen, die neue und eigene "Was wäre wenn"-Konstellationen aufbauen, auf diese Weise mit dem Text arbeiten, vom reinen Entlanglesen an den Handlungsstrukturen wegkommen und im wirklichen Sinne zum Mitspieler werden.

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Der Leser als Befreier Das liest sich humorvoll-simplicianisch. Die dahinterstehende I� erlebte Tragik ist nur zu ahnen: Da wird ein achtzehnjähriger, in Wie der Roman "Muzal" zeigt, hat der Leser in Giwi Margwe­ Berlin geborener junge, gemeinsam mit seinem Vater, einem geor­laschwilis Poetik-Kozept auch deshalb eine besondere Bedeutung, gischen Exilpolitiker, durch den sowjetischen Geheimdienst KGB

weil er es ist, der helfen kann, die textweltlich gelegten themati­ am 6. Februar 1946 aus dem westlichen Sektor Berlins (dem I'� schen Grenzen zu überschreiten. Mit anderen Worten, er soll über "dixiländisch-bostonischen") in den östlichen ("kolchosischen") das in der literarischen Darstellung gegebene in besonderem Maße hinausgehen, soll aktiv in den Text eingreifen, das Mitbedeutete aktivieren, gegen den Strich lesen, zwischen den Zeilen Neues (erahnen, sogar "Lösungen zu den Textweltproblemen" finden. In diesem Sinne ist er Spiel-Figur und Akteur. Und er ist es für den ,. Autor auch deshalb, weil er als Menschenwesen ein Textweltwesen ist. Für Giwi Margwelaschwili lebt der Mensch - ontotextologisch "

gesehen - als Mikrotext in einem Makrotext (Muttersprache, Staat, Kultur). Er ist also wie ein Text im Text und ist in gewisser Weise­in Abhängigkeit von der Beschaffenheit des Makrotextes - dessen Gefangener.

Giwi Margwelaschwili fügt den Varianten des Buches im Buch nicht nur eine ihm eigene Variation hinzu: Seine Poetologie mit ihren phantastisch anmutenden Text-Welten hat einen historisch-per­sönlichen Hintergrund. In seinem "Lese-Lebenslauf" liest sich das so:

"Im Februar 1946 Übertölpelung meines Ex-Mamassachlissimus (=Vater) durch den Geheimd ienst des Kolchosischen Kosmos, seine Entführung zusammen mit Söhnchen (mit mir) aus dem dixielän­disch-bostonischen Sektors Berlins in den kolchosischen. Hier die Trennung der beiden (Ex-Mamassachlissimus ist nach Verurtei­lung... dann irgendwo am Polarkreis interniert und anonym ver­storben). Sein Sohn (ich) ist nach 1 Monat Bunkerhaft und 11/

2 jahren Aufenthalt in Sachsenhäuschen... über Moskau nach Tblissi geflogen und dort bei seiner Tante zur Bemutterung abgegeben worden. Seither auf der Wartburg gegen alle menschenrechtswid­rigen Auswüchse der Diktatur des Proletariats."

entführt. Es folgen Wochen der Haft in den Kellern der Komman­dantur, Verurteilung, Verschleppung, Tod des Vaters und schließ­lich eineinhalb jahre Haft im nunmehrigen sowjetischen Konzen­trationslager Sachsenhausen. Im Herbst 1947 wird Giwi Margwe­laschwili nach Tiblißi abgeschoben - ohne russisch oder georgisch zu sprechen. In seinem autobiographischen Roman "Kapitän Wa­kusch" kann der "Realleser" gemeinsam mit der "Buchperson" Kapitän Wakusch die Welt in "Deuxiland" (Deutschland) nach 1927 kennenlernen. Der nachfolgende zweite Teil der Lebensge­schichte wird mit dem Titel "Sachsenhäuschen" in eben jene "schlimmen jahre" führen, die für den nur deutsch sprechenden jungen den Entzug seines "Ontokontextes" und -"Codes" bedeute­ten.

Leben im Ontotext

Giwi Margwelaschwilis Lebenslauf erklärt, was es bedeutet, wenn er davon spricht, daß Texte der Muttersprache "regelrechte Onto­Texte" sind, also "Sinngefüge, deren lesendes (dekodiertes Ver­ständnis mit dem Leben selbst in den Menschen hineinwächst." (Gespräch, Frage 1) Es handelt sich bei ihnen um eine "primäre muttersprachliche Unterlage". Der muttersprachliche "Ontotext" erweist sich als'ein "Spiegel der Innen- und Außenwelt". Erwirkt auf diese Außen- und Innenwelten ein, prägt die Persönlichkeit, ordnet sie wiederum in jeweilige Ontokontexte ein. Man kann "Ontotext"

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in diesem Sinne auch verstehen als die unterbewußt angelegte loge". Was - den Zuhörer/Leser möglicherweise nervend - immerJ�Matrix von Zeichen, Gefühlen, die das Subjekt prägen. wieder als "Ontotextologie" bezeichnet wird, hat der Autor in Es liegt auf der Hand, was passiert, wenn ein Subjekt urplötzlich

aus den ihn prägenden "Ontotexten" und dem "Ontokontext" herausgerissen wird. Giwi Margwelaschwilis Werk steht.darum wie ein Symbol für die übermenschliche Anstrengung, sich gegen den so aufgezwungenen Geschichts-Verlust zu wehren.

Detlef Claußen hat das in einer sensiblen Näherung konzis hervorgehoben: "Der gewaltsame Sprachentzug verdichtet sich für den achtzehnjährigen Abiturienten zum Beginn einer unmöglichen Existenz, einer unheilbaren lebensgeschichtlichen Beschädigung durch die Geschichte, die Margwelaschwili in einer unendlichen Anstrengung zu bearbeiten sucht."

Das Ergebnis sind Berg-Werke von Texten als künstlerische Rebellion gegen das so aufgezwungene Schicksal. Die entstandene Poetologie ist kein Kokettieren mit Avantgardismen, auch keine konstruierte Könstlichkeit, sondern bitterer Ernst, Lebenselexier ebenso wie Lebens-Welt. Sie hat durchaus Ähnlichkeit mit dem, was man mit Aitmatow "Der Tag zieht den Jahrhundertweg" aufgezwungenen "Mankurtismus" nennen könnte.

Seine Sprache zu verlieren, ist der erste Schritt des Verlustes von Gedächtnis. Das Schreiben arbeitete eben dieser Gefahr entgegen, nämlich der Erinnerung an den eigenen Ontotext beraubt zu werden.

Margwelaschwilis Lese-Welten haben eine weitere Basis in der erlebten geistigen und kulturellen Isolation im Georgien vor und nach Stalin. Schreiben bedeutete wohl nicht zuletzt Kompensation und machte ein überleben möglich. So entstanden Buch-Welten, und es waren dies Welten im Kopf!

Daraus erklärt sich Giwi Margwelaschwilis Prinzip der Onto­textologie, das für ihn - wie bei Borges das Alev - als seine Achse der Weltdeutung funktioniert. Und er nennt sich selbst "Ontotexto­

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seinem Poetik-Vortrag als die "ontotextologische Verfassung des Menschen" hervorgehoben. Für ihn ist der einzelne als textweltlich determinierter letzten Endes ein "Textweltmensch". Insofern ist er abhängig von den großen Texten der Rel igionen oder aber auch von Texten "weltanschaulich-ideologischer Art". Es ist dies übrigens eine These, die sich'- freilich in anderem Kontext - auch im Diskurs um Phänomene postmoderner Kulturanalyse wiederfindet. Von Baudrillard wurde in diesem Kontext die Auffassung vertreten, daß die Zeichen längst aufgehört haben, das Reale abzubi Iden oder den Sinn von Wirklichkeit hervorzubringen. Inzwischen sind die Zei­chen an die Stelle von Wirklichkeit getreten. Dieter Lenzen weist darauf, daß die neuen Kommunikationstechnologien das noch beschleunigt haben. Die medial erzeugte Wirklichkeit erscheint vielen nicht zu Unrecht als eine "Hyperrealtiät" von Trugbildern, die sich nur noch auf sich selbst beziehen und eine fingierte Wirklichkeit hervorbringen. Es ist also nicht mehr die Wirklichkeit selbst, die maßgeblich wird, sondern das, was übersie gesagt wird. Damit kommt dem Wort eine besondere Macht zu.

Giwi Margelaschwili nun geht davon aus, daß die Höhe- und Tiefpunkte der Menschheitsgeschichte in dem ontotextologischen Wesen dieser Geschichte verwurzelt sind. Das meint: die Ge­schichte entfaltet sich nach ontotextologischen Vorlagen, sie ist ein "von seinen entsprechenden Texten aufgerufenes und auf den Weg gebrachtes Weltgeschehen". Damit ist für ihn die "grundsätzliche Abhängigkeit der Geschichte von textuelIen Unter- oder Vorlagen"

erwiesen.

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Ontotextualität - Bewußtsein - Stalinismus

Nach Giwi Margwelaschwili kann man auch das Bewußtsein als Ontotextologisches interpretieren. Das Bewußtsein wird in diesem Sinne als offener Text verstanden, der nicht aufein Thema festgelegt ist. Es ist vielmehr so, daß sämtliche "Dinge", die das in der Welt­Sein betreffen, vom Bewußtsein aufzunehmen sind. Wer das nicht will, muß Einsiedler werden. Von daher erscheinen auch die großen Texte der Weltgeschichte als nichts anderes, denn als Formen der Materialisierung der Ontotextualität des Bewußtseins. Von der ontotextologischen Bestimmung des Bewußtseins ausge­hend, sieht Giwi Margwelaschwili einen Unterschied von Mensch und Tier, darin, daß das Tier nur sein "Ontothema" kennt und auf alle plötzlich einströmenden - ihm nicht bekannten - "Hetero-Themati­zitäten" iritiert bis agressiv reagiert. Für das Tier erscheint also die Fremdheit als Angriff oder Gegentext, in Giwi Margwelaschwilis Terminologie: "Das Hetero-onti-thematische in der Ontotextualität hat im Tierreich zumeist den Wert des Anti-onto-thematischen".

Das ist von fast brennender Aktualität, es zeigt nämlich, in welchem Maße die militante Abwehr des Fremden den Menschen dem Tier ähnlich macht.

Wenn das Bewußtsein seinem Wesen nach offen ist, in ihm ganz verschiedene Ontotexte zusammenspielen ( sogenannte "Hetero­onto-themacitäten"), es also sozusagen "heterotextuell" geprägt ist, dann erklärt sich, was in "geschlossenen Welten" passiert. Im Mit­telater, wurde mit Mitteln der Folter versucht, den vermeintlichen Ketzern einen "Text" aufzuzwingen, die totalitären Systeme im 20. Jahrhundert funktionierten bei allen ideologischen Unterschieden nach einem vergleichbaren Muster. Immer dort, wo es um Welt­Anschauungen mit dem Anspruch auf die eine Wahrheit geht, wird das "polythematische Ontoprogramm" des Bewußtseins "monothe­matisch" festgelegt und interpretiert. Mit Entstehen eines absoluten

Wahrheitsanspruchs wird die "Hetero-Onto-textualität", d. h., die Vielheit des Bewußtseinstextes umgewandelt zu einem Monothe­ma (einer "Monothematicität"). Damit erfolgt wiederum der Übergang in eine fast außermenschlich-unmenschliche Daseins­ebene.

Giwi Margwelaschwili weist darauf, in welchem Maße der Zusammenbruch des (un-menschlich) konstruierten Ontocodes vorprogrammiert ist. In seiner Philosophie setzten sich die lebendi­gen Teile des ursprünglich polythematisch angelegten Codes zur Wehr und gehen Stück für Stück daran, die ontotextuelle Freiheit wiederherzustellen.

Offensichtlich ist, aus welcher Welt die Erfahrungen Giwi Marg­welaschwilis stammen: Das Weltbild des Stalinismus war in diesem Sinne "monologisch" geprägt. Es ging aus vom Apriori einer ab­strakten und extrem vereinfachten Konstruktion gesellschaftlicher Werte und Wahrheiten, von dualen Entgegensetzungen und von einer Ideologie, die den Dialog weitgehend ausschloß. Die Länder der Real-Sozialismus waren in ihrem Kern auf die Macht der Worte gebaut, und auch das erklärt ihren fast schon phantastisch anmuten­den Zusammenbruch. Die Geschwindigkeit, mit der die monothe­matisch geprägten Denkschemata, Begriffe, die institutionalaisierte Weltanschauung verschwanden, bestätigt Margwelaschwilis Auf­fassung von der heterothematisch angelegten Struktur des Bewußt­seins und seiner Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Weil Welt und Be­wußtsein als "offene Texte" zu verstehen sind, muß jede Einengung an ihr Ende kommen: "das Ontoprogramm des Bewußtseins kann im Prinzip nicht lange als falsifiziertes existieren, es hat eine Kraft zur Selbstkorrektur, zur Negierung aller ihm aufgeladener (ange­dachter) Fehler, eine Kraft zum Beheben der mindestens prinzipi­ellensten Verzerrungen und Verstümmelungen seiner Lebenswelt." ("Ontotextualität in Philosophie und Kunst") Es erscheint schlüssig, wenn der erste Beweis für die Fähigkeit des Ontoprogramms zur

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Selbstkorrektur im GEWISSEN gesehen wird, der "Gewissensruf" fordert das Bewußtsein zur Korrektur heraus, der Ruf "macht es auf einen Fehler aufmerksam, der sich in sein Ontoprogramm einge­schlichen hat und fordert seine Wiedergutmachung."

Bei Fritz J. Raddatz hat einmal einen für Kunst und ihre mögliche Wirkung maßgeblichen Anspruch formuliert: "Wer Kafka ernst genommen hat, kann nicht mehr Kapo werden." Daran ist man beim Lesen von Giwi Margwelaschwilis Text-Welten erinnert. Wer Margwelaschwili wirklich liest und versteht, eignet sich nicht zum Inquisitor.

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Gespräch�

Carsten GanseI:�

Gespräch mit Giwi Margwelaschwili�

Giwi Margwelaschwili, Sie haben eine sehr besondere Bindung zu Deutschland, die 1946 brutal abgeschnitten wurde. Können Sie einiges dazu sagen?

Ich bin als Sohn georgischer Emigranten in Berlin (1927) geboren und so - was für diese Frage wesentlich ist -, auch in die deutsche Sprache hineingeboren (worden). Diese Sprache ist also meine Muttersprache, was wie ein Widerspruch aussieht - denn meine Mutter war ja Georgierin -, aber eben Tatsache ist. Mein Einbezogen­sein in das deutsche Sprachmedium war übrigens auch deshalb noch ein vollkommen perfektes, weil ich ja in meiner Kindheit und Schulzeit in Berlin des Georgischen völlig unkundig war. (Meine Mutter ist früh gestorben - und mein Vater hatte keine Zeit, mir es beizubringen). Die Texte der Muttersprache - ob gesprochen, ob geschrieben, macht keinen Unterschied - sind regelrechte Onto-texte, also Sinn­gefüge, deren lesendes (dekodierendes) Verständnis mit dem Leben selbst in den Menschen hineinwächst. Das gilt vor allem für den gesprochenen muttersprachlichen Ontotext. Sehr viel, ja sogar das Wesentlichste der Natürlichkeit dieser primären muttersprachlichen

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Unterlage geht dann aber auch auf den geschriebenen (zu schrei­benden) muttersprachlichen Text über, der uns - gerade deshalb­von allen anderen fremdsprachigen Sprech- und Lesestoffen, die wir später vielleicht noch beherrschen lernen, doch immer der nächste, bzw. selbstverständlichste bleibt.

Der muttersprachliche Ontotext ist aber auch immer so etwas wie ein Spiegel unserer Innen- und Außenwelt, er beformt diese Welten mit seinen Bedeutungen, verwandelt sie in entsprechende

"ontotextuelle" Dimensionen (in spezifische Sprachwelten), die dem Menschen wie ontotextologische Bestimmungen anhängen, ihn in diesen oder jenen sprachweltlichen "Ontokontext" einord­nen. Durch unsere Entführung aus dem britischen Sektor Berlins im Frühjahr 1946 wurde ich aus meinem deutschen Ontokontext herausgerissen und in anderssprachige (russische und georgische)

Ontotextualitäten hineingeworfen, welche - jede auf ihre Weise­sicherlich die reichsten, interessantesten und schönsten textologi­schen Weltgebilde vorstellen, die aber für mich, den knapp 18jäh­rigen, damals eben völlig andere (fremde) Ontostrukturen waren.

Wie sah das plötzliche Hineingestelltsein in andere (fremde) Ontostrukturen und Lebensverhältnisse praktisch aus?

Praktisch war das etwas wie ein Schweben im Unbestimmten, ja Unbestimmbaren, weil von mir, dem in diese Situation der Vagheit Hineingeratenen, jedenfalls ganz zuerst nicht zu Thematisierenden. Ich kannte ja die zwei herrschenden Sprachen der Region (also Georgisch und Russisch) überhaupt nicht. Als formale Mittel für die thematische Thematisierung der Erscheinungswelt sind Sprachen der äußerste (rein textologische) Mantel für alle Ontokontextualitäten des Bewusstseins. Das heißt, daß man sie kennen muss, wenn man in solchen Kontextualitäten leben will (muß). Als Mantel von Onto­

kontextualitäten haben Sprachen aber auch mit dem Sein (dem On)

wesentlich zu tun, d. h. ihr Wesentliches liegt in ihrer Modalität, in

dem "Wie man sie spricht". Eine Sprache so sprechen wie das in ihr natürlich gewachsene Bewußtsein ist für jemanden, der von außen in sie hineingestoßen wurde, das Schwierigste. In diesem ontotextologi­schen Modus des Georgischen und Russischen bin ich bis heute ein Fremder geblieben. Man errät-wenn ich in diesen Sprachen spreche - als Einheimischer sofort den Ausländer und in der Stalinzeit war das seibstverständIich keine EmpfehIung. Es waretwas, dassofortMißtrauen

erregte. "Warum zwitschert dieser Vogel anders als wir?" Und das paarte sich natürlich auch mit der Vorsorge für das eigene Selbst, wie

sie sich z. B. in der Frage spiegelt: "Mache ich mich - wenn ich mit so einem rede, umgehe usw. - nicht den Behörden verdächtig?"

Das Schweben in der fremden Ontostruktur als einer Dimension des Unbestimmbaren bekam etwas später dann auch noch den Sinn (m)eines Existierens in absoluter Isolation von der übrigen Welt, die

als feindliche Gegenwelt verstanden wurde, vor der man seine "Errungenschaften" beständig zu schützen und zu befestigen habe. Es war das Leben in einem Ganzen, das - besonders noch nach dem Aufkommen der Kernwaffen - sich historisch zu einem Existieren im

weltweiten nuklearen Duopol ausgestaltete, also das Leben in einer faktisch immer schwerer zu lenkenden (zu thematisierenden) und daher auch höchst ungewissen und gefährlichen Weltsituation. Drit­tenswaresein Schweben in Vagheit, weil die ideologische Grundlage

der Ontostruktur, in der man gezwungen war, sich aufzuhalten, dem skeptischen Bewußtsein immer mehr Mißtrauen einflößte. (Der Krieg z. B. hatte den eisernen Vorhang für eine Zeit fortgeblasen: die

Gefangenen, welche zurückkamen, berichteten von dem Leben draußen, in der Gegenwelt usw.). Die Frage nach dem Wohin aller ideologischen

Entwicklungsbestrebungen fand angesichts der in der Sowjetunion stetig wachsenden Produktion von Armut in allen Lebensbereichen bald keine Antwort mehr. Daß man zum Opfer einer utopischen

Verrücktheit geworden und die ganze Sache ein Irrweg war, war

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mindestens schon in den 60er Jahren die geheime Meinung des denken­

den Teils der Bevölkerung in allen Ontokontextualitäten dieser Art.

Wie wurden Sie in Tbilissi aufgenommen und bei wem haben Sie dann gelebt?

Ich wurde mit höchst widersprüchlichen Gefühlen empfangen. Bei einer jahrelang von dem wildesten Diktat der Behörden geduckten

und verängstigten Bevölkerung war auch nichts anderes zu erwar­

ten. Viele mochten wohl geglaubt haben, daß ich als Spion in die

Ontostruktur eingesetzt sei, um dem Geheimdienst Informationen zuzutragen. Damit zusammen ging aber auch ein lebhaftes Interes­

se für meine Person, denn ich wardamals für viele der erste Mensch

"von drüben", mit dem sie reden und von dem sie etwas erfahren konnten. Ich wurde von der KGB bei meiner Tante abgegeben,

welche - charakteristisch genug - sich zuerst geweigert hat, mich aufzunehmen, und Beweise verlangte, daß ich wirklich ihr Neffe sei.

Wie überhaupt begegnete man einem jungen Mann, der der Sohn georgischer Emigranten war und eigentlich nur das damals sicher verhaßte "Deutsch" sprach?

Vom Georgien jener Zeit darf man sich keine falschen Vorstellun­

gen machen, d. h. man darf es auf keinen Fall mit Sowjetrussland

zusammenwerfen. Natürlich hat es auch dort Mitläufer gegeben, Leute, die den Unsinn ehrlich geglaubt haben, Fanatikerfürdie Sache

usw. Aber in seinem allgemeinen Wesen ist der Georgier doch Real ist

und geneigt, alles Ideologische mit Skepsis aufzunehmen. Hinzu

kommt, daß man in Georgien auf die Russen, welche das Land doch zweimal annektiert haben, niemals sehr gut zu sprechen war. Und

was es dort auch noch gibt, isteinetraditionelle Deutschfreundlichkeit,

ja eine richtige Verehrung Deutschlands (seiner Kultur, Wissenschaft

und Philosophie). Diese drei Umstände sind denn wohl auch der

hauptsächl iche Grund dafür, warum man mir - natürlich nur in den

bestimmten normal denkenden Kreisen der Gesellschaft - immer

freundlich und mitfühlend begegnet ist und warum das Deutsch, das

ich ja nur sprach, nicht nur keinen Anstoß, sondern ganz im Gegenteil immer großes Entzücken erregte. (So wurde mir schon sehr früh angetra­

gen, der private Deutschlehrer von georgischen Kindern zu werden.)

Wenn das Deutsche unerwünschtbzw. verboten war, wo haben Sie dann Deutsch gesprochen?

In Georgien ist die deutsche Sprache nie verboten bzw. uner­wünscht gewesen (auch nach dem Krieg nicht, jedenfalls meines

Wissens nicht). Natürlich konnte ich dort nicht überall Deutsch reden,

weil man es einfach nicht verstand. Aber in jener Ontokontextualität

gab es doch mehrere Orte, wo ich mich in meiner Muttersprache frei erklären und Gesprächeführen konnte. Das waren georgische Familien,

wo die Ehefrau eine Deutsche war und die Kinder auch immer schon

irgendwie Deutsch sprachen. Solche Familien gab es dort in der

Nachkriegszeit und später nahm ihre Zahl auch weiter zu. Wir hatten die Gewohnheit, uns an Feiertagen (besonders Weihnachten) zu

versammeln (diese Tradition hat sich bei uns übrigens bis heute

erhalten) und unsere Erfahrungen mit der Ontostruktur auszutauschen.

Welche Konsequenzen hatte ihre"Herkunft" für Sie? Uns ist bekannt, daß russische Soldaten, die während des Krieges in deutscher Gefan­genschaft waren, nach der Rückkehr wie Verräter behandelt wurden. Bei Ihnen wardie Situation noch zugespitzter, wie verliefen IhreJahre nach der erzwungenen Festsetzung in Tiblissi? Konnten Sie studieren?

Diese Frage ist schon beantwortet. Ja, ich durfte studieren und daß

ich es durfte, erklärt sich - so wie ich die Sache heute übersehe ­

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wiederum aus der geheimen Aufsässigkeit Georgiens gegen das

fremde Regime, aus seiner Bestrebung, unausgesetzt die Wunden zu

lecken, welche der Bolschewismus ihm geschlagen hatte, und sich in

den Verhältnissen der tyrannisierten Ontotextualität immer noch

irgendwie über Wasser zu halten. Alle georgischen Emigrantenkinder

eines ähnlichen Schicksals wie meines haben dort studiert. Aller­

dings: Dieses Entgegenkommen war auch durchaus kein absolutes.

So wurde mir 1952 z. B. verboten, in die Aspirantur einzutreten, so

daß ich mich nach völlig anderen Arbeitsstellen umzusehen hatte.

Und natürlich war ich - wie ja so viele andere auch - in jenen Jahren

das schwarze Schaf, das z. B. bei Auslandsreisen in die "sozialisti­schen" Länder (von den kapitalistischen ganz zu schweigen) ständig zurückgestellt wurde u. ä.

Wer über Georgien spricht, muß notwendigerweise aufdie Person von Stalin kommen. Ich vermute, dass Stalin nicht unbedingt ein Thema ist, mit dem sie gern umgehen. Trotzdem die Frage danach, wie im Georgien der späten 40er und frühen 50er Jahre in der Bevölkerung die Person Stalins gesehen wurde?

In Georgien hat man zu der Person dieses Mannes zwei sehr

widersprüchliche Verhaltensweisen. Einmal sieht man ihn und zu

Recht als Blutegel, besser gesagt als Vampir, am georgischen

Volkskörper, als Menschen, der die Gewaltherrschaft der Bolsche­

wiken über Georgien brachte. Die andere Meinung über diesen

Mann istdie idealisierende: Man sieht ihn als Georgier, der Rußland

zum Sieg über Hitler geführt hat, als weltbedeutenden Staatsmann

u. ä. In dieser Bewertung spielt der nationale Stolz der Georgier

bestimmt die ausschlaggebende Rolle. Ich habe schon in der

frühesten Nachkriegszeit diese beiden unterschiedlichen Meinun- ,

gen über Stalin in Georgien (von entsprechend verschiedenen

Menschen geäußert) vorgefunden. Mit den Jahren und natürlich

auch als Folge aller Enthüllungen der Verbrechen Stalins wich die

positive Meinung über ihn der negativen. Leute, die noch heute an

Stalin hängen, sind in Georgien ihrer Zahl nach die geringsten.

Wie waren die Reaktionen nach Stalins Tod 1953 in Georgien, können Sie sich an Episoden in Ihrem engsten Umfeld erinnern?

Ja. In jenen Tagen waren die Straßen von Tbilissi mit trauernden

Stal inanhängern vollgestopft.lch war neugierig und ging bis zu einem

Stalindenkmal (es ist jetzt abgerissen) mit, wo ein großes Meeting zu

Ehren des verstorbenen Generalissimus stattfand. Da die Reden mich

bald anwiderten, ging ich da schnell wieder weg. Ebenso verfuhren

auch viele andere, so daß da ein ständiges Kommen und Gehen

war. Wen ig später fuhr dort sowjetisches Mil itär vor und richtete ein

Blutbad unter den Stalinverehrern (zumeist noch ganz junge Leute)

an. Etwas historisch Fürchterlicheres und in seiner Unsinnigkeit Bedauerlicheres läßt sich wohl kaum vorstellen.

Was haben Sie selbst damals empfunden?

Ich empfand den endgültigen Abgang des Despoten als eine

Befreiung und ebenso haben dort zahllose andere gedacht.

Wie wurden die Enthüllungen auf dem xx. Parteitag der KPdSU 1956 in Georgien aufgenommen und die damit verbundene Verur­teilung von Stalins Verbrechen?

Von der offiziellen, dem Regime beruflich verpflichteten Schicht

der Gesellschaft wurde dazu geschwiegen: sie hatte sich auch längst auf Chruschtschow umgestellt, um ihre Position nicht zu verlieren.

Es gab natürlich auch Stalinverehrer, welche den Enthüllungen nicht

glauben wollten, aber auf die hörte keiner mehr. Die anderen, von

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jeher gegen das Regime gestimmten Kreise der Gesellschaft brauch­ten nichts zu sagen: Sie hatten ja schon immer gewußt (geahnt), was für ein Scheusal der Verstorbene gewesen war und konnten nichts anderes als Genugtuung über seine Verurteilung empfinden.

Was war Ihre Reaktion aufden XX. Parteitag. Sie waren damals 29 jahre? Ergaben sich für Sie nach Stalins Tod Veränderungen in der persönlichen Entwicklung?

Ja, sogar eine recht fühlbare und gute Veränderung: man verlor alle Vorbehalte meiner Person gegenüber und stellte mich am Fremdspracheninstitut von Tbilissi als Lehrer (Deutschlehrer) ein. Für mich bedeutete das eine beachtliche Verbesserung meiner materiellen Lebenslage.

Ist es richtig, daß die Verehrung für die Person Stalins in Ceorgien noch bis in die BOer jahre reichte?

Ja, esgibt in Georgien sicher immer noch ein paar Unbelehrbare, die den Götzenkult selbst heute noch weiter fortsetzen.

Sie schreiben seit 40 jahren in deutscher Sprache. Man könnte vermu­ten, daß für Sie die deutsche Sprache so etwas wie ein Rettungsring oder eine Sprachinsel war. Was bedeutet Ihnen das Deutsche?

Ich habe den Verlust meines primären sprachlichen (also deut­schen) Ontokodes niemals akzeptieren können. Jeweiterdie äußeren Ereignisse in meinem Leben diesen Kode und seine ontotextuelle Realität von mir abrückten, desto kostbarer und in ihrer Art uner­setzlichererschienen sie mir. Alsden von dieserontotextuellen Basis, geprägten Menschen wollte ich mich nicht verlieren, und das ist

denn wohl auch mit ein Hauptgrund, warum ich "drüben" zu

schreiben anfing: es war, um dem Ontokode eine- wie auch immer ungeschickt gefügte und im Wesentlichen sicher auch nur aus der Phantasie gezogene - Bedeutungswelt zu geben, eine schrift- bzw. buchweltliche Dimension, in dieerals Kode pausenlos hineinwirken, wo er sich als spezifisches sprachliches Ontoprogramm faktisch realisieren bzw. bestätigen konnte. Ich glaube, daß mein Geschreib­sel dem deutschsprachigen Ontokode in mir in einem nicht geringen Maße geholfen hat, seine Überlagerung durch andere Ontotextua­litäten ohne zu viel Schaden zu überstehen und sich als die ontotextologische Dominante meiner Person zu erhalten.

Im Zentrum Ihres Schreibkonzeptes steht der Umgang mit Texten, mit ihren verschiedenen Bedeutungen, den potentiellen wie den realisierten. Sie selbst sprechen wiederholt von Ontotexten und vielleicht könnte man mit Blick auf Sie von einem lIontotexto­logischen Schreiben" sprechen: Was hat es mit dem sogenannten "Ontotextologischen" auf sich?

Als durchaus ontotextologisch geformte Instanz denke ich mir das Bewußtsein. Es lebt ja, indem es Texte produziert (gesprochene, schriftliche). Ja, auch und vor allem der Erkenntnisprozeß ist ein sich lesendes Hineinverstehen in onto-kon-textliche Zusammenhänge. Sich'so und auf die verschiedensten Weisen ontotextologisch bezeu­

gen kann das Bewußtsein aber nur, weilesselberein Text ist, und zwar ein offener: das Hetero-ontische thematisierender. (Im Unterschied zum Tier, das grundsätzlich in ontologisch verschlossenen Texten lebt und sich deshalb immer nur sehr schwer auf andere ontothema­

tische (ontotextuelle) Grundlagen umstellen kann.) Als spezifisch textuelIes Gefüge wäre das Bewußtsein ein Zusammen von (für es selbst) ontothematisch unterschiedlichen Gültigkeiten: mit der jewei­ligen hauptsächlichen Ontothematicität (von der es immer gerade eingenommen ist) in seinem' Zentrum und allen anderen (ihm dann

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weniger wichtigen bzw. thematischen} Thematicitäten zu der Peri­pherie (zum Randbewußtsein) hin geordnet. Jeder Akt des Lesens, z. B. die Lektüre eines Buchtextes, wird als das Gefüge eines solchen Metatextes oder Ontokodes des Bewußtseins entfaltet: als ein onto­textologisches Spektrum von bestimmten, in ihrerThematicitätfürdas Bewußtsein unterschiedlich betroffenen GÜltigkeiten. Ein anderes, nicht weniger wichtiges Grundmerkmal solchen Lebens ist das Überraschtwerdenwollen (-sollen) durch das Heterothematische,

das ja jeder Lesestoff für den Leser auch noch vorstellen muß, wenn er ihn "spannen", interessieren, anziehen usw. soll. Das Bewußtsein funktioniert ontotextologisch. Diesen Aspekt von ihm genauer sichtbar zu machen, ist Ziel und Gegenstand meines Schreibens (auch des künstlerischen). Was mich so immer und überall vor­

nehmlich beschäftigt hat, sind die Texte von besonders hoher On­totextologicität, also Texte von besonders grosser Bedeutsamkeit für das Bewußtsein und für das Menschenleben übehaupt. Vieles, was ich geschrieben habe, könnte man als Analyse von gerade solchen Texten ansehen.

Hinter Ihrem Konzept scheint das Bewußtsein wie die Erfahrung von der Macht des Textes zu stehen. Würden Sie mir folgen, wenn ich zugespitzt behaupte, daß es letztlich Texte sind, die Geschichte machen?

Ja, es kann, es muß meines Erachtens die Möglichkeit geben, auch Geschichte (die Menschheitsgeschichte) ontotextologisch zu inter­pretieren. Haben wir nicht in der allerletzten Zeit erlebt, wie eine Großmacht beständig bemüht war, sich in der Welt gerade als Ontotextualität durchzusetzen, ihre in zahlreichen ideologischen Texten niedergelegte "Weisheit" anderen Nationen anzuhängen, sie zu den beständigen Lesern ihrer weltanschaulichen Bibliothek zu machen, kurz: ihren Ontotext als Welttext zu verbreiten? Und was

sind Revolutionen anderes als Angriffe auf eine Staatsverfassung, auf eine ontotextuelle Gesetzlichkeit, die man wünscht, verändert zu sehen? Ebenso ist ein Tyrann (z. B. im antiken Sinne dieses Begriffes) wesentlich immer derjenige, der sich in dem ontotextuellen Gefüge

des Bewußtseins als zentrales Thema durchgesetzt hat und alle anderen hier noch mitvorhandenen Thematicitäten als weniger we­sentliche, überhaupt unwesentliche oder auch als feindliche (als Antionto-thematicitäten) auf sich bezieht. Im Unterschied hierzu ist

aber zu sagen, dass der Ontotext des Bewußtseins - eben wei Ier ja ein offener, d. h. ein im Prinzip aufdas verstehende (lesende) Erfassen von Hetero-ontischem (von Hetero-onto-thematicitäten) orientierter Text (oder Kode) ist- im Grunde die ontotextologische Basis für demokra­tische Denkweisen vorstellt. Wäre die Geschichte des Geistes (des

Bewusstseins) - wenn diese "ontotextologische Paraphrasierung" des Hegeischen Grundgedankens möglich ist - der Ausdruck eines langsamen, auf weiten historischen Strecken immer wieder von harten Rückschlägen betroffenen Zu - sich - selber - Kommens, d. h.

zu seiner ontotextuellen Wahrheit als verständiges Offensein für alles Hetero-ontischen, oder jedenfalls der Ausdruck für ein zähes, uner­

müdliches Versuchen auf diesem Wege?

Wie erklären Sie es sich, daß es totalitäre Systeme schaffen, Ontotextualitäten so weit zu verändern, daß - sagen wir - "Mono­textualitäten" entstehen, geschlossene Systeme, in denen sich "Realmenschen" zunächst sogar frei fühlen. Es ist ja - wie mir scheint - zu einfach, das fast wollüstige Funktionieren der vielen einzelnen nur mit der" von oben" ausgehenden zunehmenden Gewalt zu erklären. Warum kommt es immer wiederzu den "harten Rückschlägen", wie Sie sagen. Ist es vielleicht gar so, daß in der Weltals einem"ontotextologischen System" wie in kleinen Gruppen (Familie) beständig das Bemühen besteht, den eigenen Text zum Dominanten zu machen? Insofern existierte auch in Demokratien

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objektiv der Hang zum Totalitären, Tyrannischen, und die Frage ist nur, ob die "Gegenkräfte" und der Widerstreit stark genug sind, eine "Monotextualität" zu verhindern?

Daß Ontotextualitäten, die von Haus aus polythematische sind, zu monothematischen Textstrukturen (zu totalitären Regimen) ab­gewandelt werden können, hat meines Erachtens zwei historische Gründe. Der erste Grund besteht darin, daß der Ontokode des

Bewußtseins (sein auf das Hetero-ontische angelegtes Onto­programm) der fragilste ist, daß er leicht in Anti-onto- und Mono­Thematicitäten ausarten kann: Schon die Natur, in und von der der Mensch lebt, liefert ihrem Betrachter genügend Beispiele der grau­samsten Seinsvernichtung. So sieht er dort, dass die Tiere einander

fressen, ein Organismus auf Kosten anderer Organismen lebt usw. und bekanntlich hat der Mensch nicht versäumt, diese Regel zu

übernehmen und sie sogar bis in die verheerendsten Ausmaße weiterzuentwickeln. Die Folge davon war die anti-onto-thematische Bezugnahme des Menschen auf alles Hetero-ontische (auch auf die Fremdperson also eigentlich die Verfälschung des ursprünglichen ontoprogrammatischen Sinnes im Bewußtseinskode, der ja als Onto-kode nichts Anti-onto-thematisches beinhalten, nur die Schonung des (und den Respekt vor dem) Hetero-ontischen verlan­gen müßte. Der Grund dafür, daß monothematische Onto(kon)tex­tualitäten historisch ausgebildet werden konnten (und auch bis heute noch entstehen können), liegt in dem schon sehr früh entwickelten Machtanspruch des Bewusstseins. Er entspringt dem gewalttätigen Verfahren mit dem Hetero-ontischen. Diese Methode erzeugt die Akkumulation von Macht, welche übrigens auch für den technischen Fortschritt entscheidend war (z. B. für die Formie­rung von Tausenden von Menschen zu Arbeitskräften u. ä.). Ideo­logie ist in ihrem Wesen ein Mittel, sich seine Macht mit Hilfe des Hetero-ontischen (der Transzendenz, der Götter, der als historische

Notwendigkeit hingestellten Utopie) bestätigen zu lassen. Totalitäre Regime waren und sind überall die Bezeugung der ontotextolo­gischen Entartung des Bewußtseins.

Wie sehen Ihre eigenen Erfahrungen mit der zerstörerischen Kraft von Texten aus?

Ich gehöre zu jener Riesenzahl von Menschen, die als Folge eines weltweiten ontotextuellen Konflikts ihren Vater verloren haben. Was eine prinzipiell falsche, nämlich den Anforderungen des modernen Wirtschaftswesenswidersprechende, Ontotextual ität im eigenen Lande anrichten kann, sehen wir heute in der Sowjetunion. Diese Misere dortmachtdeut! ich, wohines führen kann, wenn derGeschichtsprozeß von ontotextuellen Prämissen abhängig gemacht wird, für die die gesamte bisherige Menschheitserfahrung keine überzeugende Stütze bietet. In solchen Fällen kann der Ontokode (-text) eines Landes sich leicht in sein Gegenteil verkehren, sein ontologischer Sinn kann sich dann immer rapider zu einem thanatologischen umgestalten.

In welchem Maße ist Ihr"ontotextologisches Schreiben" ein Ergeb­nis der erlebten stalinistischen Verhältnisse in der Sowjetunion?

Der Gegenstand meines Schreibens ist eigentlich der Realmensch als Textweltmensch, d. h. als derjenige, der von seinem Welttext immer sehr stark (z. B. sprachlich) gekennzeichnet ist, der also stets in irgendwelchen grundsätzlichen Abhängigkeiten von diesem Text lebt, ob er es nun selber will oder nicht. Dieser Text (vor allem seine Form, aber auch sehr viel vom Inhalt dieser Textform) bestimmt das Leben des realen Menschen durchgängig und das auch dann und gerade noch, wenn dieses Leben ein Leben der Empörung (des aktiven Protestes, des Kampfes usw.) gegen die eigene Ontotextualität ist. Die ontotextologischen Verhältnisse der menschlichen Existenz gestalten

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sich negativ, wenn der Text ein ideologisch verschlossener, also ontothematisch völlig in sich gekehrter, monothematischer Welttext ist, der allen hetero- (oder poly-}thematischen Bestrebungen des Menschen immer neue Hindernisse in den Weg legt, der die von Haus aus freie {ontothematisch unbegrenzbare} Ontotextualität der menschli­chen Existenz thematisch eindämmen, vereinseitigen, von allem Hetero-ontischen (-ontothematischen) abschnüren möchte. Gera­de das ist nun aber in der Sowjetunion mindestens bis vor der Perestroika-Zeit und da im höchsten Grade natürlich in der stalini­stischen Epoche dieses Landes (die ich zum Teil selber miterlebt habe) der Fall gewesen. Die im Lebensbereich des Menschen angelegte und da als radikaler Weitverschluß wirksam gewordene Ontotextualität ist darum ein Hauptgegenstand meiner Untersu­chungen (auch meiner künstlerischen Bemühungen) geworden, welche sich aus diesem Grunde auch als ontotextologische Be­

trachtungen verstehen lassen.

Ist der Umgang des Giwi Margwe/aschwili mit Buchweltpersonen auch als ein Reflex auferlebte Unfreiheit zu sehen und als ein Aktder

inneren Befreiung und Gegenwehr?

Ich glaube, mich kennzeichnet wirklich ein durchaus ontotexto­

logisches Verständnis von Buchpersonen, d. h. ein Verständnis, daß diese Menschen in ihrer Gebundenheit an ihre Text(um}welt begreift,

das sie in ihrer prinzipiellen Abhängigkeit von Sinn und Thema dieser Welt sieht. In dieser Sicht erscheinen solche ontothematischen Bin­dungen von Buchweltpersonen - da sie ja für ewig sind, da die buchwelt(bezirks}thematischen Lebensläufe sich ja immer wieder in demselben Sinne zu entwickeln haben und selbst auch der Zufall nichts an dem streng vorgeschriebenen, thematischen Kurs der buch­weltlichen Ereignisse ändern kann - als der grausamste Ausdruck einer in jedem Bezuge invariablen (jede freie Entscheidung, etwas

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anderes, bzw. Un-odergarAntithematischeszu versuchen, apriorisch ausschliessenden) Existenznotwendigkeit. (Das realistische Verständ­nis, mit dem die Lebensläufe von Buchpersonen gewöhnlich konzi­piert und gelesen werden, also ihr Verständnis als bestimmte, aus welt- und privatgeschichtlichen Voraussetzungen gezogene schick­salhafte Einmaligkeiten, ist kein ontotextologisches. Wir verstehen

den "phantastischen Realismus" in der neueren literatur (z. B. Hans Castorp auf dem Zauberberg) als künstlerisches Mittel, um der existenzthematischen Einseitigkeit und Einmaligkeit von textweltmensch­lichen Lebensläufen selbst noch im Rahmen solcher Begrenzungen irgendwie entgegenzuwirken, als Ausdruck einer ontotextologischen Orientierung in allen sonst "schicksalhaft" angelegten Buchwelt­bezirkswirklichkeiten.} Es ist daher nur zu logisch, wenn (m)ein ontotextologisches Verständnis für Buchweltpersonen auch' nach Möglichkeiten sucht, die ontothematische Klammer, in der diese Personen zu leben haben (gelesen werden), zu lösen, das Gefüge ihres Welttextes aufzulockern, da Lücken oder Nischen zu schaffen, wo sie sich auch mal un- bzw. heterothematisch entfalten können u. ä. Und selbstverständlich ist das alles auch und vor allem eine Weise meines Reagierens auf den ideologischen Weltkäfig, in dem ich wie so viele Millionen andere zu leben hatte, eine Art, diesen Käfig - wenn auch auf einem ganz anderen, von der unsdamalsquälenden Ontotextuali­tät völlig unterschiedlichen, textologischen Niveau - umzustürzen und den Menschen wieder in seinen ontotextuellen Grundzustand der Weltoffenheit zurückzubringen. Aber: So ganz ohne jede reale Bedeutung ist diese ontotextologische Methode der Befreiung bestimmt nicht. Wie uns die allerletzten Entwicklungen im europä­ischen Osten ja deutlich zeigen, sind alle hauptsächlichen Verän­derungen dort gerade auch darauf zurückzuführen, daß man einer monothematisch geformten und den quasi-totalen Weitverschluß betreibenden Ontotextualität plötzlich den Lese-Lebensgehorsam verweigert hat.

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Wäre es möglich zu sagen, daß in den Ländern des "Real-Sozialis­mus" in besonderem Maße eine"ontotextologische Krise" herrscht?

Die Länder des vormaligen sozialistischen "Blockes" sind heute wirklich einerontotextologischen Krise unterzogen. In anderen Worten heißt das: Die Bedeutungswelt, welche diese Länder wesentlich vorstellen, hat allen dort plötzlich ihre prinzipielle Bedeutungslosig­keit offenbart; es zeigt sich auf einmal, daß sie auf allen Ebenen der Theorie und Praxis nur ein sehr scheinbarer Onto-kon-text gewesen ist, daß sie im Grunde nur ein Versager war, also ein Text, von dem für das Sein (Leben) der Bevölkerungen dort nichts mehr zu erwarten ist. Wenn man nun auch in allen diesen Ländern die Unzulänglichkeit der alten Ontotextualität genauestens erkannt und diesen Ontotext

mit aller Konsequenz von sich abgeschüttelt hat, so mangelt es dort leider an Erfahrung (oft auch am Willen, das Neue richtig anzufangen,

an ernsthaften Initiativen u. ä.), welche notwendig ist, um die neue ontotextologische Grundlage zu schaffen. Und darin besteht diese Krise. Zu welcher katastrophalen Wirksamkeit sie (die ontotextolo­gische Krise im ehemaligen Ost-Block) sich entwickeln kann, hat in den letzten Tagen der putschversuch gegen Gorbatschow gezeigt. Er kam aus dem Schoß der alten Ontokontextualität und konnte nur verhindert werden, weil die historischen Kräfte der neuen Onto­kontextualität in Rußland sich glücklicherweise als stärker erwiesen haben. Aber das ist - vermutlicherweise - nur ein erstes, glücklich abgeschlossenes Kapitel der Krise, welche ontotextologisch noch viel längern dauern und sicherlich auch die verschiedensten soziologi­schen und psychologischen Erscheinungsweisen annehmen wird.

Momente Ihres Schreibkonzeptes haben eine Tradition schon in der Antike und lassen sich bis in die jüngste Zeit verfolgen. Ich denke an die Metapher des Textes im Text oder des Buches im Buch. Novalis' "Heinrich von Ofterdingen" wäre zu nennen, Tieck, jean

Paul aber auch Canetti ("Die Blendung") oder Arno Schmidts "Zettels Traum". Sehen Sie selbst in dieser Hinsicht Verbindungen in der deutschen Literatur? Und wenn ja, bei wem?

Ontotextologisch verstanden, lebt jeder Mensch als Mikrotext in einem Makrotext (z. B. in einem von Muttersprache, von Staat und Kultur geformten, allgemeinen Bedeutungszusammenhang). Er ist

folglich der Text im Text, er steht - wie es in dem Märchen so schön gesagt ist - im großen Buch des Lebens, er existiert wie ein dort sicht­bzw. lesbarer Lese-Lebensstoff. Das wurde schon früh gesehen, und die Weltliteratur ist voller Beispiele, die diesen grundsätzlichen Status des Menschen irgendwie beschreiben, in der Darstellung der literari­schen Stoffe gerade auch davon ausgehen usw. Mein ontotexto­logisches Konzept hat also eine große Tradition hinter sich. Seine thematischen Bezüge reichen überall hin, und es wäre vielleicht nicht richtig, hier irgendeine spezielle Grenze ziehen zu wollen. Da Sie aber in diesem Zusammenhang von der deutschen Literatur sprechen, möchte ich Stellung nehmen und sagen: ja, hier habe ich ein großes

Vorbild, nämlich Goethe, der sich in seinem "Faust" und da in der Helena-Episode mit der Synthese zweier Welten (einer "realen" und "irrealen") befaßt, die man als ontotextologische Synthese bezeich­

nen kann. Wie die "realen" und "irrealen" Textweltmenschen hier zusammenkommen, wie ihr Beisammensein von ihrer jeweiligen Ontotextualität her bestimmt wird und wie es dann an der textlichen Gegensätzlichkeit der beiden Welten zerschellen muß, ist eines der lehrreichsten Kapitel über Ontotextologie.

Und zu vermuten ist, daß es auch Beziehungen zur lateinameri­kanischen Literatur gibt?

Ja, die Entwicklung, die in der lateinamerikanischen literatur mit den Werken des Jorge Louis Borges ihren Anfang nimmt, hat eine

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Expression geschaffen, deren hauptsächlicher Bezugspol die lite­

rarischen Bedeutungswelten selber sind. Was wir hier sehen, ist also Literatur über (zur) Literatur, d. h. genau das, was ich - auf

meine Weise - auch versuche zu geben.

Sie sehen - wie mir scheint - den Leser als einen Komplizen und Mitspieler. Aber gleichzeitig soll er beim Umgang mit Ihren Buch­weltpersonen wohl auch etwas von der eigenen Gefährdung durch "textologische Verseuchungen" erahnen?

Ein grundsätzlich wichtiges Anliegen meines Schreibens ist, die

Mitverantwortlichkeit des Lesers für die Buchweltmenschen­

schicksale in seinem Lesestoff herauszubringen. Er wird hier ange­

mahnt, seine Phantasie spielen zu lassen und so die existenzthema­

tische Klammer der Textweltmenschen lösen zu helfen (auch selber in die Ereignisse der Buchweltbezirke miteinzugreifen, dort die

besseren (un-, vielleicht auch antithematischen) Lösungen zu den

Textweltproblemen zu finden und die Buchpersonen daraufhin zu

orientieren). Der Leser ist bei mir also auch Spielfigur. Aber das ist

er vor allem deshalb, weil er als Realmensch ja auch immer ein

Textweltmensch ist, immer den Druck irgendwelcherOntotextuali­

täten spürt (sich darüber entrüstet oder vielleicht auch mal dagegen aktiv wird usw.). Den Leser in den Lesestoff miteinbeziehen, heißt

auch immerzugleich das ontotextuelle Wesen seines Menschentums akzentuieren oder dieses Wesen - wo es von ihm vielleicht noch

nicht näher erkannt wurde - genauer verdeutlichen.

~~ ist zu vermuten, daß Sie ein distanziertes Verhältnis zu einer eng realistischen Literatur haben. Zumindest könnte Ihnen eine ideologiebefrachtete und an "Inhalten" orientierte Literatur ein Graus sein?

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Natürlich sind die ideologischen Bibliotheken unserer Zeit, die ontotextologisch wirksam gewesenen Schriften, die sich dort fin­

den, für mich ein Odium. Aber zugleich sind sie für mich auch sehr

interessant, ja faszinierend, weil diese Bücher (ges. Werke) und

nicht zuletzt die Literatur, welche sie ontotextologisch spiegelt, ja

am deutlichsten die ontotextuelle Beeinflußbarkeit des Menschen

illustrieren, weil sie zeigen, daß er auch als ontotextuelles Wesen betrachtet werden kann, d. h. als Wesen, das immer dazu neigt,

Texte mit seinem Leben zu beinhalten, sich für Texte geschichtlich

verwenden (mißbrauchen) zu lassen u. ä. Füreineontotextologische

Bewußtseinstheorie wären gerade solche Schriften und Literaturen ein äusserst wichtiges Untersuchungsobjekt.

Sie wurden 1946 aus einem Deutschland entführt, das Ihnen eine Heimat war. Wie kehrt man da 1989zurück, mit welchen Gefühlen, Hoffnungen, Ängsten? Wie ist Ihr Blick auf die beiden "Deutsch­lands" in den vergangenen 40 Jahren gewesen?

Die Rückkehr ist - auch wenn sie keine definitive mehr sein kann

- natürlich mit großen positiven Emotionen verbunden. Schon

allein der Umstand, daß der Gang der Weltgeschichte mir heute die

Möglichkeit verschafft, dorthin zurückzugehen, wo er mich viele

Jahre zuvor ungerechterweise entfernt hat, gibt Genugtuung, d. h.

er ist etwas, das man nur mit Befriedigung und sicherlich auch mit einem Dankbarkeitsgefühl hinnehmen kann (denn die Wendung

hätte ja auch ganz anders - sagen wir mal: ein paar Jahrzehnte später, also für mich dann vermutlich schon zu spät- kommen können usw.).

Meine Hoffnungen sind heute ganz auf den Ontokontext Europa

(anders auch "europäisches Haus" genannt) ausgerichtet. Ich möchte in diesem Zusammenhang vor allem glauben, daß der Europatext sich in absehbarer Zeit zu einem Gewebe ausformt, wo eine

Entführungvon der Art, wie sie mir (und sicher vielen anderen auch)

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passierte, prinzipiell ausgeschlossen ist, wo das Auswuchern der einzelnen Ontotextualitäten zu machthaberischen Textstrukturen sich schon von diesen Textualitäten selbst her verbietet, wo das kontextuelle Moment immer weiter prävalieren und zum Schluß

dominieren wird. Als konträre Empfindungzu allen diesen Hoffnungen gibt es heute allerdings auch noch die Besorgnis, daß dem Kon­textuellen in der europäischen Ontotextual ität beachtl iche Schwie­rigkeiten erstehen können, daß diese Hindernisse ganz besonders im Osten (wo die zerrüttete Wirtschaftslage der Ontokontextuali­sierung die ärgsten Probleme stellt) den Politikern noch viel Kopf­zerbrechen bereiten werden. In meinem Verständnis waren die beiden Deutschland immer so etwas wie eine verhinderte, ideo­logisch auseinandergerissene und gegeneinanderegestellte Onto­kon-textualität. Daß diese unnatürliche (in sich widersprüchliche) Existenzform solchen Onto-kon-textes geschichtlich einmal aufhö­ren und wieder durch die positivere (natürlich gewachsene) kontextuelle Seinsart des Landes ersetzt werden müsse, ist mir (wie auch zahllosen anderen Leuten drüben, in der Sowjetunion) immer

schon von vornherein klar gewesen.

Sehen Sie Veränderungen seit der" Vereinigung" in den nun wieder zusammengehörenden Teilen, welche sind es?

Ich möchte hier unterscheiden zwischen Veränderungen im rein räumlichen Bereich und im individuellen Lebensbereich der Men­schen. Die ersten Veränderungen sind alle von der wohltuendsten Art. Das Brandenburger Tor z. B. hat aufgehört, als grausames Grenzsymbol zwischen zwei Gegenwelten zu existieren. Es sieht heute freundlich aus, eben wie ein offenes Tor zu verschiedenen Himmelsrichtungen, und so soll es immer bleiben. Im Ostteil Berlins sind bestimmte Straßennamen, die an die alte, ideologisch verkrüppelte Ontokontextualität erinnerten, entfernt worden und

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an vielen Stellen hat man angefangen, baufällige Häuser zu reno­vieren. Die Mauer - diese anti-ontokontextuelle Scheidewand bis 1989 - ist heute ein historisches Relikt und die telephon ische Verbindung zwischen den beiden Teilen der Stadt hat in letzter Zeit auch angefangen, viel besser zu funktionieren. Dies und vieles andere mehr sind sehrerfreuliche, die echte Ontokontextualität der Stadt (wie auch des ganzen Landes) bestätigende Tatsachen.

Die Veränderungen der zweiten Kategorie sind von einer Art, die - jedenfalls für mich, den hier ja im wesentlichen nur äußeren Beobachter- sich bloß beim Zeitungslesen und beim Zuhören, was da so erzählt wird, genauer fixieren und zur Kenntnis nehmen

lassen. Ja, und da muß allerdings gesagt werden, daß diese Entwick­lungen keine erfreulichen zu nennen sind, daß sie das kontextuelle

Moment in der neuen deutschen Ontokontextualität kompromittie­ren, daß sie den Schatten der Mauer und alles, was sie bedeutet hat (in erster Linie die verhinderte, gedrosselte Ontokontextualität des Landes) von neuem heraufbeschwören und sogar drohen, sich zu

einer allgemeinen onto-kon-textologischen Krise auszuweiten. Ich spreche von der Millionenzahl von Arbeitslosen im deutschen Osten, von der prinzipiellen Perspektivenlosigkeit aller Menschen über 50 auf dem Arbeitsmarkt und von den abrupten Steuerer­höhungen, welche - nach allem, was ich auch von West-Berlinern zu diesem Punkt gehört habe - mit in den Preis hineingehören, der für die Wiedervereinigung zu zahlen ist. Besonders hervorzuheben wäre hier das Anwachsen der Mieten, der Treuhandskandal u. a. Alle diese Dinge zeigen deutlich, dass die Onto-kontextualität in Deutschland immer noch zu den schwersten und dringlichsten

Problemen des Landes gehört, daß es auch hier noch lange dauern kann, bis die Vergangenheit ontotextologisch überwunden ist und mindestens der Weg, der zu der echten kontextuellen Einheit des

Ganzen führt, gefunden und beschritten wird.

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Wo wird der Dichter Giwi Margwelaschwili in Zukunft leben und schreiben?

Er wird versuchen, sein Leben in den beiden Ländern, also in Georgien und in Deutschland, irgendwie einzurichten. Schreiben und Texte herausgeben wird er wohl mehr in Deutschland, weil er ontotextologisch eben hierhin gehört. Aber es gibt natürlich auch viele Dinge - auch eine Menge literarischer Sujets -, die ihn in

Georgien halten und sich nur dort richtig besorgen lassen.

(Juni, August 1991)

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Poetik-Vortrag�

Giwi Margwelaschwi Ii:�

Ontotextualität in Philosophie und Kunst�

1. Die ontotextuelle Verfassung des Menschen

Die Anregungen zu der Forschungsarbeit, welche ich als Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung während meines Studienaufenthaltes in Deutschland zu erfüllen hatte, sind in der Hauptsachevon Info, Heft 2/190, "Unter Krahnenbäumen" ausgegangen. Das Heft vermit­telte mir, dem aus dem Osten Angereisten und auf dem weiten Wi rkungsfeld Ihrer Organ isation völl ig Unbewanderten, einen orien­tierenden Einblick in die Arbeit der Stiftung, in den Kreis ihrer

hauptsächlichen Themen und Aufgaben. Die Anregungen, die ich empfing, haben - um es gleich zu sagen - mich allerdings nur gespornt, auch hier, in Deutschland, mit etwas fortzufahren, was

mich schon lange Jahre zuvor beschäftigt hat und was auch bis heute immer noch den Hauptgegenstand meines Schreibens ausmacht. Das ist die ontotextuelle Verfassung des Menschen, das Prinzip, nach dem er als textlich prädeterminierter, als Textweltmensch, existiert,

f abhängig z. B. von den textuelien Grundlagen der grossen Religio­

nen (des Buddhismus, des Hindu ismus, des Juden- und Christentums,

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