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Bürger, Gott und Götterschützling (Kinderbilder der hellenistischen Kunst und Literatur) || 2....

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27 2. Das Kind und der Tod „Mutter, ich rufe dich! Was ist hier los? Du hörst nicht auf dein weinendes Söhnchen, das der Kummer quält? Ja, ich bitte dich: laß doch deine liebe Stimme er- klingen wie früher! Du redest nicht [mit mir] und ich fühle mich einsam; dein Schweigen aber, das mir nichts ant- wortet, macht den Schmerz noch viel größer. Wenn du tot bist, wie sie sagen, was ist mein Leben dann wert? Ohne dich ist mir das Leben ärger als der Tod.“ 1 Obwohl sie ihrem kleinen Söhnchen di- rekt ins Gesicht zu sehen scheint, wirkt Phylonoe doch merkwürdig abwesend und wie in Gedanken verloren. Das Kinn auf die Rechte gestützt, die Linke ruhig im Schoß, zeigt sie keinerlei Reaktion auf die lebendige, nähesuchende Bewegung ihres Kleinen, der sich unter Aufbietung seiner ganzen Kraft und mit rudernden Ärmchen nach ihr streckt und sie auch beinahe berühren kann – aber nur bei- nahe: der Kontakt zwischen der toten Mutter und ihrem kleinen Sohn ist für immer abgerissen. Ihm scheinen die Worte der Inschrift geradezu in den Mund gelegt worden zu sein: das hier formulierte, zunehmend beunruhigte Insistie- ren auf eine Antwort der stummen Mutter entspricht der im Bild umgesetzten drängenden Bewegung des Kleinkindes, das den physischen Kontakt mit der still dasitzenden Mutter erzwingen will, und könnte der Verzweiflung des ver- lassenen Kleinen eine eindrucksvolle Stimme verleihen. — Bild und Inschrift gehören allerdings nicht zusammen. 2 Zwischen der Herstellung des abgebil- 1 Peek (1955) Nr. 1920. Die Inschrift ist nicht mehr vollständig erhalten. An den oben zi- tierten Text schließen sich noch zwei weitere Verse an („oátoj, t… p£sceij; po‹ bad…zeij, ð xšne, / ™k sumfor»twn ·ak…wn ºphmšnoj;“), die sich an einen fiktiven Betrachter (einen Wanderer in ärmlicher Kleidung?) wenden; das Ende des Epigramms kann aber aus den wenigen noch folgenden Bruchstücken nicht mehr erschlossen werden. Im fol- genden wird für die Texte und Übersetzungen der Epigramme auf Kapitelabschnitt 2.3. S. 71ff. und die dortige Zählung verwiesen. 2 Die Grabstele der Phylonoe (Abb.1) selbst zeigt eine für die Zeit typische, zwei Verse kurze Inschrift, die sich auf die Nennung ihres Namens und ihres Vaters (?), ansonsten Abb. 1: Grabstele der Phylonoe (390/80 v. Chr.). Athen, Nationalmuseum. Brought to you by | St. Petersburg State University Authenticated | 93.180.53.211 Download Date | 11/8/13 6:49 AM
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2. Das Kind und der Tod

„Mutter, ich rufe dich! Was ist hier los?

Du hörst nicht auf dein weinendes Söhnchen, das der Kummer quält?

Ja, ich bitte dich: laß doch deine liebe Stimme er-klingen wie früher!

Du redest nicht [mit mir] und ich fühle mich einsam; dein Schweigen aber, das mir nichts ant-wortet, macht den Schmerz noch viel größer.

Wenn du tot bist, wie sie sagen, was ist mein Leben dann wert? Ohne dich ist mir das Leben ärger als der Tod.“1

Obwohl sie ihrem kleinen Söhnchen di-rekt ins Gesicht zu sehen scheint, wirkt Phylonoe doch merkwürdig abwesend und wie in Gedanken verloren. Das Kinn auf die Rechte gestützt, die Linke ruhig im Schoß, zeigt sie keinerlei Reaktion auf die lebendige, nähesuchende Bewegung ihres Kleinen, der sich unter Aufbietung seiner ganzen Kraft und mit rudernden Ärmchen nach ihr streckt und sie auch beinahe berühren kann – aber nur bei-nahe: der Kontakt zwischen der toten Mutter und ihrem kleinen Sohn ist für immer abgerissen. Ihm scheinen die Worte der Inschrift geradezu in den Mund gelegt worden zu sein: das hier formulierte, zunehmend beunruhigte Insistie-ren auf eine Antwort der stummen Mutter entspricht der im Bild umgesetzten drängenden Bewegung des Kleinkindes, das den physischen Kontakt mit der still dasitzenden Mutter erzwingen will, und könnte der Verzweiflung des ver-lassenen Kleinen eine eindrucksvolle Stimme verleihen. — Bild und Inschrift gehören allerdings nicht zusammen.2 Zwischen der Herstellung des abgebil-

1 Peek (1955) Nr. 1920. Die Inschrift ist nicht mehr vollständig erhalten. An den oben zi-tierten Text schließen sich noch zwei weitere Verse an („oátoj, t… p£sceij; po‹ bad…zeij, ð xšne, / ™k sumfor»twn ·ak…wn ºphmšnoj;“), die sich an einen fiktiven Betrachter (einen Wanderer in ärmlicher Kleidung?) wenden; das Ende des Epigramms kann aber aus den wenigen noch folgenden Bruchstücken nicht mehr erschlossen werden. Im fol-genden wird für die Texte und Übersetzungen der Epigramme auf Kapitelabschnitt 2.3. S. 71ff. und die dortige Zählung verwiesen.

2 Die Grabstele der Phylonoe (Abb.1) selbst zeigt eine für die Zeit typische, zwei Verse kurze Inschrift, die sich auf die Nennung ihres Namens und ihres Vaters (?), ansonsten

Abb. 1: Grabstele der Phylonoe (390/80 v. Chr.). Athen, Nationalmuseum.

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Das Kind und der Tod28

deten klassischen Reliefs und der Abfassung des wohl in den Späthellenismus zu datierenden Grabepigramms3 liegt ein Zeitraum von mehr als 300 Jahren. Während dieser Zeitspanne durchlaufen beide Formen der Grabkunst, Relief wie Epigramm, eine jeweils eigene, umfassende Entwicklung – umso erstaunli-cher ist in unserem Beispiel die große thematische Nähe, die auch nicht damit erklärt werden kann, daß es sich in diesem Fall bei dem Kindthema vielleicht um eine langlebige lokale Vorliebe gehandelt hätte.4 Erst die Einordnung der beiden hier gegenübergestellten Zeugnisse in die jeweilige Gattungsgeschichte wird zeigen, daß das Motiv „Kind“ im Bereich der Grabkunst über viele Jahr-hunderte kontinuierlich eine spezifische Funktion erfüllte, die beide Medien als Gestaltungselement zu nutzen wußten.

Geht man aber zuerst einmal davon aus, daß sich in der Trauer um ein verstorbenes Kind am ehesten die unverfälschten Gefühle der Eltern entladen, bietet gerade die Grabkunst wohl einen guten Ausgangspunkt, um der ‘be-sonderen Kinderliebe des hellenistischen Menschen’ nachzuspüren. Einen sol-chen Ansatz fordert allein schon die Tatsache, daß aus diesem Bereich immer wieder prominente Beipiele wie die Stelen des Amyntas und der Geschwister Matreas und Metrodor5 oder (als „typisch hellenistisch-genrehafter Zug“) das Epigramm auf die zweijährige Nikopolis (B1) herangezogen werden6 – spre-chen diese nicht schon für sich?7 Die Antwort muß lauten: ja – aber eben nur für sich. Sie stellen Einzelfälle dar, die zur Beweisführung aus der großen Masse herausgegriffen werden, diese aber nicht repräsentieren, wie die Auswertung des hier zusammengestellten kleinen Corpus aus Grabsteinen mit Epigramm (im-merhin der aufwendigsten Variante der Kindergräber) deutlich machen wird.

Problematisch scheint bei der Betrachtung der Kindergräber desweiteren, daß einige der schönsten Exemplare bereits im fünften Jahrhundert gefertigt sind, also nicht als Zeugnisse hellenistischer Kinderliebe taugen – diese „Ansät-ze eines freundlichen Kinderbildes“8 in der klassischen Kunst widersprechen der These von einer Entdeckung des Kindes erst im Hellenismus ganz offen. Auch aus diesem Grund greife ich im folgenden bei der Untersuchung der hellenisti-

austauschbare Tugendprädikate beschränkt. Zu dem zitierten Epigramm s. S. 42.3 Peek datiert das Epigramm zwar in das 1. Jahrhundert n. Chr., stuft diese Datierung

aber selbst als „unsicher“ ein. Es handelt sich m.E. um ein spätes und sehr ausgeprägtes Beispiel des im Hellenismus populären Topos „Kindersprache“, das schon von der Emotionalität der hellenistischen Kunstepigramme geprägt ist.

4 Sowohl Relief- wie Inschriftenstele stammen aus Athen. 5 Bieber 137. 6 Griessmair 49; vgl. Schmidt (1991) 135. 7 Vgl. C. Schneider (1965) 654: „Die schönsten Zeugnisse für die Kinderliebe der Zeit

aber sind die Kindergräber (...)“. 8 Kleijwegt, Marc: Kind. A: Griechisch-Römisch, in: Reallexikon für Antike und Chris-

tentum 20 (2004) 866–893, hier 872.

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schen Grabreliefs und -epigramme wiederholt auf deren klassische Vorgänger zurück: einerseits, um die bereits erwähnte Beobachtung vom Kind als funk-tionalisiertem Gestaltungselement im Rahmen einer knappen Entwicklungsge-schichte der jeweiligen Gattung zu verdeutlichen, andererseits aber auch, um zu zeigen, wie eben solche Gestaltungselemente vereinzelt von einem Medium ins andere wechseln konnten und sich so aus Bildkonventionen klassischer Zeit thematische Entwicklungen der hellenistischen Grabinschriften erklären lassen. Gerade deren Weiterentwicklung und Ausgestaltung zu einer neuen literari-schen Gattung des Hellenismus, dem Kunstepigramm, macht deutlich, daß sie (ebenso wie die Weiheepigramme) als Schnittstelle zwischen Literatur und Kunst gelten müssen.9

2.1. Das hinterbliebene Kind

2.1.1. Klassische Grabreliefs

Die außergewöhnliche Grabstele der Apollonie10 (Abb. 2), noch vor die Mitte des fünften Jahrhunderts v. Chr. datiert, stellt auch im Bereich der Grabkunst ein sehr frühes Beispiel für die realistische Darstellung von Kindern dar. Die drei hier abgebildeten Kinder der Verstorbenen sind in ihren verschiedenen Altersstufen überraschend präzise erfaßt, nicht nur in den ihrem jeweiligen Al-ter entsprechenden Körperproportionen, sondern auch einer charakteristischen

9 Da das primäre Interesse dieser Untersuchung in der Betrachtung des Verhältnisses von Text und Bild liegt, das die Kombination von Relief und Epigramm am besten ermög-licht, und hauptsächlich auf die Bewertung der hellenistischen Zeugnisse zielt, verzichte ich auf die Behandlung anderer Formen der klassischen Grabkunst neben den Stelen. So zeigen beispielsweise auch die weißgrundigen Lekythen rührende Kinderbilder, beschränken sich aber allein auf bildliche Aussagen und haben als relativ kurzlebiges (Oakley 167) und auf die klassisch-attische Kunst begrenztes Phänomen auch keinen spezifischen Einfluß auf die hellenistische Grabkunst genommen. Ihre Gestaltungskon-ventionen stehen zu den hier vorgestellten Ergebnissen nicht im Widerspruch.

10 Ab ca. 480 v. Chr. ist die Tradition der Grabstelen in Athen selbst, wohl aufgrund eines Grabluxusgesetzes (dazu Himmelmann [1999] 18; Oakley 180; s. S. 35 mit Anm. 31), unterbrochen. Dies beeinträchtigt die lokale Produktion in anderen Gebieten jedoch nicht, wie die Grabstele der Apollonie (Abb. 2) zeigt, die nach diesem Zeitpunkt (ca. 460 v. Chr.) als ein besonderes Beispiel kykladischer Kunst auf der Insel Ikaria gefertigt wurde. Da sie aber hinsichtlich der Bildkomposition in ihrer Zeit einen Einzelfall dar-stellt (Clairmont [1993b] 133; Rühfel 88ff.) und in der Figur der Apollonie selbst noch eine strenge Stilisierung vorherrscht, wird sie im folgenden nicht ausführlich bespro-chen; sie soll hier nur veranschaulichen, wie früh die Fähigkeit zum Erfassen kindlicher Charakteristika im Bild tatsächlich schon voll entwickelt war.

Das hinterbliebene Kind

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Haltung gegenüber der Mutter: das älteste Kind, ein Junge von neun oder zehn Jahren,11 steht in vertrauensvoller Haltung, das rechte Bein angewinkelt und auf das linke gestützt, beide Hän-de ruhig auf die Knie der Mutter gelegt, den Blick zu ihr erhoben und wie auf Ansprache wartend vor Apollonie. Sie selbst hält derweil ihr jüngstes Kind, ein kleines Mädchen noch im Säug-lingsalter, auf dem Schoß und stützt ihm mit der linken Hand den Rücken, wie es bei Kleinkindern nötig ist, die aus eigener Kraft noch nicht aufrecht sitzen können; das Kind hebt wie sein ältester, hinter ihm stehender Bruder ebenfalls den Blick zu ihr und greift mit der kleinen Rechten nach seiner Mutter. Auf dem Boden vor Apollonie schließlich krabbelt ein kleiner Junge umher, den man seiner Körperhaltung und seinem Babyspeck nach auf ein Alter von ein oder zwei Jahren schätzen könnte. Er stützt sich auf seine pummeligen Ärmchen, während er das linke Bein gerade im Kriechen nach sich zieht; auch seine Aufmerksamkeit ist, wie der weit in den Nacken gelegte Kopf zeigt, genau wie die seiner Geschwister ganz auf die Mutter gerichtet. Die drei Kinder scheinen geradezu paradigma-tisch auch aufeinander abfolgende Entwicklungsphasen der Kindheit darzustel-len: der Säugling im Arm der Mutter zeigt sich noch völlig abhängig von deren Nähe und Unterstützung; das Kleinkind erprobt lebhaft auf allen Vieren die erste Bewegungsfreiheit, ist aber noch ganz auf die Mutter hin ausgerichtet; das älteste Kind steht in ruhiger Selbständigkeit vor ihr und hält den Kontakt nur durch die vertrauensvolle Geste der auf die Knie gelegten Hände.

Der uns nun schon bekannte kleine Sohn der Phylonoe (Abb. 1), deren Stele ein schönes Beispiel der attischen Kunst nach Wiederaufnahme der Grab-reliefproduktion12 bietet, ist ebenso überzeugend dargestellt: von einer Diene-rin seiner Mutter entgegengehalten, reckt er sich nach ihr mit all seiner Kraft und in voller Spannung des kleinen Körpers; sein rechtes dickes Ärmchen stößt dabei in einer heftigen Bewegung auf den Betrachter zu beinahe aus der vorde-

11 Über das Alter des stehenden Knaben herrschen verschiedene Meinungen; es wird ent-weder auf das eines Kindes von neun bis zehn Jahren (Rüfhel 90) oder eines Jugend-lichen von sechzehn Jahren (Oakley 180) festgelegt.

12 Um ca. 430 v. Chr. wird das Grabluxusgesetz – ohne belegbare Gründe – wieder aufge-hoben: Himmelmann (1999) 19; andere Datierungen bei Schmaltz (1983) 197ff.

Abb. 2: Grabstele der Apollonie (ca. 460 v. Chr.). Ikaria, Schule.

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ren Bildebene heraus, mit der Linken versucht es, nach der sitzenden Mutter zu greifen. Unter großer Anstrengung legt er sein rundes Köpfchen in den Nak-ken, um mit dem Blick die Mutter zu suchen. Wie bei der Stele der Apollonie ergibt sich auch bei der der Phylonoe die Spannung im Bild aus der lebendigen Kinderdarstellung, die das Geschehen bestimmt, und dies vor allem durch den Kontrast zwischen der Ruhe der Mutter und dem Drängen des Kindes.

Mögen diese Kinder nun auch noch so naturgetreu dargestellt sein und das Bildgeschehen durch ihre Lebhaftigkeit beherrschen, so ist doch wichtig festzu-halten, daß sie in diesem Rahmen nicht um ihrer selbst willen dargestellt sind, sondern bestimmte Funktionen erfüllen.13 Sie besitzen zum einen symbolischen Charakter, wenn sie – gerade innerhalb solcher Frauengemachszenen14 – auf die Mutterschaft der Verstorbenen verweisen und so deren gesellschaftlichen Status bezeichnen: diese Frau hat die ihr zugedachte Rolle im sozialen Gefüge erfüllt, nämlich den Fortbestand der Familie und des „Generationenvertrages“ garantiert.15 Die Abbildung mit dem Kind als Symbol dieser Leistung für die Gesellschaft unterstreicht den schweren Verlust, den die Familie durch den Tod der jungen Mutter erlitten hat (die noch weitere Kinder hätte gebären können); in diesem Sinne ließe sich auch die Stele der Phylonoe „lesen“. Im Gegensatz zu Apollonie, die viele Kinder hinterlassen hat, an die man sich also bereits als eine „erfolgreiche“ Mutter erinnert, ist Phylonoe vielleicht bereits im Kindbett verstorben: das von der Dienerin gehaltene Wickelkind kann, muß aber nicht unbedingt auf diesen Tod verweisen.16

Vielleicht wurde es auch aus einem anderen Grund in die Bildkomposition aufgenommen. Denn die auf den klassischen Reliefs abgebildeten Kinder erfül-len, wie im folgenden zu sehen sein wird, noch eine zweite Aufgabe, die über die Sphäre gesellschaftlicher Repräsentation hinausreicht und die das große Be-mühen um eine möglichst realistische Darstellung von Kindern und v.a. ihrer Interaktion mit der Verstorbenen jenseits von rein künstlerischen Ambitionen erklärt: es bedürfte ja einer aufwendigen individuellen Gestaltung17 nicht un-

13 Vgl. Dickmann (2001) 179. Dies entspricht völlig der Praxis vorhellenistischer Lite-ratur: Kinderdarstellungen haben hier immer eine bestimmte, allein über den Hand-lungsrahmen definierte Aussage.

14 S. Clairmont (1993a) Nr. 1.694; 1.696; 1.700; 1.708; 1.714; 1.786; 1.871; 2.652; 2.850; 2.851; 2.871; 2.903; die Qualität der Darstellungen variiert hierbei ebenso wie die anderer Bildtypen. Zu dem Motiv der sitzenden Frau als Verweiszeichen auf den o�koj: Bergemann 84.

15 Vgl. Lohmann 104. 16 Schmaltz (1983) 119, vgl. dazu Bergemann 64f. 17 Unter „individueller“ Gestaltung verstehe ich hier – wie es auch für die Darstellungen

Erwachsener gilt (vgl. Himmelmann [1999] 39, P. Zanker [1993] 215) – nicht die Abbildung eines real existierenden Individuums, sondern vielmehr eines idealisierten, dem jeweiligen Wirkanspruch individuell angepassten Typus „Kind“, der durch die je-weilige Kombination kindlicher Charakteristika innerhalb der Bildkomposition einen

Das hinterbliebene Kind

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Das Kind und der Tod32

bedingt, wollte man dem Kind lediglich den erwähnten Symbolcharakter bei-ordnen.

Zu den Zügen, die kleinere Kinder auf klassischen Grabreliefs immer be-sonders natürlich erscheinen lassen, zählt nicht nur das Beherrschen der kindli-chen Körperproportionen und anderer physiognomischer Charakteristika18 so-wie der altersabhängig typischen Posen,19 sondern besonders auch das Erfassen der speziellen Abhängigkeitssituation zwischen Mutter und Kind. Kinder ver-schiedener Altersstufen werden bei dem Versuch gezeigt, mit der Verstorbenen auf die Art und Weise Kontakt aufzunehmen, wie sie es zu deren Lebzeiten ge-wohnt waren. Die Dynamik dieser Art der Bildkomposition bleibt nicht ohne Wirkung auf den Betrachter: er nimmt das Bild der Toten wahr, seine Aufmerk-samkeit wird aber bald, wenn nicht sogar zuerst,20 auf das bewegte Element im Bild abgelenkt: das Kind.21 Je lebendiger und naturgetreuer, gleichzeitig auch hilfloser es im kindtypischen Nichtbegreifen(-können) der veränderten Situati-on dargestellt wird, desto mehr Mitleid erregt es beim betrachtenden Erwach-senen. Das nähesuchende Ausstrecken der Arme, die Fixierung des Blickes auf die Mutter, insgesamt die völlige Ausrichtung der Gestik und Mimik auf die Verstorbene lenkt jedoch die Aufmerksamkeit des Betrachters, und mit ihr das Mitleid und die Rührung, die er beim Anblick des Kleinen empfindet, wieder zurück auf die Tote. Es findet eine Art von „Emotionsübertragung“ statt; die rührende Darstellung des Kindes verstärkt die Sensibilität und Empfänglichkeit für die gesamte Trauersituation.22 Dies gilt in besonderem Maße, wenn die In-teraktion zwischen der verstorbenen Mutter und den hinterbliebenden Kindern

möglichst großen Effekt erreichen soll; vgl. Stewart 172: „Realism is different from naturalism. Greek artists sought a natural look from the beginning, but achieved it by inventing generalized and visually satisfying conventions (...). The „Greek ideal“ is the general and typical, the highst common factor in human and animal.“

18 Wie z.B. der dicklichen, weichen Körper und runden Köpfe bei Kleinkindern: Clair-mont (1993a) Nr. 1.610; 1.660.

19 Bei Kleinkindern das Sitzen oder Herumkrabbeln auf dem Boden: Clairmont (1993a) Nr. 1.715; bei größeren Kindern, die schon stehen können, die Angewohnheit, sich auf die Fußspitzen zu stellen, um dadurch zu „wachsen“ und ihr Ziel besser zu erreichen (ebd. Nr. 1.700; 1.708) oder jemandem entgegenzulaufen (ebd. Nr. 1.972).

20 Dies ist umso wahrscheinlicher, je mehr Raum die Darstellung des Kindes einnimmt. Die Funktion solcher besonderer Motive als „eye-catcher“ darf nicht unterschätzt wer-den, da das Grabmal vermutlich nicht nur der Erinnerung an den Verstorbenen dienen, sondern ein bestimmtes Trauerverhalten auslösen sollte; zu Trauerriten am Grab: Gar-land (1985) 104ff.; Himmelmann (1999) 17.

21 Manchmal wird das Element der Bewegung auch von anderen Personen ausgefüllt, z.B. wenn Dienerinnen der Mutter mit ausgestreckten Armen deren vollständig gewickelte und damit bewegungsunfähige Kinder reichen: Clairmont (1993a) Nr. 2.780a; 2.786; 2.806; das geschnürte Kind symbolisiert hier größte Abhängigkeit und Hilflosigkeit.

22 Dickmann (2002) 311: „Die genauere Beobachtung kindlicher Regungen dient hier of-fensichtlich der eindrücklicheren Schilderung und emotionalen Aufladung der Szene.“

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als unwiederbringlich gestört gekennzeichnet ist. Im Fall der Phylonoe steht das drängende Suchen des kleinen Kindes nach der Aufmerksamkeit seiner Mutter in starkem Kontrast zu deren ruhender Pose. Die körperliche Nähe zwischen beiden findet keine Entsprechung auf emotionaler Ebene: Phylonoe betrachtet ihr kleines Kind, wie es sich ihr entgegenstreckt, aber ihr Blick wirkt weniger aufmerksam und beobachtend als abgeklärt und versunken. Ihre Körperhal-tung schließlich betont nachdrücklich die Kluft, die sich zwischen Lebendem und Toter aufgetan hat.23 Sie zeigt keinerlei Anzeichen einer Reaktion auf das fordernde Kind: die linke Hand liegt matt im Schoß, mit der rechten, die die kleine ausgestreckte Linke beinahe zu berühren scheint, stützt sie in typischem Trauergestus ihr Kinn beim traurigen Blick auf ihr lebendiges Kind.24

Die Kinderdarstellung erfüllt in diesem Rahmen also zwei Funktionen: sie symbolisiert einerseits einen bestimmten gesellschaftlichen Status (Eltern-schaft), dient andererseits aber auch gleichzeitig zur emotionalen Verstärkung des Bildeindruckes. Dies gilt nicht nur für den Bildtypus der Frauengemachsze-nen: auch Männer werden, zwar nicht häufig, aber doch zuweilen in ähnlicher Pose zusammen mit ihren Söhnen (Abb. 3) und sogar Töchtern dargestellt25,

23 Die „Entrücktheit“ der Verstorbenen, die auf Anteilnahme und Gesten der Hinter-bliebenen nicht reagieren, sondern in sich selbst versunken sind, findet sich als poin-tierendes Gestaltungselement auch häufig in anderen Bildtypen: Himmelmann (1999) 65ff. Es gibt auch kritische Stimmen zu dieser Interpretation: Bergemann 47f.

24 S. z.B. Clairmont (1993a) Nr. 2.850: die Tote blickt traurig auf ihren Sohn, der mit auf ihre Knie gelegten Händen nahe bei ihr steht; sein Blick aber findet den ihren nicht mehr, sondern verliert sich in anderer Richtung. Ein anderes Beispiel (ebd. Nr. 1.660) läßt trotz des Blickkontakts zwischen Mutter und Kind die Zurückhaltung der Toten an deren Haltung erkennen: sie zieht die Rechte zurück und legt sie mit dem ganzen Arm nach hinten über die Stuhllehne.

25 So z.B. im Falle des Schusters Xanthippos (Clairmont [1993a] Nr. 1.630), der, auf einem Stuhl sitzend, seinen Blick geradeaus auf einen Leisten richtet, den er in der rech-ten Hand auf Augenhöhe hält; die starke Linke jedoch legt sich um die zarten Schultern eines kleinen Mädchens, dessen Köpfchen kaum die Kniehöhe des Vaters erreicht. Es steht im Bildvordergrund vor der Stuhlseite, den Rücken dem Betrachter zugewandt, und streckt sein linkes Ärmchen dem Vater entgegen, dessen einzige Reaktion aber das gedankenverlorene Umfassen der kleinen Schulter ist. Die größere Tochter, die direkt vor Xanthippos’ Knien steht, erfährt überhaupt keine Beachtung (vgl. auch ebd. Nr. 1.690, das nach dieser Vorlage gearbeitet sein könnte (Clairmont [1993b] 412), aber in der Geste des kleineren Kindes und des Vaters bei weitem nicht dieselbe Aussagekraft erreicht). Auch eine ionische Arbeit des vierten Jahrhunderts v. Chr. (Abb. 3) zeigt einen sitzen-den Mann, der auf den vor ihm stehenden größeren Knaben mit Schultafel und einer wohl intendierten Familienähnlichkeit überhaupt nicht reagiert. Er starrt stattdessen geistesabwesend auf einen Apfel, den er in der über dem Knie ausgestreckten Rech-ten hält; nach diesem aber reckt sich auch wieder ein kleines Kind mit ausgestreckten Ärmchen, ohne den jungen Vater (?) aber auf irgendeine Art und Weise erreichen zu können: Pfuhl–Möbius Nr. 57.

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Dexiosisszenen mit Kindern bereichert.26 Auch das Thema „Jüngling mit Pais“27 be-dient sich der Doppelaussage der Kinder-darstellung, allerdings mit einer anderen Gewichtung der beiden Aspekte: hier steht – in Form des Kindsklaven – die Funkti-on des Statussymbols im Vordergrund, die Emotionalisierung durch den kleinen Die-ner ist sekundär. Nicht immer interagiert er mit seinem Herrn, sondern nimmt oft auch weniger Raum in der Darstellung ein als die Kinder in den bisher besprochenen Szenen, indem er z.B. mit auf die Knie ge-legtem Kopf etwas abseits sitzt, ohne von seinem Herrn wahrgenommen zu werden.28 Hier wird die emotionalisierende Wirkung eines vergeblich kontaktsuchenden Kindes ersetzt durch den rührenden Ausdruck offe-ner Trauer, den das Kind zur Schau trägt: das bekannteste Beispiel dieses Typus stellt wohl die spätklassische Ilissosstele dar, deren Bildfeld dominiert wird durch einen Jüngling, der an einen Pfeiler gelehnt mit lässig gekreuzten Beinen dem Blick des Betrachters frontal begegnet, während ein kleiner Pais, der auf den Stufen des Pfeilers sitzt und den Kopf auf den über die angezogenen Knie gelegten Arm gebettet hat, im schmalen Raum zwischen dem Knie des Jünglings und dem Bildrand kauert und trauert.29

26 Clairmont (1993a) Nr. 2.846b; 2.848a; 2.851: die emotionale Verbundenheit signa-lisierende Geste der Dexiosis (Neumann, Gerhard: Gesten und Gebärden in der grie-chischen Kunst [Berlin 1965] 49; Schmaltz [1983] 210; Himmelmann [1999] 114; Bergemann 61f.) wird durch das vertrauensvolle Anlehnungsbedürfnis des Kindes noch unterstrichen. Manchmal bestimmt die ohnehin schon sehr emotionale Sphäre der De-xiosis aber auch die Gesamtaussage der Darstellung so sehr, daß für das Kind nicht mehr viel Platz bleibt – weder an tatsächlichem Raum noch an Aussagekraft. Dies ist der Fall z.B. bei der Stele der Sostrate (Clairmont [1993a] Nr. 3.846), deren Mutter eine eher unkindlich wirkende kleine Schwester an der Hand hält; hier geht es nur darum zu zeigen, daß noch ein zweites Kind vorhanden ist.

27 Z.B. Clairmont (1993a) Nr. 1.550; 2.949.28 Ebd. Nr. 2.954f.; 2.960. 29 Ebd. Nr. 2.950.

Abb. 3: Grabstele aus Amisus (Ende 5. Jh. v. Chr.). Istanbul, Archäologisches Museum.

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2.1.2. Hellenistische Grabreliefs

Die situativ darstellende Typenvielfalt der klassischen attischen Reliefs beginnt schon in der Mitte des vierten Jahrhunderts v. Chr. zu schwinden und wird durch Bildkompositionen von allgemeinerer Aussagekraft ersetzt.30 Es ist nicht sicher, in welchem Ausmaß der Erlaß des Gräberluxusverbots durch Demetrios von Phaleron im Jahr 317 v. Chr. (?) diese bereits vorhandene Tendenz, die frü-here Themenvielfalt aufzugeben,31 zusätzlich beeinflußt durch eine erzwungene „Nivellierung der figürlichen Darstellung auf ein vereinheitlichtes bürgerliches Erscheinungsbild“32.

Die Grabmalproduktion konzentriert sich nun eher auf den ostgriechischen Raum, für den bis zu dieser Zeit nur eine verhältnismäßig geringe Anzahl an Funden zu verzeichnen ist.33 Im Laufe des dritten Jahrhunderts, für das eben-falls nur eine kleine Zahl von Reliefwerken bekannt ist,34 bildet sich hier ein überregionaler, stark vereinheitlichender Stil heraus, dessen Typik zu Beginn des zweiten Jahrhunderts voll entwickelt ist und sich für zwei Jahrhunderte bis zur Kaiserzeit nicht mehr verändern wird.35 Obwohl es lokale Vorlieben für bestimmte Motive gibt – z.B. das des Totenmahls in Samos oder das des Handschlags zwischen Mann und Frau in der kykladischen Reliefkunst36 –, verbinden alle hellenistischen Reliefs gemeinsame Gestaltungskonventionen: die dargestellten Figuren besitzen kaum individuelle Züge wie Alterszeichen o.ä.;37 sie stehen meist frontal zum Betrachter und wenden den Blick aus dem Bild heraus, häufig auch dann, wenn sie mit einer anderen Person interagieren, wodurch sie selbst bei einer in der klassischen Grabkunst noch als tiefemotio-nal verstandenen Geste wie der Dexiosis38 merkwürdig distanziert und vom

30 Vgl. Breuer 74f.: Mehrfigurige Familiendarstellungen heben die situative Stimmung, die der Darstellung einer jungen Frau in der Abgeschlossenheit ihres Gemachs oder einem Jüngling im Palästrakontext anhaftet, auf und überführen die einzelnen Bild-typen in ein „übersituatives Familienbild“.

31 Vgl. zu dieser schwierigen Frage die Diskussion bei Meyer, Marion: Die griechischen Urkundenreliefs (Berlin 1989) 258ff. Ich danke Prof. Sinn für diesen Hinweis.

32 Breuer 75.33 Clairmont (1993b) 133. 34 Pfuhl–Möbius I/1,42; Hesberg (1988) 309.35 Pfuhl–Möbius I/1,42; Smith bietet eine kurze Zusammenfassung zur Stelengestaltung

insgesamt: Smith 188f.36 Eine zusammenfassende Dastellung der verschiedenen Gebiete und der primär dort

auftretenden Motive findet sich bei: Pfuhl–Möbius I/1,41f; Schmaltz (1983) 224ff.37 Pfuhl–Möbius I/1,61.38 Vgl. S. 34 Anm. 26.

Das hinterbliebene Kind

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Geschehen isoliert wirken können.39 Auch die Haltung der Verstorbenen be-schränkt sich auf wenige, festgelegten Posen mit nur geringem Variationsspiel-raum – die Männer erscheinen meist wie Redner (Normaltypus), die Frauen in der Pudicitia-Haltung,40 beide Posen vermitteln durch die besondere Wert-schätzung „anständiger“ Bekleidung einen Ausdruck größter Besonnenheit und Selbstbeherrschung.

Das Ergebnis ist ein statuarischer Typus, der sicher auch die Assoziation mit Ehrenbürgerstatuen der Zeit bewirken will41 und sich in einen Bildraum eingebunden zeigt, der ohne jede Rücksicht auf räumlich-zeitliche Logik mit den der Person beigeordneten Attributen gefüllt ist. Dabei erleichtert die Ein-tönigkeit der Personendarstellungen und die meist eindeutige thematische Zu-ordnung der Bildzeichen das schnelle Erfassen der intendierten Bildaussage.42 Denn die Bedeutung dieser Attribute, die Fähigkeiten und Eigenschaften, aber auch abstrakte Tugendbegriffe symbolisieren können,43 hat sich gegenüber den klassischen Reliefs entschieden verändert:44 nur mit ihrer Hilfe gelingt nun ein vollständiges Charakterbild des Toten, das sich der Betrachter in eigener kom-binatorischer Leistung erschließen muß.45 Die Darstellung des Verstorbenen im Sinne eines Musterbürgertums – als „überlebensgroße Tugendbolde“46 – überlagert hierbei alle anderen möglichen, individuelleren Bildaussagen,47 und

39 Breuer 33f.; Bergemann 91. 40 Eine Beschreibung dieser Posen auch im Blick auf die Ehrenstatuen der Zeit bei: I. Hu-

ber 191; Pfuhl–Möbius I/1,61ff.; P. Zanker (1993) 216 f., 225; zu Details sowie Aussa-ge des Pudicitia-Motivs: Eule, J. Cordelia: Hellenistische Bürgerinnen aus Kleinasien. Weibliche Gewandstatuen in ihrem antiken Kontext (Istanbul 2001)15ff., bes. 21ff.

41 Pfanner 176; Pfuhl–Möbius I/1,45. 42 Breuer 38. 43 Vgl. das immer wieder behandelte Beispiel der Menophila, deren Relief, wie das zu-

gehörige Epigramm erläutert, nebst anderem ein Buch als Zeichen der Weisheit, ein Alpha zur Bezeichnung ihres Einzelkindstatus und einen Korb als Symbol ihrer ausge-glichenen Tugend zeigt: Hesberg (1988) 313; Smith 189; Schmidt (1991) 139ff.

44 Auf den klassischen Stelen haben die dargestellten Dinge keine charakterisierende Funktion, sondern bringen v.a. „atmosphärische Qualitäten und Stimmungswerte zum Ausdruck“: Hesberg (1988) 315.

45 „Ihr Sinngehalt erschließt sich dem Besucher des Grabes nur, wenn er sie einzeln befragt und gedanklich daraus assoziativ eine Synthese versucht“: Hesberg (1988) 320. Ein Extrem dieser Attributhäufung stellen Reliefs dar, die nur noch Attribute abbilden, aber keine Person mehr: vgl. Fabricius 52.

46 Wörrle 244. 47 So v.a. auch die Darstellung von Gefühlen, die auf den klassischen Stelen nicht fehlen

durfte: „Der kohärenten Darstellungsart der Reliefs des vierten Jahrhunderts steht da-mit im zweiten Jahrhundert ein abstraktes Konstrukt gegenüber, das sich aus einer Viel-zahl getrennt wahrzunehmender Zeichen mit jeweils eigener Botschaft zusammensetzt. Diese Botschaften waren also offensichtlich wichtiger als die Vermittlung von Gefühl.

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führt zu eigenartig additiven Bildkom-positionen, die weder an eine eindeuti-ge Zeitebene noch einen fest definierten Raum als Handlungsrahmen gebunden sind.48 So zeigt ein Grabrelief aus Smyr-na (Abb. 4) einen Jüngling in charak-teristischer Pose und mit zahlreichem Beiwerk. Die Botschaft dieses Grabmals könnte ein damaliger Betrachter unge-fähr so „gelesen“ haben: Der Verstorbe-ne hatte den Ephebendienst bereits ab-geleistet und war als nšoj (junger Neu-bürger) anzusprechen, denn das ihn von links anspringende Melitäerhündchen49 verweist auf ein noch jugendliches Al-ter, die Herme in Kombination nicht mit der Chlamys, sondern Chiton und Mantel auf die geleistete Ephebie.50 Er zeigte aber auch in seinen noch jungen Jahren bereits große Bescheidenheit: die Pose mit unter dem fest gewickelten Mantel verborgenen Armen, der Normaltypus der hellenistischen Männerdar-stellungen,51 sowie der auf den Boden gesenkte Blick symbolisieren swfrosÚnh und a„dèj, wesentliche Bürgertugenden. Daneben zeichnete ihn ein obligato-risch großer Enthusiasmus für die geistige und körperliche Bildung aus:52 in der rechten Ecke des Bildhintergrundes sind eine halb aufgerollte Buchrolle und ein Tintenfaß erkennbar, die an einer Herme lehnen. Er erfüllte also alle Erwartungen, die man an einen aus gutbürgerlichem Hause stammenden Sohn stellen kann, dem es an keinerlei standesgemäßer Ausstattung fehlt (zur Rech-ten steht sein kleiner Diener, der dem Jüngling zugehörige pa‹j). Wäre er nicht gestorben (die Schlange am Baum),53 so wäre ihm mit Recht und Bestimmtheit später die Verleihung eines Ehrenkranzes zuteil geworden (abgebildet in Form

Die Figuren erleiden dadurch einen Verlust an Körperlichkeit, der sie unfähig macht, über eben die Inhalte, die mit ihrer unorganisch-statuarischen Präsentation ausgedrückt werden sollen, hinaus auch Gefühle zu tragen“: Breuer 62.

48 Vgl. Fabricius 53f.; Pfanner 174. 49 Vgl. S. 46 Anm. 100.50 Schmidt (1991) 131. 51 I. Huber 191. 52 Pfuhl–Möbius I/1,69.53 Vgl. S. 49.

Abb. 4: Grabrelief aus Smyrna (2. Jh. v. Chr.), Leiden, Rijksmuseum.

Das hinterbliebene Kind

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zweier Olivenzweige in der Mitte des Flachbogens über dem Bildfeld, die das Wort Ð dÁmoj rahmen).

Doch konzentrieren wir uns auf die Kinderdarstellung. Der eben illustrier-te Bildtypus „Jüngling mit Pais“ ist, wie wir gesehen haben, bereits auf klassi-schen Stelen vertreten. Auf hellenistischen Reliefs verbreitet sich das Auftreten des Kindsklaven über dieses Thema hinaus: der kleine Diener auf der behan-delten Stele steht nur stellvertretend für ein ganzes Heer von „Kollegen“, die in standardisierter Form alle hellenistischen Grabreliefs bevölkern. Jeder Bürger, jede Bürgerin führt in den Darstellungen mindestens einen kleinen Diener bzw. eine kleine Dienerin mit sich. Sie stehen frei am Bildrand oder lehnen sich gegen die Seiten des Naiskos, meist im ihnen allein vorbehaltenen Trauergestus mit gekreuzten Beinen, den Kopf auf eine Hand gestützt und/oder einen Arm quer über die Brust, die Hand auf die Schulter gelegt.54 Sie rahmen auf diese Weise gewissermaßen das hier repräsentierte bürgerliche Leben, wobei sie die Standardbotschaft „Trauer“ mitteilen.55 Sie sind immer kleiner dargestellt als ihre Herren und Herrinnen, auch wenn diese selbst Kinder sind,56 und auf den ersten Blick könnte man vermuten, es handle sich hier um eine Frage von „Bedeutungsgröße“. Dagegen sprechen aber die Proportionen der Kleinen; wir begegnen vielmehr der merkwürdigen Eigenart der hellenistischen Grabreliefs, daß alle diese Diener – in übergenauer Umsetzung des Begriffs pa‹j – Kinder sind,57 die meist nur an ihrer Kleidung und den festgelegten Trauergesten von den – sogar in mehrfigurigen Bildtypen wie dem Totenmahl58 – selten darge-stellten Kindern der Verstorbenen unterschieden werden können.

Die eingangs beschriebenen starren Gestaltungskonventionen der Reliefs59 bedingen auch das Verschwinden der kinderbevölkerten Frauengemachszenen, die in der klassischen Reliefkunst so zahlreich sind. Die Frauenfiguren sollen nun primär das Bild „matronaler Würde“60 und bürgerlicher Rollenerfüllung vermitteln; folglich werden sie nicht in privaten Situationen dargestellt und interagieren genauso wenig wie die Männerfiguren mit Angehörigen ihrer Fa-milie. So zeigen dann auch nur wenige Beispiele die Verstorbene mit dem eige-

54 I. Huber 192. 55 Auch wenn die Diener die einzigen sind, die überhaupt Trauer ausdrücken (Ridgway

[1990] 191; [1993] 233), bleibt diese doch auf festgelegte Gesten beschränkt und nutzt ihre Kindlichkeit als Möglichkeit einer emotionaleren Gestaltung nicht aus.

56 Gerade in diesem Fall schrumpfen die kleinen Diener mitunter auf zwergenhafte Grö-ße.

57 Natürlich gibt es auch eine große Anzahl von gröberen Arbeiten; hier verlieren sich die kindlichen Proportionen und es bleiben gnomenhafte Zwergdiener und -dienerinnen übrig.

58 Fabricius 102.59 S. auch S. 35f.60 Schmaltz (1983) 238.

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nen Kind,61 der Rest konzentriert sich auf das ebenfalls schon aus dem vierten Jahrhundert bekannte Thema „Herrin mit Dienerin“ – wobei letztere dann wieder als Kinddienerin dargestellt ist.

Die Abbildung von Kind(dien)ern als Zusatzpersonal ist somit nicht wie in der klassischen attischen Kunst an einen bestimmten Bildtypus gebunden, sie wird vielmehr so geläufig, daß daneben gar keine Darstellungen von er-wachsenen Dienern mehr zu finden sind.62 Die wenigen Beispiele an wirkli-chen Kinderdarstellungen aber (d.h. hier: in ihrem Status als Hinterbliebene verstorbener Eltern) zeigen ebenso wenig Individualität wie die standardisierten Dienerfiguren. Beide erfüllen in ihrer austauschbaren Gestaltungsweise ledig-lich eine der Funktionen, die wir für Kinderdarstellungen in der klassischen Reliefkunst festgestellt haben: die eines beliebig einsetzbaren Attributs63 mit der Aussagekraft eines Statussymbols. Die Elternschaft als Status spielt hierbei nach der Zahl der abgebildeten Kinder eine geringere Rolle;64 der Kinddiener aber wird, ohne ihn in Beziehung mit der abgebildeten Person zu setzen, zu einen Standardelement der Darstellung, das in Kombination mit anderen abgebilde-ten Attributen die Gesamtcharakterisierung des Verstorbenen im Sinne eines Bürgerideals ermöglicht.

Diese einseitige Verwendung von Kind(dien)erdarstellungen fordert zwar die Präsenz von Kinderfiguren, macht aber die Ausgestaltung von individuel-ler Kindlichkeit überflüssig. Die Darstellung des Verstorbenen will die Erwar-tungshaltung einer Öffentlichkeit erfüllen, die einen immer differenzierteren bürgerlichen Wertekanon zum alleinigen Maßstab ihres Urteils macht; einer Emotionalisierung, wie sie in klassischen Reliefs durch die Kinderdarstellungen auch erreicht werden konnte, wird in diesem Kontext kein spezifischer Aussa-gewert und somit keine Wichtigkeit beigemessen.65 Ganz verloren geht dieses Element mit seinem Verschwinden aus dem Wortschatz der Bildsprache jedoch nicht, wie ein Blick auf die Epigramme nun zeigen wird.

61 S. z.B. B6 (wobei hier die Tochter auch verstorben ist). 62 Pfuhl–Möbius I/1,67. 63 Vgl. P. Zanker (1993) 223. 64 „So wird das Thema Familie auf eine Ebene gestellt mit den anderen Bildzeichen, die

(...) bürgerliche Tugenden versinnbildlichen. Wie sie hat das Thema der Familie also die Qualität einer bürgerlichen Tugend. Allein dieser ethisch adhortative Aspekt der Fami-lie war für das öffentlichkeitsorientierte Selbstdarstellungsinteresse des kleinasiatischen Städters (...) relevant.“: Breuer 37.

65 „Here the image of statuesque dignity is clearly more highly prized than the expression of emotion. (…) the stelai are never concerned with private or personal matters, only with a public presentation embodying universally accepted norms of behaviour.” (P. Zanker [1993] 223 f.); vgl. Breuer 37: „Persönliche Gefühle (...) waren offenbar kein zeigbarer Wert und sie galt es von den Reliefdarstellungen auszuklammern“ und 39; vgl. auch Smith 188.

Das hinterbliebene Kind

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Das Kind und der Tod40

2.1.3. Hellenistische Grabepigramme

Ab dem vierten Jahrhundert v. Chr. mehrt sich die Zahl der Grabinschriften beträchtlich, die Länge der einzelnen Epigramme wächst ebenfalls zusehens.66 Der Grund hierfür liegt nicht nur in einer zunehmenden Differenzierung des eigentlich unverändert aus dem fünften Jahrhundert übernommenen Werteka-nons67, sondern v.a. auch in der Entdeckung des Epigramms als zusätzlichem Informationsträger. Nun finden Lebensdaten wie Alter, Herkunft, Beruf u.ä. ihren Platz neben der standardisierten Aufzählung bürgerlicher Tugenden.68 Diese Entwicklung dauert im Hellenismus an und erfährt noch zusätzliche Er-weiterungen: Die besagten Tugenden, die in den bildlichen Darstellungen nun auch in Form festgelegter Attribute mitgeteilt werden können, werden oft in der ausführlichen Erklärung ihrer Beziehung zum Gemeinwesen noch unter-strichen,69 Bildung wird zu einem eigenständigen Wert des Bürgers und fin-det lobende Erwähnung.70 Als einen unmittelbaren Effekt dieser bürgerlichen „Bildungswelle“ könnte man die gleichzeitig in den Grabepigrammen zuneh-mend feststellbare literarische Überformung sehen, die diese oft in die Nähe der Kunstepigramme rücken läßt bzw. den Kunstepigrammen den Anschein von Authentizität erleichtert. Die Lebensumstände der verstorbenen Person werden nun weiter ausgeschmückt, um deren Schicksal im dramatisch klagenden Ton71 des Epigramms unmittelbarer und anrührender zu machen: man erkennt nun das Potential der Inschrift, nicht visualisierbare Sachverhalte auszudrücken und damit die bislang eher nüchtern mitgeteilten Informationen zu emotionalisie-ren.

Im Kontext dieser Entwicklung finden nun auch wieder Kinder Erwäh-nung. Auf den ersten Blick scheint der häufig beinahe formelhafte Verweis auf Ehemann und Kind, die nun zurückbleiben müssen, eine Information zu sein, die unter den Bereich „Lebensdaten“ fällt – es wird so der Familienstand der Verstorbenen präzisiert – verheiratet, Kind(er) –72 und es ist auch nur normal, daß das Zurücklassen von Kindern einen besonderen Trauerumstand bedeutet.

66 Peek (1960) 31; diese Entwicklung hat in der wachsenden Zahl und Größe von privaten Grabreliefs ihre Entsprechung: Breuer 41.

67 Breuer 55.68 Breuer 42; Peek (1960) 32; vgl. P. Zanker (1993) 227.69 Schmidt (1991) 132ff.70 Schmidt (1991) 127ff.; in der Reliefkunst ist, wie bereits gesehen (Abb. 4), die Schrift-

rolle als Symbol der Bildung von nun an ein häufiges auftretendes Attribut.71 Peek (1960) 31f. 72 Breuer versteht die Erwähnung der Angehörigen im Sinne einer indirekten Wertprä-

dikation, der enge Bereich des o�koj als Wirkungsfeld setze auch den Maßstab für die Bewertung der Verstorbenen: Breuer 82.

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Es ist allerdings auffällig – wollte man die Aussage der Epigramme wörtlich nehmen –, daß immer nur Eltern von Klein(st)kindern versterben; jedenfalls legen dies die beschreibenden Bezeichnungen der Hinterbliebenen nahe: die Kinder sind immer n»pioi, nhp…acoi, nehgene‹j.73 Bei der Erwähnung von Kindern ohne Altersangabe wird meist deren nun eintretende Ñrfan…a betont, was – da der Ehemann oft im selben Satz noch als Hinterbliebener erwähnt wird74 – eher das große Abhängigkeits – und Vertrauensverhältnis zwischen Kind(ern) und Mutter betonen dürfte als auf eine wirkliche Verwaisung schlie-ßen läßt. Ältere Kinder scheinen hier keine Rolle zu spielen. Nur ein einziges, späteres Epigramm erwähnt einen ausdrücklich achtjährigen Jungen, den die verstorbene Mutter nun bei seinem Vater zurücklassen muß.75 Viel wirkungsvoller ist da schon das Bild eines zurückgelassenen Säuglings, erst recht, wenn dessen hilflose Vereinsamung in einem auch heute noch völlig nachvollziehbaren Vergleich eindrücklich gemacht wird:

n»pion ™n qal£moisin œcwn bršfoj ÑrfanÒn, éj tij Seir¾n teiramšna poll£kij ™x stÒmatoj76

In diesem Fall spricht übrigens ein jungverstorbener Vater – die Verwendung des Motivs beschränkt sich nicht auf Frauenepigramme.77 Dort wiederum be-gegnet oft der gleiche Topos wie in den Kinderinschriften, wenn betont wird, der/die Kleine sei der Mutter geradezu von der Brust gerissen worden;78 es wird darauf aufmerksam gemacht, daß die Verstorbene ein Kind hinterläßt, das so klein ist, daß es noch gestillt werden muß79 oder betrauert, daß die jungverstor-bene Frau von der Moira dieser zukünftigen Freuden beraubt worden sei:80

scetl…h: oÙ g¦r œmelle tÕ n»pion ¢nkalie‹sqai mastù te ¢rdeÚsein ce‹loj ˜o‹o bršfouj:81

73 Z.B. Peek (1955) Nr. 775, 802, 1119; vgl. aber B6.74 Z.B. Peek (1955) Nr. 548. 75 Datiert auf das 1./2. Jahrhundert. n. Chr.: Peek (1955) Nr. 973. 76 Peek (1955) Nr. 1918,17f. = (1960) Nr. 445,17f. :

„Zuhause (habe ich) einen kleinen verlassenen Säugling, der sich, wie eine Sirene, immer wieder müde schreit.“

77 S. z.B. auch Peek (1955) Nr. 632; 704. 78 S. S. 65 Anm. 192.79 Peek (1955) Nr. 1079.80 Zum Topos der Kinderlosigkeit: Griessmair 75ff. 81 Peek (1955) Nr. 1606,3f. = (1960) Nr. 142,3f:

Das hinterbliebene Kind

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Das Kind und der Tod42

Dieser wiederholt auftretende Topos und die zunehmende Ausschmückung der Situation „verlassenes Kleinkind“ legt die Vermutung nahe, daß es sich bei den vereinsamten kleinen und zuweilen verzweifelt weinenden Kindern der Epi-gramme um die gleichen – d.h. Kinderdarstellungen mit der gleichen Funktion – handelt, die in der klassischen Reliefkunst mit ihrer rührend realistischen Darstellung das Mitleid für den/die dargestellten Verstorbene(n) erhöhen soll-ten. Wie bei den bildlichen Darstellungen wird dieser Effekt auch bei Epigram-men besonders gut dann erreicht, wenn die Charakteristika des kleinen Kindes so überzeugend erfaßt sind, daß der Leser es sich so vor das geistige Auge rufen kann, als sähe er es tatsächlich bildlich dargestellt:

[mÁter ™]m», kalšw se. t… tÕ xšnon; oÙk ™sa�eij[paidÕ]j Ñduromšnoio kaˆ ¥lliton ¥lgoj œcontoj;[n]aˆ l…tomai, gluker¾n ¢pÕ ce…leoj œkbale fwn¾næj p£roj. oÙ lalšeij kaˆ Ñre…nomai, ¹ d� siwp»mhd�n ¢paggšllousa polÝ plšon ¥lgoj ¢šxei.e„ q£nej, æj ™nšpousi, t… moi biÒtoio tÕ kšrdoj;nÒsfi sšqen g¦r ™moˆ zw¾ qan£toio cere…wn.82

Diese verzweifelte Klage eines verwaisten Kleinkindes,83 gefunden auf einer Grabstele aus Athen,84 stellt in verschiedener Hinsicht einen Höhepunkt helle-nistischer Epigrammkunst dar. Wird auch immer wieder auf die im Vergleich zu klassischen Grabinschriften gesteigerte Emotionalität und Individualität der hellenistischen Epigramme hingewiesen, so baut doch in diesem Fall die ein-fallsreiche Verlagerung von äußerem Geschehen auf inneres Erleben, das Proje-zieren der Trauersituation, wie sie zahllose Inschriften in ihren äußeren Erschei-nungsformen geradezu topisch berichten, auf die Innensicht eines von anderen, ihm wichtigen und in ihrem Fehlen nun unverständlichen Verhaltensweisen verstörten Kindes eine emotionale Spannung auf, die selbst für hellenistische Epigramme außergewöhnlich ist. Das kleine Kind merkt intuitiv, daß etwas nicht in Ordnung ist, und genauso intuitiv ruft es umgehend nach seiner wich-tigsten Bezugsperson, seiner Mutter; doch sie, die sonst immer da ist, reagiert

„Die Arme: denn sie sollte nicht ihr Kleines in den Arm nehmen und ihres Kindes Lippen (mit Milch) benetzen an ihrer Brust.“; vgl. B3.

82 Peek (1955) Nr. 1920,1–7; Übers. s. S. 27. 83 Peek bietet eine zweite, nicht völlig überzeugende Interpretation durch eine andere

Ergänzung der lacuna: Peek (1960) 39. Das Epigramm bleibt außergewöhnlich selbst dann, wenn es „nur“ den gängigen Kind-Topos ausgestaltet; ein suizidgefährdeter Ehe-mann, der sein Leben völlig von dem seiner Frau abhängig macht, scheint mir zu aus-gefallen.

84 Zur Datierung s. S. 28 Anm. 3.

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nicht. Nun wird insistiert: sollte die Mutter die Situation noch nicht begriffen haben, so soll sie wissen: ja, du hast richtig gehört, ich weine – also tu, was du als Mutter tun mußt, komm und tröste mich! Doch wieder antwortet nur beängstigendes Schweigen, und die Panik des Kindes wächst weiter. Die Dy-namik der Interaktion zwischen Müttern und ihren kleinen Kindern, hier die einer gestörten Kommunikation zwischen beiden, ist perfekt beobachtet und umgesetzt.

Doch auch in diesem Fall, genau wie bei den klassischen Reliefs, darf man über der kunstreichen Gestaltung die eigentliche Aussage nicht aus den Augen verlieren. Es „spricht“ zwar das Kind, aber der eigentliche Überraschungseffekt liegt darin, daß der Leser, der über fünf Verse hinweg seine Information nur über die Wahrnehmung des Kindes bezieht, und der, da es sich um ein Grab-epigramm handelt, wohl am ehesten den Schluß zieht, das Kind sei tot, im nächsten Vers unvermittelt (und wieder indirekt über das, was das Kind in sei-ner Umgebung aufschnappt) erfährt, daß es die Mutter ist, die gestorben ist. Ihr gilt das ganze Epigramm, ihr Tod wird auf diese ungewöhnliche Weise thema-tisiert. Es geht, bei aller Einfühlsamkeit, wiederum nicht primär um das Kind; es funktioniert als „eye-catcher“, bindet den Leser – der mit Kindern gewöhn-lich noch mehr Mitleid empfindet als mit Erwachsenen – zuerst emotional ein und verweist dann auf das Schicksal der jungen Mutter, die in ihrer Familie schmerzlich vermißt wird und auf die das Mitleid übertragen werden soll, das die Verzweiflung des Kleinen hervorruft. Auch die folgende Bemerkung – der Kleine will eigentlich auch nicht mehr leben, wenn die Mutter wirklich tot ist – wirkt wiederum emotionsverstärkend, da sie nicht nur Leid, sondern sogar den Tod eines kleinen Kindes evoziert.

Die Tatsache, daß Epigramme ab der Mitte des vierten Jahrhunderts v. Chr. und vor allem im Hellenismus zunehmend emotionalere Töne anschlagen, ist oft festgestellt worden,85 auch, daß sich dadurch ein eigenartiger Kontrast zwi-schen eben dieser Emotionalität und den so standardisierten Stilisierungskrite-rien unterworfenen Reliefbildern ergibt, der nur auflösbar erscheint, wenn man die emotionaleren Inschriften als komplementäre Ergänzung nicht-emotionaler Darstellungen begreift: die Epigramme sind nun in der Lage, dem Vereinfa-chungscharakter der hellenistischen Grabkunst mit einer erhöhten Differen-zierung der Darstellung entgegenzuwirken,86 so daß, je nach Wunsch, ein Ge-samteindruck der Persönlichkeit (und nicht nur des Musterbürgercharakters) des Verstorbenen erreicht werden kann, wo das kumulative Abbilden von At-tributen des bürgerlichen Lebens diesen Anspruch zu erfüllen nicht in der Lage ist. An der Darstellung zurückgelassener Kinder ist es möglich zu verfolgen, wie

85 Z.B. Breuer 48; 61. 86 Breuer 61: „Nur eine differenzierte Darstellung des Toten erlangt nämlich die Konkret-

heit, die dem Leser den Verstorbenen in den Einzelbezügen seines Lebens so vorstellbar macht, daß der Leser Mitgefühl entwickeln kann.“

Das hinterbliebene Kind

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Das Kind und der Tod44

sich mit der Vereinfachung der ehemals detailfreudigen Reliefkunst und dem Aufkommen eines absolut auf Bürgerprädikate ausgerichteten Repräsentations-anspruches eine der in der klassischen Grabkunst zu beobachtenden Funktio-nen der Kinderdarstellung, die Emotionalisierung der dargestellten Trauersitua-tion, verlagert. Das Motiv der kleinen Kinder, das diese Wirkung hervorruft, wechselt aus dem Bereich der Kunst, die in die hellenistischen Grabreliefs nur die Funktionalisierung des Kindes als Statussymbol (dies aber in Form eines Standardelements!) übernimmt, in den des Epigramms, das nun kompensiert, was das Bild nicht mehr ausdrücken kann – oder will;87 was aber doch erst das menschliche Gesamtbild schafft, nämlich das Zulassen von Emotionen.

2.2. Das verstorbene Kind

2.2.1. Spätklassische und hellenistische Grabreliefs

Die Darstellungen der hellenistischen Grabreliefs scheinen sich auf den ersten Blick in eine Zeit, in der Skulptur, Kleinkunst und Malerei anteilmäßig mehr detailverliebte Kinderbilder hervorbringen als jemals zuvor, nicht recht einfü-gen zu wollen. Wo auf der einen Seite kindlicher Überschwang und lebendige Dynamik abgebildet werden, herrscht auf der anderen Starre und Unbeweglich-keit; statt lebendigem kindlichem Verhalten bietet die Grabkunst dem Betrach-ter beinahe ausschließlich in topischer Ikonographie erstarrte Aussagemuster. Verständlich wird diese Diskrepanz nur durch die Wirkintention der Darstel-lung, die stets die Gestaltungskriterien diktiert und die Grundlage der sich hier-aus entwickelnden Konventionen bildet; die primäre Funktion der Darstellung bestimmt und verändert deren Ikonographie je nach Bezugsrahmen.88

Welche spezifische Aussage sollte also diese Form der Gestaltung transpor-tieren, warum verzichten die hellenistischen Reliefs auf ein idealistisch-reali-stisches Kinderbild, wie es sich in der Grabkunst der klassischen Zeit bereits ausgebildet hatte?89 Auch bei den Kindern wird nun auf die gleiche Weise, wie

87 Das Motiv bleibt als „Erbe“ des hellenistischen Epigramms als Topos weiter bestehen. Noch im 2./3. Jahrhundert n. Chr. wird innerhalb eines Genrebildes die Plötzlichkeit eines frühen Todes mit den eben noch genossenen „nhpi£coij traul…smasi“ kontrast-iert: Peek (1955) Nr. 977,1.

88 Vgl. Dickmann (2001) 181. 89 Die Einzeldarstellungen verstorbener Kinder auf den klassischen attischen Grabstelen

zu behandeln, würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen; s. die zusammenfassenden Darstellungen bei: Clairmont (1993b) 130ff.; Oakley 177ff.; Scholl 114ff.

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wir es an den hellenistischen Erwachsenenreliefs bereits gesehen haben, die emotionalisierende Wirkung eines solchen Bildes zugunsten anderer „Aussa-gehilfen“ aufgegeben, bestimmter Posen und Attribute, die in der Darstellung wichtige Eigenschaften des kleinen Verstorbenen visualisieren sollen. Sie sind der Schlüssel zum Verständnis des Ganzen: der angestrebte Effekt ist nicht die impulsive Sympathie mit einem möglichst „süß“ dargestellten Kind in einer seiner charakteristischen Posen, sondern die reflektierte Trauer um den Verlust eines Bürgers in spe, wie ihn im Extrem v.a. die smyrnäischen Grabstelen sti-lisieren.

Bevor wir uns jedoch mit den hellenistischen Grabreliefs beschäftigen, müssen wir einen kurzen Blick zurück in das vierte Jahrhundert werfen, der „Hellenistic period ante litteram“.90 Schon manche der spätklassischen Grab-reliefs waren nicht frei von der Tendenz, das Kind auf diese Weise, nämlich durch Attributzugabe, in einen bestimmten Kontext zu setzen und so den ge-scheiterten Hoffnungen der Eltern mittels des Grabmals Ausdruck zu verleihen: Philostratos, ein kleiner „Babbler“, wie ihn seine Eltern im zugehörigen Epi-gramm liebevoll nennen, wirkt in der Darstellung zwar kindlich, aber eher wie ein Zehn- bis Zwölfjähriger als ein Klein-kind im Brabbelalter (A1). Der Diener zu seiner Rechten, seine Nacktheit und der lose über die Schulter gelegte Mantel evo-zieren die Sphäre der Palästra und Philo-stratos’ dort nun nicht mehr stattfinden-de Erfolge – eine Stufe auf dem Weg zum ebenfalls erfolgreichen Polisbürger.91

Die kleine Neiottion (Abb. 5), etwa drei Jahre alt,92 ist dagegen auf den ersten Blick deutlich als Kleinkind gekennzeich-net. Sie hat einen plumpen, rundlichen Kinderkörper, trägt das typische Spiel-gewand kleiner Kinder, einen unter der Brust gegürteten Chiton, und hält einen Spielvogel, wohl eine Gans, in der Rech-ten.93 Gleichzeitig verdient aber der Ge-genstand, auf dem sie sitzt, Beachtung:

90 So Ridgway (1990) 4. 91 So beobachtet von Dickmann (2002) 314. 92 Clairmont (1993a) Nr. 0.857a; Möbius 148. 93 Der Spielvogel könnte neben seiner Symboleigenschaft (Altershinweis) ein Spiel mit

dem Namen des kleinen Mädchens darstellen: NeiÒttion ist das Diminutiv zu neottÒj, „kleiner Vogel“, bedeutet also soviel wie „Nesthäkchen“: Möbius 147.

Das verstorbene Kind

Abb. 5: Grabstele der Neiottion (2. Hälfte d. 4. Jh. v. Chr.). Athen, Nationalmuseum.

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Das Kind und der Tod46

es handelt sich um eine Kleidertruhe,94 die gleichzeitig als Aussteuertruhe sym-bolisch auf die in der Zukunft erwartete Hochzeit Neiottions verweist – das dreijährige Mädchen wird so in einem Aspekt des Bildes zur Braut stilisiert.95 Kürzlich wurde auch die Bedeutung von Puppen in den Darstellungen kleiner Mädchen wie Plangon96 und anderen97 neu bewertet: es könnte sich nicht nur um Spielzeug, sondern auch, wie durch Terrakotten belegt, um Weihegaben für Asklepios handeln, mit denen gewöhnlich kurz vor der Hochzeit für zukünftige Gesundheit und das Gebären von Kindern um göttlichen Beistand gebeten werden soll.

Neben diesen spezifisch konnotierten Attributen zeigen die Darstellungen des Philostratos und der Neiottion auch noch eine weitere Besonderheit, die bereits in die Richtung der hellenistischen Kinderreliefs weist. Beide Kinder werden durch ein anspringendes Hündchen eben als Kinder gekennzeichnet; sie reagieren aber auf die Spielversuche dieses Hündchens überhaupt nicht, son-dern wenden ihren Blick aus dem Bild heraus. Mit wenigen Ausnahmen, die noch in das dritte Jahrhundert fallen,98 ist diese Haltung typisch für Kinderdar-stellungen auf hellenistischen Grabreliefs. Genau wie die Erwachsenen stehen die Kleinen da und blicken auf den Betrachter, interagieren aber – völlig un-kindgemäß – niemals, obwohl in den meisten Fällen Spielgefährten vorhanden sind. Zwar sind nicht oft mehrere Kinder zusammen abgebildet (es handelt sich dann um tote Geschwisterpaare),99 aber die üblichen, schon von den klassischen Grabstelen bekannten Begleiter der Kinder, bestimmte Tiere, fehlen selten: al-len voran das Melitäerhündchen, das fast ausnahmslos als Symboltier des Kin-des abgebildet wird;100 dann, genauso wenig wie die kleinen Hunde individu-elle Lieblingstiere, sondern gemeinhin die Gefährten der Kinder: verschiedene Vögel101 (manchmal sind Hahn,102 (Stein)huhn,103 (Fuchs)gans104 und Taube105

94 Möbius 149f. 95 Lohmann 111. 96 Clairmont (1993a) Nr. 0.869a; vgl. Dickmann (2002) 314.97 Vgl. Neils–Oakley 265 Kat.–Nr. 68. 98 Z.B. Pfuhl–Möbius Nr. 368. 99 Pfuhl–Möbius Nr. 730, 765(?), 766, 767(?). 100 Vgl. Zlotogorska, Maria: Darstellungen von Hunden auf griechischen Grabreliefs. Von

der Archaik bis in die römische Kaiserzeit (Hamburg 1997) 63f. 101 Pfuhl–Möbius Nr. 728 (?), 734, 745, 751.102 Ebd. Nr. 742, 743, 761, 762, 769, 804.103 Ebd. Nr. 744.104 Ebd. Nr. 368, 369, 390, 756, 768, 806 (?).105 Ebd. Nr. 779, 807.

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erkennbar). Weniger verbreitet ist das Häschen106 und das kleine Schwein,107 ein Einzelfall ist ein Schmetterling.108 Häufig provozieren diese Tiere durch ihr Verhalten geradezu eine Reaktion des Kindes, indem sie beispielsweise nach den Früchten109 schnappen, die die Kinder im Gewandbausch oder der Hand halten110 (insbesondere Trauben,111 aber auch einzelne Äpfel,112 Quitten113 und Granatäpfel114), die Kinder scheinen das jedoch kaum wahrzunehmen. Selten sind sie auch wirklich eindeutig als Kinder gekleidet, indem sie etwa einen offenen Peplos oder den kreuzgegürteten Chiton tragen; diese Kinderkleidung ist fast völlig verschwunden und einer Kombination aus Chiton- und Mantel-tracht gewichen, die bei den Jungen sehr der des Normaltypus bei den erwach-senen Männern gleicht und auch bei den Mädchen kaum einen Unterschied zu dem Gewand der erwachsenen Frauen erkennen läßt.

Nur eine weitere Tracht spielt neben dieser Verkleidung als kleine Bürger noch eine wichtige Rolle: die des Ephebenmantels. Die Ephebie, der Zeitraum der besonderen musischen wie körperlichen Ausbildung der jungen Männer im Alter von 19 – 20 Jahren, stellt den entscheidenden Schritt hin zum voll-wertigen Bürger dar, wurde doch das Bürgerrecht nach dessen erfolgreicher Ableistung verliehen;115 Shipley und Hansen bezeichnen die Ephebie sogar als „now the most important public institution“.116 Folglich ist bereits das Tragen der Chlamys, das Zeichen des „Anwärtertums“ (auf das Vollbürgertum), ein Statussymbol und wird „die Uniform hellenistischer Jünglinge“.117 Für die von uns betrachtete Altersgruppe der jüngeren Kinder müßte dies eigentlich nicht von Bedeutung sein, da sie sich noch weit vor der Ephebie befinden. Sie tragen jedoch auf den Reliefbildern, wie bereits erwähnt, in den meisten Fällen keine

106 Ebd. Nr. 726. 107 Ein Relief zeigt einen Hund mit schweineartigem Kopf: „die Länge der Ohren spricht

dagegen, daß etwa ein fertiger Hund auf Wunsch in ein Schwein verwandelt worden wäre“ (Pfuhl–Möbius Nr. 762). Ein Schwein nur noch in einer späteren, kaiserzeit-lichen Arbeit: ebd. Nr. 763.

108 Ebd. Nr. 746. 109 Ein einzelnes Relief zeigt einen Jungen, der in der üblichen Pose keine Traube, sondern

einen Fisch hält: ebd. Nr. 733.110 Zu diesem ausschließlich für Kinder verwendeten ‚Alexenor‘-Typus s. Pfuhl–Möbius

I/1,67. 111 Pfuhl–Möbius Nr. 369, 397, 729, 731, 732, 734f., 742–746, 748–753, 756, 761, 765f.,

768, 798–800, 802(?).112 Ebd. Nr. 731 (?), 766 (?).113 Ebd. Nr. 769, 804.114 Ebd. Nr. 371 (?), 397, 770.115 Garland (1990) 184.116 Shipley–Hansen 60; vgl. Garland (1990) 183ff. 117 Schmidt (1991) 131; vgl. Breuer 35f.

Das verstorbene Kind

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altersgemäße Kleidung, sondern eine in ihre Zukunft weisende Tracht, und so wird, wie durch andere Attribute auch, durch das Tragen der Chlamys selbst bei kleinsten Kindern eine bedeutungsvolle Zukunft (hier als Ephebe) evoziert, die sich nun nicht mehr erfüllen wird – wie bei Philostratos und seinen fiktiven Altersgenossen118 durch die Nacktheit mit Mantel das unerreichte Palästritenal-ter.119

Wie die Erwachsenen, denen sie so sehr glei-chen, besitzen auch die Kinder einen bestimmten Fundus an Attributen, der spezifische Bedeutung besitzt. Ihr Status als Kind wird außer durch die Spieltiere durch ihre eigenen kleinen Besitztümer symbolisiert: Bälle,120 Kreisel,121 Klapper122 und Laufrad,123 Rassel124 und Astragale,125 kleine Büch-sen,126 einmal erscheint auch eine Puppe127 und eine Schreibtafel.128 Diese Dinge halten die Kinder ent-weder wie die Früchte in den Händen oder sie sind, wenn es sich um mehrere gleichzeitig handelt und deswegen die Hände nicht mehr ausreichen, um al-les deutlich erkennbar vorzuzeigen, ordentlich auf den üblichen Reliefmöbeln wie Regalen, Pfeilern o.ä. verstaut; so auch bei dem Relief des Kleinkin-des Sopatros, dessen Besitztümer (Laufrad, Klap-per, eine bauchige Kanne) auf dem Regal hinter seinem Rücken aufgereiht sind.129 Auch die kleine

118 Clairmont (1993a) Nr. 0.834, 0.835, 0.846, 0.849, 0.853, 0.855, 0.873, 0.877, 0.880; da diese Reliefs keine zugehörigen Epigramme besitzen, ist nicht sicher zu bestimmen, ob das abgebildete Alter dem des verstorbenen Kindes entspricht oder es sich wie in Philostratos’ Fall um eine stilisierende Darstellung handelt.

119 Diese Darstellung ist auf hellenistischen Grabreliefs fast völlig verschwunden; die Sphä-re des Gymnasions wird durch Attribute, nicht durch Kleidung angedeutet: Schmidt (1991) 131.

120 Pfuhl–Möbius Nr. 726, 727f., 731 (?), 766 (?), 804.121 Ebd. Nr. 744.122 Ebd. Nr. 395, 798.123 Ebd. Nr. 798.124 Ebd. Nr. 804.125 Ebd. Nr. 400 (?), 804.126 Ebd. Nr. 399, 490, 798.127 Ebd. Nr. 371; auch in diesem Fall wird die Puppe wieder symbolisch (s.o.) verstanden:

„an indication of adolescence irrespective of apparent scale.“ (Ridgway [2000] 192). 128 Pfuhl–Möbius Nr. 770.129 Ebd. Nr. 798.

Abb. 6: Grabstele der Phila aus Tarsos (2. Jh. v. Chr.). Athen, Nationalmuseum.

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Phila (Abb. 6) hat ihre Klapper ordentlich außer Reichweite des Spielhünd-chens aufgeräumt, sie lehnt an einem runden Gegenstand auf einem Pfeiler im Hintergrund. Außer dem kleinen Hund und diesem Spielzeug läßt aber nur die Frisur (Scheitelzopf ) auf das Kindesalter der Verstorbenen schließen, denn das „damenhafte kleine Mädchen“130 besitzt bereits eine kleine Dienerin, und der erwähnte Gegenstand neben der Klapper könnte ein Wollkorb sein, wie er auf vielen Frauenreliefs zu finden ist. Meist zeigen die Reliefs kleiner Mädchen das gleiche Inventar wie die der Frauen, wobei sie die einzelnen Gegenstände ent-weder selbst in den Händen halten oder sich von Dienerinnen reichen lassen: Fächer,131 Klappspiegel132 und (Schmuck)kästen.133 Der Baum mit der Schlange schließlich, die sich nach Philas linkem Arm streckt, ist ebenfalls ein Standard-element, gleichermaßen auf den Reliefs der Kinder und der Erwachsenen; will man darin neben einer primären sepulkralen Bedeutung134 den Aspekt einer Heroisierung des Verstorbenen annehmen,135 so ist in unserem Beispiel der An-teil der eigentlichen Erwachsenenattribute in der Darstellung höher als der der Elemente, die auf Phila als Kind verweisen. Wie alle smyrnäischen Grabstelen trägt die ihre dann auch noch den Ehrenkranz, der Kindern wie altverdienten Bürgern nach dem Tod unterschiedslos verliehen wird.136 Diese lokale Eigen-heit zeigt in extremer Ausprägung, wie sehr auch die Grabmale der Kinder als Mittel bürgerlicher Repräsentation genutzt wurden und gleich den Erwachse-nenstelen mehr als öffentliches Ehrenmonument denn als wirkliche Erinne-

130 Ebd. Nr. 394.131 Ebd. Nr. 371, 391, 398, 748.132 Ebd. Nr. 369, 751.133 Ebd. Nr. 391, 397, 751.134 Pfuhl versteht den Baum mit Schlange noch ausschließlich als „Symbol des Grabes“:

„Wie man die Seele in Menschengestalt am Grabe sitzend oder als kleines Eidolon dar-um schwirrend darstellte, so ließ man sie als Schlange im Grabbaume wohnen“: Pfuhl, Ernst: Das Beiwerk auf den ostgriechischen Grabreliefs, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 20 (1905) 47–96 und 123–155, hier 94.

135 Smith verweist auf die Symbolik der Heroisierung, relativiert aber deren Aussagekraft: „Snakes here are the symbol of the subterranean living, that is, heroes (...). In epitaphs of the later Hellenistic and Roman periods, ‘hero’ came to mean little more than the ‘late beloved’”: Smith 189f. Schmidt, ausgehend von den Totenmahlreliefs, bestätigt diese Beobachtung für die Reliefs und stellt fest, daß „eine heroisierende Erhöhung zu den üblichen Bildern hinzugefügt werden kann, ohne daß Veränderungen festzu-stellen sind” und daß „eine solche Heroenangleichung latent in den Bildern angelegt” sei: Schmidt (1991) 143. In diesem Sinne wäre der Baum mit Schlange ein topisches Bildelement, das neben anderen Attributen seinerseits die Standardfunktion der spezi-fischen Aussage „bürgerliche Heroisierung“ erfüllt; vgl. auch Cavalier, Odile: Le chagrin vaincu. A propos d’une nouvelle stèle funéraire cycladique au Musée Calvet, in: Revue des études anciennes 105 (2003) 393–412, hier 408 ff.

136 Die Kränze der Kinder sind allerdings unausgefüllt: P. Zanker (1993) 214.

Das verstorbene Kind

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rungsstätte für die Verstorbenen entwor-fen waren – man bedenke hier auch den Aufstellungsort solcher Grabmäler, die die Straßen in die Stadt hinein säumten und so jedem Ankömmling schon eine Visitenkar-te der ansässigen Familien gaben.137 Die Grabstele eines Geschwisterpaares (Abb. 7) trägt gleich zwei Ehrenkränze, für jedes Kind einen. Beide zeigen wie Phila (Abb. 6) die typische Kinderfrisur (Schei-telzopf ) und scheinen nicht so altersfremd in ihre Kleider gehüllt wie die Kinder auf den meisten anderen Reliefs: der älte-re der Brüder hebt mit der Rechten den Bausch seines lose fallenden Mantels bis über die Knie, Dionysios, der kleinere, ist ungewöhnlicherweise138 sogar mit einem ganz offenen Chiton gekleidet. Er hält in

der ausgestreckten Linken sein Spielzeug, eine Rassel, sein Bruder eine Trau-be, nach der der obligatorische Spielhund mit zurückgelegtem Kopf gespannt blickt. Obwohl die Brüder etwas kindlicher wirken als Phila, dominiert dies den Gesamteindruck nicht, da zum einen die Kinder wiederum nicht inter-agieren, sondern in ihren Posen erstarrt aneinander vorbeiblicken (Apollonios schenkt auch dem Hündchen keine Aufmerksamkeit), zum anderen der Raum um sie herum mit weiteren, nicht kindspezifischen Attributen ausgefüllt ist: wir sehen wieder den Baum mit Schlange, die in Apollonios’ Richtung züngelt, außerdem auch einen Diener, der seinerseits kindlich proportioniert, aber in Relation zu seinen beiden „Herren“ seinem Untergebenenstatus gemäß verklei-nert dargestellt ist. Im Hintergrund auf einem Pfeiler steht eine Herme des bärtigen Herakles, ein Verweiszeichen auf die Sphäre des Gymnasions,139 wie sie oft in verschiedenen Ausführungen auf den Reliefs jüngerer – und jüngster! – „Männer“ zu finden ist.140

Eine solche Herme gibt es dann auch auf der Grabstele des kleinen Amyn-tas (Abb. 8). Sie zeigt exemplarisch, wie ganz analog zu den Bildkompositionen der Erwachsenenstelen auch bei den Kindern durch die nachdrückliche Beto-

137 Garland (1985) 107. 138 Bei Geschwistern ist das jüngere allerdings immer in diese kindliche Tracht gekleidet

oder nackt: vgl. S. 46 Anm. 99. 139 P. Zanker (1993) 220. 140 Hermenabbildungen auf Grabstelen von wirklichen Kindern finden sich, neben den

genannten Beispielen: Pfuhl–Möbius Nr. 730 (= Abb. 7), 745, 770.

Abb. 7: Grabstele der Geschwister Diony-sios und Apollonios aus Smyrna (Mitte 2. Jh. v. Chr.) Leiden, Rijksmuseum.

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nung der eindeutig vorbestimmten, aber nun verlorenen Zukunftsperspektive ein irreales Nebeneinander von Zeitebenen und damit verbundenen Lebensformen im Bild zuam-mengesetzt wird: Die sonst nur verhältnis-mäßig selten zu findende sitzende Darstel-lung des Kleinen,141 seine Scheitelzopffrisur und der zerstrampelte ungegürtete Chiton, der ihm durch seine heftige Bewegung schon halb von der rechten Schulter gerutscht ist, wollen sein zartes Alter deutlicher unterstrei-chen als es für die hellenistischen Kinderste-len typisch ist; er versucht die Früchte, die er in der Hand hält, aus der Reichweite des sich danach streckenden Hahnes zu bringen, reagiert also wirklich auf das Spieltier. Sein Spielzeug liegt ordentlich aufgereiht vor ihm: eine Rassel, Astragale und ein Ball. Diese Ele-mente fügen sich zu einer wirklichen Kinder-stubenatmosphäre zusammen, in deren Mit-telpunkt das Kleinkind steht (oder vielmehr: sitzt). Sie wird dennoch gleich wieder gebrochen durch andere Elemente im Raum: an der hinteren Wand des „Kinderzimmers“ steht wieder eine Herme, obwohl Amyntas von der Welt des Gymnasions noch weit entfernt ist – aber er wäre später dort erfolgreich gewesen, und dieser jugendlichen Karriere hätte sich höchstwahrscheinlich eine als vorbildlicher Bürger angeschlossen, die ihm als Auszeichnung den Ehrenkranz eingebracht hätte,142 vielleicht sogar auch die Aufstellung einer Ehrenbürgerstatue – auf einem solchen Sockel wie dem, auf den Amyntas hier absichtlich gesetzt wurde und der seinen Namen trägt. Betrachten wir nun noch einmal die Grabstele der Geschwister Dionysios und Apollonios (Abb. 7), so ist nicht gesagt, daß die Herme dort sich in ihrer Aus-sage nur auf den älteren Bruder, nicht aber auf den kleinen, mehr kindhaften (vielleicht in Amyntas’ Alter?) beziehen kann. Es ist nicht einmal sicher, daß der größere der Brüder schon in einem Alter nahe der Gymnasionszeit sein muß-te, denn die Kinder sind nach einem gängigen Motiv gestaltet, wie es ähnlich auch das Grab eines Brüderpaars zeigt, die nur ein bzw. drei Jahre alt wurden (B2). Es handelt sich vielmehr bei der Herme wie bei anderen Attributen, die nicht eindeutig den Kindstatus symbolisieren, um altersunabhängig verwend-

141 Ebd. Nr. 802, 803, 806. 142 Hesberg weist zusätzlich noch auf den Schild hin, der ebenfalls als Hinweis auf spätere

Leistungen verstanden werden könnte: Hesberg (1988) 316.

Das verstorbene Kind

Abb. 8: Grabstele des Amyntas aus Smyrna (Mitte 2. Jh. v. Chr.). Paris, Louvre.

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bare Symbole eines jenseits der Lebenszeit des Kindes liegenden, durch die Er-wartungen der Eltern (und damit der Gesellschaft, deren Teil sie sind) bereits vorgezeichneten und nun trotz aller nötigen Anlagen nicht mehr ausgefüllten Lebensabschnittes, dessen Verlust die Darstellung kompensieren und mittei-len soll, um so den öffentlichen Aspekt des Verlustes der Eltern zu betonen. So wird eher der Nicht-mehr-Jugendliche der Zukunft als das Noch-Kind der Gegenwart als verloren betrachtet und betrauert – womit die hellenistischen Grabreliefs Kinder viel intendierter als „kleine Erwachsene“ zeigen als die Dar-stellungen der vorhellenistischen Kunst, für die dies oft aufgrund stilistischer Mängel behauptet worden ist.

2.2.2. Hellenistische Grabepigramme

Bisher ließen sich bei der Betrachtung der hellenistischen Grabreliefs zwei Er-gebnisse festhalten: Zum einen wird, abgesehen von den Kindsklaven, der Dar-stellung von Kindern als Hinterbliebenen auf den Grabreliefs der Erwachsenen nur in wenigen Ausnahmen Raum gegeben; das Kind spielt als emotionalisie-rendes Element innerhalb der Bildkomposition keine Rolle mehr. Zum ande-ren werden die ebenfalls stark stilisierten Abbildungen der verstorbenen Kinder selbst stets von der Perspektive der verlorenen Zukunft des Kindes auf seinem Weg zum ehrenvollen Mitglied der politischen Gemeinschaft beeinflußt, oft sogar dominiert; auch hier hat die realistische Wiedergabe von Kindlichkeit die Bedeutung verloren.

Es überrascht nach diesem Ergebnis kaum, daß sich auch die hellenisti-schen Grabinschriften für tote Kinder zum größten Teil desselben Bezugsrah-mens wie die Reliefs – der bürgerlichen Welt der Eltern – bedienen. Hier hat Emotionalität nun ihren festen Platz; wenngleich auch nicht so gattungsdefi-nierend, wie oft suggeriert wird, wenn jedes Zeichen privater Gefühlsäußerung zum spezifisch individualisierenden Charakteristikum erklärt und in einen scharfen Kontrast zu der unpersönlichen Normkunst der Reliefs gestellt wird. Die hellenistischen Epigramme kennen vielmehr einen festen Fundus emotio-nalisierender Gestaltungselemente, die die Trauersituation intensivieren sollen; wir haben dies schon bei den Inschriften für Erwachsene in Form des Topos „zurückgelassenes Kleinkind“ kennengelernt.

Es ist kein Zufall, daß von allen literarischen Einflüssen der von Tragödie und Elegie am deutlichsten erkennbar ist.143 Deren Bildwelt und Formulie-rungen gestalten in Form festgelegter Motive und Phrasen die Inschriften der Erwachsenen gleichermaßen wie die der Kinder. Der pathetische Ton der Dra-

143 Peek (1960) 31f.; 38f.

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mensprache sollte aber nicht als persönliche Gefühlsäußerung eines Individu-ums gesehen werden – ähnlich wie der als Anrede ausnahmslos gebrauchte Ter-minus „tšknon“ (niemals „pa‹j“!) zwar den familiär vertrauten Ton zwischen Eltern und Kindern signalisiert, aber jenseits dieser Bedeutungsebene noch keinen speziell emotionalen Gehalt besitzt, wie ihn beispielsweise ein Kosena-me oder ein individuelles Attribut besäße.144 Das gekonnt komponierte (teure) Epigramm als augenfälliger Nachruf drückt den Schmerz der Hinterbliebenen aus – nicht dessen einzelne Formulierungen, die in Kürze die wichtigsten Fak-ten poetisch umschreiben sollen. Nur selten zeigen Inschriften individuelle Ge-dankengänge; meist beschränken sie sich auf die Zusammenstellung bekannter Elemente, denen höchstens die Ergänzung um eine einzelne ungewöhnliche Formulierung o.ä. eine relative Einzigartigkeit verleiht. Auch einige der Reli-efdarstellungen lassen, wie wir gesehen haben, die Intention zu einer auffal-lenderen Gestaltung erkennen (Abb. 8), allerdings auch dies wieder nur mit den Mitteln und in den Grenzen der geltenden Darstellungskonventionen: in beiden Medien der Grabkunst, Reliefs wie Inschriften, bleibt die Topik der Baumeister der Aussage.145

Wir besitzen aus dem Zeitraum des dritten bis ersten Jahrhunderts v. Chr. nur eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Grabepigrammen, die sich mit Sicherheit auf jüngere Kinder im Alter von 1 bis 12 Jahren beziehen.146 Aus dieser Tatsache wird man wohl nicht den Schluß ziehen, daß der Tod eines jüngeren Kindes nicht als ebenso gravierend angesehen wurde wie der eines Jugendlichen, der sich bereits in der Ausbildung für spätere Aufgaben befand, oder der eines Erwachsenen, der seinen Beitrag zum Gemeinwesen geleistet hatte und dessen Erfolge man auf einem Grabmal inschriftlich verewigen konn-te. Die nächstliegende Erklärung für die kleine Zahl an Funden dürfte wohl sein, daß die Kindersterblichkeit in den ersten Jahren noch ziemlich hoch, die Anfertigung eines Grabmals aber verhältnismäßig teuer war,147 zumal wenn ein

144 Zum Bedeutungsunterschied von tšknon und pa‹j s. Golden, Mark: Pais, «Child» and «Slave», in: L’Antiquité Classique 54 (1985) 91–104, hier 95f.

145 Zanker vergleicht die Topik der Reliefs mit einer thematisch ähnlichen Gattung: „(...) the stereotypical pictorial elements of the stelai should be comparable to the topoi of funerary speeches “: P. Zanker (1993) 213. Denselben Charakter zeigen auch die Ehren-dekrete: „Die Gleichförmigkeit der Tatenkataloge und kommentierenden Werturteile zeigt dabei, daß bei allem Gesehen-Werden-Wollen doch auf gar keinen Fall ein Aus-der-Reihe-Tanzen sichtbar werden durfte“: Wörrle 248.

146 Zur Schwierigkeit, Epigramme ohne Altersangabe zu datieren und plausibel als Kinder-epigramme einzuordnen (viele wurden aufgrund dieser Schwierigkeiten bewußt in der Auswertung nicht berücksichtigt), s. B3; eine Beschränkung auf Kinder unter 12 Jahren ist sinnvoll, da nach diesem Alter bereits andere Prioritäten die Inschriften beherrschen: vgl. S. 60.

147 C. Schneider (1969) 215. Aufgrund dieser Umstände sollte man den Eltern auch nicht unterstellen, daß sie das Geld für ein aufwendiges Kindergrabmal nicht ausgeben woll-

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Gedicht in Auftrag gegeben wurde, obwohl es vermutlich auch hier, wie in der Reliefproduktion, vorgefertigte Stücke gab.148 Die aufwendigste Variante stellt die Kombination von Relief und Epigramm dar, die dennoch immerhin in etwa der Hälfte der erwähnten Inschriften vorliegt. Offenbar war es den Eltern in diesen Fällen wichtig – wenn man sich schon für ein Grabmal entschied, das über den einfachen ca‹re-Typus hinausgehen sollte –, ihren Kindern (und da-mit auch sich selbst) ein repräsentatives Denkmal zu setzen, das der Gestaltung der Erwachsenengräber in nichts nachstehen sollte.

Dieser Aspekt – die Selbstdarstellung der hinterbliebenen Eltern – klingt v.a. in der traditionellen Klage um den Verlust der ghrotrof…a an, die entwe-der die Eltern selbst aussprechen oder ihren Kindern in Form eines Bedauerns in den Mund legen.149 Das Verhältnis zwischen Eltern und Kind ist ein aner-kanntes „do, ut des“,150 wie uns das Epigramm des Karphyllides (3./2. Jh. v. Chr.) zeigt, das die Ziele eines erfüllten Familienlebens zusammenfaßt:

M¾ mšmyV pariën t¦ mn»mat£ mou, parod‹ta: oÙd�n œcw qr»nwn ¥xion oÙd� qanèn. tšknwn tškna lšloipa: miÁj ¢pšlausa gunaikÕj sugg»rou: trisso‹j paisˆn œdwka g£mouj, ™x ïn poll£ki pa‹daj ™mo‹j ™neko…misa kÒlpoij, oÙdenÕj o„mèxaj oÙ nÒson, oÙ q£naton: o† me kataspe…santej ¢p»mona tÕn glukÝn Ûpnon koim©sqai cèrhn pšmyan ™p' eÙsebšwn.151

ten, sondern eher annehmen, daß sie es bei wiederholtem Versterben der Kinder gar nicht konnten; bis in römische Zeit zeigen viele Kindergrabfunde eine möglichst billige Bestattungsweise: Garland (1985) 78.

148 Mir ist zwar kein solches bekannt, aber die im Bereich der Inschriften ebenso wie bei den Reliefs sehr festgelegte Topik machen die Annahme wahrscheinlich, zumal solche Mas-senprodukte für Erwachsene gefunden wurden: Merkelbach–Stauber 3 Nr. 15/02/09 (ein Grabstein mit zwei Standardversen, dessen erster eine Lücke aufweist, in die der Name eine Mannes mit einer Kürze und zwei Längen eingefügt hätte werden können).

149 Zum Ideal der Fürsorge für die Eltern: Bergemann 93f. 150 Griessmair 32; 35. 151 Anth. Graec. 7,260:

„Klage nicht, wenn du an meinem Gedenkstein vorbeigehst, o Wandrer!Ob ich auch tot bin, es ist nichts zu bejammern an mir.Kinder von Kindern ließ ich zurück; ein Weib nur besaß ich, das mit mir alt ward, und drei Söhnen gewann ich ein Weib. Oftmals habe ich auch auf den Knien gewiegt ihre Kinder, und durch Krankheit und Tod hat mich kein einzger betrübt.

Opfernd gedachten sie dann meiner glücklichen Seele und sandten schließlich zu friedlichem Schlaf mich in der Seligen Land.“ (Übers. Beckby)

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Die Kinder bilden den Rahmen, der die Familie zusammenhält: der Tote hat nicht nur keines von ihnen verloren, viel wichtiger: er hat sie verheiratet, also: etabliert, so daß sie nun selbst schon als Familienväter für den Fortbestand der Familie gesorgt haben. Gleichzeitig hat der Verstorbene, ohne ein Unglück zu kennen, ein hohes Alter erreicht; dies, und daß sie ihm ein anständiges Begräb-nis mit den notwendigen Riten (kataspe…santej) zukommen ließen, zeigt, daß die Kinder auch die zweite ihnen zukommende Aufgabe neben dem Fami-lienerhalt, die Versorgung der Eltern im Alter, gut erfüllt haben.

Wenn nun die Kinder zu früh versterben,152 als daß sie ihren Verpflich-tungen nachkommen können, findet dieses Thema der Altersversorgung und entgangenen Nachwuchses Eingang in die Grabinschriften,153 auch wenn die Kinder sich in einem Alter befanden, in dem an die Erfüllung eben dieser Pflichten noch lange nicht zu denken war. Medeas, den wir uns wohl nicht viel älter als sieben Jahre vorstellen müssen,154 wurde als Altersvorsorge seiner Eltern gesehen, die nun „e„j spodi¾n g¦r ™xšcean moÚnhn front…da ghrokÒmon“ (T10), also ihre gesamte Hoffnung für das Alter begraben sehen. Andron, der nacheinander drei Kinder verloren hat, betont nachdrücklich, er werde keines von ihnen zu seiner Pflege mehr haben, „leÚsei d' oÙdšna ghrokÒmon“ (B7). Am deutlichsten wird der fordernde Anspruch der Eltern aber in der Inschrift, die der kleine Hermokrates als Nachruf erhält. Sie wirkt umso erstaunlicher, weil das zugehörige Relief zwar stark beschädigt, aber noch erkennbar eines der wenigen ist, das ein Kind nicht in einer Erwachsenen-, sondern einer Kin-derpose und mit Familienangehörigen zeigt (B4). Ihm wird hier kein freund-licher Gedanke zuteil, vielmehr beginnt das Epigramm unmittelbar mit dem Wunsch, er wäre sofort bei der Geburt gestorben; es wird ihm die Last vor Augen gehalten, die er für seine Mutter bedeutet hat – `ErmÒkratej, nàn d' œsce triploàn ¥coj ¼ se tekoàsa, prÒsqe trofÁj, mÒcqou, nàn te gÒouj qan£tou – und die er nun nicht wiedergutmachen kann. Diogenes, elf Jahre alt, ist sich dieser Schuld schon von sich aus bewußt und berichtet entschul-digend, er sei einer Krankheit erlegen und habe das Leben verlassen müssen, „¡n…k' œdei me goneàsi t…nein c£rin“ (T2). Immer wieder klingt dieses „c£rin ¢podidÒnai“ auch in anderen Formulierungen an, so z.B. wenn der Vater des fünfjährigen Asklepiodotos beklagt, er habe seinem Sohn nun ein Grab errich-tet, „t¾n p©san e„j gÁn ™lp…dwn krÚyaj car£n“ (T4); hier wird in „car£“ zwar die Freude betont, die der Kleine gebracht hat, aber durch die enge Ver-schränkung mit „™lp…dwn“ auch ganz klar darauf verwiesen, daß die Eltern als mindestens ebenso beklagenswert anzusehen sind wie das verstorbene Kind, da

152 Zu ¥wroj als generelle Bezeichnung zu jung Verstorbener: Garland (1985) 77f. 153 Zu diesem Topos auch für spätere Jahrhunderte und ältere ¥wroi: Griessmair 30ff.154 Man hat ihn begraben „¥rti g¦r eÙxunštouj se dahmosÚnaj meqšponta“; diese erste

Verständigkeit wird meist mit dem Beginn der zweiten Hebdomade gleichgesetzt, vgl. auch Kap.1, S. 18 Anm. 76.

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sie nun aller Erwartungen, die sie in ihren Sohn gesetzt hatten, beraubt wur-den.155 Dem dreijährigen Sarapion schließlich, der qualvoll erstickt ist, wird so-gar in aller Härte vorgeworfen, er habe die Hoffnungen seines Vaters betrogen, „`HrodÒtou patrÕj (...) nÒon ™xapat»saj“ (T11). Die ™lp…dej, die in die Kinder gesetzt worden waren und mit deren vorzeitigem Tod zerschlagen sind – „p£saj ™lp…daj ™kkÒyaj ¹metšrwn tokšwn“ beschreibt der zwölfjährige Nikanor den Hades (B8) – bleiben auch in nachhellenistischer Zeit ein Stan-dardtopos der Grabinschriften auf ¥wroi.156

Die Erwartungen der Eltern erschöpfen sich aber nicht, wie das Epigramm des Karphyllides zeigt, in der ghrotrof…a und der angemessenen Bestattung der Eltern nach deren Tod, sondern schließen auch die Vermählung der Kin-der zum Zwecke des Familienerhalts ein. Folglich ist das zweite große Thema der Epigramme das „Noch-nicht“, bei Jungen übrigens genauso häufig wie bei Mädchen:157 Die Eltern des Medeas (T10) betrauern ausdrücklich, daß sie „oÙd' ™pˆ numfid…oij qalameÚmasi d´daj ¢n£yai œfqasan“ und sehen sich wie Medeas’ Vater damit insgesamt all ihrer Hoffnungen beraubt: „« tšknwn ™lpˆj Øphnšmioj.“ Auch Syme weiß, daß sie ihre Mutter enttäuscht und um ihre Enkel gebracht hat – deren Bild wird wieder besonders pathetisch ausge-malt: „oÜq' ØpÕ mhtrÒj ceirîn ¹ melšh numf…dion q£lamon ½luqon oÙd� g£mou perikallšoj Ûmnon ¥kousa oÙd� tšknwn glukerÕn qrÁnon œmaxa pšploij“ (B3). Ihr Schicksal teilen Pamphile (B7) – und auch die fünfjährige Thaleia (T7): ihre Eltern betonen zwar einerseits, daß sie fast noch ein Säugling war („eâte galaktorÚtou paàse lib£doj“), gleichzeitig aber wird – für das heutige Verständnis eher unpassend bei einem kleinen Kind – beklagt, daß sie das „liebliche Brautgemach der Kypris“ nicht erreicht habe.158

Die geschilderte Haltung ist nicht typisch hellenistisch, kommt aber erst ab dieser Zeit in großem Umfang in den Inschriften zum Tragen. Schon Herodot bezeichnet es als unnatürlich, wenn Eltern ihre Kinder bestatten müssen und so

155 Die ganze Inschrift beklagt dem Tenor nach eher die Eltern als den kleinen Sohn, von dem eigentlich nur Name und Alter erwähnt sind: die ersten fünf Verse beschreiben die Exklusivität des Grabmals, das der Vater hat anfertigen lassen, nach dem zitierten Vers folgen nur noch zwei weitere, die in übertrieben pathetischem Ton das Klageverhalten der Mutter beschreiben.

156 S. z.B. Peek (1955) Nr. 562, 774, 955, 1155, 1576, 1796, 1969, 2039.157 Peek (1960) 38. Der „Noch-nicht“-Topos kann sich auf sehr frühe Stadien des „öffent-

lichen“ Lebens beziehen: „in the words of a child’s epitaph, ‘a daimôn’ had arrived in advance of the Choës“: Garland (1985) 82 (leider ohne Beleg).

158 Vgl. ein kaiserzeitliches Epigramm auf eine Dreijährige (Merkelbach–Stauber 1 Nr. 03/02/66), bei der neben dem altbekannten Thema des „c£rin ¢podidÒnai“ ebenfalls von der Hochzeit die Rede ist – das Alter der kleinen Mädchen und Jungen spielt für diese Topoi wirklich überhaupt keine Rolle: man empfindet bei der Verwendung ge-nausowenig einen Bruch in der Darstellung wie bei der Abbildung anderer Zeitebenen in den Reliefs.

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die natürliche Abfolge der Generationen unterbrochen wird.159 Die Betonung der gesellschaftlichen Verpflichtungen, zuerst im Sinne einer Verantwortung für ein erfülltes Alter der Eltern und der Erhaltung der Familie durch Nachkom-men, läßt sich in den hellenistischen Kinderepigrammen allerdings über den familiären Kontext hinaus weiter in die öffentliche Sphäre verfolgen und trifft sich hier als Motiv wieder mit den Kleine-Bürger-Stilisierungen der Kinder auf den Reliefbildern. Bei den Epigrammen der Erwachsenen sind, wie bereits beschrieben, ab dem vierten Jahrhundert v. Chr. Veränderungen in einzelnen Themenbereichen zu beobachten, die eine zunehmende Ausrichtung auf ein öffentliches Repräsentationsbedürfnis im Rahmen des Polislebens erkennen las-sen. Die inschriftliche Darstellung der verstorbenen Kinder übernimmt, analog zu deren Abbildung in Erwachsenenkontexten, die neu entstandenen Topoi der Erwachsenenepigramme oft mit wenig Rücksicht darauf, ob sie zu dem Alter der Kinder passen oder nicht.

So wird in einem Epigramm des zweiten Jahrhunderts v. Chr. ein zwölf-jähriger Junge namens Themistokles gerühmt (B5)160, er, der „siegreiche Ath-let“ besitze „soviel an Klugheit und Mut“ wie sein berühmter Namensvetter.161 Seine Inschrift belegt nicht nur die allgemein bei den Epigrammen der Er-wachsenen festgestellte Tendenz, neben der Tatsache auch das präzise Maß der bürgerlichen Tugendhaftigkeit festzulegen,162 sondern befremdet auch durch

159 Hdt. 1,87; vgl. Griessmair 44.160 Ein Vorläufer dieses „pa‹j mšgaj“ findet sich schon im vierten Jahrhundert v. Chr. (Peek

[1955] Nr. 422):

SwfrosÚnhj ple‹ston metšcon mšroj ™nq£de ke‹taipa‹j mšgaj ín QeuklÁj Neuge…tonoj 'AstupalaieÚj:patrˆ d� sîi kaˆ mhtrˆ gÒon kaˆ k»dea le…peijsÁj ¢retÁj ›neken kaˆ oÙ mÒnon ¹lik…aj.

„Der in größtem Ausmaß Anteil hatte an Besonnenheit, liegt hier, der große Sohn des Neygeiton, Theukles, aus Astypalaia;du hinterläßt deinem Vater und deiner Mutter Jammer und Sorgen,nicht nur aufgrund deines (jungen) Alters, sondern auch deiner (verlore-nen) Tugend.“

Auch die kaiserzeitlichen Epigramme versehen in dieser Tradition die Kinder noch mit den verschiedensten Tugenden, s. z.B. Peek (1955) Nr. 229, 1969, 2003.

161 Schmidt (1991) 136: „Rat und Kühnheit” (...) erinnern stark an die Formel “Rat und Kriegshandwerk”, die wir schon als Kennzeichen bürgerlicher Pflichterfüllung kennen-gelernt haben.“

162 Breuer beobachtet eine bereits im vierten Jahrhundert angelegte „Tendenz, die tradi-tionellen Wertvorstellungen, ohne sie inhaltlich grundlegend verändern zu wollen, in ihren Formulierungen (...) zu differenzieren und konkretisieren“ (Breuer 55), in dem Bestreben, „die Tugend zu einer meßbaren Größe zu machen, um artikulieren zu kön-nen, in (...) welch hohem oder gar vollem Maße der Verstorbene der genannten Tugend

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die unangemessene Heroisierung des Kindes, den Vergleich mit dem großen Feldherrn der Athener. Der nur dreijährige Alkimachos (T9), den die Moira „nhp…acon (...) kaˆ ¢ndr£sin e�sa fronoànta“, also mit „männergleichem Verstand“ ins Grab gebracht hat, verweist sogar gleich auf verschiedene Königs-häuser: „A„ak…dhj gšnoj e„m… (...) tîn ¢p' 'Olunpi£doj”;163 solche Epigram-me kennen auch bei sehr jung Verstorbenen nichts Kindliches.164

Neben der für Kinder unangebracht erscheinenden Aufzählung von Er-wachsenentugenden, in den bisher genannten Beispielen boul», q£rsij und frÒnhsij,165 erscheint nun auch öfter, wie bei Themistokles, die Angabe der Heimatstadt, in seinem Fall Antiochia; dies ist ebenfalls eine Entwicklung, die den starken Einfluß der Erwachsenenepigramme deutlich macht.166 Die Grab-inschrift des Medeas berichtet, er habe Kyzikos, wo er auch begraben liegt, immer innig geliebt (T10); Sarapion wurde an einem genau bestimmten Ort der Vaterstadt begraben (T11); das Schicksal der drei Kinder Androns (B7) ist dagegen besonders traurig, da sie eben nicht in ihrer Heimat, sondern an belie-bigen Plätzen bestattet wurden: Pamphilos in Delos, Andromachos in Rhodos und die kleine Pamphile an einem nicht genannten Ort.

Im Fall von Matreas und Metrodor (B2) trauern nicht nur die Verwandten, ein „Dichtermund” besingt die ein- und dreijährigen (!) Jungen, wie es sonst Dichter mit berühmten Heroen tun – oder eben die Versinschriften auf Eh-renstatuen. Er verkündet den Bürgern, daß die beiden tot sind, und nicht nur die Eltern, sondern ihre ganze Vaterstadt, Smyrna, beweinen diesen schweren Verlust. Entsprechend dieser Stilisierung der beiden als kleine Mitbürger ist der Grabstein auch gleich mit zwei Ehrenkränzen versehen, wie wir sie schon bei

teilhaftig war“: ebd. 45; vgl. Schmidt (1991) 122f.163 Zur Verbindung des Kleinen mit dem Königshaus von Epirus (den Aiakiden) und

Olympias, der Mutter Alexanders s. Edson, Charles: The tomb of Olympias, in: Hespe-ria 18 (1949) 84–95, zur Rekonstruktion des Familienstammbaumes: Robinson, Da-vid M.: The epigram of the Æacid Alcimachus, in: Gšraj Anton…ou KeramopoÚllou (Athen 1953) 149–156.

164 Vgl. auch ein kaiserzeitliches Epigramm, das einem nur Zweijährigen den „Verstand des grauen Alters“ zuspricht: Peek (1955) Nr. 591.

165 Ein Extrembeispiel einer solchen Tugendhäufung läßt sich im Falle eines kaiserzeit-lichen Epigramms beobachten, das den achtjährigen Nikephoros rühmt wegen seiner „k£lloj, ¢km», p…stij, swfrosÚnh, sof…a“: Peek (1955) Nr. 1439,4.

166 Vgl. zu dieser Thematik in den Inschriften Breuer 52f.: „Offenbar schuf gerade der Bedeutungsverlust der Polisgrenzen im übergreifenden hellenistischen Staatensystem das Bedürfnis, durch die Rückbesinnung auf die kleine, vertraute Einheit der eigenen Stadt (...) dem Gefühl der Verlorenheit im unüberschaubar gewordenen geographischen Raum zu entrinnen.“ Vielleicht ist das starke Betonen der Zugehörigkeit zu einer be-stimmten Polis auch Folge der neuen Mobilität vieler Familien: das Kind ist unter Um-ständen Bürger einer anderen Polis als seine zugezogenen Eltern (vgl. D.J. Thompson 99f.; T6), die sich über den Grabstein des Kindes der Polis, in der sie nun leben und wo das Kind geboren wurde, als zugehörig erklären konnten.

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Phila, den Geschwistern Dionysios und Apollonios und auch Amyntas (Abb. 6–8) als besonderes Kennzeichen der smyrnäischen Grabmäler kennengelernt haben. Hinzuweisen bleibt schließlich noch auf die Tatsache, daß hier aus-drücklich die Bürger trauern: auch in den Erwachsenenepigrammen machen nun nicht mehr die trauernden f…loi die Hinterbliebenen aus (wie in den In-schriften des vierten Jahrhunderts), sondern, in einem Rückgriff auf die Termi-nologie des fünften Jahrhunderts, die ¢sto….167 Der junge Nikanor wendet sich – ausdrücklich als Kind: „toàto d' ™mÁj gnèmhj ¢sto‹j œti nhp…acÒj per ™xenšpw“ – an sie als Adressaten, um seine Erkenntnisse über den Tod von Kindern mitzuteilen (B8); Medeas’ Nachruf schließlich faßt noch einmal schön die zwei Gruppen zusammen, aus denen die Bevölkerung der hellenistischen Welt besteht und denen der Kleine in seiner unsterblichen ¢ret» ein Vorbild war: „¢sto‹si kaˆ ¢llodapo‹si“ (T10).

Für den elfjährigen Demetrios (T6) wird neben dem Geburtsort auch noch seine Wahlheimat angegeben, um ihn als festen Bestandteil seiner Polis zu charakterisieren: „DÁloj mšn s' œqreye, p£trhj d� nom…zhi 'Aqhnîn“. Er wird dann für seinen speziellen Beitrag für das Gemeinwesen weiter gelobt: „Dhm»trie, ™g d� gonÁj e�doj œfuj car…hj paide…hi t' eâ p£shi [™]pšprepej ºd� kaˆ a„do‹ ¼likaj ...“, er zeigte also neben einem angenehmen Äuße-ren und der moralischen Bürgertugend, der a„dèj,168 auch noch eine weitere Eigenschaft, die, wie wir bereits gesehen haben, im Kanon der bürgerlichen Wertprädikate eine große Rolle spielt, nämlich: Bildung. Sie wird – erstaun-licherweise, da sich sonst alle Tugenden der Verstorbenen mehr oder weniger immer auf ihren Nutzen für die Polis beziehen – von eben diesem Nutzenas-pekt gelöst und als eine auf die Person allein bezogene Eigenschaft gesehen, die das Bild eines mustergültigen Bürgers in seinen privaten Bereich hinein abrundet.169 Demetrios hat sich also durch seinen Enthusiasmus für die Musen

167 Vgl. Schmidt (1991) 134f.: „Die Aufnahme einer altertümlichen Redewendung läßt den Verstorbenen in einem Licht ahnengleichen Ansehens erscheinen und hebt so seine Bedeutung. Außerdem klingt durch die Betonung des Einwohner-Status für die Städ-ter der Rang und die Funktionen, die damit verbunden sind, stärker an als durch den gemeinschaftsbezogenen Begriff f…loi.“ Zu dem engen Zusammenhang des Tugendbe-griffes mit den Funktionen des Einzelnen innerhalb des Gemeinwesen: Breuer 48; vgl. auch spätere Epigramme: Peek (1955) Nr. 714, 874, 1245.

168 Vgl. zur a„dèj als hervorstechende Eigenschaft des Bürgers auch S. 37 und ein Epi-gramm auf einen Jugendlichen unbestimmten Alters, der die mit dieser Tugend immer einhergehenden bürgerlichen „Begleittugenden“ zusätzlich auch noch musterhaft ver-körpert: Merkelbach–Stauber 1 Nr. 05/03/10.

169 Schmidt (1991) 127; vgl. Breuer 52, die zeigt, „in welcher Weise ein Wert wie Bil-dung, der sich (...) in hellenistischer Zeit gerade durch seine Zurückgezogenheit von der Zweckbestimmung durch den öffentlichen Bereich der Polis ausgezeichnet hatte, dann doch wieder zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung wird. Mit der privaten Sphäre wird also ein weiterer Bereich der Polis und mit ihm auch eine eigene Wertewelt für die öffentliche Repräsentation des hellenistischen Bürgers erschlossen.“

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hervorgetan; andere haben nicht soviel Begabung, wie der dreizehnjährige Kla-dos, der unerbittlich auf seine mangelhaften Ergebnisse in diesem Bereich an-gesprochen wird und sich damit verteidigt, er sei dafür aber eine Sportskanone gewesen: „«r£ g' ¥mousoj;“ – „oÙ tšleon, MoÚsaij d' oÙ mšga feil£menoj, œzwn d' `Erme…v memelhmšnoj: ™n g¦r ¢gîsin poll£kij a„nhtÕn stšmma p£laj œlacon...“170 Die beiden letzten Epigramme deuten, als Inschriften auf etwas ältere Kinder, allerdings schon in die Sphäre des Gymnasions, die mit den jeweiligen Erfolgen in Bildung und Sport ab dem Alter von ca. 12 Jahren die Nachrufe dominiert.171 Ein Beispiel aber gibt es noch, das auch bei einem kleinen Kind die Musen ins Spiel bringt (T7): Thalia, die Fünfjährige, wird „von den Musen mit den süßen Stimmen ersehnt“ – ein bewußtes Spiel mit dem Bildungstopos, der bei älteren Kindern üblich ist,172 und dem Namen der Kleinen, der selbst der einer Muse ist.

So bewegt sich das Leben der Verstorbenen immer in den Grenzen des bürgerlichen Umfeldes. Sie haben in ihrer Rolle als Kinder gesellschaftliche Verpflichtungen: im privaten Bereich, mit dem Ziel des Familienerhalts zu heiraten, für die Eltern zu sorgen und zu gegebener Zeit deren angemessene Beerdigung zu gewährleisten, d.h. nicht nur den rituellen, sondern auch den re-präsentativen Ansprüchen einer Bestattung Genüge zu leisten; im öffentlichen Bereich, die Eigenschaften und Fähigkeiten zu schulen, die sie für die zukünf-tige Rolle als Bürger prädestinieren, d.h. nicht nur eine moralisch einwandfreie Haltung zu demonstrieren, sondern sich auch körperlicher wie geistiger Bil-

170 Peek (1955) Nr. 1862 = Merkelbach–Stauber 2 Nr. 08/08/10; bei diesem Epigramm, von dem nicht sicher ist, ob es nicht schon in die Kaiserzeit gehört (vgl. Merkelbach–Stauber a.O.; diese Datierung auch bei: Wiegand, Theodor: Reisen in Mysien, in: Mit-teilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Athenische Abteilung 29 (1904) 254–339., hier 303), dominiert bereits die musische und sportliche Ausbildung im Gymnasion den ganzen Text:

„Du warst wohl unmusisch?“ „Nicht völlig, aber den Musen nicht der Allerliebste, dafür lag ich Hermes zeitlebens am Herzen: in den Wettkämpfen habe ich nämlich oft die ruhmvolle Binde im Faustkampf errungen.“

171 Bei den Mädchen bleibt unverändert der „Noch-nicht“-Topos bestimmend. 172 Vgl. den Auftakt eines Epigramms auf einen Zwölfjährigen aus der frühen Kaiserzeit

(Peek [1955] Nr. 1584,1f. = [1960] Nr. 211,1f.) mit der erwachsenengleichen Stilisie-rung zum Dichter und Philosophen:

„Poà sof…hj ™ratÁj ¢ganÕn sqšnoj, œgnome Klwqè;poà moi Peier…dwn mousopÒloj melšth;“

„Wohin ist der geliebten Weisheit milde Kraft, ungerechte Klotho?Wohin der pierischen Musen eifrig betriebener Dienst?“

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dung zu unterziehen. Bei Kindern, die sterben, bevor sie ein Alter erreicht ha-ben, das die Ausbildung dieser Fähigkeiten gestattet, werden diese Forderungen einfach adaptiert, so daß häufig der Eindruck entsteht, jedes Kind habe bereits unmittelbar nach der Geburt angefangen, Vorbereitungen für sein zukünftiges öffentliches Leben als Bürger seiner Polis zu treffen. Es ist nachgewiesen, daß Eltern ihren Nachwuchs bereits im Kindesalter in politische Ämter einführ-ten;173 die Kindergräber sprechen hinsichtlich dieser Mentalität eine deutliche Sprache.

Ein thematischer Aspekt der Grabepigramme wurde bisher noch nicht be-rücksichtigt: der persönlich-emotionale, oder, wie andere es formuliert haben: der Bereich, der „durch die hellenistische Entdeckung kindlicher Eigenarten geprägt ist“.174 Zusammenfassend kann man wohl sagen, daß hierbei auch wie-der mehr die Tatsache festzuhalten ist, daß charakteristisch Kindliches über-haupt erwähnt wird, als daß dieses Thema gattungsspezifisch besonders aus-gestaltet würde. Es ist weiterhin zu fragen, ob diese „Entdeckungen“ genuin dem epigrammatischen Motivschatz zuzuordnen sind, d.h. ob es sich bei dem, was hier an liebenswerten kindlichen Charakteristika aufgeführt wird, nicht viel eher wieder um eine Übernahme aus anderen Gattungen handelt. Bei al-len Topoi der Darstellung, die wir bisher kennengelernt haben, sei es bei den Reliefbildern, sei es in den Epigrammen, handelte es sich um Komponenten öffentlichkeitsorientierter Rollenbilder; es ist also anzunehmen, daß die Topoi der wirklichen Kinder-Darstellung auch auf irgendeine Art und Weise mit dem bislang entworfenen Bild zusammenhängen.

Bereits mehrfach wurde die große Rolle der musischen Bildung in der hel-lenistischen Grabkunst deutlich: die Epigramme verweisen ausdrücklich auf Kenntnisse in diesem Bereich, die abgebildeten Verstorbenen halten Buchrollen in der Hand, ja besitzen manchmal ganze Kisten davon.175 Bei einer solchen „Allgemeinbildung“ des bürgerlichen Mittelstandes ist es nicht erstaunlich, daß zunehmend griffige Formulierungen aus dem Bereich der hohen Literatur, nachweislich v.a. aus dem der Tragödie, ihren Weg in die Grabepigramme fin-den, um die mitzuteilenden Fakten im Ton des großen Pathos auszuschmücken

173 S. Kleijwegt, Marc: Ancient youth. The ambiguity of youth and the absence of adole-scence in Greco-Roman society (Amsterdam 1991) 226ff. zu dem Inhalt der ab dem spä-teren Hellenismus üblichen yhf…smata paramuqhtik£, öffentlichen Trostinschriften für die Hinterbliebenen jungverstorbener Hoffnungsträger, die wiederum die ™lp…dej, die in diesen Nachwuchs gesetzt waren, formulieren. Sie enthalten oft die Aufzählung von Ämtern und Leistungen „™n paid…“ (o.ä.), die sich auf tatsächlich bereits im Kin-desalter „übernommene“, oft verantwortungsvolle politische Aufgaben beziehen. Zur Natur dieser Ämter, die entweder zusammen mit den Eltern, von diesen stellvertretend oder in Form von Geldspenden „verwaltet“ wurden: ebd. 247ff.

174 Schmidt (1991) 135; vgl. Peek (1960) 36. 175 Schmidt (1991) 128.

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und zu emotionalisieren.176 Um ein solches Übertragungsphänomen aus einer anderen Gattung scheint es sich mir auch bei dem einen ein wirklich kindli-ches Charakteristikum beschreibenden Topos zu handeln – denn es handelt sich tatsächlich um nur einen einzigen: die Erwähnung von Kindersprache und -stimme.177

Das früheste hellenistische Beispiel178 findet sich in einem längeren Epi-gramm des ausgehenden dritten Jahrhunderts v. Chr. (T3). Es bildet in der kleinen Gruppe der Inschriften, die die Kinderstimme als besonders schmerz-lich vermißtes Charakteristikum anführen, in verschiedener Hinsicht eine ein-zigartige Ausnahme,179 da Grabepigramme sich oft und trotz der Orientierung an großen Vorbildern nicht durch ein besonders hohes literarisches Niveau auszeichnen, vielmehr häufig wie aus verschiedenen Teilen zusammengebaut wirken.180 In diesem Fall ist zwar ebenfalls erkennbar, daß es sich um ein aus Bruchstücken zusammengesetztes Exemplar handelt,181 aber die neu kombi-nierten Formulierungen führen in ihrem Gesamtergebnis zu einem ungewöhn-lich persönlichem Ton. Die ersten beiden Verse sind noch mit einem typischen Neid-Topos gestaltet. Dann aber zeigt sich ein eigenständiger, geschlossener Gedankengang, der die Symptome der tiefen Trauer der Eltern psychologisch präzise beobachtet und treffend beschreibt, wobei die enge Verbundenheit der kleinen Familie durch die explizite Betonung der Vater- bzw. Mutterrolle be-sonders hervorgehoben wird. Nun, da das einzige Kind gestorben ist,182 werden die Eltern, wann immer sie die kleinen Spielkameraden ihres Sohnes sehen, schmerzlich an ihren Verlust erinnert. Besonders bedrückend aber empfinden

176 Eine kurze Aufzählung solcher dramatischer Motive bei Peek (1960) 31f. 177 Andere physische Wesensmerkmale (kleine Händchen etc.) oder kindliches Handeln (in

der Art, wie sich bei Herondas [Mim. 4] Kokkale entzückt über die Tat des Ganswür-gers äußert) werden nie beschrieben.

178 Das früheste Epigramm dieser Art überhaupt stammt aus der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts v. Chr. aus Athen und beklagt den Tod des kleinen Philostratos, dessen liebenswertes Geplapper sich sogar in seinem Spitznamen (Plappermäulchen) niederge-schlagen hat (A1).

179 Vgl. Philippou, Loizos: An inscription from Hierokepia, Cyprus, in: Journal of Hellenic Studies 68 (1948) 155: „ (...) this description has a certain originality, which distin-guishes it from other epitaphs written in stereotyped language, in expressing the emoti-on felt by the bereaved parents of the child”.

180 Griessmair 21: „Häufig ist es einfach so, daß vielfach zu tÒpoi gewordene Gedanken und Motive rein additiv aneinandergereiht werden, zumeist zwar mit einer gewissen Ordnung, aber ohne eigentliche kunstvolle Komposition, wie wir sie aus der „hohen“ Literatur kennen.“

181 Ein Pentameter ist ohne metrische Abänderung in das aus Hexametern bestehende Ge-dicht übernommen worden: Griessmair 48.

182 Es ist von den kleinen Freunden, aber nicht von kleinen Geschwistern die Rede; gäbe es welche, wäre das Haus nach demTod des Kleinen auch nicht völlig stumm.

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sie die plötzliche Stille im Haus. Das Fehlen der Kinderstimme läßt es verlassen erscheinen und – kalt: denn die Stimme des kleinen Sohnes, und damit nicht nur ihr bloßes Vorhandensein, sondern auch, was er geplappert hat, war Aus-druck seiner Liebe zu den Eltern, deren eigene Gefühle nun keine Erwiderung mehr finden: nur dieses eine Epigramm spricht davon, daß die Eltern die Liebe des Kindes vermissen. Originell wie die ganze Gestaltung ist die Verwendung des Wortes molp» für das lebendige Herumtoben des Kindes, das von seiner Stimme begleitet wird,183 gewöhnlich findet sich in diesen Epigrammen der im-mer gleiche, eng begrenzte Wortschatz, der die schmeichelnden Eigenschaften der Kinderstimme hervorhebt.

Dies ist auch der Fall bei einer etwa zeitgleichen, aber stark beschädigten Inschrift (T1), die in wenigen Versen die Trauer über den Tod der dreijährigen Theokrite ausdrückt, die noch vor kurzem eifrig mit ihren Eltern plapperte. Es hat oft Anstoß erregt,184 daß ein kleines Mädchen mit denselben Worten be-schrieben wird, mit denen Hesiod ein Frauenzimmer eher zweifelhaften Rufes belegt: als „aƒmÚla kwt…llousa“ wird dort eine mit Lockreden schmeichelnde Hure beschrieben.185 Es handelt sich aber trotzdem kaum um den einmaligen Fehltritt eines schlechten Dichters, der einfach – wie es üblich war – ihm be-kannte „Brocken“ hoher Literatur unglücklich in ein Epigramm verbaut hat,

183 Von Kinderspielen ist noch einmal die Rede in einem undatierten Epigramm (Peek [1974] 21 Nr. 20), das ebenfalls persönlichere Töne anschlägt in seiner Trauer um den kleinen Sohn:

'Aq»naie 'Atikoà crhst� ca‹re.sternotÚpouj a„îni, tšknon, katele…peo plhg£j,tutqÕn ¢farpasq�n gon£twn da…moni tù fqonerù'Elp…doj ºd� patrÒj, gennhqeˆj e„j oÙq�n mÒnon À d£krua.pa…zeij d‘ oÙkšti paidÕ[j] ¢qÚrmata, n»pioj Ôyij, mei[k]rÕj 'Aq»naioj,†tiasqeij† Mo‹ran d' ½luqej e„j 'A…dhn,toàt' aÙto‹j le…pwn, dšrkesqai t£fo[n] antˆ tšknou.

“Athenaios, tüchtiger Sohn des Atikos, sei gegrüßt!Du hast uns für alle Zeit (Anlaß zum) Brustschlagen hinterlassen;In zartem Alter von einem neidischen Dämon den Eltern geraubt, Elpis und dem Vater, wurdest Du zu nichts außer Tränen geboren.Du spielst keine Kinderspielchen mehr, unser Nesthäkchen, kleiner Athenaios.Von der Moira †bezwungen† gingst Du in den Hades;Dies hinterließt Du (den Eltern): das Grab zu betrachten anstelle des Kin-des.“

184 Page, Denys.: Five Hellenistic epitaphs in mixed metres, in: Wiener Studien 89 (1976) 165–176, hier 175f.; Pfuhl–Möbius Nr. 392; bzgl. der gleichen Formulierung bei Ni-kopolis (B1): Merkelbach–Stauber 1 Nr. 05/01/52.

185 Hes. erg. 374.

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Das Kind und der Tod64

sondern offensichtlich um eine bewußte Umdeutung. Wir besitzen durch einen glücklichen Zufall eine smyrnäische Stele des zweiten Jahrhunderts v. Chr., in deren Inschrift derselbe Ausdruck nicht nur erneut auftaucht, sondern sogar noch weiter erklärt wird (B1): „aƒmÚla kwt…llousa teoÝj genštaj ¢tit£llej, ƒe‹sa traul¾n gÁrun ¢pÕ stÒmatoj“. Das einschmeichelnde Wesen der zwei-jährigen Nikopolis wird vor allem an ihrem kleinen, andauernd plappernden Mund festgemacht: mit Sicherheit sollte die besagte Hesiod-Phrase in diesem Kontext, wie der folgende Vers verdeutlicht, positiv verstanden werden.186 Als pars pro toto für die kindliche Zuneigung und den Charme, mit dem die kleine Nikopolis ihre Eltern um den Finger wickeln konnte (aƒmÚla), steht wieder die Kinderstimme: sie ist traul», stammelnd und unvollkommen, was als so „süß“ empfunden wurde (me…lice NikÒpoli), daß man dieser Eigenheit besonderen Raum innerhalb der Inschrift geben wollte.187

Für die Vermutung, es handle sich auch bei dem Kinderstimmen-Motiv um ein literarisches Zitat, spricht nicht nur der nachweislich große Anteil sol-cher entlehnter Bausteine bei den Epigrammen an sich,188 sondern auch die Tatsache, daß das Thema so populär war, daß wir in der insgesamt nur sehr selektiv und bruchstückhaft überlieferten „hohen Literatur“ des Hellenismus nicht nur – anteilmäßig – auffällig viele Kinderszenen finden, sondern einige das besagte Motiv ebenfalls benutzen: am bekanntesten dürfte wohl Kallima-chos’ plappernde kleine Artemis sein, aber auch in Alkmenes Wiegenlied für ihre einschlafenden Zwillinge bei Theokrit finden wir die Eltern-Kind-Sprache gespiegelt. Am nächsten kommt m.E. dem Ton der Grabreliefs die Art und Weise, wie in den „Syrakusanerinnen“ Praxinoa mit dem Kleinkind Zopyrion spricht. Theokrit nähert sich hier merklich der Sphäre der Komödie, deren tra-

186 Hierzu hat Griessmair eine eigene These: „Es läßt sich beobachten, daß öfters solche Eigenschaften, die bei Erwachsenen mit einer negativen Nuance behaftet sind, bei Kin-dern einen eigenen Reiz gewinnen, der aus dem Kontrast der Unfähigkeit des Kindes, bewußt und verschlagen zu handeln wie Erwachsene, und dem faktischen Verhalten resultiert. Ähnliches gilt für Ausdrücke wie stwmul…atwmul…a (...) und traÚlisma (...), lauter typischen Attributen eines kÒlax“: Griessmair 49.

187 So auch bei einem bereits kaiserzeitlichen Epigramm (Peek [1955] Nr. 734,5–7), das den Tod eines Dreijährigen (pa‹j œti nhp…acoj) beklagt, der der einzige Sohn seiner Eltern war, die gleichwohl wünschten, sie hätten ihn nie gekannt, weil ihnen sein Ge-plapper fehlt:

„a‡qe se m»t' „dšein m»te kt»sasqai Ôfellon,'Asfal…wn: mšllej g¦r ¢ni£sein me, Óson ¼sqhnstwmul…aisi tea‹j nhpiaceuomšnou.“

„ Ach, hätte ich dich doch nie gesehen oder gehabt,Asphalion; denn so viel Kummer solltest du mir machen, wie ich Freude hatte am süßen Geplapper deines kindlichen Mundes.“

188 S. S. 53.

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ditionelle Verwendung des Motivs ich noch ausführlicher behandeln werde.189 Es scheint plausibel, daß eine Gattung, deren „Wortschatz“ für Trauer- und Verzweiflungssituationen dem populären190 tragischen Theater entstammt, sich für rührende und belächelte Motive beim komischen bedient, das dem zeitgenössischen Publikum Identifikationsfiguren bot, die ihrerseits, wenn sie Unglücksbotschaften (wie den Tod eines Verwandten) zu verkünden haben, plötzlich in tragischen Versen sprechen.191 Vielleicht ist die Umdeutung der Hesiod-Phrase ja wirklich im Rahmen einer (populären) Komödie o.ä. erfolgt, die die Grabinschriften dann wiederum zitieren.

Auffällig ist, wie sehr die beiden besprochenen Epigramme, das der Theo-krite und das der Nikopolis, trotz der originellen Erwähnung der Kinderspra-che nach dem üblichen „Baukastenprinzip“ aus Einzelteilen zusammengesetzt sind: Bei der Tochter des Demetrios wird das Alter, die Herkunft und ihr Einzelkindstatus mitgeteilt und mit der Standardphrase „aƒmÚla kwt…llou-sa“ ihr Kindsein evoziert – aber nicht weiter ausgestaltet. Stattdessen folgt ein weiterer Topos, die Blüten auf dem Grab. Bei der kleinen Nikopolis ist die Kindersprachenphrase zwar um einen Vers erweitert, und ihr Kindsein wird neben der Altersangabe mit dem Topos „der Mutter vom Schoß gerissen“192 noch betont, aber dann schließt das Epigramm, nach dem ebenfalls standardi-sierten Wunsch, die Erde möge leicht auf ihr ruhen,193 ganz unvermittelt mit einem bombastisch klingenden und wieder völlig unpassend aus dem Epischen übernommenen Versatzstück. An solch unausgewogenen Kompositionen kann man sehen, daß das Motiv, das zuweilen sogar auf nur ein Wort verkürzt wer-den kann – die kleine Aphrodisia wurde geliebt „oÛneka terpnÁj aƒmul…hj“ (T5)194 – , wie alle anderen Prädikate ein Standardtopos war, der das Kind nur insofern „entdecken“ wollte, als er es als solches durch das Nennen eines Cha-rakteristikums kennzeichnete.

189 Kap. 3, S. 146ff.190 D.h. nicht nur den zeitgenössischen Tragödien, sondern auch den beliebten „Best-of“-

Fassungen klassischer Stücke: Fantuzzi–Hunter 433. 191 Ebd. 427. 192 Vgl. Peek (1955) Nr. 1044; noch häufiger wird, bei kleineren Kindern, das Bild ge-

braucht, der Hades habe sie von der Mutterbrust gerissen: Peek (1955) Nr. 1186 = (1960) Nr. 85, Peek (1955) Nr. 1280 = (1960) Nr. 323; auch bei der bereits fünf-jährigen Thaleia wird betont, daß sie gerade erst abgestillt war, als die Moira sie holte (T7).

193 Eine Formel aus der „Koine (...) der griechischen Grabepigrammatik“: Peek (1960) 34 mit Anm. 2; Vérilhac 2,253ff.

194 Vgl. auch Peek (1974) 25, der ein sehr stark zerstörtes Epigramm mit Bezug auf Peek (1955) Nr. 734, 977 und die hier angeführten Beispiele in diesem Sinne zu [tr]aÚlon (vgl. S. 67f. Anm. 202: Anth. Graec. 12,162) ergänzen will.

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Man könnte schließlich vielleicht noch erwarten, daß die individuelle Todesur-sache des Kindes genannt wird, aber dieses Thema spielt bei den hellenistischen Kinderepigrammen kaum eine Rolle. Vermutlich konnte man meist von einer Krankheit, wie sie der elfjährige Diogenes angibt (T2), ausgehen,195 aber nicht von spektakulären Ursachen wie bei Erwachsenen, die Schiffbruch erleiden u.ä.. Nur ein Beispiel, das des kleinen Sarapion (T11), berichtet sehr knapp, daß das Kind an einer Weintraube erstickt ist. Das Schicksal des ebenfalls drei-jährigen Ploutos (B9) ist etwas ausführlicher beschrieben: offenbar ein Unfall, bei dem der kleine Junge an einem Wagen herumspielte, der ihn dann unter sich begrub. Allerdings kann das Epigramm, sollte es sich, wie unter anderem das unpassende Relief nahelegt, um einen bereits gebrauchten Stein handeln, nicht mehr zuverlässig als hellenistisch datiert werden, wofür eben die größere Ausführlichkeit auch sprechen würde.196

Ein kurzer Blick noch auf die literarischen „Geschwister“ der Grabinschrif-ten, die Kunstepigramme! Sie nehmen sich der Thematik häufiger an: eines berichtet vom dreijährigen Archianax, der im Brunnen ertrunken ist;197 ein an-deres vom kleinen Kleodemos, der über Bord ging, als er sich zu weit an den Schiffsrand wagte;198 auch einem weiteren Jungen wurde das Wasser zum Ver-hängnis, allerdings in gefrorenem Zustand: er wurde von einer Eisscholle ent-hauptet.199 Diese Epigramme haben mit den wirklichen Grabinschriften schon nicht mehr viel gemein; es handelt sich vielmehr um kleine narrative Stücke, die sich im fiktiven Rahmen eines Grabepigramms bewegen, jedoch wichtige Komponenten der realen Grabinschriften (wie die Nennung der Namen der El-tern, die Wendung an den Vorüberziehenden etc.) nicht mehr berücksichtigen. Sie benutzen die Tragik des Kindertodes (v.a. sehr junger Kinder) zur Komposi-tion kurzer, hochemotionaler Szenen des menschlichen Alltags, wie anschaulich der Fall des kleinen Sklavenkindes Korax zeigt:200

195 Ähnlich knapp auch Merkelbach–Stauber 1 Nr. 01/12/15. 196 Die kaiserzeitlichen Epigramme zeigen eine deutliche Tendenz zur pathetischen Be-

schreibung der Todesursache, die von der Kenntnis der hellenistischen Kunstepigramme beeinflußt scheint; vgl. Merkelbach–Stauber 1 Nr. 03/05/04 und 05/01/36.

197 Anth. Graec. 7,170.198 Anth. Graec. 7,303.199 Anth. Graec. 7,542.200 Anth. Graec. 7,632:

Als in dem Haus Diodors ein Knäblein, ein kleines, von kleinerTreppe stürzte, da brach tödlich ein Wirbel ihm aus, während kopfüber es fiel; denn es hatte, sobald es den hohen Hausherrn bemerkte, nach ihm gleich seine Händchen gestreckt.Sei drum nicht schwer dem Gebein des Sklavenkindes, o Erde,schone den Korax, der zwei Jahre erst eben gezählt. (Übers. Beckby)

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Kl…makoj ™x Ñl…ghj Ñl…gon bršfoj ™n Diodèrou k£ppesen, ™k d' ™£gh ka…rion ¢str£galon dinhqeˆj prok£rhnoj: ™peˆ d' ‡de qe‹on ¥nakta ¢ntÒmenon, paidn¦j aÙt…k' œteine cšraj. ¢ll¦ sÝ nhpi£cou dmwÒj, kÒni, m»pote br…qein Ñstša, toà dietoàj feidomšnh KÒrakoj.

Es ist unschwer zu erkennen, daß solche Epigramme in ihrer komprimierten Emotionalität den nüchternen, reihenden Stil hinter sich lassen, dennoch aber vor dem Hintergrund realer Inschriften operieren. Ein uns nun hinreichend bekanntes Motiv finden wir dann auch hier wieder:

„`Umn…da t¾n EÙ£ndrou ™r£smion a„�n ¥qurma o„kogen�j koÚrhn aƒmÚlon e„naštin, ¼rpasaj, ð ¥llist' 'A…dh, t… prÒwron ™fieˆj mo‹ran tÍ p£ntwj se‹Ò pot' ™ssomšnV.“201

Das „schmeichelnde“ Kind erscheint in diesen Kleindichtungen als ein Echo gleichzeitig der Gebrauchsdichtung wie der hohen Literatur: Das prominente-ste Baby der Zeit, Klein-Eros, hat seinen Auftritt nicht nur in den bekannten Szenen des Apollonios; der Epigrammatiker Asklepiades hört, wie der Kleine spricht:

OÜpw toxoforîn oÙd' érioj, ¢ll¦ neognÕj oØmÕj ”Erwj par¦ t¾n KÚprin Øpostršfetai dšlton œcwn crusšhn: t¦ Filokr£teoj d� DiÚllou traul…zei yucÍ f…ltra kat' 'Antigšnouj.202

201 Anth. Graec. 7,643:

Hymnis, die Tochter Euanders, dies ewig reizende Spielzeugihres Hauses, das neunjährige (!) schmeichelnde Kind,grausamer Hades, du hast es geraubt. Warum hast du so früh ihr dieses Schicksal gesandt? War sie nicht doch einmal dein? (Übers. Beckby)

202 Anth. Graec. 12,162:

Noch ist mein Eros nicht reif, er trägt keinen Bogen, er ist noch völlig ein Kindlein und hält gern noch bei Kypris sich auf.Dort stammelt er aus goldenem Buch Philokrates’ Verse an den Antigenes nun meinem Diyllos ins Herz. (Übers. Beckby)

Lasserres Erklärungsversuch (Lasserre 160: „Asclépiade fait allusion ici à une coutume de magie érotique: l’allusion est garantie par le mot f…ltron et confirmée peut-être par traul…zei, qui montre la peine qu’a Eros à déchiffrer exactement l’inscription; enfin la tablette est en or.“) kennt die gezeigten Motivparallelen nicht. Das traul…zein als spezi-fische Sprechweise kennzeichnet Eros als kleines Kind.

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Das Kind und der Tod68

Doch damit haben wir den behandelten Bereich der Grabkunst schon weit hinter uns gelassen.

2.2.3. Grabstein und Epigramm: Katalog

Wie man aus der folgenden Zusammenstellung der uns erhaltenen „Kombina-tionen“ (Grabrelief mit Versinschrift) ersehen kann, ist es kaum möglich, die Funktion des Epigramms als intendiert (thematisch) komplementär verstehen zu wollen.203 Es zeigen nicht ausnahmslos alle Reliefs eine völlig unkindliche Stilisierung, die man als den öffentlich-repräsentativen Aspekt der Darstellung verstehen könnte, die Inschriften wiederum bestehen nicht in einem solchen Maße aus individuell-persönlichen Aussagen, daß man stets von einem ge-lungenen Ausdruck privater Trauerbewältigung sprechen wollte. Es ist nicht einmal immer ein eindeutiger Bezug herzustellen zwischen dem Abgebildeten und dem Beschriebenen: Die Inschriften wiederholen zwar oft phrasenhaft die gleichen Stereotypen wie sie die Reliefs (in den Attributen) kennen; daß aber beispielsweise auf der Grabstele des Themistokles (B5) eine Schriftrolle abgebil-det, seine musische Betätigung dagegen in der Inschrift nicht erwähnt ist, und auch das Epigramm auf Demetrios (T6) diesen als einen Primus feiert, aber keine entsprechende Abbildung existiert, belegt, daß der gegenseitige Bezug von Wort und Bild nicht zwingend nötig ist. Beide Medien kennen Gestal-tungselemente, die separat als Träger desselben Inhalts gelesen werden können.Dies ist für den heutigen Betrachter bei einigen Entsprechungen nicht mehr ganz so leicht erkennbar, etwa im Fall des in den Epigrammen so häufig ver-wendeten Topos des „Noch-nicht“, der den Status des Kindes zum Zeitpunkt des Todes definieren soll. Auch er kommt in den Reliefs zur Darstellung, aller-dings nur so, wie es die darstellerischen Grenzen des durchschnittlichen helle-nistischen Reliefs204 ermöglichen: die bildliche Darstellung kann das Nebenein-ander von Gegenwart und Zukunft, das „noch nicht“ einer Beschreibung des Typs „noch nicht erwachsen, verheiratet etc.“ nicht erfassen und teilt deswegen manchmal nur das in der Zukunft gelegene „erwachsen, verheiratet“ mit – was

203 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Clairmont für die archaischen und klassischen Kombinationen: „(...) we could say that only in the minority of grave stelai is this cor-relation really significant and meaningful“: Clairmont (1970) 55.

204 Wie das Beispiel der Neiottion (s. S. 45) zeigt, vermochten einige der spätklassischen Grabreliefs noch eher, verschiedene Zeitebenen ein und desselben Themas – in diesem Fall: kleines, unverheiratetes Mädchen (Körperform, Kleidung, Spieltiere) und verheira-tete Frau (Aussteuertruhe) – in einem Bild darzustellen, da die Zeitebene des Kindseins durch die angestrebt realistische Darstellung gekennzeichnet ist. Eine Ausnahme unter den hellenistischen Reliefs bildet, wie bereits gesehen, die Stele des Amyntas, der auch als Kind überzeugt: s. S. 51.

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bei Mädchen wie Syme (B3) oder Nikopolis (B1) dazu führt, daß sie einen weniger kindlichen als frauenhaften Eindruck machen. Dasselbe gilt für das Tragen der Chlamys bei den Jungen und ihre erwachsenengleiche Haltung; auch diese Bildelemente sind die Umsetzung eines betrauerten, aber nicht dar-stellbaren „Noch- nicht“.

Sowohl Reliefs wie auch Inschriften besitzen aber auch ganz einfache gat-tungsgebundene Topoi, die den Status „Kind“ signalisieren. Für die Epigramme besteht die einfachste Variante schon in der Angabe des Sterbealters, das an für sich bereits ein Mitleidsfaktor ist; genauso kennen die Reliefs ein „Standard-modell“, das stehende Kind mit anspringendem Hündchen. Erweiterngen sind dann, wie wir gesehen haben, z.B. der Kindersprache-Topos und die Darstel-lung des auf dem Boden sitzenden Kindes. So bieten beide Medien einen fest-gelegten, frei kombinierbaren Fundus an beschreibenden Elementen; wo ein Bild zu einer Inschrift stößt, verlängert sich diese gewissermaßen in ein anderes Medium, wie auch das Bild durch das Epigramm um die Ausdrucksmöglich-keiten nicht visualisierbarer Inhalte ergänzt wird – aber es existiert nicht die Zielsetzung einer immer gleichen Gesamtcharakterisierung, etwa im Sinne: was das Bild nicht bietet, muß das Epigramm formulieren. Es geht vielmehr darum, die Elemente zu wählen, die im jeweiligen Fall die Schwerpunkte der Charakte-risierung setzen sollen – wie es im Extrem bei dem jungen Themistokles (B5) zu sehen ist, der in Relief und Epigramm ganz auf sein heldenhaftes Athletentum reduziert wird. Allein in der jeweils individuellen Kombination liegt bei aller Topik die Einzigartigkeit eines jeden Grabmals.

Die große Sammlung der ostgriechischen Grabreliefs von Pfuhl und Möbi-us bietet einen einzigartigen Überblick über die durchgängige Formelhaftigkeit der hellenistischen Reliefs und somit den ikonographischen Kontext der Kin-derreliefs. Die Epigramme sind nicht ganz so zugänglich: Werner Peeks hilfrei-che und bis zu Abfassungszeit (1955) als für den Hellenismus komplett anzuse-hende Sammlung205 griechischer Grabinschriften umfaßt zwar über 2000 Ein-träge, ordnet aber nicht nach inhaltlichen, sondern strukturellen Kriterien (wie z.B. Versanfängen) und bietet in den vielen so gebildeten Untergruppen jeweils Texte für den Zeitraum vom sechsten vorchristlichen bis weit über das dritte nachchristliche Jahrhundert hinaus. Eine vollständige Zusammenstellung der hellenistischen Kinderepigramme wird zudem erschwert durch das Problem der unzuverlässigen, teils unmöglichen Datierung, das für die Reliefs gleicherma-ßen gilt:206 Eine eindeutige zeitliche Einordnung scheitert an der ausgeprägten, häufig keine spezifische Information transportierenden Topik, die die Orien-

205 Peek (1955) XV. 206 Pfuhl–Möbius I/1,42; Hesberg (1988) 310; Ridgway (1990) 191.

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Das Kind und der Tod70

tierung an gattungsimmanenten Kriterien aufgrund der jahrhundertelangen Motivgleichheit nicht zuläßt.207

Um ein besseres Verständnis der bisherigen Ergebnisse zu erreichen, er-schien mir trotz dieser Einschränkungen der Versuch sinnvoll, die betreffenden metrischen Texte, von denen ein Teil bislang noch nicht in Übersetzung publi-ziert wurde, zusammenzustellen und dabei auch zusammengehörige Bild- und Inschriftenteile208 wieder zusammenzuführen, so daß die mehrfach nur in Aus-zügen und in verschiedenem Kontext zitierten Beispiele – in meiner Darstel-lung gekennzeichnet durch die Verweisnummern – hier jeweils als ganzer Text (gegebenenfalls mit Bild) leicht zugänglich sind; ich übernehme dabei, soweit vorhanden, die Textversion von Peek (1955).209 Um die Entwicklung und Kon-tinuität der Darstellungskonventionen zu belegen, sind ein spätklassisches (A1) und ein frühkaiserzeitliches (C1) Beispiel mit genauerer Beschreibung in die Zusammenstellung aufgenommen.

207 Vgl. Breuer 61: „Man ist daher genötigt, im wesentlichen die Reliefs des späten Hellenis-mus dem gesamten Block der hellenistischen Grabepigramme gegenüberzustellen.“

208 B5–B8 nicht bei Pfuhl–Möbius. 209 Die einzige Ausnahme bildet hier T1. Bei diesem sehr zerstörten Epigramm ist der er-

gänzte Text von Peek (1960) übernommen.

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A1 Grab des Philostratos, Kleinkind

[Fil]Òstratoj Filoxšnou pa‹ patšroj sautoà patrÕj œcwn Ônoma,kaˆ paramÚqion Ãsqa parwnÚmiÒn te goneàsi, Neollar…wn, da…mwn dš s' ¢fe…leto p©‹s›i poqeinÒn.

Philostratos, Sohn des PhiloxenosMein Sohn, der du den Namen deines Großvaters trugst, und deinen Eltern ein Trost warst mit deinem Spitznamen,kleiner Babbler, ein Dämon hat dich geraubt; wir alle vermissen dich.

[Athen, ca. 325 v. Chr.; Athen: Nationalmuseum. Peek (1955) Nr. 1499; Clairmont (1970) 83ff.; (1993a) Nr. 0.855a; Véril- (1993a) Nr. 0.855a; Véril-0.855a; Véril-hac 2,137; Dickmann (2002) 314, 320].

Der frontal stehende, das Bildfeld des Naiskos beinahe sprengende Junge von vielleicht acht bis zehn Jahren1 weist in der Gestaltung mit anspringendem Hündchen und verkleinertem Diener im Trauergestus bereits stark in die Richtung der späteren ostgriechischen Kinder-reliefs. Anstelle der dort vornehmlich zu findenden Tracht aber (umhüllendem Mantel oder wehender Chlamys) trägt der junge Philostratos den Mantel

über die Schulter geworfen; diese Pose und seine Nacktheit, in den hellenisti-schen Kinderreliefs äußerst selten, signalisiert den Kontext der Palästra.2 Der im Epigramm liebevoll mit seinem Spitznamen „Neollarion“ angesprochene Junge paßt mitnichten zu dieser Darstellung, die eher einen Blick in seine ver-lorene Zukunft wirft;3 denn der kleine Philostratos der Inschrift ist kein Held der Palästra, sondern bedeutete für seine Eltern ganz persönlich einen Licht-blick (paramÚqion) im Familienalltag.4 Das gegenwartsbezogene, privatere

210 Clairmont (1970) 84.211 S. S. 48. 212 Clairmont kommt, wenig verständlich, zu dem Schluß, „Epigram and relief are subtly

correlated...“: Clairmont (1970) 85.213 Solche knappen Inschriften-Formulierungen dienen als Vorlage für das später häufig in

den emotionaleren Kunstepigrammen zu findende Motiv des Kindes als eines alltäg-lichen Kleinods, dessen Anwesenheit einen Trost im Leben darstellt: Krinagoras nennt die kleine Hymnis ein „™r£smion a„�n ¥qurma“ (Anth. Graec. 7,643), ein anonymes Epigramm betrauert, daß der kleine Kallaischros nun in den Hallen der Persephone – nicht mehr zuhause – das „pa…gnion“ sein wird (Anth. Graec. 7,483); ein späteres Epigramm schließlich zeigt die Klage einer Mutter, der nach dem Tod ihres Ehemannes gerade das kleine Söhnchen (bršfoj) durch seine Anwesenheit den schmerzhaften Ver-lust leichter gemacht hat, das nun aber auch der Hades geraubt und sie damit um den

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Das Kind und der Tod72

Epigramm und die in die Zukunft gewandte, öffentlich-repräsentative Darstel-lung verbinden somit verschiedene Zeitebenen und Intentionen, deren Binde-glied allein der Tod des Philostratos bildet.

B1 Grab der Nikopolis, 2 Jahre alt

aƒmÚla kwt…llousa teoÝj genštaj ¢tit£llej,ƒe‹sa traul¾n gÁrun ¢pÕ stÒmatoj:¢ll£ se t¾n dietÁ kÒlpwn ¥po mhtšroj eŒlen¢stemf¾j 'A…dhj, me…lice NikÒpoli:ca‹re, bršfoj, koÚfh d� sšqen perˆ sîma kalÚptoikÒnij, Sarap…wnoj Ôbrimon q£loj.

Mit einschmeichelndem Geplapper unterhieltest du deine Eltern, ein stammelndes Stimmchen führtest du in deinem Mund.Doch mit zwei Jahren nahm dich weg vom Schoß dei-ner Mutterder gefühllose Hades, süße Nikopolis.Gruß dir, Kleines, leicht möge der Staub deinen Leib umhüllen, einst des Sarapion kräftiges Reis.

[Smyrna, 1. Hälfte 2. Jh. v. Chr.; zerst. Peek (1955) Nr. 1512 = (1960) Nr. 228; Griessmair 49f.; Pfuhl–Möbius Nr. 392; Vérilhac 2,144 f.; Merkelbach–Stauber 1 Nr. 05/01/52].

Die kleine Nikopolis steht in einer für ein zweijähriges Mädchen völlig un-denkbaren Pose in der Mitte des Relieffeldes: Gefaßt, in leichter Schrittstellung, weicht sie dem sie anspringenden Hündchen zu ihrer Linken aus, ohne diesem aber auch nur einen Blick zu schenken. Wäre es nicht im Bild enthalten, könnte man sie schwerlich überhaupt als Kind identifizieren: sie trägt die Frisur und das Gewand der erwachsenen Frau, die sie einmal hätte werden können – ei-nen züchtig den rechten Arm ganz, den linken bis zum Ellbogen verhüllenden Mantel – und hält in der Hand kein Spielzeug, sondern, auch allenfalls bei einem größeren Kind denkbar, in majestätischer Geste einen wohlgeordneten Blumenstrauß.214 Sie hat sogar eine Dienerin bei sich, die ein Tympanon schlägt und im Verhältnis zu der „zweijährigen“ Bürgerin ihrem untergeordneten Sta-tus entsprechend verkleinert dargestellt ist.

Die zugehörige Inschrift wird nicht, wie die bildliche Darstellung, von einer verlorenen Zukunftsperspektive bestimmt, sondern operiert wie bei Philostratos

letzten Trost gebracht hat (Anth. Graec. 7,387).214 Sonst eher das Attribut erwachsener Frauen: s. z.B. Pfuhl–Möbius Nr. 407; Zanker

spricht von einer „little lady“: P. Zanker (1993) 221.

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(A1) auf der Zeitebene der Gegenwart. Hier wird als Verlust nicht das Potential, sondern das tatsächliche Wesen der kleinen Nikopolis zum Zeitpunkt des Todes begriffen: ihre liebenswerteste Eigenschaft – ihr Kleinkindergebrabbel – sowie ihre Abhängigkeit von der Mutter, von deren Schoß sie in zartem Alter abrupt gerissen wird, bilden den mitleiderregenden Auftakt. Auch hier und bei den üb-rigen Versen handelt es sich freilich wiederum nur um literarische Versatzstük-ke, deren Abschluß eine im Ton den Auftaktversen für Matreas und Metrodor (B2) ähnliche und völlig unpassende bombastische Homer-Phrase215 bildet. Es handelt sich um eine gefühlsbetontere Variante gleichwohl topischer Ausgestal-tung, die bei der gängigen Kombination von Aussagen bleibt: wie sie als Kind war (Epigramm) und was als Erwachsene aus ihr hätte werden können (Bild).

B2 Grab des Matreas und Metrodor, 1 und 3 Jahre alt

MhtrÒdwroj Dhmhtr…ou. Matršaj Dhmhtr…ou.

¡ l£loj ™n zwo‹si t¦ m¾ zèonta par' ¢sto‹j f£ma karÚssw mousoepe‹ stÒmati:ZmÚrna p£tra, genštaj Dhm»trioj ºd� tekoàsaN£nnion œklausan diss¦ kÒrwn p£qea,ïn Ð m�n oÙk ™tšlessen ˜nˆ zwio‹j ™niautoàple…w, mo‹ra d� s», Matrša, Ãn triet»j.'A…dew pul£oure, sÝ d' eÙagšwn ™nˆ qèkoijA„akš, shm»naij Âi qšmij ¢trapitÒn.

Metrodor, Sohn des Demetrios / Matreas, Sohn des De-metrios Ich, die wortreiche Fama, künde mit Dichtermund den Lebenden von den Kindern, die nicht mehr leben unter den Bürgern. / Ihre Heimat Smyrna, ihr Erzeuger Deme-trios und ihre Mutter / Nannion weinten um den Tod zweier Knaben. / Der eine vollendete unter den Men-schen nicht mehr als ein Jahr, / dein Anteil am Leben, Matreas, waren drei Jahre. / Türhüter des Hades, weise du ihnen, Aiakos, wie es sich gebührt, den Weg zu den Sitzen der Frommen.

[Smyrna: 2. Jh. v. Chr.; Paris, Louvre. Peek (1955) Nr. 1179 = (1960) Nr. 216; Pfuhl–Mö-bius Nr. 766].

215 Wohl ein passendes Beispiel für den von Peek monierten „Mißbrauch Homers in den kleinasiatischen Epigrammen“: Peek (1960) 11; vgl. Griessmair 50; Merkelbach–Stau-ber a.a.O.

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Das Kind und der Tod74

Obwohl die Kleinkinder Matreas und Metrodor wieder die obligatorischen Eh-renkränze der Stadt Smyrna verliehen bekommen haben216 und auch die kleine Dienerfigur in bekannter Pose am Bildfeldrand nicht fehlt, herrscht bei diesem Relief doch eher der Eindruck des Kindlichen vor. Dies scheint generell bei den Stelen verstorbener Geschwister217 der Fall zu sein, die das kleinere Kind immer in einer in den Einzeldarstellungen seltenen, auf dem Boden sitzenden Pose zeigen, was die gewöhnliche Starrheit der Darstellung trotz des normierten Motivs etwas aufbricht.

Der kleine Metrodor sitzt im losen Chiton da, wendet sich aber nicht aus dem Bild,218 sondern füllt die Position des hier fehlenden Tiers aus, das sich sonst nach der Traube in der Hand des großen Bruders gestreckt hätte. Matreas, als der Größere bereits in Chiton und Mantel, „reagiert“ dementspre-chend auch mit der gewöhnlichen, leicht steif ausweichenden Schrittstellung und dem typischen Blick an seinem Bruder vorbei, während er mit der Rechten noch eines seiner Spielzeuge, einen Ball, hält. Neben der Pose des kleineren Kindes trägt die Tatsache, daß alle abgebildeten Kinder, auch der Diener, die kindliche Scheitelzopffrisur tragen, zu dem Eindruck einer bei aller Topik nicht ganz so „erwachsenen“ Bildgestaltung bei: sie könnten eher alle Geschwister sein, wobei das Alter des Dieners dann seiner Größe nach zwischen Metrodor und Matreas anzunehmen gewesen wäre.

Das Epigramm wartet wieder, wie das der Nikopolis (B1), mit unpassend bombastischem Wortschmuck auf: es wird das Bild der Fama bemüht, die ganz Smyrna durchläuft, allen Bürgern mit Musenmund kündet, daß die zwei klei-nen Knaben, die bislang in ihrer Mitte weilten, tot sind. Nach diesem großar-tigen Auftakt, der eine Aufzählung von wunderbaren Leistungen der Kinder erwarten ließe, fällt der Ton in seiner Dramatik jedoch abrupt ab: die Angaben beschränken sich auf das Alter der Verstorbenen. Das Gedicht schließt, in einer topischen Hinwendung zu einer Persönlichkeit der Unterwelt219 (Aiakos, der hier als Türhüter des Hades angesprochen wird), mit der Bitte um ein sicheres

216 Interessant ist hier, daß in den Kränzen die Inschrift „Ð dÁmoj“ ausgemeißelt wurde, um die für alle Kindergräber typischen unausgefüllten Ehrenkränze (aus einem vorher anderweitig verplanten Grabstein?) wiederherzustellen. Diese Kränze sind exakte Ko-pien der wirklich für Leistungen auf den Grabsteinen der Erwachsenen angebrachten Ehrenkränze, können aber durch die fehlende Inschrift in doppelter Weise gelesen wer-den: zum einen als einfach sepulkrales Element, zum anderen dahingehend, daß der unausgefüllte Kranz das noch nicht (durch Leistungen für die Gemeinschaft) erfüllte Leben symbolisiert. Diese unausgefüllten Kränze gibt es auch für Erwachsene: s. z.B. Pfuhl–Möbius Nr. 555 (zwei unausgefüllte Kränze) und Nr. 569 (Kranz mit Inschrift über der Frau, unausgefüllter Kranz über dem Mann); vgl. P. Zanker (1993) 214.

217 S. S. 46 Anm. 99. 218 Vgl. dagegen Pfuhl–Möbius Nr. 730, 767.219 Vérilhac 2,274ff., bes. 277.

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Das verstorbene Kind 75

Geleit ins Elysium. Die großen Worte der ersten Verse haben somit offensicht-lich nur die Funktion, Aufmerksamkeit zu erregen220 – für ein Grab, dessen Gestaltung insgesamt daneben kaum eine individuelle Botschaft hat.

B3 Grab der Syme, Alter nicht bestimmbar

dein» m' e„j 'A…dhn mo‹r' ½gagen, oÜq' ØpÕ mhtrÒjceirîn ¹ melšh numf…dion q£lamon½luqon oÙd� g£mou perikallšoj Ûmnon ¥kousa oÙd� tšknwn glukerÕn qrÁnon œmaxa pšploij.SÚmh d� `Ermogšnou kikl»skomai. ¢ll¦ sÝ ca‹re, xe‹ne, Öj Ðdoà ba…neij ¹dut£thn ¢trapÒn:¥ggelle e„j o‡kouj tºmÍ kakoda…moni mhtr…, kaˆ m¾ ¢eˆ lÚpaij kaˆ dakrÚoisi fršnajtrÚcein: oÙ g¦r ™moˆ moÚnV tÒde Mo‹r' ™pšklwsenkÁdoj, Ðrî d' œt' ™moà kršssonaj e„n 'A…dV.

Ein schreckliches Schicksal hat mich in den Hades geführt, nicht kam ich Unglückliche von der Hand der Mutter geschmückt / zu meinem Brautgemach / nicht hörte ich das schö-ne Hochzeitslied, / nicht trocknete ich süße Kindertränen mit dem Gewandzipfel. / Syme, Tochter des Hermogenes, heiße ich. Gruß dir, Fremder, / der du deines Weges süße Straße ziehst; / bring meiner unglücklichen Mutter Botschaft nach Hause, / sie soll ihr Herz nicht aufreiben in Trauer und Tränen; / denn nicht mir allein hat die Moira ein solches Los zuge-sponnen: / ich sehe bessere als mich im Hades.

[Herk. unbek.; 2./1. Jh. v. Chr.; Verbleib unbek.; Peek (1955) Nr. 947 = (1960) Nr. 158; Pfuhl–Möbius Nr. 399].

Diese Grabstele illustriert uns deutlich das im Zusammenhang mit den Da-tierungsschwierigkeiten angesprochene Informationsdefizit der Topik. Das Epigramm nennt kein Alter, und auf den ersten Blick – vielleicht auch auf den zweiten – ist „ein kleines Mädchen im Chiton“, wie es Pfuhl und Möbius beschreiben,221 auf dem Reliefbild nur schwer zu erkennen. Züchtig bis auf die Schuhe in den Mantel gehüllt, wirkt Syme, rechts und links flankiert von

220 Ebd. 2,220. 221 Pfuhl–Möbius Nr. 399; ich habe die Stele aufgrund dieser Zuordnung aufgenommen.

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Das Kind und der Tod76

ihren zwei Dienerinnen, die Büchse und Stickrahmen halten und zu ihrer Her-rin aufschauen, eher matronen- als mädchenhaft; ein Eindruck, der, vergleicht man mit der üblichen Bildsprache der Grabreliefs, noch durch das Fehlen des anspringenden Hündchens oder eines anderen Spieltieres unterstrichen wird. Allenfalls die etwas massigere Figur des Mädchens und ihren Lockenkopf könn-te man als Hinweis auf ein kindlicheres Alter sehen. Das Epigramm verrät über-haupt nichts über das Alter der Syme, nur das obligatorische „Noch nicht“. Es kann sich somit um ein kleines Mädchen handeln,222 für den ein vorgefertigter, nicht ganz altersgemäßer Grabstein gekauft wurde, genauso gut aber auch um eine junge Frau.

B4 Grab des Hermokrates, (Klein)kind

[æ]j Ôfel' ‹™›n s� gona‹j aÙq»meron º[d'] ¢pÕ mhtrÒj“Aidhj e„j not…ouj da[…]monaj ºg£geto,`ErmÒkrate‹j›: nàn [d' œ]sce triploàn ¥coj ¼ se tekoàsa,prÒsqe trofÁj, mÒcqou, nàn te gÒouj qan£tou:™n mikrÍ g¦r œlusej ¢kmÍ f£oj, ¹ d� ™pimšmpth Mo‹r£ se ØpÕ skier´ krÚye k£monta kÒni.`Ermokr£th ca‹re: kaˆ sÚ ge, ð parode‹ta.

Ach, hätte dich doch am Tag deiner Geburt von der Mutter weg / der Hades zu den feuchten Dämonen geführt, / Hermokrates; nun hatte deine Mutter dreifachen Kummer: / erst das Aufziehen, die Mühe, nun das Klagen über den Tod; / denn nach kurzer Blüte hast du das Licht verlassen, die gesandte / Moira hat dich tot in schattiger Erde geborgen.“ Hermokrates, sei gegrüßt – Auch du, Wanderer.

[Kyzikos: Ende 2. Jh. v. Chr.; Ankara, Arch. Museum. Peek (1955) Nr. 1683; Griessmair 31f.; Pfuhl–Möbius Nr. 1007; Vérilhac 2,400; Cremer Nr. KN 17; Merkelbach–Stauber 2 Nr. 08/01/43].

Hermokrates’ Grab bildet eine Besonderheit unter den erhaltenen Kombina-tionen von Relief und Inschrift: hier liegt wirklich eine auffällige Diskrepanz zwischen Bild- und Epigrammaussage vor. Das stark beschädigte, aber unge-wöhnlich lebendige Relief zeigt ein auf dem Boden umherkrabbelndes Klein-kind, das mit angezogenem linken Bein und ausgestrecktem linken Arm zu seiner nächsten Bewegung ausholt. Es handelt sich wohl um den kleinen Her-

222 Vgl. T7: schon die fünfjährige Thaleia wird betrauert, weil sie das „Brautgemach der Kypris“ nicht erreicht habe.

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Das verstorbene Kind 77

mokrates, der auf seinen älteren Bruder (?) zukriecht, der am rechten Bildrand steht und sich ihm leicht zuwendet. Die sitzende Frau am linken Bildrand wird manchmal als die trauernde Mutter,223 manchmal als eine auf die Kinder auf-passende Sklavin224 identifiziert. Der Ton des Epigramms läßt die letztere Vari-ante wahrscheinlicher erscheinen, will man nicht auch noch davon ausgehen, daß die Mutter, die nach ihren eigenen Worten dem Kleinen nichts Positives mehr abgewinnen kann, auf dem Relief in tiefer Trauer dargestellt wird. Der liebevollen Gestaltung dort läuft die harsche mütterliche Klage, der Kleine habe ihr in seinem kurzen Leben mit seinen Bedürfnissen und dem nun verursachten Kummer dreifache Last bedeutet, und der gleich den Auftakt der Inschrift bil-dende Wunsch, er hätte am besten sofort bei der Geburt sterben sollen,225 auf jeden Fall völlig zuwider.

Wie der Stein und die Inschrift zueinander gekommen sind, bleibt un-verständlich; vielleicht handelt es sich auch hier wieder um ein vorgefertigtes Stück, zu dem dann ein Epigramm nach eigenem Wunsch bestellt wurde. Denn eine Inschrift, deren Grundgedanke (die Sorge um die ghrotrof…a) die Ge-samtaussage ins ausschließlich Negative wendet, ist bemerkenswert genug; eine ergänzende negative bildliche Darstellung wäre einzigartig.

B5 Grab des Themistokles, 12 Jahre

'AntiocÁ Qem…swnoj ¢eqlofÒron kÒnij ¼de keÚqei dwdecšth pa‹da Qemistoklša,Ój boul¦j kaˆ q£rsoj œcwn ‡s' ÐmwnÚmwi ¢ndr…[q]n»skei, t¾n Moirîn oÙ profugën dÚnamin.

Den siegreichen Athleten aus Antiochia deckt dieser Staub, den zwölfjährigen Themistokles, Themisons Sohn.Er besaß Kühnheit und Mut gleich dem Mann, der einst denselben Namen trug. Doch nun ist er tot: der Macht der Moiren konnte er nicht entfliehen.

[Aigina: 2./1. Jh. v. Chr.; St. Petersburg, Eremitage. Peek (1955) Nr. 556 = (1960) Nr. 131; Couilloud, Marie-Thérèse: Les monuments funéraires de Rhénée (Paris 1974) Nr. 473].

223 Merkelbach–Stauber a.a.O. 224 Cremer 49.225 Hierbei handelt es sich allerdings um einen Topos: vgl. ein spätes Beispiel bei Peek

(1955) Nr. 734 = (1960) Nr. 290; extrem zugespitzt findet sich der Gedanke in der Frage, warum man trotz des Risikos, das Kind wieder zu verlieren, überhaupt die Mühe auf sich nehmen sollte, welche zu gebären: Peek (1955) Nr. 1680 = (1960) Nr. 163; Anth. Graec. 7,261.

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Das Kind und der Tod78

Der Ton der bombastischen Inschrift und der prächtigen Grabstele entsprechen einander voll-kommen: Mittelpunkt ist der „siegreiche Ath-let“. Er steht mit muskulösem nacktem Ober-körper an eine Herme gelehnt, das Symbol des Gymnasion, in Frontalstellung zum Betrachter, wobei er in der rechten Hand eine Schriftrolle hält (das Symbol der musischen Bildung, die in der Inschrift nicht erwähnt wird) und in der lin-ken einen Ball, ein Spielzeug: Themistokles ist trotz allem noch ein Kind, wie auch der Hund zeigt, der zu seinen Füßen sitzt und nach dem Ball schaut. Natürlich besitzt er, wie es die Sti-lisierung als ‚Jüngling mit Pais‘ verlangt, auch einen Diener. Dieser sitzt ihm abgewandt auf den Stufen des Hermensockels und hält in den Händen ein weiteres Attribut der Athletenkar-riere seines Herrn, einen Strigil; vor seinen Fü-ßen liegt ein kleiner Sack (Astragale?). Das Epigramm setzt auf die Darstellung als Held

des Gymnasion noch eine weitere Übertreibung: der Zwölfjährige wird dem großen Themistokles in seinen hervorstechendsten Eigenschaften als Feldherr gleichgesetzt. Eine insgesamt völlig überzogene Stilisierung des jungen Sohnes, die neben dem Athletentum keinerlei Platz mehr hat für andere Eigenschaften oder Zielsetzungen des Jungen.

B6 Grab der Chreste

Cr»sth qug£thr 'Alex£ndrou, ca‹re.mellÒgamÒn me kÒrhn ¢penÒsfise b£skanoj “AidhjCr»sthn kaˆ gnwtîn dˆj dÚo kaˆ genštou, mhtrÕj ™mÁj fqimšnhj Öj nhp…acÒn me kom…ssaj e„j flÒga kaˆ spodi¾n ™lp…daj ™xšceen.

Chreste, Tochter des Alexandros: sei gegrüßt!Vor der Hochzeit, ein Mädchen noch, hat der neidische Hades mich, Chreste, meinen zweimal zwei Brüdern und dem Vater entrissen.Nach dem Tod der Mutter hat er nun mich geholt, das kleine Kind, und alle Hoffnungen zerrinnen lassen in Feuer und Asche.

[Pantikapaion: 2. Hälfte des 1. Jh.s v. Chr.; Kertsch, Museum. Peek (1955) Nr. 949 = (1960) Nr. 159; Kieseritzky –Watzinger 35, Taf. 14,201].

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Das verstorbene Kind 79

Welche der beiden dargestellten Frauen die tote Chreste darstellen soll, ist auf den ersten Blick nicht ganz klar. Die am linken Bildrand hinter dem Stuhl stehende Dienerinnenfigur mit Büchse scheint eher darauf hinzuweisen, daß es sich bei der Frau in der Bildmitte um eine Verstorbene handelt. Zieht man die Information des Epi-gramms hinzu – die Mutter ist schon vor Chreste gestorben – wäre es plausibel, daß es sich bei der erhöht auf dem thronartigen, geschnitzten Stuhl sitzenden Frau um eben diese, Chrestes Mutter, handelt, bei der in beinahe identischer (erwach-sener) Pose davorstehenden Person um die Toch-ter, Chreste selbst. Beide gleichen sich in jedem Fall so stark,226 daß ein Alter der Verstorbenen aus dieser Abbildung nicht abgelesen werden kann. Einen Hinweis liefert nur die Inschrift, die ein Al-ter andeutet, in dem Chreste noch als nhp…acoj gilt, wobei diese Bezeichnung meist eher Mitleid erregen soll 227 als ein wirklich junges Alter bezeichnet. Man muß davon ausgehen, daß die „unter dem Relief zwischen den Linien“228 angebrachte Inschrift „Cr»sth gun¾ 'Antisq(š)nou ca‹re“ eine spätere Ergänzung darstellt, der Stein also für eine andere Chreste wiederbenutzt worden ist, die bereits verheiratet war. Die größte Wichtigkeit innerhalb des Epigramms kommt aber dem „Noch nicht“, der Tatsache, daß Chreste nicht mehr heiraten konnte, zu: ein einziges Wort, demonstrativ an den Beginn der wenigen Verse gestellt – mellÒgamoj – „charakterisiert“ das Mädchen; die Inschrift schließt mit dem Topos der verlorenen Hoffnungen des Vaters. Daneben erfahren wir nur noch von Chrestes vier Brüdern: ihre Schwester bleibt ansonsten nur eines von vielen noch unverheirateten kleinen Mädchen ohne jegliche Kontur.

226 Aus diesem Grund ist es auch ausgeschlossen, daß es sich bei der stehenden Person um eine weitere Dienerin handelt.

227 S. S. 41f.; Ein kaiserzeitliches Epigramm nennt sogar einen Sechzehnjährigen noch n»pioj: Peek (1955) Nr. 1090.

228 Kieseritzky–Watzinger 35.

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Das Kind und der Tod80

B7 Drei Kinder

trissoÝj eÙèdeinoj ¢f' `ErmiÒnhj l…pen ”Andrwn khdemÒnaj, leÚsei d' oÙdšna ghrokÒmon:¢ll' Ð m�n ™n D»lJ q£ne P£mfiloj, 'AndrÒmacoj dš nšrqe `RÒdou, p£traj d' œndoqen `ErmiÒnh,¡ d� poluqr»nhtoj ™pšfqito matšri koÚra Pamf…lh æra…wn oÙk ™pib©sa g£mwn:oÙd� katafqimšnwn aØt¦ kon…j, ¢ll¦ g¦r ¥lla g© katšcei, mn£man d' eŒj ™fÚlaxe t£foj.

Andron ließ die drei Kinder der leichtgebärenden Hermione zurück,die Pfleger (seines Alters) sein sollten; aber er wird keines von ihnen im Alter fürsorglich erblicken.Pamphilos ist in Delos gestorben, Andromachos liegt unter der Erde von Rhodos, Hermione in der Vaterstadt,das vielbeweinte Mädchen Pamphile starb bald nach der Mutter und erlangte nicht die Hochzeit zur rechten Zeit.Und es ist auch nicht dieselbe Erde, welche die Gestorbenen bedeckt, sondern jeweils eine andere birgt sie; aber ein Grab bewahrt das Andenken.

[Seleukeia Pieria: 1. Jh. v. Chr.; Tarsos, Museum. Merkelbach–Stauber 4 Nr. 20/01/03].

Das Epigramm nennt bereits die Besonderheit dieses Grabes: es handelt sich um ein Kenotaph. Die bewußt betonte Funktion des Grabsteins als Denkmal ist vermutlich auch der Grund, warum die Gestaltung des Reliefs eine Aus-nahme unter den Darstellungen von Kindern bzw. Erwachsenen mit Kindern bildet: gerade weil es dem zurückgebliebenen Ehemann und Vater wichtig war, die Familie, an verschiedensten Orten begraben, auf dem Bild zum Gedenken zu vereinen, zeigt es eine erwachsene Frau (Hermione) und drei Kinder (Pam-philos, Andromachos, Pamphile), während sich gewöhnlich die hellenistischen Reliefs – mit Ausnahme der Totenmahlreliefs vielleicht –, ganz gleich, wie viele Kinder es in einer Familie gab, auf die repräsentative Abbildung von zweien (ebenso wie bei den Dienerfiguren) beschränken.229

Die ganze Familie trägt die konventionelle Manteltracht, die Kinder sind ihrem Alter nach nicht zu unterscheiden; auch das Epigramm liefert keinen Anhaltspunkt, wie alt sie waren, sondern rahmt ihre Aufzählung nur mit den gewöhnlichen Topoi – Altersversorgung und Hochzeit.

229 Oakley 187.

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Das verstorbene Kind 81

B8 Grab des Nikanor

Nik£nwr ™pˆ paidˆ t£fon Nik£nori [tÒnde]qÁke: l…qoj d' ™nšpei taàta pare[rcomšnoij]:moànoj ™gë patrÕj kaˆ mhtšroj ™n m[eg£roisin]qršfqhn: ¢ll' 'A…dhj oÙk ™lee‹n œm[a]q[en],[¢]ll£ me dwdekšthron ØpÕ cqonÕj ½gage, p[£saj]™lp…daj ™kkÒyaj ¹metšrwn tokšw[n]:ke‹mai d' ºiqšwn te kaˆ eÙsebšwn ™nˆ cè[rwi]patrˆ m�n o„ktrÕj ™mîi, p©si d� ke‹qi f…loj.toàto d' ™mÁj gnèmhj ¢sto‹j œti nhp…acÒ[j per]™xenšpw: tšknwn le…yana poll¦ lipe[‹n][d]èmasin: e„ g¦r ka… ti parasf»leiš tij a‡s[hi],[oÜpotš g' ™]g krad…hi pšnqoj Ómoion œt[lh].

Nikanor setzte diesen Grabstein für seinen Sohn Nikanor; der Stein aber sagt den Vorüberziehenden dies:Als einziges Kind meines Vaters und meiner Mutter wurde ich in deren Haus aufgezogen; aber der Hades kannte kein Mitleid, sondern führte mich zwölfjährig unter die Erde und zerschlug alle Hoffnungen meiner Eltern.Hier liege ich, am Ort der Jungverstorbenen und Gottesfürchtigenmeinem Vater zum Kummer, allen dort aber willkommen. Dies meine ich und sage es allen Bürgern, obwohl ich noch ein Kind bin:Vieles bleibt von den Kindern in den Häusern zurück –Mag auch jemand gegenüber dem Schicksal den Kürzeren ziehen, in anderen Dingen, niemals erträgt er (tief ) im Herzen eine gleiche Trauer.

[Westl. Makedonien: 1. Jh. v. Chr. Verbl. unbek. Peek (1955) Nr. 665; Keramopoullos, Ant.D.: ”Ereunai ™n DutikÍ Makedon…v, in: Praktik¦ tÁj 'ArcaiologikÁj `Etaire…-aj 1938, 61ff. (Eik. 8); Vérilhac 2,11; 179; 197; 270].

Die schwer beschädigte Marmorstele ist nur ein einziges Mal in schlechter, hier nicht reproduzierbarer Qualität (s. Angabe) publiziert. Sie zeigt das sehr stereo-type Motiv eines Jungen in Frontalstellung, dessen rechter, vor der Brust ange-winkelter Arm fest in seinen Mantel gehüllt ist; der Kopf fehlt. In seiner linken Hand hält er einen viereckigen Gegenstand. Zu seiner Linken, kaum mehr erkennbar, der obligatorische Baum mit Schlange, die sich ihm entgegenreckt. Zu seiner Rechten am Bildfeldrand ein typischer kleiner Diener, in kurzem Chiton, das linke über das rechte Bein gekreuzt. Das Epigramm zeigt sich genauso vorbildlich zusammengesetzt aus den gängi-gen Topoi:– Erwähnung des Vaters, der dieses Grab gebaut hat– Nikanor war Einzelkind– der unnachgiebige Hades– Altersangabe

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Das Kind und der Tod82

– die Hoffnungen der Eltern sind dahin– das Kind wendet sich an die Bürger – Abschluß mit einer Lebensweisheit. Eine Besonderheit bildet die Erwähnung eines Ortes im Hades, wo sich nur un-zeitig Verstorbene und Gottesfürchtige aufhalten.230 Ansonsten repräsentieren Relief und Inschrift zusammen gewissermaßen ein Musterpaar der Grabkunst: sie schöpfen aus dem Motivschatz ihrer beiden Gattungen und kombinieren die einzelnen Elemente zu einem neuen, aber nicht innovativen Ganzen, des-sen Hauptaussage sich mit der abschließenden Wendung an die Bürger und der Darstellung des Nikanor als kleiner Erwachsener insgesamt vor allem am öffentlich-repräsentativen Anspruch des Grabmals ausrichtet.

B9 Grab des Ploutos, 3 Jahre

st»lh soˆ lšxei tÕn ™mÕ[n] mÒron ºd� carakt£gr£mmata, pîj t' œqanon kaˆ oÜnoma tîn gonšwn:lÚsaj m�n st»ringan ¡m£xhj k£qqana tl»mwn,o„nwqrîn fÒrton barÝn ™nenkamšnhj:oÜnom£ moi Ploàtoj,trišthj mÒlon ”Aidoj oâdon:'Antiocˆj m»thr, ¿ tl»mona masqÕn Øpšsce,kaˆ genšthj Ploàtoj, Ój moi œteuxe t£fon.

Die Stele und die eingegrabenen Schriftzeichen darauf sollen dirmein Schicksal berichten, wie ich starb und wie meine Eltern hießen. Ich Armer kam zu Tode, als ich die Deichsel an einem Wagen löste,der mit Weinpfählen schwer beladen war.Mein Name ist Ploutos, mit drei Jahren kam ich zur Schwelle des Hades; Antiochis ist meine Mutter, die mir die Brust reichte, die Arme, und der Vater Ploutos, der mir das Grab gemacht hat.

[Rhodos: 1. Jh. v. Chr.; Rhodos, Arch. Museum. Peek (1955) Nr. 1625 = (1960) Nr. 217; Pfuhl–Möbius Nr. 865].

Das Relief zeigt zwei Männer in Mänteln, einen auf einem Steinklotz sitzenden und einen vor diesem stehenden, die in einer Dexiosis-Geste verbunden sind. Am linken Bildfeldrand steht ein kleiner Diener im typischen Trauergestus mit überkreuzten Beinen und der rechten Hand am Kinn.

Relief und Epigramm haben nichts miteinander zu tun.231 Die ganze Stele wurde, wie noch erkennbar, einmal abgearbeitet und die frühere Inschrift so

230 Vérilhac 2,279.231 Warum Pfohl ausgerechnet dieses Beispiel für die enge Zusammengehörigkeit von Stele

und Inschrift wählt, ist nicht nachvollziehbar; vielleicht hat er den Dienerknaben für den kleinen Ploutos gehalten, vielleicht sieht er die Verbindung im Verweis der Inschrift

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Das verstorbene Kind 83

flächendeckend ausgelöscht. Das Epigramm auf den kleinen Ploutos ist nach-träglich angebracht und kann nicht mehr zuverlässig datiert werden; es ist nicht klar, ob es sich um eine Umarbeitung eines Steines handelt, der auf Lager war232 – ein Sonderangebot? –, was eine Datierung des Epigramms als hellenistisch nahelegen würde, oder um eine Wiederbenutzung, welche die Abfassungszeit der Inschrift deutlich in die Kaiserzeit verschieben würde. Die Verwendung dieses Grabsteines belegt auf jeden Fall, wie groß der repräsentative Wert einer Reliefstele an sich eingeschätzt wurde, wenn selbst ein unpassendes Motiv bes-ser erscheint als gar keines.

C1 Grab des Menogenes, Säugling n»pioj ™n tÚmbJ: t…j ¥r' ™sq' Óde; æj ¢tala‹siceirsˆn glaktopage‹ mastù ™pikšklite.oÜnoma Mhnogšnhj moi, ™tšknwsen dš me LÒlouj,Ön pšnqei stugerù proÜlipon ™n mel£qroij.feà Mo…rhj e„ka‹a krit»ria: æj ¢log…stwjAÜghj œktinaj kaˆ patrÕj ¢cn‹u›mšnou.

Ein kleines Kind im Grab! Wer mag es sein? Wie es mit zartenHänden nach der milchspendenden Brust greift!Mein Name ist Menogenes, Lolous zeugte mich,den ich daheim seinem verhaßten Schmerz überließ.Ach, willkürlich sind die Entscheidungen der Moira; wie sinnlos hast du getötet, der Auge und dem Vater zum Leide.

[Smyrna: 41 n. Chr.; zerst. Peek (1955) Nr. 1884 = (1960) Nr. 435; Pfuhl–Möbius Nr. 788; Vérilhac 2,182].

Das Relief aus der frühen Kaiserzeit ist nicht nur eines der ganz seltenen, die eindeutig datierbar sind, sondern zeigt sich auch in seiner Gestaltung sehr un-gewöhnlich: ein kleiner fetter Knabe faßt mit seinen beiden Händen eine frei in der Luft schwebende Brust. Die auch sonst etwas mangelhafte Ausführung des Steins (die Beschriftung wuchert in das Bildfeld hinein) läßt vermuten, daß es sich bei dem Steinmetz vielleicht eher um einen professionellen Hersteller von Votivreliefs gehandelt hat, auf denen desöfteren separate Körperteile dar-

auf die Stele; gerade dieser ist aber eher ein Hinweis für die Nichtzusammengehörigkeit: Pfohl, Gerhard: Monument und Epigramm. Studien zu den metrischen Inschriften der Griechen. Festschrift 75 Jahre Neues Gymnasium Nürnberg (Nürnberg 1964) 8; vgl. auch: Ehrengut, Michael: Mors immatura: Eine Studie griechischer Epigramme vom 6. bis zum 1. Jh. v. Chr. (Diss. masch. München 1979) 85ff.

232 Eine solche Umarbeitung kann sogar das Bildfeld der Stele betreffen, s. z.B. Pfuhl–Mö-bius Nr. 757 (aus einem Mädchen wurde, an dem unveränderten Körper noch deutlich erkennbar, durch Änderung des Kopfes ein Knabe gemacht).

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Das Kind und der Tod84

gestellt werden. Das Epigramm nimmt Bezug auf die Darstellung und fragt ausdrücklich beschreibend nach dem Namen des Säuglings, der „mit zarten Händen die milchspendende Brust“233 umfaßt – vielleicht hätte man sonst bei einem so ungewöhnlichen Motiv in diesem Kontext auf den ersten Blick dem nicht getraut, was man zu erkennen glaubt. Der Rest der Inschrift erschöpft sich in der Namensnennung des Verstorbenen, der Eltern und der Klage über die Willkür der Moira.

Bemerkenswert ist bei dieser sehr individuellen Darstellung das ikonogra-phische Erbe der hellenistischen Grabreliefs, das in den mehr normierten Dar-stellungen der Kaiserzeit oft sogar noch stärker zu beobachten ist: der kleine Menogenes zeigt zwar kindliche Nacktheit, viel Babyspeck und einen Scheitel-zopf, ist also in viel höherem Maße seinem Alter entsprechend dargestellt als es bei hellenistischen Beispielen der Fall ist – aber trotzdem trägt er die Chlamys, die man im Rücken noch typisch wehen sehen kann; das Giebelfeld zeigt den vorgesehenen Platz für den smyrnäischen Ehrenkranz, der nicht mehr ausge-führt worden ist.

T1 Theokrite, 3 Jahre alt

¡ trištij koÚra Damatr…ou œ[n pote patrÒj] aƒmÚla kwt…llous' õcet' ¢po[ftimšna],mounogen»j, ð xe‹ne, Qeokr…ta, ªj [tÒde s©ma]dšrkeai æra…oij ¥nqes[i kruptÒmenon].

Das dreijährige Mädchen des Demetrios, das einst im Haus des Vaterssüß plapperte, ging zu den Toten.Die einzige Tochter, Fremder, Theokrite, deren Grabdu hier siehst, von üppigen Blumen bedeckt.

[Demetrias: 3./2. Jh. v. Chr.; Peek (1955) Nr. 840 = (1960) Nr. 147; Griessmair 49; Vérilhac 2,144].

T2 Diogenes, 11 Jahre alt

ca…rein tÕn k[at]¦ g©j e‡paj, xšne, Diogšnh me ba‹n' ™pˆ s¦n pr©xin tÚncanš q' ïn ™qšleij.™nneakaidecšthj g¦r ØpÕ stuger©j ™dam£sqhnnoÚsou kaˆ le…pw tÕn glukÝn ¢šlion,¡n…k' œdei me goneàsi t…nein c£rin: ¹ d� sun»mwnL£qa e„j ¢fanÁ tÒnde (...).

233 Zu dem ungewöhnlichen Wort glaktopag»j als Hinweis auf die Todesursache des Säuglings s. Pfuhl, Ernst in: Archäologischer Anzeiger 19 (1904) 186 f.Pfuhl, Ernst in: Archäologischer Anzeiger 19 (1904) 186 f.

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Das verstorbene Kind 85

Grüße, Fremder, den, der hier unter der Erde liegt: mich, Diogenes; dann geh’ (wieder) deinen Geschäften nach: mögen sie dir gelingen!Elfjährig niedergezwungen von einer unheilvollenKrankheit verlasse ich das süße Sonnenlicht,wo ich mich meinen Eltern hätte dankbar zeigen müssen; die freundliche Lethe ... in diesen dunklen ...

[Pholegandros: 3./2. Jh. v. Chr.; Peek (1955) Nr. 1214; Griessmair 33].

T3 Kleines Kind

ð tšknon, Öj p©s…n te broto‹‹j› p©s…n te qeo‹sinzhlwtÕj ™gšnou kaˆ ™p…fqonoj ‹Ön› l£ce da…mwn.nàn dš se Ð spe…raj kaˆ ¼ ‹se› tekoàs£ te m»thrpenqoàsin, t¾n s¾n molp¾n zhtoàntej ™n o‡kwi kaˆ t¾n s¾n ‹™›r£thn, ¿n 'A…daj katšcei,kaˆ su‹no›m»likaj, o‰ m‹e›t¦ soà ™gšnonto, ™sorîntejkla…ousin mn»mhi: s¦ d� Ñs‹tš›a ga‹a kalÚptei.

Mein Sohn, der du von allen, Menschen wie Göttern,bewundert wurdest und den ein neidisches Schicksal raubte; dein Vater, der dich zeugte, und deine Mutter, die dich gebar,sie trauern nun um dich, suchen deine Stimme im Hausund deine Liebe, die nun der Hades birgt; und beim Anblick deiner kleinen Freunde, die stets um dich waren,weinen sie im Gedenken [an dich]; deine Gebeine aber umhüllt die Erde.

[Paphos, Zypern: Ende 3. Jh. v. Chr.; Peek (1955) Nr. 1509; Griessmair 48f.; Vérilhac 2,141].

T4 Asklepiodotos, 5 Jahre alt

™p' çkumo[…]rou [t]oàton 'AsklhpiodÒtoupat¾r NÒhtoj cîsen eÙerkÁ t£fonkaˆ xestÕn o„ktr[o]à paidÕj ¢nf[ˆ] s»matiœqhke bwmÕn pentaštouj te e„kë tšknouken¾n Ônhsin Ñmm£twn car£xato,t¾n p©san e„j gÁn ™lp…dwn krÚyaj car£n:m»thr d� ™n o‡koij ¡ t£laina ÑdÚretai,nikîsa qr»noij penq…mhn ¢hdÒna.

Über dem früh verstorbenen Asklepiodotosschüttete der Vater Noetos diesen schön eingehegten Hügel auf,und auf des armen Sohnes Grab setzte er den feingeglätteten Altarsteinund ließ ein Bild des Fünfjährigen darauf einmeißeln –leere Augenweide;denn alle Freude und Hoffnung hat er in der Erde geborgen.

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Das Kind und der Tod86

Die Mutter aber jammert zuhause, die Unglückliche, und übertrifft mit ihren Klagen selbst die trauernde Nachtigall.

[Kios, Bithynien: 3./2. Jh. v. Chr.; Peek (1955) Nr. 661 = (1960) Nr. 231; Véril-hac 2,210; 378].

T5 Aphrodisia, 8 Jahre alt

¹ stercqe‹sa cÚdhn 'Afrodis…h oÛneka terpnÁjaƒmul…hj ƒer¾n t»nde lšlogca kÒnin,Ñktaštij goer¦j ÑdÚnaj tokšesi lipoàsa,ïn 'A…dhj oÙ d¾ baiÕn ™pistršfetai.¢ll' Ð parën e‡paj »'Afrodis…h eÜcari, ca‹re«[aÙtÕj d¾ c]a…rwn ™xanÚsaij [¢trapÒn].

Die wegen ihres süßen Geplauders über alles geliebte Aphrodisiaempfing diese heilige Erde;mit acht Jahren ließ sie den Eltern Jammer und Schmerz zurück;doch Hades kümmerte das überhaupt nicht.Du aber, der du vor dem Grab stehst, sprich: Gruß dir, liebliche Aphrodisia!Und setze dann in Frieden deinenWeg fort.

[Amathus, Zypern: Mitte des 2. Jh. v. Chr.; Peek (1955) Nr. 698 = (1960) Nr. 126].

T6 Demetrios, 11 Jahre alt

DÁloj mšn s' œqrey[e], p£trhj d� nom…zhi 'Aqhnîn Dhm»trie, ™g d� gonÁj e�doj œfuj car…hj paide…hi t' eâ p£shi [™]pšprepej ºd� kaˆ a„do‹ ¼likaj: ˜ndecšthj d' ½luqej e„j 'A…dhn. sÕj d� pat¾r o„ktrÕn Poseidènioj Ãmar ™se‹den m»thr te E„r»nh se‹o ka[t]oicomšnou. ¢ll' `ErmÁ, Ma…hj tškoj ¥fqiton, eÜfroni qu[mîi] [g]a…hj ™g kÒlpoij [¢mf]ag£paze kÒron.

Delos hat dich genährt, deine Heimat aber ist in Athen,Demetrios. Seit deiner Geburt warst du reizend anzusehen undin jedem Zweig der Bildung unter deinen Altersgenossen hervorstechend, auch durch Zucht; elfjährig kamst du in den Hades.In Jammer erlebten dein Vater Poseidonios und deine Mutter Eirene den Tag,an dem du starbst.Hermes, Maias unsterblicher Sohn, mit freundlichem Sinnnimm gastfreundlich auf im Schoße der Erde den Jungen.

[Eretria: 2./1. Jh. v. Chr.; Peek (1955) Nr. 1518 = (1960) Nr. 202; Griessmair 45; Vérilhac 2,29; 37; 84].

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Das verstorbene Kind 87

T7 Thaleia, 5 Jahre alt

[Q£leia F…lwnoj, c]a‹re[ ]a‹re[tÚmboj, Ön ™nq£d' Ðr©ij, koÚr]aj, ð xe‹ne, kalÚpt[ei][pÒtmwi ¢pofqimšnaj] dakruÒenti dšmaj:[§n ............]ra potˆ zofÕn ½gage [Mo‹ra],[eâte g]alaktorÚt[ou p]aàs[e ...... li]b£doj.a„n¦ d� muro[mšna kela]de‹ tškoj éj tij ¢hdè[n][geinamšn]h Qale…hn Tat£rion [fqimšnan]pentašth, MoÚsaisi meli[fqÒggoisi poqei]n£n,KÚpridoj ƒmertî[n d' ¥mmoron « qal£]mwn.¢ll¦ sÝ t¦n [kat¦ g©j ca…rein lšg]e pa‹da F…lwnoj [dÚsbaton § katšd]u ¢trapÕn e„j 'A…dan.

[Thaleia, Tochter des Philon, sei gegrüßt] [...]Dieses Grab, das du siehst, Fremder, bedeckt die Gestalt eines Mädchens, das verstorben ist – sein Los Anlaß für viele Tränen. Die [...] Schicksalsgöttin hat es ins Dunkel geführt,als es gerade aufhörte, die fließende Milch zu trinken.

Fürchterlichen Klagegesang läßt die Mutter Tatarion, wie die Nachtigall, erklingen über ihr Kind, die verstorbene Thaleia,die Fünfjährige, die von den Musen mit den süßen Stimmen ersehnt wird.Ach, sie hat das liebliche Brautgemach der Kypris nicht erreicht.Aber du, sprich: „ Sei gegrüßt, Tochter des Philon, unter der Erde, die den unwegsamen Pfad zum Hades beschritten hat.“

[Milet, Ende 2. Jh. v. Chr.; Peek (1955) Nr. 756].

T8 Tmolos, 9 Jahre alt

Tmîloj Menekr£touuŒa Menekr£teoj katšcei kÒnij ¤de qan[Ònta]Tmîlon, Öj ™nnešthj ½luqen e„j 'A…da,™kp£glwj de…xaj ™rat¾n fÚsin, §n Ð b…aioj da…mwn ™x zwîn ¼rpasen a„fnid…wj,matrˆ lipën stugerÕn lÚpaj ¥coj, μ perˆ paidÒjprwtogÒnou poliÕn gÁraj ™petrÒcasen.

Tmolos, Sohn des MenekratosDiese Erde hier hält den verstorbenen Sohn des Menekrates umfangen –den Tmolos, der als Neunjähriger in den Hades kam.Wunderbar hatte er seine liebenswerte Natur gezeigt, welche der Daimon plötzlich gewaltsam aus der Mitte der Lebenden raubte.Der Mutter ließ er den verhaßten Schmerz der Betrübnis zurück: wegen ihres erstgeborenen Kindes kam über sie das graue Alter.

[Lydien, 2./1. Jh. v. Chr.; Merkelbach–Stauber 1 Nr. 04/25/05].

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Das Kind und der Tod88

T9 Alkimachos, 3 Jahre alt

A„ak…dhj gšnoj e„m…, NeoptÒlemoj d� pat»r mou,oÜnoma d' 'Alk…macoj, tîn ¢p' 'Olunpi£doj.nhp…acon dš me Mo‹ra kaˆ ¢ndr£sin e�sa fronoànta tÕn trišth tÚnbJ tùd' Øpšqhke nškun.

Ein Aiakide bin ich von Herkunft, Neoptolemos ist mein Vater, mein Name ist Alkimachos, aus der Familie der Olympias.Die Schicksalsgöttin legte mich, der an Vernunft mannesgleich war, den Dreijährigen, tot in dieses Grab.

[Bei Methone (?), Makedonien: Mitte 1. Jh. (?); Peek (1955) Nr. 1063; Vérilhac 2,8].

T10 Medeas, 7–10 Jahre (?) alt

patrÕj 'Arista…ou gšnoj aÙx»sont£ se pho…ºlp…sam‹e›n p£trhi kàdoj ™leusÒmenon:¥rti g¦r eÙxunštouj se dahmosÚnaj meqšpontaKuzz…kou, ¿n ™pÒqeij, gÁ l£cen çkÚmoron, Meid…a, ºiqšoij d� metaprefqeˆj ˜t£roisinp©sin ¢nei£wn k£llipej o„ktrÕn ¥coj.mÚrontai d� gone‹ej Øp' ¥[lg]esin, e„j spodi¾n g£r ™xšcean moÚnhn front…da ghrokÒmon:oÙd' ™pˆ numfid…oij qalameÚmasi d´daj ¢n£yaiœfqasan: « tšknwn ™lpˆj Øphnšmioj.zhlwtÕj d' ¢sto‹si kaˆ ¢llodapo‹si pefhnèjt¾n ¢ret¾n zîsan kaˆ ™n fqimšnoisin œceij.

Wir, deine Verwandten, hofften, daß du den Familiennamen deinesVaters Aristaios (noch) erhöhen, deinem Vater Ruhm bringen würdest; gerade als du anfingst, tieferes Verständnis zu entwickeln,hat dich, jungverstorben, die Erde von Kyzikos, das du (immer) innig liebtest, aufgenommen, Medeas; du ragtest unter all deinen jungen Gefährten hervor,ließest Kummer zurück und jammervollen Schmerz.Deine Eltern zerfließen vor Schmerz; denn mit der Asche schütteten sie ihre einzige Hoffnung für das Alter aus. Die Fackeln im Brautgemach zu entzünden, war ihnen nicht mehr gegeben: die Hoffnung auf Kinder ist dahin.Ein deutliches Vorbild für Bürger und Fremde warst du – deine Tugend lebt auch unter den Toten weiter.“

[Histria, Moesien: Ende des 1. Jh. v.Chr.; Peek (1955) Nr. 1519; Griessmair 33, 82f.].

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Das verstorbene Kind 89

T11 Sarapion, 3 Jahre alt

Sarap…wna `HrodÒtouà ·' o‡nh toà paidÕj ¢fe…leto pneàma Sarap©:pšnqoj ¡drÕn progÒnoij Mo‹ra ™pšklwse b…ou.`HrodÒtou patrÕj trišthj nÒon ™xapat»sajkškruptai tÚmbJ prÕj patr…doj c£raki.

Sarapion, den Sohn des HerodotWahrlich, eine Weintraube hat den Atem des Knaben Sarapas hinweggenommen;die Schickalsgöttin hat den Eltern schweres Leid zugesponnen. Der Dreijährige hat die Hoffnung seines Vaters Herodot betrogenUnd ist beim Wall der Vaterstadt im Grab geborgen.

[Smyrna, „hellenistisch“; Merkelbach–Stauber 1 Nr. 05/01/58].

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