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Brigitte Musche DiesseitsBrigitte Musche DIESSEITS UND JENSEITS Das Motiv der »Reise in die...

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Brigitte Musche R. G. Fischer Das Motiv der »Reise in die Unterwelt« in Mythen, Märchen und Sagen aus aller Welt Diesseits und Jenseits
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Auf der ganzen Welt ist seit uralter Zeit das

Motiv der Unterweltsfahrt in Mythen,

Märchen und Sagen verbreitet. In diesem

Buch werden zahlreiche nacherzählt. In

einem Nachwort wird versucht, die Hin -

tergründe dieses Motives und die Gründe

für seine große Verbreitung und offen-

sichtliche Beliebtheit zu finden.

Brigitte M

uscheD

iesseits und Jenseits

Brigitte Musche

R. G. Fischer

Das Motiv der »Reise in die Unterwelt« in Mythen, Märchen und

Sagen aus aller Welt

Diesseits und

Jenseits

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Brigitte Musche

Diesseits und Jenseits

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Brigitte Musche

DIESSEITS UND JENSEITS

Das Motiv der »Reise in die Unterwelt« in Mythen, Märchen und

Sagen aus aller Welt

R. G. Fischer Verlag

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind imInternet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 by R. G. Fischer VerlagOrber Str. 30, D-60386 Frankfurt/MainAlle Rechte vorbehaltenSchriftart: BaskervilleHerstellung: ef/bf/2BISBN 978-3-8301-9666-2 PDF

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Inhalt

Einleitung .......................................................................... 9

Das Alte Ägypten ............................................................... 33Die Nachtfahrt der Sonne .............................................. 35Der Magier Merirê und sein Golem (Mi’jare’ in der Unterwelt) ............................................. 41Si-Osire führt seinen Vater Setom Chaemwêse in die Unterwelt ............................................................ 44

Der Alte Orient .................................................................. 51Enlil und Ninlil ............................................................. 55Nergal und Ereschkigal .................................................. 57Inannas Gang zur Unterwelt (Ischtars Höllenfahrt) .......... 61Gilgameschs Lebenssuche .............................................. 69Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt (Enkidus Kunde aus der Unterwelt).................................. 78Der Streit der Götter Mot und Ba’al ............................... 80

Klassische Antike ................................................................ 83Herakles ....................................................................... 86Theseus ........................................................................ 90Orpheus und Eurydike .................................................. 92Aeneas .......................................................................... 95Amor und Psyche ......................................................... 104

Keltisches Gebiet ................................................................ 113Cuchulinns Fahrt auf die »Insel der Seligen« .................... 116Cians Suche nach der Wunderkuh .................................. 122Pwyll, Fürst von Dyfed .................................................. 125Die Beraubung von Annwn ........................................... 129

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Germanisches Gebiet .......................................................... 131Baldurs Träume und Baldurs Tod ................................... 134Freyrs Werbung (Skirnirs Ritt / Das Skirnirlied) .............. 139

Finnland ............................................................................ 143Väinämöinens Fahrt ins Totenland ................................. 144

Slawisches Gebiet ............................................................... 151Wie ein Armer Seelen aus der Hölle herausholte ............. 153Madejs Lager ................................................................. 156Alecko und seine drei Schwestern ................................... 162

Kaukasisches Gebiet ........................................................... 169Das Verschlingen der Sonne ........................................... 171Soslan im Totenland ...................................................... 173Der Alte und sein Sohn .................................................. 181

Iran/Persien ........................................................................ 187Die Höllenreise des Ardâi-Virâf ...................................... 188Prinz Dschamschids Abenteuer in der Unterwelt ............ 191

Indien ................................................................................ 197Taten des Gorakhnâth ................................................... 198Königin Mayanâs Kampf gegen den Tod ......................... 199Hâḍî Siddha als Sieger über den Tod ............................... 200

China ................................................................................ 201Wie Muliän seine Mutter aus der Hölle holte .................. 202Yang Gui Fe .................................................................. 204

Japan .................................................................................. 209Izanagi und Izanami ....................................................... 211Eine Unterweltsfahrt ..................................................... 212

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Sibirisches Gebiet ............................................................... 215Wie ein Mann in die Unterwelt ging .............................. 217Die beiden Schamaninnen ............................................. 218Kan Mirgän, Komdei Mirgän und Kanak Kalesch ........... 222

Arktisches Gebiet ............................................................... 231Von der Reise eines Schamanen und ihren Folgen ........... 232

Nordamerika ..................................................................... 235Die Reise ins Schattenreich ............................................ 236Der Ursprung des Begräbnisrituals ................................. 242Die Tochter der Sonne ................................................... 250

Mittelamerika .................................................................... 255Die Abenteuer der Zwillinge mit den Herren von Xibalbá ... 257Nuxi’, der Maulwurffänger ........................................... 262Quetzalcoatl .................................................................. 271

Südamerika ........................................................................ 273Die Frau, die ihrem Mann nach Aguararenta folgte ......... 274Der Ursprung des Honigfestes ....................................... 276

Ozeanien und Australien .................................................... 279Mauis Wanderungen zwischen den Welten ..................... 280Wie der Wirrinun den Weg ins Seelenland bahnte .......... 285

Afrika ................................................................................ 291Im Totenreich ............................................................... 293Warum einige Männer Haare auf der Brust tragen ........... 296

Südeuropa der Neuzeit ....................................................... 301Das Mahl der Toten ....................................................... 302Pierre Lis ...................................................................... 305Von drei Brüdern, die viele Abenteuer erlebten ............... 307

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Nachwort .......................................................................... 315

Literaturverzeichnis ............................................................ 361

Illustrationen zu den einzelnen Kapiteln .............................. 396

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Einleitung

Dieses Buch enthält eine Zusammenstellung von Mythen,Märchen und Sagen aus aller Welt mit dem Motiv der»Reise in die Unterwelt«, auch »Unterweltsreise/Unter-weltsfahrt« sowie »Höllenfahrt« (Descensus ad inferos)1

genannt.Der Mythos (altgriechisch ursprünglich »Wort«, »Rede«,

später »Erzählung/Geschichte«) »hat etwas zu tun mit derVorzeit, mit der Schöpfung des Universums und der Erde.Deshalb hat das erklärende, ätiologische Element in Mythenimmer einen wichtigen Anteil. Mythen sind vorzugsweiseGöttergeschichten; sie sprechen von Handlungen und Lei -denschaften der Götter, ihren Kämpfen, Leiden und Siegen.Menschen haben an der Göttergeschichte insofern Anteil,als die göttliche Welt auf die irdische einwirkt. Inhaltlichgesehen gibt es verschiedene Arten von Mythen: theogo -nische, kosmogonische und anthropogonische; eschatolo -gische und ätiologische oder Urstandsmythen, zum Beispieldie, die den Ursprung des Todes, des Sexuallebens, der Sint-f lut und die Neuschöpfung der Welt erklären. Es gibtMythen, die im Zusammenhang mit Naturphänomenenstehen; Mythen, die historische Überlieferungen festhalten,und Mythen, die metaphysische Ideen veranschaulichen.«

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1 Hinabsteigen, -fahren in die Unterwelt/Hölle.

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[1] So lautet eine der zahlreichen Erklärungen des BegriffesMythos. Sie wird hier zugrunde gelegt.

Wie schon angedeutet, erzählen auch Märchen undSagen von Unterweltsreisen. »Das Wort ›Märchen‹ ist imGriechischen von ›Mythos‹ abgeleitet: Paramýthi meintdem Wortsinn nach eine Erzählung aus der Umgebungdes Mythos« [2]. Und hier liegt auch der wesentlicheUnterschied des Märchens zum Mythos: Es ist, nachMeinung etlicher Forscher, eine verweltlichte Form desMythos. Der Mythos sinkt zum Märchen herab, »sobaldsein Inhalt nicht mehr von Glauben getragen wird«. [3] Sohaben Mythen und Märchen, ganz allgemein gesagt,»viele stoff liche Übereinstimmungen«. [4] Sagen hinge-gen sind weltliche Geschichten mit »einer für wahr gehal-tenen Begebenheit mit historischem Kern«. [5]

Diese Definitionen orientieren sich an der europä ischenDichtung; bei der außereuropäischen sind die Übergängef ließend.

Mythen, Märchen und Sagen spielen sich in der fernenVergangenheit ab, im Diesseits, aber auch im Jenseits. »DasJenseits (…) meint die außer- bzw. über- und unterirdischeräumliche Lebenswelt, die den Aufenthaltsort der Gotthei-ten und Geister, wie auch der Verstorbenen bildet.« [6] Innahezu allen Kulturen, religiösen und philosophischenSystemen existieren ziemlich übereinstimmende Weltbil-der. Grob gesagt: Über der Erde, in der antiken Vorstellungmeist eine kreisförmige Scheibe, dachte man sich denHimmel, unter der Erde die Unterwelt. Die Bereiche galten

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als miteinander verbunden. So gelangte man in die Unter-welt durch geheime, gefähr liche Zugänge, meist Höhlenoder Brunnen. In den Himmel gelangte man zum Beispielüber eine Himmelsleiter, eine Treppe, ein Seil, eine Brücke,einen Weltenbaum.2 Der Himmel ist, resümierend gesagtund je nach religiösen Vorstellungen, der Sitz der denMenschen wohlgesonnenen Gottheiten, die Unterwelt derAufenthaltsort der Verstorbenen, unerbittlich beherrschtvon Göttern und deren Gefolge, die den Menschen wenigerwohlgesonnen sind. Je nach Glaubensvorstellungen haltensich die Toten dort entweder vorübergehend oder endgültigauf. Die Unterwelt ist vom Diesseits getrennt zum Beispieldurch einen Fluss, einen See, einen Meeresarm oder eineBrücke. »Um ins Jenseits zu gelangen, bedarf der Tote ofteiner entsprechenden Ausrüstung, zum Beispiel ein Toten-schiff bzw. ein Totenbuch oder einen Seelenführer.« [7]Lebende können die Unterwelt in der Regel nicht betreten.Und doch existiert weltweit das Motiv der Unterweltsfahrt,d. h. dem in der Regel bewusst vorgenommenen, meist frei-willigen, seltener zufälligen oder erzwungenen Gang einesHelden/einer Heldin menschlicher, halbgöttlicher odergöttlicher Natur in die Unterwelt, die er/sie nach begrenzterZeit unbeschadet wieder verlässt. Selten sind Schilderungenmit einem unglücklichen Ausgang, d. h., der Reisende/ dieReisende schafft die Rückkehr aus der Unterwelt nicht,muss dort bleiben (siehe hierzu Beispiel Seite 78 f.). In derRegel ist der Gang in die Unterwelt mit einer Aufgabe

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2 Weltenbaum: s. S. 333 f.

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verbunden, einer besonderen Absicht, zum Beispiel Ver -storbene herauszuholen.

Das Motiv der Unterweltsfahrt ist abzugrenzen vonDichtungen, die zwar von der Unterwelt/Totenwelt odervon Toten/Verstorbenen handeln, denen aber weitere,genauere Berichte über eine »Reise« in die Unterwelt undeinen dortigen Aufenthalt fehlen. Die antike griechischeMythologie weist eine Variationsvielfalt an Berichtenüber Unterwelt, Tod und Tote auf. Deshalb wird hier anBeispielen aus ihr der Unterschied zum Motiv der Unter-weltsfahrt und dessen Besonderheit deutlich gemacht.

So gibt es Berichte über Verstorbene, die aus der Unter -welt zurückgeschickt werden oder die aus eigener Kraftwieder von dort zurückkehren.

Aus der Unterwelt zurückgeschickt wurde beispiels-weise Alkestis, die Gattin des Königs Admetos von Pheraiin Thessalien.

König Admetos, in der Blüte seiner Jahre, sollte sterben. Erwollte aber noch nicht sterben. Gemäß einem Versprechen derGöttin Artemis und der Fürsprache des Gottes Apollon sollte ervor dem nahen Tode bewahrt werden, wenn aus seinem familiä-ren Umfeld jemand aus Liebe zu ihm freiwillig für ihn stürbe. Sobat er seine alten Eltern, für ihn zu sterben. Die aber wolltennicht. Da nahm Alkestis, seine Gattin, aus Liebe zu ihm Gift undstarb wenig später. In der Unterwelt angekommen, schickte siedie Unterweltsgöttin erbost zurück zu den Lebenden, weil siesich betrogen fühlte und solch ein Opfer übergroß war.3

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3 Nach einer anderen Version rettete Herakles sie vor dem Tode – eineseiner weiteren Heldentaten (s. S. 86 ff.).

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Aus eigener Kraft gelang dem trickreichen Sisyphos dieRückkehr aus der Unterwelt.

Sisyphos war zu Lebzeiten ein großer König und Gründer derStadt Korinth. Weil er Gott Zeus in einer Liebesangelegenheitverraten hatte, schwor dieser ihm Rache. Er befahl deshalbdem Totengott Hades, Sisyphos als Toten in die Unterwelt zuholen, um ihn dort zu strafen. Doch Sisyphos durchschaute dieSituation. Als Hades ihn holen wollte, bat er ihn, ihm doch zuzeigen, wie man die von ihm mitgebrachten Fesseln verwen-det, und fesselte ihn mit dessen eigenen Fesseln. »So war Hadeseinige Tage im Hause des Sisyphos gefangen. Dies war einewidernatürliche Situation, denn niemand konnte sterben.«Schließlich wurde Hades von dem starken Ares befreit, undSisyphos musste als Toter hinab in die Unterwelt. Doch bevorman ihn fortführte, befahl er seiner Frau, ihn nicht zu begra-ben. In der Unterwelt angekommen, bat er hinterlistig dieUnterweltsgottheiten um Erlaubnis, kurz auf die Erde zurückzu dürfen, um seine vermeintlich pietätlose Gattin an ihrePf licht zu erinnern. Danach versprach er zurückzukehren. Erdurfte gehen, kehrte aber, entgegen seinem Versprechen, nichtwieder zurück. Als er dann im hohen Alter starb, folgte dieStrafe für seinen Wortbruch: Bis in alle Ewigkeit muss er einengewaltigen Felsblock auf einen hohen Berg hinaufwälzen – derdann, fast oben angelangt, wieder hinabrollt. [8]

Einige Mythen erzählen von Gottheiten, die zeitweisewieder aus der Unterwelt heraus dürfen, weil entweder dieLiebe der Hinterbliebenen die Totengottheiten be rührtoder praktische Gründe sie zur Herausgabe bewegen.

Bei Kore4, der Tochter der Göttin Demeter, war dies

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4 Kore (Mädchen), Beiname der griech. Persephone, lat. Proserpina, Unter -weltsgöttin, aber auch Göttin der Auferstehung und der Fruchtbarkeit.

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so. Sie war vom Gott der Unterwelt geraubt worden,durfte aber auf Bitten ihrer Mutter jedes Jahr für einigeMonate zu ihr zurück. Die restlichen Monate des Jahresjedoch musste sie bei ihrem Gatten, dem Herrn derUnterwelt, verbringen, als Königin der Unterwelt, unterdem Namen Persephone.

Zu dieser Entscheidung kam es, weil der Gott der Unterwelt,mit Einwilligung des obersten olympischen Gottes Zeus, diejunge Persephone als Gattin für sich geraubt hatte. Über dieseTat war der Zorn ihrer Mutter Demeter, der Göttin desGetreides und der Erdfruchtbarkeit, so groß, dass sie dieFrüchte des Feldes nicht mehr wachsen ließ. Damit dieMenschen nicht verhungerten, wollte Zeus die Göttin beruhi-gen und schickte Gott Hermes in die Unterwelt, um Perse-phone zurückzuholen.Doch Persephone hatte, entgegen den Regeln der Unterwelt,dem Speiseverbot, heimlich einen Granatapfel gepf lückt undsieben Samenkörner gegessen. Dabei hatte ein Gärtner siebeobachtet, der dies dem Unterweltsgott erzählte. Deshalbdurfte sie eigentlich nicht mehr aus der Unterwelt zurück. Umaber die Göttin Demeter umzustimmen, damit sie die Früchteder Erde wieder wachsen ließe, kam es auf Wunsch des Zeuszu dem erwähnten Kompromiss: sechs Monate in der Unter-welt, sechs Monate bei der Mutter auf dem Olymp, demWohn- und Versammlungsort der Götter.5 [9]

Der Mythos von »Adonis« erzählt von der gleichen Wan -derung zwischen den beiden verschiedenen Sphären.

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5 Eine andere Version über den Granatapfel erzählt der Homerische Hymnusan Demeter (II, 371 ff.). Dort gab ihr der Herr der Unterwelt heimlicheinen Kern des Granatapfels zu essen. Persephone erzählte dies ihrerMutter. Auch dort darf sie trotzdem zeitweilig aus der Unterwelt.

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Die Göttinnen Aphrodite und Persephone haben sich in denschönen Jüngling Adonis verliebt. Deshalb möchte ihn jede inihrer Nähe haben – Persephone im Hades, Aphrodite auf demOlymp. Um die Wünsche beider Göttinnen zu erfüllen undnach einigen Schwierigkeiten entscheidet Gott Zeus: Adonismuss während der dunklen Jahreszeit zu Persephone, währendder hellen zu Aphrodite. [10]

Eine Variante wird von dem Helden- und Geschwister-paar Kastor und Polydeukes (den Dioskuren) berichtet.

Leda, die Gattin des Königs Tyndareos, empfing am Ufer einesFlusses von Gott Zeus, der sich in einen Schwan verwandelthatte, und in der Nacht darauf von ihrem Gatten. So gebar siezur gleichen Zeit ihrem Gatten die Kinder Kastor und Klytaim-nestra und dem Gott Zeus die Kinder Helena und Polydeukes.6

Die beiden Jungen, Kastor und Polydeukes, wuchsen als Zwil-linge auf und wurden große Helden. Nach mancher Heldentatwurde Kastor in einer Schlacht tödlich verwundet und kam, alsSohn eines Sterblichen, in die Unterwelt. Polydeukes litt nichtnur unter dem Tod seines Bruders, sondern auch darunter, dasser als Sohn des Zeus nach dem Ende seines irdischen Lebens aufden Olymp gelangen und deshalb ewiglich von seinem Brudergetrennt sein wird. Dies wollte er nicht hinnehmen, und so bater seinen Vater Zeus, ihn wieder mit dem Bruder zu vereinen,indem er auch ihn sterblich mache. Von so viel Bruderliebegerührt, erlaubte Zeus, dass sie sich zusammen abwechselndauf dem Olymp und in der Unterwelt aufhalten dürfen. Außer-dem setzte er ihr Bild als Sternzeichen der Zwillinge an denHimmel. [11]

Eng damit verwandt sind Schilderungen der Wiederer-weckung Toter, insofern als auch sie aus der Welt derToten wiederkehren.

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6 So die meistverbreitete Version. Daneben gibt es noch weitere.

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Aus der griechischen Mythologie ist folgendes Beispiel zunennen:

Asklepiós (griech.; Aesculapius, lat.; Äskulap, dt.), Sohn desGottes Apollon und der Koronis, Tochter des Königs Phle-gyas, war ein berühmter Arzt seiner Zeit. Sogar Totevermochte er wiederzuerwecken. »Athene hatte ihm auchzwei Gläser mit dem Blute der Gorgo Medusa gegeben. Mitdem Blute, das ihrer linken Seite entnommen war, konnte erTote wiedererwecken.«Nach einer anderen Überlieferung erweckte er auch Glaukos,den Sohn des Minos von Kreta, indem er dem bereits totenKind, nach dem Vorbild bzw. dem Hinweis einer Schlange,eine heilende Pf lanze (Mistel?) auf legte.7 [12]

Auch in anderen Kulturkreisen ist das Motiv der Wieder-erweckung Verstorbener bekannt. Zwei Beispiele sollenseine weite Verbreitung zeigen.

So erweckte im alten Ägypten die Göttin Isis den GottOsiris von den Toten.

Er war getötet und seine Leiche dem Meer übergeben worden.Durch glückliche Umstände fand Isis ihn nach qualvollerSuche wieder. Aber Gott Seth, der neidische Bruder desOsiris, entdeckte den Leichnam, zerriss ihn in vierzehn Stückeund verstreute diese in den Sümpfen. Isis suchte sie und fügtesie wieder zusammen. Gemeinsam mit ihrer Schwesterumsorgte sie den Leichnam, wodurch sie ihn zu neuem Lebenerweckte. In einer älteren Fassung sind es die Mutter des Osiris und GottRe, die ihn wieder ins Leben zurückholen. »Die Leiche zerfiel,

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7 Einer anderen Überlieferung zufolge war es der Seher Polyeidos, der Glau-kos unter den gleichen geschilderten Umständen zum Leben erweckte.

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aber Nut, die Mutter des Osiris, neigte sich über sie und fügteseine Knochen zusammen, setzte das Herz wieder in den Leibund setzte ihm den Kopf auf. (…) Re hob ihm das Haupt hochund befahl ihm, dass er erwache (…).« [13]

Sehr ähnlich eine Schilderung im finnischen Epos Kalevala.

Der Held Lemminkäinen stirbt bei einer Aufgabe, die ihm beiseiner Brautwerbung als dritte auferlegt worden war. Ein Hirtetötet ihn, zerstückelt seine Leiche und wirft die Teile in denFluss des Totenlandes. Seine Mutter spürt den Tod desSohnes. Sofort forscht sie nach den Umständen seines Todes,eilt mit einer langen Harke zum Todesf luss und durchpf lügtdas Wasser so lange, bis sie alle Teile des Leichnams aufgefischthat. Sie fügt sie zusammen, dann erweckt sie ihren Sohn durchZaubersprüche und -salben wieder zum Leben. [14]8

Als eine Variante der Unterweltsreise ist der Besuch einesmeist unheimlichen Ortes anzusehen, wie zum Beispielein Höhleneingang oder ein Grab auf einer Gräberinsel,um dort mit Verstorbenen in Kontakt zu treten. Die Ilias(X. und XI. Buch) von Homer (um 800 v. Chr.) schildertden Aufenthalt des Helden Odysseus im »Schattenreich«.9

Es ist das vielleicht bekannteste Beispiel hierfür.

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8 Trotz der Ähnlichkeit besteht keine Beziehung zwischen den beidenDichtungen. Die Parallelen gehen vielmehr auf gleiche Glaubensvorstel-lungen, den Schamanismus, zurück (s. hierzu S. 321 ff., bes. Initiations -riten mit Zerstückelung, Wiederzusammenfügung der Knochen).K. Meuli, Kalewala, Altfinnische Volks- und Heldenlieder. Ausgewähltund eingeleitet von Karl Meuli, Basel 1940, 31; s. a. Fromm, Kalevala a.O. 448, Anm. 437 ff. Zu Kalevala, s. a. S. 143.

9 Diese Schilderung wird häufig als Unterweltsfahrt gedeutet, und somitgilt Odysseus als einer der griechischen Helden, die eine solche Fahrtunternommen haben.

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Nach dem Sieg über Troja waren die Griechen wieder heim-gekehrt. Nur Odysseus, Fürst von Ithaka, war mit seinemGefolge noch unterwegs. Ein seltsames Schicksal führte sie aufeine jahrelange Irrfahrt, bei welcher sie viele Abenteuer erleb-ten und Heldentaten vollbrachten. Eine Aufgabe, die Odys-seus auf Wunsch der Göttin Kirke erfüllen sollte, war, die Seeledes verstorbenen blinden Propheten Teiresias im Hades zubesuchen, um ihn über seine – Odysseus’ – Zukunft zu befra-gen. Odysseus erschrak über diesen Auftrag sehr, aber Kirkegab ihm Hinweise, wie er ihn erfolgreich erfüllen könnte. Ersollte sich zum Eingang der Unterwelt begeben, gelegen ineinem Pappel- und Weidenhain. Dort bei einer Felsenkluft,wo die Flüsse Phlegethon und Kokytos in die Unterwelt stür-zen, sollte er eine Grube graben und für die Verstorbenenverschiedene Opfer wie Honig, Milch, Wein, Wasser, Mehlund Tiere bringen sowie ein Gelübde über weitere Tieropferablegen. Odysseus tat alles wie von Kirke angeraten. Sobalddas Blut aus den Gurgeln der geopferten Tiere tropfte, tauch-ten die Seelen vieler Verstorbener auf. »Jünglinge und Greise,Jungfrauen und Kinder kamen, auch viele Helden mit klaffen-den Wunden und in blutbesudelten Rüstungen«, Freunde,Waffenkameraden und endlich der Seher Teiresias. Er prophe-zeite ihm die Rückkehr in die Heimat, die jedoch mit vielenSchwierigkeiten verbunden sein würde. Dann konnte Odys-seus mit seiner Mutter sprechen. Auch kamen zu ihm vieleGattinnen berühmter Helden und erzählten von ihremGeschick. Sodann kamen große Helden, wie zum BeispielAgamemnon, Achilleus und sein Freund. In großem Leidensah er Tantalos und Sisyphos; dann nahten weitere Heldensee-len. Da überkam Odysseus große Furcht, und er segelte mitseinen Mannen davon. [15]

Ähnlich wie dem griechischen Helden Odysseus ergehtes der germanischen Heldin Herwör. Das Herwör-Lied(13. Jh. n. Chr.) schildert, wie sich Herwör bis an die

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Grenzen der Unterwelt begibt, an die Grenze zwischenDiesseits und Jenseits, zwischen Erde und Totenwelt.

Herwör möchte von ihrem verstorbenen Vater ein zum Famili-enbesitz gehörendes Schwert erbitten und vermutet, dass er esim Grab versteckt hält. Deshalb fährt sie zu einer entlegenenInsel, auf der sich neben anderen auch sein Grab befindet. In derNacht leuchten im Nebel Grabfeuer auf. Sie aber geht durchFeuer und Rauch zum Grab ihres Vaters, erweckt ihn, äußertihren Wunsch. Der Vater verweigert ihn ihr zunächst, dochschließlich erhält sie das kostbare Schwert und nimmt mitSegenssprüchen des Vaters wieder Abschied von ihm. Sie kehrtzurück in ihre Welt, er versinkt wie zuvor in der Totenwelt. [16]

Das Motiv der Unterweltsfahrt ist auch abzugrenzen vonVisionen10 und Träumen über die Unterwelt, wenn auchdie Grenzen zum Motiv der Unterweltsfahrt f ließend sind– f ließend insofern, als Erlebnisse in Visionen und Träu-men in vielen Zeiten und Regionen als wahre Erlebnisseangesehen werden und wurden. Auch kann man davonausgehen, dass manche Episode in Mythen, Märchen,Sagen und Erzählungen einging. In seinen Moralia (Moral-philosophische Schriften) schildert z. B. Plutarch (etwa50 n. Chr. – 120/125 n. Chr.) eine solche Vision.

Thespesios, der nach einem unmoralischen Leben gestorbenund nach drei Tagen wieder ins Leben zurückgekehrt sei,berichtete anschließend, wie sein Geist den Leib verlassenhatte und glücklichen wie unglücklichen Seelen begegnet war.

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10 Trotzdem werden, abgesehen von hier in der Einleitung, im Hauptteilzwei Überlieferungen geschildert (s. S. 188 ff., 199). Sie zeigen, wie f lie-ßend die Übergänge zwischen Visionen und Träumen einerseits undMythen, Märchen und Sagen andererseits sind.

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Dies hatte ihn so sehr beeindruckt, dass er fortan ein untadeli-ges Leben führte, um nach dem Tode eine der glücklichenSeelen zu sein. [17]

Wie alt Berichte über Visionen, aber auch Träume sind,zeigt ein lückenhaft erhaltener Text, wohl eine politischeBotschaft aus dem altorientalischen Assyrien11, niederge-schrieben zwischen 700–635 v. Chr., genannt »DieUnterweltsvision eines assyrischen Kronprinzen«. Infreier Auswahl seien hier die markantesten Stellen inknapper Form wiedergegeben.

Am assyrischen Hofe verfügte man über große Macht undgroßen Reichtum. Beides verführte den KronprinzenKummâ zu Übermut, ja hochmütiger Geringschätzung derGötter, offenbar besonders der Unterweltsgöttin, denn diefühlte sich anscheinend verhöhnt durch seinen Wunsch, in dieUnterwelt hinabzu steigen.12 Nachdem er mehrere Gebete andie Göttin gerichtet und ihr geopfert hatte, erfüllte sie ihmtrotzdem den Wunsch, indem sie ihn während des nächtlichenSchlafes im Traum in die Unterwelt versetzte. Und was sah er?Hier ein Ausschnitt aus seinen Schilderungen über verschie-dene angsterregende Dämonen, die vor ihm auftauchten.13

»42 (Na)mtar, den Wesier der Erde, der die Ordnungenschafft, sah ich (!); ein Mensch stand vor ihm; dessen Haupt-haar hielt er in seiner Linken, während er mit seiner Rechtenein Schwert (gefasst hatte) …

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11 Assyrien: altorientalisches Großreich mit wechselnder Ausdehnung,benannt nach der Stadt Assur am Oberlauf des Tigris im heutigen Irak.

12 Weil der Text hier sehr stark zerstört ist, sind die wirklichen Gründeseines Wunsches ungeklärt.

13 Die einzelnen Dämonen, Fremd- und Fachwörter werden hier nichterklärt, denn der Text soll lediglich seine Wirkung auf die Leserschaftentfalten.

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43 (Na)mtartu, die Kebse, hatte einen kuribu Kopf, die Hände(und) die Füße waren die eines Menschen. Der To(d) hatteeinen Schlangendrachen-Kopf, seine Hände waren (die von)Menschen, seine Füße …

44 Der böse (Se)du (hatte) Kopf und Hände von Menschen,war mit einer Tiara bedeckt (und hatte) die Füße eines …-Vogels; mit seinem linken Fuß trat er auf ein Krokodil.Alluhappu (hatte) einen Löwenkopf, die vier Hände (und) dieFüße waren (die von) Mensch(en) …

45 Der ›He(lf)er zum Bösen‹ hatte einen Vogelkopf, seineFlügel waren geöffnet, er f log hin und her; die Hände (und)die Füße waren (die von) Menschen. ›Nimm eilends weg‹, derSchiffer der Erde, (hatte) einen Zû-Kopf, die vier Hände (und)die Fü(ße) …

46 Der To(tengei)st (hatte) einen Stierkopf, die vier Hände(und) die Füße waren (die von) Menschen. Der böse Utukku(hatte) einen Löwenkopf, die Hände (und) die Füße waren (diedes) Zû. Sulak war ein normaler Löwe, auf seinen beidenHinterfüßen sta(nd) er.«

Dann sah der assyrische Kronprinz den König der Unterwelt,Gott Nergal, auf seinem Thron sitzen. Große Furcht verbrei-tete sein Anblick. Der Gott fasste den Kronprinzen bei seinerStirnlocke und zog ihn daran zu sich heran. Da warf sichKummâ, zitternd vor Schreck, vor dem Gotte nieder. Dieseraber brüllte vor Zorn, weil seine Gattin, die Unterweltsgöttin,von dem Kronprinzen, einem menschlichen Wesen, verhöhntworden war. Dafür wollte er ihn mit seinem Stabe töten. Docheine andere Gottheit riet Nergal davon ab. Darauf beruhigtesich Nergal, drohte aber dem Kronprinzen zur Strafe im Reichfortan viel Not, Gewalttaten und Aufstände an. Sodann zeigteman ihm, als Vorbilder und zur Warnung, zwei Herrscher. Dereine, bereits verstorben, war wegen seiner Handlungen undrituellen Opfer den Göttern wohlgefällig gewesen, weshalb sie

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ihn zu seinen Lebzeiten beschützt hatten. Der andere, seinVater, sollte, weil in Sünde verfallen, bestraft werden. Es folgtedie Wiederholung der Strafandrohung, falls sein Vater und ersich nicht änderten. Mit warnenden Worten entließ ihn derGott.

»63–69 Di(es)es Wort sei einem Dorn gleich in euer Herzgelegt! Geh fort zur Oberwelt, bis ich (einst) an dich denkenwerde! ›Er sprach (es zu mir,) da erwachte ich‹, und wie ein Mann,der Blut vergossen hat, der im Rohrdickicht allein umher-schweift, den ein Häscher gefangen nimmt, so dass sein Herzhäm(m)ert; (…)«

Aus dem weiteren Text geht hervor, dass sich der Kronprinzzum Guten besann, damit die bösen Androhungen nichteinträfen. [18]

So weit Dichtungen über Verstorbene/Tote in der Unter-welt, Pendlern zwischen unterer und oberer Welt, Wieder-erweckten, Reisen in Grenzgebiete zwischen dieser Weltund der Welt der Toten, Berichte über Träume und Visio-nen von der Unterwelt. Nicht dabei waren Dichtungenüber Reisen in die Unterwelt bzw. Aufenthalte dort. Siewerden in den nachfolgenden Kapiteln erzählt.

Bevor aber diese Fahrten/Gänge dorthin an Beispielenvorgestellt werden, noch ein Hinweis darauf, dass es auchSchilderungen über Fahrten/Reisen in die Oberwelt, denHimmel, gibt. Ein berührendes Beispiel hierfür ist dasaltorientalische Epos über den legendären König Etana14

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14 Laut sumerischer Königsliste 12. König der 1. Dynastie von Kisch nachder Sintf lut.

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(älteste erhaltene Fassung aus der Zeit zwischen dem 19.–16. Jh. v. Chr.).

»Nach älteren Übersetzungen will Etana, König der StadtKisch15, für seine gebärende Frau das Gebärkraut, ›das eineleichte Geburt fördern soll‹, aus geheimnisvoller Ferne holen.Um das Kraut zu f inden, f liegt er auf einem Adler sitzenddurch die Lüfte. Dies könnte als mutige Tat aus Gattenliebeangesehen werden. (…) Nach neueren Bearbeitungen jedochsucht Etana das ›Kraut der Geburt‹ wegen seiner Kinderlosig-keit, um dadurch einen Nachfolger zu erhalten. (…)Das Ende (…) ist heute nicht bekannt. (…) Nach der sumeri-schen Königsliste (hatte Etana) einen Sohn namens Balih undsomit einen Nachfolger.« [19]

Wie eine entfernte jüngere Variante erscheint die alt - iranische Dichtung »Wie der Schah Kai Kawus in den Him -mel f log« im iranischen Epos Schahnameh von Firdausi(939–1020 n. Chr.).

Schah Kai Kawus saß auf dem Throne Persiens. Sein Ehrgeizund seine Großmannssucht waren maßlos. Eines Tages be -schloss er, nach falscher Schmeichelei, in den Himmel zu f lie-gen, um sich Sonne, Mond und Sterne untertan zu machen.Doch wie sollte das geschehen?

»Zuletzt verfiel er einem absonderlichen Einfall. Er befahl,dass man ihm des Nachts, zur Schlafenszeit, Adler aus ihrenNestern finge. Jahr und Tag fütterte er die Vögel mit Schaf-f leisch, bis sie so stark wie die Löwen wurden und leicht einSchaf bezwingen konnten. Da machte er dann aus leichtemKumarholz einen Sessel, an dem er eine lange Deichsel befes-tigte. Vorn an die Deichsel hängte er eine Hammelkeule und

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15 Stadt im antiken Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris.

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schirrte vier Adler fest an das Gefährt. Dann setzte er sichhinein, in der Hand einen Becher Wein. Er wollte die Sternezählen, von einem Ende des Himmels bis zum anderen. DerHunger trieb die Adler an, sie verlangten nach dem Fleisch derHammelkeule vor ihnen, f logen ihm nach und hoben so denSessel von der Erde. Viele Sagen berichten von diesem Flug,aber außer dem Himmel weiß niemand von seinem Geheim-nis. (…)Die Adler f logen wie Falken durch die Lüfte, aber schließlichverließ sie die Kraft, sie legten, wie es ihre Gewohnheit ist, dieFlügel zusammen, stürzten aus den dunklen Wolken herunterund zogen den Sessel des Schahs aus der Höhe mit sich herab.In einem Dickicht bei Amal, wo die Löwen hausen, erreichtensie die Erde. Als Kawus nun sah, an was für einem furchtbarenOrt er sich befand, wurde er plötzlich ganz hilf los. Sein Herzwar voller Verzweif lung, und statt der hochfahrenden Gedan-ken zog Reue bei ihm ein. Er wand sich im Staube und f lehteGott um Gnade und Vergebung seiner Missetat an. Schließlichwurde seine Bitte erhört und er kam wieder zu Verstand. (…)

Er lebte (fortan) in Frieden, tat Recht und sprach Recht.« [20]

Auf dieser Version, so einige Forschermeinungen, beruhtdie im europäischen hohen und späten Mittelalter (13.–15. Jh.) sehr beliebte, weit verbreitete und in zahlreichenLesarten erzählte und abgebildete Geschichte von»Alexanders d. Gr. Flug mit den Greifen« (AlexandersGreifenf lug) im Alexanderroman. Hier eine Zusammenfas-sung aus »einer verbreiteten lateinischen Version«.

Wohl aus ins Unendliche gesteigerter Maßlosigkeit beschlossAlexander d. Gr. auf seinen Eroberungszügen, auch Himmelund Meerestiefen zu erobern. Für die Eroberung des Himmelsließ er »auf einem hohen Berg an der Küste des Roten Meeres«einen Sitz mit einem »schützenden Eisengestell umgeben«

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aufstellen. Nachdem er sich hineingesetzt hatte, wurdenmehrere Greifen an das Gestell festgebunden. Damit diesehochf logen, befestigte man daran oberhalb von ihnen Futter.Hungrig f logen sie nach oben und mit ihnen das Eisengestell.Bald waren sie in großer Höhe, dem Himmel nahe. Aber derFlug dauerte nicht lange. Eine »göttliche Macht« drückte siezur Erde zurück. So landeten sie wieder auf der Erde. Damitendete Alexanders Flug in den Himmel, den er, geschützt indem Eisengestell, unverletzt überstand. [21]

Die Reise in den Himmel und der Gang in die Unterweltkommen in Texten, aber auch gemeinsam vor. Zweibekannte Beispiele dafür sind Die Göttliche Komödie vonDante Alighieri und Faust von Johann Wolfgang vonGoethe.16 Hier wird die Unterwelt nicht nur ausgiebigbeschrieben, sondern das Motiv der Unterweltsfahrt ist indiese Dichtungen voll eingegangen, wie die beidenfolgenden kurzen Überschauen zeigen.

In den einhundert Gesängen seiner Göttlichen Komödie(Entstehungszeit zwischen 1304–1320) beschrieb Danteseine visionäre Reise in die jenseitige Welt. Am Morgendes Karfreitags im Jahre 1300 begann er sie.

»Grad in der Mitte unsrer Lebensreise Befand ich mich in einem dunklen Walde,Weil ich den rechten Weg verloren hatte.«

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16 Weitere s. z. B.: L. Moraldi, Nach dem Tode. Jenseitsvorstellungen vonden Babyloniern bis zum Christentum, deutsch 1987, bes. 182 ff., 192 ff.,240 ff., 259 ff.


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