Forschungsnotizen
Zusammenfassung: Das vom BMBF geförderte Forschungsprojekt untersucht in einer profes-sionsvergleichenden Perspektive, wie Lehrerinnen und Professionelle der sozialen Arbeit im ganztagsbereich durch ihr handeln gemäß oder entgegen der von ihnen artikulierten sichtwei-sen Bildungsgerechtigkeit befördern oder aber – ggf. ungewollt – Bildungsungleichheit repro-duzieren. im rahmen eines ethnographisch angelegten Forschungsdesigns werden einerseits die subjektiven und kollektiven sichtweisen der professionellen Akteure durch narrative interviews und gruppendiskussionen erhoben und mithilfe sozialwissenschaftlicher hermeneutik rekonstru-iert. Andererseits werden auf der Basis teilnehmender Beobachtungen die handlungslogiken der Professionellen analysiert und in Beziehung zu deren sichtweisen gesetzt.
Schlüsselwörter: Bildungsungerechtigkeit · Bildungsungleichheit · Professionelle · ganztagsschule/-bildung
Teachers and social workers in all-day schools and the reproduction of educational inequality
Abstract: the ongoing research project, funded by the german Federal Ministry of education and research, analyses the reproduction of educational inequality in all-day schools. its focus is on the professionals, i.e. on teachers and social workers. taking an ethnographic perspective, narrative interviews and group discussions are used to explore the views of teachers and social workers on educational inequality in all-day schools. With regard to their views the analysis of the reproduction of educational inequality in teachers and social workers professional practices is based on a participant observation.
Keywords: educational injustice · educational inequality · Professionals · All-day school
soz Passagen (2012) 4:159–162Doi 10.1007/s12592-012-0105-3
Bildungsgerechtigkeit oder Reproduktion von Bildungsungerechtigkeit durch schul- und sozialpädagogische Professionelle – BiRBiPro
Nina Thieme · Christiane Faller · Martin Heinrich
© Vs Verlag für sozialwissenschaften 2012
Dr. n. thieme () · c. Faller · Prof. Dr. M. heinrichArbeitsbereich Bildungsforschung, institut für erziehungswissenschaft, Leibniz universität hannover, schloßwender str. 1, 30159 hannover, Deutschlande-Mail: [email protected]
c. Fallere-Mail: [email protected]
Prof. Dr. M. heinriche-Mail: [email protected]
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Angestoßen durch das investitionsprogramm „zukunft Bildung und Betreuung“ (izBB) (vgl. BMBF 2009) erfolgte in Deutschland im letzten Jahrzehnt ein intensiver Ausbau ganztägiger Bildungsangebote, verbunden mit dem zentralen Leitziel, über solche Ange-bote einen Beitrag zur reduktion von Bildungsungerechtigkeit zu leisten (vgl. stolz 2009). Da sich an Bildungsinstitutionen adressierte Leitziele nur schwer gegen den Widerstand der Professionellen vor ort durchsetzen lassen (vgl. Lange-Vester und tei-wes-Kügler 2006), richtet sich diese erwartung damit insbesondere an die in ganztags-schulen beschäftigten Pädagoginnen.
Wie jedoch die in ganztägigen Bildungsangeboten tätigen Professionellen mit dieser erwartung umgehen, ist bisher im deutschsprachigen raum nur marginal untersucht wor-den (vgl. thieme 2011) und erfährt vor dem hintergrund „traditionsbedingt unterschied-liche[r] Berufsverständnisse“ (Bettmer 2007, s. 118), die der Profession sozialer Arbeit und der Lehrerprofession zugeschrieben werden, eine besondere Bedeutsamkeit: Wäh-rend soziale Arbeit seit einiger zeit explizit als gerechtigkeitsprofession (vgl. schrödter 2007) konzipiert wird, die „den zentralwert der sozialen gerechtigkeit“ (schrödter 2007, s. 20) verfolgt, wird den Lehrerinnen eine vergleichbare orientierung abgesprochen. ins-besondere gymnasiallehrerinnen wird eine „Blindheit gegenüber dem Phänomen sozia-ler ungleichheit und den damit verbundenen Konsequenzen [bescheinigt]“ (Ditton 2008, s. 253), die damit begründet wird, dass sie mit der ihnen zugeschriebenen selektions-funktion konvergiere, eher „die geistige elite auszubilden, als eine breite Masse zu för-dern“ (Ditton 2008, s. 253).
Angesichts dieser an ganztagsbildung gerichteten erwartung einerseits sowie der angeführten professionsbezogenen zuschreibungen andererseits begegnet die BirBi-Prostudie dem Desiderat einer empirisch fundierten vergleichenden Betrachtung der in ganztägigen Arrangements tätigen Professionen, wie es der titel der studie signalisiert: „Bildungsgerechtigkeit oder reproduktion von Bildungsungerechtigkeit durch schul- und sozialpädagogische Professionelle. Fallrekonstruktionen am Beispiel ganztägiger Arrangements“. Qualitativ-rekonstruktiv wird untersucht, wie Professionelle der sozia-len Arbeit und Lehrerinnen im ganztagsbereich durch ihr handeln gemäß oder entgegen der von ihnen artikulierten sichtweisen Bildungsgerechtigkeit befördern, oder aber – ggf. ungewollt – Bildungsungleichheit reproduzieren.
Demnach stellen die sichtweisen der professionellen Akteure einen wesentlichen untersuchungsschwerpunkt der studie dar: An zwei ganztägigen gymnasien und an zwei ganztägigen hauptschulen werden im rahmen einer für jede schule über mehrere Monate angelegten ethnographie zunächst narrative interviews (vgl. u. a. schütze 1983) mit den dort tätigen Professionellen geführt, um „das zu untersuchende thema aus der Perspektive der interviewten zu erfassen“ (rosenthal 2008, s. 125 f.). Da angenommen wird, dass die professionellen Akteure mit den von ihnen artikulierten sichtweisen mehr aussagen, als sie zu sagen vermeinen (vgl. Knassmüller und Vettori 2009, s. 303), werden die interviews mit einer sozialwissenschaftlichen hermeneutik rekonstruiert (vgl. u. a. soeffner 2005), um so methodisch kontrolliert die den Akteuren häufig nicht bewussten, latenten sinngehalte erfassen zu können, deren Kenntnis wiederum notwendige Voraus-setzung ist für das für qualitativ-rekonstruktive sozialforschung konstitutive umfas-sende Verstehen von sozialer Wirklichkeit (vgl. Knassmüller und Vettori 2009, s. 303 f.),
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d. h. hier dem Verstehen der ggf. gleichzeitigen Produktion von Bildungsgerechtigkeit und/oder reproduktion von Bildungsungleichheit im Kontext ganztägiger Arrangements.
zwar kann vor dem hintergrund der genannten und im wissenschaftlichen Diskurs verbreiteten Annahme „traditionsbedingt unterschiedliche[r] Berufsverständnisse“ (Bett-mer 2007, s. 118) der beiden an ganztagsschulen tätigen Professionen erwartet werden, dass deren sichtweisen gerade hinsichtlich der Kategorie der gerechtigkeit professions-spezifisch divergieren. gleichzeitig kann jedoch die tätigkeit im gemeinsamen hand-lungsfeld ganztägiger Arrangements als plausibles Argument für die Annahme fungieren, dass beide Professionen eine kollektive sichtweise auf den gegenstand der Bildungs-ungerechtigkeit ausgehandelt haben. um einer solchen „gruppenmeinung“ (Bohnsack 2003, s. 110) nachzuspüren, werden mit Angehörigen beider Professionen gruppendis-kussionen (vgl. u. a. Bohnsack 2003, s. 105 ff.) geführt. Auch die Analyse der gruppen-diskussionen erfordert ein rekonstruktives Verfahren, da – so Bohnsack (2003) – „erst eine genaue rekonstruktion sowohl der Diskursorganisation (der Form der interaktiven Bezugnahme aufeinander) als auch der „Dramaturgie des Diskurses“ (Bohnsack 2003, s. 110) die identifikation einer tieferliegenden „Bedeutungsstruktur“ (Bohnsack 2003) ermögliche.
Die so erforschten sichtweisen der professionellen Akteure sind als Basis zu verste-hen, auf der handlungen entworfen werden (vgl. Pfadenhauer 2003, s. 270). Demgemäß rückt in einem weiteren untersuchungsschwerpunkt der studie das handeln der Profes-sionellen der sozialen Arbeit und der Lehrerinnen in den Fokus, welches anhand teilneh-mender Beobachtungen der pädagogischen Praxis erforscht wird.
im sinne einer von Flick für den Kontext der ethnographie als „implizite triangula-tion“ (2008, s. 53 f.) bezeichneten Kombination werden die sichtweisen und handlungs-logiken der Professionellen der sozialen Arbeit und der Lehrerinnen mit dem ziel der „erweiterung der erkenntnismöglichkeiten über den untersuchten […B]ereich“ (Flick 2008, s. 54) der Beförderung von Bildungsgerechtigkeit und der reproduktion von Bil-dungsungerechtigkeit durch professionelle Akteure in ganztägigen Arrangements aufei-nander bezogen.
neben einer bildungsungleichheitstheoretisch bedeutsamen Aufklärung über sicht-weisen und handlungslogiken professioneller Akteure in ganztägigen Arrangements in Bezug auf den gegenstand der Bildungsungerechtigkeit leistet die studie auch einen professionstheoretischen Beitrag. Dieser besteht in der generierung von erkenntnissen in hinblick auf die Frage, ob – und wenn ja, wie – gemäß der angenommenen divergie-renden orientierungen von Lehrerinnen und Professionellen der sozialen Arbeit auch ihre sichtweisen und handlungslogiken in Bezug auf Bildungsungerechtigkeit professi-onsspezifisch variieren.
Die an der Leibniz universität hannover angesiedelte studie (Projektteam: Prof. Dr. Martin heinrich, Dipl.-Päd. christiane Faller, Dr. nina thieme, Prof. Dr. eva Barlö-sius) wird von oktober 2011 bis september 2014 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im rahmen des Programms zur Förderung der empirischen Bil-dungsforschung im Bereich „chancengerechtigkeit und teilhabe. sozialer Wandel und strategien der Förderung“ gefördert.
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