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Bildungsgerechtigkeit oder Reproduktion von Bildungsungerechtigkeit durch schul- und...

Date post: 25-Aug-2016
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Forschungsnotizen Zusammenfassung: Das vom BMBF geförderte Forschungsprojekt untersucht in einer profes- sionsvergleichenden Perspektive, wie Lehrerinnen und Professionelle der sozialen Arbeit im ganztagsbereich durch ihr handeln gemäß oder entgegen der von ihnen artikulierten sichtwei- sen Bildungsgerechtigkeit befördern oder aber – ggf. ungewollt – Bildungsungleichheit repro- duzieren. im rahmen eines ethnographisch angelegten Forschungsdesigns werden einerseits die subjektiven und kollektiven sichtweisen der professionellen Akteure durch narrative interviews und gruppendiskussionen erhoben und mithilfe sozialwissenschaftlicher hermeneutik rekonstru- iert. Andererseits werden auf der Basis teilnehmender Beobachtungen die handlungslogiken der Professionellen analysiert und in Beziehung zu deren sichtweisen gesetzt. Schlüsselwörter: Bildungsungerechtigkeit · Bildungsungleichheit · Professionelle · ganztagsschule/-bildung Teachers and social workers in all-day schools and the reproduction of educational inequality Abstract: the ongoing research project, funded by the german Federal Ministry of education and research, analyses the reproduction of educational inequality in all-day schools. its focus is on the professionals, i.e. on teachers and social workers. taking an ethnographic perspective, narrative interviews and group discussions are used to explore the views of teachers and social workers on educational inequality in all-day schools. With regard to their views the analysis of the reproduction of educational inequality in teachers and social workers professional practices is based on a participant observation. Keywords: educational injusticeducational inequality · Professionals · All-day school soz Passagen (2012) 4:159–162 Doi 10.1007/s12592-012-0105-3 Bildungsgerechtigkeit oder Reproduktion von Bildungsungerechtigkeit durch schul- und sozialpädagogische Professionelle – BiRBiPro Nina Thieme · Christiane Faller · Martin Heinrich © Vs Verlag für sozialwissenschaften 2012 Dr. n. thieme () · c. Faller · Prof. Dr. M. heinrich Arbeitsbereich Bildungsforschung, institut für erziehungswissenschaft, Leibniz universität hannover, schloßwender str. 1, 30159 hannover, Deutschland e-Mail: nina.thi[email protected] c. Faller e-Mail: christian[email protected] Prof. Dr. M. heinrich e-Mail: martin.h[email protected]
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Forschungsnotizen

Zusammenfassung:  Das  vom BMBF geförderte  Forschungsprojekt  untersucht  in  einer  profes-sionsvergleichenden  Perspektive,  wie  Lehrerinnen  und  Professionelle  der  sozialen  Arbeit  im ganztagsbereich durch  ihr handeln  gemäß oder  entgegen der  von  ihnen  artikulierten sichtwei-sen  Bildungsgerechtigkeit  befördern  oder  aber  –  ggf.  ungewollt  –  Bildungsungleichheit  repro-duzieren.  im rahmen eines ethnographisch angelegten Forschungsdesigns werden einerseits die subjektiven und kollektiven sichtweisen der professionellen Akteure durch narrative  interviews und gruppendiskussionen erhoben und mithilfe sozialwissenschaftlicher hermeneutik rekonstru-iert. Andererseits werden auf der Basis teilnehmender Beobachtungen die handlungslogiken der Professionellen analysiert und in Beziehung zu deren sichtweisen gesetzt.

Schlüsselwörter:  Bildungsungerechtigkeit · Bildungsungleichheit · Professionelle · ganztagsschule/-bildung

Teachers and social workers in all-day schools and the reproduction  of educational inequality

Abstract:  the ongoing  research project,  funded by  the german Federal Ministry of education and  research,  analyses  the  reproduction  of  educational  inequality  in  all-day  schools.  its  focus is on  the professionals,  i.e. on  teachers and social workers. taking an ethnographic perspective, narrative  interviews and group discussions are used  to explore  the views of  teachers and social workers on educational  inequality  in all-day schools. With  regard  to  their views  the analysis of the  reproduction of  educational  inequality  in  teachers  and  social workers  professional  practices is based on a participant observation.

Keywords:  educational injustice · educational inequality · Professionals · All-day school

soz Passagen (2012) 4:159–162Doi 10.1007/s12592-012-0105-3

Bildungsgerechtigkeit oder Reproduktion von Bildungsungerechtigkeit durch schul- und sozialpädagogische Professionelle – BiRBiPro

Nina Thieme · Christiane Faller · Martin Heinrich

© Vs Verlag für sozialwissenschaften 2012

Dr. n. thieme () · c. Faller · Prof. Dr. M. heinrichArbeitsbereich Bildungsforschung, institut für erziehungswissenschaft, Leibniz universität hannover, schloßwender str. 1, 30159 hannover, Deutschlande-Mail: [email protected]

c. Fallere-Mail: [email protected]

Prof. Dr. M. heinriche-Mail: [email protected]

160 n. thieme et al.

Angestoßen durch das investitionsprogramm „zukunft Bildung und Betreuung“ (izBB) (vgl. BMBF 2009) erfolgte  in Deutschland  im letzten Jahrzehnt ein  intensiver Ausbau ganztägiger Bildungsangebote, verbunden mit dem zentralen Leitziel, über solche Ange-bote  einen  Beitrag  zur  reduktion  von  Bildungsungerechtigkeit  zu  leisten  (vgl.  stolz 2009).  Da  sich  an  Bildungsinstitutionen  adressierte  Leitziele  nur  schwer  gegen  den Widerstand der Professionellen vor ort durchsetzen lassen (vgl. Lange-Vester und tei-wes-Kügler 2006), richtet sich diese erwartung damit insbesondere an die in ganztags-schulen beschäftigten Pädagoginnen.

Wie jedoch die in ganztägigen Bildungsangeboten tätigen Professionellen mit dieser erwartung umgehen, ist bisher im deutschsprachigen raum nur marginal untersucht wor-den (vgl. thieme 2011) und erfährt vor dem hintergrund „traditionsbedingt unterschied-liche[r] Berufsverständnisse“ (Bettmer 2007, s. 118), die der Profession sozialer Arbeit und der Lehrerprofession zugeschrieben werden, eine besondere Bedeutsamkeit: Wäh-rend soziale Arbeit seit einiger zeit explizit als gerechtigkeitsprofession (vgl. schrödter 2007) konzipiert wird, die „den zentralwert der sozialen gerechtigkeit“ (schrödter 2007, s. 20) verfolgt, wird den Lehrerinnen eine vergleichbare orientierung abgesprochen. ins-besondere gymnasiallehrerinnen wird eine „Blindheit gegenüber dem Phänomen sozia-ler ungleichheit und den damit verbundenen Konsequenzen [bescheinigt]“ (Ditton 2008, s. 253), die damit begründet wird, dass  sie mit der  ihnen zugeschriebenen selektions-funktion konvergiere, eher „die geistige elite auszubilden, als eine breite Masse zu för-dern“ (Ditton 2008, s. 253).

Angesichts  dieser  an  ganztagsbildung  gerichteten  erwartung  einerseits  sowie  der angeführten  professionsbezogenen  zuschreibungen  andererseits  begegnet  die  BirBi-Prostudie dem Desiderat einer empirisch fundierten vergleichenden Betrachtung der in ganztägigen Arrangements tätigen Professionen, wie es der titel der studie signalisiert: „Bildungsgerechtigkeit  oder  reproduktion  von  Bildungsungerechtigkeit  durch  schul- und  sozialpädagogische  Professionelle.  Fallrekonstruktionen  am  Beispiel  ganztägiger Arrangements“. Qualitativ-rekonstruktiv wird untersucht, wie Professionelle der sozia-len Arbeit und Lehrerinnen im ganztagsbereich durch ihr handeln gemäß oder entgegen der von ihnen artikulierten sichtweisen Bildungsgerechtigkeit befördern, oder aber – ggf. ungewollt – Bildungsungleichheit reproduzieren.

Demnach  stellen  die  sichtweisen  der  professionellen  Akteure  einen  wesentlichen untersuchungsschwerpunkt  der  studie  dar: An  zwei  ganztägigen  gymnasien  und  an zwei ganztägigen hauptschulen werden im rahmen einer für jede schule über mehrere Monate angelegten ethnographie zunächst narrative interviews (vgl. u. a. schütze 1983) mit den dort tätigen Professionellen geführt, um „das zu untersuchende thema aus der Perspektive der interviewten zu erfassen“ (rosenthal 2008, s. 125 f.). Da angenommen wird, dass die professionellen Akteure mit den von ihnen artikulierten sichtweisen mehr aussagen, als sie zu sagen vermeinen (vgl. Knassmüller und Vettori 2009, s. 303), werden die  interviews mit  einer  sozialwissenschaftlichen hermeneutik  rekonstruiert  (vgl.  u. a. soeffner 2005), um so methodisch kontrolliert die den Akteuren häufig nicht bewussten, latenten sinngehalte erfassen zu können, deren Kenntnis wiederum notwendige Voraus-setzung  ist  für  das  für  qualitativ-rekonstruktive  sozialforschung  konstitutive  umfas-sende Verstehen von sozialer Wirklichkeit (vgl. Knassmüller und Vettori 2009, s. 303 f.), 

161Bildungsgerechtigkeit oder reproduktion …

d. h.  hier  dem Verstehen der  ggf.  gleichzeitigen Produktion von Bildungsgerechtigkeit und/oder reproduktion von Bildungsungleichheit im Kontext ganztägiger Arrangements.

zwar kann vor dem hintergrund der genannten und  im wissenschaftlichen Diskurs verbreiteten Annahme „traditionsbedingt unterschiedliche[r] Berufsverständnisse“ (Bett-mer 2007, s. 118) der beiden an ganztagsschulen tätigen Professionen erwartet werden, dass deren sichtweisen gerade hinsichtlich der Kategorie der gerechtigkeit professions-spezifisch divergieren. gleichzeitig kann  jedoch die tätigkeit  im gemeinsamen hand-lungsfeld ganztägiger Arrangements als plausibles Argument für die Annahme fungieren, dass beide Professionen  eine kollektive sichtweise  auf den gegenstand der Bildungs-ungerechtigkeit  ausgehandelt  haben. um einer  solchen  „gruppenmeinung“  (Bohnsack 2003, s. 110) nachzuspüren, werden mit Angehörigen beider Professionen gruppendis-kussionen (vgl. u. a. Bohnsack 2003, s. 105 ff.) geführt. Auch die Analyse der gruppen-diskussionen erfordert ein  rekonstruktives Verfahren, da – so Bohnsack (2003) – „erst eine genaue rekonstruktion sowohl der Diskursorganisation (der Form der interaktiven Bezugnahme aufeinander) als auch der „Dramaturgie des Diskurses“  (Bohnsack 2003, s. 110)  die  identifikation  einer  tieferliegenden  „Bedeutungsstruktur“  (Bohnsack  2003) ermögliche.

Die so erforschten sichtweisen der professionellen Akteure sind als Basis zu verste-hen, auf der handlungen entworfen werden (vgl. Pfadenhauer 2003, s. 270). Demgemäß rückt in einem weiteren untersuchungsschwerpunkt der studie das handeln der Profes-sionellen der sozialen Arbeit und der Lehrerinnen in den Fokus, welches anhand teilneh-mender Beobachtungen der pädagogischen Praxis erforscht wird.

im sinne einer von Flick für den Kontext der ethnographie als „implizite triangula-tion“ (2008, s. 53 f.) bezeichneten Kombination werden die sichtweisen und handlungs-logiken der Professionellen der sozialen Arbeit und der Lehrerinnen mit dem ziel der „erweiterung  der  erkenntnismöglichkeiten  über  den  untersuchten  […B]ereich“  (Flick 2008, s. 54) der Beförderung von Bildungsgerechtigkeit und der reproduktion von Bil-dungsungerechtigkeit durch professionelle Akteure in ganztägigen Arrangements aufei-nander bezogen.

neben  einer  bildungsungleichheitstheoretisch  bedeutsamen Aufklärung  über  sicht-weisen und handlungslogiken professioneller Akteure in ganztägigen Arrangements  in Bezug  auf  den gegenstand  der  Bildungsungerechtigkeit  leistet  die  studie  auch  einen professionstheoretischen Beitrag. Dieser besteht in der generierung von erkenntnissen in hinblick auf die Frage, ob – und wenn ja, wie – gemäß der angenommenen divergie-renden orientierungen  von Lehrerinnen  und Professionellen  der  sozialen Arbeit  auch ihre sichtweisen und handlungslogiken in Bezug auf Bildungsungerechtigkeit professi-onsspezifisch variieren.

Die an der Leibniz universität hannover angesiedelte studie (Projektteam: Prof. Dr. Martin heinrich, Dipl.-Päd.  christiane  Faller, Dr. nina thieme,  Prof. Dr.  eva Barlö-sius) wird von oktober 2011 bis september 2014 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im rahmen des Programms zur Förderung der empirischen Bil-dungsforschung im Bereich „chancengerechtigkeit und teilhabe. sozialer Wandel und strategien der Förderung“ gefördert.

162 n. thieme et al.

Literatur

Bettmer, F.  (2007). soziale ungleichheit  und exklusion – theoretische und  empirische Bezüge im Kontext  von schule  und  Jugendhilfe.  in  F. Bettmer,  s. Maykus,  F.  Prüß, & A. richter (hrsg.),  Ganztagsschule als Forschungsfeld. Theoretische Klärungen, Forschungsde-signs und Konsequenzen für die Praxisanwendung  (s. 187–211). Wiesbaden: Vs Verlag  für sozialwissenschaften.

BMBF. (hrsg.). (2009). Gut angelegt. Das Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Bohnsack, r. (2003). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. opla-den: Leske + Budrich.

Ditton,  h.  (2008).  Der  Beitrag  von  schule  und  Lehrern  zur  reproduktion  von  Bildungsun-gleichheit.  in  r.  Becker & W.  Lauterbach  (hrsg.), Bildung als Privileg. Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit (s. 247–275). Wiesbaden: Vs Verlag für sozialwissenschaften.

Flick, u. (2008). Triangulation. Eine Einführung. Wiesbaden: Vs Verlag für sozialwissenschaften.Knassmüller, M., & Vettori, o. (2009). hermeneutische Verfahren. Verstehen als Forschungsansatz. 

in r. Buber & h. h. holzmüller (hrsg.), Qualitative Marktforschung. Konzepte – Methoden – Analysen (s. 299–317). Wiesbaden: gabler.

Lange-Vester, A.,  &  teiwes-Kügler,  c.  (2006).  Die  symbolische  gewalt  der  legitimen  Kultur. zur reproduktion ungleicher Bildungschancen in studierendenmilieus. in W. georg (hrsg.), Soziale Ungleichheit im Bildungssystem. Eine empirisch-theoretische Bestandsaufnahme (s. 55–92). Konstanz: uVK Verlagsgesellschaft.

Pfadenhauer, M. (2003). rollenkompetenz. träger, spieler und Professionelle als Akteure für die hermeneutische Wissenssoziologie. in r. hitzler, J. reichertz, & n. schröer (hrsg.), Herme-neutische Wissenssoziologie. Standpunkte zur Theorie der Interpretation (s. 267–285). Kon-stanz: uVK Verlagsgesellschaft.

rosenthal, g. (2008). Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung. Weinheim: Juventa.schrödter, M. (2007). soziale Arbeit als gerechtigkeitsprofession. zur gewährleistung von Ver-

wirklichungschancen. Neue Praxis, 37(1), 3–28.schütze, F. (1983). Biographieforschung und narratives interview. Neue Praxis, 13(3), 283–293.soeffner, h. g. (2005). sozialwissenschaftliche hermeneutik. in u. Flick, e. von Kardorff, & i. 

steinke (hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch (s. 164–174). reinbek: rowohlt.stolz,  h.  J.  (2009).  gelingensbedingungen  lokaler  Bildungslandschaften.  Die  Perspektive  der 

dezentrierten  ganztagsbildung.  in  P.  Bleckmann  &  A.  Durdel  (hrsg.),  Lokale Bildungs-landschaften. Perspektiven für Ganztagsschulen und Kommunen  (s. 105–119). Wiesbaden: Vs Verlag für sozialwissenschaften.

thieme, n. (2011). ganztagsbildung als bildungspolitisch initiierter Versuch der steuerung eines ‚Aufwachsens in öffentlicher Verantwortung‘ – reduktion oder reproduktion von Bildungsun-gleichheit? in F. Dietrich, M. heinrich, & n. thieme (hrsg.), Neue Steuerung – alte Ungleich-heiten? Steuerung und Entwicklung im Bildungssystem (s. 259–269). Münster: Waxmann.


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