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Date post: 11-Oct-2019
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www.helikon-online.de mitmachen[youknowit]helikon-online.de Thomas Moser (2014): „Kunst [ist das], was bedeutende Künstler machen.“ Zur Differenzierung zwischen Tradition und Innovation in Werner Haft- manns Schaffen der 50er und 60er Jahre. In: Helikon. A Multidisciplinary Online Journal, 3. 35–53.
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www.helikon-online.demitmachen[youknowit]helikon-online.de

Thomas Moser (2014): „Kunst [ist das], was bedeutende Künstler machen.“ Zur Differenzierung zwischen Tradition und Innovation in Werner Haft-

manns Schaffen der 50er und 60er Jahre. In: Helikon. A Multidisciplinary Online Journal, 3. 35–53.

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d e t a i l

Abstract

Not only is the since 1972 quinquennial held documenta a seismograph of contemporary art, but also an object of historization for decades. These reflections bring the most remark-able figure of Werner Haftmann into focus. However, the strong interest in Haftmann is not only owed to his responsibility for the first three documentas. Since the early 1950s, Haftmann weighed in on the genealogy of modern painting - with the documentas as “illus-trations” for his arguments. This article compiles Haftmann’s work till the end of documenta 3 in 1964 and points out inherent contradictions. In particular, this concerns the negotia-tion of artistic individual and collective and the systemic suppression of the influence of natural science and photography. It will have to be seen that Haftmann played a major role in establishing abstract painting in postwar Germany whilst relying on traditional para-digms, for example Pinder’s model of “generations”, Kandinskys antagonism of the abstract and the real as well as the concept of artistic genius. Consequently, it is vital that Haftmann’s Œuvre will altogether need a much more precise regarding of its progressive and conserva-tive potentials in order to be adequately evaluated in the future.

Zusammenfassung

Die seit 1972 alle fünf Jahre stattfindende documenta ist nicht nur Seismograph zeitgenös-sischer Kunst, sondern unterliegt seit einigen Jahrzehnten selbst der Historisierung. Diese Reflexion rückt in besonderem Maße die Figur Werner Haftmanns in den Fokus. Das rege Interesse an Haftmann ist jedoch nicht nur seiner Verantwortung für die ersten drei docu-mentas geschuldet. Bereits seit Beginn der 50er Jahre hatte sich Haftmann fortwährend zur Genealogie moderner Malerei geäußert – mit den documentas als Veranschaulichung seiner Position. Dieser Beitrag will Haftmanns Werk bis zum Ende der dritten documenta 1964 beleuchten und die inneren Widersprüche in seiner Theorie aufzeigen. Insbesondere gilt dies für die Verhandlung von künstlerischem Individuum und Kollektiv, doch auch der Einfluss von Naturwissenschaft und Fotografie wurde programmatisch unterschlagen. Es wird zu sehen sein, dass Haftmann maßgeblichen Anteil an der Etablierung abstrakter Malerei im Nachkriegsdeutschland hatte und dennoch auf tradierte Modelle und Vorstel-lungen zurückgriff. Etwa auf Wilhelm Pinders Generationenmodell, Kandinskys Polarität von abstrakt und real, sowie auf die Idee des autonomen Künstlergenies. So wird sich zeigen, dass Haftmanns Schaffen also insgesamt präziser hinsichtlich seiner progressiven und kon-servativen Potentiale bewertet werden muss.

„Kunst [ist das], was bedeutende Künstler machen.“Zur Differenzierung zwischen Tradition und Innovation in Werner Haftmanns Schaffen der 50er und 60er Jahre

Thomas Moser

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„Kunst [ist das], was bedeutende Künstler machen.“1

– Werner Haftmann

Wider den Kulturpessimismus – ein neues Bild des Künstlers?

Im ersten Darmstädter Gespräch (1950), einer losen Konferenz geisteswissenschaftlicher Größen vor Laienpublikum, wurde die Frage nach dem „Menschenbild in unserer Zeit“ im Deutschland der Nachkriegszeit diskutiert. Anlass zur Tagung bot die gleichnamige Ausstellung desselben Jahres auf der Darmstädter Mathildenhöhe. Bereits im Vorwort des Ausstellungskatalogs wird klar, welchem Paradigmenwechsel man die Kunst unterworfen sah: „Dies die Tragik, die unsere Tage durchschüttert: sich loslösen müssen von menschli-cher Gestalt, aus der Jahrhunderte ihr Empfinden geschöpft.“2 Indes kam es auf besagtem Symposium zwischen mehreren Teilnehmern zum Streit.3 Der Kunsthistoriker Hans Sedl-mayr verließ die Runde gar vorzeitig unter dem Vorwurf, seine Kritiker seien ihm nicht in gleichem Maße entgegengekommen, wie er ihnen.4 So sehr sich die Positionen jedoch auch unterschieden, blieb ihnen doch etwas gemein, was für die Nachkriegskunstgeschichte symptomatisch war: Sie zeichneten alle ein negatives Bild der modernen Kunst. Im Span-nungsfeld dieser Zeit stellte der Kunsthistoriker und Ausstellungsmacher Werner Haftmann eine Genealogie der modernen Malerei vor, die sich diesem Kulturpessimismus verwei-gerte. Über die Isolation von politischen und sozialen Einflüssen gelang es Haftmann, eine „gesunde“ Entwicklung von der Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis in seine Gegenwart zu konstruieren. Den Jahren 1954, in das die Veröffentlichung seines Buchs „Malerei im 20. Jahrhundert“ fiel, bis 1964, dem Jahr der dritten documenta, entstammten die zentralen Äußerungen Haftmanns. Dass die ersten drei documentas für die Aufarbei-tung seiner Genealogie Berücksichtigung fanden, ist auf Haftmanns maßgebliche Mitarbeit am Konzept und an der Umsetzung der Ausstellungen zurückzuführen. Sie sind sowohl in weiten Teilen als Veranschaulichungen seiner Texte und Reden zu verstehen5 als sie im Umkehrschluss Aussagen zu Haftmanns Modell ermöglichen. Im Verlauf dieser wechsel-seitigen Bezugnahme lassen sich Unstimmigkeiten ausmachen, von denen eine in ihrem historischen Kontext besonders auffällig ist: Haftmann konstruiert ein Bild des Künstlerge-nies, welches sich mit seinen Schilderungen von kulturellen und künstlerischen Kollektiven nicht vollständig in Einklang bringen lässt. Dem soll sich dieser Essay widmen.

Haftmanns Prämissen

Als Haftmann 1954 sein Buch „Malerei im 20. Jahrhundert“ veröffentlichte, wollte er kein weiteres Sammelsurium der Malerei seit dem Jahrhundertwechsel vorlegen. Vielmehr versuchte er Entwicklungsprozesse aufzuzeigen, die sich in seinen Augen seit etwa 1890

1 Haftmann 1964, S. 14; Leitmotiv der documenta 3.2 Das Menschenbild in unserer Zeit 1950, S. [1].3 Dies ist in Analogie zu vorangegangenen Publikationen zu sehen. Hans Sedlmayr hatte etwa 1948 mit

„Verlust der Mitte“ (Sedlmayr 1998) nicht nur eins der meistgelesenen Bücher kulturphilosophischer Natur vorgelegt, sondern auch für Kontroversen gesorgt.

4 Für den genauen Ablauf der Tagung vgl. Evers [1951].5 Das Ausmaß seiner Beteiligung an der Auswahl der Exponate im Rahmen der documenta 3 ist zu relativieren.

Vgl. etwa Kimpel 1997, S. 150–152.

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vollzogen hätten und auf Courbet zurückgingen.6 Seiner Genealogie der modernen Kunst liegen zwei Prämissen zugrunde,7 die er im Verlauf des Buchs näher erläutert. Bereits in der Einleitung erklärt er sein Generationenmodell: Ein Künstler sei aufgrund seines Grundent-wurfs „bildnerischen Denkens“8 historisch stets nur einer Dekade zuzuordnen und nicht der ganzen Spanne seines Lebens. Dies sei auch der Grund, warum „ein Bild von 1920 ‚jünger‘ sein [könne] als ein Bild von ‚1940‘.“9 Damit lässt sich die – immer wieder als „chaotisch“ titulierte10 – Gegenwartskunst nach dem Krieg deutlich effektiver ordnen und vor allem eine formalistische Entwicklungstheorie weit glaubhafter konstruieren. Es bedeutet aber auch, dass Haftmann Künstlern die Fähigkeit aberkennt, ihre Grundsätze und ihr bildne-risches Denken verändern zu können. Im Sinne kunsthistorischer Kanonbildung ist eine solche Auffassung des künstlerischen Strebens sicher sachdienlich. In erster Linie lassen sich hiermit Künstler legitim Epochen und Strömungen zuordnen. Allerdings wird dabei völlig ausgeschlossen, dass ein Künstler seine künstlerischen Grundgedanken, sein Ideal und – damit verbunden – auch seine stilistische Zuordenbarkeit wechseln kann.

Die zweite Prämisse geht auf Kandinsky zurück. Dieser sieht die Antipole der Malerei – das „Große Reale“ und „Große Abstrakte“11 – in den Werken Henri Rousseaus und Robert Delaunays verkörpert. Haftmann greift diese Polarität auf, ersetzt jedoch die künstlerischen Verkörperungen durch Duchamp und Malewitsch. Zudem betont Haftmann, dass es sich bei den Arbeiten Duchamps und Malewitschs nicht um Kunst per se handle; sie seien

Demonstrationen, sie [fixierten] Demarkationspunkte an der Randzone, wo die Kunst aufhört, und zwar an den entgegengesetzten Polen der menschlichen Erfahrungsebene, einer-seits am absoluten Ding, andererseits an der absoluten Form, einerseits an der Wirklichkeit der Natur, andererseits an der Gegenwirklichkeit des Menschen.12

In der Folge käme es, so schreibt Fastert, „zu keiner konsequent linearen Entwicklung, sondern zu einem mehr oder weniger ausgeprägten Hin- und Herschwingen des Pendels zwischen den Polen.“13

Damit hatte Haftmann 1954 die ersten Bausteine seiner Theorie artikuliert: Die Ten-denzen der modernen Malerei hätten sich seit Cézanne immer wieder neu zu Strömungen formiert, welche jedes Mal auf der Strecke zwischen den Extrema Abstraktion und erfahrba-rer Wirklichkeit Punkte definiert hätten. Wichtig ist der Zusammenhang mit der adaptierten Generationentheorie Pinders14: Haftmanns Vorstellung vom Hin und Her des Pendels ist streng genommen nicht an Künstler und Individuen gebunden, sondern an Dekaden.

6 Vgl. Haftmann 1954, S. 9; Drei Jahre später sah Haftmann den Ursprung bei Cézanne,vgl. Haftmann 1957b/2012; S. 15–17.

7 Vgl. Fastert 2008, S. 312.8 Haftmann 1954, S. 11.9 Ebd.10 Vgl. Fastert 2008, S. 312.11 Haftmann 1954, S. 224.12 Ebd., S. 281–282; vgl. ebd., S. 224, 281.13 Fastert 2008, S. 313.14 Vgl. ebd., S. 316–319; Fastert zeigt klare Adaptionen, sowie direkte Übernahmen auf und erklärt

konzise, welchen Umständen es zu verdanken ist, dass Haftmann sich einer derart zentralen These eines NS-Kunsthistorikers zur Nachkriegszeit bedienen konnte, ohne sich damit politisch zu belasten. Dafür habe Pinders NS-Konnotation zu sehr im Schatten Sedlmayrs gestanden. Zudem hatte Haftmann mit seiner Ablehnung des Assistentenpostens unter Sedlmayr in Wien klar Stellung bezogen.

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Wenn künstlerische Werke, in der Konsequenz des Modells abfolgender Generationen, auf eine Zeit zurückgeführt werden können, dann steht dahinter die Vorstellung, den Künstlern jeder Epoche sei etwas gemein, das man von den Derivaten ihres bildnerischen Denkens ablesen könne. Die Rede wäre von epochenspezifischen und strömungsimmanenten Merk-malen – nicht jedoch individual-künstlerischen! Dies entindividualisiert den einzelnen Künstler und macht ihn zum Repräsentanten des Pendelausschlags seiner Generation bezie-hungsweise Dekade.

Zur Genealogie

Wie Haftmann die Entwicklung der modernen Malerei darstellt, lässt sich auch anhand einiger seiner Vorträge nachvollziehen. Nur ein Jahr nach der Veröffentlichung von „Malerei im 20. Jahrhundert“ hielt er die Rede zur Eröffnung der ersten documenta mit dem Titel „Über das moderne Bild“15. Hier erklärte Haftmann von welchen revolutionären Tenden-zen er bereits in seinem Buch von 1954 gesprochen hatte: Die Wirklichkeitserfahrung des modernen Menschen habe sich fundamental geändert. Als Grund dafür machte er neue Vorstellungen von Raum und Zeit aus.16 Die Naturwissenschaften hätten etwa durch die Entdeckung der Lichtgeschwindigkeit und „Gedanken von Energie“17 die althergebrachte Vorstellung abgelöst, dass Wirklichkeit nur das sei, was der Mensch mit seinen Sinnen erfahren könne.18 Als Folge der Methode des modernen Denkens nennt er exemplarisch das Interesse an abstrakten Prozessen und Zuständen wie dem „Strömen“ von Wasser und die Abkehr vom Interesse an der sinnlichen Erfahrung des Wassers.19 Haftmann überlässt dem Rezipienten damit nun den selbstständigen Schluss, dass durch diese Interessens-verlagerung die Notwenigkeit erwachsen sei, Darstellungsmöglichkeiten zu ersinnen, für etwas, das nicht sichtbar ist. Die Äußerungen Haftmanns erinnern wohl kaum zufällig an Klees populäres Zitat: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“20. Damit hatte Haftmann der Awbstraktion argumentativ die Tür weit aufgestoßen. Bereits in „Malerei im 20. Jahrhundert“ hatte er humanistisches, soziales und christliches Gedan-kengut als Sujets für die moderne Kunst ausgeschlossen. Bisherige Forderungen nach diesen Motiven seien einem „unrichtigen methodischen Ansatz“21 entsprungen, den er nicht weiter erläutert. Warum diese jahrhundertelang erprobten Inhalte für ihn ausgedient haben, erklärte Haftmann 1957 in seiner Rede anlässlich der Ausstellung „German Art in the 20th Century“ im Museum of Modern Art in New York: Hier machte er erneut die naturwissen-schaftlichen Erkenntnisse dafür verantwortlich, dass sich die modernen Ausdrucksformen so fundamental von denen der letzten Jahrhunderte unterschieden.22 In der Eröffnungs-rede der documenta 2 im Jahre 1959 benannte er hingegen einen anderen Auslöser: Das Konglomerat humanistischer, sozialer und christlicher Inhalte der darstellenden Künste sei

15 Haftmann 1955/2012.16 Vgl. ebd., S. 32.17 Ebd., S. 32; bereits 1951 erklärt Haftmann, dass man durch das Überwinden der sinnlichen Erfahrungen

die Gegenständlichkeit hinter sich lassen musste, vgl. hierzu Haftmann 1951/2012, S. 90.18 Mit der Feststellung neuer Wirklichkeitsvorstellungen steht Haftmann freilich nicht alleine da: Hofmann

diagnostiziert 1955 ebenfalls, dass dieses das seinerzeit gewaltigste Novum sei, vgl. hierzu Hofmann 1955, S. 14919 Haftmann 1955/2012, S. 33–34.20 Zit. nach Grohmann 1954, S. 97.21 Haftmann 1954, S. 433.22 Vgl. Haftmann 1957a/2012, S. 103–106; ferner nennt er erneut Courbet den Malermeister, durch den

sich die Kunst von der Idealisierung gelöst und reiner Naturbeobachtung gewidmet hätte.

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durch die Kunstdiktaturen unter Atatürk, Mussolini, Hitler und Stalin derart instrumenta-lisiert und manipuliert worden, dass sie ihre Nutzbarkeit für die Moderne und Gegenwart verwirkt hätten.23 Die beiden Argumente widersprechen sich nicht, sondern sie ergänzen sich vielmehr und zeigen beispielhaft, wie kontinuierlich Haftmann seine Theorie weiter-entwickelte. Problematisch ist an der vorgestellten Argumentation allerdings der inhärente Vergleich mit anderen Nationen. Grasskamp hat bereits darauf hingewiesen, wie sehr die Argumentationen Haftmanns in Bezug auf die moderne Malerei eine Rückkehr zur Tages-ordnung im Nachkriegsdeutschland begünstigten.24 Dies gründet sich in besonderem Maße auf Haftmanns Kontinuitätsgedanken, die Bruchlosigkeit der Modernität über den Zweiten Weltkrieg hinweg. Man könnte ergänzend überlegen, ob mit der Einreihung Deutschlands nicht auch eine Relativierung der genuin deutschen Schuldfrage einhergeht.

Kunsthistorische Chronologie bis zur Nazidiktatur

Für Haftmann ist Courbet die Person, die die Abkehr von einer mythischen und idealisie-renden Ikonographie vollzieht. Cézanne hingegen, als „Vater aller modernen Malerei“25, sei der Initiator bildnerischer Abstraktion. Er habe mit der perspektivischen Richtigkeit des Raumes gebrochen und so den Kubisten, Orphisten, Futuristen und dem Bauhaus den Boden bereitet26 – es sind dies die Strömungen, die Haftmann als die internationalen Aus-schläge des Kandinsky‘schen Pendels und als Ausdruck der Freiheit des modernen Europäers versteht. Es stellt sich nun die Frage, wie Haftmanns Modell sich dem Zweiten Weltkrieg nähert. In seiner kunsthistorischen Entwicklungsgeschichte der modernen Malerei kommt dem NS-Regime einige Bedeutung zu, sein Einfluss auf die Kunst jedoch – und das mag überraschen – sei lediglich verzögernder Art gewesen. Überraschend deshalb, weil Haftmann von keiner Zäsur spricht. Er behauptete 1957 in der Rede im Museum of Modern Art zwar, dass es sich um einen Bruch handle,27 allerdings erklärte er noch im selben Vortrag, dass der „Wachstumskern des freien und tätigen Geistes in sich selbst unversehrt […]“28 geblieben wäre. In dieser Rede, die sich dezidiert mit den Auswirkungen des Krieges auf die deutschen Künstler auseinandersetzt, beschreibt Haftmann ausführlich die ‚Innere Emigration‘ und bezieht dies unter anderem auf Fritz Winter, Willi Baumeister und Ernst Wilhelm Nay. Die Künstler hätten sich stark zurückgezogen, unter erschwerten Bedingungen gearbeitet und zum Teil gar keine Kunst mehr produziert.29 Aber insgesamt – und das ist elementar für Haftmanns Modell – habe die politische Diktatur den modernen Gedanken nicht beseitigen können. Diese Überlegung wird im späteren Verlauf erneut aufgegriffen, um ihre implizite Problematik erklären. Festzuhalten ist, dass für Haftmann die Impulse von Picasso, Boc-cioni, Kandinsky und anderen den Krieg und die NS-Diktatur überdauerten und sich die deutsche Malerei somit widerspruchslos in die moderne Kunst Europas eingliedern lässt.30 Diese Argumentation sollte mit der ersten documenta exemplifiziert werden.

23 Haftmann 1959/2012, S. 44–46.24 Vgl. Grasskamp 1989, S. 76–80; die Sehnsucht nach einer strukturierten (Kunst-)Welt war im Nachkriegs-

deutschland bemerkenswert ausgeprägt, vgl. hierzu Fastert 2010, S. 21.25 Haftmann 1957a/2012, S. 107.26 Vgl. ebd., S. 107–108; vgl. Haftmann 1957b/2012, S. 15–17.27 Vgl. Haftmann 1957a/2012, S. 100–101.28 Ebd., S. 101.29 Vgl. ebd., S. 100–103.30 Vgl. ebd., S. 103.

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Die erste documenta – eine deutsche Standortbestimmung

Die Absicht der ersten documenta war eine Positionierung der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts. Im Ausstellungskatalog proklamiert Haftmann, die Ausstellung sei bewusst und unmittelbar „im Hinblick auf unsere deutsche Lage, auf Ort und Publikum der Aus-stellung, auf eine Stadt in Deutschland“31 konzipiert worden. Der Bezug auf den Krieg und auf Deutschland war allgegenwärtig – nicht zuletzt in der Wahl Kassels, einer „durch-schnittlichen“ Stadt, die von unverkennbaren Spuren der Verwüstung durch den Krieg gezeichnet war.32 Auch die Wahl des Ausstellungsbaus, des Fridericianums, war durchaus schwer an Bedeutung: Das „klassizistische Gebäude war 1779 als erster für die Öffent-lichkeit bestimmter Museumsbau auf dem europäischen Kontinent vollendet worden und im Zweiten Weltkrieg ausgebrannt.33 Doch nicht nur der Ausstellungsort, sondern auch das deutsche Publikum war von den vergangenen Jahren geprägt. So reihten sich in die lange Liste der Kriegshinterlassenschaften weiterhin die „geistige Desorientierung“ und der Mangel eines „[Systems] ästhetischer Normen“34 ein – die Bevölkerung stand der Abstrak-tion noch skeptisch gegenüber und der Begriff der „Entarteten Kunst“ war durchaus noch lebendig.35 Kimpel attestierte der deutschen Nachkriegswirtschaft und -politik eine Einrei-hung in eine weitestgehend amerikanische Normvorstellung.36 Haftmann wollte die Kunst vor dieser Tendenz durch die documenta bewahren. Ihre Botschaft lässt sich besonders deut-lich anhand der Bilder im Hauptsaal des Fridericianums veranschaulichen. Umringt von Werken Picassos standen sich Fritz Winters „Komposition vor Blau und Gelb“ (Abb. 1) und Picassos „Mädchen vor dem Spiegel“ (Abb. 2) gegenüber.37

Winters Gemälde ist im Gegensatz zu dem Picassos nicht nur gegenstandslos, sondern auch merklich größer.38 In dieser Konfrontation kulminierte eine ganze Reihe von Intentionen der documenta-Macher Haftmann und Bode: Schwarze bemerkt beispielsweise, dass man die Idee einer Gegenüberstellung von Lehrer- und Schülergenerationen der Moderne nachvollzie-hen könne.39 Kimpel sieht den Versuch einer Wiedereingliederung westdeutscher Künstler in den Kunstbetrieb der „freien Welt“40 als die eigentliche Intention der documenta.41

Damit ist die erste documenta ein höchst politisches Unterfangen.42 Mit Verweis auf die zuvor beschriebene Kontinuität, welche Haftmann in seinen Veröffentlichungen postu-lierte, wird klar, wie er die Legitimität konstruiert, Picassos Erbe im Rahmen der deutschen

31 Haftmann 1955, S. 16.32 Vgl. Kimpel 1997, S. 124.33 Vgl. Schwarze 2009b.34 Kimpel 1997, S. 248.35 Vgl. ebd., S. 257; vgl. Hodin 1958, S. 372–373; dort unter Verweis auf Worringer.36 Vgl. Kimpel 1997, S. 248.37 Vgl. ebd., S. 14.38 Vgl. Schwarze 2009b.39 Vgl. ebd.; Schwarze 2009a.40 Vgl. Kimpel 1997, S. 251.41 Kimpel formuliert gar drei Intentionen, von denen an dieser Stelle jedoch nur der genannte relevant ist. Die

ersten beiden Punkte Kimpels wären erstens die Explizierung des künstlerischen Geschehens von 1933 bis 1945 und zweitens die Wiederbelebung des Kunstmarkts um die deutsche Kunst im Kapitalismus funktionstüchtig zu machen, vgl. ebd. Diese Punkte spielen hier allerdings eine untergeordnete Rolle.

42 Vgl. ebd., S. 251, 252, 255; Kimpel weist auch auf den Charakter einer Wiedergutmachung und Beseitigung geistiger Verbrechen der Nazi-Zeit hin. Weiter stellt er – unter Verweis auf Vellinghausen – fest, dass die erste documenta ein Statement für ein nazifreies, weltoffenes Deutschland gewesen sei.

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Nachkriegsmalerei zu inszenieren: Die Einflüsse der Moderne waren in Deutschland zwar im Untergrund, aber dort doch weiter präsent.

Damit scheint eine Botschaft der ersten documenta zentral: Die Abstraktion ist die einzig logische Konsequenz aus der Malerei der Vorkriegsmoderne und Deutschland nahm so seinen rechtmäßigen Platz in der Kunstszene ein. Eine Frage sollte hier allerdings noch geklärt werden: die Wahl des Künstlers.

Abb. 1 Fritz Winter: Komposition vor Blau und Gelb, 600 x 370 cm, 1955. Kassel, Kunsthalle Fridericianum/documenta (1955) [Bild heute verschollen].

Abb. 2 Pablo Picasso: Mädchen vor einem Spiegel, 162x130 cm, 1932. New York, Museum of Modern Art.

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Warum Fritz Winter?

Zunächst ist zu erwähnen, dass Winter und Bode, der mit Haftmann die ersten documentas konzipierte und realisierte, seit 1955 an der Kasseler Akademie Kollegen waren.43 Im Hän-gungskontext ist Winter als ein deutscher Künstler zu sehen, der sich bereits vor dem Krieg der Abstraktion verschrieben hatte44 und damit die Kontinuität des modernen Gedankens über den Weltkrieg hinweg veranschaulichen konnte. Haftmanns der documenta zeitlich vor-angegangener Essay „Fritz Winter“ von 1951 lässt die schlagenden Argumente für Winters Nominierung erkennen: Erstens ist eine grundlegende Empathie zu vermuten, da beide (Winter und Haftmann) mehrere Jahre in Kriegsgefangenschaft verbrachten.45 Zweitens steht er in Haftmanns Augen für die Schülergeneration der Vorkriegsabstrakten, da er bei Klee und Kandinsky am Bauhaus lernte46. Drittens bezeichnet Haftmann Winters Malerei als „in der Tat sehr deutsch“47 wobei er ihn in eine Linie von Altdorfer über Caspar David Friedrich reihte.48 Wie es Sabine Fastert formuliert: „Es gab wohl kaum einen lebenden Künstler, der Haftmanns Idealvorstellung so nahe kam wie Winter.“49 Der Text Haftmanns enthält aber noch ein weiteres Indiz, demzufolge Winter Haftmann als Paradebeispiel der neuen Wirklichkeitserfahrung erschienen sein musste, denn der Maler verband auch in seiner Sprache gegenständliche, sowie abstrakte Begriffe mit Farben: „Große Erkenntnisse haben keine leuchtenden Farben, sie sind entweder schwarz oder weiß oder grau. Die leuch-tenden Farben gehören den Geschlechtern der Erde. Ich bin froh, rot und gelb zu sein, aber ich sehne mich nach Grau, dem Unendlichen.“50 Diese Konnotation von künstlerischen Mitteln, also Farben, mit abstrakten Begriffen, wie Erkenntnis und Unendlichkeit, erinnert an Haftmanns Ausführungen zur neuen Wirklichkeitserfahrung. Winters Formulierungen dürften ihn in seiner Genealogie der modernen Malerei durchaus bestätigt haben, da sich diese, wie bereits erläutert, auf solche Assoziationen stützte.

Die zweite documenta: Von der europäischen Weltkultur

Die zweite documenta fand 1959 unter neuen Bedingungen statt. Man betrachtete die Abstraktion als legitimiert und fokussierte darum die Entwicklungen der Kunst seit 1945.51 Wieder war Kassel der Veranstaltungsort, wobei sich dem Fridericianum als zusätzliche Aus-stellungsfläche die Orangerie und das Bellevue-Schloss hinzugesellten.52 Die Argumentation war nun nicht mehr so eng mit der deutschen Malerei verwoben wie noch vier Jahre zuvor. Indes wurde eine These von globaler Tragweite präsentiert, welche Haftmann bereits 1957 in seinem Vortrag anlässlich der Tagung der Europäischen Kulturstiftung in Amsterdam53

43 Vgl. Schwarze 2009a.44 Vgl. ebd.45 Vgl. Haftmann 1951/2012, S. 97; vgl. Haftmann 1957a/2012, S. 102.46 Vgl. Haftmann 1951/2012, S. 89–91.47 Ebd., S. 97.48 Vgl. ebd., S. 95.49 Fastert 2009, 219.50 Haftmann 1951/2012, S. 97; Winter zit. n. Haftmann. Ferner sei bemerkt, dass hierfür auch Fasterts

Formulierung spricht, die Formenwelt von Winters Serie „Triebkräfte der Erde“ (Beispiel der Serie siehe: Klingsöhr-Leroy, Cathrin u.a.: Triebkräfte der Erde, München 2005, S. 86.) „[ließe] einen mikroskopischen Einblick ins Erdinnere aufleuchten“, Fastert 2009, S. 218–219.

51 Vgl. Kimpel 1997, S. 18; Vgl. Germer 1992, S. 50.52 Vgl. Kimpel 1997, S. 398.53 Haftmann 1957b/2012.

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angedeutet hatte: Dort erläuterte er ausführlich, dass der europäischen Kultur die Zielrich-tung der Weltkultur eingeschrieben sei, dass die europäische Kultur in den vergangenen Jahrhunderten „alle Kulturen der Welt [überwunden hätte].“54 Als Argument führte Haft-mann die globale Verbreitung europäischer Architektur an. Le Corbusier hätte in Indien, Persien und Kolumbien gebaut, Südamerika würde sich an europäischer Architektur orien-tieren, Gropius sei in Harvard, van der Rohe in Chicago tätig.55 Seinen Ausführungen ist die Vorstellung inhärent, dass der europäische Lebensentwurf „den Charakter einer exem-plarischen Botschaft hat“56 und mit dem europäischen Kunstentwurf gleichzusetzen sei. Haftmann spricht von Europa als „Modellfall von Weltkultur“57 wobei die documenta die Abstraktion als einzig gültige Sprache der neuen Weltkultur proklamiert. Der Hauptraum zeigte diesmal nicht nur zwei Künstler, sondern gleich eine ganze Riege internationaler Abstrakter.

Dominiert wurde er von Ernst Wilhelm Nays „Freiburger Bild“ (Abb. 3). Damit war das argumentative Umschwenken im Vergleich zur ersten documenta klar: Die deutsche Kunst war aus der Vergangenheit heraus legitimiert. Nun wurde ein geeintes Europa der Gegen-wart gezeigt, welches sich unisono der Abstraktion verschrieben hatte58 – wer jetzt nicht abstrakt malte, war nicht zeitgemäß sondern reaktionär. Zwei Faktoren der documenta 2 bedürfen nun doch einer knappen Thematisierung: Welche Rolle kam Nay im Kontext des Hauptraumes zu und wie begegnete Haftmann eigentlich den amerikanischen Künstlern?

54 Haftmann 1957b/2012, S. 21.55 Vgl. ebd., S. 17–22.56 Ebd.; vgl. ebd., S. 22; Haftmann übersieht gänzlich – wie übrigens auch bei seiner Charakterisierung

europäischer Malerei – die historischen Dimension, welche hier partiell zugrunde liegt: Ein Beispiel wäre der massive Eingriff Europas in den Geschmack südamerikanischer Länder durch die spanische Besatzung.

57 Haftmann 1959/2012, S. 50; dass der europäischen Kultur die Richtung der Weltkultur einbeschrieben sei erklärt er bereits 1957 in Amsterdam, vgl. hierzu Haftmann 1957b/2012, S. 17–22.

58 Vgl. hierfür Haftmanns Bemerkung „so reich aber die Inhalte sind, so einheitlich ist doch die Richtung des Wegs. Es ist der Weg vom reproduktiven Bild zum evokativen Bild [...]“, Haftmann 1959, hier zit. n. Germer 1992, S. 52.

Abb. 3 Ernst Wilhelm Nay: Freiburger Bild, 255x655 cm, 1956. Freiburg, Chem. Institut der Universität.

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Warum Ernst Wilhelm Nay?

1968 hielt Haftmann eine Totenrede für Nay. Dort zog er Vergleiche mit Künstlergrö-ßen wie Picasso, Tizian und Rembrandt und zögerte nicht, Nay „einen der größten Maler [seiner] Zeit zu nennen.“59 Angesichts dieser Äußerungen mag es überraschen, dass Nay für Haftmann auf der zweiten documenta ersetzbar gewesen wäre.60 Zumindest ließe sich dies anhand von Äußerungen in anderen Schriften Haftmanns herleiten. So gut sich die beiden auch kannten: Haftmann brauchte ein Exempel, einen deutschen Künstler, den er als Repräsentant der deutschen Malerei in Nähe der internationalen Abstraktion präsentieren konnte. Hierfür war es ausschlaggebend, dass Nay der mittleren Generation deutscher Nach-kriegsmaler angehörte.61 Damit repräsentierte er den zeitgenössischen deutschen Maler, mit einem eklatanten Unterschied zu Winter vier Jahre zuvor: Er musste keinem Vergleich mit einem großen Meistermaler wie Picasso standhalten, sondern sich lediglich in ein Neben-einander von Abstrakten einfügen. Nay war in seiner Generation nur ein ‚moderner‘ Maler unter vielen. Statt seiner hätten auch Baumeister oder Wols in besagtem Hängungszusam-menhang gezeigt werden können. Dies wird im Kontext von Haftmanns Vorhaben für die documenta 2 deutlich, aber mehr noch bei der Rezeption von Haftmanns Eröffnungsvor-trag zur Ausstellung Baumeister-Nay 1960: Hier zieht er immer wieder Parallelen zwischen Baumeister und Nay und reiht sie gleichermaßen in die Strömung der Art Informel ein.62 „Jeder von ihnen […] könnte weitere Namen solcher Deutscher beifügen. […] Und nun werden hier genannt: Willi Baumeister und Ernst Wilhelm Nay!“63 Hier kulminiert Haft-manns Relativierung Nays zugunsten eines Nebeneinanders im Kontext abstrakter Maler ohne signifikante Akzentuierungen. Und genau diese Perspektive Haftmanns hatte das ‚Frei-burger Bild‘ ein Jahr zuvor repräsentiert.

Amerikanische Invasoren

Ein weiteres Novum der documenta 2 war die Beteiligung amerikanischer Künstler. Es ist in Haftmanns Veröffentlichungen kaum zu überlesen, dass er von der amerikanischen Kunst seiner Zeit wenig hielt. Kommt die amerikanische Kunst64 1954 in „Malerei im 20. Jahr-hundert“ gar nicht vor, so wird sie in der dritten Auflage des Buches 1962 in Form eines ausgewiesenen Exkurses von etwa 70 Seiten abgehandelt.65 Im Kontext der Idee Europas als Weltkultur konnte den USA – von Haftmanns Standpunkt aus – gar keine große Bedeutung zukommen. In Analogie zu dieser These erklärt Haftmann einleitend zum Amerika-Kapitel:

Die in den vorstehenden Büchern[66] beschriebenen weitreichenden Entwicklungen vollzogen sich auf dem europäischen Kontinent, Dreiergespräch zwischen Frankreich, Deutschland und

59 Haftmann 1968/2012, S. 159.; vgl. ebd., S. 158–159.60 Es müsste genauer untersucht werden, inwiefern hier ein generelles Problem von Zeitgenossenschaft der

Kunstgeschichte auszumachen ist, vgl. hierzu Krieger 2008, 18–21; insbesondere das Problem mangelnder Distanz zum Gegenstand und Künstler. Vgl. ferner: Über das Kanonische 2002.

61 Vgl. Haftmann 1968/2012, S. 158; vgl. Fastert 2010, S. 123.62 Vgl. Haftmann 1960/2012, 113–115, 118–120, 122–123.63 Ebd., S. 114.64 Das gilt genauso für die englische Kunst.65 Vgl. Haftmann 1962, S. 432; zur Relation: das Buch verfügt über 690 Seiten; im Rahmen der veränderten

Neuauflage modifiziert Haftmann auch Teile des Schlusskapitels, vgl. Fastert 2008, S. 318 und Haftmann 1962, S. 603–605; manche Sätze wurden hier sogar gänzlich gestrichen.

66 Haftmann gliedert „Malerei im 20. Jahrhundert“ in fünf Bücher.

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Italien. England und Amerika beteiligten sich daran nicht. Erst in einem langsamen Assimi-lierungsprozess nahmen beide Länder die kontinentalen Ideen auf.67

Den Grund für die anfängliche Verschlossenheit gegenüber dem europäischen Modernitäts-gedanken führte er auf die politische Situation in Amerika zurück: In einem aufgeblähten kapitalistischen Wirtschaftsgefüge, geprägt durch einen „erbarmungslosen fanatischen Geschäftsgeist“,68 seien die Künstler isoliert gewesen und hätten in Ablehnung der politi-schen Paradigmen sozialistische und anarchistische Werte verinnerlicht. Eine irrtümliche Gleichsetzung von Kapitalismus und moderner Kunst wäre in der Folge der Grund dafür gewesen, dass sich die amerikanischen Künstler zwischen den Weltkriegen – im Rahmen der folgenden Wirtschaftsdepression – einem sozialen Realismus verschrieben hätten.69 Dieser Einschub englischer und amerikanischer Künstler war der wachsenden Dominanz nordamerikanischer Künstler auf dem Kunstmarkt geschuldet. Daher räumte Haftmann gewissermaßen notgedrungen in seiner Eröffnungsrede zur zweiten documenta ein, dass sich aus dem schlechten Wirtschaftsklima in den USA nun die ersten Künstler erheben und dem modernen Gedanken öffnen würden.70 Damit sicherte Haftmann den europäischen Ursprung des Gedankenguts, wenn er schon nicht-europäische Kunst integrieren musste.71 Das volle Ausmaß der Dominanz amerikanischer Malerei zeigte sich aber erst zur Zeit der documenta 3.

Die dritte documenta – ein Eingeständnis

Die dritte documenta – die letzte, an der Haftmann und Bode beteiligt waren – ist 1964 als Beleg für die Fehlprognose der documenta 2 und weite Teile von Haftmanns Theorie zu ver-stehen. Dieser erklärt in seiner Eröffnungsrede das – im Kontext seiner bisherigen Konzepte durchaus überraschende – Programm, getreu dem Leitmotiv „[Kunst ist das], was bedeu-tende Künstler machen“72: Die „documenta III hat einen anderen Ansatz, sie läßt sich nicht mehr auf Argument und Gruppe ein. Ihr liegt der einfache Leitsatz zugrunde, daß Kunst das ist, was bedeutende Künstler machen. Sie setzt auf die einzelne Persönlichkeit.“73 Während der Querelen aufgrund ständiger Machtfragen innerhalb des weiter anwachsenden documenta-Teams widmete sich Haftmann der Ausstellung von etwa 500 Handzeichnun-

67 Haftmann 1962, S. 432.68 Ebd., S. 472.69 Vgl. ebd., S. 471–473.70 Vgl. Haftmann 1959/2012, S. 50; Edward Trier, Haftmanns Kollege bei den documentas 2 und 3,

sieht hingegen zur gleichen Zeit die amerikanische Kunst bereits als gleichberechtigte Teilmenge der weltumfassenden Kunst, wenn auch er als nachkriegsdeutscher Kunsthistoriker der westlichen Malerei eine globale Vormachtstellung einräumt, aber eben die amerikanische dazurechnet. Vgl. hierzu Paul 2003, S. 10–11.

71 Die Situation war für Bode und Haftmann ohnehin denkbar undankbar, da das Museum of Modern Art die amerikanischen Werke aussuchte und die deutsche Ausstellungsleitung erst beim Auspacken der Kisten in Kassel der Exponate ansichtig wurde. In diesem Zusammenhang kam es auch zur spektakulären Ablehnung von Rauschenbergs „The Bed“ durch die documenta-Leitung, vgl. hierzu Schwarze 2009c. In der Retrospektive scheint die Legitimation der amerikanische Kunst durch die europäische auch kaum noch haltbar, wie Ralph Ubl konstatiert: Die Pioniere der Minimal-Art hätten bereits Anfang der 60er Jahre das Gemälde zum Objekt gemacht und damit eindeutig die Bande mit der Tradition europäischer Malerei gebrochen. Vgl. hierzu Ubl 2007, S. 8.

72 Haftmann 1964/2012, S. 66.73 Haftmann 1964, S. 14.

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gen in der Alten Galerie, die nun ebenfalls zum Austragungsort der documenta wurde.74 Kimpel verweist ausdrücklich darauf, dass Haftmann in der Fundamentierung seiner These durch das wiederholte Aufzeigen der Entwicklung vom „repräsentativen“ zum „evokativen“ Bild – diesmal durch Handzeichnungen – „die jüngsten Vorkommnisse im internationalen Kunstbetrieb [nicht angemessen berücksichtigt].“75 Damit ist vor allem der Siegeszug der Pop-Art gemeint. Bemerkenswert ist dabei der zeitgleiche Erfolg von Rauschenberg auf der Biennale in Venedig, dessen „The Bed“ man bei der letzten documenta noch programma-tisch zurückgewiesen hatte.76 Germer sieht in der Folge die documenta 3 als Eingeständnis Haftmanns, Fehlprognosen gestellt zu haben, denn eine Isolation der Individuen und eine Abkehr von jeder Argumentation müsse als Rückzug verstanden werden.77

In seiner Eröffnungsrede rudert Haftmann bereits zurück und revidiert mehrere Thesen der vergangenen Jahre: Es wäre falsch die documenta als ein deutsches Ereignis zu sehen, nie sei es die Intention gewesen, die deutsche Situation zu zeigen.78 Diese Aussagen stehen im erheblichen Widerspruch zu seinen Äußerungen im Ausstellungskatalog neun Jahre zuvor, als er – wie bereits erwähnt – von einer bewussten Ausrichtung auf die deutsche Situation gesprochen hatte. Weiter räumte er 1964 ein, dass die Polarität des „Großen Abstrakten“ und des „Großen Realen“ verblasst sei.79 Dieses Eingeständnis erklärt Schneckenburgers Urteil, es handle sich bei Haftmanns These, die Abstraktion würde sich als Weltsprache etablieren, um eine „eindeutige kunsthistorische Fehlprognose.“80 Die documenta 3 legt in ihrem historischen Kontext hierfür Zeugnis ab.

Der isolierte Künstler

Wenn sich bei Haftmann Fehlprognosen diagnostizieren lassen und er 1964 einen Ansatz vom Individualkünstler vorstellte, sollten nähere Untersuchungen vorgenommen werden, ob hier nicht noch weitere blinde Flecken zu finden sind. Im Folgenden möchte ich mich auf eine Ungereimtheit in Haftmanns Kunst- und Künstlerbild konzentrieren.

Haftmann misst dem „modernen“ Kunstgedanken größte Tragweite bei. In der bereits erwähnten Rede im Museum of Modern Art sieben Jahre vor der documenta 3 findet sich ein Indiz für Haftmanns Verständnis der Moderne als unvermeidbar und unausweichlich: Er geht davon aus, dass auch in den sozialistischen Ländern „hinter ihren eisernen Vorhängen“81 starke moderne Tendenzen im Untergrund rumoren würden.82 Die Brisanz einer solchen Aussage und die Tragweite, die Haftmann damit der modernen Malerei beimisst, muss wohl kaum ausgeführt werden, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es sich dabei um eine Äußerung eines Westdeutschen in New York zur Zeit des Kalten Krieges handelte. Insofern

74 Vgl. Kimpel 1997, S. 24–31, 150–152; Die Auseinandersetzung mit Handzeichnungen kann auf die zeitgenössische Vorstellung zurückgeführt werden, die bedeutenden Expressionisten hätten ihren größten Beitrag zur Entwicklung der modernen Kunst weniger in der Malerei als in der Handzeichnung und Graphik geleistet. Vgl. zur Bedeutung der Handzeichnung Hodin 1960, S. 505.

75 Kimpel 1997, S. 25.76 Vgl. Germer 1992, S. 53 und Fußnote 67.77 Vgl. ebd.78 Vgl. Haftmann 1964/2012, S. 60.79 Vgl. ebd., S. 66–67.80 Schneckenburger 1983, S. 47.81 Haftmann 1957a/2012, S. 110.82 Vgl. ebd.

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sollte man seine Behauptung einer Bruchlosigkeit des modernen Gedankens83 durch die NS-Diktatur nochmals reflektieren: Daraus ergäbe sich ein Gedankengut, das ein Kollektiv – in Isolation und damit Unabhängigkeit der Individuen untereinander – im Untergrund verfolgt. Und diese unangetasteten Ideen hätten nach 1945 – aus innerer Notwendigkeit, wie man bei Haftmann geradezu zu lesen erwartet – ihren Weg in die Freiheit gefunden. Es stellt sich die Frage, ob diese programmatische Kontinuität nicht Haftmanns Konstruktion entspringt. Sie wäre eng mit der Konzeptualisierung der ersten drei documentas verwoben: Haftmann muss von der Kontinuität der Modernität auf deutschen Leinwänden ausgehen, um einen Anknüpfungspunkt zu den großen Vorreitern der ersten 20 Jahre des 20. Jahr-hunderts finden zu können und damit ihre Legitimität festzustellen. Allein diese absolute Unantastbarkeit des modernen Gedankens durch politische (Kunst-)Diktaturen gibt Anlass zur Skepsis. Es scheint, Haftmann konstruierte den Künstler isoliert von allen historischen Umständen. In diesem Zusammenhang sind zwei weitere Punkte augenfällig: Haftmann verweist mehrfach auf die simultane, aber unabhängige Entwicklung von bildender Kunst und Naturwissenschaften, was unter Gesichtspunkten der aktuellen Kunstgeschichte zu skizzieren wäre, und unterschlägt in Gänze den Einfluss der Fotografie auf die moderne Malerei.

Kunst und Naturwissenschaft

Die Nähe der Kunst zur Naturwissenschaft wird seit der Bildwissenschaft und den Visual Studies neu eruiert. Damit ist dieses Thema nach wie vor von großer Aktualität und Haft-manns Vermutung, der Erkenntnistrieb des Menschen würde erst durch emotionale Impulse entfacht werden, steht hier im Einklang mit aktuellen Meinungen.84 Haftmanns Behauptung, die Naturwissenschaften und die Kunst hätten sich in Isolation voneinander entwickelt, ist jedoch widerlegbar.85 Die einseitige Liebe der Künstler für naturwissenschaftliche Entdek-kungen kann historisch belegt werden. Martin Kemps Werk „Bilderwissen“ beschäftigt sich ausführlich mit diesem Thema. Beispiele aus der Geschichte wären etwa Leonardo da Vinci, Joseph M. W. Turner und Boccioni; alle drei bezogen Derivate der Naturwissenschaften ihrer Gegenwart in ihre Malerei mit ein.86 Dies ließe sich auch an künstlerischen Beispielen aus Haftmanns Gegenwart belegen: Kemp erklärt anhand Josef Albers Reihe „Hommage to the Square“, dass sich die Künstler naturwissenschaftlicher Methoden bedienen indem sie beispielsweise Farbexperimente unternehmen. In Albers’ Versuchsanordnung werden die unterschiedlich proportionierten Flächen mit immer neuen Farbkombinationen ver-

83 Vgl. Fußnote 27.84 Vgl. hierzu Fischer 2006; Fischer spricht sich dafür aus, dass auch naturwissenschaftliche Forschung

Intuition und Vorahnung bedarf, die dann erst im Experiment verifiziert werden kann. Vergleichbares vertritt Martin Kemp, siehe hierfür Kemp 2003a, S. 14–16. Beide verweisen auf Kopernikus als Beispiel naturwissenschaftlicher Intuition.

85 Vgl. Haftmann 1957a/2012, S. 109.86 Leonardo verfasste ganze Traktate zu naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, die er in seine Malerei

einfließen ließ, wie das Fallen von lockigem Haar in Form einer Helix, vgl. Kemp 2003c, S. 24–26; Turner verwies im Kontext einer Erklärung seiner Bilder gegenüber Ruskin indirekt auf die Farbenlehre Goethes, die sich dezidiert gegen das newtonianische Modell stellt. Turners Äußerung repräsentiert damit die Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Untersuchungen, Farben betreffend, vgl. Kemp 2003d, S. 89–91; Kemp zeigt Boccionis direkte Auseinandersetzung mit den neusten Entwicklungen in Naturwissenschaft und Technik, sowie deren Weg in die Arbeiten des Künstlers. Ganz unmittelbar sind seine Werke von den Aspekten Großstadt, Geschwindigkeit, Fahrzeug und Technik geprägt, vgl. Kemp 2003b, S. 150–152.

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sehen um deren divergierende Wirkungen ablesen zu können.87 Damit ist nicht mehr von der Hand zu weisen, dass die Naturwissenschaften stets großen Einfluss auf die bildenden Künste ausübten und, was noch viel wichtiger ist, dass die Malerei stets in den naturwissen-schaftlichen Erkenntnissen nach Inspiration suchte.

Die Bedeutungslosigkeit der Fotografie

Wie bereits erläutert löst im Haftmann’schen Kosmos Courbet die Idealisierung ab. Im Fol-genden bricht Cézanne mit der Perspektive und stößt damit eine Entwicklung an, die im Kubismus und Orphismus kulminiert. Doch schreibt Haftmann mit keinem Wort, dass die Fotografie Einfluss auf die Malerei ausgeübt hätte. Die Fotografie wurde indes immer wieder für die Richtung, die die moderne Kunst eingeschlagen hat, verantwortlich gemacht – in besonderem Sinne für die Abstraktion.88 Man Ray formulierte hierfür symptomatisch: „Was ich nicht malen kann, photographiere ich, und was ich photographieren kann, werde ich nicht malen.“89 Noch deutlicher macht es Picasso im Gespräch mit dem Fotografen Brassaï:

Warum sollte sich ein Künstler darauf versteifen, etwas darzustellen, was mit Hilfe des Objektivs so gut festgehalten werden kann? Das wäre doch Unsinn! Die Fotografie ist gerade im rechten Augenblick gekommen, um die Malerei von aller Literatur, von der Anekdote und sogar dem Gegenstand zu befreien […] Jedenfalls gehört ein bestimmter Aspekt des Gegen-standes in Zukunft in das Gebiet der Fotografie.90

Es ist unbestritten, dass sich die Künstler ab der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Fotografie bedroht fühlten.91 Dieser Umstand ist darauf zurückzuführen, dass die Malerei durch das Lichtbild des Monopols auf visuelle Dokumentationen aller Art beraubt wurde und Künstler ihren Ruf riskierten, wenn sie sich bei ihren Bildern fotografischer Vorbilder bedienten.92 Die Impressionisten reagierten mit als erste mittelbar auf das neue Medium und stellten der präziser werdenden Fotografie immer unpräzisere Wiederspiegelungen der Wirklichkeit gegenüber. Hirner schreibt hier gar von einem „Rückzugskampf aus der täg-lichen Bildwelt.“93 Unter Berücksichtigung des vorangegangenen Abschnitts lässt sich das „Übersehen“ der Fotografie für die Anfänge der Moderne in Haftmanns Theorie erklären: Die Naturwissenschaften und damit auch die Derivate ihrer Entdeckungen hätten keinen Einfluss auf die Kunst, da beide voneinander unabhängig agierten. Eine Fehleinschätzung – aber warum unterschlägt ein Kunsthistoriker von der Umsichtigkeit Haftmanns einen solch wichtigen Aspekt? Hat er ihn denn überhaupt übersehen?

87 Vgl. Kemp 2003a, S. 173–175.88 Vgl. Stelzer 1978, S. 8.89 Zit. n. Stelzer 1978, S. 9.90 Brassaï 1985, S. 41–42. In Konsequenz ist auch beispielsweise die Aussage von Henri Matisse von 1909

zu sehen: „Es ist nicht mehr Sache der Malerei, Ereignisse aus der Geschichte darzustellen […] wir haben von der Malerei eine höhere Meinung. Sie dient dem Künstler dazu, seine innere Vision auszudrücken“. (Matisse 1955, S. 34).

91 Vgl. Schmoll 1971, S. 8; die ersten Vorgänger der Photographie der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren weder präzise, noch weit verbreitet und stellten daher noch keine große Konkurrenz für die Malerei dar, vgl. Before Photography 1981, S. 1.

92 Vgl. Schmoll 1971, S. 8.93 Hirner 1997, S. 45; vgl. ebd., S. 46–48.

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Unzeitgemäße Betrachtungen

Der Grund für Haftmanns Isolation der Kunst und der Künstler von Einflüssen ist durch Haftmanns historisches Kunstbild geprägt: Haftmann verfolgt auch als Nachkriegskunst-historiker noch ältere Modelle der Kunstgeschichte.94 Damit ist in diesem Fall auch das Genieverständnis von Künstlerpersönlichkeiten gemeint. Dies ist der Grund für die – im Vorfeld angedeutete – Isolation der Künstler. Das Genie schöpft seine Inspiration aus sich selbst und ist nicht etwa Opfer einer Erfindung wie der Fotografie. Wie schon bei Michelan-gelo und anderen großen Namen, ist man bemüht, Einflüsse und Lehrer der vermeintlich geniehaften Impulsgeber zu verschleiern.95 Daher rührt auch die offenbare Einfluss- und historische Kontextlosigkeit Courbets und Cézannes. Haftmann bleibt bei seiner Einschät-zung merkwürdig unberührt von anderen Positionen selbst der frühen 50er Jahre, die bereits ausführlich über Cézannes weitreichende Einflüsse – die Venezianer und Post-Renaissance-Maler – schrieben.96 Damit ist Haftmann schon nicht mehr auf der Höhe seiner Zeit – wenigstens, was diesen Aspekt betrifft. Dazu kommt, dass das Leitmotiv der documenta 3, die Aneinanderreihung großer Künstler, genau dieser archaischen Vorstellung entspricht und damit in dieser Form konservativ, wenn nicht gar reaktionär ist. Schon die erste docu-menta hatte mit der Gegenüberstellung von Picasso und Fritz Winter auf große Künstler, auf ihre Wirkung und Bedeutung gesetzt.

Das „Große Individuelle“ und das „Große Kollektive“

So dominant die Idee vom künstlerischen Genie in Haftmanns Schaffen der 50er und 60er Jahre auch sein mag, so inkonsequent ging er doch mit dieser Annahme um. Haftmann relativiert den einzelnen Künstler durch die Generationentheorie und das Schwingen des Abstraktion-Gegenständlichkeit-Pendels zu Repräsentanten ihrer Dekade, sortierbar und formalistisch kategorisierbar nach Strömung respektive Pendelausschlag. Diesen Antipol zur Geniethese finden wir nicht nur in seinem schriftlichen Traktat, sondern auch auf der ersten und zweiten documenta. Waren auf der ersten documenta die Künstler im Fridericia-num zum Teil nach Strömungen sortiert, so hielt diese Desindividualisierung sogar in den Hauptsaal der documenta 2 Einzug. Hier wurden keine Individuen gezeigt, sondern ein Kollektiv aus internationalen Malern, die alle formalistisch äquivalente Kunst präsentier-ten – vom Geniekult also keine Spur. Diese unterschiedlichen Positionen lassen vermuten, dass sich Haftmann stets derjenigen Sichtweise bediente, der sein jeweils aktuelles Projekt bedurfte, jedweder projektübergreifenden Unstimmigkeit zum Trotz.

Ausblick

Es wäre an dieser Stelle weiter zu untersuchen, inwieweit Haftmanns Werk – das inzwi-schen als Dokument seiner Zeit gelesen wird97 – gemessen an seiner Entstehungszeit weitere konservative und progressive Tendenzen aufweist. Im Besonderen wäre hier Haftmanns Verständnis der Abstraktion als repräsentativ für die Freiheit des westlichen Bürgers zu untersuchen, sowie Haftmanns vehemente Ausklammerung jedes politischen Moments in der modernen Kunst. Hier müsste auch die Institutionskritik Haftmanns Eingang finden,

94 Vgl. hierzu auch den Einfluss von Kandinsky und Pinder im Kapitel ‚Haftmanns Prämissen‘.95 Vgl. Vasari 2009, S. 31–33.96 Vgl. Carpenter 1951, S. 178.97 Vgl. Fastert 2008, S. 321.

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sowie ein detaillierter Abgleich mit den eingangs erwähnten Positionen seiner Zeitgenossen, etwa Hans Sedlmayrs und Theodor W. Adornos. Wenn auch in diesem Essay nur ein kleines Licht ins Dunkel diverser Ungereimtheiten geworfen werden konnte, so soll dies Haft-manns kunsthistorischen Wert dennoch nicht schmälern: Er hatte nicht nur maßgeblichen Anteil an der Erfolgsgeschichte der documenta, sondern trug auch signifikant zur Etablie-rung gegenstandsloser Malerei im Deutschland der Nachkriegszeit bei. In seiner Schrift zum Tode Werner Haftmanns schrieb Gerd Presler, Haftmann wäre von vielen als Prophet der Moderne bezeichnet worden.98 Doch die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass sich die nachhaltige Relevanz eines Propheten nicht proportional zur Widerspruchlosigkeit seiner Prophezeiungen verhält.

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Abbildungsnachweise

Abb. 1: Kimpel, Harald/Stegel, Karin: documenta. Erste Internationale Kunstausstellung. eine fotografische Rekonstruktion, Bremen 1995, S. 112 (Detail einer Schwarz-Weiß-Pho-tographie).

Abb. 2: Walther, Ingo (Hg.): Malerei der Welt, Köln 1995, S. 571.Abb. 3: Scheibler, Aurel (Hrsg.): Ernst Wilhelm Nay. Verzeichnis der Ölgemälde. Bd. 2.

1952–1968, Köln 1990, S. 121.

▲Please cite this article as: Thomas Moser (2014): „Kunst [ist das], was bedeutende Künstler machen.“ Zur Differenzierung zwischen Tradition und Innovation in Werner Haftmanns Schaf-fen der 50er und 60er Jahre. In: Helikon. A Multidisciplinary Online Journal, 3. 35–53.


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