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No Bullshit Vor 35 Jahren endete ihre Documenta-Teilnahme mit einem Eklat. 2017 ist Miriam Cahn in Athen und Kassel dabei. Sexualität, Angst, der Kampf um das Ich: Diese Malerei kann einem den Schlaf rauben. Und dann sind da noch die Alpen direkt vor der Tür. Ein Atelierbesuch
Fotos Daniel Martinek Text Jens Hinrichsen
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Der dicke Nebel hat alles verschluckt, Berge, Bäume, Gras. So
eine Suppe sei selten in ihrem Tal, sagt Miriam Cahn. Die mil-
chige Wand blockiert sogar die Sicht zur Durchgangsstraße
direkt am Atelierfenster. Die Straße führt von St. Moritz herunter wei-
ter nach Ponteggia hinter der italienischen Grenze. Seit Kurzem lebt
die Künstlerin ganz hier in Stampa, einem stillen Dorf im schweizeri-
schen Graubünden. Das Bergell, so heißt das Alpental, kennt die 1949
in Basel geborene Künstlerin schon seit Kindertagen. Wo die Familie
früher Urlaub machte, hat sie vor Jahren eine Hütte bezogen. Im Früh-
jahr wurde der große Atelierneubau fertig, der ihr altes Studio in Basel
inzwischen ersetzt hat.
Eine Rampe – „für den Fall, dass ich mal im Rollstuhl sitze“ –
schlängelt sich von der Straßenseite um die Ecke zur signalroten Ein-
gangstür, durch die auch größte Keilrahmen passen. „Die rote Tür hat
Alberto Giacometti gestrichen“, erzählt Cahn lächelnd. Der Verwandte
des berühmten Künstlers, Fachmaler vor Ort, finde es nicht so witzig,
Namensvetter zu sein. Der große Giacometti ist in Stampa geboren.
„Im Bergell wohnen lauter Giacomettis“, sagt Cahn.
Sie selber hat keinen legendären Künstler im Stammbaum, ist aber
in einer kunstaffinen Familie aufgewachsen. Ihr Vater war Kunst-
händler, die Mutter zeichnete mit Leidenschaft. Man war mit Künst-
lern wie Oskar Kokoschka befreundet, dessen Farbstifte die kleine
Miriam benutzen durfte, wenn man die Kokoschkas am Genfersee
besuchte. „Das war natürlich toll“, sagt Cahn. Als sie später fest ent-
schlossen war, Künstlerin zu werden, kühlte das Verhältnis zum grei-
sen Expressionisten ab: „Er dachte wohl, Frauen hätten in der Kunst
nichts zu suchen.“
Was für ein Irrtum! Schon in den 80ern wird die feministische
Künstlerin über die Schweiz hinaus bekannt, vertritt ihr Land 1984 auf
der Venedig-Biennale, präsentiert dort ihren gezeichneten Bilderfries
„Das wilde Lieben“. Dass ihr verglichen mit anderen Künstlerinnen
ihrer Generation – Marina Abramović, Valie Export, Cindy Sherman,
Rosemarie Trockel – danach nicht die ganz große Karriere glückte,
hat viel mit dominierenden Männern auf dem Kunstmarkt zu tun, mit
Cahns kraftvoll-konsistentem Werk hingegen sicher nichts.
Wenn man sie eine „Malerin“ nennt, reagiert sie ungehalten:
„Künstlerin!“ Zwar scheinen ihre farbglühenden Gemälde aus jünge-
rer Produktion dafür verantwortlich zu sein, dass sie mit Soloschauen
in Aarau und Kiel „wiederentdeckt“ wurde. Aber das täuscht. Miriam
Cahn zeichnet, arbeitet mit Holz, schreibt experimentelle Texte. Allein
mit den wuchtig-performativen Zeichnungen – „Ich war immer ganz
schwarz vom Kohlestaub“ – ist es wohl vorbei, weil Cahns Rücken nicht
mehr mitmacht.
LINKS
„hysterisch, 05.02.1996“, Öl auf Leinwand
RECHTS
Aus der Zeit der „Wach Raum“- Zeichnungen: Das „haus“ (1982)
ist weiblich konnotiert
Das neue Ateliergebäude
in Stampa
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Sie stellt neue Gemälde an die Atelierwand. Farben leuchten, Blicke
brennen. Vor allem Menschen fixieren den Betrachter, aber auch Tier-
figuren oder Mischwesen. Auf kleinere Holzplatten hat Cahn Köpfe
gemalt. Manche schauen angstvoll über die Schulter, als würden sie
verfolgt. Auf den größeren Ölbildern sind Figurengruppen zu sehen,
Personen in unablässiger Bewegung. Nackte Menschen durchqueren
weite, unbehauste Bildräume. Mütter zerren ihre Kinder durch Farb-
wüsten. Oder das andere Extrem: Figuren stehen still wie in Schock-
starre, wie angewurzelt da. Dabei möchte auf den unheimlichen Grün-
den dieser Bilder wohl niemand Wurzeln schlagen.
Daneben malt Cahn immer wieder Häuser – wie einen Traum
von vier Wänden. Durch die milchigen Wände des Bildes „bauen,
05.12.2015“ schimmert das Innere des Gebäudes. Menschen tauchen
auf den Häuserbildern nicht auf. Wer Schutz sucht, findet keinen.
Die Menschen, die Miriam Cahn malt, scheinen nicht einmal im
eigenen Körper zu Hause zu sein. „Das Körperbewusstsein ist ja nicht
statisch“, sagt Cahn, „man fühlt sich immer ein bisschen anders.“ Sie
malt Leiber und Gesichter in unablässiger Transformation. Arme
enden in Stümpfen. Wo doch Hände sind, schmelzen sie wie heißes
Wachs. Oder sie erstarren in frostigem Blau.
Cahn verfügt über ein verblüffendes Zeichenrepertoire. Picasso,
der sich unablässig neu erfand, zählt zu ihren Favoriten in
der Kunstgeschichte: kein Wunder. Die Skala ihrer Möglich-
keiten reicht von naturalistisch bis zeichenhaft. Extrem reduziert ist
die Kreatur im Öl-Kleinformat „unheimlich, 05.01.2008“. Zwei violette
Arme zappeln am unteren Bildrand, drei Rechtecke umschließen oder
zerdrücken die fragmentarische Figur. Ein Grabmal? Eine Unfallsi-
tuation? Man weiß es nicht. Das erzromantische Abendrot über der
rudimentären Szene sorgt für einen bestürzenden Kontrast. Cahn ist
die Meisterin derart dubioser Stimmungen.
Was sind das für Menschen? „Menschen wie du und ich“, entgegnet
die Künstlerin. Auch ihr eigener Körper taucht unter den Erstarrten
und Flüchtenden auf. Ob sie sich selbst malt oder andere, ist in dieser
Welt flüchtiger Erscheinungen letztlich wohl egal. Auch die gemal-
ten Köpfe sind weniger Porträts als existenzielle Studien. Ein Gesicht
starrt aus leeren schwarzen Augenhöhlen. Eine Beinahe-Totenmaske,
die dicke weiße Ölfarbe zu schwitzen scheint. Cahn dreht das Kleinfor-
mat um, der Aufschrift nach hat sie Michael Fassbender „im TV gese-
hen“ und seine Figur aus Steve McQueens Sexsuchtdrama „Shame“ ge-
malt. Den Filmstar erkennt man nicht gleich, den Getriebenen sofort.
Das Flüchtlingsthema, das ihre künstlerische Agenda bestimmt,
hat sich Cahn – selbst Tochter eines Emigranten – spätestens mit dem
Balkankonflikt aufgedrängt. Nach dem Mauerfall begann Europa
zwar zusammenzufinden. „Für die Krise gerüstet war man aber nicht“,
sagt sie. „Wenn ich von einer europäischen Gemeinschaftsarmee
sprach, wurde ich unter Feministinnen als Militaristin beschimpft.“
Die Bürgerkriegsflüchtlinge kamen (vor allem nach Deutschland,
wenige in die Schweiz), heute versuchen sich Menschen aus Syrien,
„Ich rege nicht zum Handeln
an, sondern zum Denken“
LINKS
„aus der wüste, 8.12.2013“, Öl auf Leinwand
RECHTS
Bildträgerin: Miriam Cahn hinter einem
aktuellen Großformat
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LINKS
„unheimlich, 05.01.2008“, Öl auf Leinwand
RECHTS
„bauen, 05.12.2015“, Öl auf Leinwand
Die Angst und das Fremde:
Die Künstlerin mit neuen Bildern
Afghanistan, Irak und Eritrea nach Europa zu retten. Cahns Bilder
fragen nicht nach Herkunft, sie zeigen nackte Angst, Verzweiflung,
Hoffnung und Gewalt. „Ich lehne Gewalt ab“, stellt sie klar. „Aber ein
radikales Bild ist etwas anderes. Ich rege ja nicht zum Handeln an,
sondern zum Denken.“
Die Schaulust kennt keine Moral. Das Schöne im Schrecklichen will
gemalt werden. Cahn engagiert sich in den 80ern in der Friedensbewe-
gung. Gleichzeitig malt sie traumhaft schöne Atombombenexplosio-
nen. Auf feuchtem Papier trägt die Künstlerin Wasserfarben von unten
nach oben als Querstriche auf. Die Farbe läuft herunter, ein Atompilz
erscheint am oberen Blattrand, radioaktiver Fallout scheint sich den
Weg nach unten zu bahnen.
Die brutal dreinschlagende Faust ist ein wiederkehrendes Motiv
ihrer Bilder, seltener kommen Waffen vor. „Requisiten sind eine Aus-
nahme“, sagt Cahn, als sie auf das Hochformat eines nackten, mit einer
Keule bewehrten Mannes deutet. Sein Gesicht ist wattig verunklart,
nur die Augen blitzen hervor. Ein vermummter Rechtsradikaler? Ein
islamistischer Terrorist? Das liegt im Auge des Betrachters. Cahn
nimmt solche Lesarten hin, legt es aber nicht auf Zuspitzungen an.
Politkunst findet Cahn furchtbar. Doch wenn ihre Werke einen
Nerv treffen, fühlt sie sich bestätigt: „Als ich meine Ausstellung
für die Kunsthalle Kiel vorbereitete, machte nur wenige Kilo-
meter entfernt Dänemark die Schengen-Grenze zu Deutschland dicht.
Bei solchen Zufällen spürt man das politische Potenzial von Bildern.“
Ihr Handwerk hat sie zwischen 1968 und 1973 auf der Kunstgewerbe-
schule in Basel gelernt. Sie zieht einen x-beliebigen Kunstband hervor
und deutet auf die Titelschrift: „Wer einmal gelernt hat, die Buchsta-
ben der Univers präzise von Hand nachzuzeichnen, der kann alles ler-
nen.“ Aber vom Akademiewesen hat sie keine hohe Meinung, Kunst-
hochschulen verabscheut sie. „Und hören wir auf, von Technik zu
reden“, poltert die Künstlerin, „das verstellt den Blick auf die Bilder.“
Womöglich hat sie recht: Energie und Durchsetzungswillen gehören
zum künstlerischen Rüstzeug, so wie die technischen Fertigkeiten.
Doch wer soll einem den Willen beibringen, wenn er nicht Teil der
Persönlichkeit ist?
Stur war sie schon immer. 1979 tobt sie sich mit Graffiti und Texten
auf der Baustelle einer Baseler Autobahnbrücke aus, in einer Nacht-
und-Nebel-Aktion, der sie den Titel „mein frausein ist mein öffentli-
cher teil“ gibt. „Als ich dann von der Polizei erwischt wurde, wurde es
wahnsinnig lustig“, erzählt Cahn. Zwei Polizisten müssen ihretwegen
am Weihnachtsabend Dienst schieben. Sie legen ein Pornoheft auf den
Stuhl, damit die über und über mit schwarzem Kreidestaub bedeckte
Teilansicht der Installation „DAS WILDE LIEBEN
(schwindel + wirbeln), 07.1984“,
Kreide auf Papier, in der Kunsthalle zu Kiel
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Künstlerin Platz nehmen kann. Auch das Gerichtsverfahren wird zur
Farce. Cahn soll ihre Tat bereuen, muss dem Richter aber zunächst
den Unterschied zwischen Acrylspray und ihrer Kreide erklären, die
ohnehin bald vom Regen abgewaschen wird. Die Künstlerin wird zu
einer Geldbuße von 250 Schweizer Franken verurteilt, vor allem aber
wird Jean-Christophe Ammann, damals Chef der Kunsthalle Basel,
auf sie aufmerksam. 1981 stellt Ammann Cahn im Rahmen einer Grup-
penschau in der Kunsthalle aus.
Im Jahr darauf wird sie zur Documenta nach Kassel eingeladen.
In einem für sie reservierten Kabinett spannt sie ihre Zeichnungen
„Wach Raum II“ auf, die Geschlechterklischees ausbuchstabieren.
Bett, Haus, Ofen gehören zur Frau, Flugzeug oder Panzer zum Mann.
„Es ging damals darum, zunächst zu klären, was weiblich, was männ-
lich konnotiert ist – um diese Stereotypen irgendwann auflösen zu
können“, erklärt Cahn ihr feministisch motiviertes Raumkonzept. „14
Tage nach der fix und fertigen Raumkonzeption hängt das Personal
plötzlich einen Teil der Arbeiten ab“, erzählt sie. Documenta-Leiter
Rudi Fuchs hat bestimmt, dass sie sich den Raum mit einem Kolle-
gen teilen sollte. Nicht mit ihr. Cahn entfernt ihre Werke ganz aus der
Ausstellung. „Man konnte die Blätter ja leicht transportieren“, sagt sie.
Andere, ebenso vor den Kopf gestoßene Kollegen hätten so kurz vor
der Eröffnung nicht mehr reagieren können. „Auf der Pressekonferenz
nahm ich meinen Mut zusammen und forderte eine Erklärung von
Fuchs.“ Sie wird vom Direktor vor aller Öffentlichkeit als „hysterische
Neurotikerin“ abgekanzelt. Jetzt kehrt Cahn zur Documenta zurück.
Während sie in der neuen Documenta-Stadt Athen ihre aktuelle Male-
rei zeigen wird, sind in Kassel eben jene „Wach Raum“-Zeichnungen zu
sehen, mit denen 1982 so respektlos umgesprungen wurde. Der neue
Leiter Adam Szymczyk will vor Ort die Geschichte der Großausstel-
lung aufarbeiten – einschließlich eklatanter Fehlentscheidungen der
Vergangenheit.
Aber im Fall von Miriam Cahn geht es sicher nicht nur um Wie-
dergutmachung. Die Künstlerin freut sich darüber, dass sich
Szymczyk ohnehin für ihr Werk begeistert. „Er sagt, dass ich
wie eine Schriftstellerin arbeite, von Wort zu Wort und Satz zu Satz“,
sagt Cahn. „Das trifft es genau.“ Malerfürstlich an Meisterwerken tüf-
teln wäre das Letzte, was ihr einfiele. Sie malt schnell, meistens ein
Bild pro Tag. Kaum zu glauben: Die tägliche Arbeitsphase dauert etwa
drei Stunden. Wie sie das macht? Sie kann es eben.
Ihre Kieler Soloschau trug den Titel „Auf Augenhöhe“. Er rührt an
den Kern ihrer Auffassung. Die Bilder sind für sie gleichwertig, die
dargestellten Menschen sowieso. Daher achtet Cahn darauf, dass die
Augenpaare der Figuren (und auch der Betrachter) möglichst auf einer
Höhe liegen – von Bild zu Bild. Nie würde sie „auf Kante“ hängen.
Wenn sie draußen vor ihrem Atelier einer Kuh begegne, sagt die
Künstlerin, „überlege ich, was die sich denkt“. So wie Gertrude Stein,
die feststellte: „Ich bin ich, weil mein kleiner Hund mich kennt.“ Sind
Kunstwerke eigentlich auch lebende Wesen? Das fragen wir Miriam
Cahn lieber nicht, sie würde spöttisch reagieren. No Bullshit. Aber
ihre Bilder schauen immer zurück.
Nächste Ausstellungen: Documenta in Athen, ab 8. April, und
Kassel, ab 10. Juni, Galerie Jocelyn Wolff, Paris, ab 28. April
Documenta-Leiter Rudi Fuchs
nannte sie „hysterisch“
LINKS
„o.t., 18.06.2014“,Aquarell auf Papier
RECHTS
„atombomben, 25.10.1987“, Aquarell auf Papier,
Teil 7 von 7
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