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Bidirektionale Verknüpfung von Computeralgebra und dynamischer Geometrie

Date post: 23-Dec-2016
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249 Reinhard Oldenburg Bidirektionale Verknupfung von Computeralgebra und dynamischer Geometrie Zusammenfassung: Das Lemen mit multiplen Reprasentationsfonnen kann von didaktischer Software unterstlitzt wer- den. Fur die Verzahnung von Algebra und Geometrie wird das Konzept der bidirektionalen, dy- namischen Verknupfung von Computeralgebra und dynamischer Geometrie definiert. Die mathe- matischen, technischen und didaktischen Hintergrtinde werden dargestellt und anhand des vom Autor entwickelten Programms FeliX erlautert. Abstract: Educational software can support learning with multiple representations. Regarding the case of al- gebra and geometry the concept of a bi-directionallink between dynamic geometry and computer algebra is introduced. Mathematical, didactical and technical fundamentals are considered and ex- plained using the author's prototypical system FeliX. 1 Einleitung Die Verwendung von multiplen Reprasentationsformen kann Lemen unterstUtzen (E- delmann 1996, S. 235ff; Anderson 1995, S. lO3ff). In der Mathematikdidaktik wird die- se Erkenntnis seit 1angem diskutiert. Die NCTM hat dem Thema der Reprasentationen das Yearbook 2001 gewidmet (Cuoco & Curcio 2001). Fur die Bedeutung beim Prob- 1emlosen in Algebra und Geometrie siehe etwa (Zimmermann 2003, S. 11ff). Auch im Hinblick auf den Computereinsatz wurde das Thema bereits vie1fach disku- tiert (z.B. Tall 1991, Noss & Hoyles 1996). Bedauerlicherweise sind verschiedene Rep- rasentationsformen in mathernatischer schulbezogener Software, wenn uberhaupt vor- handen, in der Regel nicht gleichwertig. Beispielsweise konnen mit Computeralgebra- systemen (CAS) wie Derive Parabeln algebraisch und geometrisch behandelt werden, aber dabei ist die a1gebraische Seite ausgezeichnet, weil nur sie ein Operieren mit den Objekten erlaubt. Die graphische Darstellung dagegen ist nur eine abhangige Darstel- lung, mit ihr kann nicht interagiert werden. Bei konventionellen dynamischen Geomet- riesystemen (DGS) liegen die Verhaltnisse umgekehrt: Primar ist die geometrische Dar- stellung, wahrend die Termdarstellung davon abhangig ist. In dieser Arbeit soIl begriindet werden, dass eine gleichberechtigte bidirektionale Integration von CAS und DGS wiin- schenswert ist, eine solche Integration realisierbar ist und (JMD 26 (2005) H. 3/4, S. 249-273)
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Reinhard Oldenburg

Bidirektionale Verknupfung von Computeralgebra und dynamischer Geometrie

Zusammenfassung:

Das Lemen mit multiplen Reprasentationsfonnen kann von didaktischer Software unterstlitzt wer­den. Fur die Verzahnung von Algebra und Geometrie wird das Konzept der bidirektionalen, dy­namischen Verknupfung von Computeralgebra und dynamischer Geometrie definiert. Die mathe­matischen, technischen und didaktischen Hintergrtinde werden dargestellt und anhand des vom Autor entwickelten Programms FeliX erlautert.

Abstract:

Educational software can support learning with multiple representations. Regarding the case of al­gebra and geometry the concept of a bi-directionallink between dynamic geometry and computer algebra is introduced. Mathematical, didactical and technical fundamentals are considered and ex­plained using the author's prototypical system FeliX.

1 Einleitung

Die Verwendung von multiplen Reprasentationsformen kann Lemen unterstUtzen (E­delmann 1996, S. 235ff; Anderson 1995, S. lO3ff). In der Mathematikdidaktik wird die­se Erkenntnis seit 1angem diskutiert. Die NCTM hat dem Thema der Reprasentationen das Yearbook 2001 gewidmet (Cuoco & Curcio 2001). Fur die Bedeutung beim Prob-1emlosen in Algebra und Geometrie siehe etwa (Zimmermann 2003, S. 11ff).

Auch im Hinblick auf den Computereinsatz wurde das Thema bereits vie1fach disku­tiert (z.B. Tall 1991, Noss & Hoyles 1996). Bedauerlicherweise sind verschiedene Rep­rasentationsformen in mathernatischer schulbezogener Software, wenn uberhaupt vor­handen, in der Regel nicht gleichwertig. Beispielsweise konnen mit Computeralgebra­systemen (CAS) wie Derive Parabeln algebraisch und geometrisch behandelt werden, aber dabei ist die a1gebraische Seite ausgezeichnet, weil nur sie ein Operieren mit den Objekten erlaubt. Die graphische Darstellung dagegen ist nur eine abhangige Darstel­lung, mit ihr kann nicht interagiert werden. Bei konventionellen dynamischen Geomet­riesystemen (DGS) liegen die Verhaltnisse umgekehrt: Primar ist die geometrische Dar­stellung, wahrend die Termdarstellung davon abhangig ist.

In dieser Arbeit soIl begriindet werden, dass

• eine gleichberechtigte bidirektionale Integration von CAS und DGS wiin­schenswert ist,

• eine solche Integration realisierbar ist und

(JMD 26 (2005) H. 3/4, S. 249-273)

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• sich durch diese Integration wertvolle didaktische Moglichkeiten erOffnen.

Die gegenwartige "kommunikationslose Koexistenz" von CAS und DGS hat bereits mehrere Autoren herausgefordert. Schon bei Schumann (1991) findet man erste Uberle­gungen zu einer Verbindung und den Wunsch nach einer algebraischen Bestimmung von Ortskurven. Emeuert wurde die Forderung nach einer Integration der verschiedenen "modes of solution" in Schumann & Green (2000). Eine Behandlung algebraischer Kur­ven, die den Mangel eines fehlenden bidirektionalen Werkzeugs offenkundig werden Hisst, gibt Schumann (2003). Auf der ICTME5 (Borovcnik & Kautschisch 2002) fand ein Symposium zum Thema "Cooperation von CAS und DGS" statt. Dort hat Roanes­Lozano (p. 335ft) eine Interfacesoftware vorgestellt, die es erlaubt, Sketchpad­Konstruktionen in Maple zu laden. Dies ermoglicht dann algebraische Berechungen rund urn die Konstruktion, wie sie z.B. notig sind, wenn die Gleichungen von Ortslinien ge­funden werden sollen. Auch einige DGS haben die Idee aufgegriffen und sprechen von einer Integration von CAS und DGS (Geogebra Hohenwater 2004), (Geonext: Ehmann 2004), (Lugares: Botana & Valcarce 2004). Eine angemessene Diskussion dieser Syste­me liegt jenseits des Rahmens dieses Aufsatzes, es solI allerdings erwahnt werden, dass keines der Systeme die oben genannten Funktionalitaten zur Verfiigung stellt.

Die Hoffnung, dass die Verwendung verschiedener Reprasentationsformen durch ent­sprechende Software einen Gewinn darstellt, hat Tall schon vor fast 15 lahren zum Aus­druck gebracht:

"Already the promise of parallel processing may bring new possibilities, for instance in the simultaneous processing of several different representations." Tall (1991, p. 245)

Konkret auf die Verbindung von CAS und DGS bezogen fordert Halverscheid:

"It would be desirable to equip CAS with DGS elements .... A two-window­technology - one for the algebraic side and the other for the geometric side - would be desirable." Halverscheid (2004)

Interessant ist damber hinaus, dass schon vor langer Zeit (Holz 1994) der Wunsch von Schiilem dokumentiert wurde, konstruierte Punkte noch weiteren Bedingungen zu un­terwerfen - ein Wunsch, der zwar iiblichem synthetisch-geometrischen Denken wider­spricht, aber algebraisch sinnvoll ist.

Die bisher gegebenen Argumente fur die Integration stUtzen sich auf aIlgemein­didaktische Uberlegungen. Aber auch Beobachtungen aus dem eigenen Unterricht des Autors zeigen, dass SchUler den Mangel der bisherigen Softwaresituation klar erkennen. In zwei parallel unterrichteten neunten Klassen wurde die Parabel als Ortslinie einge­fuhrt und zunachst auf Papier, dann mit dem DGS Euklid erkundet. Danach wurden Pa­rabeln auch algebraisch beschrieben und via implizitem Plotten in Derive gezeichnet. In Derive, nicht aber in DGS, wurde auch der Schritt zu anderen Kegelschnitten gemacht. In einem abschlieBenden Fragebogen zur Evaluation wurden die SchUler gefragt: "Wel­ches Programm ist besser geeignet, sich die Abstandsdefinition der Parabel zu veran­schaulichen?". AIle SchUler entschieden sich fur Euklid, weil, so eine typische Begmn­dung, "man noch mit der Maus daran ziehen kann". Dabei haben die Schiiler durchaus

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die Defizite im Vergleich zu CAS erkannt: "Die Parabelerzeugung bei Euklid gefallt mir besser, man kann allerdings Gleichungen nur schwer oder gar nicht ausrechnen."

Ein Blick in die didaktische Literatur zeigt einen groBen Bereich an Themen, die sich sowohl mit CAS als auch mit DGS behandeln lassen: Kegelschnitte, Ortslinien, Bezier­kurven, das Linsengesetz, Ausgleichsgeraden, Gelenkmechanismen u.v.a.m. Die Bear­beitung solcher Fragestellungen erfordert also die Wahl eines Werkzeugs, sei es durch den Lehrenden, den Lemenden oder durch gemeinsame Auswahl.

In der Regel verfugt der Lemende nicht uber die notige Kompetenz, fur eine gegebe­ne Problemstellung das richtige Werkzeug zu wahlen. Diese Kompetenz zu entwickeln ist zwar ein wiinschenswertes Ziel, das aber nach meiner Erfahrung erst in der Sekundar­stufe II in nennenswertem Umfang erreichbar ist. Es wird nur bei solchen Problemstel­lungen erreichbar sein, mit denen die SchUler halbwegs vertraut sind. Ein Problem beim Erwerb dieser Kompetenz ist die Fehler-Intoleranz der gegenwiirtigen Situation: Wenn sich herausstellt, dass man zunachst ein ungUnstiges Werkzeug gewahlt hat, verliert die ganze bisherige Arbeit ihren Wert und man muss mit anderen Werkzeug von vome be­ginnen. Eine Integration von CAS und DGS konnte hier in bestimmten Situationen Ab­hilfe schaff en. Dies ist vor allem auch deshalb wichtig, weil viele Schuler und SchUle­rinnen zunachst die der Intuition naher liegende Welt der DGS bevorzugen. Bei Proble­men, die ein algebraisches Weiterarbeiten erfordem, bleibt ihnen die Enttauschung einer "falschen Wahl" erspart.

Indem der Lehrer fur die SchUler das Werkzeug wahlt, erspart er ihnen nicht nur eine kognitiv anspruchsvolle Entscheidung, sondem legt auch fest, wie kUnftig mit den zu un­tersuchenden Objekten operiert werden kann. Eine Parabel in einem DGS unterstUtzt an­dere Operationen (z.B. am Brennpunkt ziehen, eine Tangente anlegen) als eine Parabel im CAS (z.B. Faktorisieren, Scheitelpunkt bestimmen ... ). Nach der Reifikationstheorie, wie sie von Sfard griindlich diskutiert wurde (Sfard 1991), entstehen mathematische Ob­jekte aus Prozessen mathematischen Handelns. Wenn also die Operationsmoglichkeiten je nach Lemumgebung variieren, mussen auch die von den SchUlem erzeugten mentalen Konstrukte differieren.

Es ist offensichtlich, dass ein Begriff umso flexibler und angemessener verwendet werden kann, je starker seine Vemetzung mit anderen Begriffen ist, je reichhaltiger also die mit ihm verbundenen Operationsmoglichkeiten sind. Dies spricht fur mUltiple Repra­sentationsformen, die zueinander kompatibel sind. Es ist denkokonomisch, Sachverhalte, die invariant unter einem Wechsel sind, durch eine einheitliche kognitive Entitat zu rep­rasentieren. Wenn die Schiller also die algebraische und die geometrische Reprasentati­onsform, z.B. der Abstandseigenschaft der Parabel, operierend erleben konnen, besteht die berechtigte Hoffnung auf ein horizontal vemetzendes Lemen.

Ziel dieses Aufsatzes ist die Konkretisierung der Vision einer Integration von CAS und DGS. Die grundlegenden Konzepte werden benannt, ihre mathematische Struktur wird gekliirt und es werden didaktisch relevante Konsequenzen gezogen. In seinen zent­ralen Teilen spricht dieser Aufsatz deshalb nicht von einem bestimmten Programm. 1m Hintergrund steht aber immer das System FeliX des Autors, das als gegenwartig einzige Implementation der in diesem Aufsatz diskutierten Bidirektionalitat von CAS und DGS die Realisierbarkeit der vorgestellten Konzepte zeigt.

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1.1 Traditionelle DGS und ihre DeflZite aus algebraischer Sicht

In diesem Abschnitt wird die Arbeitsweise traditioneller dynamischer Geometriepro­gramme kurz dargestellt. Dabei werden Begriffe eingefiihrt, die fur die Charakterisie­rung von Geometriesystemen wichtig sind. AuBerdem werden einige einschrankende Konsequenzen aus dieser Arbeitsweise gezogen.

Die Darstellung ist fur Systeme wie Cabri, Dynageo, Zirkel&Lineal und Geonext gultig. Cinderella und Geogebra sind intern etwas anders organisiert, fur den Nutzer sind die Unterschiede aber kaum von Bedeutung: Auch das Verhalten dieser Systeme kann mit dem hier entwickelten Modell verstanden werden.

Ein DGS bietet Werkzeuge an, urn (mindestens) zwei Arten von geometrischen Ob­jekten zu erzeugen, unabhiingige Objekte (Basisobjekte) und abhiingige Objekte (typi­sche Beispiele: Mittelpunkt, Schnittpunkt, Strecke zwischen Punkten, Lot, Parallele, ... ). Die Lage der Basisobjekte kann vollig frei und unabhiingig von anderen Objekten ge­wahlt werden. Abhangige Objekte werden dagegen aus anderen Objekten konstruiert. Optisch auffallig stellt beispielsweise Euklid Dynageo Basispunkte als Quadrate, abhiin­gige Punkte als Kreise dar.

Bei der Erzeugung eines abhiingigen Objektes wird gespeichert, von welchen Objek­ten das neue Objekte abhiingt. Dies sind die "Eltern" des Objektes. Beispielsweise hat ein Lot einen Punkt und eine Gerade (oder Strecke) als Eltern. Umgekehrt merken sich auch aIle Objekte, welche Kinder sie haben. Die so entstandene Struktur kann durch ei­nen Anhiingigkeitsgraph veranschaulicht werden. 1m folgenden Beispiel wird aus zwei Basispunkten A, B ihr Mittelpunkt, ihre Verbindungsgerade und die Mittelsenkrechte, sowie ein Lot auf einen weiteren Basispunkt C konstruiert.

c

In der Darstellung verlaufen Pfeile von einem Elternobjekt zu den Kindobjekten. Man erkennt die Basisobjekte sofort daran, dass sie keine Eltern besitzen.

Diese Beziehungen werden im Zugmodus genutzt. Seine Arbeitsweise kann modell­haft folgendermafien verstanden werden: Wenn ein Basisobjekt (hier A, B oder C) mit der Maus gezogen wird, werden seine Koordinaten auf die neuen Werte gesetzt. Danach werden aIle Kinder informiert, dass sie sich aktualisieren mussen. Die Kinder berechnen

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gemaB ihrer Konstruktionsvorschrift ihre neuen Koordinaten aus denen ihrer EItem und informieren rekursiv wiederum die eigenen Kinder.

Die erste wichtige Konsequenz ist, dass nur Basisobjekte mit der Maus gezogen wer­den konnen. Die zweite Konsequenz ist, dass die gleiche geometrische Konfiguration durch verschiedene Graphen modelliert werden kann. Beispielsweise konnen drei Punkte A, B, M mit der Relation, dass M der Mittelpunkt von A und B ist, durch drei verschiede­ne Abhangigkeitsgraphen beschreiben werden, je nachdem ob A, B, oder A, Moder B, M als Basisobjekte gewahIt werden. Den jeweils dritten Punkt kann man dann nicht frei va­riieren. Natiirlich konnte ein DGS Werkzeuge enthalten, mit denen man den Abhangig­keitsgraphen umstrukturieren kann (das DGS von Saltire - www.saltire.com -, das im Casio ClassPad verwendet wird, ist ein Beispiel), aber dies ist ein komplexes Unterfan­gen, weil es sehr viele verschiedene mogliche Umstrukturierungen gibt und durch zahl­reiche Fallunterscheidungen sicher gestellt werden muss, dass diese in jedem Fall wieder zu einem zulassigen (und vom Benutzer erwiinschten!) Graphen fiihren.

Das bisherige Modell bedarf noch zweier Verfeinerungen, urn alle Moglichkeiten von dynamischen Geometriesystemen zu erklaren. GewissermaBen auf halbem Wege zwischen Basispunkten und abhangigen Punkten liegen die halbfreien Punkte oder "Gleiter". Dies sind Punkte, die an eindimensionale Objekte wie Geraden, Kreise oder ggf. Ortslinien gebunden werden und dann auf ihrem Trager beweglich sind. Sie lassen sich problemlos in Abhangigkeitsgraphen einbauen: Es sind Punkte, die ein Eltemobjekt (Kreis, Gerade oder Kurve) haben. Der Zugmodus braucht zwei neue Regeln:

• Wenn ein Gleiter informiert wird, dass sich sein Tragerobjekt verschoben hat, passt er seine eigenen Koordinaten so an, dass er wieder auf dem Trager liegt. Das kann z.B. durch Projektion geschehen.

• Wenn ein Gleiter mit der Maus bewegt werden soll, werden die gewfulschten Zielkoordinaten zunachst auf den Trager projiziert und der Gleiter wird an die so berechnete Stelle gesetzt. Danach werden, wie bei anderen Objekten auch, aIle Kinder des Gleiters infonniert.

Die zweite Erganzung betrifft die Strecken fester Lange, die aber (wegen der jetzt zu schildemden Problematik) nieht von allen DGS angeboten werden. Wenn zwei Punkte A und B die Endpunkte einer Strecke fester Lange sind, ist es moglich an A zu ziehen (und dann muss sich B entsprechend andem) oder an B zu ziehen (und dann muss sich A an­dem). Es gibt also keine statische Eltem-Kind-Beziehung, sondem diese ergibt sich erst dynamisch aus der Zugsituation. 1m Graphen kann man das so darstellen, dass man einen Doppelpfeil zwischen A und B vermerkt. Wenn bei einem Zug zuerst A bewegt wird, wird der Doppelpfeil fur diesen Zug so interpretiert, dass B ein Kind von A ist. In ande­ren Situationen kann auch A Kind von B sein. Fur die Dauer eines Zuges aber ist der Graph temporar geriehtet.

Der Abhangigkeitsgraph muss gerichtet und azyklisch sein, denn gabe es einen Zykel (einen geschlossenen Weg), wtirde die Aktualisierung der Konstruktion nach obi gem Algorithmus in einer Endlosschleife steeken bleiben. Aus diesem Grund unterbinden DGS bestimmte Konstruktionen, die zu Zykeln fiihren wtirden. Beispiele:

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• Es ist nicht moglich, ein Dreieck aus drei Strecken fester Lange zu konstruie­reno

• Abhangige Punkte konnen nicht als Gleiter an einen Trager gebunden werden. • Beziehungen wie die Orthogonalitat konnen nicht nachtraglich vorgeschrieben

werden.

Die Zykelfreiheit des Abhangigkeitsgraphen ist keine rein technische Erfindung der DGS-Entwickler, sondem spiegelt die Idee der geometrischen Konstruktion wieder, die ein schrittweises Aufbauen auf Basisobjekten ist. Die abhangigen Objekte ergeben sich als Werte von (evtl. mehrdeutigen) Funktionen. Die geometrische Konstruktion ist eine funktionale Modellierung einer geometrischen Situation und der Abhangigkeitsgraph strukturiert diese Funktion durch Zergliederung in Teilfunktionen, die "einfache" Rech­nungen (Mittelpunktkoordinaten, Koordinaten von Schnittpunkten, etc.) ausfiihren.

Damit sind auch bereits entscheidende Schwachpunkte dieses Ansatzes angespro­chen: Die relationale Seite der Geometrie, wie sie in ihrer algebraischen Modellierung durch Gleichungen gut zum Ausdruck kommt, kann von einem konventionellen DGS nicht umgesetzt werden. Wenn bei einer Konstruktion beispielsweise nicht bedacht wur­de, dass zwei Geraden orthogonal sein soIlen, ist es nicht moglich, dies nachtraglich durch Hinzufiigen der Orthogonalitatsrelation zu erklaren.

Die nachtragliche Beriicksichtigung von Relationen ist ein Ziel, das durch einen al­gebraischen Ansatz erreicht werden kann.

1.2 Das postulierte Ziel

Ziel der hier skizzierten Entwicklung solI ein System sein, das DGS und CAS bidirekti~ onal verknlipft in dem Sinne, dass man in einem Geometriefenster (das insbesondere ei­nen Zugmodus bietet) und einem Algebrafenster (mit CAS-Funktionalitat) parallel arbei­ten kann. Dabei beeinflussen Aktionen in einem Fenster das jeweils andere Fenster, so dass beide als Reprasentation der gleichen mathematischen Situation gesehen werden konnen. Diese Bidirektionalitat solI gegeben sein auf der Ebene der Lage von Objekten resp. der Werte von Variablen und auf der Ebene der geometrischen Beziehungen bzw. algebraischenJ Gleichungen zwischen den Objekten resp.Variablen.

Die darin angesprochenen Entitaten sollen in beiden Reprasentationsforrnen beliebig erzeugt, gelOscht und verandert werden konnen.

Ein System, das dieser Beschreibung genligt, solI ADGS genannt werden (Algebrai­sches Dynamisches Geometrie-System). Diese Bezeichnung ist sperrig und wird viel­leicht irgendwann durch eine andere abgelOst. Die Reihenfolge der Begriffe solI deutlich machen, dass die Dynamik, die sich ja primar im Zugmodus manifestiert, eine geometri­sche Dynamik ist.

Die Bedeutung dieser Forderungen solI an einem einfachen Beispiel illustriert wer­den, das auch spater bei der Erorterung der mathematischen ModelIierung verwendet wird: Der Benutzer erzeuge mit einem ADGS zwei Punkte und konstruiere wie in einem

1 Hierbei wird algebraisch im weiten Sinne verstanden, umfasst also z.B. auch transzendente Glei­chungen.

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herkommlichen DGS dazu den Mittelpunkt. Dann bietet ein ADGS zwei verschiedene Arten, die Konfiguration zu andem: Im Zugmodus werden Punkte mit der Maus ver­schoben und dabei aktualisiert sich eine Wertetabelle, umgekehrt kann auch die Tabelle der Punktkoordinaten editiert werden und dabei aktualisiert sich das Grafikfenster. Dies ist die Bidirektionalitat auf Koordinatenebene. Noch weiter reichend ist die Forderung nach Bidirektionalitat auf der Ebene der Gleichungen, die die Relationen beschreiben. Die erste Richtung bedeutet, dass die Gleichungen der Konstruktion, in unserem Beispiel also XA + XB = 2xM,y A + YB = 2YM' in einem CAS zur Verfiigung stehen. Die umgekehrte

Richtung der Bidirektionalitat bedeutet, dass der Benutzer diese Gleichungen beliebig verandem, loschen oder urn neue Gleichungen erganzen darf. Durch die weitere Glei-

chung x A 2 + 2 Y A 2 = 1 wird A auf eine Ellipse festgelegt. Durch geeignetes Verandem

von xA +XB =2xM, und YA +YB =2YM kann erreichet werden, dass man nicht mehr

den Mittelpunkt, sondem z.B. den "Drittelpunkt" von A und B erzeugt. Alle Gleichungen und ggf. Ungleichungen, die hier eingegeben werden, werden beim Zugmodus beriick­sichtigt.

Schlussfolgerungen aus den Folgerungen:

• Fehlende Konstruktionsmoglichkeiten (z.B. Kreisspiegelung, Objekte be1iebig binden, Ortskurven als Objekte verwenden, Relationen zwischen Objekten nachtraglich festlegen) konnen immer ausgeglichen werden, wenn man die ent­sprechenden Gleichungen formulieren kann.

Die Flexibilitat ist geradezu ein Charakteristikum der Algebra: Durch Glei­chungen lasst sich eine Vielfalt von Beziehungen beschreiben, die leicht jeden fixen Katalog an Konstruktionswerkzeugen sprengt. Wenn ein ADGS beipiels­weise keine Kreisspiege1ung besitzt, erzeugt man zwei Punkte mit Koordinaten (x I y),(x'i y') und fordert die Gleichungen

• ADGS verfugen tiber diskrete Schalter, Gitterfang u.a., weil sich dies alge­braisch formulieren Hisst.

Ein Punkt, des sen Koordinaten durch die Gleichungen Y = 0, X· (x -1) = ° einge­

schrankt ist, lasst sich nur an zwei Positionen schieben, er zeigt also diskretes Verhalten.

• In ADGS konnen halbfreie Punkte nicht nur explizit als Gleiter auftreten, son­dem die Einschrankung der Bewegungsfreiheit kann beliebig tief verschachtelte Ursachen haben.

Ein Punkt (xty) , fur den die Gleichung ~(x -1)2 + y2 + ~(x + 1)2 + y2 = 4 ge­

fordert wird, lasst sich nur auf einer Ellipse bewegen, ohne dass diese als Ob­jekt vorhanden ware. In solchen Gleichungen konnen die Koordinaten von an­deren Objekten vorkommen und damit be1iebige Beziehungen beschreiben.

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• ADGS konnen, anders als herkommliche DGS, keinen Abhiingigkeitsbaum zu Grunde legen. Auf der algebraischen Seite lassen sich selbstversHindlich Bedin­gungen formulieren, die in einem Graphen zu Zykeln fiihren wiirden. Bei­spielsweise ist eine geschlossene Kette von Strecken fester Lange moglich.

• In ADGS kann man an Punkten ziehen, die in herkommlichen Systemen abhan­gig und damit nicht ziehbar sind.

In einem System ohne Abhangigkeitsgraph, also auf der Ebene von Variablen und Gleichungen, gibt es weder Basisobjekte noch abhiingige Objekte. Ob eini­ge Variablen nicht als Losungsvariablen, sondem als Parameter interpretiert werden, ist allenfalls eine sekundiire Unterscheidung. Das System muss ohnehin in der Lage sein, beliebige Gleichungssysteme lOsen zu konnen.

• In ADGS kann man an allen Objekten mit der Maus ziehen.

Wenn das im System z.B. nur Maus-Reaktionen fur Punkte vorgesehen sind, setzt man einfach Punkte auf das zu ziehende Objekt und zieht an diesen Punk­ten.

• ADGS konnen nicht immer stetig sein, da sich Gleichungen mit unstetigen Lo­sungen formulieren lassen.

• Ortskurven konnen in ADGS gut untersucht werden, weil die "Infrastruktur" eines CAS zur Verfugung steht.

Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Eigenschaften aus den obigen Forschungen folgen. Ein System, das eine der Eigenschaften nicht erfullt, kann dem Postulat nicht ge­ntigen. Es ist deshalb auch nahezu aussichtslos, ein herkommliches DGS zu einem vollen ADGS erweitem zu wollen.

1.3 Zur Rolle der Algebra bei Computemutzung

Die Geometrie als eine Theorie des Raumes ist eine intellektuelle Konstruktion, die als kognitives Netz eines Menschen oder im Computer reprasentiert werden kann. Urn letz­teres zu erreichen, gibt es im Wesentlichen zwei Zugange, den geometrisch­symbolischen Weg, in dem geometrische Objekte durch abstrakte Symbole dargestellt werden (siehe Wang 1998, p. 296ft), und den wesentlich verbreiteteren koordinatenzent­rierten Ansatz, in dem Objekte tiber ihre Koordinaten beschrieben werden. Die aktuellen Werte ihrer Koordinatenvariablen erlauben sofort, die Konstruktion am Bildschirm dar­zustellen. Dieser Ansatz liegt daher allen verbreiteten CAD- und DGS-Programmen zugrunde und bietet sich auch fur ADGS an.

Ein entscheidender Unterschied zu diesen rein numerischen Systemen ist aber, dass in einem ADGS die Gleichungen, die Beziehungen zwischen den Variablen herstellen, nicht nur bei der Codierung des Programmes genutzt werden, sondem dem Nutzer zu­ganglich sind, er also mit ihnen operieren kann. Dadurch werden auch Variablen in einer Doppelrolle genutzt, einerseits symbolisch in der Formulierung und Analyse von Relati­onen und andererseits numerisch, da sie stets einen aktuellen numerischen Wert besitzen.

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Diese explizite Kombination verschiedener Aspekte des Variablenbegriffs ist auch in herkommlichen CAS nicht vorhanden (er kann dort allerdings simuliert werden).

Yom Standpunkt des Entwicklers aus gesehen sind sowohl herkommliche DGS als auch ADGS im Wesentlichen stark algebraischer Natur. Dies ist kein Zufall, schlieBlich sind reale Computermodelle (bis auf die Endlichkeit des Speichers) aquivalent zu Tu­ringmaschinen und diese wiederum zu dem algebraisch beschreibbaren Lambda-Kalkiil. Aus dieser theoretischen Sicht ist klar, dass aIle Mathematik, die in einem Computer rep­rasentiert werden solI, algebraisiert werden muss. Die Algebra ist deshalb aus Sicht der Informatik die primare mathematische Disziplin. Jeder, der mathematische Sachverhalte (nicht nur geometrische) am Computer modellieren will, braucht algebraische Kompe­tenzen. Auch bei der Nutzung von mathematischer Software, die ein der Algebra-femes Gebiet modelliert (zB. ein DGS die synthetische Geometrie), konnen Artefakte der alge­braischen Modellierung an der Oberflache sichtbar werden. Bei DGS ist das z.B. bei den "springenden Punkten" der Fall (Kortenkamp 1999). Ein Grundverstandnis der alge­braisch-rechnerischen Arbeitsweise eines DGS kann deshalb zum kompetenten Umgang mit diesem Werkzeug beitragen.

Zusammenfassend lasst sich sagen, dass die mathematische Nutzung von Computem der Algebra zusatzliches Gewicht verleiht. Die Frage, ob und welche curricularen Kon­sequenzen daraus gezogen werden sollten, wird durch die Existenz von ADGS ver­schiirft, ist aber urspriinglich davon unabhiingig und solI deshalb hier nicht weiter ver­folgt werden. Es sei aber der Hoffuung Ausdruck gegeben, dass ADGS geeignet sind, die hier angesprochenen algebraischen Kompetenzen zu sHirken.

1.4 Algebra in herkommlichen DGS

Modeme DGS bieten Funktionen an, die tiber die synthetische Geometrie hinaus gehen. Dies sind:

• Berechnete Punkte: Damit kann man in Verbindung mit der Ortslinienfunktion z.B dynamische Funktionsgraphen zeichnen lassen. Wenn man in der Lage ist, die notigen algebraischen Berechungen (von Hand oder mit einem CAS) durch zufiihren, kann man auch Punkte auf Ortslinien setzen oder die Schnittpunkte von Ortslinien mit anderen Objekten erzeugen - Dies ist bei herkommlichen DGS nicht moglich.

• Strecken fester Lange: Diese Umsetzung der euklidischen Abstandsgleichung ist eine interessante Fahigkeit, denn sie bietet gegenliber Konstruktionen mit Hilfskreisen erweiterte Operationsmoglichkeiten, weil an beiden Endpunkten gezogen werden darf. Der Versuch, ein Gelenkviereck damit zu modellieren, scheitert aber z.B. in Euklid, weil die Objekte zu eng verwandt waren (s.o.).

• Termfenster und Anzeige von Gleichungen: In Tennfenstem konnen numerische Tenne berechnet werden, ohne CAS im Hintergrund dUrfen dabei aber keine symbolischen Variablen verwendet werden. Ahnliches gilt fUr die Anzeige der Gleichungen, bei denen in der Regel nur die aktuellen numerischen Koeffizien ten der Gleichung angezeigt werden.

Ein ADGS sollte keine dieser Beschrankungen haben.

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1.5 Programmierbarkeit

Traditionell besitzen DGS mit dem Makrokonzept eine eingeschrankte, aber leicht er­lernbare Programmierbarkeit. Lediglich einige moderne DGS gehen damber hinaus. DrGeo (Fernandes 2004) kann Scheme-Programme ausfiihren und Cinderella 2.0 (Kor­tenkamp & Richter-Gebert 2005) wird tiber eine machtige Skriptsprache verfiigen.

Ich bin nicht der Auffassung, dass die Programmerstellung fUr ein DGS zum regula­ren Inhalt des Mathematikunterrichts werden sollte, aber aIle Erfahrung (von Emacs bis Office) lehrt, dass dort, wo Programmiermoglichkeiten geboten werden, sich mehrhilf­reiche Anwendungen finden als urspriinglich erwartet. Der ambitionierte Lehrer oder der Autor von Handreichungen und elektronischen Arbeitsblattern sollte die Moglichkeit haben, mit dem Werkzeug eine maBgeschneiderte Lernumgebung zsammenzustellen.

Beispiele fUr sinnvolle Anwendungen kleiner Steuerprogramme sind etwa Animatio­nen oder die dynamische AusfUhrung von Algorithmen, die Daten der Konstruktion verwenden. So kann man zu einer Menge von Punkten eine Losung des Traveling­Salesman-Problems oder einen minimalen aufspannenden Baum anzeigen lassen. Dies zeigt, dass auch der Informatikunterricht ein programmierbares DGS gut einsetzten kann. Zum Schluss ein Beispiel aus dem Mathematikunterricht: Die Gewinnung einer Zentralprojektion aus Grund- und Aufriss erfordert in traditionellen DGS trotzt Makros erheblichen Aufwand. In einem programmierbaren System kann dies durch Iteration ti­ber die Punktpaare leicht realisiert werden.

2 Die konzeptuelle Struktur eines ADGS

In diesem Kapitel werden die verschiedenen Konzepte eines ADGS zusammengetragen und verbunden.

Ais Standardbeispiel zur Illustration dient die einfache Konstruktion aus drei Punkten A, B, M mit der Relation, dass M Mittelpunkt von A und B ist, oder algebraisch gefasst: x A + X B = 2xM , Y A + Y B = 2y M· Dieses Beispiel lei stet wegen seiner Einfachheit gute

Dienste bei der Illustration eines ADGS.

2.1 Objektldassen

In einem ADGS muss jedes Objekt algebraisch charakterisiert werden. In diesem Ab­schnitt geben wir eine (fUr praktische Systeme unvollstandige) Liste der geometrischen Objektklassen und eriautern, wie sie reprasentiert werden k6nnen.

Punkt: Wie Punkte reprasentiert werden sollten, hangt von der zu realisierenden Geomet­rie abo Wir beschranken uns hier auf den Fall der Euklidischen Geometrie, so dass ein Punkt P durch seine reellwertigen Koordinatenvariablen co(P)=xp,yP beschrieben wird. Der Grund fUr diese Wahlliegt vor aHem darin, dass diese Form auch diejenige ist, die die SchUler kennen und verwenden. Ftir die Eingabe algebraischer Koordinaten durch SchUler kommen nur solche Koordinaten in Frage, bei der internen Verwendung einer anderen Darstellung mtisste also standig konvertiert werden. Damit wahrt man auch die M6glichkeit, den SchUlern transparent zu machen, wie das System arbeitet.

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Gerade: Geraden besitzen zwei Freiheitsgrade, eine gute Darstellung ware daher z.B. mit den Koordinaten c und <p in cos (<p) x + sin(<p) y = c. Nachteilig daran ist vor aHem, dass dies ein Verstandnis der trigonometrischen Funktionen voraussetzt und dass algebraische Rechnungen wie z.B. die Elimination von Variablen erschwert werden. Deshalb er­scheint es sinnvoll, die algebraische Beschreibung durch die homogenen Koordinaten a,b,c in ax + by = c vorzunehmen. Kreis: Radius und Mittelpunktkoordinaten sind hier die ublicherweise vorgegebenen Va­riablen. Polygon: Eine Liste von Punkten oder x-y-Koordinatenpaaren erscheinen als namrliche Wahl. Funktionsgraph, Parameterkurve, Implizite Kurve: Ob diese Objekttypen unterschieden werden, ist allein eine Frage der Bequemlichkeit - fur den Implementator wie den Nut­zero Wichtig scheint mir hier, dass das System die Klasse der darstellbaren Gra­phenIKurven nicht kunstlich einschrankt (etwa auf implizite Plots quadrati scher Glei­chungen (Kegelschnitte», damit der Spiel- und Erkundungstrieb durch "schOne Gra­phen" belohnt werden kann.

Weitere Objektklassen sind denkbar (und konnen in FeliX yom kundigen Nutzer so­gar selbst hinzugefugt werden), aber nicht dringend notig. Man beachte, dass sich z.B. Kegelschnitte sehr gut als implizite Kurven behandeln lassen. Unter diesem Gesichts­punkt konnte man sogar auf Geraden und Kreise verzichten. Dies nicht zu tun, hat allein praktische Grunde: Beispielsweise konnen so diese Objekte wesentlich schneller ge­zeichnet werden.

2.2 Konstruktion

Eine Konstruktion besteht aus einer Menge 0 von Objekten, wobei jedes einzelne Ob­jekt eindeutig zu einer Objektklasse gehOrt. Die Menge der Variablen V der Konstrukti­on ist die Vereinigung aller Variablen der Objekten mit evtl. weiteren "unsichtbaren" Variablen.

Daruber hinaus muss eine Konstruktion die Beziehung der Objekte untereinander beinhalten. Auf geometrischer Ebene kann das durch Relationen wie ist _ Mittelpunkt_ von, liegt_auj, ist_senkrechtJu U.S.W. beschrieben werden. Da dem Benutzer die Frei­heit eingeraumt werden solI, beliebige algebraische Relationen zu spezifizieren, muss der Zugmodus aber letztlich allein auf Basis der algebraischen Realisierung dieser Rela­tionen umgesetzt werden. Die zentrale Kodierung der Relationen erfolgt deshalb durch Gleichungen E und durch Ungleichungen 1.

Bei der Konstruktion sollte im Hinblick auf den Zugmodus auch gespeichert werden, welche Objekte wie bewegt werden konnen. Bei einer konventionellen DGS ergibt sich das aus dem Abhangigkeitsgraph. Nur die Basisobjekte und Gleiter konnen mit der Maus bewegt werden, die ersten uneingeschrankt, die zweiten nur eingeschrankt.

Eine solche Unterscheidung ist in einem algebraischen Setup nicht mehr statisch, weil eine Gleichung nicht vorschreibt, wie sie aufgelost werden solI. Es ist aber trotzdem sinnvolI, die Freiheit beim Losen des Gleichungssystems steuerbar zu machen. Wir tei­len deshalb die Objekte in Fixobjekte Fund bewegliche Objekte O-F ein. Prinzipiell konnen aIle Objekte mit der Maus bewegt werden, Fixobjekte haben aber ein hohes Be-

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harrungsvennogen, wie es in folgender Zugregel fest gelegt wird: Ein Fixobjekt wird nur bewegt, wenn es selbst gezogen wird, aber nicht als Foige der Bewegung eines anderen Objektes.

Welche Objekte fix sind, kann jederzeit geandert werden. 1m Standard-Beispiel er­gibt sich folgendes Zugverhalten: Wenn aIle drei fix sind, ist die Konstruktion starr, ihre Konfiguration kann nicht geandert werden. Wenn A und B fix sind, kann wie in einem herkommlichen DGS an ihnen gezogen werden und M aktualisiert sich entsprechend. M ist aber nicht ziehbar. 1st M alleine als fix gewahlt, kann an allen drei Punkten gezogen werden, wobei ein Zug an A (resp. B) den Punkt B (resp. A) eindeutig aktualisiert. Zug an Mist unterbestimmt, das System hat die Freiheit der Wahl einer Losung (den zwei Gleichungen stehen vier veranderbare Koordinaten von A und B gegeniiber). Wenn kein Punkt als fix gewahlt ist, kann an allen Punkten gezogen werden, das Resultat ist aber unterdetenniniert.

2.3 Konstruktionsoperationen

Hier wird erlautert, wie eine Konstruktion modifiziert werden kann, urn eine neue Kon­struktion zu erhalten. Die Operationen, die dies leisten, sollen sowohl tiber die graphi­sche Benutzeroberflache als auch tiber Befehle der CAS-Programmiersprache gegeben werden konnen. Eine Typisierung:

Rein additive Operationen: Dies sind Operationen, die ein neues Objekt erzeugen, ohne eine Beziehung zu den Objekten und Relationen der bisherigen Konstruktion herzustel­len. Die Objektmenge 0 wird also urn ein Element vergrofiert, die Gleichungsmenge E bleibt unverandert. Rein relationale Operationen: Diese lassen die Objektmenge unverandert, fuhren aber neue Relationen in E ein. Diese konnen Variablen eines einzigen Objekts oder auch mehrerer Objekte umfassen. Die Spezifikation der Operation kann symbolisch­geometrisch (z.B. Punkt liegt auf Objekt, zwei Geraden sind orthogonal, etc .... , typi­scherweise durch Verwendung eines Buttons fur die entsprechende Relation) oder alge­braisch (durch Eingabe der Gleichung) sein, und beide Spezifikationsmoglichkeiten mtissen aquivalent sein. Additiv-relationale Operationen: Sie kombinieren beide zuvor behandelten Typen. Es wird also ein neues Objekt erzeugt und seine Relationen mit den bisherigen Objekten wird festgelegt. 1m FaIle symbolisch-geometrischer Operationen entspricht das den Kon­struktionsbefehlen fur abhangige Elemente in konventionellen DGS. Insbesondere ent­halt diese Klasse von Operationen auch diejenigen, die Ortskurven erzeugen. Loschen: Von Relationen oder auch von Objekten (und dann von allen Relationen, die dieses Objekt betreffen). Konvertierung: Der Datentyp eines Objektes wird geandert. Beispielsweise kann die Wandlung einer parametrischen Kurve in eine implizite oder von einem Kreis in eine pa­rametrische Kurve erfolgen.

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2.4 Konfiguration

Die Konfiguration einer Konstruktion gibt, geometriseh gesehen an, wo die Objekte lie­gen und algebraiseh, welche Werte ihre Koordinaten haben.

Bine Konfiguration lasst sieh z.B. dureh eine Abbildung i: V --+ R in die reellen Zahlen definieren, die jeder Variablen ihren aktuellen Wert zuordnet. Diese Abbildung lasst sieh dureh Substitution aufbeliebige Terme fortsetzen.

Variationsmoglichkeiten ergeben sieh, wenn man die Wertemenge vergroBert, be i­spielsweise dureh Hinzunahme eines Elementes :fur "nieht definiert" oder dureh Ver­wendung komplexer Zahlen. Das kann sinnvoll sein, urn flexibler auf Ausnahmefalle re­agieren zu konnen, etwa wenn ein Sehnittpunkt zweier Objekte erzeugt wird, die sieh gar nieht sehneiden. Auf diese Variationsmogliehkeiten wird spater noeh genauer eingegan­gen.

2.5 Operationen

2.5.1 Ziehen

Wenn der Benutzer versueht, ein Objekt zu verziehen, bedeutet das, dass er die Werte der Variablen andem will. Es ist nieht von vomeherein klar, ob dasmoglieh ist, ohne die geltenden Relationen zu verletzen. Dies ist schon von den Gleitem in konventionellen DGS her bekannt. Urn die gewiinsehten Werte :fur die Zugvariablen (die Variablen des Zugobjekts) zu erreichen oder ihnen zumindest nahe zu kommen, durfen auch alle ande­ren Variablen bis auf die Fixvariablen (Variablen der Fixobjekte) verandert werden - a­ber nur so, dass die Relationen weiterhin gelten.

Unter diesen Bedingungen gilt einer der drei folgende Falle :fur das Zugobjekt: a) Das Objekt kann tatsaehlieh an den gewiinsehten Ort gesehoben werden. b) Das Objekt ist nur eingesehrankt beweglieh und das System muss naeh MaBga­

be der Beweglichkeit eine Konfiguration auswahlen, die clem Zugziel moglichst gut entsprieht.

c) Das Objekt ist vollig unbeweglieh, die Zuganforderung seheitert. 1m einfaehs­ten Fall tritt das ein, wenn E Gleiehungen enthalt, die die Koordinaten explizit festlegen.

Zur Illustration wird wieder das Standardbeispiel herangezogen, wobei jetzt zusatz­lieh die Gleiehung x A = 0 gelten solI. Die Ausgangskoordinaten seien A = (010), M =

(111), B = (212). B sei fix. Dann sind Zugbeispiele flir die drei Falle: a) Zug von B naeh (412) kann erflillt werden. Die Koordinaten von A, M sind un­

terdeterminiert, eine mogliehe Losung ist A = (010), M == (211). b) Zug von M naeh (1,212) ist nieht erfiillbar. Optimale Anniiherung: A = (012),

M(112). c) Den unbewegliehen Fall gibt es in diesem Beispiel nieht.

Naeh der dureh die Wahl der Fixobjekte getroffenen Entseheidung, welche Variablen geandert werden, kann es immer noch sein, dass die Relationen die neuen Werte nieht eindeutig festlegen, sondem entweder

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a) eine endliche Zahl von Losungen besitzen. Ein Spezialfall hiervon ist z.B. die Auswahl von Schnittpunkten bei Kreisen und Kegelschnitten (Kortenkamp 1999).

b) eine unendliche Zahl von Losungen besitzen.

In diesen Fallen muss das ADGS eine Konfiguration auswahlen, die den vennuteten Erwartungen des Nutzers am nachsten kommt. Eine Strategie dazu ist es, die Konfigura­tion moglichst nahe an den alten Werten zu lassen.

2.5.2 Gewalt-Ziehen

Gleichungen sind wie Gesetze. Es kann den Wunsch geben, sie zu ubertreten (Beispiel s.u. im Zusammenhang mit der Existenzquantifikation). Fur den Zugmodus bedeutet dies, dass man die Ursachen, die einen gewohnlichen Zugversuch scheitem lassen, schlicht ignoriert. Dies kann geschehen, indem man akzeptiert, dass einige Gleichungen aus E nicht erfiillt sind und/oder, dass auch Fixobjekte verschoben werden. Diese Frei­heiten mussen durch das System oder den Benutzer festgelegt werden.

2.5.3 Setzen

Fur das explizite Setzen von Objektkoordinaten eines Objektes mit einem Kommando der Algebra-Konsole gilt sinngemaB das gleiche wie rur den Zugmodus. Allerdings kann man dabei nicht mehr davon ausgehen, dass die neue Konfiguration in der Nahe (in der metrischen Topologie des Konfigurationsraums) der alten liegt, so dass hier z.B. die Be­deutung eines stetigen Verhaltens eine ganzlich andere ist als im Zugmodus. Wenn die Koordinaten von nicht fixen Objekten gesetzt werden, kann die Konfiguration inkonsis­tent werden (s.u).

2.5.4 Gleichungen hinzufiigen

Das interaktive Hinzurugen von Gleichungen hat in herkommlichen DGS keine Entspre­chung. Einzig die Operation "Binden an Objekt" ist ein einfacher Spezialfall. Er ent­spricht dem Hinzurugen der Gleichung zu E, die besagt, dass ein Punkt P auf dem Ob­jekt liegt. Dem konventionellen DGS-Kommando "Punkt P an Kreis K binden" ent-

spricht also die Hinzunahme der Gleichung (xp - XK)2 + (yp - YK)2 = rK 2

• Die Freiheit,

beliebige Gleichungen hinzuzurugen zu konnen, erweitert das Problem erheblich: Eine konsistente Konfiguration kann nach dem Hinzurugen einer Gleichung inkonsistent sein.

2.5.5 Relaxation

Wir haben nunmehr zwei Falle kennen gelemt, wie inkonsistente Konfigurationen ent­stehen konnen. Dies macht ein Werkzeug (Relaxation) notwendig, das versucht, eine in­konsistente Konfiguration konsistent zu machen. Natiirlich brauchen die Gleichungen E keine Losung zu besitzen, so dass dieser Versuch nicht injedem Fall gelingen kann.

1m Gegensatz zum Zugmodus gibt es bei der Relaxation kein Zugziel. Bedingung ist lediglich, dass Fixvariablen nicht verandert werden diirfen. Die restlichen Variablen soll­ten narurlich so wenig wie moglich verandert werden, damit der Nutzer die neue Konfi­guration als sinnvolle Modifikation seiner alten Konfiguration erkennt.

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3 Realisierung als Optimierungsprohlem

Die bisherige Besehreibung zeigt die Komplexitat von ADGS. Die Realisierung ware si­cher aussichtslos, wenn man nieht die LeistungsHihigkeit des algebraisehen Kalkiils aus­nutzen konnte. Die ermoglieht verhiiltnismaBig einfaehe Losungen. In dies em Absehnitt wird die Theorie der niehtlinearen Optimierung verwendet. Nach Kenntnisstand des Au­tors wurde bisher noeh in keiner Arbeit und in keiner Software eine derartige Modellie­rung von Geometrie vorgenommen.

3.1 Die Optimierungsformulierung

Die Idee, Optimierungsalgorithmen einzusetzen, stammt ursprunglieh aus der Beobach­tung, dass nicht jeder Zug mit der Maus erfolgreieh sein kann. Ein typisehes, schon in traditionellen DGS vorhandenes Beispiel sind die oben erwahnten Gleiter (halbfreie Punkte, gebundene Punkte). Eine naheliegende Forderung ist, dass ein solcher Punkt dem mit der Maus angegebenen Zugziel so nahe wie moglieh kommt, ohne natiirlieh seine einsehrankende Bindung zu verletzen.

Um ein Gleiehungssystem E = {gl = O, ... ,gm = O} im Optimierungssinne nahe-m

rungsweise optimal zu 16sen, wird die Zielfunktion f = Ig/ gebildet und diese mi-i=1

nimiert. Wenn das Minimum ° angenommen wird, hat man tatsachlich eine Losung des Systems gefunden, ansonsten erhiilt man zumindest eine gute Kompromiss16sung.

Bei allen Zug- und Relaxationsprozessen sollen, wie oben beschrieben, die Werte der Fixvariablen (mit evtl. Ausnahme des Zugpunktes) nieht geandert werden. Die Einset­zung ihrer aktuellen Werte in beliebige Funktionen liefert Funktionen, die nur noch von nieht-fixen Variablen (und den Variablen des Zugpunktes) abhangen, sie sollen durch ein Dach gekennzeichnet werden, Z.B. gi' Relaxation: ZUerst werden, wie eben beschrieben, die Werte der Fixvariablen in

m

f = Ig/ eingesetzt, dann wird mit einem lokalen Optimierungsalgorithmus die resul-;=1

tierede Funktion f minimiert. Dabei dienen die bisherigen Variablenbelegungen als

Startwert. Der Minimierungsalgorithmus ermittelt neue Werte fur die Variablen, also die relaxierte Konfiguration.

Nehmen wir wieder die erweiterte Version des Standardbeispiels, bei dem zusatzlieh

X A = 0 gefordert ist. Durch Aktion des Benutzers seien die Variablen auf die Werte A =

(-110), B = (212), M = (010) gesetzt worden. Durch Einsetzen der Werte der Variablen des Fixobjektes B entsteht das Gleichungssystem xA +2=2xM' YA +2=2YM' xA =0. Die

numerische Optimierung muss also das Minimum suchen von: (XA +2-2xM)2+(YA +2-2YM)2+xA2 .

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Zugmodus bzw. Setzen: Diese Operationen versuchen, Variablen X,Y E V auf neue Wer­

te xo,Yo zu setzen. Ziel ist nun, (x,y) moglichst nahe an (xo,Yo) heranzubringen,ohne

die Gleichungen zu verletzen. Dies ist ein restringiertes Minimierungsproblem:

XEF

Fur dieses restringierte Minimierungsproblem kann entweder ein spezialisierter loka­ler Algorithmus verwendet werden, oder es kommt ein gewohnlicher Optimierungsalgo­rithmus mit der Penalty-Term-Methode (siehe z.B. Nocedal 1999) zum Einsatz. Diese

besteht in diesem Fall darin, die Funktion (x-xo)2 +(Y- YO)2 +a' j zu minimieren,

wobei a eine willkUrliche groBe Zahl ist. Dabei muss a so groB gewahlt werden, dass das Minimum nur in tolerabler GroBe von der Losungsmenge F von E abweicht. Es reicht dabei vollig aus, wenn die Genauigkeit so groB ist, dass sie nicht mehr als 1 Pixel in der Darstellung ausmacht.

1m erweiterten Standardbeispiel versuche der Benutzer A auf (0,510,5) zu ziehen. Dann ist das Minimum von (xA -0,5)2+(YA -0,5)2 unter der Nebenbedingung

xA + 2 == 2xM , Y A + 2 == 2y M' X A == ° gesucht. Die Losung ist A == (0 I 0,5), B == (111,5) .

Gewalt-Zugmodus: Man setzt (x, y) auf (xo, Yo) und fiihrt diese Werte auch in die

Gleichungen ein. Dann substituiert man die Fixvariablen und minimiert f.

Ungleichungen: Ein besonders attraktiver Aspekt des Optimierungsansatzes ist es, dass bei Verwendung eines geeigneten Optimierungsalgorithmus auch Ungleichungen formu­liert werden k6nnen, d.h. die zuHissige Menge F kann zusatzlich durch Ungleichungen

eingeschrankt werden: F == {x I 81 (x) == 0, ... , gm(x) == 0,h1 (x) ~ 0, ... , hk(x) ~ O}

Neben der expliziten Anwendung k6nnen solche Ungleichungen z.B. nutzlich sein, urn einen von mehren Schnittpunkten nichtlinearer Objekte auszuwahlen.

3.2 IConsequenzen

Die bisherige Beschreibung lasst noch etliche Details der Implementierung offen. Den­noch konnen schon auf diesem Niveau der Prazisierung wichtige Schlussfolgerungen ge­zogen werden.

Quasistetigkeit: Durch die Verwendung eines lakalen Minimierungsalgorithmus ergibt sich in der Regel ein stetiges Zugverhalten. Das bedeutet, dass sich beim kontinuierli­chen Zug an einem Objekt die Koordinaten der anderen, abhangig bewegten Objekte nieht sprunghaft andem. Bei schnellen Mausbewegungen kann man aber in ein anderes Minimum abgleiten. Je nach Natur der Gleichungen in E konnen aber Sprunge sogar er­zwungen sein. Wenn man etwa fur einen Punkt (x,y) die Gleichungen x(x-l) == ° und y == ° festlegt, kann er nur zwischen (010) und (110) hin und her springen.

Die Analyse der Stetigkeitsproblematik durch Kortenkamp (1999) hat gezeigt, dass Stetigkeits-Probleme beim "Wiederauftauchen" von Punkten entstehen konnen, die zeit­weise nicht existierten (Beispiel: Der Schnittpunkt zweier Kreise verschwindet, wenn

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der Abstand der Mittelpunkte bei festem Radius grofier gezogen wird und taucht bei ei­ner Verkleinerung wieder auf.) In einem ADGS gibt es die entsprechenden Probleme nicht - aus einem uberraschenden Grund:

Existenzquantifizierung: Es sind nur solche Zuge moglich, die die Existenz von im je­wei ligen Zug abhangigen Elementen erhalten.

In der obigen Abbildung ist das am Schnitt eines Kreises mit einer Geraden illust­riert. Der graue Punkt A kann von Position Al aus nach rechts langs der gestrichelten Li­nie nur bis zur Position A2 bewegt werden, weil sonst der Schnittpunkt mit dem Kreis nicht mehr existieren wiirde. Wird der Mauszeiger trotzdem weiter nach rechts bewegt, bleibt A hangen.

Es versteht sich, dass allein die Auswirkung dieses Verhaltens auf den Lemprozess nicht einfach vorherzusehen ist und kritischer didaktischer Reflexion bedarf. Sollte sich dabei herausstellen, dass die Auswirkungen uberwiegend negativ sind, mussen die Ko­ordinaten komplexifiziert werden (s.u.).

1m Gewalt-Zugmodus kann A beliebig weit bewegt werden. Der Schnittpunkt ver­schwindet dann nicht, sondem bleibt erhalten. Er nimmt eine mittlere Position zwischen Kreis und Gerade ein, urn die Quadrat-Fehlersumme zu minimieren.

3.3 Komplexe Koordinaten

Konfigurationen von Fixobjekten, in denen das Gleichungssystem unlosbar wird, steBen ein generelles Problem dar. Der Gewalt-Zugmodus lOst ein Teil dieser Probleme - aller­dings mit Konsequenzen, deren didaktische Nutzlichkeit noch zu bewerten ist.

In Cinderella wird zur Vermeidung von Unlsbarkeiten die gesamte Arithmetik komplex durchgeflihrt. Dies ist hier prinzipiell genau so moglich (wenn auch die beiden realen Implementierungen von FeliX das noch nicht tun). Dabei werden flir die Variab-

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len x aus V komplexe Werte zugelassen, indem sie durch zwei reelle Variablen a, b mit x = a + ib ersetzt werden. Die Fehlerquadratsumme ist dann anzusetzen als:

m

f= Lgi·gi i=1

Dies ist dann eine reellwertige Funktion in reellen Variablen, die wie gehabt mini­miert werden kann.

1m Rahmen dieser Modellierung gibt es die oben diskutierte Existenzquantifikation nicht: 1m Fall des obigen Beispiels konnte Punkt A beliebig weit geschoben werden, wo­bei allerdings ab einem bestimmten Punkt die Koordinaten des Schnittpunktes imaginar werden, er wfude dann sinnvollerweise nicht mehr gezeichnet.

4 Kurven

Kurven sind bisher nur in der Klassifikation der Objekttypen als Funktionsgraphen, pa­rametrisierte und implizite Kurven aufgetaucht. Sie sollten in einem ADGS den einfa­cheren Objektklassen wie Punkten oder Kreisen in ihren Operationsmoglichkeiten gleichgestellt sein, d.h. sie sollten ebenso algebraisch wie geometrisch erzeugt werden konnen:

Kurven werden algebraisch spezifiziert, indem ihre Glyichung (Funktionsterm, Pa­rameterfunktionen, implizite Gleichung) angegeben wird.

• Kurven werden geometrisch spezifiziert, in dem man eine geometrische Kon­struktion erstellt, in der sich die Kurve ergibt als

o Spur eines Punktes bei der Variation eines anderen Punktes langs ei­nes Tragerobjektes (Ortskurven, traditionell in DGS),

o moglicher Orbit eines Punktes, der in seiner Bewegungsfreiheit einge­schrankt ist (Relationenkurve, s. (Oldenburg 2004d).

Nach ihrer Erzeugung sollen Kurven wie andere Objekte manipuliert werden konnen, insbesondere sollen sie zum Ausgangspunkt weiterer Konstruktionen gemacht werden konnen. Dazu gehOrt

• Punkte an Kurven binden; • Schnitte von Kurven mit anderen Objekten; • Tangential- und Normalenvektoren; • Berechnung von Bogenlangen etc.

Diese Operationen sind verhaltnismaBig einfach zu implementieren. Der Schnitt zweier Kurven beispielsweise verlangt nichts anderes, als einen Punkt zu erzeugen und fur jede Kurve die passende Gleichung zu E hinzuzufiigen.

1m folgenden beschranken wir uns auf Relationenkurven, da diese ein neues Konzept darstellen.

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Schon in herkommlichen DGS kann man beobachten, dass Punkte beim Ziehen auf drei verschiedene Arten reagieren: Entweder, sie lassen sich beliebig verschieben, oder sie sind unbeweglich, oder sie lassen sich eingeschrankt nur auf einer bestimmten Bahn verschieben. In einem konventionellen DGS kommt dieser dritte Fall nur vor, wenn der Punkt an ein Tragerobjekt (meist nur Gerade oder Kreis, evtl. Kegelschnitt oder Funkti­onsgraph) gebunden ist. In diesem FaIle ist das Tragerobjekt schon da. Relationenkurven entstammen der umgekehrten Situation: Ein Punkt ist aufgrund von Gleichungen nur eingeschrankt beweglich und man fragt nach der Kurve, langs der er sich bewegen kann. Auch diese Frage hat namrlich zwei Gesichter: Geometrisch fragt man nach der Gestalt der Kurve, algebraisch nach ihrer Gleichung.

Lassen Sie uns das Beispiel betrachten, dass zwei fixe Punkte mit Koordinaten (XA,YA) und (XB,YB) erzeugt worden seien, und wir einen weiteren Punkt (x,y) dadurch ein­schranken, dass wir verlangen, dass sein Abstand von A ebenso groB ist, wie sein Ab-

stand von B: (X-XA)2 +(Y- YA)2 = (x-xB)2 +(Y- YB)2. In diesem Fall geniigt ele­

mentare Termurnformung, urn zu sehen, dass (x,y) folgender Geradengleichung geniigt: 222 2

2x( x B - X A) + 2 y(y B - Y A) = X B + Y B - X A - Y A .

Komplizierter wird es, wenn mehrere Gleichungen zusammen spielen. Dann miissen aus dem Gleichungssystem Variablen eliminiert werden, bis man eine Gleichung erhalt, die auBer den Variablen des Kurven-Punktes nur noch Koordinaten von Fixobjekten ent­halt. Dabei sind einige Uberlegungen zu treffen, urn lange Rechenzeiten und unnotig komplexe Ergebnisse zu vermeiden. Die genaue Vorgehensweise solI an anderer Stelle dokumentiert werden. Das in FeliX realisierte Verfahren liefert fur die iiblichen klassi­schen algebraischen Kurven aus Standardkonstruktionen die Gleichungen typischerweise in unter zwei Sekunden.

Die Berechnung von traditionellen Ortskurven stellt einen Spezialfall der Berechung einer Relationenkurve dar, falls der unabhangige (Steuer-)Punkt der Ortskurven­konstruktion als Nicht-Fixobjekt vereinbart ist (oder zumindest fUr die Berechnung tem­porar so behandelt wird). Allerdings ermoglichen traditionelle Ortslinienkonstruktionen auch einfachere, effizientere Zugange, auf die hier aber nicht eingegangen werden solI.

5 Beispiele fUr die Anwendung von ADGS

Die durch ADGS eroffneten Moglichkeiten sollen jetzt an einigen konkreten Beispielen illustriert werden. Weitere Beispiele finden sich in Oldenburg (2004a, 2004b, 2005).

NaturgemaB wechselt der Nutzer standig zwischen der geometrischen (DGS­Umgebung) und der algebraischen Reprasentationsform (zB. MuPAD-Worksheet). Urn diesen Wechsel besonders fliissig und angenehm zu machen, eroffnet die MuP AD­Version von FeliX auch im Geometriefenster den Zugriff auf aIle relevanten algebrai­schen Daten, so dass dieses Fenster nur fUr komplexere algebraische Auswertungen oder die Entwicklung von Programmen verlassen werden muss. Dazu werden die Objekte mitsamt ihren Koordinaten und die Gleichungen in zwei editierbaren Tabellen angege­ben. Bisher liegen Erfahrungen mit einer groBen Gruppe von Lehramtsstudenten vor, die diese Umgebung als intuitiv gut nutzbar eingestuft haben.

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5.1 Dynamische Skalendarstellung von Funktionen - Dynagraph

Goldenberg hat 1991 mit dem Programm Dynagraph eine alternative graphische Reprasentationsform von Funktionen in die didaktische Diskussion eingefiihrt, bei der der Kovariationsaspekt stark zum Tragen kommt: Mit der Maus wird das Funktionsar­gument auf einem Zahlenstrahl eingestellt und der Funktionswert erscheint auf einem anderen, parallelen Zahlenstrahl. In letzter Zeit wurde diese Idee durch DGS wieder be­lebt (Malle 2000). In einem ADGS lassen sich solche Anwendungen sehr schnell kon­struieren: Es werden zwei Punkte PX und PY erzeugt und die folgende Gleichungen (in FeliX-Syntax) in die Gleichungsliste eingetragen

y[PXj=O y[Pyj=2 x[PXj"2=x[PYj

Die beiden Punkten lassen sich nur auf der x-Achse, resp. auf der y=2-Parallelen dazu verschieben, und es gilt stets eine quadratische Relation zwischen den Abszissen. Weil man in einem ADGS an allen Punkten ziehen kann, kommt neben der Funktion

x H x 2 sofort auch die Urnkehrfunktion dazu ins Spiel: Man kann am Punkt PY zie­

hen und sehen, welche x-Werte dazu passen. Dabei entdeckt man z.B., dass sich PY dem Versuch widersetzt, ihn zu negativen Werten hin zu ziehen.

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5.2 LotfuBpunkt-Kurven

Ausgangspunkt ist die folgende Situation: Auf eine Strecke fester Lange, deren End­punkte auf den Koordinatenachsen liegen, wird das Lot durch den Ursprung des Koordi­natensystems geflillt. Wie bewegt sich der LotfuBpunkt, wenn man die Strecke bewegt? Die Behandlung dieser Frage sieht man in dem obigen Screenshot. Ein Teil der Glei­chungen wurde dabei durch graphische Tools erzeugt (Orthogonalitat von Strecke und Gerade, Endpunkt der Strecke, Schnittpunkt), andere hat der Benutzer explizit eingege­ben:

(x[Plj-x[P2j)A2+(y[Plj-y[P2j)A2=64

x[Plj=O

y[P2j=O

x[Plj=O

Abstand von PI zu P2 ist fest=8. Plliegt aufy-Achse P2 liegt aufx-Achse Plliegt aufy-Achse

In der resultierenden Konstruktion kann sowohl an PI, P2, als auch am LotfuBpunkt mit der Maus gezogen werden, wobei letzterer sich nur auf einer (interessanten) Roset­tenbahn bewegen lasst. We1che Kurve das ist, kann man entweder mit MuP AD­Untersmtzung im Algebra-Fenster halb handisch ausrechnen, oder man verlasst sich auf die Automatik von FeliX, die die Gleichung x6 + 3X4y2 + l + x2y2 (3y2 - 64) = 0 lie­

fect. Diese Gleichung wird symbolisch bestimmt, so dass z.B. auch symbolische Parame­ter auftauchen kannen, falls die Kurve von weiteren Objekten abhangt.

5.3 Modellierung einer Linsenoberflache

Mit ADGS kannen optische Gerate gut modelliert werden. Das folgende Bild zeigt bei­spie1sweise den Strahldurchgang durch eine Linse, deren Oberflache sich aus zwei Krei­sen zusammensetzt. An den Grenzflachen Glas-Luft tritt Brechung auf. Diese wird durch das Snelliussche Brechungsgesetz gegeben sin(aJ ) = n· sin(a2) (dabei ist n der Bre­

chungsindex und die Einfalls- und Ausfallswinkel werden gegen das Lot gemessen). Da ein ADGS aufbeliebigen Kurven Normalen errichten kann (was hier, im FaIle des Krei­ses, namrlich besonders einfach ist), kann das Brechungsgesetz in seiner mathematischen Form eingegeben werden. In FeliX-Syntax lautet dies (nl ist das Lot auf den Kreis mit Mittelpunkt MI):

sin(angle(ll,nl)) = n*sin(angle(12,nl))

Wieder ermaglicht das ADGS FeliX ein Ziehen an be1iebigen Punkten, so dass das physikalische Prinzip der Urnkehrbarkeit des Lichtweges auch in der geometrischen Modellierung gilt.

In einem ahnlichen Beispiel kann untersucht werden, wie eine sinusformig gewellte Oberflache sich auf einfallendes Licht auswirkt.

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6 Didaktische Ubedegungen

Ein ADGS ist mehr als die Summe seiner Teile CAS und DGS, es ermoglicht grundsatz­lich neue Arbeitsweisen. Deshalb ist auch die didaktische Bewertung mehr als eine Kombination von Uberlegungen der "CAS"- und der "DGS-Didaktik", obwohl die dort erzielten Erkenntnisse natiirlich auch fUr ein ADGS relevant sind.

Schon bei herkommlichen DGS gibt es viele Anwendungen, die weit jenseits dessen liegen, was die Autoren urspriinglich intendierten. Auch bei ADGS ist zu erwarten, dass es noch viele originelle Einsatzmoglichkeiten geben wird, die heute noch nicht erahnt werden. Dies ist der Vorteil eines echten Werkzeugsystems (vgl. auch Biehler 1991), das den Nutzer in die Lage setzen will, moglichst viele Dinge zu tun, ein System, das gerade darauf verzichtet, den Nutzer irgendwie einzuengen. Die Konsequenz ist allerdings, dass sich die Nutzer oft auf nicht vorhergesehen Wegen bewegen werden. Welche Auswir­kungen dies fUr Lemende hat, ist noch vollig offen.

Hier sollen einige Thesen zur didaktischen Relevanz von ADGS aufgestellt werden, die meine Erwartungen wiedergeben.

These 1: ADGS ist kein System zum Erlernen geometrischer Konstruktionen Die in der Folge von Cabri entstandenen Systeme sind yom Ansatz her zunachst der syn­thetischen Geometrie zuzurechnen gewesen, sie intendierten Konstruktionen, analog zu denen mit Zirkel und Lineal, zu ermoglichen (man vgl. dazu aber auch die kritische Dis­kussion in Holzi 1999). Diese klassische geometrische Konstruktion ist ein funktionales Konzept: Zu bestimmten Eingabeparametem wird eine Menge von Ausgabeobjekten konstruiert. Dies kontrastiert ZUlU stark relationalen Ansatz von ADGS. Man kann in ei­nem ADGS Konstruktionen vomeIunen, die mit Zirkel und Lineal unmoglich oder we­sentlich schwieriger sind. Beispielsweise findet man eine gemeinsame Tangente an zwei Kreise, indem man an jeden Kreis einen Tangentenvektor (in einem beliebigen Punkt) sowie eine beliebige Gerade zeichnet, und danach mittels des "glue to"-Buttons FuB­und Endpunkte der Tangentialvektoren auf diese Gerade legt. Offensichtlich wird da­durch die intellektuelle Herausforderung des Problems zerstOrt, die Problemlosung redu­ziert sich auf eine Formulierung der geforderten Eigenschaften. Natiirlich kann man auch mit ADGS die libliche Zirkel-und-Lineal-Konstruktion durchfiihren, aber das Werkzeug Offnet eben auch bequemere (Ab-)Wege.

Deshalb: Wenn das Unterrichtsziel im Erlemen des klassischen Konstruktionsbegriffs und der damit verbundenen Fahigkeiten liegt, sollte ein herkommliches DGS eingesetzt werden.

These 2: ADGS unterstUtzt verschiedene Grundvorstellungen von Variablen Variablen werden in einem ADGS verwendet als Referenzen auf die aktuellen numeri­schen Werte und als Symbole in Gleichungen und Terme. Diese beiden Formen sind liber die Einsetzungsfunktion miteinander verbunden. Der aktuelle Wert der Variablen im Objektbrowser spricht den Einzelzahlaspekt an, die Veranderung dieses Eintrags im Zugmodus den Simuitanaspekt und die Verwendung des symbolischen Variablennamens

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in Gleichungen und darauf aufbauenden Berechungen den Symbolaspekt (vgl. Malle 2000).

These 3: ADGS unterstiltzt verschiedene Grundvorstellungen von Gleichungen Gleichungen treten in ADGS in verschiedenen, aber eng verbundenen Formen auf:

• Gleichungen als Festlegungen, als "Gesetz" fur die Bewegung von Objekten; • Gleichungen als Beschreibungen von geometrischen brtem; • Gleichungen als Bestimmungsgleichungen.

These 4: ADGS ermoglicht ein Erleben der Bedeutung von uber- bzw. unterbe-stimmten Gleichungssystemen . Durch Ziehen mit der Maus kann die Dimension des Losungsgebildes erfahren werden. Dies ist insbesondere interessant, wenn die Dimension 1 ist. In Oldenburg (2003) wurde ausfiihrlich die Erforschung von Parabeln in diesem Sinne dargestellt: Ein Punkt solI der Gleichung geniigen, dass sein Abstand von einem festen (Brenn-)Punkt gleich seinem Abstand von einer (Leit-)Geraden ist. Die Maus macht die Bedeutung der Abstandsglei­chung unmittelbar erfahrbar, noch bevor der Graph gezeichnet wird.

Auch bei anderen Gleichungssystemen "Hisst einen die Maus erfahren", wie viel Freiheit das Gleichungssystem den Variablen noch lasst. Da Objekte willkiirlich als Fix­oder Nicht-Fixobjekte deklariert werden konnen, erOffnet sich hier ein weiteres Interak­tionsfeld mit der Konstruktion. Interessante Fragen sind z.B., wann eine bestimmte Kon­figuration starr wird.

These 5: ADGS unterstiltzt physikalisches Modellbilden Wir haben am Beispiel der Lichtbrechung gesehen, was diese These meint. Physikali­sche Gesetze stellen in der Regel Relationen zwischen GroBen dar. Die Ubersetzung in einen funktionalen Zusammenhang geht oft mit der Auszeichnung einer Ursache und ei­ner Wirkung einher. Dieser Zusammenhang ist in der Physik aber prinzipiell urnkehrbar, so dass die funktionale Sicht nur einen Aspekt wiedergibt. Ein ADGS dagegen erlaubt die Modellierung des physikalischen Gesetzes in seiner relationalen Allgemeinheit.

These 6: Horizontale Vemetzung: ADGS unterstiitzt realit:atsnahes Operieren mit mechanischen Geraten Dies ist eine Fortsetzung der letzen These, scheint mir aber von besonderer Wichtigkeit, so dass es hier hervorgehoben wird. Reale Gelenkmechanismen (aus Lego o.a.) konnen an allen Punkten bewegt werden. In herkommlichen DGS muss zur Modellierung ein Punkt als Basispunkt ausgezeichnet werden und nur der ist mit der Maus frei beweglich. Die Realitatsnahe von ADGS fordert eine horizontale Form der Vemetzung, bei der ge­meinsame intellektuelle Konstrukte auf reale Gelenke wie auf geometrische Konstrukti­onen angewendet werden konnen.

7 Fazit und Ausblick

Dieser Aufsatz hat die Vision eines ADGS prazisiert, indem die Grundlagenfragen so­weit beleuchtet wurden, dass die prinzipielle technische Realisierbarkeit klar wird. Mit dem Prototyp FeliX ist dieser Nachweis auch in der Praxis angetreten worden. Nach den

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bisherigen Erfahrungen mit Studenten solI FeliX im Schuljahr 2005/06 in der Sekundar­stufe I eingesetzt werden. Die Erfahrungen sollen in eine dann als "Freeware" erhiiltliche Version einflieBen.

ADGS sind Lemumgebungen, die einen reichhaltigen Mathematikbereich beinhalten k6nnen. Es werden mehr mathematische Konzepte dynamisch modelliert als bei her­k6nunlichen DGS oder CAS und damit stellen sich interessante didaktische Herausfor­derungen.

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Adresse des Autors

Dr. Reinhard Oldenburg Albrechtstr. 5 37085 Gattingen [email protected]

Manuskripteingang: 14. Januar 2004 Typoskripteingang: 29 .. September 2005


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