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Bernt Engelmann - Schwarzbuch Helmut Kohl

Date post: 02-Jan-2016
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Bernt Engelmann, 1921 in Berlin geboren, erlebte den ZweitenWeltkrieg zunächst als Soldat bei der Luftwaffe, dann alsAngehöriger einer Widerstandsgruppe, wurde zweimal vonder Gestapo verhaftet und erst bei Kriegsende, nach langer»Schutz«-Haft in Gefängnissen und Konzentrationslagern,aus dem KZ Dachau befreit.

Engelmann arbeitete schon während seines Studiums alsJournalist für Gewerkschaftszeitungen, dann als Reporter,Korrespondent und Redakteur beim Spiegel, später für dasNDR-Fernsehmagazin Panorama. Seit 1962 war er freierSchriftsteller. Viele seiner Bücher - unter anderem »Die Auf-steiger«, »Hotel Bilderberg«, »Die Laufmasche«, »Deutsch-land-Report«, »Schwarzbuch Helmut Kohl«, »Großes Bun-desverdienstkreuzcc, »Berlin«, »Du deutsch?«, »Die Beamten.Unser Staat im Staate«, »Wir Untertanen. Ein deutschesGeschichtsbuch« sowie, zusammen mit Günter Wallraff, » Ih rda oben, wir da unten« -wurden in alle wichtigen Sprachenübersetzt und sind sowohl in den USA wie in Rußland, inFrankreich, Großbritannien, Schweden, Finnland, Polen, Ita-lien, Ungarn und in Japan erschienen. Die Weltgesamtauflageseiner mehr als 40 Buchtitel hat die 15-Millionen-Grenzeüberschritten. In Deutschland erscheinen seine Bücher imSteidl Verlag.

Bernt Engelmann, engagierter Gewerkschafter, war von1977 bis 1984 Vorsitzender des Verbands deutscher Schrift-steller (VS) in der IG Druck und Papier, von 1972 bis 1984 Prä-sidiumsmitglied des PEN-Zentrums BRD, war langjährigesMitglied der IG Metall und gehörte der Tarif- und Verhand-lungskommission des VS an. 1984 wurde er mit dem Heinrich-Heine-Preis ausgezeichnet. Er starb 1994 in München.

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Bernt Engelmann

SchwarzbuchHelmut Kohl

oder: Wie man einen Staat ruiniert

Unter Mitarbeit von Eckart Spoo

Mit einem Vorwort von Klaus Staeck

Steidl

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Wir senden Ihnen gern unser kostenlosesGesamtverzeichnis zu:Steidl Verlag, Düstere Straße 4, D-37073 Göttingen

98 99 0 0 01 9 8 7 6 5 4 3 2 1

0 Copyright für diese Ausgabe:SteidlVerlag, Göttingen 1998Alle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Klaus DetjenUnterverwendung einer Collage von Gollnek/Röhrig (Stern)Satz, Druck, Bindung:Steidl, Düstere Straße 4, D-37073 GöttingenGedruckt auf Öko 2001 RC-Papierzur ökologischen Buchherstellung(80 Prozent Altpapier, 20 Prozent Durchforstungsholzaus nachhaltiger Forstwirtschaft,ohne Färbung, ohne optische Aufheller)Printed in GermanyISBN 3-88243-570-4

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Inhalt

Vorwort von Klaus Staeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

Was ist »Großes Geld«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Die Weichenstellung für den AufstiegHelmut Kohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

Kurzer Ausflug in die deutsche Geschichte . . . . . . . . . . . 44

Mittelfristige Planung eines Kanzlerwechsels . . . . . . . . 5 3

Flick - Musterbeispiel für den Mißbrauchwirtschaftlicher Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

Die seltsamen Vorspiele der »geistig-moralischenWende« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

Warum das Großkapital Helmut Kohl finanziertund was es dafür gleich von ihm bekommen hat . . . . . 90

Wie mit Kohls Hilfe die Reichen immer reicherund die Armen immer ärmer werden . . . . . . . . . . . . . . . . 102

»Der Kanzler der nationalen Einheit« -Der Kanzler der sozialen Spaltung . . . . . . . . . . . . . . 109

Was wir von Kohl noch alles zu erwarten haben -und wie wir es verhindern können . . . . . . . . . . 127

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Vorwort

Wie man einen Staat ruiniert - der Untertitel zur ersten Auflagevon Bernt Engelmanns Schwarzbuch mag einigen Lesernzunächst als reichlich übertrieben vorgekommen sein. Inzwi-schen ist diese Behauptung längst zur bitteren Realität gewor-den. Im Sinne von Engelmanns Anklage war Helmut Kohl alsKanzler ungewöhnlich erfolgreich. Bund, Länder und Kommu-nen verhökern inzwischen alles, was Aussicht hat, einenAbnehmer zu finden. Längst ist bei den Notverkäufen dassprichwörtliche Tafelsilber an der Reihe. Was oft genug Genera-tionen vor uns über Steuern, Schenkungen und Vererbung zuöffentlichem Eigentum anwachsen ließen, wird jetzt hem-mungslos unter dem harmlos klingenden Begriff »Privatisie-rung« zum Zwecke der Schuldentilgung verschleudert. Inzwi-schen hat diese Auszehrung des Staates eine derartige Dyna-mik erreicht, daß die Gestaltungsmöglichkeiten der nach unskommenden Generationen gegen Null tendieren. Neben einerzerstörten Umwelt werden unsere Schulden sie noch lange anuns erinnern.

Ein von der Regierung Kohl gewollt ungerecht gestaltetesSteuersystem sorgt mit dafür, daß unser demokratischesGemeinwesen immer schneller einem Staatsbankrott entge-gentreibt. Stünde Kanzler Kohl an der Spitze eines normalenHandelsunternehmens, liefe er Gefahr, sich wegen Konkurs-verschleppung strafbar zu machen.

Dem Sprecher des Finanzamtes der Taunusgemeinde BadHomburg, einem Ort, an dem sich besonders viele Millionärebesonders wohl fühlen, verdanken wir jetzt die Veröffent-lichung einer besonders deprimierenden Bilanz. Konnte dieGemeinde 1990 Einkommensteuern in Höhe von 439 Millio-nen Mark verbuchen, mußte sie im Jahre 1996 an die Reichendes Ortes noch 3 Millionen auszahlen. Anderes Beispiel:

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Zahlte die weltweit überaus erfolgreich agierende Siemens AG1992/93 noch 371 Millionen Mark Gewinnsteuern, bekam derFiskus 1994/95 keine Mark mehr. Und das alles ganz legalunter der Obhut einer Regierung, die zwar ein immer lauteresLamento über die leider so leeren Kassen des Staates an-stimmt, aber nichts unternimmt, um die Überschuldung wenig-stens in Grenzen zu halten. Im Gegenteil: Die Superreichender Republik, die sich ihren gesellschaftlichen Verpflichtungenimmer häufiger und immer geschickter entziehen, werdenhofiert und umworben, während ganze Bevölkerungsschichtensich in ihrer Existenz unmittelbar bedroht fühlen und der Mit-telstand, jener oft unterschätzte Kitt einer demokratisch funk-tionierenden Gesellschaft, an akuter Schwindsucht leidet.

All das geschieht unter Assistenz einer kleinen Klientelpar-tei namens F.D.P., die sich konsequent nach der Methode»Nehmt, was ihr kriegen könnt«, von einer Partei der Besserver-dienenden zum Anwalt der Besserkassierenden entwickelt hat.Obwohl politisch seit geraumer Zeit nichts mehr geht, klam-mern sich die Regierungskoalitionäre mit der Verzweiflungangeschlagener Boxer an die verbliebene Macht, auf die Ver-geßlichkeit und Resignation des müde gewordenen Wahlvol-kes vertrauend.

Bernt Engelmann hat das System Kohl schon früh präziseanalysiert und in seinen Konsequenzen überzeugend darge-stellt. Deshalb ist die Neuauflage seines anläßlich des Bundes-tagswahlkampfes 1994 erschienenen Buches von bedrückenderAktualität. Mögen auch wenige Zahlen inzwischen überholtsein, so hat Engelmanns Beschreibung einer verhängnisvollenPolitik der nun schon ganze 15 Jahre währenden Ära Kohlnichts an Wirksamkeit eingebüßt. Andeutungen sind dagegeninzwischen zur Gewißheit geworden, Warnungen von der Wirk-lichkeit eingeholt.

Engelmann weist in seinem Schwarzbuch nach, daß derScherbenhaufen Kohlscher Politik nicht der in langen Amtsjah-ren schicksalhaften Häufung widriger Umstände geschuldet ist,sondern Folge einer systematisch betriebenen Interessenpoli-tik zugunsten der Reichen und zum Nachteil der immer größerwerdenden Schar Armer und Bedürftiger. Als Ergebnis dieser

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gezielt betriebenen Umverteilung, ist die Masse des Geldesendgültig wieder bei denen gelandet, die schon immer den laut-stärksten Anspruch darauf erhoben haben.

Bernt Engelmann war stets ein kritischer Begleiter seinerZeit, geprägt von historischem Bewußtsein. Vor allem durchseinen an deutscher Geschichte geschulten Blick hat er stetsaufs Neue das Leben der Leute unten beschrieben und sich sozum Sprachrohr und Anwalt jener gemacht, die nicht gelernthaben, sich auszudrücken und für ihre Rechte zu kämpfen.Engelmann hat durch seine Recherche sehr früh erkannt, daßdas Prinzip der Regierung Kohl auf die Verarmung des Staateshinausläuft, mit all den Folgen, die wir jetzt landauf, landabbeklagen. Wenn sich inzwischen Vorstände von Konzernen aufAktionärsversammlungen öffentlich brüsten, trotz hoher Ge-winne in Deutschland keine Steuern mehr zu zahlen, ist energi-sche Gegenwehr an der Zeit, soweit man unsere Demokratienoch als beste aller Staatsformen und verteidigungswertes Gutbetrachtet.

Wenn sich allerdings das notwendige Vertrauen der Bürger,dessen jede Regierung bedarf, inzwischen nur noch aus der Lei-besfülle des Kanzlers und seinem schon ans Wahnhafte gren-zenden Optimismus speist, der eine Niederlage nach der ande-ren zu immer neuen Erfolgen umlügt, ist es um die Politik inunserem Lande miserabel bestellt. Und als habe er nicht selbstall die Jahre die Richtlinien der Politik am Standort Deutsch-land bestimmt, mahnt er mit einem sich steigernden Brusttonder Empörung die Beseitigung all jener Mißstände an, fürderen Entstehung er selbst die Verantwortung trägt.

Bernt Engelmann hat das Ende der Kohl-Zeit nicht mehrerlebt. Wir sind verpflichtet, diesen lähmenden Zustand, inden unser Land dank einer unbarmherzigen Politik geraten ist,möglichst bald zu beenden. Kohl hat seine Zeit gehabt. ZurAbwendung des Anschlußkonkurses ist die Auswechslung desGeschäftsführers zu einer Überlebensfrage im »FreizeitparkDeutschland« geworden.

Klaus Staeck

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Editorische Notiz

Bernt Engelmann hat die Arbeit am Schwarzbuch 1994, unmit-telbar vor seinem Tod beendet. Der Verlag hat sich entschlos-sen, das Buch 1998, vier Jahre später, erneut aufzulegen, weil -Kohl sei’s geklagt - der Text nichts an seiner bedrückendenAktualität eingebüßt hat. Im Gegenteil: Was sich 1994 noch alsgewagte Prognose, als provokanter Beitrag zur Bundestagswahlauffassen ließ, sieht sich nun täglich in den Wirtschaftsteilender Zeitungen bestätigt. So hatte es Engelmann nun auch nichtgemeint, als er dem Buch den Untertitel Wie man einen Staatruiniert gab - die CDU/F.D.P.-Koalition gleichwohl. Denn dieUmverteilung von unten nach oben, die Konservative undLiberale im letzten Wahlkampf zu ihrem Programm machten,haben sie in der zurückliegenden Legislaturperiode mit bestenKräften angepackt. Wer heute sagt, er habe es damals nichtgewußt, habe es nicht wissen können, der lese EngelmannsSchwarzbuch -und vermag dann auch zu erahnen, was die näch-sten vier Jahre bringen können, wenn sich das Wahlvolk erneutverkohlen läßt.

Die in diesem Buch angegebenen Zahlen sind nicht aktuali-siert worden - mit Ausnahme der Liste der reichsten Deut-schen, die auf einer Zusammenstellung von Dorothee Beckund Hartmut Meine beruht, veröffentlicht in dem Band Wasser-prediger und Weintrinker, der im Herbst 1997 im Steidl Verlagerschienen ist. Dort findet sich das derzeit aktuellste undumfangreichste Zahlenmaterial zur Verteilung des Reichtumsin der Bundesrepublik.

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Was ist »Großes Geld«?

Die Deutschen gelten als reich, reicher als ihre Nachbarn, vondenen allenfalls die Schweizer sich mit ihnen messen können,und erst recht im internationalen Vergleich. Wie enorm derWohlstand in den alten und neuen Ländern ist (oder zu seinscheint), zeigt die amtliche Statistik:

Das Geldvermögen der privaten Haushalte (ohne derenHaus- und Grundbesitz, Wertsachen und sonstige Vermögens-werte) erbrachte ihnen 1992 etwas mehr als 200 Milliarden DMan Zinsen und Dividenden. Das sind, grob gerechnet, 2500DM jährliche Einnahmen aus angelegtem Geldvermögen fürjede und jeden im vereinten Deutschland, ob Säugling oderGreis. Ein durchschnittlicher Vierpersonenhaushalt - Ehepaarmit zwei Kindern -hat also laut Statistik zusätzliche Jahresein-künfte von 10000 DM (und im Hintergrund eine angelegteGeldreserve von 180000 bis 200000 DM, die diese Zinsenerbringt!) - ein schönes Zubrot, beispielsweise für einen jun-gen Familienvater, der als Beamter mit 1850 DM netto imMonat die Wohnungsmiete in einer Großstadt aufbringen undalle Ausgaben der vierköpfigen Familie bestreiten muß!

Nun wissen wir allerdings, daß solch ein dem statistischenDurchschnitt genau entsprechender Fall in der Praxis nur ganzselten vorkommt. Die allermeisten Arbeitnehmerfamilienhaben nämlich keine sechsstelligen Geldreserven, und wennbei ihnen von Zinsen die Rede ist, so handelt es sich in derRegel um solche, die sie für aufgenommene Kleinkredite undDarlehen seufzend zu zahlen haben.

Die Statistik lügt dennoch nicht, sie wirft nur Arm und Reichin einen Topf: Schon ein einziger Bewohner eines Mietshauses,vielleicht dessen Eigentümer, der über zwei Millionen DMGeldvermögen verfügt, schafft im Verein mit den übrigenHausbewohnern, einem Dutzend Familien von Habenichtsen,

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jenen trügerischen statistischen Durchschnitt, der uns einenallgemeinen Wohlstand vorgaukelt.

Wenn wir uns darüber im Klaren sind, kann uns auch ein wei-teres statistisches Ergebnis nicht mehr täuschen, nämlich daßsich die Erträge der privaten Geldvermögen der Deutschen imLaufe des letzten Jahrzehnts nahezu verdreifacht haben. Diesefür uns scheinbar so erfreuliche Tatsache sagt über die Vertei-lung des so stark vermehrten Wohlstands gar nichts aus. Siekann beispielsweise bedeuten, daß nur die ohnehin sehr Wohl-habenden noch um vieles reicher geworden sind, die großeMehrheit der Unbemittelten aber unverändert arm gebliebenund noch um einige soziale Absteiger vermehrt worden ist. Ge-nau dieser Fall ist, wie wir noch sehen werden, tatsächlich ein-getreten: Profitiert von dieser Entwicklung haben im wesentli-chen nur die Herren des Großen Geldes!

Was ist das eigentlich: das »Große Geld«?Die allermeisten Deutschen, gleich ob in Ost oder West,

haben davon keine oder nur eine ganz blasse Ahnung. JedesMultimillionenvermögen gilt ihnen schon als »Großes Geld«.Und wenn sie selbst einmal im Lotto gewinnen sollten - sagenwir: knapp sechs Millionen DM steuerfrei -, dann ist das nachMeinung der Freunde und Nachbarn und wohl auch nach ihrereigenen Einschätzung bereits das Große Geld.

Stellen wir uns nun einmal vor, der oder die Glückliche läßtsich den ganzen Lottogewinn bar auszahlen: dicke Packen vondruckfrischen Tausendern, dazu noch etliche Bündel von 500-,200- und 100-DM-Scheinen säuberlich aufgestapelt, wobei einMeter Höhe jeweils genau einer Million DM entspricht, derLottogewinn von knapp sechs Millionen Mark als Banknoten-stapel also vom Fußboden bis fast zur Decke der sechs Meterhohen Schalterhalle reicht!

Doch so eindrucksvoll der Anblick dieses hohen Stapels auchsein mag, als das »Große Geld« kann der Banknoten-Turm nochlängst nicht gelten! Unsere wirklichen Superreichen könntensolche Vorstellung nur mitleidig belächeln; die Dimension die-ses scheinbaren Reichtums wäre ihnen gar zu winzig.

Als das amerikanische - längst auch hierzulande in deut-scher Sprache erscheinende - Wirtschaftsmagazin »Forbes« im

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Sommer 1990 die 400 reichsten deutschen Unternehmer vor-stellte, da gab sich das Blatt mit gewöhnlichen Multimillionä-ren gar nicht erst ab. »Forbes« begann seine Aufzählung erst im»Multimega«-Bereich, also bei den mehr als hundertfachenDM-Millionären.

Die Summe der Vermögen aller 400 Personen oder Familien,die »Forbes« vorstellte, belief sich damals, im Sommer 1990,auf rund 200 Milliarden DM - das Doppelte dessen, was dieRegierung Kohl an Staatsanleihe aufzunehmen gedachte undfür ausreichend hielt, die ruinierte Wirtschaft der gerade verein-nahmten DDR zu sanieren und wieder in Schwung zu brin-gen.... Anders ausgedrückt: Schon die Hälfte des Vermögensder 400 reichsten Westdeutschen hätte nach offizieller Mei-nung gereicht, für über 16 Millionen »Brüder und Schwesterndrüben« gesunde wirtschaftliche Verhältnisse zu schaffen.

400 Privatvermögen von zusammen 200 Milliarden DMergeben einen durchschnittlichen Reichtum der von »Forbes"1990 vorgestellten westdeutschen »Spitzenklasse« von je 500Millionen DM. Stapelte man diese Summe nach Art des Lotto-gewinns in Banknoten, wäre ein solcher Bargeldturm 500Meter hoch - mehr als dreimal so hoch wie der Kölner Dom!

Indessen gab es schon vor vier Jahren, als das Wirtschaftsma-gazin die Superreichen der BRD vorzustellen begann, nichtwenige deutsche Multimilliardäre, die ihr Geld höher hättenstapeln können als die Zugspitze (2 963 Meter), höher noch alsdas Gipfelkreuz des Mont Blanc (4 810 Meter), ja die mit ihremgebündelten Baren sogar den Mount Everest (8 848 Meter)überragt hätten! Von solchen gewaltigen Höhen aus betrachtet,sind die Banknotenstapel der Lottogewinner, aber auch die derzehn-, zwölf- oder auch 25fachen Multimillionäre eine mit blo-ßem Auge gar nicht mehr wahrnehmbare Bagatelle, und damitsollte nun auch klar sein, was »großes Geld« wirklich bedeutet.

Übrigens, seit 1990 sind die Kassen von Bund, Ländern undGemeinden immer leerer geworden, eine Schuldenlast vonastronomischer Höhe zwingt die öffentlichen Hände zu rigo-rosen Sparmaßnahmen, und der Konjunktureinbruch, der zuverzeichnen war (und noch ist), hat für Millionen Deutscheerhebliche Einkommenseinbußen mit sich gebracht (wovon im

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einzelnen noch ausführlich die Rede sein wird). Der Super-reichtum indessen hat keineswegs gelitten, im Gegenteil!

Das Große Geld in den Händen einiger deutscher Multimil-liardäre hat sich seit 1990 weiter kräftig vermehrt. Hier nur einBeispiel: Deutschlands Reichster, der der breiten Öffentlich-keit nahezu unbekannte Erivan Haub aus Mülheim/Ruhr (Ten-gelmann, Kaiser’s, Plus, KD und nicht zuletzt A&P, was hierzu-lande nur "Attraktiv & Preiswert" zu bedeuten scheint, jedochzugleich die konzerneigene größte Einzelhandelskette derUSA, "Atlantic & Pacific", kennzeichnet), wurde im Sommer1990 auf deutlich über sechs Milliarden DM Vermögen taxiert,drei Jahre später, im Sommer 1993, aber bereits auf mehr alszehn Milliarden DM! Und so wie bei Haub ist es auch bei denzwei Dutzend anderen Deutschen, die 1993 in die »Forbes«-Liste der »Hundert Reichsten der Welt« aufgenommen wur-den: Ihre gigantischen Vermögen sind in den Rezessionsjahrennicht kleiner, sondern noch beträchtlich größer geworden.(Eine Liste dieser deutschen Multimilliardäre findet sich aufden folgenden Seiten.)

Wollten wir die Vermögen der in den internationalen Spit-zenreichtum aufgestiegenen Deutschen durch gewaltige Bar-geldstapel (1 Meter = 1 Million DM) anschaulich machen, sohätten wir ein Hochgebirgspanorama, vergleichbar mit demHimalaya, wobei der niedrigste Gipfel 3 400 Meter hoch, diedrei höchsten gar Zehntausender wären, höher als der höchsteBerg unserer Erde!

Nachdem wir mit Hilfe dieser - in Wirklichkeit ja niemalsvorkommenden - gigantischen Banknotentürme eine unge-fähre Vorstellung vom Großen Geld bekommen haben, kehrenwir zurück auf den Boden der Tatsachen, beispielsweise derBonner Politik. Da stellt sich dann heraus, daß die erdachtenBargeldstapel als Ausdruck der Macht des Großen Geldes garnicht so unrealistisch sind, wie man meinen könnte.

Mitunter nehmen nämlich auch bundesdeutsche Superrei-che statt ihres Scheckbuchs Bargeldstapel, vorzugsweise solchevon druckfrischen Tausendern, stecken davon einige Bündel inneutrale Umschläge und überreichen diese dann dem einenoder anderen ihrer Bekannten als Geschenk!

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Curt Engelhornund Familie 18,7 Mrd. DM

Familie Quandt Beteiligungen 19,89 Mrd. DM

Theo undKarl Albrecht Einzelhandel 19,55 Mrd. DM

Familie Haniel

Familie Merck

Handel 15,81 Mrd. DM

Chemie/Pharma 9,52 Mrd. DM

Familie Henkel Chemie 8,84 Mrd. DM

Erivan Haubund Familie Einzelhandel 8,5 Mrd. DM

Otto Beisheim Großhandel,Beteiligungen 9,16 Mrd. DM

Familie Boehringer Chemie/Pharma 7,99 Mrd. DM

Friedrich Karl Flick jr. Beteiligungen 7,65 Mrd. DM

Michael Ottound Familie

Versandhandel 7.65 Mrd. DM

FamilieSchmidt-Kuthenbeck Großhandel 7,14 Mrd. DM

Rolf Gerling Versicherungen 6,8 Mrd. DM

Familie Schickedanz Versandhandel 6,29 Mrd. DM

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Natürlich geschieht dies nicht in aller Öffentlichkeit, wo-möglich vor laufenden Fernsehkameras, vielmehr sehr diskret,und stets handelt es sich bei den von Superreichen mit solchenGeldgeschenken großzügig Bedachten um einflußreiche Politi-ker, die zwar sehr üppige reguläre Einkünfte haben, aber trotz-dem immer Geld brauchen, weil sie kostspielige Wahlkämpfezu führen haben und fürchten müssen, nicht wiedergewählt zuwerden, wenn ihnen das Geld ausgeht.

Von diesen unterstützungsbedürftigen Politikern erwartendie superreichen Spender der gebündelten Tausendmarkschei-ne dann ihrerseits allerlei Gefälligkeiten, und diese werdenihnen in aller Regel auch schon bald nach der Geldübergabevon den dankbaren Politikern erwiesen.

Indessen sind solche - für die Spender belanglos winzigen,für die Empfänger sehr stattlichen und hochwillkommenen -Geldgeschenke, meist in Raten von 50000 bis 250000 DM,und die im Gegenzug erwiesenen Gefälligkeiten beileibe nichtals kriminelle Vergehen, etwa als aktive und passive Beste-chung im Sinne der Paragraphen 331 ff. des Strafgesetzbuches,gedacht oder zu verstehen. Dergleichen kommt nur in wenigerreichen und weniger mächtigen Kreisen mitunter vor und wird,wenn es ruchbar wird, sehr streng bestraft.

Ganz anders liegt der Fall bei üppigen Geldgeschenken vonSuperreichen an Mitglieder des Bundeskabinetts und Vorsit-zende von Koalitionsparteien:

Erstens würden bundesdeutsche Multimillionäre niemalsgegen Gesetze und Vorschriften verstoßen wollen. Sie wün-schen sich vielmehr eine Anpassung der Gesetze und Ausfüh-rungsbestimmungen an ihre auf große Gewinne gerichtetenPläne. Der eine will beispielsweise ein Gesetz, das inländischeVerkaufserlöse, die er in den USA profitabel anlegen will, vonetlichen hundert Millionen Mark Steuern befreit. Der andereverlangt eine Lockerung von Umweltschutzbestimmungen,wodurch ihm enorme Ausgaben für die Umrüstung von Che-mie-werken und Papierfabriken erspart werden. Ein Dritterwünscht die Streichung einiger zwar gesundheitsschädlicher,aber sehr gut verkäuflicher Chemikalien von einer Verbotsliste,und alle gemeinsam fordern die Änderung eines Paragraphen,

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der bislang die Beschäftigten eines indirekt durch Streikgelähmten Werks begünstigt hat - also lauter für Superreicheganz natürliche Verlangen, die ihren Interessen dienen undihren Profit steigern, so daß es nur gilt, die Gesetze und Vor-schriften den Bedürfnissen des Großen Geldes entsprechendabzuändern, damit alles ganz legal vor sich gehen kann.

Zweitens aber sind die Zuwendungen, die die Superreichenden an der Gesetzgebung maßgeblich beteiligten Politikernmachen (oder machen lassen), so geringfügig im Vergleich zuden enormen Vorteilen, die sie sich damit verschaffen, daß keinbundesdeutscher Staatsanwalt sie als strafrechtlich relevantansehen könnte.

Wenn beispielsweise ein Multimilliardär wie Herr Flick zurErlangung von etlichen hundert Millionen Mark Steuererspar-nis nur lumpige zwei, drei Millionen an diverse Spitzenpoli-tiker verteilt hat - weniger als ein Prozent des Gewinns! -, sovermochte keiner der Beteiligten darin etwas Unrechtes zuerkennen. »Jede Sparkasse verschenkt doch Pfennigartikel wieKugelschreiber oder Wandkalender, selbst an Kunden, die nurein paar Mark an jährlichen Kontogebühren einbringen!« mein-te einer der Flick-Bediensteten treuherzig.

Doch mit der Erwähnung einer der vielen Flick-Millionen-spenden sind wir schon mitten in der Praxis des Bonner Alltagsund können die theoretischen Erwägungen abschließen. Dennnun sollte jeder und jedem klar sein, was Großes Geld ist undwelche Macht damit ausgeübt wird.

Gewiß, laut Verfassung wird der die Richtlinien der Politikbestimmende Kanzler von der Bundestagsmehrheit gewählt,und über deren Zusammensetzung entscheiden die Wählerin-nen und Wähler in allgemeiner, gleicher, direkter und gehei-mer Wahl. So bestimmt es das Grundgesetz, in dessen Artikel20, Absatz 2, es folgerichtig heißt: »Alle Staatsgewalt geht vomVolke aus.«

Doch das war nicht immer so (wie das Kapitel »Kurzer Aus-flug in die deutsche Geschichte« es noch näher beschreibenwird). Hier soll es genügen, daran zu erinnern, daß noch bis vorwenig mehr als 75 Jahren im größten Teil Deutschlands dassogenannte Dreiklassenwahlrecht galt, bei dem es die Superrei-

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chen weitaus bequemer hatten: Es gab einigen wenigen Multi-millionären ebenso viele Stimmen wie Zigtausenden von Nor-malverdienern, und es entrechtete die Armen völlig, ebensoalle Frauen und Jugendlichen. Kurz, die Superreichen brauch-ten keine Abgeordneten zu bestechen, sondern bestimmtenselbst die Mehrheitsverhältnisse.

Dieser für das Große Geld so angenehme Zustand endete1918, als das vom »Eisernen Kanzler« Bismarck geschaffeneKaiserreich ruhmlos unterging.

Indessen ging nur der Kaiser; die Superreichen blieben,unter ihnen auch die Familie der Fürsten Bismarck und dieHohenzollernprinzen, als neu hinzugekommener Kriegsge-winnler des Ersten Weltkriegs auch Friedrich Flick. Sie alle(oder ihre Erben) brachten ihre riesigen Vermögen sicher durchdie Nachkriegswirren und die totale Geldentwertung, die dendeutschen Mittelstand verarmen ließ, und fanden neue Wegeder Machtausübung zwecks weiterer Vermehrung ihres Reich-tums.

Sie überstanden die vierzehn Jahre der Weimarer Republik,wurden in den folgenden zwölf Jahren der Nazi-Diktatur unddes Zweiten Weltkriegs noch um vieles reicher - vor allemdurch Rüstungsaufträge, Ausbeutung von Millionen Sklaven-arbeitern, Plünderung der eroberten Gebiete und »Arisierung«jüdischen Vermögens - und hatten auch nach der vollständigenNiederlage der großdeutschen Wehrmacht und dem Untergangder Hitler-Diktatur in den westlichen Besatzungszonen, derspäteren Bundesrepublik, keinen Grund zur Klage: Das GroßeGeld blieb unangetastet, kam sicher durch die Krisenjahre derersten Nachkriegszeit, wurde von der Währungsreform ver-schont und vermehrte sich dann geradezu explosionsartig, alsdas »Wirtschaftswunder« einsetzte.

Zwanzig Jahre lang wurde die Bundesrepublik im Zeichendes Kalten Krieges und der massiven Aufrüstung von konserva-tiven Kanzlern regiert und zu einem Paradies der Superreichen,die sich für Großverdiener maßgeschneiderte Gesetze undSteuergeschenke noch und noch machen ließen und ihrerseitsden sie so gut bedienenden Politikern die Wahlkämpfe finan-zierten.

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Ende der sechziger Jahre kam endlich ein Umschwung: DieStudenten rebellierten gegen das konservative Establishment,gegen die von der Springer-Presse betriebene Volksverdum-mung, gegen die zutiefst unmoralische, undemokratische undunsoziale Herrschaft des Großen Geldes. Mit Willy Brandtkam erstmals ein Kanzler ans Ruder, der das Eis des KaltenKrieges zu brechen begann, eine Friedenspolitik einleitete undein inneres Reformwerk in Gang setzte. Seine Parole »MehrDemokratie wagen!« fand großen Widerhall.

Indessen sorgte der kleine Koalitionspartner des Bundes-kanzlers Willy Brandt (SPD), die F.D.P., stets dafür, daß dieBäume nicht in den Himmel wuchsen, sprich: daß die Politikden Interessen des Großen Geldes nicht abträglich war, unddennoch betrieben damals rechtskonservative Kreise der Wirt-schaft bereits, wenn auch zunächst vergeblich, den Sturz WillyBrandts, indem sie Abgeordnete der Koalition mit beträchtli-chen Summen zum Abfall vom sozialliberalen Regierungslagerbewogen.

Die damaligen Vorgänge sind geradezu ein Musterbeispielfür das direkte Einwirken des Großen Geldes auf die BonnerPolitik, und deshalb seien sie - zum besseren Verständnis dergegenwärtigen Verhältnisse - im folgenden Kapitel kurz be-schrieben.

Nichts zeigt deutlicher, wie hohl Helmut Kohls ständig imMunde geführte Phrase von der »geistig-moralischen Wende«in Wahrheit ist, als das Vorgehen seiner engsten Freunde undFörderer (und sein eigenes Verhalten) im Frühjahr 1972, alsschon die Weichen für den Aufstieg des »Schwarzen Riesen«ins Kanzleramt von den Repräsentanten des Großen Geldesgestellt wurden.

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Die Weichenstellung für denAufstieg Helmut Kohls

In den späten 1960er und frühen siebziger Jahren war imWesten Deutschlands viel die Rede von »mehr Mitbestim-mung«. Genauer: Alle Großunternehmen sollten nicht alleinvon den Kapitalgebern, sondern im gleichen Umfang, also pari-tätisch, auch von den Arbeitern und Angestellten in ihrergesamten Unternehmenspolitik bestimmt werden - so wie esim Montanbereich, bei Kohle und Stahl, von der britischenBesatzungsmacht eingeführt worden war und sich glänzendbewährt hatte.

Allerdings waren den seit 1969 in Bonn regierenden Sozial-demokraten in dieser Frage die Hände gebunden; ihr Koaliti-onspartner, die F.D.P., hatte sich ausbedungen, das Thema»Mitbestimmung« für die Dauer des Regierungsbündnisses»auszuklammern«. Um so intensiver nahmen sich die nun inder Opposition stehenden Christdemokraten der gewerkschaft-lichen Forderung an, zumindest ihr damals starker »linker« Flü-gel unter Führung von Norbert Blüm. Gemeinsam mit demaufstrebenden Helmut Kohl, damals schon Ministerpräsidentin Rheinland-Pfalz, erarbeitete Blüm einen Mitbestimmungs-Entwurf für das CDU-Parteiprogramm, der dann auf heftigenWiderstand der Herren des Großen Geldes stieß. Der CSU-Schatzmeister und Mitgesellschafter des Flick-Konzerns, Dr.Wolfgang Pohle, sah in dem Blüm/Kohl-Entwurf bereits »dieGrenzen zur Planwirtschaft gefährlich verwischt«; der dama-lige IIenkel-Konzernmanager Kurt Biedenkopf stieß ins selbeHorn, und CDU-Rechtsaußen Alfred Dregger sah schon den»Kommunismus durch die Hintertür« in die Großunternehmendringen.

Dennoch gab man dem Blüm/Kohl-Entwurf reelle Chan-cen, auf dem CDU-Parteitag vom Januar 1971 eine Mehrheit zuerhalten und ins Wahlprogramm der Union aufgenommen zu

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werden, zumal auch der damalige CDU-Vorsitzende RainerBarzel Mitbestimmungs-Sympathien zu hegen schien.

Aber dann kam alles ganz anders: Nachdem Kohl von einemFlick-Vertrauensmann, dem Daimler-Personalchef Dr. HannsMartin Schleyer, aufgesucht und ins Gebet genommen wordenwar, machte er sich daran, ein »Kompromiß-Papier« zu entwer-fen. Kohls neuer Entwurf sicherte dem Kapital die Herschaft,räumte aber den Arbeitnehmern gewisse Mitwirkungsrechteein. Es lohnt indessen nicht, die Einzelheiten zu schildern.Denn kaum war der ursprüngliche Blüm/Kohl-Entwurf aufdem Parteitag erwartungsgemäß gescheitert, weil sich herum-gesprochen hatte, daß Kohls »Kompromiß« allgemeine Zustim-mung linden würde, da erwies es sich, daß nicht einmal Hel-mut Kohl selbst für seinen eigenen Plan einzutreten bereit war!Er empfahl statt dessen einen Entwurf der Industrie undstimmte für diesen.

Damit hatte Helmut Kohl -vom Standpunkt der Herren desGroßen Geldes gesehen - seine Bewährungsprobe bestanden,auch wenn er dann bei der Kandidatur für den CDU-Parteivor-sitz gegen Rainer Barzel ein letztes Mal unterlag. Der erbosteNorbert Blüm aber ließ sich vor der Presse zu der Äußerunghinreißen: »Wir sind eben doch eine Unternehmerpartei!«

Rainer Barzel erkannte nun in Helmut Kohl seinen gefähr-lichsten Rivalen, den es abzuschütteln galt. So wagte er imFrühjahr 1972 den Versuch, Kanzler Willy Brandt durch ein kon-struktives Mißtrauensvotum zu stürzen.

Der kühne Versuch, anstelle von Brandt Kanzler zu werdenund damit jede innerparteiliche Konkurrenz auszustechen, miß-lang, und überdies verlor die von Barzel geführte Union auchdie Bundestagswahl vom November 1972. Der »glücklose« Bar-zel, den seine Partei und deren Geldgeber daraufhin gern kalt-gestellt hätten, war aber keineswegs bereit, freiwillig einem an-deren Platz zu machen, und er hielt auch noch einige Trümpfebereit, die er auszuspielen drohte, falls man versuchen würde,ihn beiseite zu schieben. Seine Drohungen zeigten erheblicheWirkung, und nun war guter Rat wirklich sehr teuer.

Es begann, was in den geheimen, erst zehn Jahre späteröffentlich bekanntgewordenen Aufzeichnungen des damali-

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gen Flick-Bevollmächtigten Eberhard v. Brauchitsch als »kon-zertierte Aktion« bezeichnet wurde: Von CDU-Seite wurdenHeinrich Köppler und Helmut Kohl aktiv, auf Unternehmer-seite Professor Kurt Biedenkopf vom Henkel-Konzern, derunvermeidliche Flick-Vertrauensmann Dr. Hanns MartinSchleyer und natürlich auch v.Brauchitsch, sodann GuidoSandler vom Oetker-Konzern, endlich auch Konrad Henkel,der Chef des Henkel-Konzerns. Das Ergebnis war, daß RainerBarzel ein »weicher Fall« angeboten werden konnte: Zu seinenstattlichen regulären Bezügen sollten jährlich 250 000 bis300000 DM Honorare kommen, die ihm der FrankfurterRechtsanwalt Dr. Paul zukommen lassen würde, der seinerseitsdas Geld von »Industriemandanten« bekäme. Und genausogeschah es.

Zehn Jahre später schrieb Erich Böhme darüber im »Spiegel«unter der Überschrift »wg. Dr. Kohl«:

»Rainer Candidus Barzel, der gescheiterte Kanzleraspirantdes Jahres 1972, dessen salbungsvolle Tiraden die DeutschenAnfang der siebziger Jahre überreichlich genervt hatten undden die Union schließlich aus Fraktions- und Parteivorsitzhebelte, wäre nie zum >sozialen Fall< geworden. Trotz einschlä-giger Sorgen, die der damalige Kohl-Intimus Kurt Biedenkopfdem Barzel-Nachfolger Kohl aktenkundig machte - Durch-schlag an das Haus Flick, versteht sich. . Das Haus Flickzahlte, Barzel kassierte (mit zusätzlichen Garnierungen vonder Chase Manhattan Bank und vom Hause Oetker), der erfolg-lose CDU-Chef räumte ohne Gezeter das Feld. . . Das Flick-Kürzel »wg. Dr. Barzel« hatte seinen Zweck erfüllt: wg. Dr.Kohl, dessen Chefstuhl mit eintausendsiebenhundert Flick-Tausendern (1,7 Millionen DM) freigefächelt worden war.«

Auch Barzel-Nachfolger Kohl war zunächst glücklos: 1976trat er als Kanzlerkandidat der Union an und unterlag bei denBundestagswahlen; 1980 wurde Kohls Rivale Franz JosefStrauß als Kanzlerkandidat nominiert und scheiterte ebenfalls.Aber dann, am 1. Oktober 1982, kam Helmut Kohls großeStunde: Mit Hilfe der abgefallenen »Gruppe Genscher-Lambs-dorff« der F.D.P. wurde der gewählte Bundeskanzler HelmutSchmidt (SPD) durch ein konstruktives Mißtrauensvotum

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gestürzt, Kohl zum Kanzler gewählt - mit einer Mehrheit vonsieben Stimmen und gegen den erklärten Willen jener Wähler,denen Genscher im Herbst 1980 feierlich versprochen hatte, erwerde »vier Jahre als zuverlässiger und aufrichtiger Partner«mit Helmut Schmidt und der SPD die Koalition fortsetzen.

Ein Drittel der F.D.P.-Bundestagsfraktion, darunter fast alleFrauen, verweigerte Genscher und dem Grafen Lambsdorffdie Gefolgschaft bei diesem Betrug am Wähler. Aber seither istKohl Bundeskanzler und regiert die BRD auf eine Weise, diehaargenau den Wünschen derer entspricht, die mit Hilfe derMacht des Großen Geldes den Kanzlerwechsel langfristig vor-bereitet und dann herbeigeführt hatten.

Warum war ihre Wahl auf den Pfälzer Helmut Kohl gefallen?Wodurch hatte er sich vor anderen Bewerbern um das Kanzler-amt ausgezeichnet und die Gunst der Herren des Großen Gel-des erworben, so daß sie ihm zunächst den Chef-Sessel derCDU mit fast zwei Millionen Mark Barzel-Abfindung »freigefä-chelt« und schließlich auch die zur Kanzlerwahl fehlendenStimmen »beschafft« hatten? Ja, wer war überhaupt dieser Hel-mut Kohl, den die meisten Bundesbürger nur als jungen Lan-desvater von Rheinland-Pfalz und als Wahlverlierer von 1976kannten?

Helmut Kohls politische Karriere begann in seiner - wirtschaft-lich vom Chemie-Riesen BASF beherrschten, traditionell vonder SPD regierten -Heimatstadt Ludwigshafen. Dort war er am3. April 1930 als Sohn eines kleinbürgerlichen Finanzbeamtenzur Welt gekommen.

Kohls autorisierter Biograph Karl Günter Simon, der demheutigen Kanzler in seinem 1969 erschienenen Buch »DieKronprinzen« immerhin schon ein knappes Dutzend Seitengewidmet hat, berichtet darin, daß Helmut (»Helle«) Kohl »ausschwarzem Elternhaus« stamme; daß der kräftige, hochgewach-sene Oberrealschüler schon 1949, im ersten Bundestagswahl-kampf, für die CDU als Redner aufgetreten sei (und zwar, wieFreunde und Gegner übereinstimmend sich erinnern, »laut,hemdsärmelig und naßforsch«) und daß er dann langsam,»Schritt für Schritt«, Karriere gemacht habe.

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Schon als 17jähriger war Kohl der Jungen Union beigetreten,mit 25 Jahren wurde er bereits Mitglied des rheinland-pfälzi-schen CDU-Landesvorstands, mit 28 Jahren Kreisvorsitzenderin Ludwigshafen und jüngster Landtagsabgeordneter im Main-zer Parlament. Nach dem Wunsch seiner Eltern studierte erzunächst Rechtswissenschaft in Heidelberg, denn er solltehöherer Beamter werden. Aber er interessierte sich nur für Poli-tik, genauer: für seine eigene politische Karriere. Geld ver-diente er sich nebenher, erst als Praktikant bei der BASF, alsDirektionsassistent bei der Eisengießerei Mock, als kaufmänni-scher Volontär bei der Miederwarenfabrik »Felina«, dann alsReferent des Landesverbands der chemischen Industrie vonRheinland-Pfalz-Saar in Ludwigshafen. Ehe er dort -mit einemAnfangsgehalt von 1000 DM, später 3 000 DM-seine Tätigkeitaufnahm, erwarb er - nach immerhin neun Jahren oder 18Semestern, die seit seinem Abitur vergangen waren! - den Dok-torgrad, nicht den juristischen, denn er hatte im 5. Semesterumgesattelt, sondern den Dr. phil. des Fachs Geschichte, miteiner 160 Schreibmaschinenseiten umfassenden, vornehmlichaus sorgsam gesammelten Zeitungsmeldungen bestehendenArbeit zum Thema »Die politische Entwicklung in der Pfalzund das Wiedererstehen der Parteien nach 1945«.

Dr. Kohls Sternstunde kam, wenn man seinen BiographenGlauben schenken darf, am 3. April 19.59, seinem 29. Geburts-tag, mitten im rheinpfalzischen Landtagswahlkampf. Kohl kan-didierte zum ersten Mal, und nun stand ihm - so beschrieb esLothar Wittmann - »ein großer Auftritt bevor: Konrad Ade-nauer wird zu einer Großveranstaltung erwartet. Im hochrotenLudwigshafen soll der Besuch des Kanzlers zu einer eindrucks-vollen Demonstration der Schwarzen« werden.. . Zu diesemBehuf hat CDU-Geschäftsführer Fritze Keller.. , zwei gewal-tige Wurstmarktzelte aus Bad Dürkheim auf dem Marktplatzaufstellen lassen. . . (Sie) fassen 8 000 Besucher. KleinmütigeZweifler haben Kohl vor solchen Ausmaßen gewarnt.. 20Minuten vor Beginn der auf 20 Uhr angesetzten Versammlungist die Nervosität groß. Über Polizeifunk wird angekündigt, daßder Kanzlerwagen bereits Darmstadt passiert hat, und die Zeltesind erst zu höchstens 20 Prozent gefüllt! Wenn der Besucher-

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strom so dünn bleibt, wird es eine Blamage geben. Kurz ent-schlossen dirigiert Kohl den Kanzlerkonvoi ins Hotel St. Hu-bertus um. Der geplagte Kanzler muß die Möglichkeit haben,sich vor dem Auftritt noch etwas frisch zu machen.

Als der Kanzler dann. . eintrifft, sind die Zelte brechendvoll. . Der Zustrom hat in letzter Minute und schlagartig ein-gesetzt. Drei Redner an diesem Abend: Helmut Kohl hält eineschwungvolle Begrüßungsrede, dann Peter Altmeier, der(rheinland-pfalzische) Ministerpräsident, dann Konrad Ade-nauer. Helmut Kohl bringt enthusiastische Stimmung ins Zelt,er spricht angriffslustig, wettert gegen Herbert Wehners Agitati-onsbesuch in der BASF. Droht die Politisierung der Betriebe?Konrad Adenauer wird aufmerksam, mustert interessiert denlangaufgeschossenen Nachwuchsredner, fragt seinen Nach-barn Peter Altmeier, wer denn dieser hoffnungsvolle jungeMann sei...« und ernennt, so möchte man vermuten, wennman dieser eindrucksvollen Schilderung gefolgt ist, HelmutKohl sogleich zu seinem politischen Enkel und späteren Nach-folger.

Dies war jedoch keineswegs der Fall; die Ernennung zumAdenauer-Enkel nahm Helmut Kohl später selber vor, undauch die wunderbare Publikumsvermehrung in den Ludwigs-hafener Zelten kam nicht von ungefähr. Sie hatte viel Arbeit,Anstrengung und Hilfe von den Unternehmern aus demUmland erfordert, von denen einer sich rühmte, er habe es sich12 000 DM kosten lassen, »seine Leute« in Bussen »heranzukar-ren, ihnen 5 Mark pro Kopf spendiert für Verzehr und damitKohls Schau gerettet«.

Wie dem auch sei: Jedenfalls ist eines sicher, nämlich daßHelmut Kohl damals schon einen millionenschweren Industri-ellen zum Freund und Förderer hatte, der Kohls Talente ZUschätzen wußte und, wie er später wiederholt erklärte, »einenguten Riecher« für kommende Spitzenpolitiker hatte, die sichihren Mäzenen dann als sehr nützlich erweisen konnten.

Helmut Kohls damaliger reicher Gönner war übrigens derGroßaktionär und Vorstandsvorsitzende eines aufblühendenUnternehmens mit über zweitausend Beschäftigten in der vonLudwigshafen nur acht Kilometer entfernten pfälzischen Kreis-

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stadt Frankenthal. Fast zwei Jahrzehnte lang, während ausdem Ludwigshafener JU-Führer ein Stadtrat, dann ein CDU-Landtagsabgeordneter, Fraktionsvorsitzender, schließlich so-gar ein rheinland-pfälzischer Ministerpräsident, CDU-Bun-desvorsitzender und Kanzlerkandidat wurde, war Helmut Kohlein häufiger Gast in der Frankenthaler Industriellen-Villa. Inallen diesen Jahren gab es zwischen Kohl und seinem reichenGönner viele Gespräche über politische und wirtschaftlicheFragen. Der junge Politiker Kohl holte sich manchen Rat vonseinem um 23 Jahre älteren, beinahe väterlichen Freund, ließsich von diesem erzählen, wie man aus sehr bescheidenenAnfangen über Krieg, Niederlage und Währungsreform hin-weg zu Multimillionärs- und Konzernherren-Höhen aufsteigt,und er scheint sich damals vorgenommen zu haben, es seinemFörderer gleichzutun, zumindest hinsichtlich eines rücksichts-losen Gebrauchs der Ellbogen und eines Mindestmaßes anmoralischen Skrupeln sowie einer sorgfältigen Pflege dessen,was sein erfahrener Gönner »nützliche Beziehungen« zu nen-nen pflegte.

Tatsächlich hatte dieser Frankenthaler Industrielle glän-zende Verbindungen und sogar enge freundschaftliche Bezie-hungen zu bereits arrivierten und kommenden Spitzenleutenaus Politik und Wirtschaft. Einigen davon präsentierte undempfahl er seinen Schützling Helmut Kohl, und auch sonstkonnte der steinreiche Konzernchef dem aufsteigenden Jung-politiker auf mancherlei Weise behilflich sein.

Natürlich stellte Helmut Kohl seinem Förderer auch dasMädchen vor, mit dem er sich zu verloben und - wie es füreinen christlichen Politiker obligatorisch war - in Bälde zu ver-heiraten gedachte, und erst nachdem Kohls einstige Tanzstun-denfreundin und zukünftige Ehefrau Hannelore von der Fami-lie des Frankenthaler Industriellen in Augenschein genommenworden war, traf der angehende Landespolitiker Vorbereitun-gen für die Gründung eines eigenen Hausstands. Zwei Monatenach seinem Einzug ins Mainzer Landesparlament verheira-tete er sich mit Hannelore Renner.

Nun konnte Helmut Kohl seinem Förderer hie und da auchschon ein paar Gefälligkeiten erweisen, denn sein Einfluß in

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der Mainzer CDU-Fraktion war von Anfang an groß, und ande-rerseits steigerte der reiche Industrielle das Ansehen des jüng-sten Abgeordneten, indem er diesen mitnahm auf eine Afrika-reise, wie sie sich damals, Anfang der sechziger Jahre, ein nochunbekannter Provinzpolitiker kaum zu erträumen wagte. FrauHannelore durfte derweilen mit der Gattin des IndustriellenFerien im schweizerischen Zermatt machen, wo den Damenein luxuriöses Chalet Zurverfügung stand. Die Traumreise, aufdie Kohl damals von seinem noblen Gönner mitgenommenwurde, ging ins Königreich Marokko, dessen Honorarkonsulfür Rheinland-Pfalz sein väterlicher Freund geworden war, undsie wurde für Helmut Kohl zu einem Erlebnis wie aus Tausend-undeiner Nacht. Übrigens, es sei hier nur am Rand vermerkt,weil es das harte Urteil vieler anderer, politischer Freunde wieGegner, über den jungen Politiker Kohl bestätigt: Auch der ihmso wohlwollende Industrielle rügte, gerade im Anschluß andiese Marokkoreise, die miserablen Umgangsformen seinesSchützlings. Wie schon gelegentlich zuvor und noch oftmalsspäter, als Kohl schon längst Ministerpräsident in Mainz gewor-den war, bedauerte der Herr Konsul, wenngleich nur im enge-ren Familien- und Freundeskreis, das »ungehobelte Beneh-men« Kohls und sein »schrecklich rücksichts- und taktlosesAuftreten«. Der engste Freund des Herrn Konsuls, dem erdavon erzählte, lachte indessen nur und sagte - wie er späterdem Autor selbst erzählte -: »Laß man, Fritz, wenn er werdensoll, was wir uns ausgedacht haben, kann er gar nicht rücksichts-los genug sein!«

Übrigens, der bislang verschwiegene Name des Kohl-Ent-deckers und langjährigen -Gönners war Dr. Fritz Ries, damali-ger Chef und Großaktionär des »Pegulan«-Konzerns mitHauptsitz in Frankenthal. Dessen alter Freund, einstiger Kom-militone und »Leibfuchs« bei der Heidelberger schlagendenVerbindung »Suevia« und späterer stellvertretender Vorsitzen-der des »Pegulan«-Aufsichtsrats aber hieß Dr. Hanns MartinSchleyer, war bereits der Vertrauensmann des Daimler-Groß-aktionärs Friedrich Flick in der Untertürkheimer Konzernzen-trale und bald auch stellvertretender Vorsitzender von »Ge-samtmetall« sowie Vizepräsident der Arbeitgebervereinigung.

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Er sollte noch höher aufsteigen, ehe er im Herbst 1977 von Ter-roristen entführt und ermordet wurde, doch in unseremZusammenhang ist zunächst nur von Bedeutung, daß es Dr.Ries und Dr. Schleyer waren, die den Jungpolitiker HelmutKohl »vormerkten« für zukünftige Jahre, wenn eine »Bundes-regierung nach Maß« und nach dem Herzen der großen Kon-zerne aufzustellen sein würde.

Wir werden auf Dr. Fritz Ries und Dr. Hanns MartinSchleyer noch einmal zurückkommen, doch hier sei über Riesnur noch angemerkt, daß es für den »Pegulan«-Konzern unddessen Produkte, vor allem Fußbodenbeläge aus Kunststoff,1975 eine Absatzkrise gab. Nur durch eine Landesbürgschaft inMillionenhöhe konnten die Banken bewogen werden, demUnternehmen noch einmal über die Runden zu helfen. DasFachblatt »Wirtschaftswoche« meldete dazu am 5. März 1976: »Tatsächlich müssen die Finanzkalamitäten bei Ries und denPegulan-Werken noch gravierender sein, als in der WiWo vom23. Januar 1976 dargestellt. Der rheinland-pfalzische Finanzmi-nister Johann Wilhelm Gaddum mußte dem SPD-Abgeordne-ten Rainer Rund auf eine Anfrage zur Pegulan-Krise denn aucheingestehen: "Landesbürgschaften werden nur dann gewährt,wenn die Sicherheiten im Sinne der Beleihungsgrundsätze derKreditinstitute nicht ausreichen." Im Klartext heißt das: Pegu-lan hätte ohne die Bürgschaft des Landes keinen Kredit mehrbekommen. Ob indes diese Landeshilfe allein wegen dergefährdeten Arbeitsplätze zugesagt wurde oder ob der CDU-Kanzlerkandidat und Rheinland-Pfalz-Chef Kohl zusätzlichein gutes Wort für Ries einlegte, bleibt offen.«

Offen bleibt auch, ob der sowohl von der seriösen »Wirt-schaftswoche« als auch vom exklusiven »Manager-Magazin«verbreitete angebliche Ries-Ausspruch über Kohl -»Auch w e n nich ihn nachts um drei anrufe, muss er springen !«- korrekt wieder-gegeben worden ist. Immerhin bezeichneten Ries-TochterMonika und deren Ehemann, Rechtsanwalt Herbert Krall, die-ses Zitat als »durchaus der Riesschen Auffassung von Kohl ent-sprechend«.

Mit Gewißheit läßt sich nur sagen, daß das damals von Hel-mut Kohl geführte Land Rheinland-Pfalz den Konzern des Dr.

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Ries durch Übernahme von Bürgschaften in Millionenhöhelange vor dem Zusammenbruch bewahrt hat. Dabei hat mögli-cherweise der Umstand eine Rolle gespielt, daß dem Ries-Kon-zern schon zuvor bedeutende Landesmittel zuteil gewordenwaren, deren Gesamthöhe von Fachleuten auf zig MillionenDM veranschlagt wurde.

Ebenfalls durch Kohl zuteil geworden war Dr. Fritz Ries imFebruar 1972 der Stern zum Großen Bundesverdienstkreuz,eine ungewöhnliche Ehrung für einen Mann, dessen »unter-nehmerische Leistung und Engagement für die Gesellschaft«,wie es in der Verleihungsurkunde hieß, wahrlich nicht unum-stritten waren. Denn Fritz Ries, Kohls »Weichensteller«, vonihm auch manchmal als »der gute Mensch von Frankenthal«bezeichnet, hatte eine recht dunkle unternehmerische Vergan-genheit: Der am 4. Februar 1907 in Saarbrücken geborene FritzRies, Sohn des Inhabers einer Möbelhandlung, hatte nach demAbitur ein Jurastudium begonnen, erst in Köln, dann in Heidel-berg, wo er-wie schon kurz erwähnt - den acht Jahre jüngerenKorpsstudenten Hanns Martin Schleyer als »Leibfuchs« unterseine Fittiche nahm.

Schleyer, es sei hier nur am Rande angemerkt, war als Sohneines Landgerichtsdirektors in Offenburg/Baden 1915 geborenworden und bereits als Schüler 1931 der Hitlerjugend beigetre-ten, 1933 in die SS aufgenommen worden (Mitgliedsnummer227014) und galt mit 19 Jahren schon als »Alter Kämpfer«, dervon 1934 an die Universität Heidelberg in eine »Forschungs-und Erziehungsanstalt nationalsozialistischer Prägung« zu ver-wandeln sich bemühte. Er leitete dort, später auch in Inns-bruck, dann in Prag, das sogenannte »Studentenwerk«, aus des-sen SS-Mannschaftshäusern der Sicherheitsdienst (SD) derNazis seinen Nachwuchs rekrutierte. Von 1939 an stand derSS-Führer Dr. Schleyer im neuen »Protektorat Böhmen undMähren« an der Spitze der gesamten SS-»Hochschularbeit«;ihm unterstanden rund 160 Angestellte, und sein Jahresetatbetrug rund zehn Millionen Reichsmark.

Von 1939 an war SS-Hauptsturmführer Dr. Schleyer einemMann direkt unterstellt, der als Chef des »Reichssicherheits-hauptamtes« an der Spitze des SD, der Gestapo und der gesam-

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ten Polizei stand: SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich.Im September 1941 wurde Heydrich unter Beibehaltung seinerMachtstellung im Reich auch noch Stellvertreter des Reichspro-tektors von Böhmen und Mähren und damit der eigentlicheHerrscher in der Tschechoslowakei, Dr. Schleyer seine rechteHand und Kontrolleur der tschechoslowakischen Industrie biszum letzten Tag der deutschen Besatzung. Erst am 8. Mai 1945schlug er sich mit den letzten SS-Verbänden unter Mitnahmevon Geiseln, tschechischen Frauen und Kindern, zu den schonkurz vor Prag stehenden Amerikanern durch und wurde vondiesen interniert und einige Jahre lang gefangengehalten.

Doch zurück zu Fritz Ries, der sich beim HeidelbergerKorps »Suevia« bei Mensuren jene »Schmisse« genanntenFechtnarben holte, die für eine Karriere damals sehr förderlichwaren. Unmittelbar vor dem Verbot der korpsstudentischenMensuren forderte Ries noch einen Kommilitonen, der seineEhre verletzt hatte, auf Pistolen, wobei ihm sein »Leibfuchs« Schleyer - wie dieser sich erinnerte und dem Autor lachenderzählte - die Waffe zum Kampfplatz trug.

Schon kurz darauf beendete Fritz Ries sein Studium als Dr.jur. und begann sogleich -im Herbst 1934 - seine Unternehmer-karriere, nachdem er im Jahr zuvor der Nazipartei beigetretenwar und die Tochter des wohlhabenden Rheydter ZahnarztesDr. Heinemann geheiratet hatte. Mit schwiegerväterlichemGeld entfaltete er - wie er selbst in einem Schreiben an einehohe Nazi-Parteistelle ohne falsche Bescheidenheit anführte -»eine außerordentliche unternehmerische Aktivität«. Er hatteeine Leipziger Gummiwarenfabrik, Flügel & Polter, erworbenund diesen 120-Mann-Betrieb in wenigen Jahren zu einem mitt-leren Konzern ausgebaut - fast ausschließlich mit Hilfe soge-nannter »Arisierungen«.

Durch die judenfeindliche Politik der Nazis waren die frühe-ren Eigentümer gezwungen, ihre Unternehmen weit unterdem tatsächlichen Wert und zu demütigenden Bedingungen an»Arier« wie Dr. Ries zu verkaufen. Anzumerken ist, daß Dr.Ries innerhalb kürzester Zeit zum branchenbeherrschendenPräservativ-Hersteller des »Großdeutschen Reiches« aufrückteund für seine rüde, auch im »angeschlossenen« Österreich prak-

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tizierte »Arisierungs«politik starke Rückendeckung durch dieNazi-Partei erhielt.

Vom Herbst 1939 an, also gleich nach Beginn des ZweitenWeltkrieges, wurde der Ries-Konzern »auf den Kriegsbedarfder Wehrmacht umgestellt und stark erweitert«. Die Beschäftig-tenzahl hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt verzehnfacht, derUmsatz war auf mehr als das Zwanzigfache gestiegen, und balderreichten die Umsätze und Gewinne geradezu schwindelndeHöhen. Denn von 1941 an konnte Dr. Ries seinen Gummikon-zern auf die eroberten polnischen Gebiete ausdehnen, immerneue Betriebe »übernehmen«, dabei unterstützt von einemeigens für solche Aufgaben engagierten SS-Standartenführerim Sicherheitsdienst (SD), Herbert Packebusch.

Packebusch, nach dem die Staatsanwaltschaft Kiel wegendringenden Verdachts des Mordes in zahlreichen Fällen nochJahrzehnte nach Kriegsende vergeblich fahndete, half Dr. Riesauch bei der Beschaffung von Arbeitskräften. So arbeitetenallein in einem der Ries-Betriebe im eroberten Polen, den»Oberschlesischen Gummiwerken« in Trzebinia (Westgali-zien), laut einer »Gefolgschaftsübersicht« vom 30. Juni 1942,insgesamt 2 653 jüdische Zwangsarbeiter, davon 2 160 Frauenund Mädchen. Vornehmlich mit deren Hilfe, sprich: aufgrundrücksichtsloser Ausbeutung, stieg der Umsatz in Trzebinia von101861 RM im Dezember 1941 auf 1300 619 RM im April 1942,also binnen vier Monaten auf mehr als das Zwölffache!

Die erhalten gebliebenen Berichte des deutschen Aufsichts-personals geben Einblick in die im Ries-Werk Trzebinia damalsherrschenden schrecklichen Zustände, zeigen die rigorose Aus-beutung und die täglichen Mißhandlungen der für Dr. Riesschuftenden Frauen und Mädchen.

So erging folgende Anordnung: »Wir haben den Arbeitskräf-ten erklärt, daß die Arbeitsleistung in den nächsten Tagenwesentlich gesteigert werden muß, da wir sonst annehmen,daß die Arbeit sabotiert wird«; was nach Lage der Dinge eineklare Morddrohung war, denn nachlassende Leistung oder garSabotage wurde mit sofortiger »Umsiedlung« in das knapp 20Kilometer entfernte KZ Auschwitz geahndet, wo »Arbeitsunfä- hige« sofort vergast wurden.

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Da die deutschen Behörden aber bereits damit begannen,alle Juden der Gegend, ohne Rücksicht auf ihren Wert alsArbeitskräfte der »Oberschlesischen Gummiwerke« des Dr.Ries nach Auschwitz zu schaffen, beschloß dieser »Vollblutun-ternehmer«, aus der Not eine Tugend zu machen, zumindestfür sich selbst. Weil am Ende sicherlich auch diese letzten Fach-kräfte »umgesiedelt« werden würden - zwecks späterer Ermor-dung, wie alle Beteiligten wußten -, galt es Vorsorge für seinenKonzern zu treffen. Da hatte nun ein trefflicher Ries-Mitarbei-ter die Idee, die nach Auschwitz »umgesiedelten« und dort aufihren Tod wartenden Juden nicht unproduktiv im KZ herumsit-zen zu lassen, sondern ihre Wartezeit mit nutzbringenderArbeit für den Ries-Konzern auszufüllen.

Und so geschah es: Im Lager Auschwitz wurde eine »Groß-nebenstelle« errichtet. »Es stehen in Kürze etwa 3 000 bis 5 000weibliche Arbeitskräfte zur Verfügung«, heißt es in der Mel-dung vom 10. Juli 1942. Die erforderlichen Näh- und sonstigenMaschinen aus dem Besitz schon ermordeter jüdischer Hand-werker kaufte der Ries-Konzern der SS billig ab, und fortanbrauchte sich Dr. Ries, der in einer schönen, eigens für ihn»beschlagnahmten«Villa in Trzebinia wohnte, um die »Arbei ts-moral« seiner Belegschaft nicht mehr zu sorgen. Darum küm-merte sich die SS, und die »Oberschlesischen Gummiwerke«lieferten nur das zu verarbeitende Material und holten die fer-tige Ware im KZ ab, um sie mit sattem Gewinn an die Wehr-macht und andere Abnehmer zu verkaufen.

Wie in Ostoberschlesien und Galizien, so hatte Dr. Riesnoch einige weitere Produktionsstätten im annektierten Polenin Konzernbesitz gebracht, unter anderen einen Großbetriebin Lodz, das die Deutschen in »Litzmannstadt« umgetaufthatten.

Natürlich arbeiteten auch die »Gummiwerke Wartheland«,wie Dr. Ries seine Lodzer Erwerbung nannte, erst mit jüdi-schen, dann mit polnischen Zwangsarbeitern; nur die Aufseherund das Wachpersonal erhielten reguläre Bezahlung.

Nebenbei bemerkt, auch die deutschen »Gefolgschaftsmit-glieder« wurden bespitzelt und »vertraulich« gemeldet, etwawenn sie den katholischen Gottesdienst besucht hatten. Und

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schließlich ging die Brutalität im Ries-Konzern so weit, daß diepolnischen Arbeitskräfte, zumeist junge Frauen und Mädchen,nicht nur nach beendeter Schicht in einem Barackenlager unterAufsicht gestellt, sondern auch während der Arbeitszeit imSaal eingeschlossen und nach Schluß der Arbeit durchsuchtwurden. Verantwortlich für diese und andere »energische«Maßnahmen war ein von Dr. Ries im zweiten Halbjahr 1944 ein-gestellter neuer Direktor, der am 30. Oktober 1944 auch schrift-lich anordnete, daß jeder »Mitarbeiter«, der mehr als einmal anseinem Arbeitsplatz unentschuldigt fehlte, zur »außerbetrieb-lichen Bestrafung« - durch die Gestapo - zu bringen sei.

Zu dieser Zeit war die »Verlagerung«- das heißt: der Abtrans-port nach Westen von allem, was nicht niet- und nagelfest war -bereits in vollem Gange, und der neue Direktor erwarb sich beider Rettung des Ries-Besitzes vor der anrückenden RotenArmee »durch Umsicht, Schneidigkeit und Härte«, wie Dr. Riesihm bescheinigte, große Verdienste.

Der Name dieses neuen Direktors, der ein »Alter Kämpfer«der Nazipartei und zuletzt Leiter einer Dienststelle im schongeräumten Krakau gewesen war, soll hier nicht verschwiegenwerden: Es handelte sich um Artur Missbach, einen späterenCDU-Bundestagsabgeordneten, der als solcher vor allem da-durch von sich reden machte, daß er Ende der sechziger Jahreauf amtlichem Papier des Bundestags Werbebriefe für dieInvestment-Schwindelfirma IOS verschickte. Mit dem Bundes-adler im Briefkopf pries MdB Missbach damals die IOS-Zertifi-kate als »die derzeit beste und sicherste Anlage mit der höch-sten Rendite« an, und gleichzeitig verkaufte er - unter demDecknamen »Sebastian Bach« - für mindestens drei MillionenDollar IOS-Anteile an deutsche Sparer, die den -wegen Steuer-hinterziehung landesflüchtigen - »Sebastian Bach« dann eben-so verfluchten wie ihre wertlos gewordenen Papiere.

Doch zurück zu Dr. Ries, dem mit seinem Direktor Miss-bach sehr zufriedenen Konzernchef, der im Winter 1944/45seine riesige Beute aus Polen mit Lastwagen-Konvois undGüterzügen weit nach Westen »verlagerte«; und was die Bar-geldbestände des Konzerns betraf, so erinnerte sich Ries-Toch-ter Monika - der 17. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart im

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Prozeß um das Buch »Großes Bundesverdienstkreuz«* als Zeu-gin benannt - deutlich daran, wie sich ihr Vater im Familien-kreis am abendlichen Kaminfeuer häufig mit Stolz dazubekannt hat, anno 1945 »Riesensummen persönlich und koffer-weise nach Westen geschafft« zu haben.

Fünf Jahre später indessen, am 28. November 1950, schil-derte Dr. Ries seine Lage gegen und nach Kriegsende folgen-dermaßen: »1944 gründete ich die Gummiwerke Hoya GmbH.Mit dieser Gründung wollte ich lediglich einen Teil der Maschi-nen aus den mir gefährdet erscheinenden östlichen Gebietenretten. Tatsächlich waren bei Kriegsende in Hoya neue Maschi-nen für etwa 1,5 Millionen RM gelagert.. Weiterhin standenmir bei Beendigung des Krieges einige hunderttausend MeterStoff zur Verfügung.« Um einen Teil des kofferweise gerette-ten, aber immer wertloser werdenden Bargelds anzulegen,erwarb Dr. Ries kurz nach Kriegsende auf der am weitestenwestlich gelegenen deutschen Nordseeinsel Borkum »KöhlersStrandhotel«, das größte Haus am Platze. Es stellte nach heuti-gen Maßstäben ein Multimillionenobjekt dar. Was aber derBesitz von »einigen hunderttausend Metern Stoff« in den Not-jahren 1945-48 bedeutete, läßt sich heute überhaupt nicht mehrermessen. Schon mit drei Metern Anzug- oder Mantelstoffkonnte man bis zur Wahrungsreform vom Juni 1948 durchTausch oder Verkauf auf dem Schwarzen Markt die Ernährungeiner fünfköpfigen Familie für mindestens zwei Monate sicher-stellen. Mit »einigen hunderttausend Metern Stoff« hätte mandie Lebensmittelversorgung einer Großstadt während sechsDekaden gewährleisten können, als die amtlichen Rationen,wie 1947 in Wuppertal, bei nur noch 650 Kalorien pro Tag lagen!

Jedenfalls darf man sagen, daß Dr. Ries die Nazi-Diktaturund den Zweiten Weltkrieg nicht nur heil, sondern geradezuglänzend überstanden hatte, ebenso die Wirren, das Elend undden Hunger der ersten Nachkriegsjahre. In Polen waren ihm

* Die Machenschaften des Dr. Fritz Ries, deren Entdeckung und Veröffentli-chung durch den Autor dieses Schwarzbuches und die Auswirkungen der Ver-öffentlichung sind ausführlich dargestellt in dem Taschenbuch »Großes Bun-desverdienstkreuz mit Stern«, Steidl Verlag, Göttingen 1987.

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Abermillionen an Kriegsbeute zuteil geworden, nicht nur wert-volle, zum Teil fabrikneue Maschinen, waggonweise Textilien,Autoreifen, Gummistiefel, -schuhe und Mäntel, sondern auchkofferweise Bargeld, dazu Unmengen von Kunstgegenständen,Teppichen und Juwelen sowie - wie die erhalten gebliebenenDokumente beweisen - die Wertsachen seiner Arbeitssklaven,der Schmuck und das Zahngold der geschundenen Männer,Frauen und Kinder.

Um so erstaunlicher ist es, daß Dr. Ries, obwohl aus Saar-brücken und später in Leipzig beheimatet, zeitweise in Trzebi-nia bei Auschwitz und zuletzt auf Borkum wohnhaft, mit Kon-zernsitz in Leipzig, dann in Hoya an der Weser und schließlichin Frankenthal, von den dortigen rheinpfalzischen Behördendennoch als »Heimatvertriebener« anerkannt wurde. Ja, manbescheinigte ihm, dem großen Beutemacher, sogar einen »Ver-treibungsschaden«! Am 10. Oktober 1953 - sein Schützling Hel-mut Kohl war bereits ein Lokalmatador der CDU mit gutenBeziehungen - bestätigte ihm das Ausgleichsamt bei der Stadt-verwaltung Frankenthal - Aktenzeichen 16/M/ke -, daß »derAntragsteller Dr. Fritz Ries hier die Feststellung der folgendenVertreibungsschäden beantragt hat:1. Geschäftsanteil an der Oberschlesischen

Gummiwerke GmbH, Trzebinia, überNennbetrag (Kapitalforderung) 1445 000 RM

2. Geschäftsanteil an der »GummiwerkeWartheland AG«, Litzmannstadt, über 500 000 RM

3. Verlust eines Einfamilienhauses mit10 Zimmern in Trzebinia Kreis Krenau(Oberschlesien) - Grundvermögen -

Weiter wird bestätigt, daß die Angaben des Antragstellers indem Feststellungsantrag hinreichend dargetan sind.«

Mit anderen Worten: Einem Saarländer, der mit Wohn- undKonzernsitz in Leipzig das eroberte Polen ausgeplündert, Skla-venarbeiter aufs grausamste ausgebeutet und sich deren Besitzwiderrechtlich angeeignet hatte, wurde amtlich bescheinigt,daß nicht seine Opfer, sondern er selbst zu entschädigen seiund daß seine dreisten Behauptungen als Beweis ausreichten!Und so wie in diesem Fall ging es dutzendfach weiter:

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An jeder Finanzquelle, die die öffentliche Hand damalseinem schuldlos verarmten und unterstützungsbedürftigenHeimatvertriebenen sprudeln ließ, wenn er einerseits im OstenMillionenverluste erlitten hatte, andererseits an seinem Auf-nahmeort neue Arbeitsplätze zu schaffen bereit war, labte sichDr. Ries mit Hilfe seiner politischen Freunde von der CDU inreichem Maße.

Glücklicherweise - für ihn - hatte man Dr. Fritz Ries als blo-ßen »Mitläufer« der Nazi-Partei eingestuft, und damit galt dermillionenschwere Kriegsgewinnler und als V-Mann derGestapo auserwählte, »absolut zuverlässige Nationalsozialist«Dr. Ries in Rheinland-Pfalz (und damit in der ganzen Bundes-republik) als politisch völlig unbelasteter Ehrenmann.

Wann immer sich bei den Lastenausgleichs- und anderenÄmtern Zweifel regten, etwa was die behauptete Höhe der »Ver-treibungsschäden « des Dr. Ries betraf, wurden sie - so nachzu-lesen in den Akten des damaligen Ries-Generalbevollmächtig-ten für die Regelung seiner »Ansprüche«, Dr. Grote-Mismahl durch starken politischen Druck von oben beseitigt.

Wer diesen Druck ausübte, läßt sich nicht mehr mit Sicher-heit feststellen, und es wäre unfair, diese Machenschaftenallein dem 1953 gerade erst zum Mitglied des Geschäftsführen-den Landesvorstands der regierenden CDU aufgerückten Ries-Günstling Helmut Kohl anzulasten, von dem allerdings fest-steht, daß er in den folgenden Jahren, als er zum einflußreich-sten Politiker des fest in der Hand seiner Partei befindlichenBundeslands Rheinland-Pfalz aufstieg, seinem langjährigenFörderer Dr. Ries wiederholt sehr behilflich gewesen ist.

So stellt sich die Frage, ob Helmut Kohl über die düstere Ver-gangenheit seines großzügigen Förderers und dessen dreisteLügen hinsichtlich seiner angeblichen »Vertreibungsschäden«genau Bescheid gewußt hat. Ries-Tochter Monika Krall, anwalt-lich als Zeugin gehört, war sich nicht absolut sicher, ob ihr»Vater auch in Gegenwart von Dr. Kohl sich seiner so profitab-len Unternehmertätigkeit in Polen gerühmt hat, und wenn ja,ob dann nur so allgemein oder mit genauen Einzelheiten«.

Eine damalige Ries-Angestellte, die sich ihrerseits genaudaran erinnert, gab indessen zu Protokoll, daß »Herr Konsul

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Dr. Ries dem Herrn Dr. Kohl stolz von seinen >kriegswichtigen<Betrieben in Polen und von den glücklicherweise« in großerAnzahl zur Verfügung stehenden jüdischen und polnischenZwangsarbeitern erzählt hat«. Sie wußte sogar noch das unge-fahre Datum: »Es war im Frühjahr 1967 - der Herr Konsul Dr.Ries bekam das Große Bundesverdienstkreuz, das Herr Dr.Kohl, damals CDU-Landesvorsitzender, ihm verschafft hatte.Dr. Ries erzählte ihm dann, er hätte schon damals in Polen dasKriegsverdienstkreuz verliehen bekommen... « Diese Zeugin,die in Frankenthal beschäftigt ist, wollte begreiflicherweisenicht namentlich genannt werden.

Indessen spielt die Frage, ob Helmut Kohl schon damals, imFrühjahr 1967, die ganze scheußliche Wahrheit über die Vergan-genheit seines langjährigen Förderers kannte, keine großeRolle. Denn schon fünf Jahre später heftete Kohl, seit 1969 Mi-nisterpräsident von Rheinland-Pfalz, dem Dr. Ries auch nochden Stern zum Großen Bundesverdienstkreuz an die Brust, undzu diesem Zeitpunkt war Helmut Kohl, wie sich beweisen läßt,voll unterrichtet über den Werdegang dieses Mannes, der ihnals jungen Politiker »entdeckt«, nach Kräften gefördert und dieKarriere erst ermöglicht hatte: Kohl wußte Bescheid über dieskrupellose »Arisierungen« des »Kondom-Königs« Ries, des-sen Beziehungen zur Gestapo und über dessen Raubzüge in Po-len. Er war darüber im Bilde, daß sich Ries bei und in Auschwitzbereichert und Tausende von Arbeitssklavinnen für sich hatteschuften lassen. Desgleichen wußte er, daß die Entschädigun-gen für angebliche »Vertreibungsschäden« seines Gönners er-schwindelt waren. Trotzdem zeichnete er ihn mit dem zweit-höchsten Orden aus, den die Bundesrepublik zu vergeben hatte,pries öffentlich »das staunenswerte Lebenswerk« und »die vor-bildlichen unternehmerischen Leistungen« des Dr. Ries undwar ihm weiterhin bei jeder sich bietenden Gelegenheit gefällig.

Helmut Kohl warjedoch zu dieser Zeit längst nicht mehr dereinzige Spitzenpolitiker der Unionsparteien, von dem Dr. Riesstolz behaupten zu können meinte: »Wenn ich den nachts umdrei anrufe, muß er springen!«

Dazu muß man wissen, daß sich Konsul Dr. Ries, dessen»Pegulan«-Konzern damals noch florierte, einen -wie er fand -

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»standesgemäßen« Landsitz nebst Jagdrevier, Golfplatz undSchloß zugelegt hatte: das als »Perle der Steiermark« gerühmteSchloßgut Pichlarn, eine der schönsten Besitzungen Öster-reichs. Dort verkehrten als Gäste des Schloßherrn Dr. Ries -nach den Veröffentlichungen der Lokalpresse in den frühensiebziger Jahren - etliche führende Persönlichkeiten der bun-desdeutschen Wirtschaft und Politik, von denen wir hier einknappes Dutzend als repräsentative Auswahl nennen und zujedem Namen ein paar Erläuterungen geben wollen:

»Herr Generalbevollmächtigter Tesmann (es handelte sich umRudolf Tesmann, geboren 1910 in Stettin, einen früherenhohen SS-Führer - letzter bekannter Dienstgrad [1943]:SS-Obersturmbannführer -, vom März 1944 bis KriegsendeVerbindungsmann zu Reichsleiter Martin Bormann; Tesmannwurde 1945 von den Engländern interniert und von seinem Mit-gefangenen, dem Kaufhauskönig Helmut Horten, nach beiderEntlassung 1948 in den Horten-Konzern, zuletzt als Generalbe-vollmächtigter, übernommen. Tesmann war außerdem damalsPräsidiumsmitglied des >Wirtschaftsrats der CDU<);

Herr Dr. Hanns Martin Schleyer, Vorstandsmitglied der Daim-ler-Benz AG, mit Frau (den wir bereits kennengelernt habenund von dem noch im Zusammenhang mit der weiteren politi-schen Karriere Helmut Kohls die Rede sein wird);

Herr Dr. Alfred Dregger mit Frau (damals Vorsitzender derhessischen CDU, seit 1982 Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Bundestag und inoffiziell Führer des rechten, soge-nannten »Stahlhelm«-Flügels der Union);

Herr Bundestagsabgeordneter Siegfried Zoglmann (geboren1913 in Böhmen, seit 1928 Mitglied der - in der CSR illegalen -Hitlerjugend (HJ), 1934 HJ-Führer in der Reichsjugendfüh-rung in Berlin, 1939 Oberster HJ-Führer im <Protektorat> Böh-men und Mähren und Abteilungsleiter des <Reichsprotektors<.1940 erbat und erhielt Zoglmann vom >Reichsführer SS< Hein-rich Himmler persönlich die Erlaubnis, als SS-Führer in die>Leibstandarte SS Adolf Hitler< einzutreten. Nach 1945 Werbe-fachmann im Rheinland, 1950 Mitglied des NRW-Landesvor-stands der F.D.P., bis 1958 Landtagsabgeordneter, von 1957 biszu seinem Ausscheiden aus Altersgründen Mitglied des Bun-

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destags, zunächst F.D.P.-, seit 1972 CSU-Abgeordneter. MitHilfe Zoglmanns und anderer F.D.P.-Überläufer sollte damalsWilly Brandt gestürzt werden; die Verhandlungen hierüberwurden auf dem Ries-Schloß Pichlarn geführt);

Herr Dr. Eberhard Taubert (geboren 1907 in Kassel, Jurist, seit1931 Mitglied der NSDAP, seit 1932 enger Mitarbeiter des Nazi-Propagandachefs und damaligen >Gauleiters< von Groß-Berlin, Dr. Josef Goebbels, in dessen Reichsministerium >für Volksauf-klärung und Propaganda< Taubert 1933 eintrat, zunächst alsReferatsleiter, zuständig für >Aktivpropaganda gegen die Juden<. Von 1942 an Chef des >Generalreferats Ostraum<, dane-ben seit 1938 auch Richter am 1. Senat des berüchtigten >Volks- gerichtshofs< und beteiligt an Todesurteilen gegen Wider-standskämpfer. Außerdem lieferte Ministerialrat Dr. TaubertText und Idee zu dem 1940 uraufgeführten Hetzfilm »Der ewigeJude«, worin die in KZs und Gettos eingepferchten Juden mitRatten und anderem »lebensunwertem« Ungeziefer verglichenwurden. 1945 tauchte der als Kriegsverbrecher gesuchte Dr.Taubert mit Hilfe westlicher Geheimdienste zunächst unter,um 1950 jedoch in Bonn wieder auf, leitete die Kalte Kriegs-Propaganda gegen die DDR, dann für VerteidigungsministerFranz Josef Strauß den Aufbau der psychologischen Kriegfüh-rung bei der Bundeswehr. Scharfe Proteste des Zentralrats derJuden führten dazu, daß Strauß sich von Dr. Taubert offizielltrennen mußte, und dieser trat dann als Leiter der Rechtsabtei-lung und des Persönlichen Büros von Konsul Dr. Fritz Riesbeim »Pegulan«-Konzern in Frankenthal ein. In enger Abstim-mung mit Ries und Strauß sowie mit finanzieller Hilfe ausBonn und von etlichen Industriellen leitete Dr. Taubert dieHetzkampagnen gegen Willy Brandt und den Aufbau ultrarech-ter und neonazistischer Gruppen und Presseorgane.)

Und schließlich zählte zu den Gästen des Dr. Ries aufSchloß Pichlarn auch

Herr Bundesminister a. D. Franz Josef Strauß, Vorsitzender derbayerischen CSU, mit Frau, damals noch nicht Minis terpräsi-dent in München, und er fand in der Berichterstattung derösterreichischen Presse über die Gäste auf Schloß Pichlarndamals die meiste Beachtung.

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Was die steiermärkischen Zeitungen indessen nicht wußten:Der CSU-Chef Strauß und Konsul Dr. Ries waren damalslängst Duzfreunde, und überdies hatte Dr. Ries die Ehefrau sei-nes Spezis, Frau Marianne Strauß geborene Zwicknagl, zu sei-ner Teilhaberin gewonnen, dies übrigens, ohne daß es FrauStrauß einen Pfennig gekostet hätte!

Frau Strauß war in die am 23. Februar 1971 gegründete Ries-Gesellschaft »Dyna-Plastik« in Bergisch-Gladbach eingetreten,laut Handelsregister zunächst mit einer Kommanditeinlagevon 304 500 DM, was damals einer Beteiligung von etwa 14 Pro-zent entsprach. 1973 wurde das »Dyna-Plastik«-Kapitel erhöht,wobei der Anteil von Frau Strauß auf 406 000 DM oder 16 Pro-zent Kapitalanteil stieg. Frau Strauß hatte jedoch weder dieerste Einlage noch die spätere Erhöhung einzuzahlen brau-chen; diese sollten sich vielmehr »aus den Gewinnen auffüllen« - im Klartext: Dr. Ries hatte der Frau seines so einflußreichenDuzfreundes ein kleines Geschenk gemacht, eine erst 14-,dann 16prozentige Beteiligung an einer gutgehenden Konzern-Tochtergesellschaft, wohl in der richtigen Annahme, daß kleineGeschenke die Freundschaft erhalten, weshalb weitere ähnli-che Beteiligungen der Frau Marianne Strauß an blühendenUnternehmen der Ries-Gruppe folgten.

Die enge Freundschaft des CSU-Bosses, dessen Bewunde-rung für die unternehmerischen Leistungen des Dr. Ries unddie Beteiligung von Frau Marianne Strauß am Ries-Konzern,dessen finanzielle Grundlagen ja, wie wir bereits wissen, min-destens teilweise in Auschwitz, im Getto von Lodz (Litzmann-stadt) sowie in weiteren Leidensstätten der versklavten Judengelegt worden waren, erklären vielleicht das von der »Frankfur-ter Rundschau« 1969 zitierte Strauß-Wort (von dem er erst etwazwei Jahre vor seinem Tod abgerückt ist): »Ein Volk, das diesewirtschaftlichen Leistungen erbracht hat, hat ein Recht darauf,von Auschwitz nichts mehr hören zu wol len!«

Helmut Kohl beobachtete das »Techtelmechtel« seinesFreundes Dr. Ries mit dem CSU-Boß Strauß von Mainz ausmit sehr gemischten Gefühlen: Nicht zuletzt dank der Start-hilfe und langjährigen Förderung durch Dr. Ries hatte er esdort inzwischen zum Ministerpräsidenten gebracht, Ende Mai

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1970 auch schon seine Kandidatur für den CDU-Bundesvorsitzangemeldet, sich aber im Oktober 1971 auf dem CDU-Parteitageine Abfuhr geholt - statt seiner war Rainer Barzel gewählt wor-den. Kohl war jedoch entschlossen, es nochmals zu probierenund 1975 zugleich ein noch höheres Ziel anzustreben, nämlichKanzlerkandidat der Union zu werden, und spätestens dannwürde er in Strauß seinen gefährlichsten Rivalen haben!

Indessen hätte ihn sein langjähriger Gönner Dr. Ries schondamals beruhigen können: Ries und seine Freunde aus derbundesdeutschen Konzernwelt hatten bereits ganz bestimmtePläne, und tatsächlich waren sie sich schon darin einig gewor-den, es mit Helmut Kohl als Kanzlerkandidaten zu versuchen,wogegen sie nach langem Hin und Her den CSU-Chef FranzJosef Strauß als zwar sehr nützlich im Rüstungszentrum Mün-chen, aber als »wenig geeignet« als Regierungschef in Bonnangesehen und von der Liste der möglichen Kanzlerkandida-ten gestrichen hatten. Allerdings, auch darin waren sich dieHerren des Großen Geldes einig geworden, sollte HelmutKohl »eine intellektuelle Stütze« erhalten. Denn so unbestrit-ten Kohls demagogische Talente und sein rücksichtsloser Ge-brauch der Ellenbogen waren, so wenig vertraute man seinengeistigen Fähigkeiten.

Deshalb war - ebenfalls auf Schloß Pichlarn - schon zuBeginn der siebziger Jahre entschieden worden, dem Dr. Kohlfürs künftige Kanzleramt eine »Nummer zwei« an die Seite zustellen, einen - wie der damalige Hauptbeteiligte es nannte -»Intelligenzbolzen«, der Kohls erkennbares intellektuellesDefizit ausgleichen und in Wahrheit »die Richtlinien der Poli-tik« bestimmen sollte. Wieder war es Dr. Fritz Ries, der von denganz großen Bossen dazu ausersehen wurde, einerseits dieschon erkorene »Nummer zwei« auf den gemeinsam gefaßtenPlan »einzustimmen«, andererseits seinem Schützling Kohlklarzumachen, daß er solche »intellektuelle Stütze« brauchenwürde und zu akzeptieren hätte, denn schließlich wolle er dochder Nachfolger Adenauers und womöglich sogar Bismarckswerden. Auch diese, so erklärte der gewiefte GeschäftsmannDr. Ries dem unbedarften Doktor der Geschichte Kohl, hätteneine graue Eminenz im Kanzleramt gehabt, der eine seinen

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Staatssekretär Dr. Globke, der anderen seinen Geheimrat v.Holstein.

Helmut Kohl schien-wie eine Zeugin dieses Gesprächs sichdeutlich erinnert - zwar über Adenauers Staatssekretär imKanzleramt, Dr. Hans Maria Globke, Bescheid zu wissen; eswar ihm wohl nicht entgangen, daß dieser Dr. Globke bis zuAdenauers Rücktritt im Jahre 1963 die Bonner Personalpolitikvon der Gründung der BRD an maßgeblich beeinflußt, auchdie westdeutschen Geheimdienste geleitet und zugleich dasVertrauen des hohen katholischen Klerus genossen hatte (diesübrigens auch schon zur Zeit der Nazi-Diktatur als damaligerJudenreferent des Reichsinnenministeriums, erst unter dem -1946 in Nürnberg als Hauptkriegsverbrecher hingerichteten -Dr. Wilhelm Frick, dann unter dessen Nachfolger, dem »Reichs-führer SS« Heinrich Himmler, weshalb er selbst als Nr. 101 aufder Kriegsverbrecherliste der Alliierten verzeichnet gewesenwar).

Aber Helmut Kohl hatte, wie er dem Konsul Dr. Ries freimü-tig gestand, von einer »grauen Eminenz« Bismarcks namensFriedrich v. Holstein noch nie etwas gehört, was von seinemväterlichen Freund und Gönner schmunzelnd zur Kenntnisgenommen worden war, und er hatte dann gesagt, Kohl müssenoch einiges lernen; Spitzenpolitiker brauchten, genau wie dieInhaber großer Unternehmen, hochintelligente und fleißigeRatgeber, zumal dann, wenn diplomatische Meisterstückegefordert seien. Dabei gab er Kohl augenzwinkernd zu verste-hen, daß Intelligenz, Fleiß und diplomatisches Geschick nichtgerade zu dessen hervorstechenden Eigenschaften zählten.

Wie Konsul Dr. Ries dann die heikle Aufgabe löste, demkünftigen Kanzlerkandidaten des Großen Geldes eine - vonihm und seinen mächtigen Freunden ausgesuchte -»Nummerzwei« schmackhaft zu machen, verdient uneingeschränkteBewunderung und wird im übernächsten Kapitel geschildertwerden.

Doch zunächst ließ Ries seinen Schützling Kohl im unklarendarüber, wen er für ihn als »intellektuelle Stütze« im Augehatte. Er ging statt dessen, so erinnert sich die Zeugin deutlich,zu seinem Lieblingsthema über und lobte die geniale Strategie

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des »Reichsgründers« Bismarck. Man müsse sie den gewandel-ten Verhältnissen und der abermaligen Notwendigkeit wirt-schaftlicher Expansion, diesmal nicht mit militärischen Mit-teln, geschickt anpassen. Ein »Überrollen der Zone bei derersten Gelegenheit« bezeichnete Dr. Ries damals als »durchausmachbar«, und er sah sein aufmerksam lauschendes politischesZiehkind Helmut Kohl bereits als »möglichen Eisernen Kanz-ler dieser neuen ökonomischen Großmacht«.

Was nun diese - heute fast prophetisch anmutenden - Visio-nen des Dr. Fritz Ries zu Beginn der siebziger Jahre angeht, sowaren sie damals bei westdeutschen Industriellen seines Altersund Schlages durchaus keine Seltenheit. Ratgeberwie Dr. Eber-hard Taubert und andere frühere »Ostraum«-Experten bestärk-ten ihre Brotherren fleißig in solchen Wunschträumen, undwas die Bismarck-Schwärmerei des Dr. Ries betraf, so war sieebenfalls in Mode, zumal in konservativen Kreisen und bei »Alten Herren« schlagender Studentenverbindungen.

Warum - das bedarf einer kurzen Erläuterung.

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Kurzer Ausflug in die deutscheGeschichte

Der erste deutsche Reichskanzler der Neuzeit, Otto v. Bis-marck, mit dem Helmut Kohl gern verglichen werden möchte,führt in manchen Geschichtsbüchern den Beinamen »EisernerKanzler«, weil er mit großer Energie und meist im Alleingang,oft gegen die Volksmeinung und die Parlamentsmehrheit, mit-unter auch gegen die Wünsche und Absichten des Staatsober-haupts, seine eigene Politik verfolgte. Diese war darauf gerich-tet, durch eine Reihe von Eroberungskriegen und geschickte

»Vereinnahmungen« das Königreich Preußen, dessen Regie-rungsgeschäfte er von 1862 an führte, zur stärksten Macht inEuropa werden zu lassen.

Dieses Preußen war bis zum Untergang der Hohenzollern-Monarchie im Jahre 1918 ein besonders reaktionärer und milita-ristischer Obrigkeitsstaat, wo adlige Großgrundbesitzer, soge-nannte Junker, zu denen auch Bismarck gehörte, den Ton anga-ben und alle höheren Posten in Staat und Armee besetzt hiel-ten. Bei seinem Eintritt in die Politik machte sich der junge Bis-marck mit der Feststellung bekannt: »Ich bin ein Junker undwill meinen Vorteil davon haben!« Indessen war er, trotz dieserArroganz, sehr intelligent und weit gebildeter als die allermei-sten seiner Standesgenossen.

Für das Abgeordnetenhaus des Junkerstaats Preußen, demer angehörte, galt - bis 1918! - ein Dreiklassenwahlrecht. ZweiDrittel aller Erwachsenen durften ohnehin nicht wählen, weilsie entweder Frauen oder unter 25 oder Empfänger öffentlicherBeihilfen waren oder keinem eigenen Haushalt vorstanden.Das übrige Drittel war in drei Klassen eingeteilt: Die wenigenHöchstbesteuerten, die mittleren Steuerklassen und die Masseder Niedrigstbesteuerten wählten jeweils die gleiche Anzahlvon Wahlmännern, die ihrerseits gemeinsam den Abgeordne-ten des Bezirks bestimmten. Damit war garantiert, daß die Rei-

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chen und Wohlhabenden immer das Sagen hatten, der breiteMittelstand unterlegen blieb und die Masse des Volkes gar kein- nen Einfluß auf die Zusammensetzung des Parlaments aus-üben konnte.

Trotz dieser völlig undemokratischen Verhältnisse vermoch-te Bismarck, als er 1862 preußischer Ministerpräsident gewor-den war, in den ersten vier Jahren seiner Amtszeit nur gegendas Parlament und an diesem vorbei zu regieren, weil auch denwohlhabenden Bürgern Preußens seine auf Krieg gerichtetePolitik und die enormen Rüstungsausgaben verhaßt waren.Erst als Bismarck ihnen durch umfangreiche Eroberungen denersehnten größeren Markt und stark vermehrten Profit be-schert hatte, waren auch die - meist nationalliberalen - Besitz-bürger von ihm begeistert.

Durch drei Angriffskriege - 1864 im Bündnis mit Österreichgegen das kleine Dänemark, 1866 gegen den Deutschen Bundund dessen Vormacht Österreich, 1870/71 gegen Frankreich -verwirklichte Bismarck seine kühnen Pläne, und man nanntedies (und nennt es wohl noch heute) sein »Einigungswerk«.Dabei hatte er in Wahrheit keineswegs alle Deutschen in einemNationalstaat vereinigt, vielmehr rund ein Fünftel aller Deut-schen Mitteleuropas ausgesperrt! Die über zehn MillionenDeutschösterreicher von Nordböhmen bis Südtirol waren alsgeschlagene »Feinde« nicht in das 1871 gegründete DeutscheReich aufgenommen worden. Dafür zählte das Bismarck-Reichunter seinen damals 42 Millionen Einwohnern über vier Millio-nen Nichtdeutsche, darunter knapp drei Millionen »Mußpreu-ßen« polnischer Muttersprache, je rund 150 000 Litauer, Masu-ren und Kaschuben, knapp 200000 Dänen sowie annähernd300 000 Franzosen und Wallonen. Sie waren durch Eroberun-gen preußische Untertanen geworden oder lebten im annek-tierten, von Preußen beherrschten »Reichsland« Elsaß-Lothrin-gen. Überhaupt war das von Bismarck geschaffene DeutscheReich in Wahrheit nur ein vom stark vergrößerten Preußen be-herrschtes Wirtschaftsgebiet, dessen nichtpreußische Teile einegewisse Scheinsouveränität genossen. Die Bezeichnung »Deut-sches Reich« war eine geschickte Täuschung, weil das mittel-europäische Reich des Mittelalters, das in der Neuzeit zerschla-

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gen worden und 1806 auch formal untergegangen war, einegänzlich andere Struktur und Bedeutung, auch keine wirklicheZentralgewalt, keine ständige Hauptstadt, zudem fließendeGrenzen gehabt hatte; und weder zum Reich noch zum Deut-schen Bund, der von 1815 bis 1866 bestanden hatte, war daseigentliche Preußen je gerechnet worden.

Mit dem »Blitzkrieg« Preußens gegen den Deutschen Bundhatte Bismarck diesen zerschlagen, Österreich in Deutschlandentmachtet und daraus verdrängt, Preußen aber stark vergrö-ßert - um Schleswig-Holstein, das Königreich Hannover, Hes-sen-Kassel, Hessen-Nassau und die Reichsstadt Frankfurt amMain -, so daß dieser von ihm regierte Hohenzollernstaat, dersich einige Jahrzehnte zuvor schon halb Sachsen und dasRheinland einverleibt hatte, nun zu einer Mitteleuropa beherr-schenden Macht geworden war. Mit dem nächsten Schlag - 1870gegen Frankreich - wurde Preußen-Deutschland zur stärkstenMacht auf dem Kontinent, vereinnahmte Lothringen und dasElsaß, gründete das - nun von Berlin aus regierte - DeutscheReich und gliederte diesem zur Verstärkung des preußischenÜbergewichts Ost- und Westpreußen sowie das Großherzog-tum Posen an.

Noch 23 Jahre zuvor, nach der Märzrevolution von 1848, warder damalige Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. unter demDruck der demokratischen Erhebung der Berliner zu der Erklä-rung gezwungen gewesen: »Preußen geht fortan in Deutsch-land auf!« Das hatte dem Wunsch der großen Mehrheit entspro-chen, die ein demokratisches, im Frieden mit den Nachbarnlebendes Deutschland ohne Fürsten und Kleinstaaterei gefor-dert hatte.

Aber die demokratische Revolution war dann von preußi-schem Militär niedergewalzt worden - unter dem Befehl jenesPrinzen Wilhelm, den Bismarck 1871 zum Deutschen Kaiserproklamieren ließ, als es ihm gelungen war, Deutschland inPreußen aufgehen zu lassen - unter Fortbestand der Adelspri-vilegien und der Scheinsouveränität von 26 deutschen Klein-staaten.

Dieses von Bismarck geschaffene und dann noch fast zweiJahrzehnte lang regierte Hohenzollernreich erfüllte die Wün-

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sche der Industrie und des Handels, war aber nach obrigkeits-staatlichen, autoritären, gänzlich undemokratischen Grundsät-zen aufgebaut. Adel, Militär und im Bunde mit diesen die Her-ren der sich stürmisch entwickelnden Industrie gaben den Tonan. Die immer stärker werdende Opposition der ausgebeutetenIndustriearbeiterschaft versuchte Bismarck durch die »Soziali-stengesetze« mundtot zu machen und die Sozialdemokratiesamt ihren Gewerkschaften zu zerschlagen - vergeblich, dennbeide wurden noch um vieles stärker. Deshalb wurde dieArmee abermals vermehrt, denn sie sollte auch den »innerenFeind« in Schach halten.

Erfolgreich war Bismarck hingegen mit seiner Diplomatie.Sie war darauf gerichtet, sein »Deutsches Reich« genanntesGroßpreußen zu festigen und das Risiko weiterer Kriege zu ver-meiden. Diese kluge Zurückhaltung wurde nach BismarcksSturz im Jahre 1890 schon bald aufgegeben. Kaiser, Generalitätund Großkapital drängten auf weitere Machtausdehnung, Siewollten die Vorherrschaft, nicht allein auf dem europäischenKontinent, sondern auch auf den Meeren. Dem unausweichli-chen Konflikt mit allen anderen Großmächten, den dieses Stre-ben nach Weltherrschaft heraufbeschwor, sah die deutscheFührung siegesgewiß entgegen.

Indessen endete der Erste Weltkrieg 1918 mit der militäri-schen Niederlage Deutschlands und dem Zusammenbruch derHohenzollern-Monarchie. Im selben Spiegelsaal des VersaillerSchlosses, wo das Bismarck-Reich gegründet worden war,wurde 47 Jahre später dessen Untergang besiegelt und Deutsch-land auf die Grenzen zurechtgestutzt, die dann bis 1937 galten.

Die Kriegstreiber von 1914 und die konservative deutscheRechte wollten sich jedoch weder mit diesen »unrechtmäßigen«Grenzen noch mit den übrigen Folgen der militärischen Nie-derlage von 1918 abfinden. Deutschlands Abrüstung und dieHerstellung demokratischer und sozial gerechterer Verhält-nisse waren ihnen ein Greuel. Die Herren des Großen Geldes,zumal die der Rüstungsindustrie, im Bunde mit den Militärsund den um ihre verlorenen Privilegien trauernden preußi-schen Junkern betrieben fortan den Sturz der Republik. Siefinanzierten rechte und ultrarechte Kampforganisationen vom

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»Stahlhelm« bis zur SAund SS, schufen einen deutschnationa-len, Presse und Filmindustrie weitgehend beherrschenden Pro-pagandaapparat und nutzten die Weltwirtschaftskrise, die inDeutschland 1931/32 ihren Höhepunkt erreichte, der durchMassenarbeitslosigkeit und Elend geschwächten Republiknach nur vierzehn Jahren ihres Bestehens den Garaus zumachen.

Die Nazi-Diktatur, die sie Anfang 1933 errichteten unddurch rechtskonservative Fachleute ihres Vertrauens unterKontrolle zu halten hofften, war aber von noch kürzerer Dauer.Anfangs erfüllten die Nazis zwar die vom Großen Geld in siegesetzten Erwartungen: Sie zerschlugen sofort und mit äußer-ster Brutalität die Gewerkschaften und die miteinander verfein-deten Linksparteien, beseitigten die Tarifautonomie, dieBetriebsräte, das Streikrecht und begannen sogleich mit massi-ver Aufrüstung. Auch der Krieg, den Hitler 1939 vom Zaunbrach, brachte anfangs die erhofften Eroberungen und Ausbeu-tungsmöglichkeiten. Aber er endete, wie nicht anders zu erwar-ten gewesen war, nach sechs Jahren des Grauens und der Ver-wüstung großer Teile Europas mit der vollständigen militäri-schen Niederlage Deutschlands und dem Untergang der Nazi-Diktatur in Schutt und Schande.

45 Jahre lang war das übriggebliebene Deutschland erst invier Besatzungszonen, dann in zwei selbständige, jahrzehnte-lang keine Beziehungen zueinander unterhaltende Staaten auf-geteilt, die entgegengesetzten gesellschaftlichen und politi-schen Systemen angehörten.

Konrad Adenauer, erster Bundeskanzler von 1949 bis 1963,zog aus den Gegebenheiten politische Konsequenzen, die sei-ner Herkunft, Erfahrung und Grundeinstellung entsprachen.Er wurzelte noch im 19. Jahrhundert und hatte die ersten 42Jahre seines Lebens unter dem autoritären Regime des wilhel-minischen Kaiserreichs verbracht. Er war Rheinländer, Katho-lik, Mitglied der katholischen Zentrumspartei, wo er dem eherrechten Flügel angehörte, der im Sozialismus den Erzfeind, imFaschismus einen möglichen Verbündeten sah. 1929, als Mus-solini, der den italienischen Arbeiterführer Giacomo Mateottikurz zuvor hatte ermorden lassen, seinen Frieden mit dem

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Vatikan machte, telegrafierte ihm Adenauer, damals KölnerOberbürgermeister: »Der Name Mussolini wird in goldenen Buch- staben in die Geschichte der katholischen Kirche eingetragen!«1919, nach dem Untergang der Hohenzollern-Monarchie, hatteAdenauer schon mit dem Gedanken geliebäugelt, Westdeutsch-land vom sozialistisch regierten Reich abzuspalten und es alsstarken Partner in eine katholisch-konservative Wirtschafts-union der westlichen Nachbarn Belgien, Luxemburg undFrankreich einzubringen. 1945 nahm er diese Pläne sogleichwieder auf.

»Nach meiner Ansicht«, erklärte Adenauer am 5. Oktober1945, »sollten die Westmächte die drei Zonen, die sie besetzt hal-ten, tunlichst in einem rechtsstaatlichen Verhältnis zueinanderbelassen. Das Beste wäre, wenn die Russen nicht mittun wollen,sofort wenigstens aus den drei westlichen Zonen einen Bundes-staat zu bilden.« Es konnte ihm also mit der Teilung Deutsch-lands gar nicht schnell genug gehen, und er fügte dann nochhinzu: »Um aber den Sicherheitswünschen Frankreichs gegenübereinem solchen westdeutschen Bundesstaat zu genügen, müßteman die Wirtschaft dieses westdeutschen Gebiets mit der Frank-reichs und Belgiens so eng wie möglich verflechten.«

Es war indessen nicht allein Adenauers Sympathie für einenges Bündnis mit den katholischen Nachbarn oder seine tiefeAbneigung gegen alles auch nur entfernt Sozialistische, die ihnauf eine Spaltung Restdeutschlands in einen kapitalistischenWeststaat und einen den Sowjets überlassenen Oststaat hinar-beiten ließ. Vielmehr war er auch, obwohl zwölf Jahre lang Prä-sident des Preußischen Staatsrats der Weimarer Republik, einentschiedener Gegner Preußens.

»Wir im Westen lehnen vieles, was gemeinhin >preußischerGeist< genannt wird, ab« so hatte er in der »Welt«, vom 30. No-vember 1946 erklärt. »Ich glaube, daß die deutsche Hauptstadteher im Südwesten liegen soll als im weit östlich gelegenen Ber-lin . . . Sobald aber Berlin wieder Hauptstadt wird, wird das Miß-trauen im Ausland unauslöschlich werden. Wer Berlin zur neuenHauptstadt macht, schafft geistig ein neues Preußen.« Schon frü-her hatte Adenauer Berlin eine »heidnische Stadt« genannt,Preußen als »Anfang Asiens« bezeichnet. Die Schaffung der

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Bundesrepublik mit dem linksrheinischen, bürgerlich-konser-vativen und gutkatholischen Bonn als Hauptstadt und die Ent-mündigung der Westberliner in Bundestag und Bundesratwaren ganz nach seinem Herzen und sicherten die Herrschaftseiner Union, denn die Hochburgen des katholischen Zen-trums hatten vor 1933 in Gebieten gelegen, die nun zur BRDgehörten, die der Sozialdemokraten aber überwiegend in dernunmehrigen DDR und in Ostberlin.

Wenn Adenauer als Bundeskanzler dennoch bei jeder Gele-genheit von einer zu erhoffenden und zu erstrebenden »Wie-dervereinigung« sprach und auch »die Grenzen von 1937«forderte, so waren dies notwendige Zugeständnisse an dieGefühle der fast zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen,die sich in den ersten zehn Jahren in Westdeutschland fremdund benachteiligt fühlten und damals noch auf eine baldigeRückkehr in die frühere Heimat hofften. Aber seine tatsächli-che Politik war keineswegs auf eine Wiedervereinigung ausge-richtet, vielmehr auf die rasche und alle Bereiche umfassendeIntegration der BRD in das westliche Bündnis, die er ja auchmit erstaunlichem Erfolg betrieb, wogegen er jeden Vorschlagvon östlicher Seite, die Einheit Deutschlands wiederherzustel-len, dafür auf Aufrüstung, NATO-Mitgliedschaft und Stationie-rung von Atomwaffen zu verzichten, als »kommunistischesBlendwerk« energisch zurückwies, auch Viermächtegarantienfür ein neutralisiertes Gesamtdeutschland (nach dem MusterÖsterreichs) als »Firlefanz« abtat.

Unter Adenauer wurde Anfang der fünfziger Jahre die soge-nannte Hallstein-Doktrin entwickelt. Sie beruhte auf demAnspruch der Bundesrepublik, allein die Rechtsnachfolge desuntergegangenen Deutschen Reiches angetreten zu haben unddie Interessen aller Deutschen zu vertreten. Die DDR war die-ser Doktrin zufolge »nichtexistent«, also staatsrechtlich garnicht vorhanden.

Dieser Unfug, der auch keinerlei Kontakte auf Regierungs-ebene zwischen Bonn und Ostberlin zuließ, zementierte dieTeilung Deutschlands und machte es dem stalinistischenRegime Walter Ulbrichts leicht, ja überhaupt erst möglich, sichvöllig abzukapseln und einzumauern, immer unter Hinweis

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auf die kompromißlos feindselige Haltung Bonns, die wach-sende militärische Bedrohung durch die Bundesrepublik unddie Notwendigkeit, sich gegen die westdeutsche Propagandaund Agentenflut zu schützen. Erst durch Willy Brandt, denersten sozialdemokratischen Kanzler, wurde von 1969 an eineneue Ostpolitik gewagt und die Hallstein-Doktrin fallengelas-sen.

Die neue, von der CDU/CSU heftig bekämpfte OstpolitikWilly Brandts mit dem Ziel, die friedensgefährdende Hochrü-stung abzubauen und die innerdeutschen Beziehungen, nichtzuletzt den Reiseverkehr, allmählich zu normalisieren, machtedem Kalten Krieg ein Ende und setzte auf »Wandel durchAnnäherung«.

Diese Hoffnung erfüllte sich im Herbst 1989. Aber es warennun Helmut Kohl, dessen Union und deren freidemokratischeKoalitionspartner, die ernten konnten, was Willy Brandt unddessen politische Freunde nach mühseliger Abtragung der inJahrzehnten des Kalten Krieges angehäuften Hindernissegesät hatten. Kohl, ohne eigenes Zutun plötzlich zum »Kanzlerder deutschen Einheit« aufgestiegen, nutzte seine Chance.Nachdem sich die DDR aus eigener Kraft vom Honecker-Regime befreit hatte, versprach Kohl deren Bürgerinnen undBürgern goldene Berge, »blühende Landschaften« und gren-zenlose Konsumfreiheit, und tatsächlich gelang ihm so derkaum noch erhoffte Wahlsieg im Dezember 1990.

Seither haben die Menschen im »Beitrittsgebiet« der neuenBundesländer erfahren, was es heißt, brutal und rücksichtslosvereinnahmt und dem »freien Spiel der Kräfte« ausgeliefert zuwerden. Sie konnten nicht ahnen, daß es Helmut Kohl und sei-ner Regierungskoalition nur darum ging (und noch geht), auchöstlich der Elbe jene Umverteilung von unten nach ganz obendurchzuführen, die in Westdeutschland schon seit Jahren imGange war. Dieser Prozeß, der keinerlei Rücksicht auf die so-zial Schwachen zuläßt, dient allein den Interessen der Super-reichen.

Denn dafür wurde Helmut Kohl von Konsul Dr. Ries, derihn von der Schulbank an gefördert und ihm später umfangrei-che Hilfe bei seinem politischen Aufstieg verschafft hatte, im

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Auftrag der Herren des Großen Geldes auserwählt. Dafürwurde Kohl an die Spitze der CDU gehievt und mit einem klu-gen Ratgeber versehen, der ihn ins Kanzleramt begleiten undKohls Mängel, zumal die an Intelligenz und Takt, ausgleichensollte.

Nachdem -- wie bereits geschildert - Rainer Barzels CDU-Chefsessel für Helmut Kohl mit Hilfe von viel Flick-Geld »frei-gefächelt« worden war, hatte Dr. Ries 1972173 die delikate Auf-gabe, den künftigen Ratgeber behutsam auf dieses Amt vorzu-bereiten, seinen Schützling Helmut Kohl auf die für ihn auser-sehene »Nummer zwei« einzustimmen und beide unter seineFittiche zu nehmen.

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Mittelfristige Planung einesKanzlerwechsels

Zum besseren Verständnis vorausgeschickt: Im Juli 1976 - nur13 Monate vor der Entführung und schließlichen ErmordungDr. Hanns Martin Schleyers durch RAF-Terroristen - hatte derAutor dieses Schwarzbuchs ein längeres Gespräch mit diesem»Boß der Bosse«, der damals Vorstandsmitglied der Daimler-Benz AG, Präsident der Bundesvereinigung der DeutschenArbeitgeberverbände (BDA) und Vertrauensmann der Flick-Gruppe war, bald darauf auch noch Präsident des Bundesver-bands der Deutschen Industrie (BDI) wurde. Die Unterhal-tung war auf Wunsch Dr. Schleyers zustande gekommen*.

Bei dem gemeinsamen Mittagessen in einem MünchenerHotel zeigte sich Dr. Schleyer ungewöhnlich offen. Soweit esseine und seiner Freunde politischen Pläne betraf, erklärte er,es sei ein Irrtum zu glauben, Franz Josef Strauß sei ihr Favoritfür das Kanzleramt. »Er hat große Qualitäten«, meinte damalsSchleyer über Strauß, »aber er ist zu unkontrolliert und - zuangreifbar. «

Nun gab es wahrlich Gründe genug, den damaligen CSU-Chef für »zu angreifbar« zu halten: Er stand, wie das Landge-richt München ihm bescheinigt hatte, »im Ruch der Korrup-tion«, und seine Laufbahn war seit den frühen fünfziger Jahren,als er Bundesverteidigungsminister Adenauers wurde, eineKette von Skandalen und Affären. Aber Dr. Schleyer hatte, wiesich dann herausstellte, mit der »Angreifbarkeit« des FJS etwasanderes gemeint und dessen skandalöse Verquickung von poli-tischer Amtsführung und privaten Geschäften unter die Rubrik

»zu unkontrolliert« eingeordnet. Das ergab sich aus einemZusatz, der sinngemäß etwa besagte: Ihm, Schleyer, sei es egal,

* Näheres darüber ist nachzulesen in: Bernt Engelmann, »Großes Bundesver-dienstkreuz mit Stern«, Steidl Verlag, Göttingen 1987.

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daß die Leute nun wüßten, daß er mal SS-Führer gewesen sei;aber er wolle ja nicht Bundeskanzler werden..

Schleyers Bemerkung, Strauß wäre als Kanzler »zu angreif-bar«, hatte sich also auf dessen Nazi-Vergangenheit bezogen,und zwar etwa in der Bedeutung: Als Ministerpräsident in Bay-ern kann ein Mann wie Strauß noch durchgehen, aber nicht alsBundeskanzler in Bonn.

Zur weiteren Klarstellung: Franz Josef Strauß leugnete zeit-lebens seine Nazi-Vergangenheit; er hatte für alles ganz harm-lose Erklärungen: Gewiß, er habe dem NSKK angehört, aberdieses NS-Kraftfahrkorps sei unpolitisch gewesen, er selbst nurMitglied wegen seiner Leidenschaft fürs Motorradfahren; alsStudent habe er einer »Pflichtorganisation«, dem NS Deut-schen Studentenbund (NSDStB) als einfaches Mitglied ange-hört; schließlich sei er gegen Kriegsende »Offizier für wehrgei-stige Führung« gewesen, habe den Soldaten Geschichtsunter-richt erteilt, aber als er dann NSFO, NS-Führungsoffizier,hatte werden sollen, da habe er abgelehnt und sich dem heimli-chen Widerstand angeschlossen.

Tatsächlich ist urkundlich erwiesen, daß es mit alledem eineganz andere Bewandtnis gehabt hat, und Dr. Schleyer wußteaus eigener Erfahrung, daß der NSDStB alles andere war alseine harmlose »Pflichtorganisation«, nämlich die - auf nur5 000 Mitglieder im ganzen Großdeutschen Reich strikt be-grenzte - Kaderschule für den SD, den gefürchteten Sicher-heitsdienst der SS, dem ja auch Dr. Schleyer selbst angehörthatte.

Wenn aber Hanns Martin Schleyer und die ihm nahestehen-den Kreise damals, 1976, von Franz Josef Strauß als Kanzler-kandidat nichts hielten, wen mochten er und seine Freundedann im Auge haben?

Der Autor stellte ihm diese Frage, und überraschenderweiseerwiderte Dr. Schleyer ohne Zögern:»Wir setzen auf das Tandem Kohl/Biedenkopf.«

Professor Kurt Biedenkopf, der 1973 zur allgemeinen Über-raschung Generalsekretär des CDU-Bundesvorstands gewor-den war, galt als »Vordenker« der Union. Im übrigen war er fürdie bundesdeutsche Öffentlichkeit im Wahljahr 1976 noch ein

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unbeschriebenes Blatt. Wer sich über den Professor, der bislangkein Bundestagsmandat gehabt hatte, näher informierenwollte, fand im »Wer ist wer?« folgenden, auf eigenen Angabendes Professors beruhenden Eintrag:

»BIEDENKOPF, Kurt H., Dr. jur. (habil.), LL. M., Professor, geborenam 28. Januar 1930 in Ludwigshafen/Rh. (Vater: Wilhelm Bieden-kopf), verheiratet mit Sabine geb. Wäntig, 4 Kinder. - 1963-71 Lehrtä-tigkeit an der Universität Frankfurt/Main (Privatdozent) und Bochum(Ordinarius seit 1964; von 1967-69 Rektor). 1968ff. Vorsitzender derMitbestimmungskommission der Bundesregierung. 1971ff. Vorstands-mitglied der C. Rudolf Poensgen-Stiftung; 1972ff. Vorsitzender desLandeskuratoriums des Stifterverbands für die deutsche Wissenschaft(Neugründung); seit 1973 Generalsekretär des CDU-Bundesvorstands.- Buchveröffentlichungen: Aktuelle Grundsatzfragen des Kartell-rechts, 1957 (mit Callmann und Deringer); Vertragliche Wettbewerbs-beschränkungen und Wirtschaft, 1958; Unternehmer und Gewerk-schaften im Recht der USA, 1961; Grenzen der Tarifautonomie, 1964;Thesen der Energiepolitik, 1967; Mitbestimmung, Beitrag zur ord-nungspolitischen Diskussion, 1972; Fortschritt in Freiheit, Umrisseeiner politischen Strategie, 1974.«

Diese Angaben waren nicht sehr aufschlußreich. Zunächst lie-ßen sie vermuten, daß es sich bei Professor Biedenkopf umeinen stillen Gelehrten handelte, der im In- und Ausland flei-ßig studiert hatte, um dann eine steile Universitätskarriere ein-zuschlagen. In rascher Folge war er Privatdozent, Ordinariusund sogar Rektor der Bochumer Ruhruniversität geworden,daneben mit zahlreichen Buchveröffentlichungen hervorgetre-ten und in Stifterverbänden aktiv gewesen. Aber dann hatte ihnplötzlich die Politik in Beschlag genommen, und er war, sozusa-gen aus dem Stand, CDU-Generalsekretär geworden.. .

Noch ein weiterer Umstand gab dem Leser der Kurzbiogra-phie Rätsel auf, denn es fehlte darin selbst der kleinste Hinweisauf Herkunft, Schulzeit, Beruf des Vaters und dergleichen.Man konnte vermuten, daß da vielleicht ein schlichtes Proleta-rierkind aus Bescheidenheit oder falscher Scham seinenraschen Aufstieg ein wenig zu verschleiern trachtete.

Indessen war Professor Dr. Kurt H. Biedenkopf beileibe keinsozialer Aufsteiger, vielmehr der Sohn des Dipl. Ing. Wilhelm

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Biedenkopf aus Chemnitz, Jahrgang 1900, der bis zu seiner Pen-sionierung ordentliches Vorstandsmitglied einer Perle unterden zur Flick-Gruppe gehörenden Unternehmen, nämlich der»Dynamit-Nobel AG« in Troisdorf, gewesen war, zuvor techni-scher Direktor, vielfacher Aufsichts- und Beirat, während desZweiten Weltkriegs auch ein - vom »Führer« besonders belo-bigter und belohnter - »Wehrwirtschaftsführer«. Ganz zufälli-gerweise war Vater Wilhelm Biedenkopf zuletzt auch Mitglieddes Beirats jenes Unternehmens in Bergisch-Gladbach, daswesentlich zu den Gewinnen des »Pegulan«-Konzerns beigetra-gen hatte und an dem Frau Marianne Strauß, die Gattin desCSU-Chefs, von Konsul Dr. Ries hochherzigerweise mitzuletzt etwa 16 Prozent beteiligt worden war.

Ein weiterer Zufall: Sohn Kurt, der spätere CDU-General-sekretär, war während eines beruflich bedingten Aufenthaltsseines Vaters, als die BASF dessen Dienste in Anspruchgenommen hatte, anno 1930 in Ludwigshafen/Rh. zur Weltgekommen, genau wie Helmut Kohl, und mit diesem hatte erauch gemeinsam die Volksschule besucht.

Dann aber hatten sich ihre Wege getrennt: Der aus unbemit-telter Beamtenfamilie stammende Helmut Kohl mußte sich,wie wir bereits wissen, recht mühsam nach oben hangeln, unddabei spielte sein Förderer Dr. Ries eine wichtige Rolle; KurtBiedenkopf hingegen hatte in den USA politische Wissenschaf-ten, in München und Frankfurt Jura und Volkswirtschaft stu-diert, zum Doktor der Rechte und zum Master of Law promo-viert, sich mit einer Arbeit über »Die Grenzen der Tarifautono-mie« habilitiert (und damit zugleich die Aufmerksamkeit derKonzernherren und des Arbeitgeberverbands erregt) und war1967 jüngster Rektor der Bundesrepublik in Bochum geworden.In den folgenden Jahren hatte er sich gesellschafts- und wirt-schaftspolitisch zu profilieren begonnen. »In seinem BekenntnisZU einer funktionsfähigen Marktwirtschaft mit Wettbewerb undPrivateigentum«, schrieb damals »Der Spiegel« über ihn, »läßt ersich von niemandem überbieten.«

Weithin bekannt geworden war der Professor aber erst 1968,als ihn Bundeskanzler Kiesinger mit der Leitung einer Kommis-sion beauftragte, die für die Bundesregierung die Frage der

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betrieblichen Mitbestimmung der Arbeitnehmer untersuchensollte. Diese »Biedenkopf-Kommission«, wie sie dann genanntwurde, rang sich zwar zu einer Würdigung der gut funktionie-renden paritätischen Mitbestimmung in der Montanindustriedurch, entschied sich aber gegen die Ausdehnung diesesModells auf die gesamte Wirtschaft, wie es Gewerkschaften,SPD und CDU-Sozialausschüsse gefordert, die Unternehmerjedoch als »ruinös für die Wirtschaft« abgelehnt hatten. Seithergilt Biedenkopf«, so damals »Der Spiegel«, »den Gewerkschaften,aber auch den parteieigenen CDU-Sozialausschüssen als über-zeugter Unternehmerfreund, der jede Demokratisierung der Wirt-schaft zu bekämpfen suche.« Umgekehrt fand nun einer dergrößten bundesdeutschen Konzerne, die Henkel-Gruppe, daßdieser so unternehmerfreundliche Professor genau der richtigeMann für sein Topmanagement sei. Anfang 1971 konnte Bie-denkopf seine akademische Laufbahn vorerst beenden undGeschäftsführer der Henkel GmbH werden. Von diesem Kom-mandoposten des nicht nur im Waschmittelbereich führendenChemie-Riesen, dessen Eigentümer als Großaktionäre desDEGUSSA-Konzerns und der NUKEM-Reaktorbau-Holding*beträchtlichen Einfluß auf die Wirtschaft und die Politik derBundesrepublik ausüben, ließ sich Professor Biedenkopf zwei-einhalb Jahre später weglocken und übernahm den Posten desGeneralsekretärs der in die Opposition verbannten CDU.

Niemand, vermutlich nicht einmal Kurt Biedenkopf selbst,wird mit Bestimmtheit sagen können, wer oder was den Profes-sor dazu bewogen hat, sich von der sicheren Kommandobrücke

* Die NUKEM GmbH in Hanau gehört zu 35 Prozent der DEGUSSA, derenGroßaktionär die Familie Henkel (»Persil« usw.) ist. Die NUKEM GmbH istihrerseits mit 40 Prozent des Kapitals an der ALKEM GmbH, Hanau, betei-ligt. Der Geschäftsführer dieser Brennelementefabrik, Dr. Alexander Warri-koff, seit 1963 CDU-Bundestagsabgeordneter, sowie vier weitere ALKEM-Manager wurden im Sommer 1986 von der Staatsanwaltschaft beschuldigt,»wesentliche technische Änderungen im Produktionsablauf ohne atomrecht-liche Genehmigungsverfahren vorgenommen und damit die Sicherheit derAnlage verringert zu haben«. Für Warrikoff fanden sich dann andere Verwen-dungsmöglichkeiten: Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Wirtschafts-verbandes Kernbrennstoff-Kreislauf, Vorsitzender des Verwaltungsrates derNVD -Nukleare Versicherungsdienst GmbH, Bundesvorstandsmitglied desCDU-Wirtschaftsrates.

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des Henkel-Konzerns in die Wogen der Politik zu stürzen. Ver-bürgt ist jedoch, daß Konsul Dr. Fritz Ries dem Wunsch seinerGäste auf Schloß Pichlarn und inbesondere dem seines altenFreundes Hanns Martin Schleyer, doch einen »Intelligenzbol-zen« zu finden, der bereit und imstande wäre, Helmut Kohlsdeutliche Mängel auszugleichen, sowie beide auf ihre gemein-same Rolle »einzustimmen«, mit Eifer und Geschick nachge-kommen ist.

Vom Herbst 1972 an organisierte Dr. Ries auf seiner steier-märkischen Besitzung sogenannte »Pichlarner TopmanagerGipfeltreffen«, die sich bald großer Beliebtheit erfreuten.Denn die zur Ries-Besitzung gehörende Prominentenherberge»Schloßhotel Pichlarn« eignete sich vorzüglich dazu, das Ange-nehme mit dem Nützlichen zu verbinden.

Nützlich waren die Bekanntschaften, die man dort machenkonnte, denn zu den Pichlarner Gästen gehörten Politiker,Industriekapitäne, Bankiers, Prälaten und Militärs; nützlichwaren auch die Vorträge, die man dort hören konnte, und dieanschließenden Diskussionen, und nützlich war schließlichauch die Möglichkeit, die Pichlarn bot, sich im Fitness-Zen-trum, in der Schwimmhalle, beim Golfspiel, zu Pferde oder imJagdrevier vom Streß des Alltags zu erholen und die überflüssi-gen Pfunde wegzutrimmen. Angenehm waren die schöne Um-gebung, die gepflegte Gastronomie und nicht zuletzt die rei-zende Betreuung, teils durch attraktive Hostessen, teils durchdie nicht minder liebenswürdigen Töchter des Hauses.

Kein Wunder also, daß auch Professor Kurt Biedenkopf gernder Einladung folgte, an solchen »Pichlarner Topmanager-Gip-feltreffen« teilzunehmen, und da er - wie man der steiermärki-schen »Süd-Ost-Tagespost« damals entnehmen konnte - dermit Abstand »prominenteste ausländische Teilnehmer und Vor-tragende« dieser Veranstaltungen war, ist es leicht begreiflich,daß ihm die ganz besondere Fürsorge des Schloßherrn Dr. Riesund seiner bei diesen Treffen stets anwesenden Tochter IngridKuhbier galt. Beide ließen es sich nicht nehmen, Professor Bie-denkopf nicht nur als bloßen Dozenten, prominenten Teilneh-mer der »Gipfeltreffen« und Hotelgast zu behandeln, sondernvielmehr als einen engen Freund der Familie.

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In der Folgezeit - Kurt Biedenkopf war nun schon General-sekretär der CDU geworden - vertieften sich diese Beziehun-gen noch. Man besuchte sich häufiger, man telefonierte vielmiteinander, und für die Zeit nach der Bundestagswahl 1976wurden in Pichlarn, Frankenthal und Bonn gewisse Überra-schungen erwartet, die des rührigen Konsuls Ansehen und Ein-flußmöglichkeiten weiter vermehren würden.

Es dauerte jedoch bis 1980, die Wahlen des Herbstes 1976brachten der von Helmut Kohl als Kanzlerkandidat, von KurtBiedenkopf als CDU-Generalsekretär geführten Union nichtden erhofften Wahlsieg, und sowohl Konsul Dr. Ries als auchHanns Martin Schleyer weilten schon nicht mehr unter denLebenden, bis die Beziehungen Biedenkopfs zur Ries-TochterIngrid, nunmehr geschiedener Kuhbier, auch standesamtlichbeurkundet wurden. Professor Biedenkopf, inzwischen eben-falls geschieden von seiner Ehefrau Sabine, die ihm vier Kindergeboren hatte, heiratete also die mit ihm schon so langebefreundete Ries-Tochter (und Mitgesellschafterin von FrauMarianne Strauß bei der »Dyna-Plastik« und anderen »Pegu- lan«-Konzerntöchtern). In damaligen Ausgaben des Prominen-ten-Lexikons »Wer ist wer?« verschwieg Kurt Biedenkopf aller-dings (und verschweigt noch immer), daß seine zweite Ehefrauebenfalls geschieden und eine Tochter des verstorbenen Kon-suls Dr. Ries ist. Dort lautete der auf eigenen Angaben beru-hende Eintrag: » . . . verheiratet in 2. Ehe mit Ingrid geborenerKuhbier.« wo es doch richtig heißen müßte: ». . . mit Ingridgeb. Ries gesch. Kuhbier. »Ob er sich nun seiner neuen fami-liären Beziehungen zu dem toten Industriellen schämte, dereinen bedeutenden Teil seines Vermögens der Ausbeutung vonZwangsarbeitern in und um Auschwitz und Lodz zu verdankenhatte, oder ob es ihm für einen prominenten Christdemokratenunschicklich erschien, allzu viele Scheidungen bekannt werdenzu lassen, bleibt Kurt Biedenkopfs Geheimnis.

Nach Auskunft des Testamentsvollstreckers des 1977 verstor-benen Konsuls Dr. Fritz Ries sind heute weder Frau Ingrid Bie-denkopf geborene Ries oder deren Geschwisternoch die Erbender tödlich verunglückten Frau Marianne Strauß am »Pegulan«- Konzern oder dessen Tochterfirmen beteiligt; die »Pegulan

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AG« gehört heute mehrheitlich der bundesdeutschen Holding-gesellschaft der British American Tobacco Co (BAT). BesagterTestamentsvollstrecker ist übrigens der Münchener Fachanwaltfür Steuerrecht, langjährige CSU-Bundestagsabgeordnete (seit1969, ohne eigenen Wahlkreis, aber mit stets sicherem Listen-platz) und heutige GEMA-Chef Professor Dr. Reinhold Kreile(zeitweilig Mitglied des CSU-Parteivorstands und -Präsidi-ums), der bis zum Verkauf des bundesdeutschen Flick-Imperi-ums auch der Aufsichtsratsvorsitzende der Konzern-Holding-gesellschaft, der »Friedrich Flick Industrieverwaltung Kom-manditgesellschaft auf Aktien« in Düsseldorf, war.

Und damit schließt sich nun der Kreis. Denn es war der Per-sonalchef der Daimler-Benz AG (damaliger Hauptaktionär:Flick), zugleich BDI- und BDA-Präsident, Dr. Hanns MartinSchleyer, der seinen alten Freund und Bundesbruder, KonsulDr. Fritz Ries, 1972, nach den vergeblichen Versuchen, WillyBrandt durch ein konstruktives Mißtrauensvotum zu stürzen,in die Pläne einweihte, wie der zweite Versuch einer »Wende«gestartet werden sollte:

Der glücklose Barzel mußte Kanzlerkandidatur und CDU-Parteivorsitz aufgeben, bekam zum Trost viel Geld, größten-teils von Flick, dazu das Großkreuz des Verdienstordens derBundesrepublik (später auch noch einen Ministersessel undsogar das Amt des Bundestagspräsidenten - bis die Flick-Zah-lungen ruchbar wurden und er zurücktreten mußte); statt Rai-ner Barzel sollte Helmut Kohl antreten, aber nicht allein, son-dern auf dem »Tandem« mit Biedenkopf. Dabei war dem»Schwarzen Riesen« Kohl, von dessen Planungs- und Lenkfä-higkeiten auch die Herren des Großen Geldes nicht so rechtüberzeugt waren, die Rolle des sich abstrampelnden und dabeiimmer fröhlich lächelnden Lieferanten der Antriebskraft zuge-dacht, hingegen dem unternehmerfreundlichen und konzern-verbundenen »Intelligenzbolzen« Biedenkopf die Rolle desStrategen und Steuermanns.

Das »Tandem«-Team verfehlte aber 1976 das Wahlziel undzerstritt sich auf der Oppositionsbank bei gegenseitigen Schuld-zuweisungen. Als Helmut Kohl 1982 im dritten Anlauf und wie-derum durch ein-nun knapp gewonnenes -konstruktives Miß-

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trauensvotum Helmut Schmidt (SPD) stürzen und - endlich! -im Kanzleramt ablösen konnte, vollzog er, was er vollmundigeine »geistig-moralische Wende« nannte, ohne Biedenkopf -der von 1990 an als Gastprofessor in Leipzig die Studenten dieMarktwirtschaft (und das Fürchten) lehrte und heute Minister-präsident von Sachsen ist.

Die Erfinder und Bastler des »Tandems«, Ries und Schleyerstarben 1977. Den Nachlaß des Kohl-Entdeckers, MarianneStrauß-Partners und Biedenkopf-Schwiegervaters Ries (undauch den von Marianne Strauß, die tödlich verunglückte) aberregelte dann wieder der Ranghöchste im Flick-Aufsichtsrat -was die Frage aufwirft, ob es in deutschen Landen seit demErsten Weltkrieg überhaupt irgend etwas in Politik und Wirt-schaft Bedeutsames gegeben hat oder gibt, worauf das HausFlick nicht auf die eine oder andere Weise Einfluß genommenhat.

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Flick - Musterbeispiel fürden Mißbrauch wirtschaftlicherMacht

Natürlich sind sehr reiche Leute daran interessiert, daß die poli-tischen Entscheidungen ihnen nicht schaden, sondern nützen,daß sie ihre Macht erhalten und ihren Profit mehren, beidesnicht einschränken oder gar beseitigen. Deshalb versuchen sie,auf die politischen Entscheidungsprozesse Einfluß zu nehmen,teils indirekt, beispielsweise über die von ihnen beherrschtenMedien, teils direkt und mit dem ihnen vertrautesten Mittel:mit viel Geld, das sie den Parteien und Politikern spenden, vondenen sie sich die beste Vertretung ihrer eigenen Interessenversprechen.

Die Grenzen zwischen legitimer Interessenwahrung undmißbräuchlicher oder gar gesetzwidriger Ausübung wirtschaft-licher Macht sind fließend. Die moralische Beurteilung dessen,was noch als statthaft gelten kann und was nicht, wird in derRegel strenger ausfallen als die juristische Wertung, die anGesetze gebunden ist, und diese werden ja von Politikern for-muliert und beschlossen, die nicht nur gewählte Volksvertretersind, sondern auch häufig den Einflüssen der wirtschaftlichMächtigen unterliegen.

Dies vorausgeschickt, wollen wir uns nun mit einem Super-reichen beschäftigen, der sechs Jahrzehnte lang starken Ein-fluß auf die deutsche Politik genommen hat. Er hat in der Poli-tik stets nur ein Mittel zur Erhaltung der gesellschaftlichenMachtverhältnisse und zur Vergrößerung des eigenen Profitsgesehen. Noch heute, über seinen Tod hinaus, beeinflußt dasGeld, das er zu Lebzeiten in Politiker und Parteien investierte,in erheblichem Maße die Bonner Szene und von dort aus dasgesamte politische Geschehen in Deutschland. Der Name die-ses Superreichen, Friedrich Flick, ist zugleich zum Synonymfür den Mißbrauch wirtschaftlicher Macht geworden.

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Friedrich Flick kam 1883 in Ernsdorf bei Siegen als Holz-händlersohn zur Welt. Mit dem Zeugnis der mittleren Reifeund dem Kaufmannsdiplom begann er 1906 als Prokurist derBremer Hütte in Geisweid seine Karriere. 1913, gerade 30 Jahrealt, wurde er Direktor der »Eisenindustrie zu Menden undSchwerte«. 1915, im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs, wech-selte der zwar wehrpflichtige und kerngesunde, 1,80 Meterlange Direktor Flick, der aber als »unabkömmlich«, vom Militär-dienst befreit war, in den Vorstand der Charlottenhütte zu Nie-derschelden und wurde 1917 deren Generaldirektor.

Mit eigenen Ersparnissen und Bankkrediten verschaffte ersich bis 1918 die Mehrheit der Anteile an der Charlottenhütte,die am Krieg glänzend verdient hatte. Er nutzte diese Gewinnezu Modernisierungen, zum Ankauf kleinerer Unternehmensowie zur Anlage riesiger Reserven an Schrott, der im Kriegespottbillig zu haben war. Auch sparte er Steuern, indem er ins-gesamt 17 Millionen Mark Kriegsanleihe zeichnete. Genauzwei Tage vor Waffenstillstand, als jedem klar wurde, daßDeutschland den Krieg verloren hatte, verkaufte Flick diegesamte von seiner Charlottenhütte gezeichnete Kriegsan-leihe, die dann wertlos wurde, zu noch günstigem Kurs underwarb mit dem Erlös Aktien oberschlesischer Zechen. Erkonnte also mit dem Verlauf des Ersten Weltkriegs, bei dem diemeisten schwerste Opfer hatten bringen müssen, für sich per-sönlich sehr zufrieden sein.

In den folgenden Jahren der totalen Geldentwertung setzteFlickjede Mark, die er einnahm oder sichvon den Banken nochborgen konnte, sofort in Sachwerte um, tilgte dann seine Schul-den mit völlig wertlosem Bargeld, rückte aber die heißbegehr-ten, staatlich subventionierten Erzeugnisse seiner Betriebe nurnoch gegen Devisen, Rohstoffe oder Aktien heraus. 1924, alsdie deutsche Inflation endete, zählte er zu deren großenGewinnern. Er war 41 Jahre alt und bereits ein Industriemagnatmit einigen hundert Millionen Mark neuer, stabiler Währungund weitgestreutem Konzernbesitz.

1925/26 geriet die deutsche Stahlindustrie in eine Absatz-krise und mußte sich in Notgemeinschaften zusammenschlie-ßen. Der wichtigste Zusammenschluß war die »Vereinigte

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Stahlwerke AG«, kurz »Stahlverein« genannt, zu dem sichThyssen, Rheinstahl, Phoenix und auch Flick zusammenfan-den. Für die Einbringung aller »Charlottenhütte«-Betriebebekam Flick 20 Prozent der Stahlvereins-Aktien, und damitgehörte ihm genau ein Fünftel des neuen Konzerns, der seiner-seits fast die Hälfte der gesamten Stahlerzeugung und rund einDrittel der Kohleförderung des Deutschen Reiches be-herrschte.

Noch erstaunlicher war, was folgte: Knapp vier Jahre später,mitten in der Weltwirtschaftskrise, die fast 10 Millionen Deut-sche arbeitslos machte, gehörte Flick plötzlich die Mehrheitdes »Stahlverein«-Kapitals, ohne daß er auch nur eine Markzusätzlich investiert hätte! Er hatte sich dazu eines Tricksbedient, der im Grunde ganz simpel war:

Die Mehrheit der »Stahlverein«-Aktien war im Besitz der»Gelsenkirchener Bergwerks-AG« (»Gelsenberg«) gewesen.Wer »Gelsenberg« beherrschte, hatte damit auch den »Stahlver-ein« in der Tasche. Also verkaufte Flick heimlich seinen »Stahl-verein«-Anteil und erwarb mit dem Erlös »Gelsenberg«-Aktien. Das reichte vollauf, sich die Kontrolle über »Gelsen-berg« und damit über den ganzen »Stahlverein« zu verschaffen,und so hatte er plötzlich die beherrschende Stellung in derMontanindustrie und damit im gesamten Wirtschaftsleben deskrisengeschüttelten Reiches.

Das war aber erst ein Zwischenziel seines Plans; der großeCoup stand noch aus, der ihn in den Jahren des Elends und derMassenarbeitslosigkeit zum reichsten Mann Deutschlandsmachen sollte: Im November 1931 kam an den Börsen dasGerücht auf, der Crédit Lyonnais, die stärkste Bank Frank-reichs, wolle sich die deutsche Not zunutze machen und miteinem Schlag die Kontrolle über die Industrie des Ruhrgebietserobern-mit Hilfe der »Gelsenberg«-Mehrheit! »Gelsenberg«- Aktien wurden an den Börsen zu nur noch 20 Prozent desNennwerts notiert, und die Franzosen sollten schon 100 Pro-zent geboten haben!

Diese Gerüchte, an denen kein wahres Wort war, alarmier-ten die Presse. Alle bürgerlichen Blätter forderten ein soforti-ges Eingreifen der Reichsregierung, die auch eilig zu einer Son-

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dersitzung zusammentrat und beschloß, den Ausverkauf desRuhrgebiets um jeden Preis zu verhindern.

Zwar waren die Kassen leer, Renten, Beamtengehälter undUnterstützungssätze waren schon drastisch gekürzt worden.Aber dennoch - darin waren sich Regierung und Reichswehr-Generalität einig -, die Ruhrindustrie durfte nicht den Fran-zosen ausgeliefert werden! Also verhandelte Reichsfinanzmi-nister Dr. Dietrich, ein Liberaler, mit Flick, und am Endekaufte das arme Reich die »Gelsenberg«-Mehrheit zum Vier-fachen des Kurses (aber immer noch unter dem Preis, den dieFranzosen angeblich geboten hatten). Denn Flick wollte alsguter Patriot erscheinen. Außerdem spendete er dem Finanz-minister Dietrich und dem Kanzler Brüning (Katholisches Zen-trum) zusammen rund eine Million Reichsmark für derenWahlfonds.

Dazu ist etwas Grundsätzliches anzumerken, das nochheute gilt: Wenn ein Superreicher einem Politiker viel Geld»für Wahlkampfzwecke« spendet, dann ist es - so auch dieAbsicht des Spenders - dem Empfänger überlassen, was erdamit macht: Er kann alles seiner Partei zukommen lassen, sichdamit beliebt machen, Wahlplakate drucken und kleben lassen,Handgelder an Wahlhelfer verteilen - doch er kann auch dieSumme für sich behalten und sein Gewissen -falls vorhanden -damit beruhigen, daß sein, des Spitzenkandidaten, persön-liches Wohl letztlich auch dem Wahlkampf dient. Es empfiehltsich dann, von erhaltenen 900 000 Mark zunächst 100 000 Markdem Partei-Schatzmeister zu geben mit der Erklärung, dies seieine Abschlagszahlung auf eine zu erwartende noch größereSumme. Später, wenn der Wahlkampf vorbei, die Parteikasseleer ist, kann er dem Schatzmeister noch etwas zukommen las-sen und diesem raten, den genauen Gesamtbetrag zu verges-sen und sich nur zu merken, daß es sich um eine sechsstelligeSumme gehandelt habe, die der Parteiboß von einem edlenSpender »beschafft« und an die Parteikasse abgeführt hätte.Das eröffnet dem Schatzmeister ebenfalls Möglichkeiten,seine Zweifel und sein etwa vorhandenes Gewissen zu beruhi-gen. Alles, was der Spender derursprünglichen Summe für seinGeld erwartet, ist die Erfüllung seiner Wünsche.

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Bei der »Gelsenberg«-Transaktion von 1931 bekam Flick fastalles, was erwollte: das etwa Vierfache dessen, was sein Aktien-paket wert war, dazu zunächst den Ruhm, ungemein patrio-tisch gehandelt und auf den möglichen Mehrerlös in Paris ver-zichtet zu haben. Dieser Ruhm verflog jedoch, als durchsik-kerte, daß es ein französisches Angebot gar nicht gegebenhatte. »Die einzig mögliche Antwort«, schrieb damals ein füh-render Wirtschaftsjournalist, »wäre gewesen, daß die Reichsre-gierung den Schachtelkonzern Charlottenhütte-GelsenbergVereinigte Stahlwerke umgehend verstaatlicht hätte. Darüberhinaus hätte der vorliegende Tatbestand Anlaß genug geboten,Herrn Flick als Schädiger der Interessen des Deutschen Rei-ches zu enteignen...«

(Dieser Artikel stammte übrigens von dem konservativenProfessor Friedrich Zimmermann, der schon damals das Pseu-donym »Ferdinand Fried« benutzte, wie später als Leitartiklerder Springer-Presse. Obwohl sich noch mancher Anlaß gebotenhätte, forderte er nie wieder die Enteignung Flicks, was mit des-sen Methoden der »Pressepflege« zusammenhängen mochte.)

Nachdem Friedrich Flick 1931 die Staatskasse um rund 100Millionen Mark ärmer gemacht hatte, betätigte er sich als »Wirt-schaftsführer«. Die ihm verbliebene Unternehmensgruppewurde zum drittgrößten Stahlerzeuger Deutschlands (nachdem »Stahlverein« und Krupp) mit eigener Koks- und Kohlen-basis im Ruhrgebiet und knapp 100000 Beschäftigten. Auchtrat Flick, kaum waren die Nazis an der Macht, dem exklusiven»Freundeskreis des Reichsführers SS« bei, pflegte dort Bezie-hungen zu den neuen Machthabern, besichtigte zusammenmit anderen Wirtschaftsbossen Ordensburgen und KZ-Lagerund überwies alljährlich dem immer mächtiger werdenden»Reichsführer SS« Heinrich Himmler sechsstellige Beträge fürdessen private Hobbies. Dies war sein bescheidener Dank fürdie vielen Vorteile, die die Nazis ihm und den anderen Bossenverschafften: die Zerschlagung der Gewerkschaften und Arbei-terparteien, das Verbot von Streiks, die Beseitigung der Tarifau-tonomie, die Festsetzung niedriger Löhne, die Einführung des»Führerprinzips« in der Industrie, wo es nur noch Befehl undGehorsam gab, die Steuererleichterungen und Subventionen

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zur Förderung der heimischen Wirtschaft und nicht zuletzt diestürmische Nachfrage nach Stahl infolge der von den Nazisbetriebenen Aufrüstung.

Von 1938 an konnte sich Flick auch an der »Arisierung« jüdi-scher Unternehmen in Deutschland, dann auch in Österreichund der Tschechoslowakei beteiligen, ja wurde mit GöringsHilfe zum größten »Arisierungs«gewinnler des »Dritten Rei-ches«! (Noch im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß lobteGöring Herrn Flick, sehr zu dessen Leidwesen, als »absolut ver-trauenswürdig« und »sehr großzügig«.)

Insgesamt spendete Flick den obersten Nazis rund 7,5 Mil-lionen Mark. Dafür bekam er »Armisierungs«möglichkeitennoch und noch, Arbeitssklaven für seine Hütten und Zechen zuZigtausenden, gebot über das größte private Industrie-Impe-rium Mitteleuropas und wurde der Reichste im GroßdeutschenReich. »Niemand«, so lobte ihn damals das NS-Wochenblatt»Das Reich«, »hat die Ernennung zum Wehrwirtschaftsführermehr verdient als Friedrich Flick.«

Allerdings traf Flick schon von 1943 an Vorkehrungen fürden Fall einer deutschen Niederlage: Er kannte durch seinenkonzerneigenen Nachrichtendienst die Pläne der Alliierten füreine Aufteilung Deutschlands, und etwa 16 Monate vor Kriegs-ende begann sein Konzern mit der heimlichen »Verlagerung«seiner wertvollsten Besitztümer von Osten nach Westen, vorallem in die künftige amerikanische Zone. Während der vonGoebbels proklamierte »totale Krieg« noch andauerte und täg-lich mehr Opfer an Gut und Blut forderte, packten Flick undseine engsten Mitarbeiter bereits ihre Koffer und setzten sichvon Berlin ab. Familie Flick (und mit ihr der Sandkastenfreunddes jüngsten Sohns Friedrich Karl, Eberhard v. Brauchitsch)zog auf das Hofgut Sauersberg bei Bad Tölz, das als Ausweich-quartier angekauft worden war, und dort erwartete Flick dieAnkunft der Amerikaner.

Am 13. Juni 1945 wurde der Konzernherr, der weit oben aufder Kriegsverbrecherliste stand, verhaftet. Nach zweieinhalb-jähriger Untersuchungshaft kam er vor das Nürnberger Militär-tribunal, zusammen mit seinem Vetter und Vertrauten, KonradKaletsch, und dem Chef seines Nachrichtendienstes, Otto

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Steinbrinck. Kaletsch wurde freigesprochen, Steinbrinck zufünf, Flick zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt - aber schonMitte 1950 waren beide wieder frei. Flick hatte seinen 67.Geburtstag schon hinter sich, aber das Beste in seinem Indu-striellenleben sollte erst noch kommen.

Schon im Gefängnis hatte sich Flick mit Hilfe der Unterla-gen, die ihm Vetter Kaletsch und sein Anwalt Dr. WolfgangPohle (später Schatzmeister der CSU) allwöchentlich brachten,Gedanken über den Wiederaufbau seines Konzerns gemacht,von dem im Westen einiges übriggeblieben war: der »Max-hütte«-Konzern in der Oberpfalz, die - ehedem »arisierten« -Hochofenwerke Lübeck AG sowie Mehrheitsbeteiligungen ander Harpener Bergbau AG und der Essener Steinkohlenberg-werks AG. Treuhänder und Verwalter dieser Reste war übrigensder Bankier Robert Pferdmenges, ein enger Freund und Bera-ter Adenauers; und Flicks langjähriger Privatsekretär RobertTillmanns saß seit 1949 als CDU-Bundestagsabgeordneter inBonn, wenig später als Bundesminister für besondere Aufga-ben im Kabinett - glückliche Umstände für den gerade haftent-lassenen, fast 70jährigen Kriegsverbrecher!

Der hatte schon von der Gefängniszelle aus den Verkauf sei-ner Ruhrkohlen-Interessen eingeleitet, konnte sie sogleichgünstig abstoßen und verfügte im Herbst 1950 über fast eineViertelmilliarde DM an flüssigen Mitteln, mit denen er sich inzukunftsträchtige Industriezweige einkaufte, vor allem in dieAutomobil-, Maschinen-, Papier- und Kunststoff-Industrie.

Es würde Bände füllen, wollte man alle Transaktionen schil-dern, mit deren Hilfe Flick sein Nachkriegs-Imperium auf-baute. Am Ende seines Lebens gehörten ihm jedenfalls dieFeldmühle AG, die Maximilianshütte, eine starke Mehrheit ander Buderus AG in Wetzlar, zu deren Konzern auch die Mün-chener Panzerschmiede Krauss-Maffei zählte, die Dynamit-Nobel AG in Troisdorf sowie ein dickes Paket Daimler-Benz(»Mercedes«)-Aktien, das Anfang der siebziger Jahre alleineinen Wert von mehr als zwei Milliarden DM darstellte!

Schon 1958, nur acht Jahre nach Flicks Haftentlassung, hatteBundeskanzler Adenauer ihm zum 75. Geburtstag und »zumgroßen und staunenswerten Lebenswerk« gratuliert. Tatsäch-

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lich konnte man nur staunen, was der durch fünfjährige Kriegs-verbrecherhaft ungebrochene alte Herr in so kurzer Zeit wiederzusammengerafft und wie fest er sein Industriereich im Griffhatte. Dagegen war es schlecht bestellt um die Erbfolge: Mitseinen beiden Söhnen Otto-Ernst und Friedrich-Karl standsich der autokratische Übervater miserabel. Erst sollte Otto-Ernst (»OE«) alles übernehmen; Friedrich-Karl (»FK«) vomVater »das Biirschchen« genannt, sollte mit ein paar hundertMillionen abgefunden werden. Dann gab es Krach mit »OE« mehrfache Änderungen des Testaments, jahrelange Prozesse,in denen Vater und Sohn, Großvater und Enkel, Brüder undSchwägerinnen vor den Gerichten stritten, was Hunderte vonMillionen verschlang, schließlich einen Vergleich, durch den»OE«, hoch abgefunden, endgültig ausschied; seine beidenSöhne sollten, sobald sie 28 Jahre alt waren, ihre Beteiligungenam Konzern selbst vertreten (wurden aber später von ihremOnkel »FK« abgefunden und ausgebootet). Übrig blieb alskünftiger Alleinherrscher »das Bürschchen«, »FK«. Er erbtebeim Tode des fast 90jährigen Vaters im Jahre 1972 das gesamteFlick-Imperium.

Zweifel an der Befähigung seines Jüngsten hatte FriedrichFlick stets gehabt und deshalb Eberhard v. Brauchitsch, »FKs«,Jugendfreund, diesem als Generalbevollmächtigten an dieSeite gestellt. Aber 1971, ein Jahr vor dem Tod des alten Flick,war es zum Krach zwischen den Freunden gekommen. Brau-chitsch hatte ein Angebot von Axel Springer angenommen undwar dessen Generalbevollmächtigter geworden. Ein Jahr spä-ter, vom Totenbett des Vaters aus, rief »FK«, wie er nungenannt wurde, v. Brauchitsch zurück.

»In den frühen siebziger Jahren«, so »Der Spiegel«, »arbeite-ten >FKF< und >v. B.< zunächst bestens zusammen. Nach demTod des Alten halfv. B., die Alleinherrschaft des Sohnes abzusi-chern. Dann setzte das Duo zu seinem Herkules-Werk an: Umdie Steuerbefreiung für die Daimler-Milliarden« - den Erlösdes Verkaufs eines Teils von Flicks Daimler-Benz-Aktien -»durchzudrücken, mußte die traditionelle Spenden-Maschine-rie des Hauses Flick auf höchste Touren gebracht werden. Geld spielte keine Rolle. Die schwarze Kasse quoll über von

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jenen Millionen, die v. Brauchitsch über die katholische SteylerMission dem Staat direkt abgeluchst hatte. Doch fehlte es demKonzernchef und seinem Helfer auch nicht an herkömmlichverdientem Geld. . « Kein Wunder, denn auch nach dem Ver-kauf der Mehrzahl seiner Daimler-Aktien an einen Ölscheichwar »FKF« noch mit zehn Prozent am Daimler-Konzern betei-ligt; es gehörte ihm ein Drittel des US-Konzerns Grace; dieFeldmühle AG samt riesigem Auslandsbesitz war 100prozentigin Flick-Eigentum, und er hielt weiterhin eine starke Mehrheitam Buderus-Konzern. An dessen Münchener Tochter Krauss-Maffei blieb Flick auch nach Verkauf der Waffenschmiede anMBB und den Diehl-Konzern mit zehn Prozent beteiligt, undschließlich war auch die Dynamit-Nobel AG zu fast 100 Prozentin Flick-Eigentum.

Was aber die laut »Spiegel« überquellende schwarze Kasseund die beim Auffüllen hilfreiche Steyler Mission betraf, sowaren die Steuerfahnder Anfang 1982 einem abenteuerlichenGegengeschäft auf die Spur gekommen: Ein Unternehmen,das die Finanzen der katholischen Steyler Mission verwaltet,die »Soverdia Gesellschaft für Gemeinwohl mbH«, hatte vomHaus Flick rund 10 Millionen DM an Spenden erhalten - aufden ersten Blick ein frommes Werk, wie man es von Flick garnicht erwartet hätte. Doch bei näherem Hinsehen fanden dieFahnder heraus, daß Pater Josef Schröder, der »Soverdia«-Geschäftsführer, 80 Prozent der erhaltenen Summe gleich wie-der an den Spender bar zurückgezahlt hatte!

Dazu damals »Der Spiegel«: »Flick-Chefbuchhalter Diehlerinnert sich: >Etwa 1975/76 wurde ich erstmals von (dem da-maligen Flick-Generalbevollmächtigten) Kaletsch angewiesen,von Herrn Pater Schröder Geld in Empfang zu nehmen. Eshandelte sich um einen Betrag von 800000 DM. Mir wardamals klar, daß zwischen diesem Betrag und der vorher gege-benen Spende (von 1000 000 DM) ein unmittelbarer Zusam-menhang bestand. Im folgenden Jahr ereignete sich der gleicheVorgang mit demselben Betrag... < Insgesamt zehn MillionenMark flossen innerhalb von zehn Jahren an die Soverdia,acht Millionen kamen wieder in Flicks schwarze Kasse zu-rück. «

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Zehn Prozent der Spendensumme durfte die Steyler Mis-sion behalten, weitere zehn Prozent gingen an den damaligenCDU-Bundestagsabgeordneten Walter Löhr, der »die Sache«ausgetüftelt hatte. »Den besten Schnitt« - so »Der Spiegel« -»aber machte die Flick-Gruppe: Sie strich nicht nur die gehei-men Rückflüsse in Höhe von 80 Prozent der Spenden ein (undkonnte damit die schwarze Kasse füllen), sondern konnte auchSpendenbescheinigungen über 10 Millionen DM beim Finanz-amt vorlegen. Die Steuervergünstigung betrug damals bis zu 51Prozent der Spendensumme«, im Falle Flick also nochmals ein»Verdienst« von mehr als fünf Millionen DM.

Dennoch war diese krumme Spenden-Angelegenheit nurein vergleichsweise unbedeutender Nebenaspekt des eigentli-chen Skandals, des »Milliardendings«. Denn - so die Staatsan-wälte -mit Unterstützung der zuständigen Bundesminister Fri-derichs und Graf Lambsdorff, gewiß aber unter Vorspiegelungfalscher Tatsachen, erreichte die Flick-Gruppe zu Unrecht eineSteuerbefreiung in Höhe von 450 Millionen DM! Um 800 Mil-lionen DM aus dem Verkauf von Daimler-Aktien steuerfrei ineine starke Beteiligung an dem US-Chemiekonzern Graceinvestieren zu können, gab sie dieses Geschäft, die Verschie-bung der Riesensumme ins Ausland, als volkswirtschaftlicheGroßtat aus.

Zum Segen für die deutsche Wirtschaft, so behaupteten dieFlick-Bosse treuherzig, verschaffe diese Geldanlage der BRDden ersehnten Zugang zu neuesten amerikanischen Technolo-gien. »In Wahrheit« - so »Der Spiegel« - »passierte gar nichts.Grate-Präsident Peter Grace . . . kehrte von einer Deutschland-Reise mit der Erkenntnis zurück, daß mit den neuen Eigentü-mern zwar.. . Spesen zu machen wären, aber kein Technologie-transfer.«

Der Bonner Staatsanwaltschaft, die in den Flick-Chefetagenüber hundert Aktenordner beschlagnahmte, wurde bald auchklar, von wem viele der steuersparenden Ratschläge stammten,nämlich von einem alten Freund des Hauses Flick: Franz JosefStrauß. Aus dessen Vernehmungsprotokoll konnte »Der Spie-gel« folgendes zitieren:

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»Ich (Franz Josef Strauß) habe, wie angegeben, HerrnFlick vor etwa acht Jahren geraten, in Nordamerika zu investie-ren. Ich habe ihm geraten, seine inländischen Betriebe zu ent-schulden und zu modernisieren. Ich habe in diesem Zusam-menhang ihm einmal, wahrscheinlich im Jahre 1978, einenBrief geschrieben, in dem ich ihm geraten habe, die Vorausset-zung des § 6b (Einkommensteuergesetz) und § 4 (Auslandsin-vestitionsgesetz) sehr genau zu nehmen. Ich war damals derMeinung, daß für die Erfüllung der Kriterien unter anderemein Kooperationsabkommen mit der Firma Grace die Prüfungder hiermit verbundenen steuerrechtlichen Frage erleichternwürde.«

Auf den Vorhalt des Staatsanwalts: »... Herr Ministerpräsi-dent, wir haben Sie nunmehr davon in Kenntnis gesetzt, daßsich aus den im Jahre 1974 beginnenden Aufzeichnungen desFlick-Konzerns aus dem Hefter >CSU<, der sich im Gewahrsamder Staatsanwaltschaft befindet, folgende Vermerke ergeben: >21.4. (75) Ka/vB wg FJS 200000,-

12. 7. (76) Dr. FKF wg FJS 250000,- 11. 7. (78) Dr. FKF wg FJS 250000,- 24.10. (79) Dr. FKF wg FJS 250000,-*< Können Sie dazu irgendeine Erklärung abgeben?«

Antwort von Ministerpräsident Strauß:»1. Ich bin am Zustandekommen keiner dieser Unterlagenbeteiligt.

2. Offensichtlich gibt es auch keine Quittungen, die ichselbstverständlich bei eventuellen Auszahlungen, wenngewünscht, ausgestellt hätte, zumal steuerlich relevante Vor-gänge offensichtlich überhaupt nicht zugrunde liegen.

3. Der Beginn Ihrer Unterlagen ist deshalb verwirrend oderirreführend, womit ich keine Absicht unterstelle, weil nebenunzähligen Kleinspendern auch einige Großspender, darunterdie Flick-Unternehmungen, die CSU immer wieder unter-stützt haben. Ich darf nebenbei bemerken, daß es sich hier

* *Gemeint sind offensichtlich mit »Ka« Konrad Kaletsch, mit »v.B« Eberhard v.Brauchitsch, mit »Dr. FKF« Dr. Friedrich Karl Flick, mit »FJS« Franz JosefStrauß, damals bayerischer Ministerpräsident und CSU-Parteivorsitzender.

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nicht um die Honorierung von Ratschlägen handelt, sondernum eine bestimmte politische Linie im In- und Ausland. . . «

Diese Aussage des inzwischen verstorbenen Franz JosefStrauß, der sich, wenn er Gefahr witterte, wie ein Tintenfischeinzunebeln pflegte, läßt-wenn man den Schwall von Phrasenund Schutzbehauptungen beiseite läßt - zweierlei deutlicherkennen:

Strauß konnte nicht bestreiten, von Flick viel Geld bekom-men zu haben. Aber er wollte das nicht als »Honorierung vonRatschlägen« verstanden wissen, weil ihn dies in den Verdachtder Anstiftung oder Beihilfe zu Straftaten hätte bringen kön-nen. Statt dessen sollte es sich um eine »Unterstützung« einer -und zwar doch wohl seiner -»politischen Linie im In- und Aus-land« gehandelt haben, wozu angemerkt sei, daß die ausländi-schen Politiker, mit denen Strauß enge Beziehungen unter-hielt, meist Ultrarechte, Faschisten und Rassisten waren: Pino-chet in Chile, dessen Regime er lobte; Südafrikas Apartheids-Fanatiker, spanische Neofaschisten und sogar die Führer dertürkischen Grauen Wölfe, die für ihre Bluttaten berüchtigtwaren.

Noch seltsamer als die Erklärung, die Strauß der Justiz fürdas viele Flick-Geld gab, das er erhalten hatte, war die Aussagevon Dr. Friedrich Karl Flick im Prozeß gegen die Ex-MinisterFriderichs und Graf Lambsdorff. Als der Richter den ZeugenDr. Flick nach Wesen und Zweck der Spenden an »FJS« befragte, erwiderte dieser, von Spenden verstehe er nichts; erkönne da »nur mutmaßen«.

Und das tat er dann auch. »Spenden«, so gab er zu Protokoll,»das war das berechtigte Anliegen, von demokratischen Par-teien - wie’s auch beim Vater früher oder beim Onkel Kaletschüblich gewesen sein mag, um ein offenes Ohr zu finden.«

Aber, so wollte der Richter wissen, ob er nie daran gedachthabe, sich damit Vorteile für den eigenen Betrieb zu verschaf-fen?

Darauf Dr. Flick: »Diese Überlegungen sind mir unbe-kannt.«

Alsdann sollte dieser offenbarvöllig selbstlose Spender demGericht erklären, wie denn so eine Spendenzahlung an einen

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Spitzenpolitiker vor sich gegangen sei, zum Beispiel wenn Dr.Flick dem Ministerpräsidenten Strauß 250 Tausendmark-scheine überreicht habe.

Ausnahmsweise konnte Dr. Flick in diesem Fall mit einerklaren Antwort dienen: »Da ist er (Strauß) beim erstenmal insNebenzimmer gegangen und hat nachgezählt. Und dann ist erzurückgekommen und hat sich bedankt«.

Beim zweitenmal, so fügte er noch stolz hinzu, »hat er dannnicht mehr nachgezählt.«

Nun wollte der Richter auch noch wissen, warum das HausFlick seine üppigen Spenden an Politiker stets in bar entrich-tete.

Dr. Flick: »Meines Wissens hat sich das einfach so ergeben:Wenn man sich im süddeutschen Raum so begegnet ist, hatman das Geld der Einfachheit halber gleich übergeben.«

Kein Gedanke an die Möglichkeit einer Steuerhinterzie-hung, auch nicht an die Eventualität, daß vielleicht die Empfän-ger lieber Bargeld nahmen, »um«- so fragte der offenbar durch-aus mit dem praktischen Leben vertraute Richter - »nichtimmer Rechenschaft bei ihren Schatzmeistern ablegen zu müs-sen?« Flick wußte es nicht.

Er erklärte dem Gericht, daß er eigentlich von gar nichtsgewußt habe, schon überhaupt nichts von den angedeutetenMöglichkeiten. Kurz, Multimilliardär Dr. Flick überzog mitun-ter - so »Der Spiegel« - »allzu erkennbar seine Rolle als Kon-zerndepp«. Übertroffen wurde er nur noch von einem seinerGroßspenden-Empfänger, dessen Rolle vor Untersuchungsaus-schüssen, Justiz und Presse man analog die eines »Politdep-pen« nennen müßte: Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl.

Bei seiner Vernehmung durch die Bonner Staatsanwalt-schaft am 5. Juli 1982 hatte Dr. Kohl, damals noch nicht Bundes-kanzler, zugegeben, vom Haus Flick gelegentlich größere Bar-geld-spenden erhalten zu haben. Daß es insgesamt 565000DM gewesen waren, die Flick-Chefbuchhalter Diehl zwischen1974 und 1980 exakt verbucht hatte, war Kohl indessen, wie ersagte, »völlig unbekannt«.

Befragt, was ihm denn »völlig unbekannt« gewesen sei: dieHöhe der Summe oder die Verbuchung durch Diehl, erwiderte

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Helmut Kohl pikiert, er könne »über Einzelheiten aus der Er-innerung keine Angaben machen«.

Indessen erinnerte er sich zwei Jahre später, am 7. Novem-ber 1984, vor dem Flick-Untersuchungsausschuß des Bundesta-ges genau daran, daß eine »kleinere« Flick-Spende, lumpige30 000 DM, »bei uns nicht eingetroffen« sei - eine Zahlung, dieder akribische Flick-Chefbuchhalter Diehl mit Datum vom6. Dezember 1977 verbucht hatte.

Für diese »Nikolaus-Spende«, wie sie genannt wurde, gab esjedoch ganz besonders viele und starke Indizien: Am Nikolaus-Tag 1977 waren 60 000 DM von einem »inoffiziellen« Konto desHauses Flick bei einer Düsseldorfer Filiale der DeutschenBank bar abgehoben worden. Die Abbuchung bei der Bank undder Eintrag ins schwarze Kassenbuch bei Flick stimmten über-ein, und dazu paßte auch der Vermerk des pingelig genauenChefbuchhalters vom 6. Dezember 1977: »vB wg Kohl 30 000DM; vB wg Graf Lambsdorff 30 000 DM«, macht zusammen60 000 DM. Parallel dazu hatte v. Brauchitsch am 6. Dezember1977 den Erhalt eines Barbetrags von 60 000 DM korrekt quit-tiert, und auf der Rückseite der Quittung war vermerkt: »30 Ko30 GrLa«, womit ja auch nur gemeint sein konnte, das Geldginge je zur Hälfte an Helmut Kohl und an Otto Graf Lambs-dorff.

Überdies trug der vorbildliche Flick-Chefbuchhalter ins Kas-senbuch für »Inoffizielle Zahlungen« am 6. Dezember 1977 ein:»vB wg Kohl und Lambsdorff 60 000«, und man darf wohlannehmen, daß mit der Zahl keine roten Rosen, weißen Mäuseoder grünen Äpfel gemeint waren, sondern bare DMark.

Doch auch damit noch nicht genug: Am Vorabend des Niko-laus-Tages 1977, am 5. Dezember, hatte eine Brauchitsch-Sekre-tärin ihrem Chef folgende Notiz vorgelegt, die sich bei denGerichtsakten befindet: »Frau Weber/ Sekr. Kohl fragt an, obes Ihnen recht ist, wenn sie morgen, Dienstag, 6.12., gegen 16Uhr kurz bei Ihnen vorbeikommt«, und dazu hat Eberhard v.Brauchitsch im Dezember 1985 vor dem Bonner Landgerichtausgesagt: »Sie« - Frau Weber vom Sekretariat Kohl - »hatschon mal für Herrn Kohl Geld empfangen . . « - und dies, wiedie Akten zeigen, nicht gerade selten: Mindestens vier Besuche

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Frau Webers bei v. Brauchitsch sind vermerkt, die mit Zahlun-gen von je 50000 DM und einer von 30000 DM, alle »wgKohl«, übereinstimmten.

Das für Helmut Kohl Ärgerliche ist, daß es für die meistenFlick-Spenden »wg Kohl« entsprechende Eingangsbuchungenbei der CDU-Schatzmeisterei gibt, nicht jedoch für die »Niko-laus-Spende« und auch nicht für weitere 25 000 DM, die eben-falls fehlen. Schließlich fehlt inzwischen noch etwas, nämlichHelmut Kohls Erinnerung an die Geldwaschanlagen vonRheinland-Pfalz, die die von der Industrie kommenden, sehrgroßzügigen Parteispenden am Finanzamt vorbei (und für dieSpender enorm steuersparend) in die richtigen Tröge lenkten,Pater Josef von der Steyler Mission konnte ja nur einen Teil desenormen Bedarfs an »gewaschenem« Geld befriedigen, mitdem die Herren des Großen Geldes, allen voran das HausFlick, die »geistig-moralische Wende« in Bonn vorfinanzierten.

Helmut Kohl, seit 1966 Landesvorsitzender der CDU, seit1969 auch Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz und seit 1975Bundesvorsitzender der CDU, die neben CSU und F.D.P. vondem Spenden-Unwesen am meisten profitiert hatte, erinnertesich als Kanzler an rein gar nichts mehr, überhaupt nicht an dieGeldwaschanlagen in Rheinland-Pfalz. Kohl hatte, als es umvergleichsweise Bagatellen ging - die 30 000 DM der »Nikolaus-Spende« und die ebenfalls fehlenden 25 000 DM von Flick -,alles vergessen. Allenfalls fielen ihm, wenn die Staatsanwältenach der »Staatsbürgerlichen Vereinigung« (SV) in Koblenzfragten, die lustigen Abende ein, die er dort nachvorträgen mit-unter verbracht hatte. Kohl hatte aber »keinerlei Erinnerung«daran, daß diese Koblenzer SV die wichtigste Geldsammel-und -Waschanlage nicht nur für Rheinland-Pfalz, sondern fürdie ganze Bundesrepublik gewesen war und daß man inKoblenz auch deshalb feucht-fröhlich gefeiert hatte, weil dankder »besonderen Förderungswürdigkeit«, die der »gemeinnüt-zigen« SV von der Landesregierung bescheinigt worden war,seiner CDU etliche hundert Millionen DM heimlicher Spen-den der Industrie steuerbegünstigt zugeflossen waren.

Vielleicht hatte Helmut Kohl - so vermutete sein damaligerSchnelldenker und Wahlkampf-Manager, der von ihm inzwi-

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schen gefeuerte Heiner Geißler etwas vorlaut -bei seinen Aus-sagen über die »SV« aber auch nur Erinnerungslücken und gabirrige und unvollständige Antworten als Opfer eines »Black-out«. Diese von dem klugen, von Kohl ungnädig entlassenenGeneralsekretär Heiner Geißler erwogene Möglichkeit, daßdem Kanzler mitunter, wenn auch nur vorübergehend, der Ver-stand abhanden komme, sollten die Wählerinnen und Wählerbedenken, denn ein Regierungschef mit gelegentlichen Aus-fallerscheinungen ist keine angenehme Vorstellung für dieMenschen in »diesem unserem Lande«.

Indessen gibt es für Helmut Kohls Vergeßlichkeit hinsicht-lich des Verbleibs der »Nikolaus-Spende« oder auch derMachenschaften der Koblenzer »SV« noch eine andere Erklä-rung als die von Geißler vermuteten Gedächtnislücken infolgeeines Blackouts. Um Kohls Zögern zu verstehen, darüber dieWahrheit zu sagen, muß man noch einmal zurück zu denUrsprüngen der steilen Karriere des Schwarzen Riesen - nachLudwigshafen-Oggersheim und nach Frankenthal.

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Die seltsamen Vorspiele der»geistig-moralischen Wende«

Im Frühjahr 1933, als sich die Hitler-Diktatur gerade etablierthatte und mit immer neuen Wellen des Terrors zu konsolidie-ren begann, bereiteten sich drei Heidelberger Juristen geradeauf ihre unterschiedlichen Karrieren vor: Dr. Eberhard Taubertsah seiner Berufung ins neue Reichspropagandaministeriumentgegen, wo er als jüngster Ministerialrat zunächst die »Aktiv-propaganda gegen die Juden« leiten sollte; SS-Führer Dr.Hanns Martin Schleyer nahm die »Gleichschaltung« der Hei-delberger Universität vor und betrieb ihre Einstimmung auf dieam 10. Mai durchgeführte Bücherverbrennung; sein Freund Dr.Fritz Ries, der an diesem Akt der Barbarei als junger Dokto-rand teilnahm, schmiedete bereits Pläne, wie er auf Kosten derJuden rasch reich werden und zunächst zum Kondom-Königdes »Dritten Reiches« aufsteigen könnte; tatsächlich ließ erschon ein Jahr später die Verpackungen der Erzeugnisse einesgerade »übernommenen« Betriebs mit dem stolzen Aufdruckversehen: »Miguin-Kondome -jetzt arisch!«

Im selben Frühjahr 1933, am 13. März, kam im nahen Mann-heim ein Knabe zur Welt, dessen spektakuläre Laufbahn sichmit den abenteuerlichen Karrieren der drei genannten Heidel-berger Juristen durchaus messen kann. Auch kreuzten sichseine Wege wiederholt mit denen der Herren Doktoren Ries,Schleyer und Taubert und fast unvermeidlicherweise auch mitdenen Helmut Kohls, der drei Jahre zuvor, 1930, im Mannheimgegenüberliegenden Ludwigshafen geboren war.

Der junge Mannheimer des Jahrgangs 1933 hieß Hans-OttoScholl, besuchte - wie Kohl und auch Biedenkopf - die Schulein Ludwigshafen, studierte dann ebenfalls in HeidelbergRechtswissenschaft und begann auch, kaum daß er sein Stu-dium beendet hatte, Anfang der sechziger Jahre eine politischeKarriere in Rheinland-Pfalz. Allerdings stellte Dr. Hans-Otto

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Scholl seine unbestreitbaren Talente nicht der CDU zur Verfu-gung, sondern der in Rheinland-Pfalz seit 1951 mit der CDUzusammen die Regierung bildenden F.D.P., daneben demBundesverband der pharmazeutischen Industrie, dessenHauptgeschäftsführer er wurde. Daß sich die mächtige Pharma-Industrie der Bundesrepublik den jungen Rechtsanwalt undProvinzpolitiker Dr. Scholl zum Cheflobbyisten erkor, hing mitden besonderen Verhältnissen in Rheinland-Pfalz zusammen,wo Dr. Scholl in kürzester Zeit zum F.D.P.-Fraktionsvorsitzen-den im Landtag und dann auch zum Landesvorsitzenden auf-steigen konnte und eng befreundet war mit dem CDU-Nach-wuchspolitiker Dr. Kohl, der 1963 ebenfalls Fraktions- und 1965auch Landesvorsitzender seiner Partei wurde. So eng war dasVerhältnis Dr. Scholl zum Dr. Kohl, daß die beiden sogar Villaan Villa wohnten, der eine in der Marbacher Straße9, derandere in Nummer 11, und die beiden Matadore der das Länd-chen Rheinland-Pfalz regierenden Parteien machten sichgegenseitig auch mit ihren finanzstarken Gönnern und mitderen einflußreichen Freunden bekannt: Durch Helmut Kohllernte Hans-Otto Scholl den Konsul Dr. Fritz Ries im nahenFrankenthal kennen und in dessen Haus die Duzfreunde desHausherrn, Dr. Hanns Martin Schleyer und Franz Josef Straußsowie die graubraune Eminenz Dr. Eberhard Taubert; umge-kehrt wurde Helmut Kohl durch Dr. Scholl mit allen großenund steinreichen Unternehmern der Pharma-Industrie be-kannt, von denen im einzelnen noch die Rede sein wird.

Es läßt sich heute nicht mehr mit Sicherheit feststellen, weraus diesem Freundes- und Bekanntenkreis den Einfall hatte,im Schutze der mit gesicherter Mehrheit das Land Rheinland-Pfalz regierenden Parteien eine Geldwaschanlage zu etablie-ren, aber vieles spricht dafür, daß es Dr. Fritz Ries gewesen istund daß Kohl im Bunde mit Scholl die Idee in die Tat umsetze.

Die Grundidee war einfach: Die Industriellen wollten eineihnen genehme Politik und Gesetzgebung, die dazu bereitenPolitiker wollten dafür Geld. Die Wirtschaftsbosse waren zwarwillens, für volle Kassen zu sorgen, nur sollte sie das möglichstwenig kosten, sondern zu Lasten der Allgemeinheit gehen.Nun gab es ja bereits Gesetze, die Spenden an Parteien steuer-

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abzugsfähig machten. Aber es gab da Höchstgrenzen, und diePolitiker wollten weit mehr, als die Bestimmungen zuließen,und außerdem war bei regelrechten Parteispenden die Anony-mität der Spender nicht zu wahren, die begreiflicherweise gernunbekannt bleiben wollten. Also brauchte man eine Einrich-tung, die jede Menge Geld entgegennehmen, dafür voll steuer-abzugsfähige Quittungen ausstellen und die empfangenenBeträge diskret an diejenigen weiterleiten konnte, die sie letzt-lich bekommen sollten, weil sie die Entscheidungen trafenoder herbeiführten, die die Spender sich erhofften.

Alle diesevoraussetzungen erfüllte die dann ins Leben geru-fene »Staatsbürgerliche Vereinigung« (SV) in Koblenz, undnatürlich bekam diese SV nicht nur sofort die staatliche Aner-kennung als »gemeinnützig und besonders förderungswürdig«,sondern wurde auch so ausgestattet, daß sie ihre Gönner undFörderer aufs trefflichste bewirten konnte, zumal nachdemeiner der Gründerväter, Helmut Kohl, Ministerpräsident vonRheinland-Pfalz geworden war und sein Spezi, Nachbar undKoalitionspartner Dr. Scholl als Landesfürst der - zum Züng-lein an der Waage gewordenen - F.D.P. für Dr. Ries, Dr.Schleyer und deren Freunde an Bedeutung enorm hinzuge-wonnen hatte.

In Bonn war nämlich im Herbst 1969 erstmals seit Bestehender Bundesrepublik ein Sozialdemokrat im Kanzleramt. InKoalition mit der F.D.P. regierte nun Willy Brandt. Konsul Dr.Ries war von den besorgten Herren des Großen Geldes beauf-tragt worden, die F.D.P.-Politiker »umzustimmen« und dieungeliebte neue Regierung bei nächster Gelegenheit zu stür-zen.

Für Dr. Scholl gab es zudem eine spezielle Aufgabe: ZumRegierungsprogramm der sozialliberalen Bonner Koalitiongehörte im Rahmen der Gesundheitsreform auch eine gründli-che Novellierung der Arzneimittelgesetzgebung, und dies tan-gierte die wichtigsten Interessen (sprich: die enormen Profite)der Pharma-Industrie deren Verbandshauptgeschäftsführer erwar.

Von der Pharma-Industrie wurden deshalb hohe Millionen-beträge bereitgestellt, die Dr. Scholl, nachdem sie bei der »SV«

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in Koblenz »gewaschen« und steuerabzugsfähig gemacht wor-den waren, gezielt zu verteilen hatte. Es ging darum, diejeni-gen Politiker und auch Beamten zu »fördern«, die Einfluß aufdie Arzneimittelgesetzgebung und die Gesundheitspolitik hat-ten.

In der Bundesrepublik wurden zu Beginn der Aktivitätendes Dr. Scholl jährlich etwa acht Milliarden DM für Arzneimit-tel ausgegeben. Als seine Tätigkeit Anfang der achtziger Jahreendete, waren es jährlich rund 17 Milliarden DM, also mehr alsdas Doppelte. »Fast die Hälfte dieser gigantischen Steigerung,die alle Bundesbürger belastet, hätte« - so »Der Spiegel« imJuni 1985 - »sich einsparen lassen«, wären damals nicht dieKernpunkte der geplanten Reform der Arzneimittelgesetzge-bung »von der Pillen-Lobby herausgeschossen« worden.

Die vom damaligen Pharmaverbands-HauptgeschäftsführerDr. Scholl mit sehr viel Geld betriebene Beeinflussung desGesetzgebungsverfahrens hat sich für die Arzneimittelherstel-ler also glänzend gelohnt. Sie lohnte sich aber auch für Dr.Scholls Freunde von der CDU:

So hatte CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep »zugleichim Namen von Herrn Dr. Kohl und Herrn Professor Bieden-kopf« runde 70 000 DM kassiert - von Curt Engelhorn, Chef

des Familienunternehmens »Boehringer Mannheim GmbH«(damaliger Pharma-Umsatz. 1,2 Milliarden DM), und zwarüber Dr. Scholl und die »SV«. Der CDU/CSU-Fraktionsvorsit-zende Alfred Dregger hatte -so die Staatsanwaltschaft - »einigehunderttausend Mark abkassiert« - bei der »Wella AG« inDarmstadt und ebenfalls über Dr. Scholl und die »SV«. VomPharma-Werk E. Merck in Darmstadt erhielt die CDU-Promi-nenz rund eine Million DM, und wären die Spendenlisten,zumal deren wichtigste Teile, nicht durch besondere Umständedem Einblick der Öffentlichkeit entzogen worden, ließen sichgewiß noch weitere, zusammen mehr als 20 Millionen DMnachweisen, die Dr. Scholl an CDU- und F.D.P.-Prominenz,zumal an seine engsten Spezis, großzügig verteilt hat.

Indessen war Dr. Scholl mit dem Pharma-spendengeld mit-unter allzu großzügig, zumal sich selbst gegenüber. Als der Ver-bandsvorstand dies bemerkte, wurde Dr. Scholl »wegen zu

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eigenmächtigen Umgangs mit dem Verbandsvermögen« gefeu-ert und mußte sich verpflichten, dem Verband 1,6 MillionenDM zurückzuerstatten. Erstaunlicherweise erhielt Dr. Schollaber dennoch nach seiner Entlassung eine monatliche Pensionvom Pharma-Verband in Höhe von 5700 DM -»Schweigegeld?«fragte »Der Spiegel« damals, und solche Vermutung erscheintnicht ganz abwegig, zumal im Lichte späterer Erkenntnisse.

Noch erstaunlicher war es, daß der gefeuerte Verbandsge-schäftsführer, der 1981 auch als F.D.P-Landesvorsitzenderzurücktreten mußte, wenig später im Mainzer Landtag von denFreidemokraten wieder zum Fraktionsvorsitzenden gewähltwurde. Aber bei den Neuwahlen vom März 1983 kam die F.D.P.mit nur noch 3,5 Prozent der Wählerstimmen nicht mehr in denMainzer Landtag. Dr. Scholl war damit auch als Politikerarbeitslos, brauchte aber nicht zu darben: Als ehemaliger Abge-ordneter bezog er ein Übergangsgeld von monatlich 5 400 DM,mit seiner Pension vom Pharmaverband also zusammen 11100DM im Monat.

Indessen sah er sich selbst - und dann sahen ihn auch seinepolitischen Freunde -als dringend unterstützungsbedürftig an.CDU-Ministerpräsident Bernhard Vogel, damals noch nicht inThüringen, sondern in Rheinland-Pfalz, Kohl-Nachfolger undebenfalls Empfänger beträchtlicher Pharma-Spenden aus derHand des Dr. Scholl, besorgte dem nun arbeitslosen Freunddeshalb einen - mit 5000 DM monatlich honorierten - Berater-vertrag bei der »Deutschen Anlagen-Leasing« (DAL) in Mainz,an der die rheinpfalzische Landesbank erheblich beteiligt ist.Aber auch mit den auf 16 100 DM monatlich gestiegenen Bezü-gen war Dr. Scholl noch nicht zufrieden. Er wandte sich hilfesu-chend an seinen langjährigen Freund und Nachbarn HelmutKohl, seit 1982 Bundeskanzler in Bonn.

Klugerweise - so stellt es jedenfalls ein mit der Angelegen-heit bestens vertrauter Bonner Beamter dar-wählte Dr. Scholleinen privaten Weg, dem Kanzler seine Not zu schildern. Überjene Frau Juliane Weber, die wir schon flüchtig kennengelernthaben aus den Notizen des Flick-Bevollmächtigten Eberhard v.Brauchitsch und zwar als Abholerin der offenbar verlorenge-gangenen »Nikolaus-Spende« von 30 000 DM »wg Kohl«, ließ

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er Helmut Kohl wissen, daß nun er es sei, der finanzielle Unter-stützung benötige.

Ob nun Frau Weber ein gutes Wort für den Freund aus Main-zer Tagen eingelegt hat oder ob Kohl aus eigenem Antrieb tätigwurde: Jedenfalls setzte sich der Bundeskanzler sofort und ineiner Weise für Dr. Scholl ein, daß bei dem Kohl nahestehen-den und treuergebenen Beamten die Befürchtung aufkam, derKanzler könnte erpreßbar sein. Denn dieser verschaffte demlängst nicht mehr in bestem Ruf stehenden Duzfreund, den er1982 noch mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse ausge-zeichnet hatte, unverzüglich einen Beratervertrag bei der Deut-schen Lufthansa (an der der Bund mit mehr als 50 Prozent be-teiligt ist). Dadurch erhöhten sich Dr. Scholls feste Bezüge umweitere 10 000 DM Monatsgehalt sowie 5000 DM monatliche»Aufwandsentschädigung« auf nunmehr insgesamt 31100 DM.

Die Befürchtungen des um Kohl besorgten Beamten warenjedoch sicherlich unbegründet. Kohl hat sich wohl lediglichdem Spezi Dr. Scholl, der ihm und Seinerpartei jahrelang finan-ziell so überaus behilflich gewesen war, »geistig-moralisch« ver-pflichtet gefühlt. Auch konnte Helmut Kohlja nicht ahnen, daßihn der Freund herb enttäuschen würde.

Gut ein Jahr nachdem Dr. Scholls Bezüge dank des KanzlersFürsorge auf über 31000 DM monatlich erhöht worden waren,ereignete sich ein auf den ersten Blick ganz gewöhnlicher Raub-überfall: Am 28. Dezember 1984 drang ein bewaffneter Mannin ein Baden-Badener Juweliergeschäft ein und entkam, nach-dem er die Anwesenden bedroht und den Inhaber niederge-schlagen hatte, mit einer Beute im Verkaufswert von 2,6 Millio-nen DM. Bei der Fahndung nach den geraubten Juwelen fanddie Polizei in einem Bankschließfach in Zürich nicht nur einenTeil des fehlenden Schmucks, sondern auch eine MengePapiere, die Einblick gaben in die Spendenpraxis der bundes-deutschen Pharma-Industrie Damit war klar, daß der bereitsgefaßte Verdächtige tatsächlich der Räuber von Baden-Badenwar: Rechtsanwalt Dr. Scholl, der zwei Jahrzehnte lang füh-rende F. D. P.-Politiker von Rheinland-Pfalz und ehemaligeHauptgeschäftsführer des Pharma-Verbands, ein Intimus desamtierenden Bundeskanzlers!

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Lassen wir diese für Helmut Kohl schockierende Angelegen-heit damit ihr Bewenden haben; Dr. Scholls Motive hatten mitPolitik nichts zu tun, und er hat seine Freiheitsstrafe längst ver-büßt.

Allerdings hätte sich Helmut Kohl schon früher darüber imklaren sein müssen, daß großzügige ‘Geldspender nicht völligselbstlos handeln. Lange vor dem ersten Händedruck mit demdamaligen Pharma-Lobby-Häuptling Dr. Scholl hätte Kohl wis-sen müssen: Wenn steinreiche Industrielle dicke Geldbündelverteilen oder durch ihre Beauftragten verteilen lassen, so istdies im allgemeinen kein Ausdruck uneigennütziger Nächsten-liebe. Vielmehr erwarten die Spender in aller Regel Gegendien-ste, die ihnen ein Vielfaches dessen einbringen, was sie gespen-det haben, und dabei verlangen sie mituntervon den Beschenk-ten sogar Ungesetzliches, ja schlimmer noch: Sie fordern eineÄnderung der Gesetze und Vorschriften zu ihren Gunsten undzum großen Schaden für die Allgemeinheit oder vereiteln -wiees der Pharma-Industrie mit Hilfe der von Dr. Scholl verteiltenMillionen gelang - ein dringend gebotenes Reformwerk.

Helmut Kohls Verhalten gegenüber Spendenverteilern, obsie Dr. Scholl oder v. Brauchitsch, Flick, Henkel oder Oetkerheißen, setzt ihn dem Verdacht aus, daß er den von ihm ge-schworenen Eid, »Schaden abzuwenden und den Nutzen zumehren«, nicht auf das deutsche Volk bezieht, wie es die Eides-formel fordert, sondern nur auf einen winzigen Teil dieses Vol-kes, nämlich auf die spendablen Herren des Großen Geldessowie auf sich selbst und einige wenige Personen, die ihmnahestehen.

Das Ganze wird noch erheblich verschlimmert durch einBenehmen Helmut Kohls im privaten Umgang mit den Reprä-sentanten des Großen Geldes, das seinen Wählerinnen undWählern, wenn sie davon erfahren, die Schamröte ins Gesichttreiben müßte. Nehmen wir als Beispiel einen scheinbar neben-sächlichen, im Untersuchungsausschuß des Bundestages zurFlick-Spendenaffäre aktenkundig gewordenen Vorgang:

Da rief Kanzler Kohl eines Tages bei Eberhard v. Brauchitschan, dem Flick-Generalbevollmächtigten, der seinem Konzernetliche Hundert Millionen Mark fälliger Steuern sparen will

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und dafür mit Bargeldbündeln den stets bedürftigen Politikerngefällig ist. Zweck des Anrufs ist die Mitteilung des Bundes-kanzlers: »Du, hör mal, Eberhard, ich komme morgen abendbei euch vorbei. . . Ich würde gern mal wieder anständig Kaviare s s e n . «

Natürlich ging v. Brauchitsch sofort auf diesen Wunsch sei-nes Duzfreundes ein, der sich bei nur knapp 40000 DMMonatsgehalt sein -neben Saumagen -liebstes Essen offenbarnicht leisten konnte oder wollte. Aber damit nicht genug: Einpaar Tage später wieder ein Anruf bei v. Brauchitsch, diesmalvon Frau Hannelore Kohl aus Oggersheim: »Du weißt doch,Eberhard, wie gern ich Kaviar esse - aber den gibt’s bei euch janur, wenn ich nicht dabei bin.. . «

»Und was macht man dann als guterzogener Mensch? Als ichdas nächste Mal mit Herrn Kohl zusammen war«, so berichteteHerr v. Brauchitsch, »da habe ich ihm eine Dose Kaviar mitge-geben: Den möchte er doch bitte mit Frau Gemahlin essen.. . «

Auch damit noch nicht genug, denn die Schilderung desFlick-Repräsentanten geht weiter:

»Nach einer gewissen Zeit gibt es wieder ein Telefonat zwi-schen Frau Kohl und mir.« Bei dieser Gelegenheit fragte v. Brau-chitsch: »Du hättest eigentlich was sagen können -wie war dennder Kaviar?« Darauf Hannelore Kohl: »Kaviar? Ich habe keinengekriegt! Du kennst doch den Helmut. Der hat ihn mit in seineWohnung in Bonn genommen und ihn selber aufgegessen... «

Woraufhin der wohlerzogene v. Brauchitsch das Haus Flickabermals in Unkosten stürzte - das halbe Kilo Kaviar kosteteseinerzeit 560 DM - und seinen Fahrer beauftragte, der Kanz-lergattin rasch eine Dose vom Feinsten nach Ludwigshafen-Oggersheim zu bringen. ». . . Mit einen dreizeiligen Begleit-brief: >Damit die russische Marmelade wirklich in DeineHände kommt - anbei direkt - herzliche Grüße...< «

Übrigens, der Untersuchungsausschuß und damit auch diePresse und die Öffentlichkeit hätten von alledem wohl nieetwas erfahren, wäre im Privatsekretariat des Flick-Beauftrag-ten eine kurze Danksagung für die erwiesene Aufmerksamkeiteingegangen. Da diese ausblieb, wurden die - sonst längst ver-nichteten - Kopien und Belege säuberlich abgeheftet, und die

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Staatsanwälte, die den Vorgang für strafrechtlich relevant hiel-ten, beschlagnahmten die Akte.. .

Der Vorfall der ein Schlaglicht auf den miserablen Stil wirft,der im Hause Kohl die Arroganz der Macht begleitet, ist indes-sen nur ein typisches Beispiel für die Dreistigkeit, mit der sichdieser Politiker und die Seinen über alle Normen gesittetenZusammenlebens hinwegsetzen, von der ständigen Mißach-tung der Gesetze und Vorschriften durch den amtierendenKanzler ganz zu schweigen.

Zum besseren Verständnis sei hier noch aus der Fülle derSkandale, die für die bisherige Amtszeit des Kanzlers Kohlkennzeichnend waren, einer herausgegriffen, der ganz zu An-fang stand:

Am 11. Januar 1983, also nur wenige Wochen nach GenschersBetrug am Wähler und dem konstruktiven Mißtrauensvotum,durch das Helmut Schmidt (SPD) gestürzt und Helmut Kohl(CDU) Bundeskanzler wurde, drangen Beamte der Bundesan-waltschaft und des Bundeskriminalamts in die Redaktions-räume der Hamburger Monatszeitschrift »konkret« ein. Siedurchsuchten alle Büros und dann auch die Privatwohnungendes damaligen Chefredakteurs Manfred Bissinger und des»konkret«-Autors Jürgen Saupe - angeblich wegen des dringen-den Verdachts der »Preisgabe von Staatsgeheimnissen«. Siewiesen eine besondere Ermächtigung des Bundeskanzleramtsvor, unterschrieben von Kohls Schulfreund, engem Vertrautenund damaligen Staatssekretär für die Geheimdienste, Walde-mar Schreckenberger.

Dies ließ darauf schließen, daß Kohl selbst oder seine näch-ste Umgebung die spektakuläre Aktion veranlaßt hatte, dennüblicherweise ist es der Generalbundesanwalt, der seine Be-hörde und die Beamten des BKA tätig werden läßt. Tatsächlichwurden aber die Durchsuchungen bei »konkret« von der Bun-desanwaltschaft eilig zur »Routineangelegenheit« herunterge-spielt und der Presse gegenüber begründet mit einer mehr alsein Jahr zurückliegenden »konkret«-Veröffentlichung über denfrüheren BND-Spitzenfunktionär Hans Langemann, eine zwie-lichtige Gestalt, die unter Franz Josef Strauß zum Chef derbayerischen Staatsschutzdienste avanciert und später gefeuert

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worden war, teils wegen Unfähigkeit und Geschwätzigkeit,teils wegen des Sicherheitsrisikos, das sein Privatleben bot.

Indessen lag der Verdacht sehr nahe, daß es sich in Wahrheitnicht um diese weit zurückliegende Veröffentlichung handelte,sondern um einen erst gerade erschienenen »konkret«-Artikelund einen damit zusammenhängenden privaten Racheakt Hel-mut Kohls. In der Ausgabe vom Januar 1983 hatte Chefredak-teur Manfred Bissinger den Kanzler in einem Artikel scharfangegriffen, und es hieß darin: »Wie ein Mann seine Familiebehandelt und über die Familie spricht, kann im Gegensatznicht krasser sein als bei Helmut Kohl. Seine Worte sind schein-heilig und verlogen, wenn man weiß, wie er lebt. . «

Gemeint war das Privatleben des Kanzlers im Bereich Eheund Familie, den Lieblingsthemen des salbadernden Volksred-ners Kohl. »Ich spreche so leidenschaftlich zu diesem Thema«,hatte er gerade erst getönt, »weil für mich ganz klar ist, daß dieimmer wieder notwendige geistig-moralische Erneuerungunseres Landes eben nur dann kommen kann, wenn die Jun-gen ihr Beispiel zu Hause erfahren. . und eingeübt werden indie Tugenden unseres Landes am Beispiel der eigenen Eltern,in der Wärme und Geborgenheit der eigenen Familie.« Dochals Helmut Kohl von Mainz nach Bonn umgezogen war, hatteer seine Frau Hannelore und seine beiden Söhne im Oggershei-mer Bungalow zurückgelassen. Seine Sekretärin Juliane Weberaber war mit ihm umgezogen, nicht nur ins Bonner Büro, son-dern auch in sein neues Haus in Bonn-Pech. Am 14. Oktober1982, zwei Wochen nach Kohls Einzug ins Bundeskanzleramt,hatte »BILD« aus der »geheimnisvollen Welt der neuen Nr. 1«der Kanzlergattin Hannelore Kohl gemeldet: Sie »kam nachBonn selten, übernachtet hat sie dort so gut wie nie«.

»In Bonn ist es ein offenes Geheimnis«, hatte Bissinger in»konkret« über das Verhältnis Kohls mit seiner Sekretäringeschrieben. »Die Journalisten kennen nicht nur Juliane Weber(die übrigens auch verheiratet ist)«, sie wissen auch, wie Kohlzu ihr steht. »Die Wahrheit schreiben will keiner.. . Das höch-ste der Gefühle ist mal ein Scherz für Insider. Der >Spiegel<über Juliane Weber: >Sie schlägt ihm auch die Eier auf, weil der

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Kanzler sie so heiß nicht anfassen mag.< Normalerweise würdeman darüber zur Tagesordnung übergehen.

Soweit die wesentlichen Stellen aus dem für Helmut Kohlund seine Gefährtin so ärgerlichen »konkret«-Artikel, dergewiß nicht geschrieben - und bestimmt nicht hier zitiert - wor-den wäre, hätte Kohl nicht selbst dafür gesorgt, daß man überseine Intimsphäre eben nicht taktvoll schweigen kann!

Der Kanzler selbst hat aus seiner privaten eine öffentlicheAngelegenheit gemacht, denn zum erstenmal seit Bestehender Bundesrepublik, ja - wenn man die Hitler-Diktatur aus-nimmt - in der ganzen neueren deutschen Geschichte hat einKanzler die Finanzierung seines Verhältnisses nicht aus eige-ner Tasche vorgenommen, sondern sie dreist dem Steuerzahleraufgebürdet! Damit nicht genug, Helmut Kohl hat seiner Juli-ane Weber, die für ihn, wie wir bereits wissen, auch öfters dasvon der Industrie gespendete Bargeld kassieren darf, auch einePfründe verschafft, die ihr nicht zusteht. Gegen das Beamten-recht und gegen die Einwände des Personalrats, der darauf hin-wies, daß Frau Weber sogar die in den Richtlinien vorgeschrie-bene Oberschul- und Universitätsbildung fehle, ganz zuschweigen vom Staatsexamen, wurde die Kanzler-Gefährtinmit den Bezügen eines Regierungsdirektors als persönlicheReferentin eingestellt, weil Kohl das »einzigartige« VertrauenVerhältnis geltend machte, das zwischen ihm und JulianeWeber bestehe, und sich damit durchsetzte.

Erst diese von Kohl eingeführte »Mätressenwirtschaft« (wieBeamte des Kanzleramts seinen Regierungsstil nennen, der esFrau Weber gestattet, mit der einleitenden, keinen Wider-spruch duldenden Formel »Der Kanzler wünscht...« ihre eige-nen Forderungen durchzusetzen) hat »konkret« dazu veran-laßt, die Öffentlichkeit darüber zu informieren.

Kohl selbst informierte die Öffentlichkeit auf seine Weise.In derselben Woche, in der das Kanzleramt die Haussuchungenbei »konkret« vornehmen ließ, verkündete er vollmundig: »Esgilt für uns der Satz: Eine gesunde Familie ist die Vorausset-zung eines gesunden Staates, und Staatspolitik muß sich täg-lich an diesen Satz erinnern.«

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Ein paar Tage später bemühten sich Kanzlergehilfen, dieBonner Journalisten davon zu überzeugen, daß die Aktion ge-gen »konkret« nichts zu tun gehabt hätte mit der dort veröffent-lichten Geschichte über die zur Regierungdirektorin ernannteKanzler-Gefährtin. Denn diese Veröffentlichung hätte ja Kohlund Frau Weber noch gar nicht zur Kenntnis gelangt sein kön-nen, weil sie im Januar-Heft stand; der Durchsuchungsbefehlaber sei bereits am 29. Dezember 1982 unterzeichnet worden!Die Wahrheit hingegen ist, daß »konkret« wegen der Feiertageseine Januar-Ausgabe bereits am 21. Dezember ausgelieferthatle. So war also Zeit genug gewesen, etwaige Rachegelüstereifen zu lassen und dann auch zu stillen.

Indessen ist der Vorfall samt seinem skandalösen Hinter-grund, der Einsetzung der »einzigartigen« Gefährtin als Direk-torin ins Kanzleramt, nur ein weiteres Beispiel für den misera-blen Stil des Politikers Helmut Kohl, der ständig von »geistig-moralischer Erneuerung« redet, sich aber nicht scheut, denSuperreichen Steuergeschenke in Milliardenhöhe auf Kostender Allgemeinheit, vor allem der Lohnsteuerpflichtigen, zumachen und dafür bei den Herren des Großen Geldes abzukas-sieren. Bleibt noch zu fragen, welche unsittlichen Forderungen,außer den bereits genannten speziellen Wünschen des HausesFlick und denen der Pharma-Industrie die Konzerngewaltigenan Helmut Kohl und dessen Regierung noch gestellt habenund inwieweit diese Forderungen bereits erfüllt worden sind.Denn natürlich wollen die milliardenschweren Herren für ihrehohen Spenden, auch wenn diese Beträge durch Schwinde-leien und Steuerhinterziehung ergaunert worden sind, diegewünschten Resultate sehen.

Aber mit den vom Großen Geld erhofften Ergebnissen kanndie Regierung Kohl in reichem Maße aufwarten. Ihre Bilanznach zwölf Jahren »Wende«politik ist für die Superreichen derBundesrepublik so zufriedenstellend, daß sie sich vergnügt dieHände reiben können.

Sehen wir uns an, wie Kohl sich ihnen gleich in seinen erstenRegierungsjahren nützlich gemacht hat.

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Warum das GroßkapitalHelmut Kohl finanziert undwas es dafür gleichvon ihm bekommen hat

An nichts wird so glänzend verdient wie am Rüstungsgeschäft.Viele der größten Vermögen der Bundesrepublik im Megamil-lionen- und Multimilliardenbereich stammen aus Kriegsgewin-nen, aus Waffenlieferungen ins Ausland, vor allem aber ausAufträgen der Bundeswehr. Die Erben von Harald und HerbertQuandt -geschätztes Vermögen: zusammen 7,3 Milliarden DM-, der Flick-Erbe Dr. Friedrich Karl Flick und seine Neffen -zu-sammen mindestens 5,6 Milliarden DM schwer -, Familie v.Siemens - 3,7 Milliarden DM -, die Röchling-Erben - etwa 3,3Milliarden - oder, um aus der Fülle der möglichen Beispielenoch einen weiteren Krösus zu nennen, Karl Diehl, der aufMunition, Zünder, Panzerketten und Kanonen spezialisiert istund auf 1,9 Milliarden DM Vermögen geschätzt wird - sie undviele andere verdanken ihr vieles Geld großenteils dem gewalti-gen Rüstungsbedarf, nicht zuletzt dem der Bundeswehr.

Um so erschrockener müssen die Konzernherren gewesensein, als Kanzler Kohl, kaum daß er trickreich in sein Amt ge-hievt worden war, mit der Parole in den Bundestagswahlkampf1983 zog: »Frieden schaffen mit immer weniger Waffen!«

Indessen beruhigten sich die Rüstungsmagnaten sehr rasch,als sie merkten, daß Kohl ihnen nur eins seiner demagogischenKunststückchen vorführte. Die damaligen Meinungsumfragenhatten erbracht, daß die überwältigende Mehrheit der Bevölke-rung nichts sehnlicher wünschte als einen sicheren Friedendurch eine massive Abrüstung in Ost und West. Fast 80 Prozentder Befragten sympathisierten mit der Friedensbewegung, be-jahten deren Ziele und bekundeten ihr Vertrauen zu Gorba-tschow und die Glaubwürdigkeit seiner Vorschläge zur Beile-

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gung des Ost-West-Konflikts und zur stufenweisen Abrüstung.Angesichts dieser breiten Zustimmung der Bundesbürger zuden Bemühungen, den Rüstungswahnsinn zu beenden, hattesich Helmut Kohl veranlaßt gesehen, ganz ungeniert mit demVersprechen auf Stimmenfang zu gehen, ebenfalls für Abrü-stung zu sorgen.

Doch er tat das Gegenteil:Die Rüstungsausgaben der Bundesrepublik stiegen unter

Helmut Kohls Kanzlerschaft kontinuierlich weiter. 1983 betru-gen sie 46751 Millionen DM, 1986 überschritten sie erstmalsdie 50-Milliarden-Grenze, und 1990 erreichten sie mit mehr als54 Milliarden DM den höchsten Stand in Friedenszeiten, denes in der deutschen Geschichte je gegeben hat!

Obwohl von einer tatsächlichen Bedrohung nicht mehr dieRede sein und spätestens seit der Jahreswende 1989/90 nie-mand mehr daran zweifeln kann, daß Abrüstung das Gebot derStunde ist und keinesfalls weiter aufgerüstet werden darf, sahder Haushaltsentwurf der Kohl-Regierung für 1991 abermalsrund 50 Milliarden DM vor. Die scheinbare Verminderung umetwa zwei Prozent beruht zudem auf einem Rechentrick: DiePersonalverstärkungsmittel wurden aus dem Wehr- in den Fi-nanzetat übertragen. Trotz Verringerung der Bundeswehr-Trup-penstärke um fast ein Drittel sind die Verteidigungsausgabenbis heute nur wenig unter die 50-Milliarden-DM-Grenze ge-sunken.

Diese gigantische Vergeudung von öffentlichen Mitteln ge-hört zur Strategie der Regierung Kohl, die das Ziel hat, dasVolksvermögen umzuverteilen - zu Lasten fast aller Bürgerin-nen und Bürger und zum Nutzen der wenigen Superreichen;denn wenn Großunternehmen Hunderte von Millionen Markinvestieren, wie sie es taten, als sie zwei Jahrzehnte lang sehrviel Geld in die Kassen von CDU, CSU und F. D.P. sowie in dieTaschen führender Politiker fließen ließen, dann wollen sie fürihr Geld natürlich auch Gegenleistung erbracht sehen, die diehohen Ausgaben nachträglich überreichlich lohnen.

Neben den Sonderwünschen einzelner Großunternehmer -beispielsweise Flicks Wunsch nach Befreiung von allen Steuer-zahlungen für sein »Milliardending«, die ihm dann ja auch

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gewährt wurde - oder einzelner Branchen -wie etwa die eben-falls gelungene Abwehr vernünftiger Sparmaßnahmen im Arz-neimittelbereich durch die Pharma-Industrie - haben alle gro-ßen Bosse unseres Landes auch einige gemeinsame Wünsche:Sie wollen mehr Profit, egal ob durch steuerliche Entlastungoder durch Befreiung von lästigen, weil hohe Kosten verursa-chenden Auflagen, etwa im Umwelt- oder Arbeitsschutzbe-reich, ob durch Senkung ihrer Lohn- und Lohnnebenkostenoder durch hohe Subventionen.

Es gibt noch vieles, was den Profit kräftig steigert, und amliebsten ist es den großen Bossen, wenn ihnen die Regierungalles auf einmal und in möglichst reichem Maße beschert. DieCDU/CSU/F.D.P-Regierung hat sich seit 1983 die größteMühe gegeben, den Konzernen nur ja alles recht zu machen.Das ist freilich immer mit einem Problem verbunden: Wennman so viel zugunsten von wenigen Superreichen tut, geht diesleider zu Lasten der breiten Mehrheit. Da die Regierung aber,wenn sie über den nächsten Wahltag hinaus am Ruder bleibenwill (und nach dem Willen ihrer Geldgeber aus der Konzern-welt auch soll), eine Mehrheit der Wählerstimmen benötigt,muß sie das Kunststück fertigbringen, sich all denen überzeu-gend als Wohltäterin anzupreisen, die sie zugunsten des Gro-ßen Geldes benachteiligt und geschädigt hat. Ihr Spezialist fürdiese schwierige Aufgabe heißt Dr. Norbert Blüm langjährigerVorsitzender der CDU-Sozialausschüsse, auch Mitglied einerDGB-Gewerkschaft, seit 1983 Bundesminister für Arbeit (wasaber wohl nur eine irreführende Abkürzung ist, denn tatsäch-lich fungiert Dr. Blüm als Minister für Arbeitgeberinteressen).»Den Opfern des Sozialabbaus in ihrer Sprache zu antworten,ihnen die staatlichen Maßnahmen mit ihren eigenen Worten alsWohltat zu verkaufen - diesen Trick beherrscht kaum ein ande-rer Politiker so sicher und vertrauenerweckend wie NorbertBlüm«, heißt es in der hervorragenden Studie von Hans Uske,»Die Sprache der Wende«, über diesen mit Roßtäuschermetho-den arbeitenden Demagogen, der den Abbau der Sozialleistun-gen mit der Notwendigkeit rechtfertigt, den Staat vor Verschul-dung zu bewahren, und zwar folgendermaßen:

»Dafür brauche ich gar keine volkswirtschaftlichen Theorien.Das entspricht auch dem Lebensgefühl der Arbeiterfamilie.

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Die Arbeiterfamilie hat nie auf Pump gelebt. Sie hat immergewußt: Man kann nicht mehr essen, als auf dem Tisch steht;und ein Staat kann nicht mehr ausgeben, als er einnimmt. Dasentspricht dem Lebensgefühl der Arbeitnehmer.« So Dr. Blümim Bundestag am 18. Dezember 1983 zur Begründung derdamals eingeleiteten Regierungspolitik, die dann nicht nursystematisch Sozialleistungen kürzte und Arbeitnehmerrechteeinschränkte, sondern zugleich die Staatsschulden mehr alsverdoppelte.

»Der Staat«, merkt Hans Uske treffend an, »ist natürlichkeine Arbeiterfamilie, und Staatsschulden sind nicht miteinem Überziehungskredit zu vergleichen. Aber nehmen wirmal an, >der Staat< sei tatsächlich in so tiefer Not wie eine Arbei-terfamilie. Wieso nimmt Blüm dann den armen Familienmit-gliedern Geld weg, um es dem reichen Onkel als Steuerge-schenk in den Rachen zu werfen? Wenn er uns schon alle zueiner riesigen Arbeiterfamilie macht, wäre es klar, daß uns dieWohlhabenden aus der Patsche helfen müßten. In richtigenArbeiterfamilien gehört das zum guten Benehmen. . «

In derselben Bundestagsrede vom 8. Dezember 1983 gabsich Dr. Blüm sogar noch ein bißchen proletarischer:»Die Zinsen der staatlichen Schuldenpolitik bekommennicht die Rentenempfänger, die Sozialhilfeempfänger, sonderndiejenigen, die dem Staat das Geld leihen konnten«, erklärte er,mehr für das Fernsehpublikum, das seine Rabulistik in der»Tagesschau« serviert bekam, als für seine wenigen Zuhörer imBundestag. »Das sind nicht die armen Leute, das sind dieÖlscheichs, die Banken und die Besserverdienenden. Schuldenabbauen ist soziale Politik!«

»Ist das nicht klassenkämpferisch«, heißt es dazu in dem bis-sigen Kommentar von Hans Uske, »wie Kollege Blüm hiergegen Ölscheichs, Banken und Besserverdienende vorgeht? InWirklichkeit benutzt er ein paar proletarische Reizworte, umden Klassenkampf von oben - den er selbst mit vorantreibt -sprachlich in einen angeblichen Kampf gegen Ölscheichs undBanken zu verwandeln. Seine Arbeitersprache setzt Blüm ein,wie es ihm gerade paßt.«

Denn bei anderer Gelegenheit kann er genauso geschicktdie - angeblich faulenzenden - Sozialhilfeempfänger, die er

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eben noch als »arme Leute« für seine Scheinargumentationbenutzt hat, in Parasiten und »Ausbeuter« verwandeln und fol-gendermaßen -in seinem Buch »Die Arbeit geht weiter«, Mün-chen 1983, Seite 9 - verunglimpfen:

»Aber ist es nicht eine moderne Form der Ausbeutung, sichunter den Palmen Balis in der Hängematte zu sonnen, alterna-tiv vor sich hin zu leben im Wissen, daß eine Sozialhilfe, vonArbeitergroschen finanziert, im Notfall für Lebensunterhaltzur Verfügung steht?«

Dazu noch einmal der Kommentar von Hans Uske: »Wie an-dere Politiker stützt sich blüm auf schon vorhandene Vorurteilegegen >Drückeberger<. Blüms Spezialität ist jedoch der Appellans Klassenbewußtsein...: >Ausbeutung<? Machen die Unter-nehmer, muß der Arbeiter gegen kämpfen. >Arbeitergroschen<?Sind sauerverdient, wollen die Reichen wegnehmen, muß manverteidigen. >Unter den Palmen Balis?< Da liegen die Playboysam Strand, sonnen sich Ausbeuter von sauer verdienten Arbei-tergroschen. Während er so die Opfer seines Sozialabbausdenunziert, hofft Blüm auf Applaus von Arbeitern -was beson-ders makaber ist, da die ja selbst zu seinen Opfern gehören.«

Norbert Blüm geht sogar noch einen Schritt weiter: Im Som-mer 1986 ließ sein Ministerium verbreiten, von einem Sozialab-bau könne überhaupt nicht die Rede sein - im Gegenteil: DieSozialausgaben hätten vielmehr seit der »Wende« eine kräftigeSteigerung erfahren! Und tatsächlich: Wenn man, wie es ein zudieser dreisten Behauptung geliefertes Schaubild tat, alle Aus-gaben im Gesundheitswesen, vor allem die - von der »Pillen-lobby« unter vormaliger Führung des späteren JuwelenräubersDr. Scholl herbeigeführte - Kostenexplosion bei Arzneimittelnhinzurechnete, ebenso die den Gemeinden aufgebürdeten So-zialhilfe-Lasten, dann hatten sich allerdings schon in diesenersten Jahren der Regierungstätigkeit von Kohl und Blüm dieSozialausgaben drastisch erhöht - nur waren die Leistungen,auf die der oder die einzelne Anspruch hatten, keineswegsgestiegen, sondern hatten sich real vermindert. Kräftig ver-mehrt hatten sich hingegen die Profite, beispielsweise die derPharma-Industrie aber auch die Honorareinnahmen etwa beiden Zahnärzten.

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Tatsächlich haben zwölf Jahre Kohlscher »Wende«politikMillionen in die Armut getrieben, dafür die Reichen noch umvieles reicher gemacht.

Begünstigt durch die bis Anfang der neunziger Jahre anhal-tende Hochkonjunktur sind die Unternehmergewinne und Ver-mögensrenditen explosionsartig gestiegen, aber gleichzeitighat die Kohl-Regierung den Großverdienern immer neue Steu-ergeschenke gemacht. Das hat diese aber nicht davon abgehal-ten, in steigendem Maße Steuern zu hinterziehen. Wie derwegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung rechtskräftig verur-teilte Ex-Bundeswirtschaftsminister und inzwischen Ex-F.D.P-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff dazu bemerkt hat, befindeter sich mit diesem Delikt »in allerfeinster Gesellschaft«. In derTat: Steuerhinterziehungen großen Stils und Kapitalflucht insAusland werden nicht von Otto Normalverbraucher, nicht vonLohnsteuerpflichtigen und auch nicht von kleinen und mittle-ren Beamten, Rentnern, Arbeitslosen oder Sozialhilfeempfän-gern begangen.

Was die beiden letzten großen Gruppen der Bevölkerungbetrifft, so haben Kanzler Kohl und sein Arbeitsminister Blümzur Verminderung der Arbeitslosigkeit und Armut bislang nureines getan: unermüdlich eine Verschönerung der Statistikbetrieben. Schon mit der 7. Novelle zum Arbeitsförderungsge-setz wurde die Möglichkeit geschaffen, rund 100 000 Arbeits-lose zwischen 50 und 59 Jahren endgültig aus der Statistik ver-schwinden zu lassen, ebenso rund 40 000 arbeitslose Frauen.Eine statistische Absenkung der Arbeitslosenquote kam späterauf folgende Weise zustande: Man setzte die Arbeitslosennicht mehr ins Verhältnis zu den abhängig Beschäftigten, son-dern zu allen Erwerbspersonen. Das führte dazu, daß sich dieArbeitslosenquote von einem Tag auf den anderen um fasteinen Prozentpunkt verringerte, ohne daß ein einziger Arbeits-loser Arbeit bekommen hätte.

Doch solche Methoden genügten nicht, um das - so Kohl -leidige Thema »Arbeitslosigkeit« zu »entschärfen«. Deshalbdachte sich die Leiterin des Allensbacher Instituts für Demo-skopie, Frau Professor Noelle-Neumann, etwas Neues aus.Kohls Hof-Demoskopin machte dem Kanzer schon 1986 den

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Vorschlag im Hinblick auf die Bundestagswahlen vom Januar1987 »den Block der Arbeitslosen aufzuteilen«. Rund 700 000Arbeitslose sollten »als Alkoholiker, Drogensüchtige, sozialeAussteiger« oder schlicht als »freiwillig arbeitslos« diffamiertund - zumindest auf dem Papier - von der erschreckendenGesamtzahl in Abzug gebracht, der immer noch gewaltige Restunterteilt werden in »Alleinernährer, Arbeitslose in Haushal-ten, in denen es einen zweiten Hauptverdiener gibt, undArbeitslose, die Nebenverdiener sind«.

Frau Noelle-Neumann hat damals der Bundesregierunggeraten, diese Zahlenakrobatik nicht selbst vorzunehmen. Einsolches Rechenkunststück, »das vor der heißen Phase des Wahl-kampfes abgeschlossen werden soll«, müßte »aus privaterInitiative« in Auftrag gegeben werden, wie es dann auchgeschah. Arbeitgeberverbände, Konzerne und »andere privateGeldgeber« beauftragten die Allensbacher tatsächlich mit derDurchführung dieses Roßtäuschertricks. »Wir werden dieArbeitslosigkeit einigermaßen wegerklären«, versicherte dazuim Sommer 1986 ein Allensbach-Mitarbeiter. »Leicht wird dasnicht gerade sein, aber es wird hoffentlich reichen, der Bundes-regierung im Wahlkampf über die Runden zu helfen...«

Diese und andere Täuschungsmanöver, die seitdem in rei-chem Maße angewendet worden sind, änderten natürlich nichtdas geringste am tatsächlichen Ausmaß der Dauermassenar-beitslosigkeit, die sich nicht verringerte, sondern vergrößerte.Doch vor allem, wenn Wahlen anstanden, war es der Kohl-Regierung jedesmal besonders wichtig, den Wählerinnen undWählern Sand in die Augen zu streuen, damit ihnen das Aus-maß, vor allem aber die Gründe der Arbeitslosigkeit nicht deut-lich werden. Sie sollen nicht merken, warum wohl Arbeitgeber-verbände, Konzerne »und andere private Geldgeber« daraninteressiert sind, daß Millionen Menschen ohne festen Arbeits-platz bleiben und dafür auch noch diffamiert und mit Verach-tung bestraft werden. Mit der Massenarbeitslosigkeit wird näm-lich die Voraussetzung geschaffen, Löhne und Gehälter imunteren Bereich zu drücken und die Beschäftigten zu »freiwilli-gem« Verzicht auf wohlerworbene Ansprüche und hart er-kämpfte Rechte zu bewegen. Durch die Diffamierung der »Frei-

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gestellten« sollen die Solidarität mit den Arbeitslosen untergra-ben und die Ängste der noch Beschäftigten vor Entlassung undsozialem Abstieg geschürt werden.

»Je mehr Arbeitslose wir haben und je schlechter es ihnengeht, desto besser wird die Arbeitsmoral, desto weniger drük-ken uns die Lohnkosten!« Diese Grundregel der großen Bossestellte der Größte von ihnen, Friedrich Flick, bereits 1931, wäh-rend der Weltwirtschaftskrise, auf einer Aktionärsversamm-lung in Düsseldorf auf, und an der Gültigkeit dieser Regel undihrer immer rigoroseren Anwendung hat sich bis heute nichtsgeändert.

Am schlechtesten dran sind jene jugendlichen Arbeitslosenohne Ausbildung, denen Kanzler Kohl vollmundig »für jedenund jede eine Lehrstelle« versprochen hat (woran er aber nichtmehr erinnert werden möchte). Um der Statistik willen werdenmännliche Dauerarbeitslose im wehrpflichtigen Alter zu kur-zen Übungen einberufen; die Unterbrechung genügt, sie ausder Rubrik »Dauerarbeitslose« verschwinden zu lassen.

Auch das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz derRegierung Kohl brachte, gerade fürjunge Leute, drastische Ver-schlechterungen: Zur Freude der Bosse fördert das Gesetz dasHeuern und Feuern und erlaubt ohne sachliche Begründungbefristete Arbeitsverträge bis zu 18monatiger Dauer. Außer-dem wurde die zulässige Dauer der ohnehin höchst bedenk-lichen, ausbeuterischen Leiharbeit verlängert.

Mit dem 1985 ausgerechnet zum 1. Mai in Kraft getretenenGesetz wurde der Kündigungsschutz durchlöchert. Höchst um-strittene, von den Gewerkschaften bekämpfte Formen der Teil-zeitarbeit wurden gesetzlich verankert: sowohl die Arbeits-platzteilung, das sogenannte »Job-sharing« als auch die »kapa-zitätsorientierte variable Arbeitszeit« (KAPOVAZ). Die Ju-gendschutzbestimmungen wurden eingeschränkt; die erlaubteSchichtzeit auf Bau- und Montagestellen wurde für Jugendli-che auf elf Stunden verlängert, der Arbeitsbeginn von siebenauf sechs Uhr vorverlegt, in Bäckereien sogar auf vier Uhr!

Das Beschäftigungsförderungsgesetz, das entgegen seinemverheißungsvollen Namen nicht zur Schaffung von Arbeitsplät-zen beitrug, sondern im Gegenteil zu verstärkter Ausbeutung

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von Arbeitskraft führte, wurde ergänzt durch etliche Novellenzum Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Dieses aus den sechzi-ger Jahren stammende Gesetz hatte ursprünglich den Zweck,daß die Bundesanstalt für Arbeit nicht bloß diejenigen finan-ziell unterstützt, die arbeitslos sind, sondern der Arbeitslosig-keit auch aktiv entgegenwirkt. Die von Dr. Kohl geführte Regie-rung bewerkstelligte mit mehreren Novellen zum AFG sowohleinen Abbau der Leistungen für die Arbeitslosen als auch einedrastische Einschränkung der Möglichkeiten aktiver Arbeits-marktpolitik, zum Beispiel Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.

Wenn man, wie es die Regierung Kohl sich zum Ziel gesetzthat, massiven Sozialabbau und Umverteilung von unten nachganz oben will, dann ist ein scheinheiliger Sprücheklopfer wieNorbert Blüm unentbehrlich. Neben den von ihm betriebenendrastischen Kürzungen der Sozialleistungen fallt ihm ja auchnoch die Aufgabe zu, die reiche Bundesrepublik allmählich inein Billiglohnland umzuwandeln, wo allein die Bosse dasSagen haben und die Lohn- und Gehaltsempfänger schutzlossind.

Alle bisherigen Maßnahmen der Regierung Kohl und ihresArbeits- und Sozialministers Blüm, die angeblich dem »Abbauder Arbeitslosigkeit« dienen sollen, zielen darauf, in hundert-jährigem Kampf mühsam errungene Rechte der Arbeiter undAngestellten Schritt für Schritt abzubauen. Blüms Begründungim Bundestag: »Das Arbeitsrecht unter den Bedingungen derArbeitslosigkeit muß Brücken bauen und darf nicht dazu füh-ren, daß die Privilegierten, die Arbeitsbesitzer, sich in dieFestung zurückziehen und die Beute unter sich verteilen!«

Statt gezielt die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, wie es seineAufgabe wäre, will Blüm - denn das meint er in Wahrheit -, daßdie »Arbeitsbesitzer« auf ihre »Beute«, nämlich auf ihren inharten Tarifkämpfen errungenen Besitzstand an gesichertemLohn und erträglichen Arbeitsbedingungen, verzichten lernenund ihre »Privilegien«, nämlich in jahrzehntelangem politi-schen Kampf durchgesetzte Rechte, zum Beispiel auf Kündi-gungsschutz, einfach aufgeben!

Ex-Bundesminister Graf Lambsdorff, resozialisierter Geld-wäscher, Steuerhinterzieher und Flick-Helfer einerseits, lang-

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jähriger F.D. P-Chef und Gralshüter der superfreien Marktwirt-schaft andererseits, verkündete das Gleiche wie Norbert Blüm,nur unverblümter. In einem Interview in dem auf Volksver-dummung spezialisierten Achtgroschenblatt, das sich ambesten für solche Verlautbarungen eignet, ließ der Graf sichherbei, sein Patentrezept zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeitzu verraten:

»Dagegen gibt es nur eine Medizin: Disziplin bei künftigenLohnvereinbarungen. Denn für niedrige Löhne gibt’s genugArbeit.«

Als »schlimmsten Fehler« bezeichnete Graf Lambsdorff, dervom Hause Flick so reich Bedachte, die Anhebung der Löhneund Gehälter in den »unteren Einkommensstufen«, da sichgerade die einfachste Arbeit »am besten durch Maschinenersetzen« ließe.

Ganz abgesehen davon, daß Löhne gleichzeitig Kaufkraft,Steuern und Sozialversicherungsbeiträge bedeuten, wird derZynismus der gräflichen Argumentation, wie Hans Uske in sei-ner Untersuchung »Die Sprache der Wende« anmerkt, erst rich-tig deutlich, »wenn wir uns in die Zukunft versetzen und an-nehmen, Lambsdorffs Rezept wäre bereits verwirklicht.. .Nehmen wir also an, die Löhne seien gesenkt worden, sagenwir: um 20 Prozent.. . Sofort sinken die Kosten der Unterneh-mer in den lohnintensiven Bereichen, dort wo viele Arbeits-kräfte nötig sind. Die Verlockung, Maschinen anzuschaffen,wird geringer. . . Dank der Wende-Regierung könnten wir end-lich wieder mit den Computern konkurrieren. Die meistenLeute wären ärmer, einige sogar sehr viel ärmer, aber viele hät-ten wieder Arbeit. . . Nun gehört aber zur Wirtschaftsplanungder Bundesregierung die Förderung des technischen Fort-schritts: Milliarden fließen in EDV-Forschung und Computer-Entwicklung.. Großkonzerne engagieren sich im Elektronik-markt. Dieser geballte Einsatz muß sich bezahlt machen.. .Was tun wir jetzt? Die vernünftigste Lösung: Unsere Arbeits-kraft muß noch billiger werden, außerdem lernen wir noch bes-ser computern, und dann müssen wir noch billiger werdenund dann -leben wir in einem Billiglohnland. Und wenn dienächste konjunkturelle Krise kommt und wenn durch die

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rasante Entwicklung des technischen Fortschritts die Arbeits-losenzahl weiter ansteigt - dann wird diese Sorte von Vernunftdarauf nur eine Antwort wissen: Das Opfer der Bevölkerungwar nicht groß genug, der Gürtel muß noch enger geschnalltwerden.«

Auf dem Wege zur Verwirklichung solcher Absichten sahendie großen Bosse und die von ihnen mit Millionenspendengeförderte Regierung Kohl ein Hindernis: den DGB und die indiesem Bündnis zusammengeschlossenen Einheitsgewerk-schaften. Folgerichtig setzte die Regierung Kohl, kaum daß siedurch den Wählerbetrug der F.D.P. an die Macht gekommenwar, die Schwächung der Gewerkschaften auf ihr Programm.Ihr erstes Ziel war, die Streikfahigkeit und damit das Grund-recht auf Streik als legitimes Kampfmittel der wirtschaftlichSchwächeren auszuhöhlen. Durch eine Änderung des Paragra-phen 116 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) sollte zunächst ein-mal die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften in derTarifpolitik beendet werden.

Worum es dabei ging, erläuterte der DGB am Beispiel desArbeitskampfes, mit dem die IG Metall das Tabu der 40-Stund-den-Wochen brach: »Während dieses Arbeitskampfes haben inder Metallindustrie 55 000 Arbeitnehmer gestreikt. 170 000Arbeitnehmer wurden in den umkämpften Tarifgebieten ausge-sperrt. Über 300 000 Arbeitnehmer wurden bundesweit kaltausgesperrt. Das heißt: Von zehn Arbeitnehmern, die in denArbeitskampf einbezogen waren, waren neun ausgesperrt undeiner streikte. Die Arbeitgeber haben durch massenhafte Aus-sperrung im umkämpften Tarifgebiet bundesweit kalte Aus-sperrungen verursacht oder willkürlich herbeigeführt - unddiese Praxis wollen sie sich in Zukunft von den Sozialämternbezahlen lassen. Sie wollen mit der Existenzangst der Arbeit-nehmer und ihrer Familien Tarifpolitik machen. Wenn Gesetzwird, was die Arbeitgeber wollen und die Regierung vollzieht,wird das Streikrecht zwar auf dem Papier erhalten bleiben, aberin der Praxis bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt sein.«

Dennoch wurde die Änderung des Paragraphen 116 AFGgegen den millionenfachen Protest der organisierten Arbeit-nehmer von der Regierung Kohl durchgepeitscht. Weit größer

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als ihr Respekt vor den demokratischen Grundrechten war dieRucksicht auf ihre Geldspender in den Chefetagen der Groß-konzerne - im Falle des Grafen damals noch Flick, inzwischendie mächtige Allianz-Versicherung, die sich im Frühsommer1990 das DDR-Versicherungswesen unter den Nagel gerissen,dessen Verpflichtungen in Milliardenhöhe aber den Steuerzah-lern überlassen hat.

Unter der Federführung von Minister Dr. Blüm wurde mitden Stimmen der schwarz-goldenen Koalition von CDU/CSUund F. D. P der Paragraph 116 im Sinne der Konzernherren abge-ändert. Graf Lambsdorff äußerte vollste Zufriedenheit. Mitden kleinen Korrekturen, die den Gewerkschaften am Endenoch bewilligt worden waren, »ließe sich leben«, meinte er. ImKlartext: Das »Anti-Gewerkschaftsgesetz«, wie es der dama-lige DGB-Vorsitzende Ernst Breit genannt hat, entsprachdurchaus den Forderungen der Konzerne, deren Bestreben dar-auf gerichtet war und ist, die Gewerkschaften, vor allem tarifpo-litisch, handlungsunfähig zu machen.

Tatsächlich hat die Regierung Kohl mit der von ihr durchge-führten Änderung des Streik-Paragraphen 116 AFG einen derdringendsten Wünsche ihrer Geldgeber erfüllt, der - so einBDI-Festredner im Jahresrückblick - »zum Vermächtnis vonHanns Martin Schleyer« gehörte.

Auch bei den Feierlichkeiten zum 10. Todestag des Kohl-Ent-deckers Dr. Fritz Ries im Juli 1987 in Frankenthal, an denenKanzler Kohl seinem langjährigen Förderer, trotz dessenSchandtaten um und in Auschwitz, uneingeschränktes Lobspendete und die »vorbildliche Unternehmerpersönlichkeit«des verewigten Groß»arisierers« und Kondom-Königs pries,waren die versammelten Freunde aus Industrie und Bankweltsich darin einig, daß die geglückte Änderung des §116 AFG»ein richtiger Schritt auf dem richtigen Wege« gewesen sei.

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Wie mit Kohls Hilfe die Reichenimmer reicher und dieArmen immer ärmer werden

Wie sich der Sozialabbau bereits nach vier Jahren »Wende«-Politik ausgewirkt hatte, beschrieb der SPD-SozialexperteEgon Lutz 1986 im Bundestag: »Der Sozialabbau der Regie-rung Kohl hat zu einer neuen Armut geführt. Durch Kürzun-gen von Sozialleistungen und Anhebung von Sozialversiche-rungsbeiträgen wurden die sozial Schwächeren in großemUmfang belastet.. . Mitte 1985 haben nahezu 40 Prozent (derArbeitslosen) überhaupt keine Leistungen mehr aus derArbeitslosenversicherung erhalten. Nur noch ein Drittel allerArbeitslosen bezog Arbeitslosengeld, und zugleich sank dasdurchschnittlich gezahlte Arbeitslosengeld um annähernd vierProzent.. . , obwohl die durchschnittlichen Lebenshaltungs-kosten im selben Zeitraum um 5,8 Prozent gestiegen sind!«

Auch in der Folgezeit, am Ende der achtziger Jahre, besser-ten sich - trotz damals noch anhaltender Hochkonjunktur undgutgefüllter Kassen - diese katastrophalen Verhältnisse um kei-nen Deut. Infolge des Anstiegs der Lebenshaltungskosten ver-schlechterten sie sich noch. Langzeitarbeitslosigkeit, anstei-gende Überschuldung vieler Familien und drastische Verknap-pung preisgünstigen Wohnraums ließen immer mehr Mittel-schichtfamilien in die Armut absinken. Die Regierung Kohlbrachte den sozialen Wohnungsbau zum Erliegen und trug mitihrer Gesetzgebung kräftig dazu bei, daß die Mieter in wach-sende Bedrängnis gerieten und die Wohnungsnot sich vergrö-ßerte. Sie erleichterte die Umwandlung preisgünstiger Woh-nungen in Büros oder unerschwinglich teure Eigentumswoh-nungen und ließ den Abstand zwischen Mietkosten und Haus-haltseinkommen immer kleiner werden, was auch zur Folgehat, daß sich die Sozialstruktur ganzer Stadtviertel ändert, dieMenschen aus ihrer gewohnten Umgebung in ferne »Schlafstät-

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ten« und »Wohnsilos« in Randlagen abgedrängt werden unddie Obdachlosigkeit dramatisch zunimmt.

Ausgerechnet bei ohnehin benachteiligten Gruppen wieFrauen mit niedrigen Renten oder Schwerbehinderten setzteder im Kabinett Kohl für Arbeit und Soziales zuständige Mini-ster Norbert Blüm den Rotstift an. So wurde den Hausfrauender Invaliditätsschutz - trotz oft jahrelanger Beitragszahlung indie Rentenversicherung - einfach gestrichen.

Alles, was der Regierung Kohl zum Thema Armut einfallt,sind dumme Sprüche. Dreist behauptete Norbert Blüm imBundestag: »Altenarmut ist nicht Rentenarmut. Ich bestreite,daß die Ursachen von Armut in der Rentenversicherung liegen.Armut kann auch das Ergebnis von wenigen Beitragsjahren,von geringem Lohn sein« -was gewiß niemand leugnen kann,nur wäre es die Aufgabe einer sozialen Demokratie, zumal ineinem so überaus reichen Land wie der Bundesrepublik, jenesich aus der ungerechten Entlohnung der Frauen ergebenden,viel zu niedrigen Renten nicht als Resultat eines Naturgesetzeshinzunehmen, sondern auszugleichen. Gerade die heute imRentenalter stehenden Frauen, von denen sich die meisten einJahrzehnt lang, durch Kriegs- und Nachkriegsnotjahre, alleindurchschlagen mußten, oft die ganze Last der Kindererzie-hung, des Haushalts und der Erwerbsarbeit trugen, von ihrenPfenniglöhnen nur Mindestbeiträge zur Rentenversicherungleisten und niemals Nachzahlungen aufbringen konnten, ver-dienten im Alter die solidarische Hilfe der westdeutschenWohlstandsgesellschaft. Niemand könnte die Bundesregierungdaran hindern, ihre Milliardengeschenke an die Superreichenin beträchtliche Rentenerhöhungen umzuwandeln, so daßkeine und keiner, die oder der sein Leben lang hart gearbeitet,aber wenig verdient hat, nun auch noch im Alter darben muß.ES wäre dann nicht einmal nötig, die Versicherungsbeiträge zuerhöhen. Aber dazu meinte Kohls Sozialminister Dr. Blüm:

»Wir wollen die Rente lohn- und leistungsbezogen lassen.Wirwollen nicht die Einheitsrente, die Sockelrente. Wirwollennicht die große sozialistische Gulaschkanone, von deren Ein-heitsbrei jeder einen Schlag bekommt!«

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Solche Rabulistik eines Mannes, der sich und seine Politik»christlich« und »sozial« nennt, läßt einen schaudern! Dennniemand verlangt eine »Einheitsrente«, wohl aber wäre es drin-gend erforderlich - und finanziell durchaus möglich -, einedeutlich über der Armutsgrenze liegende Mindestrente einzu-führen. Und wenn man auf die Steuergeschenke an die Super-reichen durchaus nicht verzichten will, genügte zur Finanzie-rung auch, die Vergeudungen im Rüstungsbereich oder bei -am Ende fallengelassenen - Prestigeobjekten wie der Wackers-dorfer Plutonium-WAA einzuschränken.

Als Folge der Massenarbeitslosigkeit und des Sozialabbausist seit der »Wende« die Zahl der Sozialhilfeempfänger ständiggestiegen: in den ersten zwei Jahren um rund 500 000 auf 2,6Millionen, bis Ende 1987 abermals um 500 000 auf 3,1 Millio-nen. 1991 gab es in Westdeutschland 3,7 Millionen Sozialhilfe-empfänger. Eine halbe Million kam kurzfristig in Ostdeutsch-land hinzu, nachdem die DDR der Bundesrepublik »beigetre-ten« war. Und diese Zahlen wachsen weiter.

In dem Ende 1989 veröffentlichten »Armutsbericht« der Pari-tätischen Wohlfahrtsverbände mit der Überschrift »Wessen wiruns schämen müssen in einem reichen Land« wurde daraufhingewiesen, daß die Unternehmer-Nettoeinkommen zwi-schen 1982 und 1988 um 74 Prozent gestiegen waren, in absolu-ten Zahlen um etwa 180 Milliarden DM auf 451,37 MilliardenDM. Demgegenüber betrug der Zuwachs der Netto-Lohn- undGehaltssumme nur 18,2 Prozent, der Anstieg in absoluten Zah-len nur 93,1 Milliarden DM. Der Anteil des Bruttoeinkommensaus Unternehmertätigkeit und Vermögen am gesamten Volks-einkommen wuchs zwischen 1982 und 1988 von 26,2 auf 32 Pro-zent. Die Lohnquote entwickelte sich dagegen im gleichenZeitraum von 73,8 auf 68 Prozent zurück.

Die Reichen wurden also sehr viel reicher, die Armen nurzahlreicher und noch ärmer. Etwa 6,2 Millionen Bundesbürge-rinnen und -bürger, das waren zehn Prozent der Bevölkerungder Bundesrepublik, lebten 1988 an oder unterhalb dessen, wasder Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes die »Ar-mutsschwelle« nannte, unterhalb derer sich Hunger, men-schenunwürdige Wohnverhältnisse, drohende Obdachlosig-

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keit, Mangelkrankheiten, Verelendung und Hoffnungslosig-keit ausbreiten.

Die Entwicklung, die längst vor Eingliederung der DDR indie BRD zu diesen Ergebnissen führte, ging seitdem weiterund beschleunigte sich noch. Die Lohnquote in Westdeutsch-land sank 1991 auf 65,9 Prozent. Die abhängig Beschäftigtenkonnten im Gegensatz zu den Unternehmern ihre realenNettoeinkommen gar nicht mehr verbessern, sondern erlittenEinbußen. Im Gesamtzeitraum von 1982 bis 1992 stiegen dieNettolöhne und -gehälter daher nur um 10,5 Prozent, die realenEinkommen der Unternehmer dagegen um 123 Prozent.

Besonders stolz pries die Regierung Kohl in den achtzigerJahren ihr Steuersenkungsgesetz. Es entlastete die Steuerzah-ler in zwei Stufen zwar um fast 20 Milliarden DM, doch warendiese Entlastungen so sozial ungerecht wie irgend möglich ver-teilt: Sie kamen in erster Linie den Beziehern hoher und höch-ster Einkommen zugute!

Verheiratete Durchschnittsverdiener hatten eine steuerlicheErsparnis von etwa zwölf DM monatlich. Hingegen fiel die Ent-lastung von Spitzenverdienern 50mal höher aus, obwohl siebei Jahreseinkommen von einer Million DM und mehr nur20mal mehr Steuerlast zu tragen hatten als ein Durchschnitts-verdiener. Die Erhöhung des Kinderfreibetrags brachte denEinkommensmillionären eine etwa 22mal höhere Entlastungals dem Durchschnittsverdiener!

Selbst die geringfügigen, oft schon durch die erhöhten Bei-träge zur Kranken- und Sozialversicherung ausgeglichenenoder gar ins Gegenteil verkehrten Steuererleichterungen fürDurchschnittsverdiener waren eine Täuschung, da zugleich dieMehrwertsteuer angehoben wurde. Diese Steuer muß letztlichvon der Masse der Verbraucher aufgebracht werden, auf die alleanderen, vom Produzenten bis zum Groß- und Einzelhandel,sie abwälzen können.

Was die Mehrwertsteuererhöhung um einen Prozentpunktan zusätzlichen Einnahmen erbrachte, annähernd acht Milliar-den DM, wurde denen, die von der Einkommensteuersenkungohnehin am meisten profitierten, als zusätzliches Steuerge-schenk zuteil. Das mehrstufige Programm der Regierung Kohl

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zur Senkung der Unternehmenssteuern kostete nämlich eben-falls acht Milliarden DM-durch massiven Abbau der Gewerbe-steuer, durch Senkung der Vermögenssteuer und durch Vergün-stigungen bei den Abschreibungsmöglichkeiten.

Das sind nur einige Beispiele für die steuerliche Umvertei-lung von unten nach oben. Die direkte Besteuerung der Unter-nehmensgewinne, vor Kohls Amtsantritt gut 33 Prozent, ver-ringerte sich bis Anfang der neunziger Jahre auf kaum mehr als20 Prozent. Die Abzüge von den Arbeitseinkommen dagegenstiegen zwischen 1980 und 1991 von 28,7 Prozent der Brutto-löhne und -gehälter auf 32,5 Prozent und wurden inzwischennoch weiter angehoben.

Die Unternehmerverbände und ihre regierungsamtlichenPropagandisten vom Schlage solcher Bundeswirtschaftsmini-ster wie Otto Graf Lambsdorff oder Günther Rexrodt verbrei-ten unentwegt die Mär, Deutschland sei ein viel zu teurer Indu-striestandort geworden, die Unternehmer seien mit viel zuhohen Kosten belastet, das müsse sich endlich ändern. Sie spe-kulieren darauf, daß jede Behauptung, wenn sie sie nur oftgenug wiederholen, irgendwann geglaubt wird. Massenver-dummungsblätterwie BILD aus dem Springer-Konzern wirkendaran eifrig mit. Die Wahrheit bleibt dem ver»bild«eten Publi-kum verborgen, den Unternehmerverbänden und Ministernhingegen ist sie wohlbekannt. Nachzulesen ist sie in einerUntersuchung der Deutschen Bundesbank - die gewiß nichtim Verdacht steht, dem Kapitalismus feindlich gegenüberzu-stehen:

In einer Auswertung der Bilanzen von 18 000 Unternehmenkommt die Bundesbank zu dem Ergebnis, daß seit Ende dersiebziger Jahr der Anteil der Ausgaben für Steuern am Umsatzder Unternehmen nicht gestiegen, sondern gesunken ist, undzwar um etwa ein Sechstel. Der gleichen Untersuchung zufolgeist auch der Anteil der Personalkosten am Umsatz zurückge-gangen. Beide zusammen, Personalkosten und Steuerbela-stung, machten 1989 kaum mehr als 20 Prozent des Gesamtum-satzes aus und verringerten sich inzwischen weiter. Das heißt:Rund 80 Prozent des Umsatzes dienen anderen Zwecken, nichtzuletzt den Unternehmergewinnen.

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Das reale Sozialprodukt je Beschäftigten (Arbeitsproduktivi-tät) erhöhte sich 1980 bis 1992 um 18 Prozent, je Beschäftigten-stunde um 27 Prozent. Aufgrund von Erfindungen und Ratio-nahsierungen können industrielle Güter jetzt mit geringeremArbeitsaufwand, also erheblich schneller hergestellt werden.Die Gewerkschaften reagierten frühzeitig darauf, indem sieArbeitszeitverkürzungen forderten. Helmut Kohl widersetztesich: Diese Forderung sei »dumm und töricht«, wetterte er.Erst in harten Kämpfen gelang es den Gewerkschaften, in klei-nen Schritten über lange Zeiträume die Arbeitszeit zu verkür-zen und dadurch der sich ausbreitenden Arbeitslosigkeit entge-genzuwirken. So kam die Erhöhung der Arbeitsproduktivitätwenigstens zu einem Teil den arbeitenden Menschen selbstzugute, wofür sie allerdings auch mit Lohn- und Gehaltsver-zichten zahlen mußten. Hauptnutznießer der Rationalisierun-gen waren und blieben die Unternehmer.

Der Korrektheit halber müssen wir hier freilich einschrän-ken, daß nicht alle Unternehmer gleichermaßen von der Politikder Regierung Kohl profitieren. Den größten Nutzen haben inder Regel diejenigen, die ohnehin schon die Reichsten undMächtigsten sind. Vor allem die Großbanken, deren Frankfur-ter Verwaltungspaläste nicht zufällig die höchsten im Landesind. In den Jahren 1990 bis 1992 verbuchte die Kreditwirt-schaft einen Bilanzgewinn von mehr als 20 Milliarden DM,wovon allein 5,6 Milliarden auf die Großbanken entfielen. 1993konnten die Finanzkonzerne neue Gewinnrekorde vermelden,während andere, kleinere Unternehmen über die Rezessionstöhnten und übers Jahr mehr als 15 000 Firmen zahlungsunfä-hig wurden. Dem Volk wurden »Solidaritätsopfer« abverlangt,das Große Geld wuchs und wucherte wie nie zuvor.

1989 hatten die Großbanken fast fünf Milliarden Mark Zins-überschuß kassiert. Das war schon ein stattliches Ergebnis.1993 aber, in der Krise, gelang es ihnen, einen Zinsüberschußvon 23 Milliarden DM einzuheimsen. In der tiefsten Rezessionseit Bestehen der Bundesrepublik profitierten sie vom steigen-den Kreditbedarf des Staates, der Kommunen, der Gewerbe-treibenden und der Privathaushalte. Während zum Beispielvom Herbst 1992 bis Herbst 1993 die Bundesbank den Diskont-

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und den Lombardsatz - die Leitzinsen - um 2,5 Prozentpunktereduzierte, senkten die Banken die Kontokurrentzinsen nurum 1,5 und die Ratenkredite für Kleinkunden um 1,3 Prozent-punkte, dagegen die Guthabenzinsen um 2,5 Prozent. Das ver-anlaßte selbst die »Wirtschaftswoche« vom 13. Dezember 1993zum Murren: »Die Banken stoßen sich an Zinssenkungengesund, die Wirtschaft kommt nicht auf die Beine«- eine Kritik,die indessen in zweifacher Hinsicht präzisiert werden muß;denn erstens brauchten sich die Banken nicht gesundzustoßen,weil sie ohnehin vor Gesundheit strotzten, und zweitens hatdie Krise zwar viele einzelne Betriebe erwischt, aber »die Wirt-schaft« im allgemeinen steht auf festen Beinen, wie ein Blickauf die Börsenkurse zeigt: Der Deutsche Aktienindex (DAX)kletterte 1993 zum Jahresende auf 2.267 Punkte. Ein Jahr zuvorhatte dieser aus 30 Standardwerten errechnete Börsenkurs bei1.545 Punkten gestanden. Das war übers Jahr eine Steigerungum 46,7 Prozent. Die Aktionäre wurden zwischen Neujahr undWeihnachten fast um die Hälfte reicher - allein durch ihre andeutschen Börsen getätigten Geschäfte. Großaktionäre erleb-ten also eine prächtige Weihnachtsbescherung am Ende einesJahres, in dem im vereinigten Deutschland die Arbeitslosigkeitin eine Größenordnung ähnlich wie in der Schlußphase derWeimarer Republik hineinwuchs und Armut zum Massen-schicksal wurde.

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»Der Kanzler der nationalenEinheit<< -Der Kanzler der sozialenSpaltung

Der Zusammenbruch des SED-Regimes in der DDR imNovember 1989 hat Helmut Kohls ohnehin sehr hohe Selbst-einschätzung ins Gigantische wachsen lassen. Längst ist erüberzeugt davon, daß nicht Michail Gorbatschow, nicht dieBeispiele Polens, Ungarns und der Tschechoslowakei die fried-liche Revolution im anderen Teil Deutschlands in Gang gesetztund den mutigen Männern und Frauen der demokratischenOpposition zum Sieg verholfen haben, sondern daß er allein -vermutlich durch sein Anstimmen des Deutschlandliedes vomBalkon des Dresdner Rathauses unter Mißachtung der Haydn-schen Melodie -Honecker verjagt und die Mauer zum Einsturzgebracht hätte, wofür ihm das deutsche Volk diesseits und jen-seits von Elbe und Saale auf den Knien danken sollte. Er beruftsich auf den preußischen Strategen Moltke, der meinte: »Glückhat auf die Dauer doch zumeist wohl nur der Tüchtige« (womitdieser freilich eingeräumt hat, daß auch dem MittelmäßigenErfolg winken könne). Dagegen empfahl ihm die »Süddeut-sche Zeitung« schon im Sommer 1990, »eher davon zu spre-chen, daß er einfach Schwein gehabt hat«.

Aber Einsicht und Bescheidenheit sind Helmut Kohl we-sensfremd, weshalb er auch die glänzende Konjunktur zu An-fang der neunziger Jahre für das Werk seiner weisen Regierunghielt, desgleichen die deutsche Fußball-Weltmeisterschaft imSommer 1990. Im Bundestagswahlkampf im Herbst 1990 bot erdiese nationale Erfolgsserie - Einheit, Aufschwung, WM -gleichsam im Dreierpack mit dem Aufdruck »Alles von Kohl!«an. Die Mogelpackung sollte im nationalen Rausch durchge-hen, weil »die Männchen draußen im Land« (womit er aber alle,

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Männer und Frauen, meint, die außerhalb des Kanzler-Bunga-lows leben) so vergeßlich oder so wenig informiert sind.

In Wahrheit war von den Ereignissen in der DDR im Herbst1989 niemand so sehr überrascht worden wie die Kohl-Regie-rung, die dann allerdings die sich ihr so unverhofft bietendeChance eiligst ergriff. Innerhalb weniger Wochen waren diemutigen Frauen und Männer, die das Honecker-Regime ge-stürzt hatten, rücksichtslos vom Platz gedrängt und durch einevon Bonn aus an immer kürzerer Leine gehaltene Übergangsre-gierung ersetzt worden. Mit Versprechungen Kohls, der DDRein unverzügliches Wirtschaftswunder zu bescheren und ihrdurch reichen DM-Segen den Einzug ins Paradies der freienMarktwirtschaft zur reinen Lustpartie werden zu lassen, wur-den die Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 zu einemTriumph jener Blockparteien, die vierzig Jahre lang von derSED ausgehalten worden waren und nun ihr Heil bei Kohl& Co sahen.

Damit war der Weg frei für den Einzug des Großen Geldes indie DDR und deren eilige Vereinnahmung. Aber der verspro-chene reiche und sofortige Segen blieb natürlich aus. Vielmehrmußte die Regierung Helmut Kohls, so sehr sie dies auch zuvertuschen suchte, zunächst einmal für einen drastischen So-zialabbau sorgen, denn natürlich waren und sind die Herrendes Großen Geldes vorrangig daran interessiert, Profit zumachen, und dabei ist all das, was sie »Sozialklimbim« zu nen-nen belieben, nur hinderlich.

So mußte die Regierung Kohl jetzt eine wahre Sisyphusar-beit leisten - zum einen rasch alles beseitigen, was ihren Auf-traggebern lästig ist, vom Kündigungsschutz über das Aussper-rungsverbot und das bezahlte Babyjahrbis zum letzten betrieb-lichen Kinderhort; zum anderen ein immer schnelleres Tempoeinschlagen, um Fakten zu schaffen, bevor sich diejenigen, diedabei auf der Strecke bleiben mußten, über die unvermeidli-chen katastrophalen Folgen der hastigen Vereinnahmung klar-werden konnten.

So hieß es denn für Helmut Kohl und seine Ministerriege:immer neue Ausreden erfinden und Beschwichtigungen ver-breiten, beispielsweise behaupten, daß niemand im Lande zu

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befürchten brauche, die Zeche bezahlen zu müssen. Dabei warvon vornherein klar, daß es gewaltige Summen kosten würde,Ostdeutschland den westlichen Standards anzugleichen, alsozum Beispiel das Straßen- und das Telefonnetz auszubauen,Wohngebäude und Industrieanlagen zu modernisieren und soweiter. Außerdem konnte sich jeder Einsichtige an fünf Fin-gern abzählen, daß sich diese Kosten vervielfachen mußten,wenn funktionierende Strukturen einfach rücksichtslos zer-schlagen wurden. An frühzeitigen Warnungen kompetenterWirtschaftswissenschaftler und auch des damaligen Präsiden-ten der Deutschen Bundesbank fehlte es nicht. Doch Kohlbehauptete dreist, alles lasse sich ohne Steuererhöhungenfinanzieren. Und damit ihm Kritik nicht hinderlich werdenkonnte, beschleunigte er sein Tempo.

Nach dem Willen Kohls und seiner Geldgeber verwandeltensich die Länder der DDR in eine Art »Kronkolonie Ostelbien« -so Jens Reich als Sprecher der demokratischen Bürgerbewegun-gen in der damals neu gewählten Volkskammer, wo sie rasch indie Opposition gedrängt wurden.

Die Rolle der Gounverneurin durfte - nach der Ermordungdes ersten Präsidenten der Treuhandanstalt, Detlev Rohwed-der - die CDU-Politikerin Birgit Breuel übernehmen. KohlsVertraute gerantierte für die Anwendung frühkapitalistischerMethoden der Ausbeutung, des Ramsch-Einkaufs von Grundund Boden und des sozialen und kulturellen Kahlschlags.

Als wessen Treuhänderin betätigte sich Birgit Breuel? Galtihre Treue etwa den Genossenschaftsbauern? Den Beschäftig-ten der Industriebetriebe? Dem Volk, dem die Betriebe nomi-nell gehörten? Oder dem Bundesfinanzminister, dem CSU-Vorsitzenden Theo Waigel, dem die Treuhandanstalt unter-stellt ist?

Genossenschaftsbauern wurden ähnlich verdrängt wie Indu-strie-Beschäftigte. Das Volkseigentum wurde privatisiert, undder Bundeshaushalt zog aus den Verkäufen keinen Gewinn,sondern die Treuhandanstalt erwies sich als Weltmeisterin imSchuldenmachen: In dreieinhalb Jahren vermehrte sie die Bun-desschulden um die mit keinem Hochgebirge der Welt mehr zuveranschaulichende Summe von 275 Milliarden Mark - nach-

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dem es der Regierung des Dr. Kohl in Bonn schon gelungenwar, die 1982 bei der »Wende« übernommenen Bundesschul-den auf mehr als das Doppelte anwachsen zu lassen.

Als Folge des Vernichtungswerks der »Treuhandanstalt«liegt Ostdeutschlands Wirtschaft vier Jahre nach dem Fall derMauer am Boden, etwa auf dem Niveau eines Entwicklungslan-des wie Sri Lanka. Nur noch etwa drei Prozent steuerten 1992die neuen Länder zur deutschen Industrieproduktion bei.Ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Menschen wurde alleszerschlagen, was dem Großen Geld beim Einzug in Ost-deutschland als hinderlich oder unbrauchbar erschien, und dieAnstalt belohnte diejenigen, denen sie das DDR-Volkseigen-tum übereignete, noch mit üppigen Zusatzgeschenken. DieKonditionen der Übereignungsverträge, zum Beispiel Freistel-lung der Erwerber von Verpflichtungen und Risiken, wurdenvon der Breuel-Anstalt in manchen Fällen so günstig gestaltet,daß der Bündnis 90-Abgeordnete Ulrich-Karl Engel im Landtagvon Sachsen-Anhalt dafür nur diese Erklärung fand: »Organi-sierte Kriminalität beginnt im Nadelstreifen.« Nach alarmie-renden Feststellungen des Bundesrechnungshofes und nachEinleitung etlicher staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfah-ren sah schließlich Ende 1993 der Bundestag Anlaß, einen Treu-hand-Untersuchungsausschuß einzusetzen.

Angesichts der von dieser Behörde hinterlassenen Schulden,die noch künftige Generationen belasten werden, wandte sichder Chemnitzer SPD-Bundestagsabgeordnete Gerald Thal-heim gegen »politische Legendenbildung« in Bonn: »Dort wirdausschließlich die sozialistische DDR-Mißwirtschaft für die-heutige Lage verantwortlich gemacht.«

Gerade im »Superwahljahr« 1994 wird die Regierungspropa-ganda krampfhaft an dieser Legende festhalten. Die Wahrheitaber ist, daß ein großer Teil der Treuhand-Schulden erst nachDDR-Zeiten durch eine »Aufbau-Politik« entstand, mit der vielzerstört, aber wenig aufgebaut wurde.

Wem, so fragten wir, galt die Treue der Treuhand-Präsiden-tin? Wo ist sie verwurzelt?

Birgit Breuel, Kohls Statthalterin für den Osten, ist Tochterund Erbin des Hamburger Bankiers Alwin Münchmeyer, der

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jahrzehntelang Boß des Bankhauses Schröder, Münchmeyer,Hengst & Co. war. All seine Amter in Vorständen, Aufsichtsrä-ten und Beiräten aufzuzählen, fehlt hier der Platz. Erwähnunggebührt aber zumindest der Tatsache, daß die deutschen Ban-kiers, als es galt, den Präsidenten des Bundesverbandes derdeutschen Banken zu wählen, dieses Amt Alwin Münchmeyerantrugen, der es jahrelang ausübte. An der Hamburger Elb-chaussee ist es kein Geheimnis: Der ganze Ehrgeiz von TochterBirgit war es seit eh und je, diesem Vater zu beweisen, daß sieseiner würdig sei: eine nicht nur 100-, sondern 150prozentigeSachwalterin des Großen Geldes.

Privatisierung - oder »Entstaatlichung«, wie sie es gernnennt - war und blieb immer das Hauptbestreben der CDU-Politikerin, zuerst in der Hamburger Bürgerschaft, dann in dervon Ernst Albrecht geleiteten niedersächsischen CDU/F.D.P.-Regierung, der sie zwischen 1978 und 1990 anfangs als Wirt-schafts-, später als Finanzministerin angehörte. In vielenReden und Schriften stritt sie wacker gegen Subventionen, vorallem bei der CDU-Mittelstandsvereinigung, zu deren nieder-sächsischen Landesvorsitzenden sie sich wählen ließ. Mittel-ständischen Unternehmern redete sie ein, es vertrage sichnicht mit den Prinzipien der Marktwirtschaft, wenn sich derStaat um die Wirtschaft kümmere, und deswegen dürften sieauch unter keinen Umständen Subventionen beanspruchen.Großunternehmen dagegen wurden unter Breuels Minister-Verantwortung in Niedersachsen reichlich mit Subventionenbedacht, beispielsweise das zum Röchling-Konzern gehörendeRüstungsunternehmen Rheinmetall, dem sie ein großenteilsmit öffentlichen Mitteln finanziertes Zentrum zur Entwicklungneuer Kriegswaffentechniken bauen ließ.

Bereits 1979 formulierte Birgit Breuel ein umfassendes Priva-tisierungsprogramm, das, wie sie verhieß, zu einem »Mehr anindividueller Freiheit« führen werde. Das Programm nannteSchlachthöfe und kommunale Wohnraumvermittlungsstellen,Sportstadien und Verkehrseinrichtungen, Krankentransportund Müllabfuhr, Küchen in Kliniken und Reinigungsdienstefür Schulen oder für Behörden -wobei es sich günstig traf, daßsich der niedersächsische Landesvorsitzende des CDU-Wirt-

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schaftsrats, Hartwig Piepenbrock, mit seinem großen Gebäude-reinigungsunternehmen, das dann schnell noch viel größerwurde, für solche Aufgaben bereithielt - meist mit stunden-weise beschäftigten Frauen unter schlechteren Arbeitsbedin-gungen mit niedrigeren Löhnen und unzureichenden Soziallei-stungen.

Es gehe aber nicht allein um Kostengünstigkeit erläutertedie niedersächsische Ministerin in ihrem Programm. Die Über-tragung öffentlicher Aufgaben auf private Träger könne auchdann in Betracht kommen, »wenn private Leistungserstellungteurer ist als die verwaltungseigene«. Hier müsse »das Gebotder Sparsamkeit gegen das ordnungspolitisch erstrebte Zielabgewogen werden« - und dieses Ziel hieß eben: Privatisie-rung.

Ausdrücklich erläuterte die niedersächsische Ministerin,daß manche Leistungen »in der Regel nicht kostendeckenderstellt werden können (zum Beispiel Theater, Museen,Schwimmbäder)«. Diese Einsicht hinderte sie nicht, sich auchfür die Privatisierung von Theatern, Museen, Schwimmbädernwie auch von Schulen, Universitäten und Postämtern einzuset-zen. »Notfalls«, meinte sie in ihrem Programm, müsse dieöffentliche Hand »Zuschüsse gewähren«.

Nach Birgit Breuels Verständnis sollen sich also die Aufga-ben des Staates nicht aus allgemeinen Bedürfnissen herleiten,sondern aus den Gewinninteressen einzelner, denen sie letzt-lich alles, was der Allgemeinheit gehört, zuschieben will.»Selbst bei der Steuerverwaltung«, schrieb sie, könne sie sich»in wesentlichen Teilen eine privatwirtschaftliche Struktur vor-stellen«.

In Niedersachsen konnte die Bankierstochter jedoch mitihren Kampagnen gegen »überzogene Sozialstaatlichkeit« undihren Tiraden gegen die Gewerkschaften (»Vater Staat ist gefor-dert, sein wachsames Auge und, wenn nötig, seine strafendeHand gegen die Organisationen der Arbeitnehmer zu richten«)noch wenig ausrichten. Die zur Privatisierung ausersehenenAbteilungen von Krankenhäusern und Stadtverwaltungenwehrten sich kräftig. Wasch- und Putzfrauen sowie Friedhofs-gärtner ließen durch ihren Widerstand manchen Breuel-Plan

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scheitern. Und als die CDU-Politikerin im von ihr geleitetenWirtschaftsministerium eine Botenstelle teilen wollte, unter-sagte ihr das eine Einigungsstelle unter Vorsitz des hannover-

schen Landgerichtspräsidenten: Birgit Breuels Job-sharing-Modell hätte die Stelleninhaber mit einem halbierten Boten-Gehalt an die Sozialhilfegrenze rutschen lassen.

Unmittelbar, nachdem 1990 die niedersächsischen Wählerin-nen und Wähler die Regierung Albrecht abgewählt hatten, fandBirgit Breuel mit dem Segen des Kanzlers und derer, denen eres immer recht machen will, ihre neue Verwendung als Vor-standsmitglied und bald als Präsidentin der Treuhandanstalt.Nun konnte sie sich endlich als »Entstaatlicherin« austoben,wie sie es sich in ihrem Programm von 1979 gewünscht hatte.Eifriger Mittäter im Vorstand war von 1991 bis 1993 GüntherRexrodt (F.D.P), jetzt Kohls Wirtschaftsminister.

Wer warum welche ehemaligen DDR-Betriebe übernehmendurfte, ist ein Rätsel, das wohl auch der vom Bundestag aufDrängen der Opposition eingesetzte Untersuchungsausschußhöchstens partiell wird lösen können. Nehmen wir als Beispieldie Eisen- und Hüttenwerke in Thale, wo in DDR-Zeiten fast7 000 Menschen arbeiteten. Dieser Betrieb, der einst zwei jüdi-schen Familien bis zu deren Verdrängung durch die Nazis ge-hört hatte, repräsentiert allein schon durch seine Lage aufeinem großen Areal inmitten der Stadt Thale einen beträchtli-chen Wert-ganz abgesehen von den teilweise noch in den acht-ziger Jahren mit westlichen Maschinen modernisierten Produk-tionsstätten.

Für Sanierungsmaßnahmen und als Liquiditätshilfen zahltedie Treuhandanstalt Zigmillionen. Das Land Sachsen-Anhaltgab Bürgschaften. Das Eigentum wurde, ohne daß sich dieAnstalt lange mit Ansprüchen der jüdischen Vorbesitzer auf-hielt, einem westdeutschen »Investor« überschrieben. DieWahl der Treuhandanstalt fiel auf den durch Wählerentscheidbeschäftigungslos gewordenen, indessen nicht am Hungertuchnagenden, sondern bestens versorgten ehemaligen niedersäch-sischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, mit dem BirgitBreuel zwölf Jahre lang in Hannover zusammen regiert hatte.Der Preis, den Dr. Albrecht zahlen mußte, belief sich auf 1 (in

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Worten: eine) DM. Da er als Kompagnon einen Bremer Rechts-anwalt mit fünf Prozent beteiligte, brauchte der hannoverscheCDU-Politiker, der jahrelang als stellvertretender Parteivorsit-zender neben Dr. Kohl dem CDU-Präsidium angehört hatte,genau gesagt nur 95 Pfennig aufzubringen.

Angeblich durch ein »Versehen« überschrieb ihm die Treu-handanstalt auch ein großes Südhang-Gelände im Harz mitBeherbergungs- und Freizeit-Einrichtungen, die früher denBeschäftigten der Eisen- und Hüttenwerke und ihren Familien-angehörigen zur Verfügung gestanden hatten. Das »Versehen«wurde nicht etwa korrigiert, sondern Firmenchef Albrechtdurfte diese Immobilie alsbald weiterverkaufen, für mehr alsvier Millionen Mark.

In einem programmatischen Buch mit dem Titel »Der Staat«hatte Ernst Albrecht einst beklagt, den Deutschen fehle soetwas, wie es die Briten in den Kolonien gehabt hätten und dieUS-Amerikaner im Wilden Westen. Nun kann Albrecht an derprivatwirtschaftlichen Erschließung des deutschen Ostens mit-wirken - dank Treuhandanstalt, die ihn zunächst zum Auf-sichtsratsvorsitzenden der Eisen- und Hüttenwerke Thaleberief und ihn dann zum Eigentümer machte - eine Entschei-dung, die auch dann fragwürdig wirkt, wenn Albrecht glaub-haft versichert, keinen persönlichen Nutzen aus dem Eigen-tum zu ziehen, sondern sich mit den Aufsichtsratstantiemenzu begnügen. Die Belegschaft in Thale schrumpfte inzwischenauf einige hundert Beschäftigte.

Im allgemeinen sorgte die Treuhandanstalt dafür, daß die-jenigen, die schon in Westdeutschland monopolartige Wirt-schaftsmacht besitzen, diese auf Ostdeutschland ausdehnenkonnten. So wurde die Presse Beute westdeutscher Großver-lage wie Springer, Bauer, Burda und Bertelsmann. Bauer,Branchenerster auf dem Markt bunter Wochenblätter, zweiein-halbfacher Vermögensmilliardär, Hauptbeteiligter an Schmutz-Wahlkampagnen der CDU/CSU, hatte seit langem denWunsch gehabt, auch ins Tageszeitungsgeschäft einzusteigen,was ihm jedoch in Westdeutschland mißlang, weil hier derMarkt aufgeteilt, besetzt, also gar kein freier Markt mehr ist.Die Treuhandanstalt erfüllte ihm seinen Wunsch: Er erhielt die

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ehemalige SED-Bezirkszeitung »Volksstimme« in Magdeburg,eine der auflagenstärksten deutschen Regionalzeitungen.

Westdeutsche Fürsten, die nach dem Zweiten Weltkriegdurch die Bodenreform ihre ostelbischen Latifundien verlorenhatten, ergreifen nun nach und nach wieder Besitz - einige, wieder schwerreiche und erzkonservative Philipp Ernst Fürst vonSchaumburg-Lippe, zunächst als Pächter der Treuhandanstalt.Als Ende 1993 die Breuel-Behörde erstmals ein ostdeutschesWald- und Forstgebiet privatisierte, schlug sie den 828 Hektargroßen Forst Schleiz-Langenbuch in Thüringen dem hessi-schen »Investor« Franz Alexander Fürst von Isenburg zu.

Im Sinne der »Alteigentümer«, die freilich im Westen längstauf Steuerzahlers Kosten Lastenausgleich erhalten hatten, ver-fuhren die Regierung Kohl und die Treuhandanstalt nach demPrinzip »Rückgabe vor Entschädigung«- was für diejenigen, dieinzwischen in der DDR gelebt und gearbeitet hatten, Wegnah-me ohne Entschädigung bedeutet. Zu den »Alteigentümern«,die sich bei der Treuhandanstalt und örtlichen Vermögensäm-tern drängelten, gehörten sofort etliche »Arisierungs«gewinnlerler vom Typ unseres alten Bekannten Dr. Fritz Ries, die geradewegen der Umstände, unter denen sie einst in der Nazi-Zeitjüdischen Besitz erlangt hatten, nach dem Zweiten Weltkrieg inOstdeutschland enteignet worden waren. Die Klärung vonEigentumsansprüchen erwies sich oft als sehr mühsam. Anungeklärten Vermögensfragen gingen inzwischen viele tausen-de Industrie-, Handwerks- und Agrarbetriebe zugrunde. Beam-te des Bundesfinanzministeriums entwickelten ein Konzept,wonach Alteigentümer, denen ein unerwarteter Glücksfall derGeschichte längst verlorengeglaubte ostelbische Besitztümerbeschert, verpflichtet werden sollten, eine Vermögensabgabezu zahlen und damit das für die Entschädigung anderer Alt-eigentümerbenötigte Geld aufzubringen. Aber die Bonner Re-gierung entschied anders, nämlich so, wie sie es im Dienste desGroßen Geldes als ihre Aufgabe ansieht: Die Vermögendenbrauchen keine Abgabe zu entrichten. Für Entschädigungenmüssen die Steuerzahler aufkommen -jedoch erst vom Jahre2004 an. Die Regierung Kohl plant die weitere Umverteilungvon unten nach oben schon bis ins nächste Jahrhundert voraus.

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In vielen Fällen waren westdeutsche Konzerne nur deswe-gen an der Übernahme ostdeutscher Betriebe interessiert, weilsie Konkurrenz ausschalten wollten. Bekanntestes Beispiel istdie Kaligrube Bischofferode. Das von den über 700 Bischoffe-röder Bergleuten geförderte, besonders hochwertige Kalisalzwar international nachgefragt; bis zur Schließung der GrubeEnde 1993 mußten Überstunden geleistet werden. Ein Kauf-interessent stand bereit, der sich gute Gewinne ausrechnenkonnte. Doch der Ludwigshafener Chemie-Riese BASF, beidem einst der Nachwuchspolitiker Helmut Kohl als Praktikanterste Erfahrungen hatte sammeln dürfen, setzte sich mit sei-nem Interesse an einem gesamtdeutschen Kali-Monopol durch.

Wirtschaftlich gestaltete sich die Eingliederung Ostdeutsch-lands in die Bundesrepublik, wofür sich Dr. Kohl so gern alsEinheitskanzler feiern läßt, im wesentlichen als Eroberung desMarktes und Ausschaltung potentieller Konkurrenz in denneuen Bundesländern. Statt Sanierung rückständiger Teile derDDR-Wirtschaft Vernichtung von drei Vierteln des dortigenIndustriepotentials, preisgünstige Aneignung interessanterProduktionskapazitäten und Immobilien, Privatisierung vonProfiten, Verstaatlichung von Verlusten - alles zuverlässig prak-tiziert durch die Treuhandanstalt.

Die verheißenen Investitionen im Osten blieben in allerRegel aus. Das lag nicht etwa daran, daß es in Westdeutschlandan Kapital gefehlt hätte, das in den »Neuen Ländern« hätteinvestiert werden können. Wie wir schon gesehen haben, hattesich das Große Geld in den achtziger Jahren gewaltig vermehrtund Anfang der neunziger Jahre machte es noch größereGewinnsprünge. Weil Jahr für Jahr viel mehr eingenommen alsinvestiert wurde, staute sich Liquidität in einem früher unbe-kannten Ausmaß. »Das Liquiditätspolster der westdeutschenProduktionsunternehmen«, schrieb im Mai 1991 die DeutscheBundesbank, sei »so reichlich bisher noch nie gewesen«. Aberdie westdeutschen Konzerne hatten wenig Interesse, im Ostenneue Betriebe zu errichten.

Ende 1993 legte der Paritätische Wohlfahrtsverband gemein-sam mit dem DGB erneut einen »Armutsbericht vor« worin ervor allem die Lage in Ostdeutschland untersucht. Zur Treu-

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handpolitik heißt es dort: »Große Bedeutung für die Wirt-schafts- und Beschäftigungsentwicklung in den neuen Bundes-ländern hatte die Politik der Treuhandanstalt; ihr kam nachdem Treuhandgesetz primär die Aufgabe zu, das volkseigeneVermögen der ehemaligen DDR zu privatisieren und zu ver-werten nach den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Diebestehenden Unternehmen sollten so rasch als möglich zer-schlagen und in Privateigentum überführt werden.« Dagegensei es »weder ursprüngliches Ziel noch bisherige Praxis derTreuhand« gewesen, Betriebe »mit der Zielsetzung einer Erhal-tung von Produktions- und Beschäftigungsstandorten« zusanieren. Deswegen sei »ein Großteil der zum Zeitpunkt derMaueröffnung vorhandenen Arbeitsplätze inzwischen verlo-rengegangen«. Ergebnis: »Auf jeweils zwei Beschäftigtekommt derzeit in Ostdeutschland ein Erwerbsloser.«

1990, im Jahre des »Beitritts« der DDR zur BundesrepublikDeutschland, hatte die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland1,3 Prozent betragen, zwei Jahre später war sie bereits auf 21,3Prozent gestiegen, in den Bevölkerungsgruppen der Alleiner-ziehenden und der 46 bis 64jährigen sogar schon auf 25 Pro-zent. Die Zerschlagung von Betrieben betrifft in besonderemMaße auch die Jugendlichen, die sich um Ausbildungsplätzebewerben. 1992 fanden von den im Osten als Bewerber regi-strierten Jungen und Mädchen nur 58,7 Prozent einen betriebli-chen Ausbildungsplatz - teilweise im Westen. Das Defizit ver-größerte sich 1993 dadurch, daß sich staatliche Subventionenfür außerbetriebliche Ausbildungsplätze verringerten.

Alleinerziehende gab es in der ehemaligen DDR deutlichmehr als in Westdeutschland: 18 Prozent aller Familienhaus-halte. Die Untersuchung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandsführt das zurück »auf zahlreiche soziale Erleichterungen undVergünstigungen sowie die Tatsache, daß Alleinerziehende inihrem Status gesellschaftlich akzeptiert waren«- was sich inzwi-schen gründlich geändert hat: »Im Zuge der Vereinigung . . .haben sich die Rahmenbedingungen für Allemerziehende imOsten deutlich verschlechtert, und das Risiko der gesellschaftli-chen Ausgrenzung und Verarmung dieser Gruppe hat sichebenso deutlich erhöht.«

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Um zu illustrieren, wie tief Kohls Einheitspolitik gerade dieMütter in den neuen Ländern hat stürzen lassen, erinnert derParitätische Wohlfahrtsverband in seinem Bericht an die Lei-stungen, auf die sie in der DDR Anspruch hatten: »So erhieltenMütter von zwei und mehr Kindern sowie Alleinerziehendeeinen zusätzlich bezahlten Hausarbeitstag pro Monat. DerAnspruch auf einen Schwangerschaftsurlaub betrug sechsWochen vor und 20 Wochen nach der Geburt mit einem Ein-kommen in Höhe des Nettoverdienstes. Daneben konnte nachGeburt des ersten Kindes ein Babyjahr in Form bezahltenUrlaubs bei einer Unterstützung zwischen 65 und 90 Prozentdes Nettoeinkommens genommen werden - nach Geburt desdritten Kindes und der folgenden Kinder sogar eineinhalbJahre und bis zu drei Jahren, wenn das Kind nicht versorgt wer-den konnte oder krank war. Unabhängig von einer Freistellungwurde den Frauen pro Kind ein Jahr bei der Rentenversiche-rung angerechnet, ab dem dritten Kind erhöhte sich dieZurechnungszeit auf drei Jahre pro Kind. Für die Betreuungkranker Kinder waren je nach Familienstand und Kinderzahlvier bis maximal dreizehn Wochen bezahlter Freistellungs-urlaub pro Jahr möglich. Zur finanziellen Entlastung von Fami-lien und alleinstehenden Müttern trugen weitere Leistungenbei, wie ein im Vergleich zur BRD deutlich höheres Kindergeld,Unterhalts- und Ausbildungsbeihilfen und eine Geburtenbei-hilfe in Höhe von 1000 Mark. Studierende Mütter hatten An-spruch auf umfassende Unterstützung unter anderem bei derWohnraumversorgung und Kinderbetreuung. VertreterInnenvon Familienverbänden gehen davon aus, daß in der DDR 75bis 80 Prozent aller Kosten, die ein Kind von der Geburt biszum 18. Lebensjahr verursacht, von Staat und Gesellschaftgetragen wurden - gegenüber maximal einem Viertel in derBRD. Gleichzeitig stand ein umfassendes, hochsubventionier-tes und damit für die Mutter kostenloses Angebot staatlicherKinderbetreuung bei täglichen Öffnungszeiten zwischen neunund zwölf Stunden zur Verfügung, das bereits in der zehntenLebenswoche ansetzte und je nach Alter zwischen 81 und 94Prozent der Kinder erfaßte. « Hinzu kamen noch ein speziel-

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ler Kündigungsschutz für Alleinerziehende und manche weite-ren Vergünstigungen.

Obwohl Dr. Kohl und sein Sozialminister Dr. Blüm immergern das Wort »Familie« im Munde führen, hatten sie für sol-che Errungenschaften nichts übrig und sorgten für deren Besei-tigung.

Von den Ende 1989 in der DDR ausgewiesenen 340 000alleinerziehenden Müttern war schon Ende 1991 jede sechsteohne Erwerbsarbeit. Das früher in der DDR unbekannteDilemma, sich zwischen Beruf und Kind entscheiden zu müs-sen, und die nun rasch angestiegenen Kosten von Mutterschaftund Kinderbetreuung führten laut Armutsbericht zu einer ein-deutigen Reaktion: »Frauen entscheiden sich mit zunehmen-der Tendenz gegen Kinder. Die Geburtenrate sank zwischen1989 und 1991 um die Hälfte. Sterilisationen stiegen sprunghaftan; ihr Nachweis stellt im Kampf um die raren Arbeitsplätzeoffensichtlich einen Konkurrenzvorteil dar.« Wie verträgt sichdas mit den ständigen Bekenntnissen der CDU/CSU zumSchutz der Familien, mit ihren wütenden Attacken gegen dieunter Willy Brandts Kanzlerschaft eingeführte Liberalisierungdes $218 (Schwangerschaftsabbruch)? Die Antwort ist einfach:Für die Unionschristen endet die Fürsorgepflicht des Staatesan der Kasse, und Unternehmerinteressen haben stets Vorrangvor denen der Lohnabhängigen.

Wegen der unzureichenden Förderung von Familien mitKindern steigt in Deutschland die Kinderarmut steil an. Der»Armutsbericht« weist für 1992 für Westdeutschland den Anteilder in Armut lebenden Kinder unter 16 Jahren mit 11,8 Prozent,in Ostdeutschland mit 21,9 Prozent aus. Als »wohnraumunter-versorgt« registriert er 33,2 Prozent aller westdeutschen und39,1 Prozent aller ostdeutschen Kinder und Jugendlichen undresümiert: »Kindheit, insbesonder in größeren Familien, istin beiden Teilen der Bundesrepublik mit einem außerordentli-chen Armutsrisiko verknüpft.« Jedesmal, wenn Kohl und Blümmit reichlich Spucke das Wort »Famillje« über die Lippen brin-gen, sollen wir ihnen diese Feststellung entgegenhalten.

»Die Chance, im Zuge der Sozialunion eine umfassende So-zialreform einzuleiten, um die jeweiligen Stärken der beiden

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Systeme sozialer Sicherung zu erhalten und die vorhandenenDefizite zugunsten eines umfassenderen und höheren Siche-rungsniveaus zu korrigieren, ist aus politischen Gründen nichtgenutzt worden«, beklagt der Armutsbericht. Und er zählt vie-les auf, was in Ostdeutschland günstiger geregelt war als inWestdeutschland: Armut in dem Sinne, daß arm ist, wer weni-ger als die Häfte des Durchschnittseinkommens erhält, habe esin der DDR wegen der gleichmäßigen Verteilung der Einkom-men auf niedrigem Niveau nicht gegeben, zumal die Güter desGrundbedarfs stark subventioniert waren. In DDR-Zeitenhabe man zwar verdeckte Wohnungsnot gekannt, aber keineoffene Obdachlosigkeit. Nur neun Prozent der Erwerbstätigenin der DDR hätten keinen Ausbildungsabschluß gehabt (gegen-über 19 Prozent in Westdeutschland). »Behinderte Menschenwaren in der DDR über verschiedene Schutzvorschriftenwesentlich stärker in das Alltagsleben integriert, als es dieBestimmungen des bundesdeutschen Schwerbehindertenge-setzes verlangen. . Die deutsche Einigung ging für behinderteMenschen mit einer schlagartigen Ausgrenzung aus demArbeitsleben einher.« Hinzu kämen jetzt soziale Diskriminie-rungen und eine »eklatante Verschlechterung« im Rentenrechtder Behinderten.

Pflegebedürftige hatten in der DDR einen individuellenAnspruch auf Pflegegeld, den sie durch die Vereinigung verlo-ren. Pflegeheimaufenthalt und medizinische Betreuung warengratis. Jetzt müssen die Pflegebedürftigen selbst zahlen. DerWeg ins Heim ist für die meisten ein Weg in die Sozialhilfe. Dasbedeutet auch, daß Angehörige finanziell herangezogen wer-den -»ein gravierender Bruch für ostdeutsche Pflegebedürftigeund ihre Angehörigen nach über 40 Jahren prinzipiellerKostenfreiheit im Gesundheitssystem«. Was Pflegebedürfti-gen nach der Währungsunion auf ihren Sparbüchern verblie-ben war, wurde ihnen von den Sozialhilfe-Behörden bis aufeinen Restbetrag genommen. Weitgehend zerschlagen wurdendie Strukturen der »Volkssolidarität«, einer in der DDR staat-lich geförderten Organisation, die mit 6 500 Gemeindeschwe-stern, vielen weiteren hauptamtlichen und rund 200 000 ehren-amtlichen Kräften vor allem für die ambulante Betreuung von

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Pflegebedürftigen zuständig war und zum Beispiel für symboli-sche 50 Pfennig am Tag denjenigen Essen brachte, die nichtselbst kochen konnten. Wegen Auslaufens von Arbeitsbeschaf-fungsmaßnahmen sind jetzt auch die rund 1000 Altenklubs inOstdeutschland in ihrem Bestand gefährdet.

Viel schneller als die Angleichung der Einkommen (1992betrug das durchschnittliche Einkommen pro Person in einemOst-Haushalt 59,3 Prozent im Verhältnis zum Westen) vollzogsich die Angleichung der Mietpreise: Allein im Jahre 1991 stie-gen die Mieten im Osten um das 3,5- bis Vierfache. Inzwischensetzte sich der Anstieg fort - einzig aus Spekulationsgründen,nicht etwa zum Ausgleich für Modernisierungsmaßnahmen,die bisher meist unterblieben. Wegen auflaufender Mietschul-den kommt es zu vielen Räumungsklagen. So waren allein inMagdeburg Anfang 1993 rund 1900 Räumungsklagen anhän-gig. Obdachlosigkeit entsteht laut Armutsbericht vielfach auchdurch rabiate Methoden alter oder neuer Hausbesitzer, diebestrebt sind, Wohnungen zu »entmieten« Notwendige Ver-besserungen des Wohnungsbestands scheiterten bisher aucham Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung«; in etwa einer Mil-lion Fälle waren 1993 die Besitzverhältnisse noch nicht geklärt,die überforderten Gerichte und Behörden werden damit wohlnoch Jahre beschäftigt sein.

Als psychosoziale Folgen dieser Entwicklung nennt derArmutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands und desDGB: Wachsende Verunsicherung, Empfindung von Nichtge-brauchtsein und Leere; Gefühle des Ausgeliefertseins und dereigenen Ohnmacht; sich ausdehnende Hoffnungslosigkeit undSinnlosigkeit; sich verfestigende seelische Probleme (Schlaf-störungen); Rückzug ins Private und zunehmende politischeUninteressiertheit; Empfinden eines grundlegenden Statusver-lustes; sich einstellende Inaktivität und zunehmende Neigungzum Alkoholkonsum. Auffällig seien zudem verstärkt auftre-tende Gesundheitsstörungen als Reaktion auf soziale und kul-turelle Ausgrenzung. (Auch Kinokarten verteuerten sich raschum 700 Prozent und wurden für viele unerschwinglich.)

Das Versprechen des Kanzlers Dr. Kohl, daß es niemandemschlechter gehen werde, erwies sich bald nach der von ihm

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gewonnenen Bundestagswahl vom Dezember 1990 als hohl.Um so größer waren die Hoffnungen, nach einer Übergangs-zeit von allenfalls drei oder vier Jahren werde es allen Ostdeut-schen besser gehen. Doch auch diese Hoffnung erfüllte sichnicht. Im Gegenteil: Für beträchtliche Teile der Bevölkerung istein Ende der Abwärtsentwicklung nicht absehbar. Im Armuts-bericht von Ende 1993 heißt es dazu: »In einer Vielzahl vonLebensbereichen droht die Versorgung in den neuen Bundes-ländern weit hinter den im Westen der Republik vorhandenenStandards zurückzubleiben. Dies gilt vorrangig für die Versor-gung im Arbeitsmarkt- und Beschäftigungssystem. Dies giltjedoch auch für die Versorgung mit Bildungsgütern, mit Woh-nungen und mit Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen.«Kommunale Kostenträger seien »aufgrund ihrer prekärenHaushaltssituation kaum in der Lage, die laufenden Kosten fürdie soziale Infrastruktur vor Ort zu bestreiten«. Die Autorendes Armutsberichts zitieren Prognosen, wonach eine Anglei-chung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West nocheinen Zeitraum von »mindestens zehn Jahren« erfordern wird.Sie selbst halten es für »offen, ob eine solche Angleichung tat-sächlich stattfinden oder ob das Beitrittsgebiet nicht vielleichtüber einen längeren Zeitraum eine Armutsregion im vereintenDeutschland bleiben wird«.

Halten wir fest: Als sich Bürgerinnen und Bürger der DDRlange entbehrte Freiheiten erkämpften, als das SED-Regimezusammenbrach, als das üble Spitzelsystem des Staatssicher-heitsdienstes beseitigt wurde, da handelten die Ostdeutschensouverän, und der westdeutsche Kanzler hatte außer Sprüchenwenig beizutragen. Die Einheit aber inszenierte er dann -nichtohne ostdeutsche Helfer, namentlich den Staatssekretär Gün-ther Krause, der später zur Belohnung zeitweilig Bundesver-kehrsminister sein durfte - als großen Volksbetrug. Betrogenund gedemütigt stehen jetzt nicht nur Millionen Ostdeutscheda, sondern für materielle und politische Kosten müssen mehrund mehr auch die Westdeutschen aufkommen, nicht die Rei-chen, die noch viel reicher wurden, sondern die Armen. Wasder »Einheitskanzler« angerichtet hat, ist die tiefe sozialeSpaltung Deutschlands.

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Mit den »Solidarpakt«-Beschlüssen von 1993, deren Inhaltso zynisch ist wie der Name, und mit den »Spar- und Konsoli-dierungsbeschlüssen« für 1994 wurde zu Lasten der Armen inganz Deutschland tief in die Leistungen des Arbeitsförderungs-und des Sozialhilfegesetzes eingegriffen. Kürzungen des Ar-beitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe, des Kurzarbeiter-und des Schlechtwettergeldes, Verteuerungen für die Krankenund andere Zumutungen treiben, wie der Präsident des Verban-des der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Sozial-rentner Deutschlands (VdK), Walter Hirrlinger, feststellte, er-neut »hunderttausende Menschen und deren Familien in dieArmut«; diese Maßnahmen seien deshalb »sozial unverant-wortlich«. Der Deutsche Kinderschutzbund wies zu Jahres-beginn 1994 darauf hin, daß in Deutschland inzwischen schoneine halbe Million Kinder in Obdachlosen-Unterkünften leben.Das Resümee im Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrts-verbands und des DGB lautet: Die von der Regierung Kohlfavorisierte wirtschaftsliberale Strategie der Lastenverteilungbedeute, »daß die Lasten allein von den Arbeitnehmern undSozialleistungsempfängern übernommen werden müssen«.Nach einem Jahrzehnt der Umverteilung zu Lasten der sozialSchwächsten nehme die Zahl der Armen im Westen unverän-dert zu, und die derzeitige Wirtschafts- und Sozialpolitik laufe»darauf hinaus, daß heute und in den kommenden Jahren dieLasten der Vereinigung vorrangig zwischen den Armen imWesten und im Osten geteilt werden«. Daher sei es »kaumverwunderlich, daß die Politikverdrossenheit in der Bevölke-rung zunimmt«. Obwohl »das neue Gesamtdeutschland einesder reichsten Länder der Erde« sei, könne diese Politik zurFolge haben, »daß die soziale und politische Stabilität derBundesrepublik in den neunziger Jahren ernsthaft gefährdetwird«.

Das Große Geld aber wurde bestens bedient: Es konnte sichin Ostdeutschland alles und jedes aneignen, was ihm brauch-bar erschien; es konnte die dortigen Absatzmärkte in Besitznehmen; es konnte seine Gewinne sprunghaft steigern; und inengem Zusammenwirken mit der Regierung des Dr. HelmutKohl konnte es die wachsende Verängstigung vieler Menschen

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auch noch zum Abbau zahlreicher, in früheren Jahrzehntenmühsam erkämpfter Arbeitnehmer- und Bürgerrechte nutzen.

Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gelang esden Metall-Industriellen, einen geltenden Tarifvertrag auszu-hebeln. Mit »Öffnungsklauseln« soll das gesamte Tarifrechtzum Einsturz gebracht, die Gewerkschaftsbewegung entmach-tet werden. Mit sogenannten »Beschleunigungs-«, »Vereinfa-chungs-« und »Entlastungsgesetzen« schränkte die von Kohlgeführte Bonner Koalition wesentliche Mitspracherechte derBürgerinnen und Bürger ein, so daß jetzt über die Köpfe vonBetroffenen hinweg äußerst zweifelhafte, umweltgefährdendeGroßprojekte, beispielsweise in der Gentechnik verwirklichtwerden können. Zur Begründung müssen immer wieder die»deutsche Einheit« oder der »Standort Deutschland« herhalten.Das »Standortsicherungsgesetz« und weitere, angeblich ausnationalen Interessen notwendige Beschlüsse tun ein übriges,um die Reichen und Superreichen im Lande von sozial- undrechtsstaatlichen Fesseln zu befreien.

Der Verantwortung für die Folgen dieser Politik entledigtsich der Bund aufs vornehmste, indem er sie an die Kommunendelegiert. Deren Sache ist es dann, für die explodierende Zahlvon Sozialhilfe-Abhängigen zu sorgen. In finanzieller Bedräng-nis unter zunehmendem Schuldendruck schließen die Kommu-nen jetzt Theater, Büchereien und Schwimmbäder, erhöhenKindergarten-Beiträge der Eltern ins Unbezahlbare oder füh-ren Gebühren fürs Betreten von Parkanlagen ein. Was küm-mert’s die Reichen? Sie haben private Schwimmbäder und kön-nen rasch nach Mailand oder Monte Carlo fliegen, um dort indie Oper zu gehen.

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Was wir von Kohl noch alles zuerwarten haben - und wiewir es verhindern können

»Diese neue Regierung ist notwendig geworden, weil sich diealte, die bisherige Regierung als unfähig erwies, gemeinsamdie Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, das Netz sozialer Sicherheitzu gewährleisten und die zerrütteten Staatsfinanzen wieder inOrdnung zu bringen.« So begründete Dr. Helmut Kohl, nach-dem er durch den Wortbruch der F.D.P Kanzler geworden war,die damalige »Wende« Mehr als ein Jahrzehnt später ist dieMassenarbeitslosigkeit zur Dauerplage geworden, die sichimmer weiter ausbreitet. In das Netz sozialer Sicherheit hat dieRegierung des Großen Geldes ein Loch nach dem anderengerissen, so daß mehr und mehr Menschen hindurchfallen.Und die Staatsfinanzen sind so zerrüttet, daß noch Generatio-nen zu schuften haben werden, um den gigantischen Schulden-berg abzutragen.

Daß eine neue Regierung notwendig geworden ist, wirdjetzt auch in Kreisen der Wirtschaft erörtert - und zwar imZusammenhang mit den Folgen der Rezession, die 1992/93viele mittelständische Unternehmen in rote Zahlen oder ganzin den Ruin gestürzt hat.

Die Krise gehört zum Kapitalismus wie die Konjunktur.Beide lösen sich regelmäßig ab. In der Rezession macht dasGroße Geld jedesmal reiche Beute; denn was die kleinen undmittleren Unternehmer aufgeben müssen, krallen sich die gro-ßen. Die jeweilige Regierung ist an der Tatsache zyklischer Kri-sen unschuldig. Insofern müssen wir ausdrücklich auch dieRegierung des Dr. Helmut Kohl in Schutz nehmen. Dochdamit sich der Zorn des Mittelstandes nicht etwa gegen dasGroße Geld richtet, muß in Krisenzeiten die jeweilige Regie-rung als Sündenbock herhalten. Daher droht Kohl jetzt auchGefahr aus den Kreisen, denen er immer treu gedient hat.

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In der ersten schweren Wirtschaftskrise der Bundesrepublik1965/66 mußte der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhardabtreten, in der sogenannten »Ölkrise« 1972/73 Willy Brandt,für die Krise 1981/82 wurde Helmut Schmidt verantwortlichgemacht. Ist jetzt, infolge der vierten Wirtschaftskrise seitGründung der Bundesrepublik, Helmut Kohl an der Reihe?Notfalls werden seine Auftraggeber ihn fallenlassen. Abernicht deswegen, weil sie mit seiner Politik nicht mehr einver-standen wären - im Gegenteil: Für sie ist die Hauptsache, daßKohls Politik weitergeführt wird, notfalls auch ohne Kohl.

Die Opfer dieser Politik hingegen hätten davon nur weiterenSchaden. In ihrem Interesse kommt es also hauptsächlich dar-auf an, daß in Bonn endlich eine grundlegend andere Politikeingeleitet wird: eine Politik, die auf soziale Gerechtigkeit ori-entiert ist, auf mehr Demokratie, auf Schutz der Menschen-rechte und Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.

Mit einem bloßen Austausch des Personals in Bonn ist esnicht getan. Er ist ohnehin längst im Gange. Immer schnellerdreht sich das Personalkarussell. Insgesamt 20 Minister sindseit 1982 aus den von Helmut Kohl geführten Bundeskabinet-ten vorzeitig ausgeschieden. Anfangs geschah das selten, inzwi-schen immer häufiger. 1992 traten vier Minister zurück, 1993fünf, darunter Jürgen Möllemann (F.D.P) nach seiner Brief-bogenaffäre und Günther Krause (CDU) nach seinen diversenAutobahnbau-, Raststättenkonzessions-, Umzugs- und Putz-frauenaffären.

Auch in den unionsgeführten Länderregierungen - in West-deutschland sind es noch zwei, in Ostdeutschland (Berlin ein-geschlossen) fünf - bröckelt es. Bayerns Ministerpräsident MaxStreibl (CSU) stolperte über die Amigo-Affäre. In Baden-Würt-temberg mußte Lothar Späth unter dem Verdacht der Bestech-lichkeit abtreten, und sein Nachfolger mußte, weil die F.D.Pbei der Landtagswahl durchfiel, mit der SPD koalieren. Späthwurde dann zum Trost ähnlich wie sein abgewählter nieder-sächsischer Amtskollege Ernst Albrecht von der Treuhandan-stalt mit dem Aufsichtsratsvorsitz eines früher volkseigenenUnternehmens betraut. In Sachsen konnte sich der Schwieger-sohn von Konsul Dr. Fritz Ries, Prof. Dr. Kurt Biedenkopf, als

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Ministerpräsident fest etablieren. Aber in Thüringen, Mecklen-burg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt sah sich die CDUschon nach kurzer Zeit zur Auswechslung der von ihr gestelltenRegierungschefs gezwungen, in Sachsen-Anhalt inzwischensogar zweimal. Beim zweiten Male mußte gleich das ganzeKabinett umgebildet werden. Mehrere westdeutsche CDU-und F.D.P-Politiker, die in Magdeburg als Minister eingesetztworden waren, um die »Ossis« fachmännisch in demokratischeRechtsstaatlichkeit einzuüben, hatten zusätzlich zu ihren offi-ziellen Amtsbezügen »Besitzstandswahrung« beansprucht undzu diesem Zweck unter anderem frühere Eisenbahnfreikarten,Tagegelder, Aufsichtsratstantiemen, Vortragshonorare, steuer-freie Kostenpauschalen oder den Geldwert der Gratisbenut-zung eines Dienstwagens anrechnen lassen. So hatte sich zumBeispiel der frühere Fachhochschullehrer und Europaparla-mentarier Werner Münch aus dem niedersächsischen Vechtazum Spitzenverdiener hochgerechnet - so dreist, daß er sich,als der Landesrechnungshof nachzurechnen begann, nichtmehr im Amt halten konnte. Eine Schlüsselrolle in der Zula-gen-Affäre spielte der Staatssekretär im Magdeburger Finanz-ministerium, Eberhard Schmiege, den Münch dort eingesetzthatte. Bis 1990 hatte Schmiege unter Ministerin Birgit Breueldie Haushaltsabteilung des niedersächsischen Finanzministeri-ums geleitet. Kaum waren diverse Minister ausgewechselt -abtreten mußte zum Beispiel Sozialminister Werner Schreiber,Bundesvorsitzender der CDU-Sozialausschüsse, der an sichselbst besonders sozial gedacht hatte -, da stellte sich heraus,daß auch Schmiege und die anderen dreizehn Staatssekretärestattliche »Amtszulagen« kassiert hatten.

Solche Affären ließen sich propagandistisch allzu schlechtmit Bescheidenheits-, Spar-, Opfer- und Solidaritätsappellender »Wende«-Koalition an die Bevölkerung vereinbaren. Aucharglose, gutgläubige bisherige CDU-Wählerinnen und -Wählerschärften inzwischen ihr Gehör für die zynischen Untertöne inKohl-Reden. Beispiel: die Rede des Kanzlers am 21. Oktober1993 im Bundestag, die nur als Verhöhnung der Opfer seinerPolitik, der nunmehr (ohne statistische Tricks gerechneten)mehr als fünf Millionen Arbeitslosen, verstanden werden

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konnte. »Wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, daßwir unser Land als einen kollektiven Freizeitpark organisie-ren«, tönte Dr. Kohl. Zugleich propagierte der Chef der»Wende«-Koalition die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche unddie Abschaffung von zwei Feiertagen. Beides zusammenge-nommen würde die Arbeitslosenzahl in Deutschland noch-mals um nahezu eine Million hochschnellen lassen.

Der Eiserne Kanzler des Großen Geldes hat zur Genügegezeigt, wie man einen Staat ruiniert. Er ist reif zur Ablösung,die aber schwerlich gelingen kann, wenn viele Wählerinnenund Wähler verbittert zu Hause bleiben, und besonders gefähr-lich würde es, wenn sie ihr Heil rechtsaußen suchen würden.Notwendig ist jetzt eine selbstbewußte Antwort des betroge-nen Volkes.

Um es zu einem solchen demokratischen Urteil nicht kom-men zu lassen, versuchen die Bonner Regierenden und ihreHintermänner mit Hilfe ihres Propaganda-Apparats, die Wäh-lerinnen und Wähler irrezuführen und einzuschüchtern. Ex-perten dafür sind der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende imBundestag, Wolfgang Schäuble, Innenminister Manfred Kan-ther, Finanzminister Theo Waigel und ihre Verbündeten in derSpringer-Presse. Nach der Methode »Haltet den Dieb!« wollensie Angst und Zorn, die sich in der Bevölkerung angestauthaben, ausgerechnet auf diejenigen Menschen lenken, dieschon ganz unten gelandet sind, auf die Opfer, denen es amschlechtesten geht, auf die Sozialhilfeempfänger, die pauschalverdächtigt werden, Sozialleistungen zu mißbrauchen, auf diemit ihrer dürftigen Habe in Häusernischen kampierendenObdachlosen, denen vorgeworfen wird, sie störten das Stadt-bild, auf Ausgegrenzte, die im Alkohol letzte Zuflucht suchen,oder auf Ausländer. Beispiel: die generalstabsmäßig geplanteKampagne des zeitweiligen CDU-Generalsekretärs (jetzt Bun-desverteidigungsministers) Volker Rühe gegen das Asylrecht.

Als die sozialen Folgen der hastigen DDR-Vereinnahmungspürbar wurden, luden die CDU/CSU und die publizistischenWegbereiter ihrer Politik, zu denen an erster Stelle der Springer-Konzern gehört, den Asylbewerbern die Schuld auf. Wohn-raum wurde knapp - am wenigsten durch Asylbewerber, weit

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mehr durch Aussiedler und Übersiedler, die jetzt nicht mehrÜbersiedler genannt und überhaupt nicht mehr registriert wer-den (aber es sind immer noch jährlich Hunderttausende), ammeisten aber durch die katastrophale Bonner Wohnungspolitik,die immer mehr Wohnraum von unten nach oben umverteilt.Dieses soziale Problem wurde nun ins Nationalistische ge-dreht. Springers BILD-Zeitung beteiligte sich daran mit Schlag-zeilen wie »Miethai kündigt Deutschen für Asylanten«. Manbedenke, daß BILD gewöhnlich nicht dazu neigt, Hausbesitzerals Miethaie zu bezeichnen. In diesem Zusammenhang abergeschah es als Mittel zum Zweck: die Leserinnen und Leser zuängstigen, eine Verdrängung durch Flüchtlinge als akute Be-drohung vorzuspiegeln und auf solche Weise Aggressionenanzustacheln.

Im Sommer und Herbst 1991 brachte dieses Blatt (gedruckteAuflage: etwa fünf Millionen Exemplare) eine Serie über »DieAsylanten«. Dort war beispielsweise zu lesen: »Stellen Sie sichdiesen Fall vor: Ein Mann klingelt bei Ihnen, möchte herein-kommen. Der Mann sagt, daß er mächtige Feinde habe, dieihm ans Leben wollen. Sie gewähren ihm Unterschlupf. Dochschnell stellen Sie fest: Der Mann wurde gar nicht verfolgt, erwollte nur in Ihrem Haus leben. Und: Er benimmt sich sehr,sehr schlecht. Schlägt Ihre Kinder. Stiehlt Ihr Geld. Putzt sichseine Schuhe an Ihren Gardinen. Sie würden ihn gerne los. Siewerden ihn aber nicht los. Deutsche Asyl-Wirklichkeit 1991.«

Parallel zur BILD-Serie, mit gleicher Stoßrichtung setzte Rü-he seine Kampagne in Gang. Er schrieb an alle Untergliederun-gen der CDU: »Ich bitte Sie, in den Kreisverbänden, in denGemeinde- und Stadträten, den Kreistagen und Länderparla-menten die Asylpolitik zum Thema zu machen und die SPDdort herauszufordern.« Rühe lieferte mit diesem Rundschrei-ben Argumentationsleitfaden, Vorlagen für Anträge und Anfra-gen in Kommunal- und sonstigen Parlamenten sowie eineMuster-Presseerklärung. Zum Beispiel sollte landauf, landabgefragt werden, ob Asylbewerber etwa in Hotels untergebrachtseien, was das kosten könne und ob Ausländer womöglichzuviel staatliche Unterstützung in Anspruch nähmen und soweiter.

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Der SPD-Vorstand prangerte diese Kampagne in einer über-zeugenden Broschüre an. Unter der Überschrift »Grundrechtauf Asyl. Das anständige Deutschland zeigt Flagge« hieß es amSchluß der Broschüre: »Einer Änderung des Grundgesetzesstimmt die SPD nicht zu. « Doch nach einigen Monaten gab derParteivorstand der Sozialdemokraten der Kampagne nach. DieBroschüre wurde nicht weiterverbreitet. Ein Teil der SPD-Frak-tion im Bundestag stimmte der Grundgesetzänderung zu undverhalf ihr damit zur Zweidrittelmehrheit.

Die Kampagne hatte noch einen zweiten Effekt, den der Prä-sident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Eckart Werthe-bach, folgendermaßen beschreibt: »Hier wurde ein Ackerbestellt, auf dem der Rechtsextremismus seine fremdenfeindli-che Ernte noch auf geraume Zeit einfahren wird« (»Die Welt«,30. November 1993). Das ist offenkundig: Die Propaganda fürdie Aushebelung von Grund- und Menschenrechten ermun-terte Neonazis zur Gewalt. Nach Angaben des Vorsitzendender Vereinigung »Gegen Vergessen - für Demokratie«, HansJochen Vogel, kamen innerhalb von gut zwei Jahren bis Herbst1993 durch 4761 rechtsextremistische Gewalttaten in Deutsch-land 26 Menschen ums Leben und 1783 wurden verletzt.1281mal wurden Anschläge auf Asylbewerber-Wohnungen ver-übt, 209mal auf jüdische Einrichtungen, 13mal wurden KZ-Gedenkstätten geschändet (»Die Zeit«, 5. November 1993).

Den Kanzler der »geistig-moralischen Erneuerung« küm-merte das wenig. Neonazi-Aufmärsche wie in Rostock undFulda, auch die Ermordung türkischer Frauen und Kinder inMölln und Solingen durch neonazistische Brandstifter tat er ab,als wären sie kaum der Erwähnung wert. Von den Orten derUntaten hielt er sich fern, und er vermied es auch, an den Trau-erfeiern teilzunehmen, was er durch seinen Regierungsspre-cher damit begründen ließ, daß er »Beileidstourismus« ab-lehne. (Bei Trauerfeiern für ermordete Industriemanager hatteer nie gefehlt, auch nicht bei der Trauerfeier für einen in Kam-bodscha ermordeten Bundeswehr-Feldwebel, und der patheti-sche Staatsakt, zu dem er den damaligen US-PräsidentenRonald Reagan vor den Gräbern von SS-Männern auf demFriedhof von Bitburg nötigte, erregte Aufsehen in aller Welt.)

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Systematisch bemühte sich die Bundesregierung, denRechtsextremismus herunterzuspielen. So verbreitete das Bun-desinnenministerium eine Studie unter dem Titel »Hat Rechts-extremismus in Deutschland eine Chance?« Sie kam zu demErgebnis, »daß Rechtsextremismus in Deutschland bedeutungs-los ist«. Seine Bedeutung, so hieß es dort, »scheint nur in denVorstellungen seiner Gegner zu liegen«. Das »rechtsextremisti-sche Schreckbild« diene den Antifaschisten als Mittel zurDestabilisierung der Demokratie, erfuhr man aus der BonnerPublikation. Zu einem Zeitpunkt, als die Blutspur des braunenTerrors gegen Flüchtlinge, aber auch gegen Behinderte undandere Minderheiten längst nicht mehr zu übersehen war, sug-gerierte die Studie (Verfasser: Prof. Dr. H. H. Knütter), derRechtsextremismus sei kaum mehr als eine bloße Behauptungder Antifaschisten, die eigentliche Gefahr liege im Antifaschis-mus. Ähnlich leugnete Generalbundesanwalt Alexander vonStahl (F.D.P), bevor er über einen Wust von Widersprüchen beider Verfolgung mutmaßlicher RAF-Terroristen stolperte, be-harrlich jeden organisierten Terror von rechts und unterließdeswegen auch dessen Bekämpfung, obwohl in Neonazi-Grup-pen längst steckbriefartige Dossiers über Gewerkschafter,Grüne, Jungsozialisten und andere Antifaschisten kursierten.

Den Kanzler selbst, der seinen Aufstieg den einstigen NazisDr. Ries, Dr. Schleyer und Dr. Taubert verdankt, interessiertdie Bedrohung von rechts überhaupt nicht. Vor Herausforde-rungen, sich ernsthaft mit der Nazi-Vergangenheit auseinan-derzusetzen, schützt er sich mit der »Gnade der spätenGeburt«. Den Opfern des von seinen Mentoren mitbetriebe-nen staatlichen Terrors versagt er ehrendes und mahnendesGedenken, indem er sie - wie bei der Neugestaltung der »AltenWache« unter den Linden in Berlin - einfach unter die »Opfervon Krieg und Gewaltherrschaft« subsumiert. Zu solchemGedenken können dann auch die Traditionsverbände von SSund Ritterkreuz-Orden aufmarschieren.

Zu den »Republikanern« des ehemaligen Waffen-SS-Man-nes Franz Schönhuber, zur Deutschen Volks-Union (DVU) desschwerreichen Münchener Verlegers (»Deutsche National-Zei-tung«) und Immobilienspekulanten Dr. Gerhard Frey und zu

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anderen Rechtsaußen-Gruppen haben CDU und CSU mancheuntergründigen Beziehungen. Gelegentlich deckt Frey sie nachdem Tode von Verbindungsmännern auf, denen er dann stolzeNachrufe widmet wie dem einstigen bayerischen Kultusmini-ster und Verfassungsrechtslehrer Prof. Dr. Theodor Maunz(CSU) oder dem ehemaligen Geheimdienst-Chef ReinhardGehlen. In eigens gegründeten Akademien, Foren oder in Zeit-schriften wie »Mut« kommunizieren CDU/CSU-Rechte undUltrarechte miteinander. Wer mit wem gemeinsame Sachemacht und gegen wen, ist da längst keine Frage mehr. MichaelGlos, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe in Bonn, sagt es so:»Die linksradikale PDS und die Grünen sind eine größereGefahr für unser Land als die Republikaner und die Rechten.«Ein Neonazi-Führer wie der Hamburger Christian Worchmacht sich solche Ermunterungen sofort zunutze und leistetseinerseits Unterstützung. In einem Aufruf für den sächsischenJustizminister Steffen Heitmann (CDU), den Kohl für das Amtdes Bundespräsidenten nominiert hatte, schrieb Worch: »Werwill uns wegen unserer strikten Einstellung zum Ausländer-und vor allem Asylantenproblem noch als >Verfassungsfeinde<und >extremistische Minderheit< disqualifizieren, wenn zumin-dest Ansätze unserer Vorstellungen selbst vom ersten Mann imStaate öffentlich verbreitet werden?«

Wenn CDU/CSU-Politiker den »starken Staat« propagieren,also den Abbau von Bürgerrechten (zum Beispiel durch die Er-mächtigung des Staates zur Verwanzung von Privaträumen, dienicht dadurch harmloser wird, daß ihr jetzt auch Sozialdemo-kraten zustimmen), und wenn der CDU/CSU-Fraktionsvorsit-zende im Bundestag, Wolfgang Schäuble, vor Weihnachten1993 sogar vorschlägt, bei einer »größeren Sicherheitsbedro-hung im Innern« die Bundeswehr einzusetzen (es gehe darum,durch eine entsprechende Grundgesetzänderung »das Hauswetterfest zu machen«, erläuterte Schäuble), wenn schließlichder Kanzler und sein jetziger Bundesverteidigungsminister Vol-ker Rühe immer offener für die Beteiligung deutscher Truppenan Militäraktionen eintreten, die mit dem Verfassungsauftragder Bundeswehr zur Landesverteidigung nichts zu tun haben,dann ist das alles ganz im Sinne der Ultrarechten.

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Frühere Bonner Bekenntnisse zur Friedensstaatlichkeit sindimmer leiser geworden. Das Rüstungsgeschäft hat sich unterder Kanzlerschaft von Helmut Kohl kräftig weiterentwickeltund ist auch nach dem Ende der Sowjetunion und des War-schauer Paktes, die bis dahin als einzige Bedrohung der Bun-desrepublik und als alleinige regierungsamtliche Begründungfür Bundeswehr und Rüstungsausgaben gegolten hatten, nichtzum Erliegen gekommen. Daimler-Benz gehört zwar nichtmehr zum Flick-Konzern, aber auch jetzt, unter der Regie derDeutschen Bank, dringt dieses Unternehmen weiterhin aufBonner Milliarden für Projekte wie den »Jäger 90«, inzwischenumbenannt in »Eurofighter 2000«. Deutsche Waffen im Wertevon mehreren Milliarden Mark werden seit Jahren zum Bei-spiel an die Türkei und an Indonesien geliefert, wo das Militärsie zur blutigen Unterdrückung und Ausrottung nationalerMinderheiten verwendet.

Laut UN-Waffenregister geht weltweit der Waffenhandelseit einigen Jahren zurück, die deutschen Waffenexporte dage-gen nehmen zu. In dieser Branche ist Deutschland an diezweite Stelle nach den USA aufgerückt. Beim Export von Waf-fensystemen zur Landkriegführung (großkalibrige Artillerie,Panzer und gepanzerte Kampffahrzeuge) führt Deutschland inStückzahlen etwa ebenso viel aus wie Rußland, Frankreich,Großbritannien und China zusammengenommen. Bei Rake-ten und Raketenwerfern nimmt es bereits die Spitzenstellungein.

Mit 18 Milliarden Mark beteiligte sich die - auf sozialem Ge-biet so sparsame - Bundesregierung am Golf-Krieg, mit demder zeitweilige US-Präsident George Bush eine »neue Weltord-nung« herbeiführen wollte. Sie äußerte bei dieser Gelegenheitihr Bedauern darüber, daß das Grundgesetz sie hindere, sichauch mit Bundeswehreinheiten zu beteiligen. Diese Bedenkenwurden dann bald aufgegeben. Inzwischen setzte die Bundes-regierung wiederholt deutsche Militärverbände außerhalb desNATO-Gebietes ein, wobei sie sich immer weiter vom grund-gesetzlichen Auftrag der Bundeswehr entfernte. Die Expedi-tion von 1500 Bundeswehrsoldaten nach Somalia hatte mitLandesverteidigung nicht das geringste zu tun. Zweck war

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angeblich die Versorgung indischer UN-Truppen, die jedochnie in Somalia auftauchten. Einige Wochen vor der Expeditionhatte Minister Rühe noch versichert, vor einem solchen Bun-deswehreinsatz werde selbstverständlich die Zustimmung desBundestages eingeholt. Aber dann wartete die Bundesregie-rung ab, bis der Bundestag in die Weihnachtsferien 1992193gegangen war. Das Parlament erhielt keine Gelegenheit, überdiesen ersten Auslandseinsatz einer geschlossenen Einheit seitGründung der Bundeswehr auch nur zu diskutieren. Nicht ein-mal der Auswärtige Ausschuß wurde unterrichtet. Die Kostendes Einsatzes summierten sich innerhalb eines Jahres auf rund300 Millionen Mark, wofür, wie die Stellvertretende SPD-Vor-sitzende Heidemarie Wieczorek-Zeul vorrechnete, in Deutsch-land jeden Tag eine Kindertagesstätte hätte gebaut werdenkönnen.

Bei den europäischen Nachbarn und langjährigen Verbünde-ten der Bundesrepublik wächst unüberhörbar das Mißtrauengegenüber dem von Kohl regierten Deutschland, das sich ehr-geizig reckt, um neben den USA zweiter oder gar erster Weltpo-lizist zu werden. Wenn der griechische Vize-AußenministerTheodoros Pangalos, 1994 Vorsitzender des Ministerrats derEuropäischen Union, Deutschland »einen Riesen mit bestiali-scher Kraft und dem Hirn eines Kindes« nennt, dann ist dasnicht als Beleidigung des deutschen Volkes gemeint, wohl aberals Charakterisierung der gegenwärtigen Bonner Politik. We-sentlichen Anlaß zu solchem Mißtrauen gab das Vorpreschender Bundesregierung bei der Anerkennung Sloweniens undKroatiens als eigenständige Staaten, womit Jugoslawien zer-schlagen und ein furchtbarer Konflikt zwischen den vermischtlebenden Völkern angefacht wurde. Waffenschmieden wie dieGewehrfabrik Heckler & Koch in Oberndorf am Neckar profi-tieren jetzt - direkt oder indirekt - von dem Krieg aller gegenalle im ehemaligen Jugoslawien.

Griechenland mußte als besondere Provokation die Aner-kennung des eigenständigen Staates »Mazedonien« verstehen,denn die Masse der Mazedonier wohnt in Griechenland.

Auf ausländische Äußerungen des Mißtrauens pflegt Kohlpatzig mit der Bemerkung zu reagieren, daß sich dahinter

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»Neid« verberge. Und wenn er an den von Deutschland begon-nenen Zweiten Weltkrieg erinnert wird, verbittet er sich jedenVergleich mit dem heutigen, von ihm regierten Deutschland.Aber niemand anderes als die Bundesregierung ist dafürverant-wortlich, daß in der Bundeswehr Nazi-Traditionen wachgehal-ten werden, daß zum Beispiel die »Dietl-Kaserne« in Füssennach jenem Generaloberst benannt ist, von dem Hitler sagte:»Dietl hat den Typ des nationalsozialistischen Offiziers geschaf-fen, eines Offiziers, der nicht weichlich ist im Verlangen undFordern, nicht schwächlich im Einsatz der Menschen, sondernder genau weiß, daß für diesen Kampf kein Opfer zu groß oderzu teuer ist.«

Weil nach dem Ende der Sowjetunion und des WarschauerPaktes von einer militärischen Bedrohung des deutschen Terri-toriums keine Rede mehr sein konnte, entstand im Januar 1992ein Positionspapier des Bundesverteidigungsministeriumsunter dem Titel »Militärpolitische und militärstrategischeGrundlagen und konzeptionelle Grundrichtung der Neugestal-tung der Bundeswehr«. Darin ist zu lesen, »unter Zugrundele-gung eines weiten Sicherheitsbegriffs« könnten »die Sicher-heitsinteressen für den Zweck dieser militärpolitischen Lagebe-urteilung« unter anderem wie folgt definiert werden: »Auf-rechterhaltung des freien Welthandels und des Zuganges zustrategischen Rohstoffen«. Von derartigen Aufgaben der Bun-deswehr steht im Grundgesetz kein Wort.

Mit dem Streben nach einer Weltpolizisten-Rolle verbindetsich auch der dringende Wunsch nach einem ständigen Sitz imSicherheitsrat der Vereinten Nationen. Bei Gründung der UN1945 hatten deren Mitglieder den fünf Hauptsiegermächten desZweiten Weltkrieges das Privileg zugesprochen, ständig imSicherheitsrat vertreten zu sein, dessen zehn andere Mitgliederwechselweise gewählt werden. Damit wurde vor allem die Ver-antwortung dieser fünf Staaten anerkannt, eine stabile Nach-kriegsordnung zu schaffen und ein Wiederaufleben des deut-schen Militarismus zu verhindern. Es mag jetzt Gründe geben,dieses Privileg abzuschaffen. Das könnte der Demokratisie-rung der Vereinten Nationen dienen. Den gegenteiligen Effektaber hätte es, wenn, wie Dr. Kohl wünscht, der UN-Sicherheits-

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rat zu einer Art Weltregierung der wirtschaftlich Mächtigstengemacht würde.

Längst ist Deutschland Exportweltmeister. Je Beschäftigtenist die Exportleistung dreimal so hoch wie in den USA oder inJapan. Doch das genügt Kohl und seinen Hintermännern nochnicht. Darum bestehen sie darauf, daß die Sozialpolitik demangeblichen Erfordernis, Deutschlands Position in der Welt-wirtschaft zu stärken, untergeordnet werden müsse.

Was hilft es der eingangs erwähnten arbeitslos gewordenenalleinerziehenden Mutter Katrin Krause in Halle an der Saaleund ihrem Kind, wenn sich die Regierung des Dr. Helmut Kohlimstande zeigt, trotz gegenteiliger Verfassungsgebote ein Bun-deswehr-Bataillon in Ostafrika zu stationieren? Was würde esdem unter Druck großer Konzerne geratenen mittelständi-schen Unternehmen in Limburg an der Lahn, wo Katrin Krau-ses Vetter Norbert um seinen Arbeitsplatz zu fürchten beginnt,nützen, wenn es Kohl und seinem Außenminister, dem frühe-ren Geheimdienstchef Klaus Kinkel (F.D.P) gelänge, einenständigen Sitz im UN-Weltsicherheitsrat zu erlangen?

Die unsoziale Auspowerung der eigenen Bevölkerung,angeblich notwendig zur »Standortsicherung«, kann früheroder später genau das Gegenteil bewirken. Die Wirtschaft kannmit den Mitteln, die sie stärken sollen, ruiniert werden. DieUntauglichkeit der von Kohl, Lambsdorff, Rexrodt, Waigel undBlüm angewendeten Mittel ist in den USA durch Reagan undBush und in Großbritannien durch den Thatcherismus längsterwiesen.

Wenn immer mehr Menschen arbeitslos sind, weil sie für dieWarenproduktion nicht mehr gebraucht werden, wenn zu-gleich Löhne und Gehälter stagnieren oder real sinken, wennSozialabgaben wachsen und Leistungen gekürzt werden, dannsinken zwangsläufig Kaufkraft und Absatz. Wenn zugleich diearmen Länder der Erde auf Grund ungerechter, von den rei-chen Ländern diktierter Handelsbeziehungen noch ärmer wer-den, fallen sie als Absatzmärkte aus. Die Industrie stößt da-durch an Expansionsgrenzen. Der Konkurrenzkampf wird här-ter. Hauptwaffe in diesem Kampf ist die weitere Absenkung der

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Kosten, sprich Personalabbau. Läßt sich so auf die Dauer diedeutsche Wirtschaft stärken?

Kohl, Waigel, Rexrodt beklagen, in Deutschland werde zuwenig in Forschung, Entwicklung und Berufsbildung inve-stiert. Aber sie selbst streichen den Forschungshaushalt zusam-men. Solche Widersprüche mehren sich und werden zu einerakuten Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung.

Jahrelang versprach der Kanzler den Deutschen, die Ge-winne von heute seien die Investitionen von morgen und dieArbeitsplätze von übermorgen. Seine Politik erlaubte den Un-ternehmen, wor allem den großen Konzernen, gewaltige Ge-winnsteigerungen, aber von den Gewinnen wurde nur weniginvestiert, und die Investitionen dienten hauptsächlich zurWegrationalisierung von Beschäftigten. Arbeitsplätze wurdenso nicht geschaffen, sondern vernichtet. Und wenn die Massen-kaufkraft weiter sinkt, wenn also noch weniger Waren abgesetztwerden können als bisher, dann werden noch viel mehr Men-schen arbeitslos werden.

Das ist es, was wir bei einer Fortsetzung der Politik des Dr.Helmut Kohl zu erwarten haben. Und sein WirtschaftsministerRexrodt, qualifiziert durch seine Treuhand-Erfahrungen imPlattmachen, hat nun tatsächlich eine Idee, wie er Arbeitslosig-keit bekämpfen will: durch stärkere steuerliche Entlastung rei-cher Leute, die Dienstmädchen einstellen.

Was wir zu erwarten haben, ist weitere Privatisierung nachdem Programm von Birgit Breuel - trotz solcher niederschmet-ternder Erfahrungen wie mit dem »Grünen Punkt«, der allePrinzipien des Umweltschutzes verhöhnt und die Verbraucherzusätzlich belastet. Allerletzte Koalitionsabsicht Anfang 1994:Privatisierung von Arbeitsämtern.

Die Folgen der bisherigen Umverteilung von unten nachoben sind schon schlimm genug, als daß diese Politik fortge-führt werden dürfte. Nach zwölf Jahren Kohl-Regierung ist esin Deutschland dahin gekommen, daß Hospitäler Patientenmit schweren Krankheiten ablehnen, weil die Behandlung zuteuer wäre. Und dahin, daß in den Städten die Mieten für Neu-bauwohnungen, das heißt für nach 1948 gebaute Wohnungen,Jahr für Jahr um rund zehn Prozent steigen, während die Netto-

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Einkommen stagnieren oder sinken. Und dahin, daß immermehr Menschen, um überhaupt arbeiten zu können, gering-fügige Beschäftigungsverhältnisse ohne Sozialversicherungs-schutz annehmen (was auch die Einnahmen von Krankenkas-sen und Rentenversicherungen mindert).

»Für den weiteren Verlauf der neunziger Jahre«, heißt es imArmutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands und desDGB, sei »davon auszugehen, daß sich durch die anhaltendeMassenarbeitslosigkeit und die fehlenden beziehungsweiseauslaufenden Mindestsicherungselemente in der Sozialversi-cherung das Problem der arbeitsmarktbedingten Armut imSinne von Sozialhilfebedürftigkeit zu einem sozialpolitischenProblem ersten Ranges entwickeln wird«.

Aber dieser Fortgang der Geschichte ist nicht zwangsläufigIhm muß Einhalt geboten werden. Und das müssen wir selbertun.

Selbst im schicken München lebten Ende 1993 bereits140 000 Menschen in Armut. 50 000 waren arbeitslos, 60 000Familien überschuldet, 12 000 hatten keine Bleibe, 1200 lebtenauf der Straße. Angesichts solcher Zustände machte ein erfah-rener Kommunalpolitiker, der frühere Münchener Oberbürger-meister Georg Kronawitter (SPD), folgenden Vorschlag: Wennsich der Staat endlich entschließe, Einkommen aus Arbeit undaus Vermögen gleichwertig zu besteuern, könne er von denSuperreichen mit einer 15prozentigen Sondersteuerjährlich 60Milliarden Mark holen, in zehn Jahren also 600 MilliardenMark. Das sei ihnen durchaus zuzumuten, erklärte Kronawit-ter, denn seit 1970 habe sich das Privatvermögen der Westdeut-schen auf 9492 Milliarden Mark versechsfacht. Die Hälftedavon gehöre den oberen zehn Prozent der Haushalte. Kleineund mittlere Vermögen, beispielsweise derjenigen, die sich einHäuschen vom Mund abgespart oder geerbt haben, könntenund müßten von der Sondersteuer freigestellt bleiben (»DerSpiegel«, 22. November 1993).

Dieservorschlag bedeutet Umverteilung andersherum: vonoben nach unten. Darauf kommt es jetzt an. Von Kohl und sei-ner Koalition können wir eine solche Abkehr von ihrer bisheri-gen Politik nicht erwarten. Was wir von anderen Parteien zu

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erwarten haben, sollten wir deren Kandidaten eingehend fra-gen. Und wir sollten sie ebenfalls an ihrem bisherigen Verhal-ten messen.

Am Wahltag ist dreierlei nötig, um die Mehrheitsverhältnissein Deutschland zu ändern, damit Helmut Kohl seine verhäng-nisvolle Politik nicht fortsetzen kann:

1. Keine Stimme darf dadurch verloren gehen, daß Wahlbe-rechtigte der Wahl fernbleiben. Wer Politik zu »doof« oder zu»schmutzig« findet, soll wissen, daß sie erst wirklich ärgerlichund schmutzig wird, wenn sich die Verantwortlichen nichtselbst darum kümmern. Verantwortlich aber ist jeder und jedeWahlberechtigte! Das gilt besonders für die Jungwähler, umderen eigene Zukunft es geht.

2. Keine Stimme darf einer Partei gegeben werden, die nichteindeutig klargestellt hat, daß sie gegen Kohl und dessen Poli-tik angetreten ist und keinesfalls mit der CDU/CSU ein Regie-rungsbündnis eingehen wird.

3. Den Rechtsaußen-Parteien darf es nicht gelingen, in denBundestag einzuziehen. Wie einst am Ende der WeimarerRepublik würden sie sich als Trumpf in der Hinterhand desGroßen Geldes erweisen.

Aber die Bundesbürgerinnen und -bürger haben noch mehrMöglichkeiten, als am Wahltag ihre Stimme abzugeben. AlsDemokraten können und müssen sie zum Beispiel den Mundaufmachen, wenn in ihrer Gegenwart soziale, menschenverach-tende Parolen aufkommen. Das heißt: Zivilcourage beweisen.Außerdem hat jede und jeder von uns die Möglichkeit, imBekanntenkreis Informationen weiterzugeben - was um sonötiger ist, wenn aufwendige Propaganda zu vernebeln ver-sucht, was der Eiserne Kanzler des Großen Geldes bisher ange-richtet hat. Nicht zuletzt gilt es, in Mieter- und Verbraucherver-bänden, in Umwelt- und Friedensinitiativen und vor allem inden Gewerkschaften demokratischen Widerstand gegen rück-sichtslose Ausbeutung und Entrechtung zu leisten.

Solche Möglichkeiten gibt es nicht nur einmal alle vier Jahre,sondern jeden Tag.

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Wir Untertanen

Ein deutsches Geschichtsbuch,Erster Teil

464 Seiten, stb 24, NeuausgabeDM 18,80

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Wir Untertanen ist Engelmanns kritische,zutiefst demokratische Darstellung einesJahrtausends deutscher Vergangenheit.Engelmann schreibt Geschichte vonunten, steht auf der Seite des Volkes,nimmt dessen Perspektive ein, wenn esum die großen Männer und ihre ver-meintlich großen Taten geht, die immermit dem Schweiß und dem Blut der

Namenlosen errungen wurden.

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Page 143: Bernt Engelmann - Schwarzbuch Helmut Kohl

B E R N T E N G E L M A N N

Einig gegen Recht und Freiheit

Ein deutsches Geschichtsbuch,Zweiter Teil

336 Seiten, stb 57, NeuausgabeDM 18,80

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In diesem Buch behandelt Bernt Engel-mann die Jahre zwischen 1918 und 1938- in denen mehr Legenden und Lügenverbreitet wurden als je zuvor in einemvergleichbaren Zeitraum: »im Feldeunbesiegt«, »Kriegsschuldlüge«, »Schand-vertrag von Versailles«, »Judenrepublik«, »Volk ohne Raum« . . . Engelmann ver-gleicht die Legenden mit dem, wasdamals wirklich geschah und entziehtdamit auch den neuen Rechten denBoden für ihre altbekannten Helden-

denkmaler.

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D O R O T H E E B E C KH A R T M U T M E I N E

Wasserprediger und Weintrinker

Wie Reichtum vertuschtund Armut verdrangt wird

240 Seiten, gebunden, DM 34,00

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Die Zahl der Arbeitslosen, Sozialhilfe-empfänger und Obdachlosen steigt.Gleichzeitig gibt es immer mehr Reicheund Superreiche. In Krisenzeiten mah-nen die politischen und wirtschaftlichenEliten Kürzungen zuallererst bei denkleinen Leuten an: Politiker mit fürst-licher Altersversorgung predigen dieAbsenkung des Rentenniveaus, gutge-hende Unternehmen Lohnsenkung undArbeitsplatzabbau, alte und neue Reichedie Abschaffung der Vermögenssteuer.Dorothee Beck und Hartmut Meine nen-nen Namen und Zahlen. Wer sind diefünfzig reichsten Familien in Deutsch-land? Was können sich Arbeitslose undSozialhilfeempfänger heute noch lei-sten? Und sie stellen sich die Frage, wieeine Reformperspektive aussehen kann,die wieder mehr Verteilungsgerechtig-keit und sozialen Ausgleich zum Ziel hat.

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