Date post: | 26-Sep-2015 |
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Humboldt-Universitt zu Berlin Institut fr Deutsche Literatur
Sozialistischer Realismus? Zum Verhltnis
von `Authentizitt und `Symbolismus in
Anna Seghers Roman Das siebte Kreuz
Wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des
akademischen Grades eines Bachelor of Arts
eingereicht von:
Inga Knrig
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ............................................................................................................... 1
1. Die marxistische Literaturkonzeption zeit- und literaturwissenschaftliche
Kontextualisierung .................................................................................................. 6
1.1 Die Konzeptionalisierung einer proletarisch-revolutionren Literatur zum
Ende der Weimarer Republik (1924-1933) ......................................................... 6
1.2 Die Kunstprogrammatik(en) einer sozialistisch-realistischen Literatur ...... 9
1.3 Konsolidierung antifaschistischer Schriftsteller im Exil und das Programm
einer nationalen Dichtung ................................................................................. 11
1.4 Die Expressionismusdiskussion im Exil divergierende Anstze einer
realistisch-kritischen Literatur .......................................................................... 15
2. Anna Seghers Romankunst im Kontext der Konzeptionalisierung einer
antifaschistischen Literatur ................................................................................... 19
2.1 Anna Seghers Beitrag zur Expressionismusdebatte Der Briefwechsel mit
Georg Lukcs .................................................................................................... 19
2.2 Anna Seghers poetologisches Credo: verzaubern` und erhellen` ........... 21
2.3 Anna Seghers Deutschlandbild: Vaterlandsliebe .................................... 23
2.4 Die Dialektik vom gewhnlichen und gefhrlichen Leben ................. 25
3. Authentizitt und Symbolismus im Roman Das siebte Kreuz .......................... 29
3.1 Die Sache mit dem Kreuz Dokument und Fiktion innerhalb der
Materialgrundlage ............................................................................................. 29
3.2. Die Flucht als Strukturmittel Das siebte Kreuz als Gesellschaftsanalyse?
........................................................................................................................... 31
3.3. Die Relativitt der Gegenwart berzeitliche Evokationen im Siebten
Kreuz ................................................................................................................. 35
3.4. [] in jenen wilden Zeiten eine unwirkliche Zeit nacherlebbar
gestalten ............................................................................................................. 38
Synopsis ................................................................................................................ 44
1
Einleitung
Die Stabilisierung des Faschismus zwischen 1933 und 1935 zwang viele deutsche
Schriftsteller und Schriftstellerinnen zum Auszug ins Exil, wo sie unter
erschwerten materiellen Bedingungen und in Isolation neue Strategien der
literarischen Gegenwartsbewltigung entwickelten. In dieser Zeit der sthetischen
Neuorientierung der Exilautoren und deren Bemhungen um eine Romantheorie,
die in geeigneter Weise fhig wre, Kritik am Faschismus zu ben, entstand eines
der wirkungsmchtigsten und zugleich erfolgreichsten Werke der deutschen
Exilliteratur: Anna Seghers2 Roman Das siebte Kreuz. Ein Roman aus
Hitlerdeutschland 3.
Die Fluchtgeschichte des KZ-Hftlings Georg Heisler ist einer der
meistinterpretierten Texte der deutschen Literatur und wurde auf vielfltige
mediale Weise verarbeitet: Nach Erscheinen der englischsprachigen Ausgabe in
den USA im Jahr 19424 und der Umsetzung als Comic strip Version sowie als
Armee-Ausgabe, wurde der Roman 1944 durch den amerikanischen Regisseur
Fred Zinnemann verfilmt5.
1 Anna Seghers: Brief an Iwan Anissimow vom 23. September 1938. In: ber Kunstwerk und
Wirklichkeit, Bd.2, S. 16. 2 Eigentlich Netty Radvanyi, geb. Reiling. 3 Anna Seghers: Das siebte Kreuz. Aufbauverlag Berlin u. Weimar 1966. In der vorliegenden
Arbeit wird nach dieser Ausgabe zitiert, da keine Vernderungen im Vergleich zu frhren
Ausgaben festgestellt wurden. 4 Die englischsprachige Ausgabe erschien unter dem Titel The seventh cross im Verlag Little,
Brown & Co. Vgl. Stephan, Alexander: Anna Seghers Das siebte Kreuz. Welt und Wirkung
eines Romans, Berlin 1997, S. 354. 5 Vgl. (u.a) Zehl-Romero, Christiane: Anna Seghers, Hamburg 1993, S. 64 f.
Ich werde einen kleinen Roman beenden, etwa 200 bis 300 Seiten,
nach einer Begebenheit, die sich vor kurzem in Deutschland zutrug.
Eine Fabel also, die Gelegenheit gibt, durch die Schicksale eines
einzelnen Menschen sehr viele Schichten des faschistischen
Deutschlands kennenzulernen.1
2
Wenige Monate nach der Verffentlichung der amerikanischen Ausgabe erschien
im Januar 1943 die erste deutschsprachige Ausgabe im mexikanischen Exilverlag
El Libro Libre.6
Das Siebte Kreuz teilte das Schicksal vieler anderer Werke der Exilliteratur der
abenteuerlich anmutende Weg von Frankreich aus ins auereuropische Ausland
ist symptomatisch fr die Zeit seiner Entstehung.7 Zudem erreichte der Roman
erst Jahre nach seiner Entstehung und Verffentlichung das Leserpublikum in
Deutschland und erfuhr bis in die siebziger Jahre hinein zunchst nur in der
damaligen DDR grere Beachtung.8 Innerhalb der literaturwissenschaftlichen
Auseinandersetzung mit Seghers Roman Das siebte Kreuz wurde wiederkehrend
Erstaunen darber geuert, dass es gerade einer Schriftstellerin aus der Distanz
des Exils gelungen war, ein authentisch wirkendes, zeitgenssisches Bild der
Menschen in Hitlerdeutschland zu gestalten, das zeigt, was [..] das deutsche
Volk, in den zwlf Jahren der Naziherrschaft an Qualen und Leiden
durchgemacht hat[]9. Die noch bis in die heutige Gegenwart anhaltende
Popularitt des Romans erklrt sich demnach nicht nur aus einer spannend
inszenierten Fluchtgeschichte, sondern grndet vor allem auf den erzhlerischen
Einfall der Autorin, das gesellschaftliche Spektrum dieser Zeit knstlerisch
darzustellen. Die Beobachtung, Anna Seghers habe mit ihrem Roman einen
Querschnitt durch Nazideutschland literarisch umsetzen wollen10, impliziert die
Nhe zu einer realistischen Schreibweise. Bei der Lektre des Siebten Kreuzes
wird jedoch deutlich, dass sich der Roman nicht in einer wirklichkeitsabbildenden
Darstellungsweise erschpft. Bereits innerhalb der Titelmetaphorik wird der
Bezug zu einer Anverwandlung jdisch-christlicher Terminologie deutlich und
verweist auf eine poetisch erweiterte Sinngebung, in welcher das mythische
6 Vgl. (u.a.) Stephan, S. 30. 7 Vgl. Bernhardt, Rdiger: Erluterungen zu Anna Seghers Das siebte Kreuz, Hollfeld 2004, 3.
Auflage, S. 5. 8 Die deutschsprachige Nachkriegsausgabe des Siebten Kreuzes erschien 1946 im Berliner
Aufbauverlag. Vgl. Sonja Hilzinger: Anna Seghers Das siebte Kreuz. Stuttgart 2004, S. 63. 9 Kurt Heyd: Rede anlsslich der Verleihung des Georg-Bchner-Preises fr Anna Seghers 1947,
in: Argonautenschiff 7 (1998), S. 53. 10 Vgl. (u.a.) Stephan, S. 35.
3
Element mit dem realen Grundstoff, das realistische Element mit dem mythischen
Inhalt []11 eine unlsliche Verbindung eingeht.
Die scheinbare Vielschichtigkeit des Romans wirft die Frage auf, ob und
inwiefern Anna Seghers Roman Das siebte Kreuz die literatursthetischen
Forderungen nach Abbildung der Wirklichkeit erfllt, wie sie im Rahmen der
Debatten um Formalismus und Sozialistischen Realismus whrend der dreiiger
Jahre im Exil festgelegt wurden.12
Diese Arbeit folgt daher dem Interesse, der Fragestellung nachzugehen, ob und
inwiefern es Anna Seghers versteht, die literarisch-sthetische Vermittlung der
vermeintlichen Dichotomien Symbolismus` und Authentizitt` zu realisieren.
Der Terminus Symbolismus` versteht sich in dieser Arbeit als Oberbegriff fr die
im Roman Das siebte Kreuz motivisch und episodisch montierten knstlerischen
Elemente, welche ber eine unmittelbare Sinngebung hinausgehen und das
Dargestellte in einem erweiterten Bedeutungszusammenhang erscheinen lassen. In
diesem Zusammenhang soll die hier aufgestellte These verteidigt werden, dass
Anna Seghers symbolische Evokationen nicht nur als erzhlerische Mittel in ihren
Roman Das siebte Kreuz montiert werden, sondern, dass diese auch konstitutiv
fr eine inhaltliche Aussage des Romans sind. Hinsichtlich einer potentiellen
Authentizitt` des Romangeschehens soll erkennbar werden, inwieweit sich Anna
Seghers ber Geschehnisse aus dem nationalsozialistischen Deutschland
informieren konnte und inwiefern der zeitgenssische Alltag mit dem
Romangeschehen und dem Figurenensemble korrespondiert.
Entsprechend der umfangreichen und vielfltigen Rezeptionsgeschichte des
Romans, ist das Angebot an Forschungsbeitrgen zum Siebten Kreuz vielfltig.
Die Notwendigkeit einer besonders kritischen Lektre der Forschungsliteratur ist
bei der Begutachtung derjenigen Beitrge zu gewhrleisten, die in der Phase des
11 Christa Wolf: Zeitgeschichten, in: Anna Seghers: Ausgewhlte Erzhlungen, Darmstadt 1983, S.
363, zit. nach Stephan, S. 7. 12 Vgl. Siegrid Thielking: Warten Erzhlen berleben. Vom Exil aller Zeiten in Anna Seghers
Transit, in: Argonautenschiff 4 (1995), S. 133f. und Zimmer, Michael: Anna Seghers Das siebte
Kreuz. Erluterungen, Interpretationen, Materialien, Hollfeld 2001 , S. 56ff.
4
geteilten Deutschlands, sowohl in der DDR als auch in der BRD, publiziert
wurden.
Whrend Seghers` Roman in der DDR als schulische Pflichtlektre in den Rang
der sozialistisch-realistischen Aufbauliteratur erhoben wurde13, fhrten
ideologische Ressentiments seitens der westdeutschen Literaturwissenschaft lange
Zeit zum Boykott des Siebten Kreuzes und der Autorin Anna Seghers14. Die
mehrheitlichen Interpretationen der DDR-Literaturwissenschaftler orientierten
sich zum Zwecke einer ideologischen Funktionalisierung von Literatur an
werkimmanenten Implikationen, die eine Charakterisierung des Siebten Kreuzes
als politischen, sozialistisch agitatorischen Roman rechtfertigen.15 Nach der
deutschen Wiedervereinigung und der Beendigung des Kalten Krieges wurde der
Roman dann einer interpretatorischen Revision unterzogen, im Zuge derer nicht
nur der Leistung des Werkes als Sozialanalyse strker Rechnung getragen,
sondern auch aufmerksamer als zuvor sthetische Besonderheiten des Romans
untersucht wurden.16
Die Auseinandersetzung mit Seghers Roman gewinnt dort an Brisanz, wo neue
literatursthetische Anstze die Werkanalyse bestimmen. Ein besonderer
Schwerpunkt der Forschungsliteratur entfaltete sich vor allem im letzten Jahrzehnt
und berhrt das Verhltnis von zeitgeschichtlicher Authentizitt und epischer
Fiktion. Anhand von lokalspezifischen Recherchen17 und Zeitzeugenberichten18
wird versucht nachzuweisen, inwieweit sich die Autorin obwohl sie zur
Entstehungszeit des Romans den schwierigen materiellen Bedingungen des Exils
ausgeliefert war dennoch ber Vorgnge aus ihrer Heimat informieren konnte.
Ausgangspunkt und Basis fr dieses Forschungsinteresse ist die Formierung einer
13 Vgl. Stephan, S. 9 und S. 281-296. 14 Vgl. Valentin Merkelbach: Fehlstart Seghers-Rezeption. Vom Kalten Krieg gegen die Autorin in
der Bundesrepublik, in: Roos u. H.-Roos (Hrsg.): Anna Seghers Materialienbuch, S. 9-24. 15 Vgl. (u.a.) Neugebauer, 1962, S. 51-67. 16 Vgl. (u.a.) Stephan, S. 34 62; Hilzinger (2000), S. 176f. 17 Vgl. Angelika Arenz-Morsch: Das KZ Osthofen im Spiegel neuerer Forschung, in:
Argonautenschiff 2 (1993), S. 174-194. 18 Erwin Rotermund verffentlichte die Lagererinnerungen eines ehemaligen KZ Hftlings aus
Sachsenhausen, der ber die Flucht von sieben Flchtlingen und das Aufstellen der sieben Kreuze
berichtet, in: Argonautenschiff 10 (2001), S. 255f.
5
vernderten Auffassung ber das Verhltnis von Gesellschaft und Literatur seit
dem Ende der 1980er Jahre, die sich in der Terminologie des New Historicism
manifestierte.19
In diesem Zusammenhang gelangt auch der amerikanische Germanist Alexander
Stephan in seinen Ausfhrungen ber die sozial- und alltagsgeschichtlichen
Aspekte des Romans zu der Schlussfolgerung, dass Seghers Verfahren, die
Geschichte der einfachen` Menschen intensiver als die Struktur der Machteliten
zu untersuchen, mit der Vorgehensweise der neuen Geschichtsbewegung
korrespondiere.20
Innerhalb der Programmatik dieser Forschungsrichtung dient nicht mehr nur der
gedruckte literarische Text als Vorlage der Interpretation, sondern es wird anhand
unverffentlichter Dokumente der Auseinandersetzung der Autorin mit ihrem
Stoff und ihrer Wirkungsvorstellung nachgesprt. Eine Transparentwerdung des
literarischen Textes ber den Zugang autobiographischer Mitteilung ist in diesem
Zusammenhang ein unerlssliches Hilfsmittel bei der Werkinterpretation.
Insbesondere die Kunstprogrammatik Anna Seghers als konstitutives Element der
Romanproduktion, gibt wichtige Aufschlsse ber die Intention ihres literarischen
Schaffens, obwohl auch sie selbst darauf hingewiesen hat, dass die Ergebnisse
und die Anschauungen eines Schriftstellers am allerklarsten [werden] aus seinem
Werk, auch ohne spezielle Biographie21.
Analog zu dieser Art der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit literarischen
Texten soll auch die vorliegende Untersuchung verfahren, indem nicht nur der
Roman Das Siebte Kreuz im Hinblick auf den Einsatz symbolischer Elemente und
authentischer Bezge analysiert werden soll, sondern auch uerungen der
Autorin zu ihrer Kunstprogrammatik, ihrem Selbstverstndnis und deren
Reflexion innerhalb des literarischen Textes errtert werden sollen.
19 Vgl. Klausnitzer, Ralf: Literaturwissenschaft. Begriffe/Verfahren/Arbeitstechniken, Berlin 2004,
S. 204f. 20 Vgl. Stephan, S. 10 und S. 148f. 21 Christa Wolf spricht mit Anna Seghers, in: ber Kunstwerk und Wirklichkeit, Bd. 2, S. 36.
6
1. Die sozialistische Literaturtheorie im zeitpolitischen Kontext (1924-1939)
1.1 Die Konzeptionalisierung einer proletarisch-revolutionren Literatur zum
Ende der Weimarer Republik (1924-1933)
Die literaturtheoretischen Debatten ber die Bestimmung des Wesens und der
Funktion sozialistischer Literatur, gewannen in Deutschland ab 1924 an
besonderer Bedeutung und reflektierten ihren Wirkungskreis in der Herausbildung
einer eigenstndigen Literaturform und in der kritischen Revision des
brgerlichen Kunsterbes.22 Beeinflusst von den sowjetischen Literaturdebatten
setzte sich die Bezeichnung proletarisch-revolutionre Literatur als
Charakterisierung einer sozialistischen Literatur durch, die sich gegen eine
brgerlich-humanistische Literaturform abgrenzte.23 Die ersten Versuche zur
Etablierung einer materialistisch-dialektischen Literaturwissenschaft setzten neue
Akzente in der gesamtdeutschen Literaturentwicklung. Gleichzeitig fhrte der
radikale Affront gegen eine als unterlegen empfundene Bourgeoisie-Literatur`
jedoch auch zu einer Krise innerhalb der Bndnisbeziehungen zwischen
proletarischen, brgerlichen und radikal-demokratischen Schriftstellern, die erst
im Exil wieder erneuert werden sollten.24
Durch eine Initiative der kommunistischen Schriftsteller wurde ab 1925 im Lager
der KPD eine verstrkte Kopplung von Partei- und Kulturarbeit beschlossen.25
Die sich herausbildende proletarisch-revolutionre Literaturbewegung war in
diesem Sinne eng mit der unmittelbaren politischen Praxis des Klassenkampfes
und der Kapitalismuskritik verbunden, wie sie von der Kommunistischen Partei
Deutschlands postuliert wurde.
22 Vgl. Rosenberg, Johanna: berwindung des politischen und sthetischen Subjektivismus, in:
Literaturdebatten in der Weimarer Republik. Zur Entwicklung des marxistischen
literaturtheoretischen Denkens 1918-1933. Hrsg. v. Manfred Nssig (u.a.). Berlin u. Weimar 1980,
S. 223-455, hier: S. 413. 23 Vgl. Nssig, Manfred: Das Ringen um proletarisch-revolutionre Kunstkonzeptionen (1929-
1933), in: ebd., S. 469-709, hier S. 474 f. 24 Vgl. Rosenberg, S. 428 f. 25 Vgl. ebd., S. 362f.
7
Besonders bedeutsam fr die Identittsstiftung einer marxistischen Kulturpolitik
war die organisierte Zusammenarbeit sozialistischer und antifaschistischer
Schriftsteller.26 Am 19. Oktober 1928 wurde die erste sozialistische deutsche
Autorenvereinigung, der Bund proletarisch-revolutionrer Schriftsteller (BPRS),
in Berlin gegrndet.27 Die Etablierung des BPRS stand im Zeichen eines
umfassenden Vorgangs zur Herausbildung einer eigenstndigen sozialistischen
Kultur im zeitgenssischen Deutschland.28 Diese Institution, der u.a. Johannes R.
Becher, Willi Bredel, Alfred Kurella und ab 1929 Anna Seghers angehrten,
fungierte als Arbeitskollektiv, in dem grundstzliche Fragen ber Auffassung und
Mglichkeiten einer marxistisch fundierten Literatur errtert wurden.29 Die
Einheit der marxistischen Kunstvorstellung rekurrierte sich aus einer
bereinstimmenden gesellschaftspolitischen Zielvorstellung von Kunst und
Literatur, nach der Literatur als Reflexion gesellschaftlicher Wirklichkeit
operieren sollte.30
Die aktuellen Bemhungen, eine Literaturtheorie zu etablieren, welche eine
produktive gesellschaftsanalytische und aktivierende Funktion einnehmen sollte,
ging konform mit den Einschtzungen der Kommunistische Internationale (KI)
und der KPD ber die sozialpolitische Situation Deutschlands.31 Die
Stabilisierung des sowjetischen Kommunismus strkte auch die
Erwartungshaltung der deutschen Sozialisten gegenber einer mglichen
zukunftsweisenden proletarischen Revolution, die im Zuge der Klassenkmpfe
errungen werden sollte.32 Gleichzeitig wurden die anwachsende Popularitt der
NSDAP-Demagogie und das Auftreten einer zunehmend erstarkenden vlkisch-
nazistischen Propagandaliteratur ab 1928, von den Vertretern einer sozialistischen
Literaturwissenschaft als neue Gefahrensituation erkannt, auf die auch mittels
26 So wurde im gleichen Jahr, 1925, auch der SDS (Schutzverband deutscher Schriftsteller) als
Arbeitsgemeinschaft deutscher Schriftsteller gegrndet. Vgl. Rosenberg, S. 370. 27 Vgl. Sachlexikon Literatur. Hrsg. von Volker Meid. Mnchen 2000, S. 947. 28 Vgl. Nssig, S. 472 f. 29 Vgl. ebd. 30 Vgl. Klausnitzer, S. 203. 31 Vgl. Nssig, M., S. 474. 32 Vgl. Batt, Kurt: Anna Seghers. Versuch ber Entwicklung und Werke, Leipzig 1980, S. 48.
8
sthetischer Strategien reagiert werden sollte.33 Im Sinne einer politischen
Aktivierung der Leser fr die Parteinahme an der Schaffung einer sozialistischen
Machtordnung, sollten Herz und Hirn der Arbeiterklasse und der breiten
werkttigen Massen fr die [] Vorbereitung der proletarischen Revolution
gewonnen werden`34. Die soziale Determination von Kunst, innerhalb derer
Literatur als Agitatorin einer sozialistischen sthetik fungieren sollte, fute auf
den Inhalten autoritrer kulturpolitischer Strategien und war in ihrer
knstlerischen Praxis demnach auch starken Dogmatismen ausgesetzt. Den
Magaben einer von Lenin inspirierten materialistisch-dialektischen
Widerspiegelungsdoktrin35 folgend, operierte die proletarisch-revolutionre
Literatur mit den Kategorien Wahrheit`36 und Wesen der Zeit37. Besonders ab
1930, als die NSDAP zur zweitstrksten Fraktion im Deutschen Reichstag
aufstieg, wurde die Notwendigkeit einer direkten Kritik am Faschismus, welcher
als gefhrlichstes Phnomen des Imperialismus gedeutet wurde, durch eine
Literatur, die die breite Masse der Bevlkerung erreicht, dringlicher.38 Johannes
R. Becher, Vorsitzender des BRPS, trat in diesem Zusammenhang entschieden fr
Das groe proletarische Kunstwerk39 ein, in welchem zwar kleine, operative
Kunstformen toleriert wurden, das jedoch hauptschlich eine
Wirklichkeitsabbildung im Sinne einer unmittelbaren Nacherlebbarkeit
intendierte.40 Die Wirkungsmchtigkeit der proletarisch-revolutionren Literatur
sollte durch eine schriftstellerische Methode verwirklicht werden, die die
33 Vgl. Nssig, M., S. 470 f. 34Das Aktionsprogramm des BRPS von 1928.zitiert nach: Dr. Elisabeth Simons: Die Entwicklung
deutscher Nationalliteratur von 1917 bis 1945, in: Deutsche Literaturgeschichte in einem Band,
Hrsg. v. Prof. Dr. Hans Jrgen Geerdts , Berlin 1965, S. 575. 35 Vgl. W.L. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus (1908), in: Werke, Bd. 14, Berlin
1977, S. 53. 36 In diesem Zusammenhang fundiert Wahrheit` auf den Wertvorstellungen einer marxistisch-
leninistischen Gesellschaftslehre. Vgl. Nssig, S. 517. 37 Wieland Herzfelde, aus: Aktionen, S. 165, zitiert nach: Nssig, S. 482. 38 So auch durch die Verffentlichung des Rote Eine-Mark-Romans. Vgl. ebd., S. 633. 39 Entwurf zu einem Programm des BPRS. in: Traditionen, S. 394, zitiert nach: ebd., S. 630. 40 Vgl. ebd.., S. 634.
9
wirklich treibenden Krfte der Gesellschaft in unmittelbarer, nacherlebbarer
Form darzustellen 41 vermochte.
1.2 Die Kunstprogrammatik(en) einer sozialistisch-realistischen Literatur
Die Mglichkeiten und die Funktion einer realistischen Schreibweise, wie sie
Johannes R. Becher in seinen Ausfhrungen ber Das groe proletarische
Kunstwerk propagierte, standen in engem Zusammenhang mit den sowjetischen
Literaturdebatten und der Postulierung des von Stalin indoktrinierten
Sozialistischen Realismus42. Diese Literaturprogrammatik forderte vom
Schriftsteller eine wahrheitsgetreue und historische Konkretheit der
knstlerischen Darstellung`, die mit den Aufgaben der ideologischen
Umgestaltung und Erziehung der Werkttigen im Geiste des Sozialismus
verbunden`43werden sollte. Der Sozialistische Realismus insistierte mit dem
Postulat der Wahrheitstreue jedoch nicht so sehr auf eine Darstellung objektiver
Realitt, als vielmehr auf die Veranschaulichung der proletarisch-revolutionren
Fortschrittsentwicklung.44 Die Formulierung einer konkreten sthetischen
Kunstprogrammatik proletarisch-revolutionrer, sozialistischer Literatur steht im
Zeichen einer noch strker als zuvor beabsichtigten Symbiose zwischen
marxistischer Weltanschauung und knstlerischer Methode.45 Im Sinne einer
parteilich-ideologischen Erziehungsfunktion von Literatur, sollte der Protagonist
der Dichtung durchgngig mit positiven Attributen besetzt sein und das
Vorzeigebild des revolutionren Aktivisten verkrpern.46
41 Johannes R. Becher: Unsere Wendung. Vom Kampf um die Existenz der proletarisch-
revolutionren Literatur zum Kampf um ihrer Erweiterung, zitiert nach Nssig, S. 633. 42 Durch den Beschluss des Zentralkomitees vom 23.4.1932, ging die Bezeichnung Sozialistischer
Realismus auf dem ersten Allunionskongress der sozialistischen Schriftsteller 1934 als sthetische
Maxime in die Satzung des sowjetischen Schriftstellerverbandes ein. Vgl. Zimmer, S. 102. 43 Statut des Verbandes der Sowjetschriftsteller, in: Internationale Literatur 3 (1934), zit. nach
Schmitt, Hans-Jrgen: Die Expressionismusdebatte. Materialen zu einer marxistischen
Realismuskonzeption, S. 16. 44 Vgl. Kantorowicz, Alfred: Politik und Literatur im Exil. Hamburg 1978, S. 202. 45 Vgl. Nssig, S. 629. 46 Vgl. Kantorowicz, S. 203.
10
In Deutschland wurden die Debatten um eine einheitliche Methode, aufbauend auf
den sowjetischen Debatten, besonders durch die divergierenden theoretischen
Konzeptionsvorschlge von Georg Lukcs und Bertolt Brecht nachhaltig
bestimmt.47 Der ungarische Literaturtheoretiker Lukcs bernahm den
sowjetischen Realismusbegriff und forderte eine konsequente Verknpfung von
Totalittsanspruch der sozialistischen Literatur mit einer politischen Erziehung
des Lesers.48 Lukcs pldierte in diesem Zusammenhang fr eine
Darstellungsweise, die darauf abzielen sollte, den Leser fr die
Romanprotagonisten, fr ihre Entwicklung, fr ihre Person, fr ihr Geschick
leidenschaftlich zu interessieren und warb fr eine Handlungskonzeption, die
ein miterlebbares Bild vermittelt 49. Im Sinne einer realistischen Darstellung des
Typischen, welches das menschlich-konstante mit dem historisch determinierten
verbindet, sah Lukcs die wahre Leistung dieser Literaturform.50 Innerhalb des
BPRS wurde sich auf Lukcs Postulat einer sthetischen Rezeption der
gesellschaftlichen Totalitt weitgehend berufen. Dennoch wurde seine Forderung
nach der Darstellung des Typischen als Manko empfunden, da diese Konzeption
tendenziell nicht in der Lage sein wrde, Vernderungen der
Gesellschaftsprozesse flexibel darzustellen.51
Auch Bertolt Brecht war bei der Verwendung der Totalittskategorie vorsichtiger.
So ging es ihm nicht, wie Lukcs, um eine Reproduktion der diffizil zu
durchdringenden gesellschaftlichen Totalitt, sondern um eine Darstellungsweise,
die in vereinfachender Form die Vorgnge auf der Bhne [] in ihrem
allseitigen Zusammenhang und totalen Verlauf52 veranschaulichen sollte. Das
47Auch andere Literaturtheoretiker beeinflussten die Entwicklung in entschiedenem Mae, doch
fungieren Lukcs und Brecht als besondere Exponenten fr die zwei hauptschlichen Richtungen
innerhalb der Entwicklung sthetischer Konzepte der Wirklichkeitsvermittlung. Vgl. Nssig, S.
707 f. 48 Vgl. Mehnert, Gnther: Parteilichkeit und Sozialistischer Realismus. Leipzig/Jena/Berlin 1962,
S. 5 ff. 49 Georg Lukcs: Reportage oder Gestaltung ? Kritische Bemerkungen anlsslich des Romans von
Ottwalt, zit. nach Nssig, S. 648. 50 Vgl. Sachlexikon Literatur. Hrsg. von Volker Meid. Mnchen 2000, S. 553. 51 Vgl. Nssig, S. 652 f. 52 Bertolt Brecht: Anmerkungen zur Dreigroschenoper, zit. nach Nssig, S. 663.
11
von Brecht formulierte Realismuskonzept erschpfte sich nicht in einer einfachen
Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern zielte auf eine lebenswirkliche, komplexe
Darstellung, die zum Zwecke der Einsichtvermittlung sinnlich und bildhaft
geformt und suggestiv vermittelt werden sollte.53
Insgesamt lsst sich fr die Periode zwischen 1924 und 1933 eine Vielfalt an
Entwrfen und Vorschlgen zu einer Fundamentierung sozialistisch-realistischer
Schreibweise konstatieren, die sowohl die Erfahrungen der sozialistischen
Literaturpraxis, als auch die Bemhungen um eine eigenstndige und
antifaschistische sthetik reflektieren. Eine so entstandene Mglichkeit
verschiedener Lsungen54 ermglichte dann auch im Exil, als Grundlage fr die
Debatten ber eine antifaschistische Literatur zu fungieren.
1.3 Konsolidierung antifaschistischer Schriftsteller im Exil und das Programm
einer nationalen Dichtung
Die Frage nach dem Umsonst` der revolutionren Anstrengungen stellte sich
1933 fr die linksgerichteten Intellektuellen in radikaler Zuspitzung. Unmittelbar
nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 setzten Terroraktionen von
nationalsozialistischer Seite gegen Andersdenkende ein.55 Die Machtergreifung
Adolf Hitlers zwang nicht nur tausende linksintellektuelle Schriftsteller zum
Auszug ins Exil, sondern strzte die Hoffnung und den Glauben an die
Wirkungsmacht von Literatur im Kampf gegen den Faschismus in die Krise.56
Trotz dieses Debakels bemhte man sich im Exil um eine Revision der
literarischen Strategien und um eine Solidarisierung zwischen Kommunisten,
Sozialisten und brgerlichen Humanisten in Form einer einheitlichen Front gegen
53 Vgl. Jens, Walter: Statt einer Literaturgeschichte. Dichtung im Zwanzigsten Jahrhundert.
Dsseldorf/ Zrich 1998, S. 270 f. und Nssig, S. 665 f. 54 Erwin Piscator: Das politische Theater, zitiert nach Nssig, S. 708. 55 Auch Anna Seghers wurde fr kurze Zeit verhaftet und musste schlielich nach Frankreich
flchten: Vgl. Rotermund, Erwin: Wege durchs Zwanzigste Jahrhundert: Zeitzeugin Anna
Seghers, in: Argonautenschiff 10 (2001), S. 67-78, hier S. 70. 56 Vgl. Schmitt, S. 11.
12
den Faschismus.57 Bereits kurze Zeit nach der Emigration wurden verschiedene
Sttzpunkte im Ausland gegrndet, um die Opposition in Deutschland durch
praktische und ideologische Arbeit zu frdern.58 Noch im Jahr 1933 wurde in
Paris der von Goebbels aufgelste Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS)
auch unter mageblicher Mitarbeit von Anna Seghers neu aufgebaut.59 Der
SDS fungierte als Aktionskreis der deutschen Exilautoren in Frankreich und
arbeitete unter der Devise, die deutsche Bevlkerung ber den wahren Charakter
des NS-Staates aufzuklren und das Potential antifaschistischer
Oppositionsstrukturen zu strken.60
Angesichts der faschistischen Machtergreifung galt im Lager der Sozialisten nicht
mehr die Diktatur des Proletariats als erklrtes Ziel, sondern es wurde eine
antifaschistisch-demokratische Ordnung anvisiert, die durch den
Zusammenschluss aller Demokraten in einer Volksfront verwirklicht werden
sollte.61 In dem organisierten Zusammenschluss der vormals literarisch
entfremdeten Vertreter einer brgerlichen und einer sozialistischen
Literatursthetik artikulierte sich die gemeinsame Zielsetzung antifaschistischer
Schriftsteller, die nationale Kultur vor dem Zugriff der nazistischen Ideologie zu
bewahren.62
Fr die Vorbereitung einer deutschen Volksfront wirkte vor allem der in Paris
vom 21.- 25. Juni 1935 stattfindende I. Internationale Schriftstellerkongre zur
Verteidigung der Kultur als elementares Ereignis.63 Initiiert wurde diese
Veranstaltung von einer Gruppe franzsischer Schriftsteller, in deren Rahmen
gemeinsame Strategien zur Abwendung einer Gefhrdung der Kultur durch die
57 Vgl. Winckler, Lutz: Diese Realitt der Krisenzeit. Anna Seghers Deutschlandromane 1933-
1949, in: Anna Seghers Mainzer Weltliteratur, S. 71-91, hier S. 74 f. 58Vgl. Dieter Schiller: Anna Seghers und der BPRS im Pariser Exil (1933-34), in:
Argonautenschiff 7 (1998), S. 251- 266, hier S. 251. 59 Vgl. Batt, S. 74. 60 Vgl. ebd., S. 80 61 Vgl. Batt, S. 107 und Winckler, S. 75. 62 Vgl. Winckler, Lutz (Hrsg.): Antifaschistische Literatur Bd. I. Programme, Autoren, Werke,
Kronberg 1977, S. 6 f. 63 Vgl. Schmitt, S. 12.
13
nazistische Ideologie entworfen wurden.64An erster Stelle der Tagesordnung stand
der Themenkomplex Das kulturelle Erbe (im Original auf Franzsisch:
LHritage Culturel) in diesem Zusammenhang ging es um die Verteidigung
kultureller Traditionen und deren Stellung in einer vernderten
gesellschaftspolitischen Situation.65 Darber hinaus wurde auf dem Pariser
Kongress die Grndung der Zeitschrift Das Wort als Sprachrohr und
Diskussionsforum der antifaschistischen Intelligenz im Exil beschlossen.66
In der Phase des offensichtlichen Ausbleibens des antifaschistischen Umsturzes
und der Stabilisierung des NS-Regimes wich der Glaube an eine Kurzlebigkeit
des deutschen Faschismus zugunsten langfristiger Erwartungen in die
Regenerationsfhigkeit demokratischer Potentiale innerhalb der deutschen
Bevlkerung.67 Diese Hoffnung vieler emigrierter Schriftsteller artikulierte sich in
der Maxime des anderen Deutschlands68, die eine positive, demokratisch-
revolutionre Aufladung des von den Faschisten korrumpierten Nationalbegriffs
vermitteln sollte. Indem denjenigen Deutschen gedacht wurde, die sich im
Widerstand gegen das faschistische Regime behaupteten, versuchte man das Bild
der deutschen Bevlkerung und der deutschen Kulturtradition zumindest
ansatzweise zu rehabilitieren. Die Literatur dieser Phase wandte sich bevorzugt
der gesellschaftlichen Analyse im faschistischen Deutschland zu, um die
vernderten Voraussetzungen der Opposition auszumachen.69 Besonders der
Epiktypus des Romans schien fr eine umfassende Analyse der vielschichtigen
Wirklichkeitsvorgnge und der gesellschaftspolitischen Krisensituation
geeignet.70
64 So lautete es ganz allgemein in der Einladung zum Kongress. Vgl. Schmitt, S.12. 65 Vgl. Schmitt, S. 12 66 Vgl. ebd., S. 13 67 Vgl. Zimmer, S. 63 68 Ernst Toller prgte diesen Begriff in seinem beim Deutschen Tag` am 14.12.1936 gehaltenen
Vortrag Unser Kampf um Deutschland, zit. nach: Sachlexikon Literatur, S. 252 69 Vgl. Winckler, Lutz: Die Realitt der Krisenzeit. Anna Seghers Deutschlandromane 1933-1949,
in: Anna Seghers Mainzer Weltliteratur, S. 71-91, hier: S. 75 70 Vgl. Bock, Siegrid und Hahn, Manfred (Hrsg.): Antifaschistische Romane 1933-1945.
Berlin/Weimar 1975, S. 49
14
Neben dem historischen Roman, der durch die Darstellung politischer Konflikte
der europischen Geschichte modellhaft die Entwicklung zum deutschen
Faschismus analysierte, etablierten sich der Exilroman, als literarische
Situationsbestimmung des Exils, sowie der Deutschlandroman.71
Auf dem I. Internationalen Schriftstellerkongress entwarf Johannes R. Becher in
prgnanter Weise eine Programmatik der antifaschistischen sozialistischen
Literatur.72 Diese sollte am empfindlichsten jede Abwandlung der Wahrheit
zeigen und mit den Begriffen Wahrheit, Freiheit, Ehre, Glck, Liebe und Tod
operieren, welche als hchste menschliche Kampfwerte73eingesetzt werden
sollten. In diesem Sinne sollte eine Volksfrontliteratur auch durch ein positiv
besetztes, proletarisch- humanistisches Menschenbild charakterisiert sein, anhand
dessen eine unmittelbare Konfrontation mit dem Antihumanismus des NS-
Regimes mglich sein knne.74 Im Mittelpunkt der Konzeptionalisierung einer
nationalen antifaschistischen Dichtung stand der Gedanke einer Verteidigung der
Poesie75 und einer Darstellungsweise, die im Stande wre, den ganzen
Menschen76 zu erfassen. Analog zu der Postulierung einer nationalen
einheitlichen Dichtung der Exilschriftsteller, sprach Becher bereits 1935 von einer
zweiten Blte77 der kritisch-realistischen Literatur.
Die methodologischen Anstrengungen zur Schaffung einer Volksfrontdichtung
sind symptomatisch fr die Phase des Exils, in der trotz der tief greifenden
intellektuellen Erschtterungen, welche durch den sich stabilisierenden
Faschismus ausgelst wurden, neuer Optimismus geschpft und Resignation
berwunden wurden. Die konsensuelle Programmatik einer nationalen
antifaschistischen Literatur reflektierte die Vermittlung proletarischer und
71 Vgl. Batt ( 1980), S. 80 72 Programm des I. Internationalen Schriftstellerkongresses, zit. nach Jarmatz, Klaus: Literatur im
Exil, Berlin 1966, S. 6 ff. 73 Johannes R. Becher: Rede auf dem I. Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung
der Kultur, zit. nach ebd., S. 8 74 Vgl. ebd., S. 11 75 Vgl. ebd., S. 8 76 Johannes R. Becher: Sonett Den ganzen Menschen 1935, zit. nach ebd., S. 9 77 Johannes R. Becher: Rede auf dem I. Internationalen Schriftstellerkongess 1935, zit. nach ebd.;
S. 8
15
brgerlicher ideologischer Interessen und artikulierte sich in Form einer
konzeptionellen Gegenstands- und Formerweiterung von Literatur: Aus der
marxistischen Agitationsliteratur der zwanziger Jahre mit
Alleinvertretungsanspruch auf literarischer, gesellschaftsanalytischer und -
aktivierender Ebene, entstand, aus aktuellem geschichtspolitischem Anlass, eine
Literatur, die sich als Vertretung aller Klassen im Sinne eines gemeinsamen
Kampfes gegen den Faschismus verstanden wissen wollte.
1.4 Die Expressionismusdiskussion im Exil divergierende Anstze einer
realistisch-kritischen Literatur
Die antifaschistische Niederlage zwang zum intensiven Nachdenken ber die
Ursachen der nazistischen Revolution, ber Vergangenheit und Zukunft. Die
Orientierung auf eine nationale antifaschistische Literatur verlief daher auch
analog zu einer Revision des kulturellen Erbes, der literarischen Quellen und
Traditionen.78
Der Kurswechsel der KPD in Richtung Volksfront und die Annherung an
emigrierte Nicht-Kommunisten fhrte auch zu einer Vernderung der sthetisch-
knstlerischen Dimension von Literatur.79 Die sowjetischen Kulturpolitiker
diktierten die Anknpfung an einen klassenbergreifenden, von der brgerlichen
Tradition wesentlich bestimmten Realismus.80 In dieser Reglementierung, durch
welche ein bestimmter realistischer Stil zum allgemeingltigen Vorbild erhoben
wurde, lag wohl die grte Schwche des literaturpolitischen Kurses im Exil.
Die Forderung nach einer Darstellung des vielseitigen gesellschaftlichen
Kausalkomplexes durch die Konstruktion von Fabeln, knstlerischen Figuren und
Konfliktsituationen, wie sie Bertolt Brecht einforderte, bzw. nach einer
Widerspiegelung der gesellschaftlichen Totalitt, wie sie Georg Lukcs
verteidigte, wurde somit auch im Exil zum Ausgangspunkt methodischer
Diskussionen ber die Funktion und Gestaltungsweise des neuen Realismus.81
78 Vgl. Winckler, 1977, S. 12 79 Vgl. ebd., S. 13 80 Vgl. Frithjof Trapp: Deutsche Literatur im Exil, Bern (u.a.) 1983, S. 208 81 Vgl. Winckler, 1977, S.11
16
Die zum Ende der dreiiger Jahre ausgetragene, jedoch nicht im Sinne eines
Kompromisses zu Ende gefhrte Expressionismusdebatte, war wohl der
bedeutendste, aber auch problematischste Meinungsstreit ber den Stellenwert
realistischer Literatur im Kampf gegen den Faschismus und stellte die heterogen
zusammengesetzte Volksfrontliga auf eine harte Bewhrungsprobe.82
Zum Initial der Debatte wurde die polemische Verdammung des
expressionistischen Schriftstellers Gottfried Benn durch Klaus Mann als die
Selbstvernichtung eines Intellektuellen83, als sich Benn zum Sympathisanten des
Nationalsozialismus bekannte. Inhaltlich wurde die Expressionismusdebatte dann
durch die von Alfred Kurella - neben Becher der fhrende KPD-Kulturpolitiker -
aufgestellte These expliziert, dass die expressionistische sthetik, als inhaltleere
Zerstrung84 und literarisch konstruiertes Zerrbild der gesellschaftlichen Realitt,
die Entwicklung zum Faschismus vorbereitet htte.85 Insgesamt wurde die
Untersuchung des Expressionismus somit vor allem unmittelbar als Frage der
Zukunftsperspektive der sozialistischen Kunstentwicklung gestellt, in deren
Rahmen der Expressionismus selbst als reaktionres Negativbeispiel der
Avantgarde verabsolutiert wurde.86
Auch Georg Lukcs partizipierte mit seinem Aufsatz Es geht um den
Realismus87 an der Literaturdebatte und attestierte dem Expressionismus eine
Abstraktheit, die sich aus zumeist sehr unreifen, sehr unklaren und verworrenen
berzeugungen88 speise. In dieser Abhandlung postulierte Lukcs seine
Vorstellung einer groe[n] historische[n] Sendung der wirklichen Avantgarde in
der Literatur89, die sich dadurch auszeichnen wrde, dass sie als
Widerspiegelung ihrer unter der Oberflche verborgenen Tendenzen90 operiere.
Insgesamt profilierte sich Lukcs innerhalb der Expressionismusdebatte weiterhin
82 Vgl. Kantorowicz, S. 230 83 Klaus Mann: Gottfried Benn. Die Geschichte einer Verirrung. in: Schmitt, S. 39-49, Zitat S. 49 84 Bernhard Ziegler (Alfred Kurella): Schluwort. in: Schmitt, S. 231-258, Zitat S. 250 85 Vgl. Kantorowicz, S. 233 86 Vgl. Durzak, Manfred: Das expressionistische Drama. Mnchen 1978, S. 29 87 Georg Lukcs: Es geht um den Realismus, in: Schmitt, S. 192-230 88 ebd., S. 220 89 ebd., S. 216 90 ebd.
17
als entschiedener Vertreter eines Sozialistischen Realismus, der mit den
sthetischen Kategorien der Objektivitt und Parteilichkeit operierte. Lukcs
orientierte sich in seiner Postulierung eines groen Realismus91 an konkreten
Vertretern des brgerlichen Realismus wie Leo Tolstoi und Honor de Balzac, an
die seiner Ansicht nach eine fortschrittliche realistische Literatur anknpfen
sollte.92
Gegen die Lukcssche Auffassung, welche den realistischen Gehalt in der
Literatur im wesentlichen von starren literaturtheoretischen Gesetzmigkeiten
abhngig machte, wandte sich eine von Ernst Bloch, Johannes R. Becher, Anna
Seghers und Bertolt Brecht vertretene Auffassung realistischer Literatur, in deren
Zentrum ein unlslicher Kausalzusammenhang zwischen gesellschaftlicher
Realitt und knstlerischer Subjektivitt bestand.93 Nach der Devise Neue
Probleme tauchen auf und erfordern neue Mittel94 wurden von diesen
sozialistischen Schriftstellern Formexperimente, wie etwa die Montagetechnik
oder der innere Monolog, insgesamt also die Mglichkeit einer produktiven
Anknpfung an expressionistische Tendenzen, verteidigt.95
Die Expressionismusdebatte und in ihrem Einzugsbereich die Diskussion ber
eine den Zeitumstnden angemessene Methode realistischer Kunst, offenbarte
Leerstellen innerhalb einer Programmatik, die ihren Auftrag als Analyse
gesellschaftlicher Realitt mit den starren Kategorien einer (aus den
innersowjetischen Diskussionen resultierenden) marxistischen
Literaturkonzeption zu verbinden versuchte. Die Expressionismusdebatte stellte
weniger eine wirklich freie Diskussion, als vielmehr eine von Moskau initiierte
Auseinandersetzung ber den richtigen Kurs` innerhalb der literatursthetischen
berlegungen im Exil dar.96
Die methodischen Entwrfen Bertolt Brechts und die im weiteren Verlauf dieser
Arbeit noch nher zu erluternden Vorschlge Anna Seghers, zielten entgegen
einer Verengung produktiver literarischer Mglichkeiten auf einen 91 ebd., S. 227 92 Vgl. Georg Lukcs: Es geht um den Realismus, in: Schmitt, S. 227. 93 Vgl. Kantorowicz, S. 238 f. 94 Die Brecht-Polemik gegen Lukcs, in: Schmitt, S. 302-336, Zitat S. 333. 95 Vgl. Kantorowicz, S. 238 f. 96 Vgl. Trapp, 1983, S. 208.
18
Realismusbegriff, der das dialektische Verhltnis zwischen einer sich stndig
verndernden Wirklichkeit und dem Streben des Schriftstellers nach Beschreibung
und Beeinflussung dieser Realitt, zu fassen versuchte.
19
2. Anna Seghers Romankunst im Kontext der Konzeptionalisierung einer
antifaschistischen Literatur
2.1 Anna Seghers Beitrag zur Expressionismusdebatte Der Briefwechsel mit
Georg Lukcs
Anna Seghers Diskussionsbeitrag erschien im Jahr 1939 in Form eines
zweimaligen Briefwechsels mit Georg Lukcs in der Zeitschrift Internationale
Literatur (IL)97. Die Tatsache, dass der Briefwechsel in der IL erschien, einer
Zeitschrift, die als Organ der Moskauer IVRS (Internationale Vereinigung
revolutionrer Schriftsteller) vorwiegend Texte ber die sowjetische Kunsttheorie
publizierte, zeigt den hohen Stellenwert dieses Beitrages im Kontext der
vorangegangenen literaturtheoretischen Debatten an.98
Den Drehpunkt des Meinungsaustausches zwischen der Schriftstellerin Seghers
und dem Theoretiker Lukcs stellte die Auslegung wesentlicher Probleme einer
realistischen Kunstauffassung, konkreter die Interpretation der knstlerischen
Methode der Unmittelbarkeit dar.99 Anna Seghers berief sich auf die uerungen
Leo Tolstois ber die knstlerische Praxis, wonach der Schriftsteller auf der
ersten Stufe [] die Realitt scheinbar unbewut und unmittelbar aufnehme, um
auf der zweiten Stufe [] dieses Unbewute wieder bewusst zu machen100.
Anna Seghers deutete demnach Unmittelbarkeit als individuelles Erkennen der
Umwelt, als gleichsam psychologischen Akt, welcher das Erfahren der
Wirklichkeit ohne dessen vorangegangene Deutung durch die Kategorien des
politischen Bewusstseins ermglichen sollte. Gerade in diesem Punkt stie sie bei
97Der Text erschien zuerst in: Internationale Literatur 5. Moskau 1939, S. 97-121, seitdem in
mehreren Verffentlichungen, u a. in: Hans-Jrgen Schmitt (a.a.O.), S. 264-301. Nach dieser
Vorlage wird zitiert. 98Vgl. Trapp, Frithjof: Anna Seghers Kritik an Georg Lukcs und an der Internationalen
Literatur, in: Anna Seghers Mainzer Weltliteratur. Beitrge aus Anlass des 80. Geburtstags.
Mainz 1980, S. 125-145, hier: S. 131. 99 Vgl. Ills, Lszl: Der Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukcs 1938-1939, in:
Anna Seghers im Rckblick auf das 20. Jahrhundert. Texte zur Literatur Heft 9 (2001), S. 101-
113, hier S. 104. 100 Brief von Anna Seghers an Georg Lukcs vom 28. Juni 1938, in: Schmitt, S. 266.
20
Lukcs auf Gegenwehr, der die Leistung des Schriftstellers in der berwindung
der Unmittelbarkeit und in dem Entdecken der verborgenen Ursachen, die []
Erlebnisse objektiv hervorbringen101 sah.102 Auch die Konsequenz, auf die
Lukcs berlegungen hinsteuern, nmlich die Einsichtgewinnung des
Schriftstellers in den Komplex der gesellschaftlichen Totalitt, wurde von Anna
Seghers in Frage gestellt: Je bewuter nmlich der Mensch lebt, je klarer seine
Einsicht ist in gesellschaftliche Zusammenhnge sind, desto schwerer kommt ihm
im allgemeinen das vor, was Tolstoi nennt: wieder unbewut machen103.
Gerade im Hinblick auf die aktuelle Realitt der Krisenzeit, der Kriege, usw.
bezweifelte Seghers die Mglichkeit einer totalen Erfassung der Wirklichkeit und
verteidigte die schriftstellerische Methode des Expressionismus: Uns waren aber
Splitterchen, die irgendeinen Bruchteil unsrer Welt aufrichtig spiegelten, lieber
als alle Scheinspiegel104 . Anna Seghers verstand in diesem Sinne eine
realistische Schreibweise als die Richtung auf die der jeweiligen Zeit
erreichbarste hchstmgliche Realitt105. Ihr Vorschlag einer realistischen
Literatur schloss fr sie auch die Mglichkeit von Formexperimenten ein,
entscheidend war fr Anna Seghers nur, inwieweit durch die Darstellungsweise
die Botschaft des literarischen Werkes verdeutlicht, also die pdagogische
Wirkung von Literatur, verstrkt werden konnte.106
Es wird insgesamt deutlich, dass sich Anna Seghers, wie bereits Brecht in seiner
Lukcs-Polemik, gegen eine Verabsolutierung methodischer Reglements bei der
Konzeption einer antifaschistischen Literatur aussprach: Da frchte ich, da eine
Verengung eintritt und ein Verlust an Flle und Farbigkeit in unsrer Literatur.
Ich frchte, da man vor eine Alternative gestellt wird, wo es gar nicht um ein
Entweder-Oder geht, sondern um eine starke vielfltige antifaschistische
Kunst[]107. Anna Seghers selbstbewusste Stellungnahme zeugt von ihrem
Engagement als Schriftstellerin, sich fr eine zeitgeme und knstlerisch
101Georg Lukcs: Grenzen des Realismus ? (1939), zit. nach: Ills, S. 106. 102 Vgl. Brief von Georg Lukcs an Anna Seghers vom 28. Juli 1938, in: Schmitt (a.a.O.), S. 276. 103 Brief von Anna Seghers an Georg Lukcs vom 28. Juni 1938, in: ebd., S. 267. 104 Brief von Anna Seghers an Georg Lukcs vom 2. Mrz 1939, in: ebd., S. 288. 105 Brief von Anna Seghers an Georg Lukcs vom 2. Mrz 1939, in: ebd., S. 284. 106 Vgl. ebd. 107 ebd., S. 290.
21
vielfltige Darstellungsweise einzusetzen und diese gegen eine scholastische
Verengung zu profilieren. Bewusst lehnte sie eine abstrakte, distanzierende
Veranschaulichung der Wirklichkeit durch Literatur ab, die der Aktualitt der
Gegenwart potentiell nicht gerecht werden knne: Sie (gemeint sind die
Vertreter einer dogmatischen Realismusauffassung, I.K.) hatten es fertiggebracht,
die Welt ganz zu entzaubern. [] Sie schilderten eine unerlebbare Welt, die auch
fr den Leser unnachlebbar wurde.108 Der Meinungsaustausch mit Georg Lukcs
akzentuiert in dieser Weise auch wesentliche Aspekte der Seghersschen
Erzhlkunst, besonders in Bezug auf ihr Postulat einer sthetischen
Darstellungsweise der auerliterarischen Wirklichkeit, das im Folgenden nher
untersucht werden soll.
2.2 Anna Seghers poetologisches Credo: verzaubern` und erhellen`
Die Vermittlung von politischer Weltanschauung und knstlerischer Ttigkeit der
berzeugten Kommunistin Anna Seghers109, manifestierte sich in ihrer
Motivation, beschreibend zu verndern110. Auch sie betrachtete demnach ihren
knstlerisch-literarischen Auftrag in der Aktivierung der Leser zum Umdenken`.
Dennoch unterschied sich ihre Kunstprogrammatik von der starren Dogmatik
eines Georg Lukcs durch eine konsequente einzigartige, eigentmliche,
gesellschaftliche Verknpfung von subjektiven und objektiven Faktoren111,
welche die Mglichkeit einer unmittelbaren Identifizierung des Lesers mit einem
modellhaft gestalteten Romangeschehen bereithielt. Der Primat der unmittelbaren,
unbewussten und damit gefhlsmigen Wahrnehmung der Wirklichkeit stellte
fr Anna Seghers die Grundbedingung einer Literatur dar, welche ein
nachvollziehbares Bild der Wirklichkeit entwerfen und dem Leser ihre
Vorstellung der >dignit humaine
22
Spontaneittsprinzip verpflichtete Auftrag der Literatur entspricht eine dem
Seghersschen Erzhlprinzip immanente Darstellungsweise, die realistische und
modernistische Darstellungsweisen miteinander verknpft und ein Nebeneinander
von Fiktion und Authentizitt in der Literatur als legitim anerkennt.114 In diesem
Zusammenhang urteilte sie auch noch spter ber das Verhltnis von Phantasie-
und Recherchearbeit: Phantasie, Erfindung gehren unbedingt zum Schreiben.
Aber wichtig sind auch konkrete Erfahrungen115. In der Synthese realistischer
und fiktiver Schreibtendenzen versuchte Anna Seghers eine sthetische Strategie
gegen die von ihr befrchtete Entzauberung der Welt zu etablieren. Ihr Entwurf
einer realistischen Literatur sollte gleichermaen Erkenntnis frdern und dazu
beitragen, den Leser an den Grund des Herzens zu rhren116. Die Verwandlung
eines Zeitereignisses in Dichtung, die Transformierung von realen
gesellschaftlichen Krisenprozessen in eine zeitlose und universell zu verstehende
poetische Botschaft, versuchte Anna Seghers mit ihrer knstlerischen
Programmatik Erzhlen, was mich heute erregt und die Farbigkeit von
Mrchen[]117 zu realisieren. Doch anders als die Schriftstellerin mit ihrer
Aussage []Das htte ich am liebsten vereint und wusste nicht wie118
vermuten lsst, scheint ihr diese Synthese gelungen. Wie im weiteren Verlauf
dieser Arbeit noch zu beweisen ist, ist dieses Konzept dem Roman Das siebte
Kreuz in vielen episodischen und motivischen Details bereits immanent.
Neben dem konkreten Schreibverhalten Anna Seghers, sollen im Folgenden noch
ihre publizistischen Projekte der Vaterlandsliebe und des gewhnlichen
113 Vgl. Haas, Erika: Urbilder und Wirklichkeitstrume. Zur paradigmatischen Funktion des
Mythos bei Anna Seghers, in: Roos/Hassauer-Roos (Hrsg.): Anna Seghers Materialenbuch,
Darmstadt/Neuwied 1977, S.51-60, hier S. 55. 114 Bereits Walter Benjamin wies in seiner Rezeption der Rettung auf dieses Phnomen hin. Vgl.
Wilhelm Krull: Schne Mrchen fr Erwachsene. Zum erzhlerischen Sptwerk von Anna
Seghers. in: Text und Kritik 38, S. 96-110, hier: S. 97 f. 115 Peter Roos: Gesprch mit Anna Seghers. in: Anna Seghers Materialienbuch (a.a.O.), S. 152-
159, Zitat: S. 156. 116 Zitiert nach dem Motto der Schnsten Sagen vom Ruber Woynok. in: Anna Seghers: ber
Kunstwerk und Wirklichkeit (a.a.O), Bd. 2, S. 16. 117 Anna Seghers: Glauben an Irdisches. Essays aus vier Jahrzehnten. Aus dem Nachwort von
Christa Wolf. Leipzig 1969, S. 372. 118 ebd.
23
Lebens erwhnt werden, die whrend ihrer Arbeit am Roman Das siebte Kreuz
entstanden. In diesen programmatischen uerungen der Schriftstellerin
artikuliert sich nicht nur ihre subjektive Diagnose der damaligen Zeit. Konzipiert
als sthetikstrategie im Umgang mit dem Faschismus, integrierte Seghers ihre
Dialektikentwrfe auch als kompositorische Leitmotive in den Roman Das siebte
Kreuz.
2.3 Anna Seghers Deutschlandbild: Vaterlandsliebe
Als Anna Seghers mit der Arbeit an ihrem Roman Das siebte Kreuz begann,
befand sie sich bereits im franzsischen Exil.119 Die Vernderungen in der
politischen Sphre, die Erstarkung der nationalsozialistischen Herrschaftsform in
Deutschland und die daraus resultierende Schmlerung des Deutschlandbildes in
der auslndischen ffentlichkeit, veranlassten Anna Seghers, ihre Position zu
konkretisieren.
Angesichts des ideologischen Missbrauchs von Begriffen wie Heimat, Nation und
Vaterlandsliebe durch die nationalsozialistischen Demagogen, entwickelte Anna
Seghers einen Nationalbegriff, der sich nicht politisch verstand, sondern eine
Wesenhaftigkeit des gesellschaftlichen Bewusstseins ausdrcken sollte.120 An
zwei Texten, die in der Emigrationszeit entstanden, wird dieser sozial und
historisch verstandene Begriff von Heimat besonders deutlich: Auf dem I.
Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur im Jahr 1935,
beschftigte sich Anna Seghers in ihrer Rede mit dem programmatischen Titel
Vaterlandsliebe 121 mit der Wechselwirkung von Sozialem und Nationalem. In
dieser Rede gab sie zu bedenken, dass die Bedeutung des Nationalen, trotz der
negativen Ideologisierung durch die Faschisten, nicht ignoriert werden darf, denn
119Aufgrund der sprlichen und oft widersprchlichen Informationen der Autorin zur
Entstehungszeit des Romans, sind keine genauen Daten bekannt. Wahrscheinlich begann Seghers
ab 1937 mit der Arbeit am Siebten Kreuz (vgl. Hilzinger, 2000, S.176; Stephan, S. 22 und siehe
Brief an Iwan Anissimow vom 23. September 1938 (a.a.O.)). 120 Vgl. Zehl-Romero, S. 66. 121 Anna Seghers: Vaterlandsliebe. Erstverffentlicht in: Neue deutsche Bltter H.6 (1934/35). In
dieser Arbeit wird zitiert aus: Anna Seghers: Aufstze, Ansprachen, Essays, 2. Auflage, Berlin/
Weimar 1984, S. 33-37.
24
Auf jeden Irrtum in der Einschtzung der nationalen Frage reagieren die
Massen unerbittlich122. Dieser Gedankengang lsst sich als Pldoyer an die
Autoren in den eigenen Reihen deuten, den Nationalsozialisten nicht die
Vaterlandsliebe zur Manipulation zu berlassen. Nur durch eine
antifaschistische Rekonstruktion der Bedeutung von Heimat und Nation knne
wieder das alte Pathos wirklicher nationaler Freiheitsdichter aufs neue gltig
werden123. Dieses Heimatgefhl regeneriere sich tglich und mintlich aus dem
Sein heraus124 also aus den Gemeinsamkeiten alltglicher Lebensbezge, der
kulturellen Identitt, der gemeinsamen Sprache und Geschichte.
Es wird deutlich, dass Anna Seghers Vaterlandsliebe ihren Geltungsanspruch
nicht aus der Faktizitt der politischen Realitt bezieht, sondern dass dieses
Heimatverstndnis im sozialen Raum des alltglichen Lebens, in der grandiosen
hllische(n), schwefelgelbe(n) Leuna-Fabriklandschaft125 verwurzelt ist126.
Auch spter, im Jahr 1941, als sich die Schriftstellerin bereits im mexikanischen
Exil befand, griff sie einige der bereits in der Pariser Rede ausgesprochenen
Gedanken wieder auf, und verarbeitete sie in ihrem Aufsatz Deutschland und
wir127. Im Rahmen dieser Niederschrift mahnte sie auch 1941: Deutschland ist
unser Land [] berlassen wir nicht dem Feind, dem Faschismus, die
Darstellung, die Auslegung unserer Geschichte.128 Dementsprechend liege es
nach Seghers Ansicht n der Verantwortung der Exilschriftsteller, von diesem
deutschen Volk zu erzhlen und Begriffe wie Heimat, Nation und Volk wieder
positiv aufzuwerten. Denn, so fragte Anna Seghers, Was hat unsere Freiheit fr
einen Sinn, wenn wir nicht immer wieder die Namenlosen nennen, wir, die wir 122 ebd., S. 34. 123 ebd., S. 37. 124 ebd. 125 ebd., S. 35. 126 In einer spteren Publikation konkretisierte Anna Seghers noch einmal diese Vorstellung: Eine
antifaschistische Literatur solle den Begriff des Volkes [] als eine gesellschaftlich werdende
Einheit darstellen, die auf dem gleichen Territorium gewachsen ist durch gemeinsame Arbeit,
Kultur und Geschichte Siehe: Anna Seghers: Aufgaben der Kunst (1944), in: Aufstze,
Ansprachen, Essays (a.a.O.), S. 172. 127 Anna Seghers: Deutschland und wir. Erstverffentlicht in: Freies Deutschland H.1 (1941/42).
Hier aus: Anna Seghers. Aufstze, Ansprachen, Essays (a.a.O.). S. 89-97. 128 ebd., S. 94.
25
reden und schreiben knnen129. Anna Seghers erblickte in der Verantwortung fr
die deutsche Nation einen humanen Zweck und profilierte sich im Exil somit als
entschiedene Vertreterin eines anderen Deutschlands.
Ihre Reflexionen ber einen sozial und historisch fundierten Heimatbegriff
spiegeln sich dann auch im Siebten Kreuz als Ein Roman aus Hitlerdeutschland
wider. Es ist der unerschtterliche Motivkreis der Heimat, der im Faschismus
fortlebt und immun ist gegen die nationalsozialistische Inhumanitt der
Gegenwart.130 Ein ber Sprache und Landschaftsbilder transportiertes
Deutschlandbild und die Fokussierung auf die lndliche und kleinstdtische Welt
im Siebten Kreuz, ist in diesem Sinne nicht nur Ausdruck der Verbundenheit der
Schriftstellerin mit ihrer hessischen Heimat131, sondern zielt auf die Vermittlung
einer Vaterlandsliebe, wie sie in Aufstzen und Reden der Anna Seghers
beschworen wurde.
2.4 Die Dialektik vom gewhnlichen und gefhrlichen Leben
Eine gleichsam bedeutsame Rolle wie die Verbundenheit zur Heimat spielte fr
Anna Seghers das Eingebundensein in den Kampf fr eine gerechte Welt und
gegen den Faschismus.132 Fr die Autorin, die sich seit 1928 in der KPD politisch
engagierte und Mitglied im Bund proletarisch-revolutionrer Schriftsteller
(BPRS) war,133 gestaltete sich die Zeit des Exils als eine Zeit der permanenten
Gefhrdung, in welcher viele ihrer Freunde und Weggefhrten den Kampf gegen
den Faschismus mit ihrem Leben bezahlen mussten.134 Tief beeindruckt von den
129 ebd. 130 Vgl. Spies, Bernhard: Anna Seghers: Lektre jenseits von Denunziation und Legitimation, in:
Argonautenschiff 2 (1993), S. 101-112, hier S. 109. 131 Anna Seghers, damals noch mit brgerlichem Namen Netti Reiling, wuchs in Mainz auf. (Vgl.
u.a. Batt, S. 14 ). 132 Vgl. Hilzinger (2004), S. 27. 133 Vgl. Rotermund, Erwin: Wege durchs Zwanzigste Jahrhundert. Zeitzeugin Anna Seghers, in:
Argonautenschiff 10 (2001), S. 67-78, hier S. 69f. 134 Vgl. Hilzinger (2004), S. 27f.
26
Auswirkungen des Nazi-Terrors, schaffte sie in ihren literarischen Werken
Gedenken und Gedchtnis an internierte und ermordete Antifaschisten.135
Anna Seghers Roman Das siebte Kreuz stellt ebenfalls eine Hommage an die
antifaschistischen Widerstandskmpfer dar.136 Der Roman ist nicht nur explizit
den toten und lebenden Antifaschisten gewidmet, sondern verewigt durch die
Darstellung der gelungenen Flucht, die unterschiedlich motivierte
Hilfsbereitschaft verschiedener Personentypen.
Im Roman Das siebte Kreuz wird der scheinbaren bermacht des
nationalsozialistischen Terrors die gelungene Fluchtgeschichte des Protagonisten
Georg Heisler gegenbergestellt. In diesem Antagonismus der zwei Motive -
Rettung des Flchtlings und Terror durch die nationalsozialistischen Machthalter
- spiegelt sich Anna Seghers` Dialektikentwurf des gewhnlichen und
gefhrlichen Lebens wider. So forderte sie im Juli 1938, also whrend ihrer
Arbeit am Roman, auf einem Friedenskongress: Einer Jugend, die der
Faschismus daran gewhnt hat, vom gefhrlichen` Leben zu trumen, mssen
wir eine von Grund auf andre Konzeption des Lebens bieten []137. Der
Kontrapunkt zu diesem gefhrlichen Leben stellte sich fr Anna Seghers durch
die Verankerung im alltglichen Leben dar, denn gerade das gewhnliche Leben
umfasst groe, einfache menschliche Beziehungen, uralte und ganz neue, Liebe
und Freundschaft, das Verhltnis von Eltern und Kindern, von Jngeren zu
lteren [], fr jeden von uns selbstverstndlich, weil auf ihnen das Leben der
Vlker sich grndet138. Als eine der zentralen Kategorien fungiert das
gewhnliche Leben auch innerhalb der Konstituierung des Romanpersonals und
des Motivkomplexes im Roman Das siebte Kreuz: Dem Ereignis der Flucht in
seiner Auergewhnlichkeit wird der unvernderliche Fortbestand des
alltglichen Lebens entgegengestellt.139
135 So erinnert sie in Aufstzen und Reden an den ermordeten KP-Fhrer ernst Thlmann oder den
in Spanien gefallenen Hans Beimler, Vgl. Hilzinger (2004), S. 28. 136 Vgl. Zimmer, S. 14. 137 Anna Seghers: Zum Kongre 1938, in: dies.: ber Kunstwerk und Wirklichkeit,Bd.1, S. 68. 138 Anna Seghers: Vorwort zu Die Rettung, zitiert nach Stephan, S.63. 139 Vgl. Sauer, S. 108.
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Auerhalb des Fluchtgeschehens zeigt der Roman Menschen bei ihren
alltglichen Beschftigungen, bei der Apfelernte, der Arbeit in der Fabrik,
innerhalb der Familie oder in ihrer Freizeit.
Ein eindringliches Bild des Alltags der einfachen` Menschen wird auch durch die
Verwendung regional gefrbter sprachlicher Wendungen gezeichnet. Syntaktische
Wendungen wie Ui, ui! () Der Nebel ist auf! Guck!140, Bei mir ist Lachen
und Weinen in einem Tpfchen[142] oder Wir sind doch keine
Suddelzuber[228] veranschaulichen die Mundart der Bevlkerung in der Rhein-
Main-Region. Der mehrfache Gebrauch von Diminuitivformen wie
Hechtschwnzchen, Holzkltzchen, Pfeffernchen, Hakenkreuzelchen
und Hitlerreichlein erinnern nicht nur an die Sprechweise im Volksmrchen141,
sondern bilden einen linguistischen Kontrapunkt zur der einschchternden und
sachlichen Sprache der nationalsozialistischen Machtinhaber.142
Das gewhnliche Leben wird auch in der sinnlichen Beschreibung der Natur und
Landschaft veranschaulicht. So findet Georg Heisler whrend seiner
lebensbedrohlichen Flucht, beim Anblick der harmonischen und bestndigen
Natur, zu kurzen Momenten der Ruhe: Goldnes khles Herbstlicht lag ber dem
Land, das man htte friedlich nennen knnen[24]. An einer anderen Stelle des
Romans, stirbt der lteste der sieben Flchtlinge, Aldinger, nach den
Anstrengungen der Flucht beim Anblick seines Heimatdorfes einen friedlichen
Tod.143
Einen besonderen Status nimmt das Romanpersonal ein, das auerhalb des
Fluchtgeschehens agiert: Die Gehfte der Mangolds und Marnets bestehen
unbehelligt von den politischen und historischen Umwlzungen und bilden durch
die Idylle des einfachen Lebens gleichsam eine Gegenwelt zur Realitt des
Faschismus.144 In diesem sozialen Raum scheinen das Apfelerntefest und die
140 Das siebte Kreuz, S. 35. Im Folgenden werden Seitenzahlen im Roman in eckigen Klammern
angegeben. 141 Vgl. Stephan, S. 66. 142 Das siebte Kreuz, (u.a.) S. 93 Der Tapeziermeister Mettenheimer wird bei der Gestapo verhrt:
Jetzt hren Sie einmal genau zu, Herr Mettenheimer () Wir mchten Sie warnen in Ihrem
Interesse []. 143 Vgl. ebd., S. 288. 144 Vgl. Zimmer, S.52.
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sonntgliche familire Zusammenkunft fundamentaler zu sein als die
tagespolitische Wirklichkeit. So sitzt zum Apfelerntefest bei den Marnets auch
ein ganzes Volk[391] am Tisch sowohl das Ernstchen und das Gustavchen
als auch diese beiden in SA-Uniform[391]. Politische Gesinnungen spielen in
diesem sozialen Raum keine Rolle, denn so heit es dann auch ganz unpolemisch:
Apfelkuchen bleibt Apfelkuchen[391].
In sinnbildlicher Weise steht auch der Schfer Ernst durch seine berlegenen
Ruhe und Naturverbundenheit fr die Bestndigkeit des einfachen Lebens: um
seinen Mund zuckt ein Lcheln von berlegenem Spott, das Gott und der Welt zu
gelten scheint[59]. So wirkt es auch, als wrde Ernst die Realitt des
gefhrlichen Lebens, die politische Wirklichkeit, nicht angetastet zu haben,
wenn er spttisch auf den Hitlergru eines Bekannten mit Heil du ihn![59]
antwortet.
Das gewhnliche Leben wird im Roman jedoch nicht nur durch die
Beschreibung der Natur, der einfachen Menschen sowie durch die Verwendung
der Sprache veranschaulicht. Der auffllig hufige Gebrauch der Wendung
gewhnliches Leben[94] und deren Variationen wie gewhnliche Krfte der
Erde[8], gewhnlicher Mensch[305], gewhnlicher Tag[28] zeugen von der
Bedeutsamkeit dieses Paradigmas.
Die bewahrende Kraft des gewhnlichen Lebens speist sich aus der Integritt der
Institution Familie, der Natur und aus dem Heimat- und Zugehrigkeitsgefhl der
Menschen also aus denjenigen Sphren, in die die Naziideologie und deren
verfremdende Werte` noch nicht einzudringen vermochten. Der Motivkreis des
gewhnlichen Lebens entfaltet den Status einer Unanfechtbarkeit, eines
gleichermaen eisernen Bestandes[91], der mitten im faschistischen
Deutschland fortlebt.145
145 Vgl. Spies: Anna Seghers. Lektre jenseits von Denunziation und Legitimation (a.a.O.), S.
109.
29
3. Authentizitt und Symbolismus im Roman Das siebte Kreuz
3.1 Die Sache mit dem Kreuz Dokument und Fiktion innerhalb der
Materialgrundlage
Die Problematik, mit der sich die exilierten Schriftsteller und somit auch eine
Anna Seghers konfrontiert sahen, war der Versuch, eine Wirklichkeit darzustellen,
die sie nicht mehr aus eigener Anschauung kannten. Aus der Distanz des Exils
gestaltete sich die Suche nach verlsslichen Informationen ber den Alltag in
Nazideutschland als uerst schwierig.146
Wie anhand der vorangegangenen Analyse des Seghersschen Schreibverhaltens
deutlich werden konnte, war es der Schriftstellerin fr eine glaubhafte
Vermittlung ihrer literarischen Botschaft unerlsslich, anhand von
Kenntnisse[n]147 auch authentische Bezge in ihr Werk einflieen zu lassen. So
konnte von der Forschung belegt werden, dass sich Anna Seghers im Pariser Exil
akribisch um die Sammlung von Informationen - durch Befragung von
Zeitzeugen, ehemaligen Inhaftierten aus dem Widerstand oder
Vertrauenspersonen aus ihrer Heimat - bemhte.148 Als hilfreiches
Quellenmaterial dienten ihr die publizistischen Arbeiten Hans Beimlers
(Mrderlager Dachau, 1933) und Gerhart Segers (Oranienburg, 1934), die
genauso wie das 1933 verffentlichte Braunbuch ber Reichstagsbrand und
Hitlerterror, Bericht ber Politik und Alltag in Nazideutschland erstatteten.149
Ein konkretes zeitpolitisches Erlebnis, das besonders schockhaft auf Anna
Seghers und ihre Mitexilanten gewirkt hat150, verarbeitete die Schriftstellerin
durch Hinweise im Siebten Kreuz, welche die Romanhandlung konkret datieren:
Als Seghers mit ihrer Arbeit am Roman begann, entbrannte 1937 der Brgerkrieg
zwischen den Vertretern der Zweiten Spanischen Republik und den Franco-
Putschisten, an dem sich auch deutsche Antifaschisten wie Ludwig Renn, Hans
146 Vgl. Stephan, S. 13. 147 Anna Seghers: Und jetzt mu man arbeiten, in: Aufstze, Ansprachen, Essays (a.a.O.), S. 68. 148 Vgl. ebd., S. 11 ff.; Zehl-Romero, S. 67 sowie Hilzinger, 2004, S. 36ff. 149 Vgl. Zehl-Romero, S. 67 und Stephan, S. 19. 150 Vgl. Hilzinger, 2004, S. 35.
30
Beimler und Willi Bredel beteiligten.151 Auch die Flucht Georg Heislers fllt in
jene Oktoberwoche, da in Spanien um Teruel gekmpft wurde[219].
Und auch der Einfall mit dem Kreuzmotiv geht nach Seghers eigenen Angaben
auf einen authentischen Fall zurck: Man hat mir oft erzhlt von den
Vorkommnissen in Konzentrationslagern. [], ich war oft im Schweizer Teil des
Rheingebietes, und ich habe viele Flchtlinge gesprochen, und irgendjemand hat
mir diese sonderbare Gegebenheit ich sage sonderbar und schrecklich zugleich
[] berichtet, nmlich die Sache mit dem Kreuz, an das ein Hftling gebunden
wird, den man wieder gefunden hat152. Es demnach durchaus vorstellbar, dass
die Autorin des Siebten Kreuzes den Bericht eines ehemaligen Hftlings ber
dieses Ereignis als Grundlage nahm, um es in ihrem Roman zu verarbeiten. Da sie
den Namen Westhofen fr das Konzentrationslager whlte, aus dem die sieben
Inhaftierten in ihrem Roman ausbrechen, liegt die Vermutung nahe, dass Anna
Seghers damit auf das authentische KZ Osthofen hinweisen wollte, das im April
1933 im Regierungsbezirk Hessen errichtet wurde.153
Neben konkreten Informationsmaterial aus Deutschland baute Seghers auf
Erinnerungen an ihre Mainzer Heimat, sowie auf die Kraft ihrer Empathie, die es
ihr gestattete, sich gut vorzustellen, wie die [] Menschen aus meiner
Heimatstadt [] in einer gewissen Situation leben, wie sie unter gewissen
Bedingungen reagieren wrden154.
Zudem inspirierte sie der Eindruck eines Leseerlebnisses, ihren Roman Das siebte
Kreuz, in struktureller Affinitt zu diesem Vorbild zu konzipieren: Alessandro
Manzonis Roman Die Verlobten hat thematisch [] auf dieses
eingewirkt. [] Es wird nmlich in diesem Roman an einem Ereignis die ganze
Struktur eines Volkes aufgerollt, und da hab` ich mir gedacht, diese Flucht ist das
Ereignis, an dem ich die Struktur des Volkes aufrollen kann155.
151 Vgl. ebd. 152 Grinus, Wilhelm: Gesprch mit Anna Seghers, 1967, in: Anna Seghers: ber Kunstwerk und
Wirklichkeit, Bd. 3, S. 34 153 Vgl. Stephan, S. 149-207 und Arenz-Morch: Das KZ Osthofen im Spiegel neuerer Forschung,
in: Argonautenschiff 2 (1993), S. 174-194. 154 Anna Seghers: ber Kunstwerk und Wirklichkeit, Bd. 4, S. 200. 155 Grinus: Gesprch mit Anna Seghers (a.a.O.).
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Es wird insgesamt deutlich, dass sich Anna Seghers trotz ihres investigativen
Engagements - nicht nur auf den Gehalt von Dokumenten verlassen wollte, um
ihren Romans glaubhaft und zugnglich zu gestalten. ber eine operative
Funktion von Literatur, d.h. in diesem Fall durch die Verwendung der epischen
Grundstruktur einer Fabel156, konzipierte Anna Seghers ein fiktionales Ereignis,
das sie als reprsentativ verstanden wissen wollte.
3.2. Die Flucht als Strukturmittel Das siebte Kreuz als Gesellschaftsanalyse ?
Jetzt sind wir hier. Was jetzt geschieht, geschieht uns[13] - Mit diesen
kollektivierenden Worten fhrt der Erzhler in die spannende Fluchtgeschichte
des Georg Heisler ein, der ber die Stationen seines Entkommens aus dem KZ
Westhofen auf unterschiedliche Menschen im zeitgenssischen Nazideutschland
trifft. So abenteuerlich und spektakulr die Schilderung der Flucht gestaltet ist -
Anna Seghers hatte bereits mit ihrer Zielstellung, die Struktur des
Volkes157aufzurollen, darauf hingewiesen das Fluchtmotiv ist weniger Inhalt
und fungiert vielmehr als Gestaltungsmittel des Romans.158 Geschickt lenkt Anna
Seghers den Leser von Anfang an in die beabsichtigte Richtung: Innerhalb der
einleitenden Rahmenhandlung suggeriert der auktoriale Erzhler eine zeitliche
Distanz zur Fluchtgeschichte und nimmt bereits zu Beginn des Romans das Ende
vorweg, so dass die Aufmerksamkeit des Lesers auf das zentrale Motiv der
Handlung gelenkt wird nmlich die Reaktion jener Menschen, die mit der Flucht
in Berhrung kommen.159 Durch den Einsatz erzhlerischer Mittel wie Bericht,
Rckblende, innerer Monolog und Simultanitt der Handlungsstrnge, wird
darber hinaus ein uerst komplexes Romangeschehen entfaltet, in dessen
Verlauf unterschiedliche Personentypen vorgestellt werden, die durch
differenzierte psychologische Profile authentische Zge annehmen.160
156 Anna Seghers: Brief an Iwan Anissimow vom 23. September 1938 (a.a.O). 157 Wilhelm Grinus: Gesprch mit Anna Seghers (a.a.O.). 158 Vgl. F.-J. Roos und P. Roos: Die Flucht als Angriff. Zur Gestaltung des Personals in Das siebte
Kreuz. in: Anna Seghers Materialenbuch (a.a.O.), S. 88-101, hier: S. 89. 159 Vgl. Stephan, S. 35. 160 Vgl. ebd.
32
Das Spektrum des Romanpersonals, auf das Georg Heisler whrend seiner Flucht
trifft, ist vielfltig und verweist in seiner heterogenen Struktur auf den
Volksfrontgedanken.161 Es sind Angehrige verschiedener sozialer Schichten wie
der jdische Arzt Lwenstein, der Georg trotz Bedenken Erste Hilfe leistet,
Parteilose wie Georgs Jugendfreund Paul Rder, sowie Sozialdemokraten und
Kommunisten wie Franz Marnet und die Eheleute Fiedler.
Obwohl der Eindruck einer breit gefcherten Analyse der deutschen Bevlkerung
durch die Vielfltigkeit der Figurenkomposition durchaus gerechtfertigt ist, fllt
bei der Lektre auf, dass der Fokus im Siebten Kreuz nicht so sehr auf die
Verfolger und Machteliten gerichtet ist, als vielmehr denjenigen Personentypen
analytische Aufmerksamkeit geschenkt wird, die im einfachen`, gewhnlichen
Leben verwurzelt sind und die Sicherheit dieser Existenz fr Georgs Rettung
riskieren.162 Zwar wird durch die Charakterisierung des Lagerkommandanten
Fahrenberg als Narr [] mit furchtbaren, unvorhersehbaren Fllen von
Grausamkeit[7] und seiner Gefolgsmannschaft eine treffende Typisierung des
faschistischen Fhrungspersonals und der Lagerwelt des KZ prsentiert, doch zielt
der Roman offensichtlich auf eine Nachzeichnung lokaler Milieubilder des
Mittelstands und der Welt des alltglichen Lebens. Hier erscheint wieder die von
Anna Seghers beschworene Sehnsucht nach einem gewhnlichen Leben,
welche die Personen im Roman verbindet, die sich angesichts der Flucht Georg
Heislers, ihres damaligen Freundes, Schwiegersohnes bzw. Ehemannes, einer
Prfung unterzogen sehen.163 Denn die Entscheidung, ob sie Georg aktiv oder
durch Nicht-Verraten helfen, mssen sie selbst treffen und die Konsequenzen
nmlich den vermeintlichen Verlust des gewhnlichen Lebens selbst tragen.
Dementsprechend stellt sich die Wahl zwischen Fluchthilfe, Passivbleiben oder
Verrat als existenzielle Gewissensfrage, die bei manchen Figuren eine ganz
unerwartete Beantwortung erfhrt. So verweigert ihm Leni, Georgs ehemalige
Geliebte, an die er whrend seiner Flucht zuerst dachte, die Hilfe, whrend die
von ihm mit gemeinsamen Kind sitzen gelassene Elli fhlt, da sie ihm helfen
msse, komme, was da wolle [][177]. Auch Georgs ehemaliger
161 Vgl. Winckler, 1981, S. 11. 162 Vgl. Stephan, S. 35. 163 Vgl. Hilzinger, 2004, S. 59.
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Schwiegervater, der Tapeziermeister Alfons Mettenheimer, ist zwar auf seinen
unzuverlssigen Ex-Schwiegersohn alles andere als gut zu sprechen, entdeckt
jedoch whrend des Verhrs bei der Gestapo ein zuvor nicht gekanntes Gefhl der
inneren Strke: In diesem Augenblick wute Mettenheimer, da er doch noch
etwas bei sich hatte, das Letzte fr den uersten Fall, seinen eisernen
Bestand[91]. Der in der Hitlerjugend organisierte Grtnerlehrling Fritz Helwig,
dem Georg auf der Flucht seine wertvolle Jacke gestohlen hatte, entscheidet sich
bei der Polizei gegen eine Identifizierung des wieder gefundenen Diebesguts und
setzt die Gestapo damit auf eine falsche Fhrte.164 Zwei junge Burschen, die in
einer Gaststtte den flchtigen Heisler wieder erkennen, entscheiden sich trotz der
Verheiung auf eine hohe Belohnung gegen eine Anzeige bei der Polizei und
knnen sich so vergewissern, da sie beide die alten geblieben waren[215].
Es sind die Wandlungsprozesse und Entwicklungstendenzen der Menschen aus
einfachen Verhltnissen, die, durch die Konfrontation mit der Fluchtsituation, im
Roman analysiert werden.165 Gleichgltigkeit und Entfremdung werden von
scheinbar unpolitischen gewhnlichen` Menschen aufgebrochen, die sich ihrer
solidarischen Verpflichtung (wieder) bewusst werden. So versucht Franz Marnet,
dem Georg damals seine Freundin Elli ausspannte, sich ungeachtet seiner
wirtschaftlichen Sicherheit und der schlechten Erfahrung mit Georg, bei der
Rettung zu beteiligen. Nachdem Franz nach Hitlers Machtantritt der Boden []
hei[70] wurde und er ein anderer geworden war[19], der sich aus der
politischen Aktivitt zurckgezogen hatte, besinnt er sich wieder seinem
moralischem Bewusstsein, als er von Georgs Ausbruch aus dem KZ erfhrt. Die
gleiche Entwicklung durchlebt auch das Ehepaar Kre, das Georg fr eine Nacht
Asyl gewhrt: Die Augen der Frau glnzten auf. [] So hell war es nur einmal
gewesen, am Anfang ihres gemeinsamen Lebens[363]. Anna Seghers zeigt also
auch, wie sich die Entscheidung, einem Flchtling wie Georg zu helfen und sich
somit seiner Menschlichkeit zu besinnen, positiv auf das Alltagsleben
zurckwirken kann.
Den zentralen Beitrag zur Rettung Georg Heislers erbringen nicht
kommunistische Funktionre und aktive Widerstndler, sondern Menschen wie
164 Vgl. Das siebte Kreuz, S. 162. 165 Vgl. Winckler, 1981, S. 82 f.
34
Paul Rder, dem als eigentlich unpolitischer Mensch und Familienvater
Annehmlichkeiten wie ein solcher Sto bester Windeln[238] und die
sommerliche KdF-Reise bisher gengten, um ein angepasstes Dasein zu fhren.
Simple politische Rezepte wie Parteilichkeit` und Heroisierung des
kommunistischen Widerstandskampfes im Sinne des Sozialistischen Realismus,
werden im Siebten Kreuz nicht angeboten. Keinem der Akteure fllt die
Entscheidung, ob sie Georg helfen sollen oder nicht, leicht. Treue Kommunisten
wie Reinhard und Hermann, die Georg Ausreisepapiere und Geld besorgen oder
die Lehrerfigur Wallau spielen zwar auch eine Rolle bei der Fluchthilfe, bleiben
jedoch im Hintergrund des Geschehens.166
Auch Georg Heisler stellt nicht den vom Parteiprogramm geforderten positiven
Held dar er ist, genauso wie die anderen skizzierten Charaktere des Romans,
kein Klischeeheld mit politischem Vorbildcharakter. Bindungslosigkeit und der
Ruf eines unberechenbaren Burschen[239] zeichnen Georg aus, der sich zwar
vor seiner Verhaftung fr die kommunistische Sache engagierte, im Grunde
jedoch auf der Suche nach sich selbst ist. Die Fluchtsituation gestaltet sich fr ihn
als Lernprozess167, durch welchen Georg den Wert des gewhnlichen Lebens
wieder zu schtzen begreift, nachdem er die Normalitt des Alltags frher
verachtet[35] hatte.
Nicht Georg allein, sondern das Tableau der vorgestellten Figuren im Roman, das
Anna Seghers reprsentativ fr ein anderes Deutschland verstanden wissen
wollte, steht im Zentrum des Romans.168 In dieser Hinsicht dient die Fokussierung
auf das Spektrum der lndlichen und kleinstdtischen Welt auch nicht einer
sozialanalytisch motivierten, realistischen Darstellung der gesellschaftlichen
Wirklichkeit des Deutschlands um 1937. Vielmehr artikuliert sich in dieser
Darstellungsweise der Versuch Anna Seghers, Mglichkeiten des
Nonkonformismus bzw. der aktiven Resistenz im Alltagsleben der Menschen
ausfindig zu machen. Es lsst sich in diesem Sinne erkennen, dass Anna Seghers
166 Vgl. Zehl-Romero, S. 67. 167 Straub, Martin: Heislers Weg in das gewhnliche Leben. Zur Wirklichkeitsaufnahme in Anna
Seghers Zeitgeschichtsroman Das siebte Kreuz. in: Erzhlte Welt. Studien zur Epik des 20.
Jahrhunderts. Hrsg v. Helmut Brandt (u.a.), Berlin/Weimar 1978, S. 218. 168 Vgl. Stephan, S. 53.
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das gewhnliche Leben als die eigentliche Grundlage der Resistenz
identifizierte.169 Anhand der Schilderung alltglicher Begebenheiten traf die
Autorin somit eine Diagnose der Zeit, die sich nicht in der Dokumentation des
gefhrlichen Lebens, der Brutalitt der faschistischen Machtinhaber und des
heroischen Widerstands der Verfolgten erschpft.
3.3. Die Relativitt der Gegenwart berzeitliche Evokationen im Siebten Kreuz
Die gelungene Flucht Georg Heislers bezeugt die Grenzen der Allmacht des
nationalsozialistischen Verfolgungsapparates, denn das siebte Kreuz bleibt leer,
trotz aller Bemhungen der Polizei und der SS170. Das Kreuzmotiv, traditionell
das Sinnbild von Passion und Erlsung, wird durch die Geschichte Heislers zum
Symbol der Hoffnung auf ein Wandel der Verhltnisse.171 Die Flucht kann jedoch
nur aufgrund der solidarischen Hilfe und dem gemeinsamen Standhalten der
Helfer gelingen.
Das Gegenstck zu diesem inneren Bestand der Helfer artikuliert sich in Anna
Seghers Beschreibungen der Landschaften um ihre Heimatstadt Mainz, deren
sinnliche Eindrcklichkeit und Zeitlosigkeit auch Carl Zuckmayer einmal
prgnant umschrieb: [] Da entschleiert sich die Rheinebene, das wellige Land
zwischen Worms und Mainz, zu einer geschichtstrchtigen Landschaft von
europischer Weltsicht []172 .
Die Beschreibung der Landschaft ist nicht nur Ausdruck der Heimatverbundenheit
Anna Seghers. Durch die Darstellung der bewegten Geschichte des Rhein-Main
Dreiecks entwickelt die Schriftstellerin ein Geschichtsbild der Bestndigkeit, ein
Motiv des alle Zerstrung berdauerndem, das in Kontrast zu der marxistischen
Doktrin des historischen Fortschrittsgedankens steht173. Dem ewigen Wandel von
Herrschsaftsformen und kriegerischen Auseinandersetzungen wird die Statik von
169 Vgl. ebd., S. 64. 170 Kurt Heyd: Rede anlsslich der berreichung des Georg Bchner-Preises fr Anna Seghers
1947. in: Argonautenschiff 7 (1998), S. 53. 171 Vgl. Rotermund: Wege durchs Zwanzigste Jahrhundert (a.a.O.), S. 72. 172 aus: ebd., S. 73. 173 Vgl. Thielking, Sigrid: Warten Erzhlen berleben. Vom Exil aller Zeiten in Anna Seghers
Transit, in: Argonautenschiff 4 (1995), S. 127-138, hier: S. 133.
36
Natur und Kultur entgegengesetzt: Das ist das Land, von dem es heit, da die
Geschosse des letzten Krieges jeweils die Geschosse des vorletzten aus der Erde
whlen [11] [] Jedes Jahr geschah etwas neues in diesem Land und jedes Jahr
dasselbe: da die pfel reiften und der Wein bei einer sanften vernebelten Sonne
und den Mhen und Sorgen der Menschen[12]. Das zyklische
Geschichtspanorama, dessen Abriss von der Rmerzeit bis in die faschistische
Gegenwart reicht, soll die Wandelbarkeit der Gegenwart verdeutlichen und einen
resignierenden Geschichtsfatalismus verhindern. Es soll angedeutet werden, dass
es sich auch beim Dritten Reich nur um eine vorbergehende Phase der
Geschichte handelt, dessen Existenz von der Macht der Natur und des
gewhnlichen Lebens berthront wird: Tausende Hakenkreuzelchen, die sich
im Wasser kringelten! [] Als der Strom morgens hinter der Eisenbrcke die
Stadt verlie, war sein stilles bluliches Grau doch unvermischt. Wie viele
Feldzeichen hat er schon durchsplt, wie viele Fahnen[13]. Die Figur des
Schfers Ernst ist in der Idylle dieser Landschaft verwurzelt und reprsentiert in
dieser Position ebenfalls die Sphre des Bleibenden vor der vergnglichen Welt
des Nationalsozialismus. Von [] hier oben[13] blickt Ernst mit
unantastbarerer Gleichgltigkeit auf die [] brennende, johlende Stadt[][13]
und wird damit selbst zum integrativen Bestandteil dieser mythologisch
berlagerten Landschaft.
Das kunstvolle Einflechten mythologischer Traditionselemente wie
Sonnenaltre der Kelten oder Astarte und Isis, Mithras und Orpheus[11]
untersttzt die Vermittlung eines berzeitlichen Bedeutungszusammenhangs, mit
der auch die Anspielungen auf religise Elemente und die Verwendung
christlicher Metaphorik korrespondiert. In diesem Zusammenhang demonstriert
der Mainzer Dom einen noch nicht vom Faschismus beherrschten Kulturraum,
dessen Geschichtsmchtigkeit auf Georg Heisler einwirkt, als er seine erste Nacht
in Freiheit dort verbringt. Innerhalb der von der Literaturwissenschaft viel
beachteten Domszene174 entwickelt Anna Seghers eine atmosphrisch dichte und
lebendige Beschreibung des erhabenen Raumes, in welchem Georg sich mit den
steinernen Konterfeis zu einem stummen Zwiegesprch einlsst: Gib auf, rt
174 Vgl. Kuschel, Karl-Josef: Das leer gebliebene Kreuz. Zur Funktion jdisch-christlicher Motive
im Werk von Anna Seghers, in: Argonautenschiff 10 (2001), S. 108-128, hier: S. 116.
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ihm eine der Statuen, du bist schon am Anfang zu Ende[74]. Es sind Georgs
grundeigene ngste, aber auch Erinnerungen an lange vergessene Freunde wie