Autonome Bewegungsentwicklungnach der Theorie von Emmi Pikler
Bachelorarbeit
Medizinische Universität Graz
Gesundheits- und Pflegewissenschaften
Verfasserin:
Marlies Stücklschweiger
Begutachterin:
Bernhardt, Birgit, MAS
Medizinische Universität Graz
Im Rahmen der Lehrveranstaltung
Didaktik
2016, Graz
Eidesstattliche Erklärung
Hiermit erkläre ich an Eides statt, die vorliegende Bachelorarbeit selbstständig und ohne fremde
Hilfe verfasst zu haben. Außer den im Quellenverzeichnis angeführten Werken habe ich keine
weiteren Quellen herangezogen. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner
anderen Prüfungskommission vorgelegt und auch nicht veröffentlicht.
……………………………………………..
Graz, 14.10.2016 , Marlies Stücklschweiger, eh.
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Inhaltsverzeichnis
Seite
Einleitung..................................................................................................................................................... 8
Begriffsdefinition.................................................................................................................................... 10
Leben und Wirken von Emmi Pikler................................................................................................ 11
Die beziehungsvolle Pflege.................................................................................................................. 14
Säuglings- und Kleinkinderheim Lóczy........................................................................................... 17
Bewegung, ein kindliches Bedürfnis................................................................................................ 18
Die freie Bewegungsentwicklung...................................................................................................... 191.Die Rückenlage......................................................................................................................21
2.Die Lage auf der Seite............................................................................................................22
3.Die Lage auf dem Bauch........................................................................................................22
4. Vom Ellbogenstütz bis zum Knie- Händestütz.......................................................................24
5.Die Bärenstellung...................................................................................................................24
6.Vom Hocken bis hin zum Sitzen.............................................................................................25
7.Der Kniestand.........................................................................................................................26
8.Vom Stehen bis hin zum ersten Schritt...................................................................................28
Pikler Spielraum und Material........................................................................................................... 30
Beobachtungsergebnisse..................................................................................................................... 34
Schlussfolgerung (Resümee)............................................................................................................... 40
Zusammenfassung.................................................................................................................................. 44
Epilog.......................................................................................................................................................... 47
Literatur und Quellenverzeichnis..................................................................................................... 47
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Emmi Pikler...................................................................................................... 12
Abb. 2: Beziehungsvolle Pflege von Geburt an............................................................ 15
Abb. 3: a) Rückenlage (3 Monate) und (b) Seitenlage (3,5 Monate)............................ 21
Abb. 4: (a) Bauchlage (4 Monate) und (b) Kriechen auf dem Bauch (5 Monate).......... 23
Abb. 5: Krabbeln (8 Monate)......................................................................................... 24
Abb. 6: Sitzen (10 Monate)........................................................................................... 25
Abb. 7: Kniestand (12 Monate)....................................................................................... 26 Abb. 8: Stehen mit Festhalten, (a) 13 Monate, (b) 16 Monate...................................... 27
Abb. 9: Freies Gehen (17 Monate)............................................................................... 28
Abb. 10: Zusammenfassender Verlauf der selbstständigen Bewegungsentwicklung .... 29
Abb. 11: Spielraum und Materialien.............................................................................. 31
Abb. 12: Die prozentuelle Verteilung des Alters, in dem die Bewegungsentwicklungs- stufen „dreht sich auf die Seite“ (Stufe 1), „dreht sich auf den Bauch“ (Stufe 2) und „dreht sich vom Bauch zurück“ (Stufe 3) erreicht wurden.......... 33
Abb. 13: Die prozentuelle Verteilung des Alters, in dem die Bewegungsentwicklungs- stufen „kriecht auf dem Bauch“ (Stufe 4), „krabbelt auf Knien und Händen“ (Stufe 5) und „setzt sich auf“ (Stufe 6) erreicht wurden................................... 34
Abb. 14: Die prozentuelle Verteilung des Alters, in dem die Bewegungsentwicklungs-
stufen „richtet sich zum Kniestand auf“ (Stufe 7), „steht auf“ (Stufe 8), „unter nimmt erste freie Schritte“ (Stufe 9) und „geht sicher“ (Stufe 10) erreicht wurden.............................................................................................................. 35
Abb. 15: Charakteristische Bewegungsphasen in Abhängigkeit vom Lebensalter der Kleinkinder............................................................................................... 35
Abb. 16: Verteilungskurven für Bewegungsentwicklungsstufe 3 (a), 6 (b) und 9 (c) gruppiert nach drei unterschiedlichen Geburtsgewichtsklassen............ 37
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Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Vergleich der Ergebnisse unterschiedlicher Studien über den zeitlichen Verlauf der Bewegungsentwicklung ........................................................ 30
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Abstract
Hintergrund: Die Arbeit beschäftigt sich mit der autonomen Bewegungsentwicklung des
Säuglings und Kleinkindes nach dem Konzept der ungarischen Kinderärztin und
Pädagogin Emmi Pikler. Piklers Ansatz besteht darin, den Fähigkeiten und
selbstständigen Aktivitäten des Kindes zu vertrauen und für seine eigenen Lernversuche
eine unterstützende Umgebung zu schaffen.
Ziel der Arbeit: Hauptziel meiner Arbeit ist es, darzulegen, dass es nicht darum geht, den
Entwicklungsprozess der Säuglinge und Kinder zu beschleunigen. Vielmehr möchte ich
darauf aufmerksam machen, dass Kinder ihre eigene Zeit brauchen, um sich in ihrer
Bewegung frei entfalten zu können. Ziel der Arbeit ist es, darzulegen, dass Kinder, denen
die Möglichkeit gegeben wird, sich aus eigener Initiative zu bewegen, von selbst die
einzelnen Entwicklungsschritte der Bewegung zu lernen. Sie haben dadurch eine optimale
Voraussetzung, ihre eigene Persönlichkeit zu stärken.
Methodik: Die Methode zur Beantwortung meiner Forschungsfragen beruht auf
Internetrecherche und Literaturstudien. Bei der Internetrecherche wurde von den
Schlüsselbegriffen „Bewegung“, „Entwicklung“, „Emmi Pikler“ , „Pikler Spielraum“,
„Hospitalismus“ und „Autonomie“ ausgegangen und durch Verknüpfung der Begriffe
relevante Ergebnisse herausgefiltert. Die Literaturstudie erfolgte in Büchern, die ich mir
gekauft und von der Universitätsbibliothek der Pädagogischen Fachhochschule geliehen
habe.
Ergebnisse: Die Ergebnisse der Beobachtungsstudie von Emmi Pikler, die im
Wesentlichen auf Autonomieentwicklung und Beziehungsqualität beruhen, zeigen
eindeutig, dass Kinder sämtliche Bewegungsformen von alleine und ohne Zutun der
Erwachsenen versuchen und eigenständig üben, wenn man ihnen genügend Zeit dafür
gibt. Die beobachtete Bewegungsentwicklung der Kinder was kontinuierlich. Der zeitliche
Ablauf der Entwicklung war individuell verschieden.
Schlüsselwörter: Bewegung, Entwicklung, Emmi Pikler, Pikler Spielraum und Autonomie
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Abstract
Background: The thesis deals with the autonomous motion development of infants and
small children based on the concept of the Hungarian pediatrician and educator Emmi
Pikler. His approach relies on the skills and independent activities of the child and on
providing a supportive environment for his own learning attempts.
Aim of the thesis: The main objective of my thesis is to show that it is not about speeding
up the developmental process of infants and children. Rather, I would like to point out that
children need their own time to freely develop their motion skills. The thesis aims to show
that children who are given the opportunity to move on their own initiative have the ability
to autonomously learn the single steps of motion. This gives them an optimal tool to
strengthen their own personality.
Methodology: The methodology applied for answering my research questions is based on
internet research and scientific literature. The internet research was based on the German
key terms "Bewegung", "Entwicklung", "Emmi Pikler", "Pikler-SpielRaum", "Hospitalismus"
and "Autonomie" and relevant results were filtered out by linking the keywords to each
other. The scientific literature was either bought by myself or borrowed from the university
library of the University of Teacher Education Styria.
Results: The results of the observational study of Emmi Pikler are essentially based on
autonomy development and relationship quality. They clearly show that children try all
forms of motion on their own and without the support of adults and practice independently,
if you provide them with enough time. The observed motion development of children
showed continued progress. The timeline of the development differed individually.
Keywords: motion, development, Emmi Pikler, Pikler-SpielRaum and autonomy
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Einleitung
Einführend möchte ich in meiner Arbeit kurz erläutern, warum ich mich für dieses Thema
entschieden habe. Ausschlaggebend für mein Interesse an Emmi Pikler war die Geburt
meines Sohnes Tristan im Jahr 2013. Gerade als junge Mutter ist man besonders
bestrebt, die Bewegungsentwicklung des Kleinkindes bewusst zu fördern. Nachdem mich
eine Bekannte, die auch ausgebildete Pikler- Pädagogin ist, mit der Theorie, dass
Säuglinge und Kleinkinder selbstständig die Bewegungsentwicklung von Übergangsstufen
durchlaufen, wenn man ihnen die entsprechende Zeit und den entsprechenden Raum
dazu gewährt, bekannt gemacht hatte, begann ich mich mit der Theorie und Praxis von
Emmi Pikler, einer ungarischen Kinderärztin und Pädagogin, während meiner Karenzzeit
mit ausreichend Literatur näher auseinander zu setzen.
Um den Ansatz der freien Bewegungsentwicklung von Emmi Pikler besser nachvollziehen
zu können, habe ich mich bewusst mit meinem Sohn zu einer begleiteten Pikler
Spielgruppe angemeldet. So konnte ich mir durch eigene Beobachtungen und
Erfahrungen noch zusätzlich ein Bild von der Pikler- Pädagogik machen. In dieser Zeit
wurde mir bewusst, wie die von der Expertin Emmi Pikler entwickelte Methode respektvoll
auf die Bedürfnisse von Kindern eingeht und unter anderem wie wichtig auch die
achtsame Pflege im Bezug auf die Bewegungs- und Spielentwicklung ist. Auch konnte ich
in dieser Zeit beobachten, dass Kleinkinder, die von Anfang an die Möglichkeit haben,
ungehindert zu spielen, es nicht nötig haben, dass man ihnen die Zeit vertreibt. Diese
Kinder können sich lange auf selbst gesetzte Aufgaben konzentrieren. Dabei lernen sie zu
lernen.
Die Theorie von Emmi Pikler beschreibt die ersten Bewegungsabläufe eines Säuglings -
vom Tag der Geburt bis zum freien Stehen und den ersten freien Schritten. Dabei
beschränkt sie sich nicht auf die zeitlich festgelegten Entwicklungsschritte, sondern weist
auf die Wichtigkeit eines harmonischen Bewegungsablaufes hin, der selbst vom Kind
initiiert wird.
Da wir heutzutage in einer Gesellschaft leben, wo Zeit ein wesentlicher Faktor ist, möchte
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ich mit meiner Arbeit Eltern darauf aufmerksam machen, dass es nicht darum geht, den
Entwicklungsprozess der Säuglinge und Kinder zu beschleunigen. Vielmehr möchte ich
darauf aufmerksam machen, dass Kinder ihre eigene Zeit brauchen, um sich in ihrer
Bewegung frei entfalten zu können.
Darum möchte ich in meiner Bachelorarbeit folgende Forschungsfrage beantworten:
Wie verläuft die Bewegungsentwicklung von Säuglingen und Kleinkindern, auf Grundlage
deren Eigeninitiative ohne förderliche Einflussnahme?
Meine Hypothese lautet:
Kinder, denen die Möglichkeit gegeben wird, sich aus eigener Initiative zu bewegen,
lernen von selbst die einzelnen Entwicklungsschritte der Bewegung. Sie haben dadurch
eine optimale Voraussetzung, ihre eigene Persönlichkeit zu stärken.
Im ersten Abschnitt meiner Arbeit werde ich einen Überblick über die Person Emmi Pikler
geben und auf die Bedeutung der beziehungsvollen Pflege zwischen Erwachsenem und
Säugling eingehen. Anschließend werde ich das von Emmi Pikler gegründete Säuglings-
und Kleinkinderheim Lóczy beschreiben und den Begriff „ Bewegungsentwicklung“
erläutern. Im Hauptteil meiner Arbeit werden die einzelnen Schritte der selbstständigen
Bewegungsentwicklung aufgezeigt. Darauf folgend werde ich auf den Pikler-Spielraum
eingehen und dessen Material beschreiben. Im letzten Abschnitt meiner Arbeit werde ich
die Beobachtungsergebnisse analysieren und daraus meine Schlussfolgerungen
aufzeigen.
Die Methode zur Beantwortung meiner Forschungsfragen beruht auf Internetrecherche
und Literaturstudien.
Bei der Internetrecherche wurde von den Schlüsselbegriffen „Bewegung“, „Entwicklung“,
„Emmi Pikler“ , „Pikler Spielraum“ und „Autonomie“ ausgegangen und durch Verknüpfung
der Begriffe relevante Ergebnisse herausgefiltert.
Die Literaturstudie erfolgte in Büchern, die ich mir gekauft und von der
Universitätsbibliothek der Pädagogischen Fachhochschule geliehen habe.
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Begriffsdefinition
Bewegung:
Bewegung ist die Veränderung eines Objektes in seinem räumlichen Verhältnis zu
anderen Gegenständen. Unter körperlicher Bewegung wird eine physische Aktivität
verstanden, die von einem Zusammenziehen oder Strecken von Muskeln und einem
erhöhten Energieverbrauch begleitet wird. Bewegungen können bewusst über das Gehirn
gesteuert oder unwillkürlich über Rückenmark und vegetatives Nervensystem ausgelöst
werden. 1
Entwicklung:
Unter Entwicklung versteht man alle Veränderungen im Erleben und Verhalten eines
Menschen, die sich im Laufe eines Lebens vollziehen und untereinander in Beziehung
stehen. Im Allgemeinen versteht man darunter einen Prozess der Entstehung, der
Veränderung bzw. des Vergehens. 2
Emmi Pikler:
Emilie Madeleine Reich auch „Emmi Pikler“ genannt, wurde am 9. Jänner 1902 in Wien
geboren. Sie war eine ungarische Kinderärztin, die im 20. Jahrhundert neue Wege in der
Kleinkindpädagogik ging. 1984 verstarb Emmi Pikler nach kurzer, schwerer Krankheit in
Ungarn.3
Autonomie:
Mit Autonomie bzw. Unabhängigkeit bezeichnet man in der Psychologie einen Zustand
von Selbstständigkeit, Entscheidungsfreiheit oder Selbstbestimmung.4
1 � Vgl. Definition-online (2016), o.s2 � Vgl. Stangl (2012), o.s3 � Vgl. Hengstenberg-Pikler-Gesellschaft (2016), o.s4 � Vgl. Stangl (2012), o.s
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Hospitalismus:
Unter Hospitalismus versteht man seelische, geistige und körperliche Schäden, die durch
längere Krankenhaus- oder Heimaufenthalte entstehen. Hauptsächlich sind Babys und
Kinder in den ersten Lebensjahren, meist ohne Eltern und Bezugspersonen, davon
betroffen.5
Leben und Wirken von Emmi Pikler
Emmi Pikler wurde unter dem Namen Emilie Madeleine Reich am 9. Jänner 1902 in Wien
geboren. Ihre jüdische Mutter war Kindergärtnerin, ihr Vater, Handwerker von Beruf,
stammte aus ungarisch- jüdischer Herkunft. 6
Als Emmi Pikler zwölf Jahre alt war, verstarb ihre Mutter bereits. Ursprünglich galt Emmi
Pikler das Interesse, Hebamme zu werden, sie entschied dann aber doch, ein
Medizinstudium zu beginnen. Um Kinderärztin werden zu können, begann sie 1920 ein
Medizinstudium an der Medizinischen Universität in Wien. 1927 promovierte Emmi Pikler
und absolvierte die pädiatrische Fachausbildung an der Kinderchirurgie und an der Wiener
Universitäts –Kinderklinik. 7 Emmi Pikler wurde von Professor CLEMENS VON PIRQUET
und dem Kinderchirurgen Professor HANS SALZER ausgebildet und geprägt.8 Professor
CLEMENS VON PIRQUET war davon überzeugt, dass es für die Rekonvaleszenz eines
Patienten von Bedeutung sei, sich seinem Gesundheitszustand auch entsprechend
bewegen zu können und auch liebevoll gepflegt zu werden. Für Professor Salzer war es
wichtig, dass der Umgang mit Kindern während einer Untersuchung behutsam und
einfühlsam durchgeführt werde. 9 In der Zeit, als Emmi Pikler an der kinderchirurgischen
Klinik Erfahrungen sammelte, fiel ihr an den Unfallstatistiken auf, dass Kinder aus
wohlhabenderen Familien die den ganzen Tag gut beaufsichtig waren, mehr schwere
Verletzungen beim Spielen hatten als Kinder, die auf sich selbst gestellt waren und aus
einfacheren Verhältnissen kamen. 10 Dies führte Emmi Pikler zu der Überlegung, dass
Kinder sich dann am besten entfalten können, wenn sie sich möglichst selbstständig
5 � Vgl. Next Healthlab GmbH (2016), o.s6 � Vgl. Czimmek, Anna Clair (1999), S. 5f7 � Vgl. Pikler (2001), S. 2418 � Vgl. Lorber (2008), S.669 � Vgl. Gilles- Bacciu (2015), S.17ff10� Vgl. ebd.
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entwickeln durften. Aufgabe der Erwachsenen sei es, dem Kind Geborgenheit zu sichern,
stabile Beziehungen zu vermitteln und seine Umgebung so zu gestalten, dass das
Kleinkind entsprechend seinem individuellen Entwicklungsstand selbstständig aktiv
werden könne. Emmi Pikler fragte sich, was ein gesundes Kind braucht, um sich gut
entwickeln zu können. Die Antworten finden sich in ihren Theorien und in der Praxis zur
freien Bewegungsentwicklung .11
Des Weiteren wurde sie von ihrem Ehemann György Pikler, einem Pädagogen und
Mathematiker, unterrichtet. Nach der Geburt ihres gemeinsamen Kindes entschlossen sich
Emmi Pikler und ihr Mann dazu, ihrem Kind freie Bewegung zu ermöglichen und seiner
Entwicklung die Zeit zum ungehinderten Spiel zu geben, die es brauchte. Aus eigener
Erfahrung war ihr bewusst, dass Kinder nicht zu Bewegungen oder zum Spielen animiert
werden müssen, sondern Pikler fand Wege, mit denen bestmögliche Entwicklung gefördert
wurde, die aber dennoch nur einen bescheidenen Einsatz von Mitteln verlangte. Aufgrund
der jüdischen Abstammung und der geltenden jüdischen Gesetze in Ungarn war es 1930
für die Kinderärztin nicht möglich eine Anstellung in einem Krankenhaus zu bekommen.
Um als Ärztin arbeiten zu können, führte sie daher eine eigene Praxis, welche sie unter
einfachen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, leitete.12 Im Sinne ihrer Erfahrungen und
Beobachtungen öffnete Emmi Pikler die Augen der Eltern für einen neuen Erziehungsweg,
der ohne jede Gewaltanwendung auskommt. Sie initiierte eine Tauschbörse für
Kindersachen und eine Art Tagespflegenetzwerk. Ihr Ziel war es, Eltern in der
Kindererziehung und Säuglingspflege zu unterstützen, damit deren Kinder selbstständig
ihr Leben aktiv bewältigen konnten. Aus ihren gewonnen Erfahrungen erschien ihr erstes
Buch „Friedliche Babys – Zufriedene Mütter“ im Jahr 1940, welches 1982 als deutsche
Auflage erschienen ist.13
Aufgrund ihrer jüdischen Abstammung waren die ersten zehn Jahre, die sie als
Familienärztin arbeitete, nicht gerade leicht. Unter anderem war ihr Mann aus politischen
Gründen 1936 – 1945 in Gefangenschaft. Emmi Pikler konnte durch ihre innere Kraft die
Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg überleben. 14
Im Ungarn der Nachkriegszeit, nun selbst schon Mutter zweier Kinder, konnte sie ihre
eigene Praxis nicht wieder eröffnen. Sie beschloss, sich verlassener und unterernährter
11� Vgl. ebd.12� Vgl. Czimmek, Anna Clair (1999), S. 18f13� Vgl. Lorber (2008), S. 6714� Vgl. Pikler (2001), S. 242
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Kinder innerhalb einer ungarischen Organisation anzunehmen. 1946 gründete Emmi Pikler
in Budapest ein Säuglings- und Kinderheim, das als „Lóczy“ bekannt wurde. Sie leitete
dieses Heim 33 Jahre lang, welches heute noch als Pikler – Institut international bekannt
ist.15 Emmi Pikler war es von Bedeutung, eine geborgene Atmosphäre zu schaffen, in der
Säuglinge ohne den bekannten Hospitalismus aufwuchsen. Als Kinderärztin bewegte sie
sich zwischen medizinischem Wirken und pädagogischer Beraterin. Durch ihre Ergebnisse
bei der Verhütung des Hospitalismus und die Herausgabe von wissenschaftlichen
Veröffentlichungen und Fachbüchern wurde das Lóczy Institut zu einem internationalen
bekannten Methodologischen Institut.16
Nach ihrer Pensionierung war ihre beratende Tätigkeit im Lóczy weiterhin gefragt. Im
Mittelpunkt ihres Interesses stand weiterhin die Bewegungsentwicklung des Säuglings und
Kleinkindes, was dann auch 1969 das Thema für ihre Habilitation war. Ihre
Nachfolgerinnen als Leiter des Lóczy Instituts waren die Kinderärztin Judith Falk und
Maria Vincze, dann hatte es Emmi Piklers Tochter, Anna Tardos, übernommen, welche
von Beruf Kinderpsychologin war. 17 In Österreich, Deutschland und den USA wurden
Pikler – Gesellschaften gegründet, die es zu ihrer Aufgabe machten, ihre Ansätze bzw.
Prinzipien zu vermitteln. 1984, nach kurzer, schwerer Krankheit, starb Emmi Pikler im Alter
von 82 Jahren. 18
Abb. 1: Emmi Pikler, Quelle: www.hengstenberg-pikler.de , o.s
15� Vgl. Pikler (2001), S. 24216� Vgl. Pikler (2001), S. 24217� Vgl. Lorber (2008), S. 6918� Vgl. ebd.
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Die beziehungsvolle Pflege
Emmi Pikler beschäftigte sich in ihrem ersten Buch „Friedliche Babys-Zufriedene Mütter“ in
erster Linie mit der Bewegungsentwicklung des Säuglings und Kleinkindes.19
Darin stellt sie dar, dass das Aufsetzen, Aufstellen und das An-der-Hand-Führen eines
Kindes die Bewegungsentwicklung behindert. Wenn Eltern ihre Kinder in Kinderwagen,
B a b y - W i p p e o d e r L a u f g e r ä t e n f i x i e r e n , g e h e n d e m S ä u g l i n g v i e l e
Entfaltungsmöglichkeiten verloren. Das Bewegungsbedürfnis des Säuglings kann sich nur
dann entfalten, wenn man die freie Bewegungsmöglichkeiten nicht dadurch einschränkt,
dass man die Kinder in Positionen bringt oder hält, die sie weder selbstständig aufsuchen,
noch verlassen können. Das geschieht unter anderem durch gewisse Kindermöbel, durch
Aufsetzen, wenn das Kind dies noch nicht selbstständig kann oder durch stundenlanges
Herumtragen in Positionen, die das Kind noch nicht selbst aufsuchen kann. 20 In der Pikler-
Sichtweise sind „Bewegung“, „Aktivität“, „Selbstständiges Lernen“, „aus eigener Initiative
hervorgehende selbstständige Bewegung“, „Spiel und Aktivität“ für wesentlich erachtete
Begriffe. Diese betonen die Autonomie des Säuglings und Kleinkindes. All das kann der
Säugling nur unter gewissen Bedingungen verwirklichen, wobei die Beziehung zum
Erwachsenen die bedeutendste Rolle spielt. Emmi Pikler betont in ihren Büchern, dass die
„beziehungsvolle Pflege“ ebenso ein wichtiger Aspekt ist. Der Säugling benötigt eine
Beziehung, die ihm Sicherheit gibt und Geborgenheit und Wärme vermittelt.21
Nur wenn die Sicherheit gewährleistet ist und wenn das Kind das Erlebnis hat, geliebt zu
sein, hat es Freude daran und ist es fähig, selbstständig zu handeln und zu lernen, das
heißt, etwas Neues auszuprobieren. Die Autonomie des Kindes ist somit nicht von der
Mutter-Kind-Beziehung zu trennen. Das Neugeborene macht gerade in den ersten
Wochen entscheidende Erfahrungen in der Persönlichkeitsentwicklung. Seiner gesunden
Entwicklung ist mit freundlichem Sprechen und einer taktvollen Pflege zu begegnen. Es ist
sehr wichtig, dass das Kind spürt, dass die Worte, die man zu ihm spricht, auch wirklich
ehrlich an das Kind gerichtet sind. Der Säugling wird mit der Zeit spüren, dass seine
Bedürfnisse respektvoll wahrgenommen werden. Ein richtiger Dialog bildet sich während
19� Vgl. Pikler (2013), S. 21ff20� Vgl. Pikler (2013), S. 57ff21� Vgl. ebd.
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der Pflege nur dann heraus, wenn das Kind darauf vertrauen kann, dass der Erwachsene
auch wirklich für ihn da ist. Nur so kann sich eine Kooperation entwickeln, wenn der
Säugling merkt, dass der Erwachsene Interesse hat, mit ihm zusammen zu arbeiten. 22
Das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen entsteht durch die Erfahrung, die die Kinder
täglich mit den Erwachsenen erleben, welche bemüht sind, ihre Bedürfnisse zu verstehen.
Vorwiegend geht es bei der Kooperation mit dem Kind darum, die kindlichen
Grundbedürfnisse zu beachten. Sicherheit und Vertrauen bekommen die Kinder in erster
Linie durch die intensive Zuwendung in den jeweiligen Pflegesituationen. Pikler zeigt, dass
Füttern, Baden, An- und Ausziehen Ereignisse sein können, bei denen der Säugling von
Anfang an ein aktiv Teilnehmender sein kann. Die Pflege wird zu einem Zusammensein,
das Gelegenheit zu Kommunikation und Kontakt bietet, der auf der Beobachtung der
Signale beider Seiten beruht. Diese Zeit bezeichnet Emmi Pikler als besondere Zeit der
Zuwendung und als Zeit der ungeteilten Aufmerksamkeit, die dem Kind geschenkt wird.
Der Erwachsene teilt dem Kind jeden „Handgriff“ mit Worten mit, und wartet den nächsten
Schritt der Bereitschaft des Kindes ab. Bald darauf arbeitet das Kind schon selbstständig
mit z.B., in eine Hose zu schlüpfen. 23
Das Kind selbst gibt durch seine Mithilfe das Zeitmaß vor. Die Pflegehandlungen erfolgen
dabei immer in einer Gleichmäßigkeit, so dass das Kind dadurch Sicherheit, Vertrauen
und Orientierung gewinnt und so zu einem aktiven Partner wird. Nebenbei wächst das
Vertrauen des Kindes in die Pflegeperson. In dieser intensiven Zeit des Zusammenseins,
das von Respekt, Zuwendung und Achtsamkeit geprägt ist, spürt das Kind auch die
einfühlsamen Berührungen der Pflegeperson. 24
Die Pikler-Sichtweise zeigt also den hohen Stellenwert von alltäglichen Pflegetätigkeiten
wie Waschen, Baden, Wickeln, An-und Ausziehen. Sie sollen nicht zu einem kriegerischen
Ereignis zwischen Erwachsenem und Kind ausarten, sondern als etwas Schönes erlebt
werden. Die Zeit der Pflege ist daher nicht nur eine Notwendigkeit der Hygiene, vielmehr
ist sie ein ereignisreiches Zusammensein. 25
22� Vgl. ebd.23� Vgl. Ostermayer (2013), S. 19f24� Vgl. Ostermayer (2013), S. 19ff25� Vgl. ebd.
15Seite von 49
Nur im Vertrauen geliebt zu sein kann das Kind nach der Pflege wieder in Ruhe
experimentieren und motorische Fähigkeiten ausprobieren. Die Erfahrungen der
Kinderärztin zeigen, dass sich Ereignisse, die sich täglich wiederholen und im Leben des
Säuglings eine wichtige Rolle spielen, so geschehen können, dass sie mit Freude
verbunden sind und die Beziehung bereichern. Das Kind steht mit dem Erwachsenen
ständig in einer Wechselbeziehung, weil es angemessene und zum Mitmachen einladende
Pflege braucht, jedoch gelegentlich unabhängig sein muss. Kinder brauchen eine
liebevolle, achtsame, interaktive Beziehung und praktische Pflege in Form von Essen,
Schutz und Körperpflege. Sie brauchen jedoch auch Unabhängigkeit, um zu lernen wozu
ihr Körper in der Lage ist. 26
Die Pflege eines Kindes ist in den Augen von Emmi Pikler ein sehr wichtiger Aspekt. Sie
stellt nicht nur eine Art Erziehung dar, sondern baut auch eine wichtige Beziehung
zwischen Mutter und Kind auf, in der sich das Kind autonom und frei entfalten kann, was
somit die Grundlage für eine freie Bewegungsentwicklung ist.
(a) (b)
Abb.2: Beziehungsvolle Pflege von Geburt an. (a) 2 Tage alt (b) 2 Monate alt. Foto: M.Stücklschweiger
26� Vgl. Petrie, Owen (2006), S. 41ff
16Seite von 49
Säuglings- und Kleinkinderheim Lóczy
Im Jahr 1946 gründete Emmi Pikler das Kinderheim Lóczy, benannt nach der Lóczystraße
in Ungarn, in der sich diese Einrichtung befand. Diese wurde damals für Kleinkinder
gegründet, die langfristige Betreuung und Pflege brauchten. Vorwiegend wurden
Neugeborene aufgenommen, deren Mütter an Tuberkulose im Wochenbett verstorben
waren und aus anderen Gründen nicht in anderen Familien aufgenommen werden
konnten. Insgesamt gab es im Lóczy 70 Plätze, wobei die Kinder durchschnittlich bis zu
zweieinhalb Jahren im Säuglingsheim blieben. 27
Für eine gute Zusammenarbeit zwischen Kind und Pflegerin war es Emmi Pikler auch
wichtig, dass die Kinder immer die gleiche Bezugsperson bzw. Pflegerin hatten und diese
nicht regelmäßig ausgewechselt wurden. Um in der Pflege genug Zeit zu haben, betreute
eine Pflegerin nur neun Kinder. 28
Den Kindern im Lóczy wurde der notwendige Raum und Platz zum Spielen und
ausreichende Ruhe zum Schlafen gegeben. So wurde darauf geschaut, dass jedes Kind
auf einer geeigneten Unterlage (Matratze) mit genügend Platz für seinen individuellen
Bewegungsfreiraum schlief. Es sollte keine nachgiebige, weiche Unterlage sein und es
wurde ohne Kissen geschlafen. 29
Außerdem achtete Emmi Pikler bereits beim Neugeborenen darauf, dass die Kleidung die
Bewegungen von Kopf, Hals, Rumpf und Armen nicht beeinträchtigte und somit die
Bewegungsfreiheit ermöglichte.30
27� Vgl. Pikler (2001), S. 2428� Vgl. ebd.29� Vgl. Pikler (2001), S. 3030� Vgl. Pikler (2001), S. 28
17Seite von 49
Bewegung, ein kindliches Bedürfnis
Ein neugeborener Säugling beobachtet zunächst einmal seine Umgebung, bevor er das
erste Mal seine eigenen Hände entdeckt. Am Anfang wird er eher seine Hände durch
Zufall entdecken, dann wird er immer gezielter auf seine Hände blicken und seinen
Bewegungen folgen, bis er begreifen wird, dass ein direkter Zusammenhang zwischen
sich selbst und seinen Bewegungen entsteht. 31
Nach dem Entdecken der Hände folgt das Entdecken eines interessanten Gegenstandes,
den er anfangs neugierig beobachten und anschließend danach greifen wird. Mit der Zeit
wird er immer mehr Gegenstände entdecken und erforschen und diese mit dem Mund und
den Händen ertasten. Das Kind erfährt über das „Be-greifen“, wie sich ein Gegenstand
anfühlt und welche Dinge es damit ausprobieren kann. Der Körper des Kindes wird dabei
zum Bindeglied dieser Informationen. Durch die Körperbewegung erfährt das Kind
Informationen aus seiner Umwelt. Je älter das Kind wird, desto mehr wird es von seiner
Umwelt und seinen Bewegungsmöglichkeiten lernen und mit der Zeit seine
Selbstständigkeit erlangen. Das Kind gewinnt durch die Bewegung Selbstvertrauen,
handelt eigenverantwortlich und bewegt sich aktiv hin zu einem gewissen Grad an
Unabhängigkeit. Das gelingt, wenn dem Kind eine Umgebung bereitet wird, in der es frei
forschen kann und in der sich ihm viele Möglichkeiten für Erforschen und Entdecken
bieten. Durch seinen eigenen Unternehmungsgeist begreift der Säugling, dass er
bestimmte Handlungskompetenzen erlernen kann. 32 Von großer Bedeutung ist, dass das
Kind das Gefühl bekommt, die einzelnen „Lebensaufgaben“ aus eigener Initiative heraus
gemeistert zu haben. Das Bewusstsein, das erste Mal etwas selbst aus eigener Kraft
geschafft zu haben, wofür es sonst Hilfe gebraucht hätte, ist zum einen die notwendige
Motivation und zum anderen die Bestätigung, selbst Fähigkeiten in sich zu haben. So wird
das Kleinkind erneut Anforderungen ausprobieren und seine persönlichen Möglichkeiten
entdecken. Nicht zu vergessen ist, dass die Bewegung eine Art von Kommunikation
darstellt. Sie ist Mittel des Ausdruckes und der Verständigung. Wenn das Kleinkind durch
die Sprache seine Bedürfnisse und Wünsche noch nicht all zu gut vermitteln kann,
versucht es, seine Befindlichkeiten über den Körper zum Ausdruck zu bringen. Ohne
31� Vgl. Kallo, Balog (1996)32� Vgl. Zimmer (1999)
18Seite von 49
Bewegung wäre das Kind sehr eingeschränkt, sich mit seiner Umwelt auseinander zu
setzen. 33
Die freie Bewegungsentwicklung
Die geschaffenen Rahmenbedingungen im Heim ermöglichten Emmi Pikler die
frühkindliche Entwicklung genau zu dokumentieren und zu analysieren. In den ersten drei
Lebensjahren der Bewegungsentwicklung wurde das Kleinkind beobachtet und studiert,
zusätzlich mit Zeichnungen dokumentiert und fotografisch festgehalten. Ihre Fähigkeit zur
genauen Beobachtung führte zu neuen Erkenntnissen über die Kompetenz und
Bedürfnisse des Kindes.
Die Beobachtungen wurden nach einer vorgegebenen Methode durchgeführt. Der
Beobachter notierte 30 Minuten lang mit der Genauigkeit einer Viertelminute die Position
des Kindes und dessen Positions- und Platzwechsel. Wobei sich der Säugling bzw. das
Kleinkind immer auf seinem gewohnten Platz unter den anderen Kindern befand. Zur
Kontrolle der Aufzeichnungen wurden selektiv Parallelaufzeichnungen einer zweiten
Pflegerin durchgeführt. 34
Unter der Leitung von Emmi Pikler war die wesentliche Prämisse, dass die Kinder in der
Bewegungsentwicklung in keine Position gebracht wurden, die sie selbst noch nicht in der
Lage waren auszuüben. Die Kinder wurden auch nicht ermutigt oder animiert, eine
Bewegung zu vollbringen, die sie selbstständig noch nicht ausführen konnten. Die
Säuglinge wurden immer in ihre Grundposition auf dem Rücken liegend gebracht, sei es
zum Schlafen oder Spielen. Auch wurden sie am Rücken liegend im Arm getragen und nur
für ein paar Minuten zum Aufstoßen aufrecht gehalten, wobei der Kopf und der Rücken gut
gestützt wurden. 35 Nachdem sich ein Kind von selbst in eine neue Position gebracht hatte,
wurde es wieder in die Ausgangsposition, die Rückenlage, gebracht. 36
33� Vgl. Zimmer (1999)34� Vgl. Pikler (2001), S.44 ff35� Vgl. ebd. 36� Vgl. ebd.
19Seite von 49
Grund für das oben genannte Verhalten war es zu vermeiden, dass ein Kind Positionen
oder Lagen lernte und einnahm, in die es von selbst nicht kam und immer wieder
Hilfestellungen von einem Erwachsenen benötigen würde. Dadurch war man als
Erwachsener nicht direkt bei einem Bewegungsversuch behilflich und man achtete darauf,
das Kind nicht indirekt zu bestimmten Bewegungen anzuregen.
Damit auch die Eltern der Kinder die richtige Vorgehensweise im Umgang mit dem Kind
kennenlernten, wurden auch diese in die Pikler – Pflege mit einbezogen.
Der Säugling bewegt sich vorerst einmal auf dem Rücken liegend, dann dreht er sich zur
Seite und bewegt sich von Mal zu Mal hin und her, beginnt zu rollen, zu robben und zu
krabbeln und setzt sich stufenweise auf. Dann zieht er sich auf die Knie und stellt sich
während des Festhaltens auf. Darauffolgend lernt er zu stehen, ohne sich festhalten zu
müssen und vermag aus eigener Entscheidung intuitiv zu gehen. Erstmals wagt er einige
wenige Schritte, lernt dann aber innerhalb weniger Wochen zu gehen. 37
Körpergröße und Körpergewicht eines Kindes verändern sich stark in den ersten beiden
Lebensjahren. In dieser Zeit lernt ein Kind auch, sich eigenständig fortzubewegen.38 Beim
Vergleich zweier unterschiedlich schnell entwickelter Kinder konnte Pikler aufzeigen, dass
sich auch das „entwicklungsverzögerte“ Kind genauso gut entfaltete wie das „normale“,
wenn man ihm genug Zeit gab.
Die Daten in Emmi Piklers Studie basieren auf 722 Kindern, 346 Jungen und 376
Mädchen in der Zeit von 1946 bis 1963. Alle Kinder hatten zu dieser Zeit ein gesundes
Nervensystem und waren normal entwickelt. Alle Kinder der Studie wurden vor dem
vierten Lebensmonat in das Lóczy aufgenommen und blieben mindestens drei Monate im
Heim.39
Die Kinder wurden immer auf den Rücken bzw. die Position gelegt, die sie täglich
benutzten. Alle Positions- und Platzwechselbewegungen begannen und beendeten die
37� Vgl. Gilles- Bacciu, Heuer (2015), S. 4538� Vgl. Pikler (2001), S. 41f39� Vgl. Gilles- Bacciu, Heuer (2015), S. 45
20Seite von 49
Kinder selbstständig, aus eigener Initiative. Beobachtet wurden die Bewegungen der
Kinder in der Zeit, die sie mit freiem Spielen verbrachten.
Folgende Stufen der motorischen Bewegungsentwicklung wurden dabei registriert und
dokumentiert:
1. Der Säugling dreht sich vom Rücken auf die Seite.
2. Der Säugling dreht sich auf den Bauch.
3. Der Säugling dreht sich vom Bauch wieder zurück auf den Rücken.
4. Der Säugling kriecht auf dem Bauch.
5. Der Säugling krabbelt (auf den Händen und Knien nach vorne).
6. Der Säugling setzt sich auf.
7. Der Säugling setzt sich zum Kniestand auf.
8. Der Säugling steht auf.
9. Der Säugling geht die ersten freien Schritte.
10. Der Säugling geht sicher, aus eigener Initiative. 40
Im Folgenden sollen nun die einzelnen Schritte der Bewegungsabläufe, die aus eigener
Initiative geschehen, näher beschrieben werden:
1. Die Rückenlage
Um dem Neugeborenen unmittelbar nach der Geburt die Möglichkeit zu geben, sein
Gleichgewicht selbst zu finden, legt man den Säugling in die Grundlage, „Die Rückenlage“.
In dieser Position fühlt sich das Neugeborene in der Regel wohl. Die Arme und Beine
können sich sehr gut frei bewegen und werden von Mal zu Mal zielgerichteter und auch
lebhafter. Mediziner argumentierten oftmals, dass sich das Becken in der Bauchlage
besser ausbilden könne als in der Ausgangslage auf dem Rücken. Doch Emmi Pikler
konnte durch ihre Dokumentationen festhalten, dass es für die Ausbildung des Beckens
keine Rolle spielt, in welcher Position der Säugling liegt. 41 Das Neugeborene ist von
40� Vgl. Pikler (2001), S. 3641� Vgl. Pikler (2001), S. 191f
21Seite von 49
Anfang an im Stande, seinen Rumpf von einer Seite zur anderen zu drehen und auch von
der Unterlage abzuheben. Die Arme und Beine des Babys werden immer muskulöser, so
dass es diesem irgendwann gelingt, sich von der Unterfläche abzustoßen. Dies sind
schon die ersten Zwischenschritte, die der Säugling macht, um sich mit kleinen
Schrittbewegungen vom Platz im Kreis zu drehen. 42
(a) (b)
Abb.3: (a) Rückenlage (3 Monate) und (b) Seitenlage (3,5 Monate). Fotos: M.Stücklschweiger
2. Die Lage auf der Seite
Wenn der Säugling das Becken und den Schultergürtel von der Unterlage etwas
wegdrehen kann, kommt es zur ersten Rotationsbewegung der Wirbelsäule. Das
wiederholte Hin - und Zurückdrehen spielt eine wesentliche Rolle für die Kräftigung der
Rumpfmuskulatur und für das Trainieren des Gleichgewichts. Mit Hilfe von Armen und
Beinen gelingt es dem Kind schließlich, das Gleichgewicht zu halten und sich komplett auf
die Seite zu drehen. Der Säugling ist in dieser Lage fähig, den Kopf und den Rumpf nach
vorne oder hinten zu bewegen und den Kopf für geringe Zeit anzuheben. 43
Durch die Drehung des Kopfes, der Arme und Beine und des Beckens vermag sich der
Säugling schließlich mit einem Schwung auf den Bauch zu wenden. 44
3. Die Lage auf dem Bauch
42� Vgl. ebd.43� Vgl. Pikler (2001), S. 195f44� Vgl. Pikler (2001), S. 195f
22Seite von 49
Spielt das Kind in der Seitenlage, kann es passieren, dass es während des
Experimentierens sein Gleichgewicht verliert und auf den Bauch fällt. Oftmals gerät ein
Arm unter den Rumpf des Säuglings, was zunächst für das Kind als sehr unangenehm
erscheint. Durch leichte Unterstützung dreht man es in die Ausgangslage auf den Rücken
zurück. Nach kurzer Zeit wird sich der Säugling wieder in die Bauchlage drehen. Je öfters
das Kind die Bauchlage einnimmt und übt, desto mehr wird es sich an seine neue Position
gewöhnen.45
Kann der Säugling sich in der Bauchlage auf beiden Händen abstützen und seinen Kopf
und seinen Brustkorb anheben, kann er seinen Kopf sicher halten. Er kann seine Position
jederzeit ändern, und sich wieder in Bauch - oder Rückenlage zurücklegen. Später gelingt
es dem Säugling, sich auch zu rollen. Auch so kann er sich einen großen Platzwechsel
verschaffen. Nicht nur durch Rollen oder Wälzen kann sich der Säugling eine neue
Position verschaffen, er kann durch das sogenannte „Kreisrutschen’“ auf dem Bauch
liegend seinen Platz wechseln. Der auf dem Bauch liegende Säugling setzt seine
aufgestützten Unterarme, um seine Achse kreisend, abwechselnd weiter. 46 Auch das
Kriechen oder Robben auf dem Bauch dient zur Fortbewegung des Säuglings. Der
Säugling kriecht, ohne seinen Bauch von der Unterlage abzuheben, sich mit seinen
Unterarmen ziehend nach vorne. Dabei schiebt er sich auch mit seinem gebeugten Knien
nach vorne. Das Kriechen auf dem Bauch kann zu einer recht schnellen Bewegung
werden. 47
a) (b)
Abb.4: (a) Bauchlage (4 Monate) und (b) Kriechen auf dem Bauch (5 Monate). Fotos:
M.Stücklschweiger
45� Vgl. Pikler (2001), S. 197ff46� Vgl. ebd.47� Vgl. ebd.
23Seite von 49
4. Vom Ellbogenstütz bis zum Knie- Händestütz
Der Ellbogenstütz ist der erste Schritt des Aufsetzens und entsteht vorwiegend aus der
Seitenlage. Der Kopf des Säuglings ist in der Position frei beweglich und der Rumpf kann
vom Kind nach vorne oder hinten gedreht werden. Der Oberarm und das obere Bein sind
frei beweglich und werden vom Säugling benutzt, um sich im Gleichgewicht zu halten. Aus
dieser Position ist es dem Kind möglich, sich wieder zurück in die anderen Positionen zu
drehen. Wenn das Kind fähig ist, seinen Oberkörper mit ausgestrecktem Arm auf der Hand
abzustützen und sich der Schwerpunkt somit auf eine Gesäßhälfte verlagert, wird es als
„abgestützter Seitsitz“ bezeichnet. Aus dieser Lage wiederum ist es dem Kind möglich, in
den Hand-Kniestütz zu wechseln. 48 Beim Knie-Händestütz ist der Rumpf des Kleinkindes
parallel vom Boden abgehoben und das Kind stützt sich hier mit seinen Händen und Knien
ab. Mit Schaukelbewegungen nach vor und zurück erprobt es sein Gewicht zu verlagern. 49
In dieser Position beginnt das Kind auf Händen und Füßen zu krabbeln. Auch ist dies die
Ausgansstellung bis zum Gehen. Kinder halten sich oftmals auch im „Vierfüßlerstand“
während des Spielens auf, auch wenn sie schon gehen können. Auch ist es die
Ausgangsposition, wenn das Kind zu hocken beginnt. 50
Abb.5: Krabbeln (8 Monate). Foto: M.Stücklschweiger
5. Die Bärenstellung51
48� Vgl. Pikler (2001), S. 203ff49� Vgl. Pikler (2001), S. 203ff50� Vgl. Pikler (2001), S. 203ff51� Vgl. Pikler (2001), S. 213
24Seite von 49
Die Bärenstellung ist neben den anderen genannten Positionen eine weitere, in dem es
dem Kind möglich ist sich fortzubewegen. Das Kleinkind stützt sich auf seinen Händen und
Fußsohlen ab, hält währenddessen aber seine Arme und Beine ausgestreckt. Oft sieht
man Kinder in dieser Position, wie sie ihre Köpfe auf dem Boden abstützen, da der Kopf in
dieser Position tiefer liegt als sonst. Das Kind bewegt sich wie beim Krabbeln in dieser
Position vorwärts, nur dass seine Knie den Untergrund nicht berühren. Aus dieser Position
gelangt das Kind in die Hocke, aber auch in den oben genannten Knie - Händestütz. 52
6. Vom Hocken bis hin zum Sitzen
Wenn sich das Kind bei gebeugten Hüft - und Kniegelenken über den Fußsohlen
ausbalanciert, spricht man vom Hocken des Kindes. Meistens ist der Rumpf leicht nach
vorne geneigt, die Kopfhaltung wird durch die Blickrichtung des Kindes bestimmt.
Während die Beine leicht gespreizt und die Füße nach vorne gerichtet sind, berührt das
Gesäß des Kindes den Untergrund nicht. 53 Die Arme nimmt das Kind oft als Unterstützung
zum Ausbalancieren in dieser Stellung dazu. Aus dieser Haltung gelangt das Kind dann
zunächst in die Position des Sitzens und Stehens. 54 Wenn das Kind den Rumpf über den
Sitzbeinhöckern ausbalanciert, befindet es sich in der Sitzposition. Ist das Becken über
den Sitzbeinhöckern aufgerichtet, kann das Kind schon sehr gut sitzen. Würde es auf
einem Hocker sitzen oder auf einer Erhöhung, bekommt es durch die Berührung der
eigenen Fußsohlen ein Gefühl von Sicherheit im Sitzen. (So kann es das Gleichgewicht
besser halten). Kinder, die das Sitzen schon gelernt haben, stützen sich dennoch
manchmal bei Gelegenheit mit einer Hand am Boden ab. Es gibt unterschiedliche
Möglichkeiten des Sitzens. Dies wird durch die Lage oder Stellung der Beine
unterschieden. 55 Die Kinderärztin Emmi Pikler unterscheidet zwischen richtigem und
schlechtem Sitzen. Ist der Rücken ganz gerade, der Bereich um das Kreuzbein herum
gestreckt und das Gewicht auf die Sitzhöcker verlagert, so bezeichnet sie das Sitzen als
„richtiges Sitzen“. So sitzt das Kind nicht nur ökonomisch, sondern es kann sich bequem
bewegen und ermüdet nicht so schnell. 56 Man unterscheidet zwischen Fersensitz, wobei
52� Vgl. Pikler (2001), S. 213ff53� Vgl. Pikler (2001), S. 220f54� Vgl. Pikler (2001), S. 220f55� Vgl. Pikler (2001), S. 224ff56� Vgl. Pikler (2001), S. 224f
25Seite von 49
das Kind auf den Knien gebeugt mit seinem Gesäß auf den Fersen sitzt, dem Seitsitz, dies
erfolgt, wenn beide Füße zur selben Seite geneigt sind und dem Langsitz, wenn beide
Beine gespreizt oder geschlossen nach vorne ausgetreckt sind. Man spricht vom Sitzen
des Kindes, wenn es sich aus eigener Kraft aufsetzen oder hinsetzen kann, ohne dabei
jegliche Unterstützung von außen zu bekommen oder sich mit Händen oder dem Rücken
abstützen muss. 57
Abb.6: Sitzen (10 Monate) Foto: M.Brandstätter
7. Der Kniestand
Im Kniestand befindet sich das Kind, wenn es seinen Rumpf aufgerichtet hat und über
den Knien ausbalanciert, die Füße und Zehen unterstützen das Kind hierbei. Der Kopf ist
in dieser Position aufrecht gehalten. Am Anfang hält sich das Kind womöglich noch mit
den Händen fest, schließlich lernt es aber freihändig zu knieen. 58 Vom Kniestand aus
kann das Kind abwechselnd seine Knie belasten und auch so kann es zu einer
Vorwärtsbewegung gelangen. Meistens setzt sich das Kind auf seine Fersen, und
verlagert auf diese Weise sein Gleichgewicht auf sein Gesäß. Würde das Kind an einem
stabilen Gegenstand Halt suchen, könnte es sich aufrichten und sich später wieder in den
Kniestand zurück begeben. Würde das Kind in den „Ein - Bein Kniestand gelangen, würde
es sich auf das am Boden befindliche Knie abstützen. 59
57� Vgl. ebd.58� Vgl. ebd.59� Vgl. Pikler (2001), S. 213ff
26Seite von 49
Abb.7: Kniestand (12 Monate) Foto: M.Stücklschweiger
27Seite von 49
8. Vom Stehen bis hin zum ersten Schritt
Die ersten Versuche des Stehens sind meistens zeitgleich mit dem Aufsetzen des Kindes
zu beobachten. Ein Kind steht, wenn es sich teilweise oder ganzheitlich über seinen
Fußsohlen ausbalanciert und aufgerichtet hat. Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren,
hält sich das Kind am Beginn noch fest. In dieser Position übt es noch das Beugen und
Strecken der Knie und Hüftgelenke. Das Kind steht zuerst einmal mit breiten Beinen „da“,
die Knie und Hüftgelenke sind ein wenig gebeugt, die Füße sind hier leicht nach außen
gestellt. Die Füße richten sich erst nach vorne, wenn es die Knie- und Hüftgelenke
gestreckt hat und die Beine schließen kann. 60 Wenn das Kind von selbst aufstehen und
sein Gleichgewicht halten kann, und in dieser Position seine Arme, Beine, seinen Rumpf
und Kopf frei bewegen kann, dann spricht man davon, dass das Kind stehen kann. Aus
dem Stehen heraus kann das Kind sich in die Position des Hinhockens und Hinkniens
begeben oder auch in den Bärenstand, sich aufsetzen und aufstehen. Das Stehen selbst
übt das Kind von Mal zu Mal, auch dies braucht seine Zeit. 61 Beim Üben der Position hält
sich das Kind immer weniger fest. Hat es die Sicherheit erlangt, probiert es die ersten
Schritte auf die Seite. Immer noch hält es sich zu dieser Zeit an festen Gegenständen fest.
Zu diesem Zeitpunkt hält sich das Kleinkind trotzdem noch sehr gerne zum Spielen auf
dem Boden auf, da es sich in dieser Position schon weitaus sicherer fühlt und die Hände
frei zum Spielen hat. 62
(a) (b)Abb.8: Stehen mit Festhalten, (a) 13 Monate, (b) 16 Monate; Foto: M. Stücklschweiger
60� Vgl. Pikler (2001), S. 229ff61� Vgl. ebd.62� Vgl. ebd.
28Seite von 49
Allmählich benötigt das Kind nicht mehr die Hilfe eines festen Gegenstandes, um sich
aufzustellen, es richtet sich aus der Position des Krabbelns über den Bärenstand zum
Stehen auf. Das Kind beginnt zu gehen, wenn es seinen Rumpf aufrichtet, und sein
Gleichgewicht bei jedem Schritt auf den einen und dann wieder den anderen Fuß
verlagert. Es wird auch dann vom selbstständigen Gehen gesprochen, wenn das Kind aus
eigener Initiative eine Treppe hinauf und hinunter steigen kann. Anfangs wird es immer mit
Nachstellschritten gehen, wenn es dann sicherer ist, wird es Schrittwechsel anwenden.
Die ersten freien Schritte des Kindes erfolgen meistens breitbeinig mit sehr kleinen
Schritten. Oftmals finden die ersten autonomen Schritte mit einem Spielzeug in der Hand
statt, als würde es ihm die Sicherheit verschaffen, daran Halt zu finden . 63 Wenn das Kind
problemlos seine Richtung ändert oder stehen bleibt, und mit einer Leichtigkeit weitergeht,
um sein gewünschtes Ziel zu erreichen ohne sich ausschließlich auf seine Schritte zu
konzentrieren, erst dann spricht man wirklich davon, dass das Kind frei und sicher gehen
kann. 64
Abb.9: Freies Gehen (17 Monate); Foto: M. Stücklschweiger
63� Vgl. Pikler (2001), S. 230f64� Vgl. ebd.
29Seite von 49
Abb.10: Zusammenfassender Verlauf der selbstständigen Bewegungsentwicklung 65
Pikler Spielraum und Material
Damit sich die Kinder möglichst unabhängig und frei bewegen konnten, wurde ihnen eine
Umgebung geschaffen, die ihnen den notwendigen Rahmen dazu gab. Dabei sollte die
Umgebung den Forschungsdrang des Kindes unterstützen und entsprechend der
Entwicklungsebene angepasst sein. Das bedeutete, dass die Entwicklungsebene der
Raum war, in dem sich die Säuglinge und Kleinkinder gemeinsam aufhielten, spielten,
lernten und sich entfalteten. Gerade im motorischen Bereich gabt es eine
Entwicklungsspanne von bis zu 36 Monaten, in der die Kinder vor allem motorisch
verschiedene Bewegungsformen durchliefen. Der Spielraum war eine Art (Selbst-)
65� Vgl. Pikler (2001), S. 35
30Seite von 49
Erfahrungsraum, in dem sich die Säuglinge entwickelten und bewegten; in der ersten
Entwicklungsphase häufig auf dem Boden liegend, robbend oder krabbelnd. Dort erlernten
aber auch Kinder das Gehen und Laufen. Somit war es wichtig, den Raum für die
unterschiedlichen Entwicklungsbedürfnisse abzutrennen und entwicklungsgemäß zu
gestalten, wenn die Kinder in nur einem Raum beobachtet werden konnten. 66
Um die Räume ein wenig abzutrennen, verwendete man in der Pikler - Pädagogik
sogenannte Spielgitter, die dabei halfen, einzelne Bereiche im Spielraum abzutrennen. So
konnte man durchaus für Säuglinge, die noch hauptsächlich auf dem Boden lagen, einen
geschützten Bereich schaffen. Es ging aber nicht nur vorwiegend um den Schutz, der
dadurch für die Kleinsten geschaffen wurde, sondern vielmehr auch darum, dass sich die
Kinder, die einen größeren Bewegungsradius brauchten, frei bewegen konnten, ohne
ständig von den Kleinen behindert zu werden. Selbst der Wickeltisch war mit einem Gitter
umrahmt, welches dem Kind auf der einen Seite den Schutz gab, nicht hinunter zu fallen,
auf der anderen Seite unterstützte der Wickelaufsatz das Kind, sich in die gewünschte
Körperposition zu bringen, in der es „ohne Gefahr“ gewickelt und gepflegt werden mochte.
Der Wickelaufsatz unterstützte das Kind somit in seiner Selbstwirksamkeit und
Eigenständigkeit. 67
Der Spielraum sollte im allgemeinen als Orte dienen, an dem sich Kinder wirklich frei
entfalten konnten, wofür sie Lust hatten und wozu sie in ihrer Entwicklung auch bereit
waren. Im Allgemeinen war der Pikler Spielraum ein vorbereiteter Raum, in dem Kinder
weder in ihrem Spiel maßgeregelt, noch angeleitet wurden. Im Spielraum hatten Eltern von
Anfang an die Möglichkeit, ihre Kinder als eigenständige Person zu erleben. 68
Aus einem inneren Impuls heraus wendeten sich die Kinder irgendwann dem Material zu,
das sie interessierte. Eine eigene Entscheidung treffen zu können ist eine wesentliche
Erfahrung, von der jeder Mensch in seinem Leben profitiert. Diese Selbstbestimmtheit
offenbarte die individuelle Kreativität jedes Kindes, ist eine Herangehensweise, die das
Selbstgefühl und die persönliche Zufriedenheit stärkte. Kinder lernten Ausdauer zu
entwickeln, sich konzentriert auf Prozesse einzulassen, flexibel mit Schwierigkeiten
66� Vgl. Pikler (2013), S. 21f67� Vgl. Pikler (2013), S. 21ff68� Vgl. Steinschulte (2011), S. 77f
31Seite von 49
umzugehen und die eigene Wirksamkeit zu erfahren. Dadurch wurden sie geschickter,
sicherer und lernten sich gut einzuschätzen. Im vorbereiteten Raum fand das Kind die
nötige Sicherheit und Ruhe, die es brauchte, um sich in ein Spiel vertiefen zu können. Die
Eltern dienten als Beobachter und gaben ihrem Kind ein Gefühl der Sicherheit und wurden
als wichtige Bezugsperson gesehen, wenn es Hilfe wirklich brauchte. 69
Nachdem für Emmi Pikler die Autonomie, Individualität und Persönlichkeitsentfaltung des
Kindes an erster Stelle stand, sollte das Spielmaterial so angeboten werden, dass sich die
Kinder selbst damit auseinandersetzen konnten, ohne auf die Unterstützung des
Erwachsenen angewiesen zu sein. Material zum Spielen könnte dem Säugling ab dem
dritten Lebensmonat angeboten werden. Die Sicherheit, welches Material ausgesucht
wird, spielte eine wichtige Rolle, nachdem die Säuglinge anfangs sehr viel Material mit
dem Mund ertasteten und erforschten. Somit waren einfache Gebrauchsgegenstände wie
Dosen, Körbe oder Papprollen sehr gut als Spielsachen geeignet. Auch gab es
spezifisches Pikler- Spielmaterial wie zum Beispiel bunte kleine Tücher, Filz - oder
Weidenbälle.70
69� Vgl. Steinschulte (2011), S. 77f70� Vgl. Pikler, (2013), S. 24f
32Seite von 49
Abb.11: Spielraum und Materialien Foto: M. Stücklschweiger
33Seite von 49
Der Kinderärztin war es von großer Bedeutung, das Spielfeld der Kinder überschaubar zu
halten. Das Spielmaterial sollte immer wieder aufs Neue geordnet werden. Nachdem sich
das Kind eine gewisse Zeit mit dem Material beschäftigte, sollte man als Erwachsener
beobachten, wann ein Gegenstand für das Kind uninteressant wurde.
Dann sollte das Material in gewissen Abständen neu geordnet oder durch neue Impulse
ersetzt werden. Wichtig ist dennoch, dass den Kindern genug Zeit gegeben wurde, um
sich in Ruhe mit einem Gegenstand oder Material zu beschäftigen. 71
Beobachtungsergebnisse
Die im Lóczy im Rahmen der Beobachtungsstudie von Emmi Pikler gewonnenen Daten
werden in die bereits im Kapitel 4 beschriebenen 10 Bewegungsentwicklungsphasen des
Kleinkindes aufgeteilt:
1. Es dreht sich von der Rückenlage auf die Seite (und zurück).
2. Es dreht sich von der Seite auf den Bauch.
3. Es dreht sich vom Bauch wieder zurück in die Rückenlage.
4. Es kriecht auf dem Bauch.
5. Es krabbelt auf den Knien und Händen.
6. Es setzt sich auf.
7. Es richtet sich zum Kniestand auf und lässt sich wieder nieder.
8. Es steht auf und lässt sich wieder nieder.
9. Es fängt an die ersten freien Schritte freihändig zu gehen.
10. Es geht frei und sicher. 72
71� Vgl. Pikler, (2013), S. 24f72� Vgl. Pikler, (2001), S. 36ff
34Seite von 49
In den folgenden Abbildungen 12 – 14 wird ein umfassenderer Überblick über das
Erreichen der einzelnen Stufen der Bewegungsentwicklung in Abhängigkeit vom Alter der
Kleinkinder dargestellt.
Betrachtet man in Abb. 12 die ersten drei Bewegungsentwicklungsstufen, so erkennt man,
dass sich drei von vier Kindern ohne Hilfestellung einer Pflegerin nach 32 Wochen vom
Rücken auf den Bauch und wieder zurück drehen können. 90% der Kinder haben nach 23
W o c h e n d i e B e w e g u n g s e n t w i c k l u n g s s t u f e 1 , n a c h 3 0 W o c h e n d i e
Bewegungsentwicklungsstufe 2 und nach 37 Wochen die Bewegungsentwicklungsstufe 3
erreicht. Aus dem Diagramm ist auch die kontinuierliche Reihenfolge der einzelnen
Entwicklungsstufen erkennbar. 73
Abb. 12: Die prozentuelle Verteilung des Alters, in dem die Bewegungsentwicklungsstufen „dreht sich auf die Seite“ (Stufe 1), „dreht sich auf den Bauch“ (Stufe 2) und „dreht sich vom Bauch zurück“ (Stufe 3) erreicht wurden. (modifiziert M. Stücklschweiger)
Der zeitliche Verlauf der drei Bewegungsentwicklungsstufen 4 bis 6 ist in Abb. 13
dargestellt. Hier fällt auf, dass die Bewegungsentwicklungsstufen 5 („krabbelt auf den
Knien und Händen“) und 6 („setzt sich auf“) bei den untersuchten Kindern mit geringen
Schwankungen nahezu zeitgleich erfolgt. 90% der Kinder haben nach 47 Wochen die
Bewegungsentwicklungsstufe 4, nach 55 Wochen die Bewegungsentwicklungsstufe 5 und
nach 54 Wochen die Bewegungsentwicklungsstufe 6 erreicht.
Abb. 13: Die prozentuelle Verteilung des Alters, in dem die Bewegungsentwicklungsstufen „kriecht auf dem Bauch“ (Stufe 4), „krabbelt auf Knien und Händen“ (Stufe 5) und „setzt sich auf“ (Stufe 6) erreicht wurden. (modifiziert Marlies Stücklschweiger)
73� Vgl. ebd.
35Seite von 49
Auch bei Entwicklungsstufen 7 bis 10 ist eine kontinuierliche Reihenfolge der einzelnen
Stufen erkennbar (Abb. 14). 90% der Kinder haben nach 54 Wochen die
Bewegungsentwicklungsstufe 7 („richtet sich zum Kniestand auf“) und nach 60 Wochen
die Bewegungsentwicklungsstufe 8 („steht auf“) er re ich t . Auch be i de r
Bewegungsentwicklungsstufe 7 ist erkennbar, dass es hier teilweise eine zeitliche
Überschneidung mit den Bewegungsentwicklungsstufen 5 und 6 gibt. Das bedeutet, dass
die Entwicklungsstufen „krabbelt auf den Knien und Händen“, „setzt sich auf“ und „richtet
sich zum Kniestand auf“ teilweise parallel erfolgen. Zu erkennen ist auch, dass ausgehend
v o n d e r B e w e g u n g s e n t w i c k l u n g s s t u f e 8 b i s z u m E r r e i c h e n d e r
Bewegungsentwicklungsstufen 9 und 10 die größte Zeitspanne benötigt wird. 90% der
Kinder haben nach 80 Wochen die Bewegungsentwicklungsstufe 9 („unternimmt erste
freie Schritte“) und nach 84 Wochen die Bewegungsentwicklungsstufe 10 („geht sicher“)
erreicht.
Abb. 14: Die prozentuelle Verteilung des Alters, in dem die Bewegungsentwicklungsstufen „richtet sich zum Kniestand auf“ (Stufe 7), „steht auf“ (Stufe 8), „unternimmt erste freie Schritte“ (Stufe 9) und „geht sicher“ (Stufe 10) erreicht wurden. (modifiziert Marlies Stücklschweiger)
Um einen noch besseren Gesamtüberblick zu erhalten, ist das Ergebnis über die
d u r c h s c h n i t t l i c h e z e i t l i c h e A n e i n a n d e r - F o l g e d e r g e n a n n t e n
Bewegungsentwicklungsphasen in Abb. 5 dargestellt:
36Seite von 49
Abb. 15.: Charakteristische Bewegungsphasen in Abhängigkeit vom Lebensalter der Kleinkinder (N=591).
Die untersuchten Kinder fingen im Durchschnitt mit 17 Wochen an, sich zur Seite und mit
24 Wochen auf den Bauch zu drehen. Mit durchschnittlich 29 Wochen haben die Kinder
gelernt, sich vom Bauch auf den Rücken zu drehen und mit 39 Wochen fingen sie an, auf
dem Bauch zu kriechen. Mit Knien und Hände zu krabbeln begannen sie mit 44 Wochen
und begannen sich in der gleichen Woche aufzusetzen. Die ersten freien Schritte wurden
mit 66 Wochen unternommen und mit durchschnittlich 72 Wochen gingen sie sicher.
In der Grafik erkennt man auch, dass die Standardabweichungen von den
Durchschnittswerten bis zum Ende der untersuchten Entwicklungsstufen immer größer
werden. Während die Abweichungen für den Zeitpunkt des Drehens auf die Seite +/- 4,6
Wochen, also im Ganzen 9 Wochen betrug, lagen die Abweichungen für den Zeitpunkt
des sicheren Gehens im Ganzen bei 24 Wochen, dh. insgesamt bei einem halben Jahr.
Die untersuchten 591 Kinder hatten alle ein normales Geburtsgewicht von über 2,5 kg.
Emmi Pikler untersuchte auch den Einfluss des Geburtsgewichtes auf die
Entwicklungsdaten. Zu diesem Zweck wurde die freie Bewegungsentwicklung für drei
unterschiedliche Gewichtsklassen (≤ 2kg, 2kg – 2,5kg, > 2,5kg) analysiert. In der
nachfo lgenden Abb i ldung werden be isp ie lha f t d ie Ergebn isse fü r d ie
Bewegungsentwicklungsstufe 3 „sich auf den Bauch drehen“), 6 („setzt sich auf“) und 9
(„erste freie Schritte“) dargestellt.
37Seite von 49
Abb.16 a,b,c: Verteilungskurven für Bewegungsentwicklungsstufe 3 (a), 6 (b) und 9 (c) gruppiert nach drei unterschiedlichen Geburtsgewichtsklassen.
Es ist deutlich zu erkennen, dass beide Gruppen die vom Normalgewicht abweichen,
einen deutlichen Rückstand im Vergleich zur Gruppe der Kleinkinder mit Normalgewicht
besitzen. Während der Rückstand der Gruppe mit einem Geburtsgewicht größer als 2kg
und kleiner 2,5kg einen nahezu gleichmäßigen durchschnittlichen Rückstand von 3-4
Wochen besitzen, bleiben die Kinder mit einem Geburtsgewicht von weniger als 2kg mit
zunehmendem Alter im Laufe ihrer Bewegungsentwicklung immer mehr hinter der Gruppe
mit normalem Geburtsgewicht zurück. In Abbildung 16 c ist zu erkennen, dass für diese
Gruppe die Verzögerung der Bewegungsentwicklung für die „ersten freien Schritte“ bis zu
17 Wochen betragen kann. Die Studie zeigt eindrucksvoll, dass jedes Kind sein
individuelles Tempo in seiner Bewegungsentwicklung besitzt.
38Seite von 49
In Tabelle 1 werden Vergleiche der auf Basis der autonomen Bewegungsentwicklung von
Emmi Pikler erhaltenen Ergebnisse mit Ergebnissen anderer Studien aufgezeigt.
Tabelle 1: Vergleich der Ergebnisse unterschiedlicher Studien über den zeitlichen Verlauf
der Bewegungsentwicklung. 74
* Beim Vergleich wurden die von den Studienautoren angegebenen Kindesalter auf volle Wochen gerundet.** Aufsetzen aus der Bauchlage
Die Studie von Gesell75 zeigt bei den Bewegungsentwicklungsstufen 2, 6 und 9 gute
Übereinstimmung beim erhobenen zeitlichen Verlauf. Auch die Studie von Illingsworth für
die Bewegungsentwicklungsstufen 4 und 5 zeigt eine Übereinstimmung. Auch die Daten
der Studie von Bühler/ Hetzer weichen mit Ausnahme der Bewegungsentwicklungsstufe 1
nur geringfügig von den Piklerdaten ab. Bei Heranziehung aller Studienergebnisse ist aber
zu erkennen, dass nur zwei Bewegungsentwicklungsstufen im Lóczy später auftraten als
in den hier verglichenen Studien. Dabei handelt es sich um das „Zurückdrehen vom
Bauch auf den Rücken“ und „das Aufstehen“. Als mögliche Ursache wird von Emmi Pikler
angeführt, dass im Lóczy das Drehen vom Bauch auf den Rücken erst dann erfolgte,
nachdem sich das Kind schon vom Rücken auf den Bauch drehen konnte. Die
Verzögerung beim Aufstehen könnte darauf basieren, dass den Kindern in Lóczy eine sehr
große Krabbelfläche zur Bewegungsfreiheit zur Verfügung stand.
Kinder, die in den ersten Lebensjahren außerhalb ihrer Familien aufwachsen, leiden für
gewöhnlich an spezifischen Persönlichkeitsstörungen. Sie zeigen Oberflächlichkeit in ihren
sozialen Kontakten und zeigen Schwierigkeiten darin, ihren Affekt zu zügeln. Von der
74� Vgl. Pikler, (2001), S. 41; modifiziert M. Stücklschweiger75� Vgl. Gesell/Amatruda (1964), Zit. nach Pikler, (2001), S. 41
39Seite von 49
Arbeitsgemeinschaft des Psychologischen Instituts der Ungarischen Akademie wurde eine
Nachuntersuchung von dreißig zufällig gewählten Kindern, die das Lóczy verlassen hatten,
durchgeführt. Bei keinem dieser Kinder konnten Spätsymptome des Hospitalismus
nachgewiesen werden. 76
Die Entwicklung von Persönlichkeit und die Fähigkeit zur sozialen Bindung verlief bei allen
im Kinderheim Lóczy betreuten Kindern zufriedenstellend. Unter einhundert anderweitig
Untersuchten gab es zum Zeitpunkt der Untersuchung weder Arbeitsunwillige noch
Kriminelle. 77
Schlussfolgerung (Resümee)
Schon ganz am Anfang seines Lebens macht der Säugling die Erfahrung, dass er durch
sein Handeln in seinem Umfeld etwas bewirken kann. Wird den Kindern die Zeit für die
Pflege, beim Spielen und für ihre Bewegung gegeben, nimmt die Bewegungsentwicklung
in den ersten Lebensjahren ihren natürlichen Gang und jedes Kind lernt aus eigener Kraft
die Grundelemente der Bewegung. Wichtig ist es, dass ihm jene Zeit eingeräumt wird, die
es benötigt, um eine neu erlangte Bewegungsentwicklungsstufe so lang zu erproben, bis
es sich selbst etwas Neues zutraut. Jedes Kind hat sein individuelles Tempo in seiner
Bewegungsentwicklung.
Der Erwachsene ist unbewusst an sich selbst orientiert. Alles, was das Kind betrifft, wird
nach eigenen Vorstellungen beurteilt. Der Erwachsene fühlt sich dadurch verpflichtet, das
Kind mit seinen Betrachtungsweisen zu konfrontieren und sieht das Kind als Wesen, dem
man jede Tätigkeit abnehmen muss. Der Erwachsene ist das Vorbild und macht keine
Fehler. Jede Abweichung von der vom Erwachsenen festgelegten Norm gilt als
problematisch. Auf diese Weise wird die Persönlichkeit des Kindes immer mehr
eingeschränkt.
76� Vgl. Pikler (2001)77� Vgl. ebd, S24f.
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Es muss den Erwachsenen bewusst sein, dass auch nur eine geringe Lageveränderung
für den Säugling einen Gleichgewichtsverlust darstellt und deshalb sein Gleichgewicht so
lange geübt werden muss, bis es sich in der neuen Position sicher und beweglich fühlt. 78
Eine Beschleunigung des Entwicklungsprozesses ist daher nicht sinnvoll. Die
Erwachsenen können die Kinder als Bezugspersonen in ihrer Entwicklung begleiten. Sie
sollten die Aufgabe eines Beobachters einnehmen. Wünscht das Kind Unterstützung, wird
es sich von selbst an die Eltern wenden. Die Aufgaben der erwachsenen Bezugsperson
sind dabei: Raum-Geben, Vertrauen-Schaffen, Bereitschaft-Zeigen, Beobachten und
Führen.
Das bedeutet aber auch für die Erwachsenen, das Kind nicht zu animieren, anzuspornen
oder in seiner Bewegungsentwicklung anzutreiben. Es besteht dabei die Gefahr, den
Säugling bzw. das Kleinkind in eine Bewegungsunsicherheit zu bringen. Die „Absicht“ des
Erwachsenen dem Kind zu helfen, würde dem Kind die Freude am selbstständigen
Gelingen rauben.
Die Rahmenbedingungen für das Kind sollen dabei so gestaltet sein, dass es vor
möglichen Gefahren geschützt und in allen Situationen über volle Bewegungsfreiheit
verfügt. Die Gestaltung der sachlichen Umwelt ist an den Entwicklungsstand des Kindes
anzupassen. „Umgebung bedeutet für das Kind alles, worauf es mit seinem ihm zur
Verfügung stehenden Mitteln wirken kann, um seine Bedürfnisse zu befriedigen“ (Pikler
2005, S.40).
Für die Bewegungsfreiheit ist es auch von großer Bedeutung, dass seine Kleidung
bequem und funktional ist. Heute ist es leider oft so, dass Mütter gerne einem gewissen
Modetrend bei Kindern nachgehen, welcher dann zum Ergebnis führt, dass den Kindern
oftmals ungeeignete, zu enge Kleidung angezogen wird, um möglichst schick auszusehen.
Aber Kinder sollen durch zu enge und unpraktische Kleidung (Gürtel, Hemden,
Strumpfhosen etc.) nicht in ihrer Bewegungsfreiheit und ihrer Selbstständigkeit
eingeschränkt werden.
78� Vgl. Pikler, (2013), S. 16
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Emmi Pikler erkannte auch, dass Kinder, die sich jede Bewegung bis ins kleinste Detail
selbst erarbeitet hatten, ein weitaus besseres Gleichgewicht und ein sehr genaues
Körperbewusstsein entwickelten. Die Bewegungsabläufe waren harmonischer und die
Kinder insgesamt zufriedener. Da sich die Kinder die Ziele selbst setzten und nicht von
Erwachsenen angeleitet wurden, erlebten die Kinder seltener einen Misserfolg. Sie
bewegten sich viel geschickter als andere Kinder und konnten sich selbst besser
einschätzen.
Für die Persönlichkeitsbildung des Kindes ist der Aufbau einer stabilen persönlichen
Beziehung zwischen dem Kind und einer festen Bezugsperson im Sinne einer
beziehungsvollen Pflege wichtig. Jedes Kind soll sich als Person anerkannt und
angenommen fühlen. Damit kann das Kind seinem individuellen Entwicklungstempo
gemäß ein Bewusstsein über sich und seine Umgebung und damit Kompetenz
entwickeln.79
R. Whight (1959) definiert Kompetenz als „Fähigkeit eines Organismus, wirkungsvoll in
Beziehung mit seiner Umgebung zu treten“. Durch die täglichen Erfahrungen kann das
Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die eigene Wirkungsmöglichkeit geschwächt
oder verstärkt werden. Dies hat eine grundlegende Wirkung auf die Tätigkeit der Kinder,
ihr Verhalten und ihre Ziele, sowie die gesamte Struktur ihrer späteren Persönlichkeit. 80
Die Ergebnisse der Beobachtungsstudie von Emmi Pikler, die im Wesentlichen auf
Autonomieentwicklung und Beziehungsqualität beruhen, zeigen eindeutig, dass Kinder
sämtliche Bewegungsformen von alleine und ohne Zutun der Erwachsenen versuchen und
eigenständig üben, wenn man ihnen genügend Zeit dafür gibt. Die beobachtete
Bewegungsentwicklung der Kinder ist kontinuierlich. Der zeitliche Ablauf der Entwicklung
ist individuell verschieden.
Auch für Frühgeborene und mit Untergewicht geborene Kinder wurde die autonome
Bewegungsentwicklung bestätigt. Diese Gruppe erreicht jedoch die einzelnen
79� Vgl. Lorber,(2008), S.7280� Vgl. Wight (1959), Zit. nach Pikler, (2001), S. 166f
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Bewegungsentwicklungsstufen gegenüber der Gruppe mit Normalgeburtsgewicht zeitlich
verzögert.
Vergleiche mit anderen Studien mit nicht autonomer Bewegungsentwicklung zeigen
teilweise ähnliche Ergebnisse. Mit Ausnahme von zwei Bewegungsentwicklungsstufen
(„Zurückdrehen vom Bauch auf den Rücken“ und „das Aufstehen“) traten keiner der
Bewegungsentwicklungsstufen im Lóczy später auf als in diesen Vergleichsstudien.
Als mögliche Ursache für die beiden Abweichungen wird von Emmi Pikler angeführt, dass
im Loszy das Drehen vom Bauch auf den Rücken erst dann erfolgte, nachdem sich das
Kind schon vom Rücken auf den Bauch drehen konnte. Die Verzögerung beim Aufstehen
könnte darauf basieren, dass den Kindern in Lóczy eine sehr große Krabbelfläche zur
Bewegungsfreiheit zur Verfügung stand.
Meine Hypothese, dass „Kinder, denen die Möglichkeit gegeben wird, sich aus eigener
Initiative zu bewegen, die einzelnen Entwicklungsschritte der Bewegung von selbst lernen,
die Kinder aktiv und freier sind und eine optimale Voraussetzung haben, ihre eigene
Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen “ konnte damit bestätigt und die
Forschungsfrage „Wie verläuft die Bewegungsentwicklung von Säuglingen und
Kleinkindern, auf Grundlage deren Eigeninitiative ohne förderliche Einflussnahme?“
beantwortet werden.
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Zusammenfassung
Die Pädagogik von Emmi Pikler basiert auf den Grundlagen von Wertschätzung, Respekt
und Achtsamkeit gegenüber dem Säugling von Geburt an. Sie vertraut auf seine
eigenständige Entwicklungsfähigkeit und dass der Erwerb motorischer Fähigkeiten von der
geistigen Reife des Kindes abhängig ist. Die Persönlichkeit eines Kindes kann sich nur
dann entfalten, wenn man dem Kind auch die Möglichkeit gibt, seinen eigenen Impulsen
folgen zu können. Das Kind weiß selbst am besten wann es bereit ist, neue
Entwicklungsschritte zu tun. Durch Üben und Probieren lernt es selbstständig
Schwierigkeiten zu überwinden. Die gemachten Erfahrungen sind ausschlaggebend für
eine kontinuierliche, selbstständige und freie Bewegungsentwicklung und bilden auch die
Grundlage für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes. Eine aktive Förderung, „welche
die vielen notwendigen Übergangsstufen verkennt, läuft Gefahr, den Säugling in eine
Bewegungsunsicherheit zu bringen, die zu muskulären Verspannungen,
Haltungsschäden, Fußdeformitäten oder Ähnlichem führen kann“ 81
Als Rahmenbedingungen für eine selbstständige Bewegungs- und Persönlichkeits-
entwicklung spielt einerseits der Aufbau einer stabilen Bindung zu einer Bezugsperson
bzw. einigen wenigen Erwachsenen und andererseits eine den momentanen Bedürfnissen
und Bestrebungen des Kindes entsprechende angebotene Umgebung eine wichtige Rolle.
Erst das Gefühl der Geborgenheit ermöglicht dem Kind das eigene Interesse zu verfolgen
und damit kann es im eigentlichen Sinn lernen, das Gelernte in seine Persönlichkeit zu
integrieren.
81� Vgl. Aly (2011), S. 13
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Auf Basis von systematischen Beobachtungen und Erfahrungen im Kinderheim Lóczy
wurde die selbstständige Bewegungsentwicklung in 10 Bewegungsentwicklungsphasen
aufgeteilt. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass bei entsprechenden
Rahmenbedingungen sämtliche Bewegungsformen von alleine und ohne Zutun der
Erwachsenen eigenständig erlernt werden, wenn man ihnen genügend Zeit dafür gibt. Die
beobachtete Bewegungsentwicklung der Kinder verlief kontinuierlich und war individuell
verschieden.
Meine Hypothese, dass „Kinder, denen die Möglichkeit gegeben wird, sich aus eigener
Initiative zu bewegen, die einzelnen Entwicklungsschritte der Bewegung von selbst lernen
die Kinder aktiv und freier sind und eine optimale Voraussetzung haben, ihre eigene
Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen “ konnte damit bestätigt und die
Forschungsfrage „Wie verläuft die Bewegungsentwicklung von Säuglingen und
Kleinkindern, auf Grundlage deren Eigeninitiative ohne förderliche Einflussnahme?“
beantwortet werden.
Gerade als junge Mutter war ich besonders bestrebt, die Bewegungsentwicklung meines
Kindes bewusst zu fördern. Um Kindern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen,
sollten wir vor allem in dieser besonderen Zeit behutsam und wertschätzend mit ihnen
umgehen. Durch meine Bachelorarbeit hat sich nicht nur meine Einstellung bezüglich der
generellen Kindererziehung verändert, sondern auch der Umgang mit meinem eigenen
Kind. Ich persönlich beziehe meinen Sohn nun noch mehr in meinen Alltag mit ein,
beobachte wie er sich mit seiner Umgebung auseinandersetzt und achte auf einen
respektvollen Umgang im Bezug auf seine eigene Meinung und sein Handeln. Ich finde es
sehr schön, wie mir mein Sohn diesbezüglich auf seine Art und Weise Feedback gibt,
denn durch seine Reaktionen und sein Spiegeln kann auch ich wiederum als Mutter
wachsen. Ein wesentlicher Punkt, den ich von meiner Bachelorarbeit als Mutter daher
mitnehme ist, dass man Kindern die freie Entwicklung ermöglichen soll, ihnen liebevoll zur
Seite stehen und seine Kinder als Mutter ins Leben begleiten soll. Vor allem ist es mir
neben der freien Bewegungsentwicklung wichtig, dass sich mein Sohn durch meinen
achtsamen und liebevollen Umgang zu einem selbstständigen Menschen mit hoher
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sozialer Kompetenz entwickelt, damit er später eigenständig und selbstsicher seinen
eigenen Weg durchs Leben findet. So habe ich mir fest vorgenommen, meinen Sohn
weiterhin so anzunehmen wie er ist und ihm geduldig seine Zeit für seine Entwicklung zu
geben, dir er für sich braucht.
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Epilog
An dieser Stelle gilt mein Dank Frau Prof. MAS Birgit Bernhardt für die Betreuung meiner
Bachelorarbeit und Frau Mag. Doris Lepolt, die mir als ausgebildete Pikler Pädagogin
immer mit wertvollen Ratschlägen zur Seite stand und mich mit dem Thema vertraut
gemacht hat.
Ganz besonders bedanken möchte ich mich auch bei meinem Lebenspartner Armin
Pichler, der mich während des Studiums mit Geduld und Hilfsbereitschaft unterstützte.
Ohne unseren liebenswerten Sohn Tristan wäre diese Abschlussarbeit nicht zustande
gekommen. Danke!
Abschließend möchte ich mich im Besonderen von ganzem Herzen bei meinen Eltern
bedanken, dass sie mir das Studium ermöglichten, mich und meine Familie in jeder
Situation unterstützten, mir stets ihre Zeit widmeten wie auch ihre Hilfe anboten und mir
immer ein gutes Vorbild waren und stets bleiben werden.
„Lassen wir also dem Kleinkind die Freiheit mit seiner eigenen Methode und seiner Entwicklung
gemäß seine Umwelt zu erfahren. Drängen wir es nicht. Ermutigen wir es nicht zu Leistungen, für
die es noch nicht reif ist, und wenn ihm etwas gelingt, loben wir es auch nicht übertrieben.
Würdigen wir eher die erreichten Ergebnisse, und nicht nur mit lobenden Worten, sondern auch
in unserem Verhalten.“ 82
Literatur und Quellenverzeichnis
82� Vgl. Pikler (2013), S. 75
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Aly, Monika (2011): Mein Baby entdeckt sich und die Welt, München 2011, Kösel Verlag
Definition- online: Bewegung. http://definition-online.de/bewegung/. Zugegriffen am
19.8.2016
Gilles- Bacciu, Astrid; Heuer, Reinhild (2015): Pikler, Ein Theorie und Praxisbuch für die
Familienbildung, Weinheim und Basel (2015), Beltz Juventa
Hengstenberg-Pikler-Gesellschaft: Emmi Pikler. http://www.hengstenberg-
pikler.de/info/piklerpaedagogik. Zugegriffen am 19.8.2016
Kallo, Eva; Balog, Györgyi (1996): Von den Anfängen freien Spielens, Berlin (1996),
Eberhard Delius
Lorber, Katharina (2008): Erziehung und Bildung von Kleinstkindern, Hamburg (2008),
Diplomica Verlag
Next Healthlab GmbH: Hospitalismus.http://www.gesundheit.de/wissen/haetten-sie-es-
gewusst/krankheiten/seltene-erkrankungen/was-ist-hospitalismus.
Zugegriffen am .22.8.2016
Ostermayer, Edith (2013): Pikler, Pädagogische Ansätze für die Kita, Berlin
(2013),Cornelsen Schulverlage
Petrie, Stephanie ; Owen Sue (2006): Authentische Beziehungen in der
Gruppenbetreuung von Säuglingen und Kleinkindern
Pikler, Emmi (2001): Laßt mir Zeit, Die selbstständige Bewegungsentwicklung des
Kindes bis zum freien Gehen, München (2001), Pflaum Verlag.
Pikler, Emmi (2013): Friedliche Babys- zufriedene Mütter, Freiburg im Breisgau (1982),
Herder Verlag
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Stangl, Werner (2012): Lexikon für Psychologie und Pädagogik. Entwicklung.
http://www.stangl.eu/psychologie/definition/Entwicklung.shtml.
Zugegriffen am 19.8.2016
Stangl, Werner (2012): Lexikon für Psychologie und Pädagogik. Autonomie.
http://lexikon.stangl.eu/1158/autonomie/ Zugegriffen am 22.8.2016
Steinschulte, Angelika (2011): Maria Montessori und Emmi Pikler in Theorie und Praxis,
Frankfurt (2012), Optimus Verlag
Zimmer, Renate (1999): Handbuch der Psychomotorik, Freiburg im Breisgau (1999),
Herder Verlag
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