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AutismusimBeruf - ciando.com · Anschriften der Autoren: Julia Proft, M.Sc. Universität Köln...

Date post: 20-Jun-2019
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Autismus im Beruf Coaching-Manual E-BOOK INSIDE + ONLINE-MATERIAL ARBEITSMATERIAL Proſt • Schoofs • Krämer • Vogeley
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Autismus im BerufCoaching-Manual

E-BOOK INSIDE +ONLINE-MATERIALARBEITSMATERIAL

Proft • Schoofs • Krämer • Vogeley

Proft • Schoofs • Krämer • Vogeley

Autismus im Beruf

Julia Proft • Theresa Schoofs • Katharina Krämer • Kai Vogeley

Autismus im Beruf

Ein Coaching-Manual

Mit E-Book inside und Arbeitsmaterial

Anschriften der Autoren:Julia Proft, M.Sc.Universität KölnKlinik für Psychiatrie und PsychotherapieKerpenerstraße 6250924 Köln

Theresa Schoofs, M.Sc.Universität KölnKlinik für Psychiatrie und PsychotherapieKerpenerstraße 6250924 Köln

Dr.Katharina KrämerUniversität KölnKlinik für Psychiatrie und PsychotherapieKerpenerstraße 6250924 Köln

Prof.Dr.Dr. Kai VogeleyUniversität KölnKlinik für Psychiatrie und PsychotherapieKerpenerstraße 6250924 Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohneZustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme.

Dieses Buch ist erhältlich als:978-3-621-28450-9978-3-621-28456-1 (PDF)

1. Auflage 2017

! 2017 Programm PVU Psychologie Verlags Unionin der Verlagsgruppe Beltz • Weinheim BaselWerderstraße 10, 69469 WeinheimAlle Rechte vorbehalten

Alle Rechte vorbehalten

Illustration: Juliane Pabst, DüsseldorfLektorat: Andrea GlombBildnachweis: Abb. 9.2–9.19, Christian Wittke (MedizinFotoKöln)

Herstellung: Uta Euler

Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de

Inhaltsubersicht

Geleitwort 11Vorwort 13Einführung: Wie Sie dieses Buch nutzen 17

I Grundlagen 19

1 Autismus: Grundlagen 20

2 Autismus im Beruf 23

3 Das Kölner Modellprojekt 31

4 Wege in die Arbeit für Menschen mit Autismus 40Monika Labruier • Michael Bader

II Das Coaching-Manual 57

5 Grundlagen und Vorbereitung 58

6 Beschreibung der einzelnen Sitzungen 65

Ausblick 175

Anhang 177

Literaturverzeichnis 178Hinweise zu den Online-Materialien 183Sachwortverzeichnis 184

Inhaltsübersicht 5

Inhalt

Geleitwort 11Vorwort 13Einführung: Wie Sie dieses Buch nutzen 17

I Grundlagen 19

1 Autismus: Grundlagen 20

1.1 Historische Aspekte 201.2 Störungsbild 201.2.1 Klassifikation von Autismus nach ICD-10 und DSM-5 201.2.2 Prävalenz und Geschlechterverteilung 221.2.3 Psychiatrische Komorbiditäten 22

2 Autismus im Beruf 23

2.1 Berufliche Teilhabe von Menschen mit Autismus 232.2 Autistische Besonderheiten im beruflichen Kontext 232.3 Beschäftigungssituation von Menschen mit Autismus 27

3 Das Kolner Modellprojekt 31

3.1 Das Modellprojekt und seine Partner 313.2 Module des Kölner Modellprojekts 343.3 Kurzvorstellung des Basis-Gruppencoachings 37

4 Wege in die Arbeit fur Menschen mit Autismus 40

Monika Labruier • Michael Bader

4.1 Beschäftigungsformen, Coaching- und Unterstützungs-angebote und deren Finanzierung im Modellprojekt 40

4.1.1 Beschäftigungsformen 404.1.2 Das Coaching- und Unterstützungsangebot und dessen

Finanzierung 424.2 Anwendungsbeispiele aus der Praxis des Modellprojektes 464.2.1 Anwendungsbeispiel 1: Karl K., 28 Jahre 464.2.2 Anwendungsbeispiel 2: Peter P., 55 Jahre 484.2.3 Anwendungsbeispiel 3: Tim T., 41 Jahre 504.2.4 Anwendungsbeispiel 4: Jörg J., 39 Jahre 524.2.5 Anwendungsbeispiel 5: Robert R., 29 Jahre 53

Inhalt 7

II Das Coaching-Manual 57

5 Grundlagen und Vorbereitung 58

5.1 Funktion des Gruppenleiters 585.2 Rahmenbedingungen und Techniken 595.3 Umgang mit schwierigen Situationen 605.4 Vorbereitung auf das Basis-Gruppencoaching 635.5 Beschreibung der einzelnen Sitzungen 64

6 Beschreibung der einzelnen Sitzungen 65

6.1 Sitzung 1: Einführung in das Basis-Gruppencoaching 656.1.1 Begrüßung und Vorstellung des Gruppenleiters 666.1.2 Ablauf der Sitzung 666.1.3 Einführung in das Basis-Gruppencoaching 666.1.4 Hausaufgabe zu Sitzung 2 696.1.5 Ausblick Sitzung 2 und Verabschiedung 706.2 Sitzung 2: Einführung in Autismus-Spektrum-Störungen 716.2.1 Begrüßung und Aktuelles 716.2.2 Ablauf der Sitzung 716.2.3 Einführung in Autismus-Spektrum-Störungen 726.2.4 Hausaufgabe zu Sitzung 3 726.2.5 Ausblick Sitzung 3 und Verabschiedung 736.3 Sitzung 3: Psychoedukation Autismus-Spektrum-Störungen 746.3.1 Begrüßung und Aktuelles 746.3.2 Ablauf der Sitzung 756.3.3 Psychoedukation Autismus-Spektrum-Störungen 756.3.4 Hausaufgabe zu Sitzung 4 776.3.5 Ausblick Sitzung 4 und Verabschiedung 786.4 Sitzung 4: Belastungen und Ressourcen am Arbeitsplatz 796.4.1 Begrüßung und Aktuelles 796.4.2 Ablauf der Sitzung 806.4.3 Belastungen und Ressourcen am Arbeitsplatz 806.4.4 Hausaufgabe zu Sitzung 5 856.4.5 Ausblick Sitzung 5 und Verabschiedung 856.5 Sitzung 5: Pflichten und Rechte am Arbeitsplatz 866.5.1 Begrüßung und Aktuelles 876.5.2 Ablauf der Sitzung 876.5.3 Pflichten und Rechte am Arbeitsplatz 876.5.4 Hausaufgabe zu Sitzung 6 956.5.5 Ausblick Sitzung 6 und Verabschiedung 956.6 Sitzung 6: Rollen und Rollenerwartungen am Arbeitsplatz 966.6.1 Begrüßung und Aktuelles 976.6.2 Ablauf der Sitzung 97

Inhalt8

6.6.3 Rollen und Rollenerwartungen am Arbeitsplatz 976.6.4 Hausaufgabe zu Sitzung 7 996.6.5 Ausblick Sitzung 7 und Verabschiedung 996.7 Sitzung 7: Einführung in die Kommunikation 1016.7.1 Begrüßung und Aktuelles 1016.7.2 Ablauf der Sitzung 1016.7.3 Einführung in die Kommunikation 1026.7.4 Hausaufgabe zu Sitzung 8 1056.7.5 Ausblick Sitzung 8 und Verabschiedung 1056.8 Sitzung 8: Verbale und nonverbale Kommunikation 1066.8.1 Begrüßung und Aktuelles 1076.8.2 Ablauf der Sitzung 1076.8.3 Verbale und nonverbale Kommunikation 1076.8.4 Hausaufgabe zu Sitzung 9 1116.8.5 Ausblick Sitzung 9 und Verabschiedung 1116.9 Sitzung 9: Analyse sozialer Situationen im Beruf – Teil 1 1126.9.1 Begrüßung und Aktuelles 1136.9.2 Ablauf der Sitzung 1136.9.3 Analyse sozialer Situationen im Beruf – Teil 1 1136.9.4 Hausaufgabe zu Sitzung 10 1256.9.5 Ausblick Sitzung 10 und Verabschiedung 1256.10 Sitzung 10: Analyse sozialer Situationen im Beruf – Teil 2 1266.10.1 Begrüßung und Aktuelles 1276.10.2 Ablauf der Sitzung 1276.10.3 Analyse sozialer Situationen im Beruf – Teil 2 1276.10.4 Hausaufgabe zur Sitzung 11 1306.10.5 Ausblick Sitzung 11 und Verabschiedung 1306.11 Sitzung 11: Smalltalk am Arbeitsplatz 1316.11.1 Begrüßung und Aktuelles 1326.11.2 Ablauf der Sitzung 1326.11.3 Smalltalk am Arbeitsplatz 1326.11.4 Hausaufgabe zu Sitzung 12 1356.11.5 Ausblick Sitzung 12 und Verabschiedung 1366.12 Sitzung 12: Soziale Konflikte im Beruf 1376.12.1 Begrüßung und Aktuelles 1376.12.2 Ablauf der Sitzung 1376.12.3 Soziale Konflikte im Beruf 1386.12.4 Hausaufgabe zu Sitzung 13 1406.12.5 Ausblick Sitzung 13 und Verabschiedung 1416.13 Sitzung 13: Mobbing am Arbeitsplatz 1426.13.1 Begrüßung und Aktuelles 1426.13.2 Ablauf der Sitzung 1436.13.3 Mobbing am Arbeitsplatz 143

Inhalt 9

6.13.4 Hausaufgabe zu Sitzung 14 1476.13.5 Ausblick Sitzung 14 und Verabschiedung 1476.14 Sitzung 14: Zeitmanagement und Priorisierung 1496.14.1 Begrüßung und Aktuelles 1496.14.2 Ablauf der Sitzung 1496.14.3 Zeitmanagement und Priorisierung 1506.14.4 Hausaufgabe zu Sitzung 15 1566.14.5 Ausblick Sitzung 15 und Verabschiedung 1566.15 Sitzung 15: Entspannungstechniken 1576.15.1 Begrüßung und Aktuelles 1576.15.2 Ablauf der Sitzung 1576.15.3 Entspannungstechniken 1586.15.4 Hausaufgabe zu Sitzung 16 1626.15.5 Ausblick Sitzung 16 und Verabschiedung 1626.16 Sitzung 16: Wunschthemen der Teilnehmer 1636.16.1 Begrüßung und Aktuelles 1646.16.2 Ablauf der Sitzung 1646.16.3 Wunschthema 1: »Auting« am Arbeitsplatz 1646.16.4 Wunschthema 2: überbetriebliche soziale Anlässe 1656.16.5 Wunschthema 3: Problemsituationen am Arbeitsplatz 1676.16.6 Hausaufgabe zu Sitzung 17 1696.16.7 Ausblick Sitzung 17 und Verabschiedung 1706.17 Sitzung 17: Reflexion des Basis-Gruppencoachings 1716.17.1 Begrüßung und Aktuelles 1716.17.2 Ablauf der Sitzung 1716.17.3 Reflexion des Basis-Gruppencoachings 1716.17.4 Verabschiedung 174

Ausblick 175

Anhang 177

Literaturverzeichnis 178Hinweise zu den Online-Materialien 183Sachwortverzeichnis 184

Inhalt10

Geleitwort

Das LVR-Integrationsamt fördert und unterstützt die Beschäftigung von Menschenmit einer Schwerbehinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Ziel ist es, dass dieschwerbehinderten Menschen in ihrer sozialen Stellung nicht absinken, auf Arbeits-plätzen beschäftigt werden, auf denen sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse vollverwerten und weiterentwickeln können sowie befähigt werden, sich am Arbeitsplatzund imWettbewerb mit Nichtbehinderten zu behaupten (§ 102 Abs. 2 Satz 2 SGB IX).

Insbesondere kümmert sich das Integrationsamt umMenschen mit Einschränkun-gen, die aufgrund von Art und Schwere ihrer Behinderung und gegebenenfalls imZusammenhang mit weiteren vermittlungshemmenden Umständen einen besonderenBedarf an arbeitsbegleitender Betreuung haben. Dies sind insbesondere Menschen mitpsychischen Erkrankungen, geistigen oder körperlichen Behinderungen sowie Per-sonen mit einer Sinnesbehinderung oder Mehrfachbehinderungen (§ 109 Abs. 3 SGBIX).

Für diese Zielgruppen bietet der LVR bereits seit über 30 Jahren die Unterstüt-zungsmöglichkeiten der Integrationsfachdienste (IFD) an, welche für sie sowie fürderen Arbeitgeber arbeitsbegleitende bzw. psychosoziale Beratung und Betreuungbereitstellen.

In den letzten Jahren ist zudem eine verstärkte Nachfrage nach Beratung undUnterstützung von weiteren Personengruppen mit besonderen Unterstützungsbedar-fen und deren Arbeitgebern entstanden, insbesondere aus der Zielgruppe der Men-schen aus dem Autismus-Spektrum sowie von deren Arbeitgebern.

Deswegen hat das LVR-Integrationsamt zusammen mit der Klinik und Poliklinikfür Psychiatrie und Psychotherapie der Uniklinik Köln und dem Leiter der dortetablierten Autismus-Sprechstunde, Herrn Univ.-Prof.Dr.Dr. Kai Vogeley, sowiedem Integrationsunternehmen ProjektRouter gGmbH ein dreijähriges Modell ent-wickelt. Im Rahmen dessen wird einMaßnahmenkatalog für die berufliche Integrationautistischer Menschen in Köln und Umgebung erarbeitet, dokumentiert und wissen-schaftlich untersucht. Zielgruppe des Modells sind alle arbeitsuchenden und berufs-tätigen Personen mit Autismus-Spektrum-Störung und Unterstützungsbedarf ausKöln und Umgebung.

Für autistische Personen besitzt die berufliche Integration einen sehr hohen Stellen-wert. Dies zeigen eindrucksvoll die Erfahrungen an der Klinik und Poliklinik fürPsychiatrie und Psychotherapie der Uniklinik Köln im Rahmen der Autismus-Sprech-stunde für Erwachsene. Bestätigt wird dies vom Wissenschaftlichen Beirat von»Autismus Deutschland« sowie durch die verfügbare internationale wissenschaftlicheLiteratur.

Geleitwort 11

Die in der Kölner Sprechstunde betreuten Personen sind imWesentlichen Erwachsene,die imMittel wenig älter als 30 Jahre sind, durchschnittlich intelligent sind und zu über80 Prozent über eine Berufs- oder Hochschulausbildung verfügen.

Es ist eigentlich zu erwarten, dass die Arbeitslosigkeit bei dieser Gruppe vonvergleichsweise jungen, durchschnittlich intelligenten und gut ausgebildeten Men-schen deutlich unter der bundesdurchschnittlichen Arbeitslosigkeitsrate von 6,4 Pro-zent im Jahr 2015 (Bundesagentur für Arbeit) liegt. Tatsächlich aber ist die Arbeits-losigkeit in der Gruppe autistischerMenschen nach wie vor weit verbreitet. Sie liegt beiüber 40 Prozent.

Diese erste Stichprobe aus der Gruppe autistischer Personen, die die KölnerSprechstunde besucht haben, legt nahe, dass allein das Merkmal der autistischenVerfassung dazu führt, dass die betroffenen Personen trotz guter kognitiver Fähig-keiten und solider Ausbildung bis zu zehnmal so häufig arbeitslos sind wie nicht-autistische Menschen. Spätestens damit wird die berufliche Integration autistischerMenschen zu einer wichtigen Aufgabe für das deutsche Arbeits- und Sozialsystem. Esmüssen insbesondere berufliche Integrationsmaßnahmen entwickelt und verfolgtwerden.

Diesem Ziel dient unser Modellvorhaben »Berufliche Teilhabe von Menschen mitAutismus-Spektrum-Störung«. Das LVR-Integrationsamt ist bestrebt, diese und wei-tere im Rahmen des Modells erarbeitete Unterstützungsleistungen im Rheinlandflächendeckend zu implementieren. Wir hoffen darauf, dass die Ergebnisse desModells auch über die Grenzen des Rheinlandes hinaus genutzt werden und so dieberufliche Teilhabe vonMenschen aus dem Autismus-Spektrum nachhaltig verbessertwird.

Ich freue mich, Ihnen in diesem Buch das im Rahmen des Modellprojektes ent-wickelte und erprobte Manual für ein Gruppencoaching zur beruflichen Teilhabe vonMenschen aus dem Autismus-Spektrum vorstellen zu können.

(LVR, Dezernat Schulen und Integration) Prof.Dr.Angela Faber

Geleitwort12

Vorwort

In den letzten Jahren und wenigen Jahrzehnten ist das öffentliche Interesse anAutismus-Spektrum-Störungen exponentiell angestiegen und bis heute ungebrochen.Menschen mit Autismus machen kulturunabhängig etwa 1 Prozent der Weltbevölke-rung aus. Fernsehen und Radio, Kinofilme, Printmedien und nicht zuletzt zahlreicheBuchpublikationen informieren regelmäßig über Autismus. Diese Darstellungen wer-den zunehmend auch vonMenschenmit Autismus selbst vorgetragen. Das ist auch gutso, weil immer noch ein sehr großes Informationsdefizit vorherrscht. Menschen mitAutismus stoßen bis heute auf erhebliche Missverständnisse und werden wegen ihrerunterschiedlichen Art, mit ihrer Umwelt und mit anderen Personen umzugehen, oftals kaltherzig oder arrogant erlebt. Das ist aber ganz unangemessen.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass es vor allem unbewusst ablaufende Prozessein der Kommunikation mit anderen Menschen sind, in der sich die große Mehrheitvon Nicht-Autisten von Menschen mit Autismus unterscheiden. Der Kern derSchwierigkeiten liegt im Bereich der nonverbalen Kommunikation. Signale wie Ge-sichtsausdruck, Körperhaltung oder Blickverhalten vermitteln nicht-autistischenMen-schen untereinander oft einen reichhaltigen Eindruck von der Verfassung eineranderen Person. Wir benutzen diese Signale ganz überwiegend unbewusst. BeiMenschen mit Autismus ist diese Fähigkeit erheblich erschwert, oder sie fehlt ganz.Da Menschen mit Autismus aber über diese Fähigkeiten nie verfügt haben, ist ihnenauch dieses »Defizit« oder »Anders-Sein« nicht bewusst. Dadurch entsteht eine Formder Kommunikation, bei der ein Partner Signale sendet und entsprechende Antwortenerwartet, der andere aber diese Signale weder wahrnehmen noch beantworten kann.Erschwerend kommt hinzu, dass beide Partner über diese Art der Kommunikation inder Regel nur unbewusst verfügen und daher diese Kommunikationsstörung als solcheauch gar nicht wahrnehmen können. Der nicht-autistische Partner produziert underwartet nonverbale Signale zur sozialen Verständigung ohne aber bewusst dieseSignale zu produzieren oder zu erwarten. Der autistische Partner dagegen ist wederin der Lage, nonverbale Signale zu produzieren noch erwartet er sie, und er ist sichebenfalls nicht bewusst darüber. Entsprechend muss es dann zu gegenseitigen Miss-verständnissen kommen, die von beiden Partnern nicht aufgeklärt werden können.Hier ist also eine erhebliche Aufklärungsarbeit zu leisten.

Wir sprechen in diesem Buch überwiegend vonMenschenmit Autismus. Damit sollzum Ausdruck gebracht werden, dass wir zwar die besonderen Eigenschaften vonautistischen Menschen, die sich beispielsweise auf Besonderheiten in der Interaktionund Kommunikation mit anderen beziehen, herausstellen, aber uns andererseitsbemühen wollen, das Anders-Sein von Menschen mit Autismus in einer nicht wer-tenden Beschreibung zu vermitteln. Damit wird auch dem Bedürfnis von Menschenmit Autismus Rechnung getragen, die sich selbst oft nicht als »gestört« bezeichnen oder

Vorwort 13

bezeichnen lassen wollen. In der Regel muss aber eine medizinisch-psychiatrischeDiagnose einer Autismus-Spektrum-Störung gestellt und gegebenenfalls auch eineanerkannte Schwerbehinderung bestehen, damit überhaupt Unterstützungsmaßnah-men von den Hilfssystemen abgerufen werden können. Da aber für das Ziel derWiedereingliederung nicht die medizinische Versorgung, sondern die möglichstgleichberechtigte Integration von Menschen mit Autismus am Arbeitsplatz im Vor-dergrund steht, halten wir es für angemessen, den Begriff der Störung zu vermeidenund stattdessen den Begriff der Verfassung zu benutzen.

Der Störungsbegriff wird gezielt nur dort eingesetzt, wo er auch auf den medizini-schen Sachverhalt Bezug nimmt. Dermedizinisch-psychiatrische Begriff der »Störung«bezieht sich auf die sogenannten Autismus-Spektrum-Störungen. Befunde der Welt-literatur legen nahe, dass es sich um ein ganzes Spektrum handelt, innerhalb dessenkeine scharfen Grenzen von untergeordneten Störungen gezogen werden können.Entsprechend wurde in der Neufassung der nordamerikanischen Klassifikation psy-chischer Störungen aus dem Jahr 2013 (»Diagnostic and Statistical Manual«, 5. Ver-sion, DSM-5) die Differenzierung in verschiedene Unterformen von Autismus auf-gegeben. Diesem Konzept eines Spektrums autistischer Störungen folgen auch die in2016 in Deutschland veröffentlichten S3-Leitlinien der »Deutschen Gesellschaft fürKinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie« (DGKJP) undder »Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik undNervenheilkunde« (DGPPN).

Im Rahmen unserer eigenen Bemühungen umMenschenmit Autismus im Rahmender an der Kölner Psychiatrischen Universitätsklinik angesiedelten Spezialambulanz»Autismus im Erwachsenenalter« haben wir Menschen mit Autismus nach ihrenWünschen und Bedürfnissen befragt. Im Wesentlichen werden drei Bedürfnissevorgetragen: 1. Verbesserung der eigenen Kompetenzen im Bereich von Interaktionund Kommunikation; 2. Verbesserung der Fähigkeit, mit (sozialem) Stress umzuge-hen; 3. angemessene berufliche Tätigkeit und berufliche Integration. Die beruflicheIntegration ist auch deshalb eine wichtige Aufgabe, weil Menschen mit Autismus beigleicher Bildung, gleichem Alter und gleichem Geschlecht sicher um ein Vielfacheshäufiger arbeitslos sind als Menschen ohne Autismus. Den ersten beiden Aufgabengehen wir in psychotherapeutischen Bemühungen nach. Der dritten Aufgabe widmetsich das vorliegende Buch. Es dokumentiert damit zugleich eine Zusammenarbeitzwischen dem Integrationsdienstleistungsunternehmen »ProjektRouter gGmbH«(Köln) und der Spezialambulanz »Autismus im Erwachsenenalter« der UniklinikKöln seit etwa 2012. Ziel dieser Kooperation ist es, Menschen mit Autismus (wieder)in eine angemessene Erwerbstätigkeit zu vermitteln und diesen Prozess der Integrationoptimal zu unterstützen. Seit 2014 wird diese Kooperation als Modellprojekt vomLandschaftsverband Rheinland (LVR) großzügig unterstützt. In diesem Projekt wer-den nicht nur hochfunktional autistische Menschen oder Menschen mit Asperger-Syndrom unterstützt, sondern alle Menschen mit Autismus, unabhängig von derGrundintelligenz und dem möglichen Vorliegen einer Intelligenzstörung.

Vorwort14

Dieses Buch widmet sich dem Ziel der beruflichen Integration von Menschen mitAutismus. Zu diesem Zweck wird im ersten Teil des Buches die Problemstellungdargestellt, und es wird skizziert, in welcher Weise die einzelnen Merkmale vonAutismus die Berufstätigkeit von Menschen mit Autismus erschweren. Anschließendwird dann das Modellprojekt einschließlich der beteiligten Partnerinstitutionen dar-gestellt und ein Überblick über die verschiedenen, modular angeordneten Bestandteileund Förderinstrumente des Projekts gegeben. Der zweite Teil des Buches macht denHauptteil aus. Er beinhaltet das eigentliche Coaching-Manual, das auf dem Boden dermehrjährigen Vorerfahrungen der Kölner Kooperation entstanden ist. In insgesamt17 Sitzungen werden die Themen Autismus, Rechte, Pflichten und Erwartungen amArbeitsplatz, Kommunikation und soziale Situationen am Arbeitsplatz, Zeitmanage-ment und Entspannungstechniken vermittelt.

Das Buch wendet sich damit an einen breiten Leserkreis, der allen, die mitautistischen Menschen arbeiten und leben, also Arbeitstrainern, Arbeitskollegen, Vor-gesetzten,Mitarbeitern, nicht zuletzt Familienangehörigen, Freunden oder Bekannten,Hilfestellungen zur Verfügung stellen soll, wie eine Integration von Menschen amArbeitsplatz gelingen kann. Unsere Hoffnung ist, dass dieses Buch nicht nurMenschenmit Autismus hilft, ein erfolgreiches Arbeitsleben zu führen, sondern auch dazubeiträgt, das Störungsbild einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, umdamit ein tieferes Verständnis für das Anders-Sein von Menschen mit Autismus zuwecken.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Buch durchgehend nur diemännlicheGeschlechtsform bei Personen benutzt – selbstverständlich sind jedoch immer Frauenund Männer gleichermaßen gemeint.

Danksagung

An allererster Stelle möchten wir den Menschen danken, um die es in diesem Buchgeht, Menschen mit Autismus. Jeder einzelne Kontakt, ob im Rahmen von diagnos-tischen Gesprächen, von Therapie- oder Coaching-Sitzungen oder während derMitarbeit an Forschungsprojekten, hat in den letzten Jahren zur Bereicherung unserereigenen Erfahrungen im Umgang mit Menschen mit Autismus und damit auch zurEntwicklung dieses Buches beigetragen. Wir bedanken uns bei Ihnen für das unsentgegengebrachte Vertrauen und die Offenheit, trotz der häufig schlechten Erfah-rungen mit dem Gesundheitssystem, und dafür, dass sie uns an Ihrem Leben teilhabenlassen. Wir hoffen, dass wir Ihre Hinweise und Ratschläge in diesem Buch IhrenBedürfnissen entsprechend umgesetzt haben.

Wir danken dann ganz besonders den beiden Geschäftsführern von ProjektRoutergGmbH, Frau Monika Labruier und Herrn Dr.Michael Bader, für ihr großes undunermüdliches Engagement für hilfsbedürftige Menschen mit Behinderungen, ihreBegeisterungsfähigkeit und ihren Mut, unkonventionelle Wege zu eröffnen. Trotz des»bürokratischen Dschungels« haben sie immer den Menschen und seine Bedürfnisseim Blick. Dies wäre ohne ein Team von engagierten und kompetenten Arbeitstrainern

Vorwort 15

und geduldigen Verwaltungsmitarbeitern bei ProjektRouter gGmbH nicht möglich.Mit ihnen arbeiten wir seit vielen Jahren erfolgreich zusammen, und wir wollen diesewichtige Arbeit auch so lang wie möglich fortsetzen. Wir danken zugleich demLandschaftsverband Rheinland (LVR) für seine großzügige Unterstützung, die Of-fenheit gegenüber unserer Ideen und die Bereitschaft, diesem Modellprojekt eineChance zu geben. An dieser Stelle gilt unser besonderer Dank Herrn Klaus-PeterRohde und seinen Mitarbeitern, die ebenso engagiert, klug und kompetent mitdenkenund unsere Ideen weiterverfolgen.

Unseren Kollegen aus der Spezialambulanz sind wir ebenfalls sehr dankbar für dievielen Rückmeldungen und Hilfestellungen während des Projekts. Besonders hervor-zuheben ist hier Frau Dr.Dipl.-Psych. Astrid Gawronski, die von Anfang an bis heutewesentlich an der Entwicklung des gesamtenModellprojektes wie auch an diesemBuchbeteiligt ist und uns bei Fragen oder Schwierigkeiten mit ihrem großen Erfahrungs-schatz immer hilfsbereit zur Seite stand. Wir sind allen weiteren Mitarbeitern derUniklinik Köln, die die Spezialambulanz für Autismus im Erwachsenenalter unter-stützen, dankbar, ohne ihre stetige Unterstützung wäre unsere Arbeit nicht möglich.

Zuletzt sind wir allen Personen zu großem Dank verpflichtet, die wesentlich an derGestaltung dieses Buches mitgewirkt haben. Frau Sevim Köroglu und Herr TjorvenBeek, die die in diesem Band fotografisch dokumentierten emotionalen Ausdrückeund Interaktionen dargestellt haben. Die professionellen Fotografien haben dieMitarbeiter von MedizinFotoKöln (MFK) der Uniklinik Köln unter Leitung vonHerrn KaPe Schmidt erstellt. Die (ikono)grafischen Beiträge stammen von FrauJuliane Pabst. Durch das Bild- und Grafikmaterial ist das Buch sicher attraktiver undleichter lesbar geworden. Schließlich danken wir Frau Andrea Glomb für ihre sorg-fältige Lektoratsarbeit an diesem Buch, und nicht zuletzt Frau Dr. Svenja Wahl vomBELTZ-Verlag, mit der wir mit diesem vorliegenden Band nun schon das dritte Buchzum Thema Autismus im Erwachsenenalter gestalten konnten.

Köln, im Sommer 2016 Julia Proft, Theresa Schoofs, Katharina Krämer, Kai Vogeley

Vorwort16

Einfuhrung: Wie Sie dieses Buch nutzen

Dieses Buch richtet sich an einen breiten Leserkreis und beinhaltet wissenschaftlichfundierte Informationen zu Autismus im Beruf sowie ein umfangreiches Coaching-Manual mit vielen praktischen Hinweisen und konkreten Handlungsempfehlungen,die aus der langjährigen Arbeit mit Menschen mit Autismus resultieren. Es ist geeignetfür alle diejenigen, die mit Menschen mit Autismus arbeiten, also Arbeitstrainer,Job-Coaches, Mitarbeiter von Arbeits- und Integrationsämtern, Integrationsunter-nehmen, Werkstätten, Einrichtungen für Betreutes Wohnen, Arbeitgeber, Vorgesetzteund Kollegen autistischer Arbeitnehmer, und natürlich für Menschen mit Autismusselbst und ihre Angehörigen und Freunde. Es richtet sich also an jeden, der mitMenschen mit Autismus lebt oder arbeitet oder sie bei der beruflichen Integrationunterstützt oder dies beabsichtigt.

Das vorliegende Buch gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil werden Hinter-grundinformationen zu Autismus-Spektrum-Störungen und zur Beschäftigungssitua-tion von Menschen mit Autismus gegeben, die die theoretische Grundlage für dieEntwicklung des Manuals darstellen. Außerdem wird das Kölner Modellprojekt, indessen Rahmen dieses Buch entstanden ist, die beteiligten Projektpartner und dieentwickeltenMaßnahmen undModule vorgestellt. DesWeiteren finden sich in diesemTeil Informationen zu verschiedenen Möglichkeiten der beruflichen Integration vonMenschenmit Autismus anhand von konkreten Fallbeispielen aus demKölnerModell-projekt. Der zweite und größte Teil dieses Buches beschreibt das eigentliche Coaching-Manual. Hierbei handelt es sich um ein manualisiertes und strukturiertes Basis-Grup-pencoaching bestehend aus 17 Sitzungen, in denen Menschen mit Autismus Themenvermittelt und in praktischen Übungen erprobt werden, die für eine erfolgreicheTeilhabe am Arbeitsleben erfahrungsgemäß bedeutsam sind. Bei der Erstellung desManuals wurde besonderer Wert auf Klarheit, Übersichtlichkeit und die Umsetz-barkeit der Inhalte und Übungen gelegt, ebenso wie auf die Vermittlung von wichtigenErfahrungswerten und konkreten Handlungsempfehlungen, die insbesondere fürGruppenleiter im Umgang mit Menschen mit Autismus und somit für die praktischenUmsetzung des Basis-Gruppencoachings hilfreich sind.

Zur besseren Lesbarkeit und Übersichtlichkeit der Sitzungen des Basis-Grup-pencoachings sind bestimmte Inhalte grafisch gekennzeichnet. Zu Beginnjeder Sitzung findet sich eine Info-Box, in der der Ablauf der jeweiligenSitzung sowie die benötigten Materialien für die Sitzung auf einen Blick zufinden sind. Diese Box ist mit folgendem Symbol kenntlich gemacht.

Einführung: Wie Sie dieses Buch nutzen 17

Innerhalb der einzelnen Sitzungen sind an verschiedenen Stellen Hin-weis-Boxen zu finden, die wichtige Informationen für den Gruppenleiterbeinhalten. Diese Hinweise sind erfahrungsbasierte Besonderheiten, diees in der Arbeit mit Menschen mit Autismus zu beachten gilt. Zudemfinden sich hier wertvolle Handlungsempfehlungen. Diese Boxen sindmit folgendem Symbol kenntlich gemacht.

In manchen Sitzungen werden spezielle Materialien, wie zum BeispielArbeitsblätter, benötigt. Zum einen findet sich ein Hinweis darauf in derInfo-Box zu Beginn jeder Sitzung. Zum anderen ist innerhalb derSitzungsbeschreibung die jeweilige Stelle gekennzeichnet, an der dieMaterialien an die Teilnehmer ausgeteilt werden sollen. Ein Hinweishierauf findet sich neben der entsprechenden Textpassage in der Rand-spalte und ist durch folgendes Symbol kenntlich gemacht.

Alle Inhalte des Basis-Gruppencoachings lassen sich auch im Einzel-coaching einsetzen. Sollten sich ergänzend zu einer Sitzung weiterfüh-rende Themen für ein Einzelcoaching anbieten, so werden diese am Endeder jeweiligen Sitzung in einer Einzelcoaching-Box beschrieben. DieseBoxen sind mit folgendem Symbol kenntlich gemacht.

Schließlich sind alle Materialien, welche zur Durchführung des Basis-Gruppencoa-chings benötigt werden, online verfügbar. Dies beinhaltet sämtliche Arbeitsblätter,Hausaufgaben und Handouts zu den einzelnen Sitzungen sowie eine Powerpoint-Präsentation, die die wichtigsten Informationen zu allen Sitzungen beinhaltet.

Einführung: Wie Sie dieses Buch nutzen18

I Grundlagen

1 Autismus: Grundlagen

2 Autismus im Beruf

3 Das Kolner Modellprojekt

4 Wege in die Arbeit fur Menschen mit Autismus

1 Autismus: Grundlagen

1.1 Historische Aspekte

Erstmalig beschrieben wurde Autismus bereits in den 1940er Jahren durch denaustro-amerikanischen Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner (1943) und denösterreichischen Kinderarzt Hans Asperger (1944). Sowohl Kanner als auch Aspergeruntersuchten das Störungsbild und formulierten exakte Fallbeschreibungen undErklärungsansätze, wobei sie unabhängig voneinander schon damals davon ausgingen,dass es sich um eine Störung handeln müsse, die entweder angeboren sei oder in denersten Lebensjahren entstehe. Erst Jahrzehnte nach der Erstbeschreibung durchKanner und Asperger wurden Diagnosekriterien für das Störungsbild in den 1980erund 1990er Jahren in die gängigen Diagnosemanuale DSM und ICD aufgenommenund dort den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zugeordnet. Genaue Beschreibun-gen der notwendigen Kriterien für eine klinische Diagnosestellung finden sich heuteim ICD-10 (WHO, 2004), welches im europäischen Raum Anwendung findet, sowieim DSM-5, dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der amerikani-schen psychiatrischen Vereinigung (APA, 2013).

1.2 Storungsbild

Die charakteristischen Merkmale von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), die auchdiagnoserelevant sind, umfassen Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion undKommunikation sowie repetitive, stereotype Verhaltensweisen. Im folgenden Kapitelsoll zunächst beschrieben werden, wie ASS im Erwachsenenalter mittels der gängigenKlassifikationssysteme für psychische Störungen (ICD-10 und dem DSM-5) erkanntund diagnostiziert werden können. Des Weiteren werden die Häufigkeit von ASS inder Bevölkerung, die Geschlechterverteilung und häufig gemeinsam auftretendepsychische Störungen vorgestellt.

1.2.1 Klassifikation von Autismus nach ICD-10 und DSM-5

Im ICD-10 (Dilling, Freyberger & WHO, 2010), welches bis heute die Grundlage fürdie klinische Diagnostik psychischer Störungen in Deutschland darstellt, werdenverschiedene Formen von Autismus unterschieden: der Frühkindliche Autismus(F84.0), der Atypische Autismus (F84.1) und das Asperger-Syndrom (F84.5). Siesind in der Gruppe der sogenannten tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zusammen-gefasst. Autistischen Störungen liegen drei Kernmerkmale zugrunde. Es kommt zueiner

1 Autismus: Grundlagen20

(1) qualitativen Beeinträchtigung in der Kommunikation sowie(2) qualitativen Einschränkungen in der Interaktion und zu(3) stereotypen und repetitiven Interessen und Verhaltensweisen.

Diese Auffälligkeiten zeigen sich oft bereits vor dem dritten Lebensjahr und bestehensituationsübergreifend ein Leben lang. Sind alle Kriterien erfüllt und liegen eineVerzögerung der Sprachentwicklung sowie eine Intelligenzminderung vor, wird dieDiagnose eines Frühkindlichen Autismus vergeben. Eine Unterform des FrühkindlichenAutismus ist der sogenannteHochfunktionale Autismus (HFA), welcher dann diagnos-tiziert wird, wenn alle notwendigen Diagnosekriterien erfüllt sind, aber keine Intelli-genzminderung vorliegt (IQ > 70). Man spricht in der klinischen Praxis in diesem Fallvon einem Frühkindlichen Autismus auf hohem Funktionsniveau. Die DiagnoseAtypischer Autismus wird vergeben, wenn die Symptome sich erst nach dem drittenLebensjahr manifestieren oder nicht alle drei Symptome, sondern nur zwei von ihnennachweisbar sind. ImUnterschied zum Frühkindlichen Autismus, demHFA sowie demAtypischen Autismus liegt beim Asperger-Syndrom (AS) weder eine Verzögerung derSprachentwicklung noch eine Intelligenzminderung vor. Damit stellt die fehlendeSprachentwicklungsverzögerung den einzigen Unterschied zum HFA dar (Kamp-Be-cker & Bölte, 2014). Ob es sich beim HFA und AS um zwei sinnvoll voneinanderabgrenzbare Störungsbilder handelt, wird bereits seit Jahren kritisch diskutiert. Au-ßerdem ist auch die Abgrenzung der drei in der ICD-10 verwandten Unterformen vonAutismus fraglich (Frazier et al., 2012). Daher geht man heute zunehmend von einemzusammenhängenden Spektrum autistischer Störungen aus und spricht demzufolgevon Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), was sich auch im neuen DSM-5 widerspie-gelt (Vogeley, 2015). Hier wurden die verschiedenen kategorialen Diagnosen vonAutismus abgeschafft und unter der Diagnose ASS zusammengefasst. Zu den Neue-rungen im DSM-5 gehört auch der Wegfall der Trennung der DiagnosekriterienStörungen der Interaktion und Störungen der Kommunikation. Zudem wurde die vonMenschen mit ASS häufig beschriebene Hyper- oder Hyporeaktivität auf sensorischeReize als Unterkriterium aufgenommen. Eine weitere Änderung der Diagnosekriterienim DSM-5 betrifft das starre Alterskriterium. Zwar müssen die Symptome nach wievor seit frühester Kindheit bestehen, diagnostizierbare Symptome können sich aberauch erst dann zeigen, wenn sich die äußeren Anforderungen verändern bzw. derartigansteigen, dass bis dahin funktionierende Kompensationsmöglichkeiten und Strate-gien versagen. Diese Neuerung ist insbesondere bei der speziellen Patientengruppe derhochfunktional autistischen Personen von Bedeutung, bei der der Verdacht auf eineASS erst im Jugend- oder Erwachsenenalter entsteht, beispielsweise beim Übergangvon der Schule in das Berufsleben, der eine Anpassung an neue soziale Heraus-forderungen erfordert (Tantam, 2000). Des Weiteren ist im DSM-5 eine Einteilungin Schweregrade der Ausprägung der Symptomatik und des daraus resultierendenUnterstützungsbedarfs möglich. Diese kann helfen, den individuellen Bedarf an The-rapiemaßnahmen oder anderer Unterstützungsangebote, wie zum Beispiel die Aner-kennung einer Schwerbehinderung, die insbesondere im beruflichen Kontext häufig

1.2 Störungsbild 21

eine wichtige Rolle spielt, schon im Rahmen der Diagnostik darzustellen (Vogeley,2015).

1.2.2 Pravalenz und Geschlechterverteilung

Die Angaben zur Prävalenz oder zur Krankheitshäufigkeit von ASS über die Lebens-spanne sind in den letzten Jahren stetig gestiegen. Nach aktuellen Untersuchungen undin der Veröffentlichung der gemeinsam von den akademischen Gesellschaften derKinder- und Jugendpsychiatrie und der Erwachsenenpsychiatrie herausgegebenenLeitlinien zu Autismus-Spektrum-Störungen geht man davon aus, dass etwa 1 Prozentder Bevölkerung von ASS betroffen sind. Mögliche Erklärungen für den Anstieg derPrävalenzraten gegenüber deutlich kleineren Zahlen in den letzten Jahrzehntendürften im Wesentlichen auf den steigenden Bekanntheitsgrad von ASS, aber auchauf bessere Kenntnisse über das Störungsbild und eine daraus resultierende differen-ziertere Diagnostik zurückzuführen sein. So kommt es auch zu einer besserenErfassung milderer Ausprägungen von ASS ohne Intelligenzminderung und damiteinhergehenden steigenden Diagnoseraten im Erwachsenenalter (Vogeley, 2016).Hinsichtlich der Geschlechterverteilung zeigt sich, dass Männer wesentlich häufigervon ASS betroffen sind. Hierbei wird je nach Studie, Lebensalter und Ausprägung derStörung ein Geschlechterverhältnis von 2:1 bis 11:1 erfasst, bei erwachsenen Personenkann das Geschlechtsverhältnis mit 2:1 angenommen werden, d.h., es sind immernoch mehr Männer als Frauen betroffen, aber das Verhältnis ist deutlich ausgegliche-ner als im Kindesalter (Bölte, 2009; Dilling et al., 2010; Lehnhardt et al., 2012).

1.2.3 Psychiatrische Komorbiditaten

Die häufigsten Begleiterkrankungen von ASS sind depressive Störungen und Ängste.In der Spezialambulanz für Autismus im Erwachsenenalter der Uniklinik Köln be-richten beispielsweise etwa 50 Prozent aller Patienten von Symptomen einer Depres-sion (Vogeley, 2016). Diese hohe Rate von Depressionen könnte folgendermaßenerklärt werden: Erwachsene Personen mit ASS auf einem hohen Funktionsniveauerleben ihre Beeinträchtigungen häufig bewusst und führen ihr Versagen in unter-schiedlichen Situationen auf ihre unzureichenden Fähigkeiten oder Bemühungenzurück. Sie wissen vor der Diagnosestellung häufig nicht um ihre Autismus-bedingtenEinschränkungen und geben sich schließlich selbst die Schuld für ihr berufliches oderprivates Versagen (Gawronski et al., 2011).

Die Berücksichtigung von komorbiden Erkrankungen ist insgesamt von großerBedeutung, da sie unmittelbaren Einfluss auf das Funktionsniveau der betroffenenPersonen sowie auf den Erfolg von Therapie- und anderen Unterstützungsmaßnah-men haben.

1 Autismus: Grundlagen22

2 Autismus im Beruf

2.1 Berufliche Teilhabe von Menschen mit Autismus

Zu den bereits beschriebenen Schwierigkeiten vonMenschenmit Autismus im Bereichder sozialen Interaktion und Kommunikation kommen häufig neuropsychologischeBesonderheiten, die in unterschiedlichen Ausprägungen auftreten und die beruflicheTeilhabe von betroffenen Personen erschweren können. So leiden Menschen mitAutismus besonders häufig unter Arbeitslosigkeit und haben spezifische beruflicheSchwierigkeiten. Auch Depressionen können die erfolgreiche berufliche Teilhabenegativ beeinflussen (Taylor & Seltzer, 2011). Gleichzeitig können wiederholte Schwie-rigkeiten, erfolgreich am Berufsleben teilzunehmen, zu Depressionen und Frustrationdarüber führen, nicht angemessen für sich selbst und Familienangehörige sorgen zukönnen (Müller et al., 2003). Bei Personen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind,kann das Gefühl, nicht gebraucht zu werden, Frustration zur Folge haben und einedepressive Symptomatik begünstigen (Preißmann, 2012). Darüber hinaus erfordertdas stetige aktive, kognitive Kompensieren der Einschränkungen viel Energie und führtzu Erschöpfung, die ebenfalls wieder zuDepressionen, sozialem Rückzug, Ängsten undeinem insgesamt hohen Leidensdruck führen kann (Gawronski et al., 2012).

2.2 Autistische Besonderheiten im beruflichen Kontext

Es ist wichtig, die neuropsychologischen Besonderheiten genauer zu betrachten undzu verstehen, da sie sich auf das Verhalten von Arbeitnehmern mit Autismus imberuflichen Kontext auswirken und auch spezielle Bedürfnisse Betroffener an deneigenen Arbeitsplatz zur Folge haben können.

Mentalisierungsdefizit

Personenmit Autismus fällt es häufig schwer, das Verhalten andererMenschen intuitivauf deren Überzeugungen, Wünsche oder Absichten zurückzuführen. Diese Fähigkeitwird mit dem Begriff der Theory of Mind (ToM) oder Mentalisierung beschrieben.Hierzu gehören auch das Erkennen von Emotionen, Empathiefähigkeit sowie dieFähigkeit zur Perspektivübernahme. Landläufig kann man auch vom »Sich-Hinein-Versetzen« in andere Menschen sprechen. In diesen Bereichen können Personen mitAutismus erhebliche Schwierigkeiten aufweisen (Remschmidt & Kamp-Becker, 2006).Zwar gelingt es Personen auf einem hohen Funktionsniveau in der Regel, dieseSchwierigkeiten auf einem kognitiven Weg zu kompensieren und Regeln zu erlernen,anhand derer zum Beispiel Wünsche und Absichten anderer Menschen erschlossenwerden können. Eine intuitive Wahrnehmung fehlt jedoch meistens und kann nichterlernt werden. In den komplexen und schnell wechselnden Situationen des sozialen

2.2 Autistische Besonderheiten im beruflichen Kontext 23

Miteinanders, die ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen erfordern, stoßen die vonPersonen mit Autismus erlernten starren Regeln und Kompensationsmechanismenzudem schnell an ihre Grenzen. So müssen unterschiedliche Kontexte, der Gesamt-eindruck einer Situation und der beteiligten Personen ständig schnell erfasst undinterpretiert werden, »ungeschriebene Regeln« müssen erkannt und angewendet wer-den. Kann dies nicht intuitiv geschehen, sondern muss auf einem bewussten, geistigenWege ausgeglichen werden, bedeutet dies einen hohen Zeit- und Energie-Aufwand(Vogeley, 2016). ImBerufslebenmüssen Beschäftigtemit Autismus ständig bewusst dieHandlungen ihres sozialen Umfeldes analysieren und mit den eigenen Absichten undHandlungen abstimmen. So wird die Kommunikation und Interaktion mit Vorgesetz-ten, Kollegen oder Kunden zu einer enorm anstrengenden Herausforderung für diebetroffenen Personen (Vogeley et al., 2013) und nicht selten kommt es zu Miss-verständnissen, Konflikten, einer unangemessenenMeinungsäußerung oder der unbe-absichtigten Missachtung von Hierarchien (Baumgartner et al., 2009). So können sichKollegen, Vorgesetzte oder Kunden schnell gekränkt fühlen und Mitarbeiter mitAutismus als unhöflich und arrogant wahrnehmen.

Kommunikations- und Kontaktverhalten

Die Schwierigkeiten im Bereich der sozialen Kommunikation und Interaktion sindvielfältig. Bereits die Kontaktaufnahme, wie zum Beispiel das Beginnen eines Ge-sprächs oder das Aufrechterhalten einer Kommunikation, aber auch das angemesseneBeenden einer Unterhaltung stellen für Menschen mit Autismus häufig ein Problemdar (Preißmann, 2012). Zudem fällt es vielen Betroffenen schwer, den Blickkontaktzum Gegenüber herzustellen oder aufrechtzuerhalten, eine angemessene körperlicheDistanz zu wahren oder eine freundliche Begrüßungsformel anzuwenden (Baumgart-ner et al., 2009). Bezüglich der Kommunikationsinhalte neigen Menschen mitAutismus häufig zum ausgedehnten Monologisieren über ihre speziellen Interessen-gebiete, ohne ein Gefühl dafür zu haben, ob der Gesprächspartner überhaupt daraninteressiert ist. Ebenso kann es vorkommen, dass sie ihrem Gesprächspartner zu wenigZeit zum Antworten geben oder ihn an unpassenden Stellen unterbrechen. Darüberhinaus sind Menschen mit Autismus die Erwartungen oder Interessen des Gesprächs-partners häufig unklar. Dies zeigt sich insbesondere in Smalltalk-Situationen, die fürBetroffene eine große Herausforderung darstellen und in denen es zu zahlreichenMissverständnissen und unangenehmen Situationen kommt, häufig auch am Arbeits-platz im Kontakt mit Kollegen oder Kunden (Gawronski et al., 2012). Eine weitereAuffälligkeit in der Kommunikation stellt das häufig reduzierte intuitive Verständnisfür Ironie, Witze, Metaphern und Redensarten dar (Frith, 2003; Vogeley, 2016). Siewerden häufig wörtlich verstanden und an unpassender Stelle eingesetzt, da ihreBedeutung nicht vollständig erfasst wird. Auch dieser Umstand kann in verschiedenensozialen Kontexten Missverständnisse im sozialen Miteinander zur Folge haben.

2 Autismus im Beruf24

Verarbeitung nonverbaler Kommunikationssignale

Die beiden vorgenannten Problemzonen stehen in engem Zusammenhang mit einerweiteren, wesentlichen Besonderheit bei Personen mit Autismus, nämlich den Beein-trächtigungen bei der Verarbeitung nonverbaler Kommunikationssignale. NonverbaleSignale wie Gestik, Mimik und Blickverhalten werden in der Regel nicht automatischund intuitiv wahrgenommen, verarbeitet und interpretiert (Kuzmanovic et al., 2011;Vogeley & Remschmidt, 2015). Das bedeutet, dass wesentliche Informationen, die vonMenschen ohne Autismus automatisch und intuitiv wahrgenommen und interpretiertwerden, im Austausch mit Menschen mit Autismus verloren gehen können (Preiß-mann, 2012).

DieMetapher der »doppelten Unsichtbarkeit« (Krämer et al., 2015a; Vogeley, 2016)versucht zu veranschaulichen, was diese Einschränkungen im kommunikativenBereich im Kontakt mit anderen Menschen bedeuten. Von der ersten Unsicht-barkeit sind allgemein alle Personen, die an einer psychischen Störung leiden,betroffen. Damit ist gemeint, dass psychische Störungen im Vergleich zu körper-lichen Erkrankungen oder Behinderungen in der Regel nicht direkt sichtbar sind,da sie das innere Erleben einer Person, aber nicht etwa eine »sichtbare« körperlicheEinschränkung betreffen, die beispielsweise unmittelbar die Unfähigkeit zu arbei-ten erklären könnte. So sind auch ASS und damit verbundene Besonderheiten undBedürfnisse für andere Menschen nicht direkt von außen ersichtlich. Die zweiteUnsichtbarkeit geht darüber hinaus, sie bezieht sich auf die intuitive Wahrneh-mung und Übertragung nonverbaler Signale und ist ein spezifisches Alleinstel-lungsmerkmal für ASS. Über nonverbale Signale wird ein Großteil der Informa-tionen in der zwischenmenschlichen Kommunikation vermittelt. Nicht-autistischePersonen verarbeiten und nutzen diese meist intuitiv und automatisch, ohne sichdessen dauerhaft bewusst zu sein (Burgoon & Buller, 1994). Dieser nonverbaleAnteil zwischenmenschlicher Kommunikation ist so schnell und komplex, dasseine vollständige bewusste Verarbeitung nahezu unmöglich ist (Vogeley & Bente,2010). Bei Menschen mit Autismus ist diese Fähigkeit der intuitiven Wahrneh-mung und Verarbeitung hingegen stark eingeschränkt oder nicht vorhanden.Erschwerend kommt hinzu, dass sich beide Partner der Kommunikationssituation,nämlich die Person mit Autismus als auch die Person ohne Autismus, darübernicht im Klaren sind und sich nicht vergegenwärtigt haben, dass genau in diesemautomatisch und unbewusst ablaufenden Kommunikationsprozess die Kern-schwierigkeiten bestehen. Auf der einen Seite wird in der nicht-autistischen Weltalso automatisch und damit unbewusst vorausgesetzt, dass diese intuitive Fähigkeitbei allen Menschen gleichermaßen vorhanden ist und auf der anderen Seite habenPersonenmit Autismus häufig Defizite im Produzieren und Verstehen nonverbalerSignale, und dabei haben beide Partner keine Kenntnis über diese ungleicheKommunikation. Während nicht-autistische Personen nicht »wissen«, dass sienonverbale Kommunikation bei ihrem Gegenüber erwarten, wissen autistische

2.2 Autistische Besonderheiten im beruflichen Kontext 25

Personen nicht, dass sie darüber nicht verfügen können. Diese »zweite« oder»doppelte Unsichtbarkeit« ist somit eine spezifische Besonderheit bei ASS undkann erhebliche Missverständnisse und Konflikte zur Folge haben.

Hyper- und Hyporeaktivitat

Im Arbeitskontext ist oft von Bedeutung, dass bei Personen mit Autismus nicht selteneine Über- oder auch Unempfindlichkeit in Bezug auf verschiedene Sinnesreizevorkommt. Dabei beziehen sich Überempfindlichkeiten häufig auf auditive Eindrücke(Remschmidt & Kamp-Becker, 2006). Als unangenehm erlebt werden diesbezüglichlauter und unerwarteter Lärm, ein gleichmäßiges Surren elektrischer Geräte oderandere komplexe Geräuschkulissen und Menschenansammlungen. Auch Reaktionenauf visuelle Eindrücke, wie fluoreszierendes Licht, werden von Betroffenen häufigberichtet (Attwood, 2006). Die besonders intensive Wahrnehmung derartiger Reizekann die Arbeitsleistung beeinträchtigen (Kirchner & Dziobek, 2014), weshalb bereitsbei der Gestaltung eines Arbeitsplatzes für Menschen mit Autismus Rücksicht daraufgenommen werden sollte. So ist beispielsweise ein helles, lautes Großraumbüro in denmeisten Fällen keine geeignete Arbeitsumgebung für Menschen mit Autismus.

Exekutivfunktionen

Unter dem Begriff der Exekutivfunktionen werden im Wesentlichen Prozesse zusam-mengefasst, die notwendig sind, um komplexe Handlungsabläufe in der Zeitdimen-sion zu organisieren und zu überwachen. Hierzu gehören beispielsweise das Arbeits-gedächtnis, die Steuerung der Aufmerksamkeit und Unterdrückung irrelevanterInformationen, ein wechselnder Aufmerksamkeitsfokus, die Planung von Einzelhand-lungen zur Zielerreichung sowie die Überwachung und Aktualisierung von Einzel-handlungen. Diese Fähigkeiten können bei Menschen mit Autismus eingeschränktsein (Smith & Jonides, 1999). Am Arbeitsplatz zeigen sich solche BeeinträchtigungenzumBeispiel darin, dass es Betroffenen Probleme bereitet, verschiedene Arbeitsschritteselbstständig zu planen, auftretende Probleme zu lösen oder Arbeitsergebnisse zuüberprüfen (Stumpf, 2011). Auch können mentale Hemmungen oder motorischeVerzögerungen dazu führen, dass zum Beispiel das eigenständige Beginnen mit deneigenen Arbeitsaufgaben problematisch ist (Baumgartner et al., 2009). Durch Beein-trächtigungen dieser Art können Beschäftigte mit Autismus bei der Bewältigungbestimmter Aufgaben umständlich und vergleichsweise langsam wirken (Vogeley,2014).

Schwache zentrale Koharenz

Die zentrale Kohärenz ist bei Menschen mit Autismus häufig nur schwach ausgeprägt.Das bedeutet, dass sie ihre Aufmerksamkeit eher auf einzelne Details richten anstattdarauf, Gegenstände und Objekte in ihrem jeweiligen Kontext zu betrachten. Dieskann eine mögliche Erklärung dafür darstellen, dass Betroffene Schwierigkeiten haben,soziale Situationen schnell und korrekt zu interpretieren, da hierfür eine ganzheitliche

2 Autismus im Beruf26

Wahrnehmung der Situation erforderlich ist (Kamp-Becker & Bölte, 2014). Im Ar-beitsalltag kann dies bedeuten, dass es Schwierigkeiten bereitet, Aufgaben im Arbeits-ablauf sinnvoll zu priorisieren oder auch einzelne Aspekte der Arbeit im Zusammen-hang mit einem übergeordneten Ziel zu betrachten (Baumgartner et al., 2009).

Zeitwahrnehmung

Obwohl die empirische Befundlage uneinheitlich ist, herrscht Einigkeit darüber, dasssich die Zeitwahrnehmung bei Menschen mit Autismus im Vergleich zu anderenMenschen unterscheidet (Allman & Falter, 2015). Es gibt schon lange Hinweise darauf,dass Menschen mit Autismus ein schlechtes intuitives Gespür für das Vergehen vonZeit zu haben scheinen (Wing, 1996). So neigen sie beispielsweise dazu, Zeitdauern zuunterschätzen (Martin et al., 2010). Darüber hinaus haben vor allem autistische Kinderund Jugendliche Problememit der Konzeptualisierung von Zeit (Boucher et al., 2007).Jüngste Forschungsansätze in der Zeitforschung stellen sogar Hypothesen dazu auf,dass zugrundeliegende Probleme in der Zeitwahrnehmung, vor allem in der Wahr-nehmung von zeitlichen Abläufen sozialer Interaktionen, einen Teil der sozial-kom-munikativen autistischen Schwierigkeiten mitbedingen können. InteressanterweisescheinenMenschen mit Autismus die Schwierigkeiten in der Zeitwahrnehmung durchdas typisch autistische Ausführen von repetitiven Bewegungen und stereotypen Ver-haltensweisen gut kompensieren zu können. Hier scheint für viele Betroffene beson-ders das »blinde Vertrauen« auf ihre Planungsfähigkeiten und die Aneinanderreihungvon (zeitlich) immer gleich ablaufenden Gewohnheiten hilfreich zu sein (Allman &Falter, 2015). So können repetitive, rhythmische Bewegungen als eine Art »verhaltens-bezogener Zeitmesser« dienen, insbesondere dann, wenn »intuitive Zeitmesser« nichtin derselben Art und Weise funktionieren wie bei anderen Menschen (Allman et al.,2014).

Für den Umgang mit autismusbedingten Schwierigkeiten in der Zeitwahrnehmungam Arbeitsplatz bedeutet dies, dass jede Form von strukturgebenden Maßnahmenautistischen Arbeitnehmern die Ausführung ihrer Tätigkeiten erleichtern kann. Be-sonders feste Zeitstrukturen (wie Stundenpläne inklusive fester Pausenzeiten) und»externe Zeitgeber« (wie computergestützte Terminkalender mit Erinnerungsfunk-tion) können hier hilfreich sein, um Arbeitnehmer mit Autismus darin zu unter-stützen, das Vergehen von Zeit bewusst wahrzunehmen und ihre Arbeitstätigkeitentsprechend anzupassen. Eine wichtige Rolle spielen hier auch explizite Angaben vonKollegen oder Vorgesetzten. So sollten Aufträge, die in einer bestimmten Zeitspanneabgearbeitet werden sollen, auch mit konkreten Zeitangaben versehen werden undnicht vage bleiben.

2.3 Beschaftigungssituation von Menschen mit Autismus

Erste Aussagen zur beruflichen Teilhabe autistischer Menschen finden sich bereits inden Schriften von Kanner und Asperger. Sie beschrieben bereits vor 60 Jahren nebenBetroffenen, die sich im Erwachsenenalter in institutioneller Pflege befanden, Per-

2.3 Beschäftigungssituation von Menschen mit Autismus 27


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